Schönes Denken: A.G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik 9783787328161, 9783787328178

Mit der Begründung der philosophischen Ästhetik stößt Baumgarten an Grenzen, vor denen der cartesianische Rationalismus

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Schönes Denken: A.G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik
 9783787328161, 9783787328178

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Schönes Denken A. G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik

Sonderheft 15 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Herausgegeben von

andrea allerkamp und dagmar mirbach

FELIX M EIN ER V ER LAG H A M BU RG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abruf bar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung. Sonderheft 15 · ISSN 1439-5886 · ISBN 978-3-7873-2816-1 Felix Meiner Verlag, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza. Werk­d ruck­­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. ©

IN H A LT

Andrea Allerkamp und Dagmar Mirbach Unter produktiver Spannung: 300 Jahre Baumgarten .................................. 7 I. ÄSTHETIK, SYSTEM ATIK UND EPISTEM E

Anselm Haverkamp Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte ..... 35 Hans Adler Was ist ästhe­t ische Wahrheit?........................................................................ 49 Francesco Piselli Einige philologische und theoretische Überlegungen zu A. G. Baumgartens ­Aesthetica ...................................................................................................... 67 Dagmar Mirbach Praeponitur – illustratur. Intertextualität bei A. G. Baumgarten ....................... 71 Constanze Peres Die Doppelfunktion der Ästhe­t ik im philosophischen System A. G. Baumgartens ....................................................................................... 89 Alexander Aichele Ding und Begriff. Wirklichkeit und Möglichkeit in A. G. Baumgartens Theorie ­ä sthetischer und szientifischer Erkenntnis ....................................... 117 Gérard Raulet Logica inventionis und episteme¯ esthetike¯. Die leisen Übergänge eines ­bahnbrechenden Umbruchs .......................................................................... 127 II. RHETORIK UND POETIK

Rüdiger Campe Baumgartens Ästhe­t ik: Meta­phy­sik und techne¯ .............................................. 149

4 Inhalt

Christiane Frey Zur ästhe­t ischen Übung: Improvisiertes und Vorbewusstes bei A. G. Baumgarten ........................................................................................ 171 Frauke Berndt Die Kunst der Analogie. A. G. Baumgartens literarische Epistemologie........ 183 Andrea Allerkamp Onirocritica und mundus fabulosus. Traum und Erfindung ............................... 201 Andrea Krauß Nuancen des Firmaments. Versuchsanordnungen ›extensiver Klarheit‹ zwischen Alexander Gottlieb Baumgarten und Barthold Heinrich Brockes . 223 III. ETHIK UND NATUR R ECHT

Clemens Schwaiger Zwischen Laxismus und Rigorismus. Möglichkeiten und Grenzen ­philosophischer Ethik nach Alexander Gottlieb Baumgarten ....................... 255 Jan C. Joerden Baumgartens Position zur Transitivität der Kausalrelation im Kontext ­a llgemeiner Zurechnungsfragen in Recht und Ethik ................................... 271 Dominik Recknagel Der Atheist und das Naturrecht. Erkenntnis und Verbindlichkeit des Naturrechts bei Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier ................................................................................. 283 IV. HORIZONTE UND R ESONANZEN

Reinhard Blänkner Die Viadrina und Alexander Gottlieb Baumgarten ...................................... 299 Dagmar Mirbach und Andrea Allerkamp Ale.theophilus Baumgarten / Wenn die Magd in den Brunnen fällt ............. 317

Inhalt5

Pablo Valdivia Orozco Graciáns gusto. Zu einer Vorgeschichte der Aesthetica .................................... 341 Simon Grote Vom geistlichen zum guten Geschmack? Reflexionen zur Suche nach den ­pietistischen Wurzeln der Ästhe­t ik ............................................................... 365 Christoph Asendorf Veranschaulichte Welt. Der Orbis Pictus, das wissenschaftliche Theater von ­L eibniz und die Vermittlungsstrategien in den Franckeschen Stiftungen ...... 381

Siglenverzeichnis .......................................................................................... 393 Literaturverzeichnis ..................................................................................... 394

Unter produktiver Spannung: 300 Jahre Baumgarten Von Andrea Allerkamp und Dagmar Mirbach »Nichts ist leichter, als etwas leicht machen, wenn man alles wegläßt, was schwer fallen könnte, ob es gleich noch so nöthig seyn möchte. […] Und in dieser Bedeutung wird billig die Leichtmacherey zu denen schädlichsten Hindernissen der Gelehrsamkeit überhaupt, insbesonderheit der Wissenschafften gezehlt.«1

300 Jahre Alexander Gottlieb Baumgarten. Ein solches Jubiläum, das im Sommersemester 1740 zu einer Antrittsvorlesung und im Juni 2014 Anlass zu einer Tagung an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder war, ruft nach Bilanz, Kritik und Aktua­lisierung. Welche epochalen Veränderungen hat Baumgarten wissensgeschichtlich im Spannungsfeld von Ästhe­t ik, Meta­phy­sik und Recht hinterlassen? Was sagt sein Werk heute, neu gelesen im Licht der Epoche? »Schönes Denken« – schon das Baumgarten-Zitat im Titel unseres Bandes deutet auf eine produktive Spannung. Baumgartens besondere Lehre der ars pulcre cogitandi verlangt lebendige Einsicht. Das provoziert Widersprüche und Kontroversen, auch in Hinblick auf die epochemachende Schwellenfunktion der Ästhe­t ik. Die Verbindung, Grundierung oder sogar Leitung des Denkens durch das Schöne ist die Bedingung einer voraussetzungsreichen Beziehung zwischen Darstellen und Denken, Ästhe­t ik und Philosophie, Kunst und Wissenschaft. Es handelt sich um eine epochale Wende. Denn das Epochenjahr 1750 datiert nicht nur eine Jahrhundertmitte und die Publikation des ersten Teils der Aesthetica, sondern auch den Gipfel einer Sattelzeit und damit einer neuen Zeit, in der Begrifflichkeiten und Erfahrungshorizonte in Bewegung geraten, so Reinhart Koselleck: »Plötzlich auf brechende, schließlich anhaltende Veränderungen machen den Erfahrungshorizont beweglich, auf den die ganze Terminologie, besonders ihre relevanten Begriffe, reaktiv oder provokativ bezogen werden.« 2

1 Gedancken

vom Vernünfftigen Beyfall (2. Auf l. 1741), 293 f. (§ 7 und Anm.). Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall auf Academien, hg., eingeleitet und mit Anm. versehen von Alexander Aichele, in: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Auf klärung, 20), hg. von Alexander Aichele und Dagmar Mirbach, Hamburg 2008, 271 – 304. 2 Reinhart Koselleck/Otto Brunner/Werner Conze [u. a.] (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1979, XV.

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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Andrea Allerkamp und Dagmar Mirbach

›Epoche‹ bezeichnet ursprünglich ›Innehalten‹, woran Heideggers seinsgeschichtliches »Ansichhalten« erinnert.3 Heidegger übertrifft die Bedeutung von Epoche als Zeitabschnitt in einem fortlaufenden Geschehen, indem er dem Begriff eine Aufforderung zur »Seelenruhe« oder »Zurückhaltung der Zustimmung« einträgt.4 Der erweitert-zurückgeholte Sinn des griechischen Wortes epoche¯ deckt das Potential geschichtsbildender Energien auf, die einer Sattelzeit zugrunde liegen. In diesem Sinne könnte man fragen: Hat die Aesthetica eine »erkenntnistheoretische Wende in der Betrachtung des Sch[önen]« 5 ausgelöst? Oder steht sie noch im Bann des cartesianischen Rationalismus, dessen Grenzziehungen der Vernunft sie weiter ausdifferenziert? Welche Folgen zeitigen die disziplinären Abgrenzungen der ersten philosophischen Ästhe­tik: auf der einen Seite Poetik und Rhetorik, Logik und Dialektik, auf der anderen die empirische Psychologie? Diese Fragen, historisch und aktuell, sind zentral für den vorliegenden Band. Baumgartens Werk macht zwischen Ästhe­tik, Meta­phy­sik und Naturrecht eine Spannung aus, die sich in ihrer epochalen Wucht und Zwiespältigkeit nicht ab­ federn oder auf lösen lässt. Denn das schöne Denken setzt entgegen landläufigen Meinungen nicht nur voraus, dass es ein Ästhetisches – Literatur, Kunst, das Schöne, das Erhabene – gibt und dass dafür eine ästhe­t ische Theorie benötigt wird. Theorie hat selbst auch Teil an der Konstitution des Ästhetischen. Ihre Aufmerksamkeit für das Schöne bringt den Gegenstand des Ästhetischen erst hervor. Das schöne Denken setzt im Ästhetischen ein. Indem es von ihm ausgeht, setzt es die Erkenntnis dem Prozess ihres eigenen Begreifens aus. Von der Unbestimmtheit eines Je-ne-sais-quoi, mit dem die rationalistische Philosophie das Feld des Ästhetischen beschreibt, nimmt Baumgartens philosophische Untersuchung der aistheta 6 ihren logischen Ausgang. Nicht nur das Schöne als Gegenstand – Schönes zu denken –, auch die Darstellbarkeit, also der Ausdruckscharakter des Denkens selbst – das schöne Denken – steht auf dem Spiel. In dieser doppelten Herausforderung, Denken »aufgrund des Ästhetischen« 7 zu entfalten, zeigt sich eine erstaunliche 3 Vgl. Martin Heidegger: »Zeit und Sein«, in: ders.: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976, 1 – 25, hier: 9. 4 Manfred Riedel: Art. »Epoche. Epoche/Epochenbewußtsein«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 594 – 599, hier: 598. 5 Gudrun Kühne-Bertram: Art. »Schöne, das (18. Jh.)«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, Sp. 1373. 6 Vgl. Med. § 116: »Schon die griechischen Philosophen und die Kirchenväter haben immer sorgf ältig unterschieden zwischen den αἰσϑητ[ά] und den νοηϑά. Und ganz offensichtlich ist, daß sie die αἰσϑητά nicht allein mit den Sinneswahrnehmungen gleichsetzten, das auch das in Abwesenheit sinnlich Erkannte, nämlich die Einbildung, mit diesem Namen beehrt wird. Es seien also die νοηϑά – das, was durch das höhere Vermögen erkannt werden kann – Gegenstand der Logik, die αἰσϑητά dagegen seien Gegenstand der ἐπιστήμη αἰϑητιχῆ (= der ästhe­tischen Wissenschaft) oder der Ästhe­t ik.« Hier zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus / Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, Lat./Dt., übers. und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983. 7 Rüdiger Campe/Anselm Haverkamp/Christoph Menke: Baumgarten-Studien. Zur Genealogie der Ästhe­tik, Berlin 2014, 12.



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Pluralität. Baumgartens ars pulcre cogitandi greift die grenzüberschreitende, interdisziplinäre Dynamik eines wechselseitigen Verhältnisses von Ästhe­t ik, Meta­phy­ sik, Ethik, Logik, Poetik, Rhetorik und Recht auf und entfaltet damit ein großes Potential wissensgeschichtlicher Bezüge und Verknüpfungen.8 Diese Vielfalt spiegelt sich auch in der Architektonik unseres Bandes wider. Vorgestellt wird ein breites Spektrum, das die wesentlichen Aspekte der ersten philosophischen Ästhe­t ik in Europa bis zu ihren Vor- und Nachgeschichten auffächert. Über deren epochale Schwerpunkte geben die einzelnen Kapitelüberschriften Auskunft: Auf welche Systematiken gründet sich die Ästhe­t ik, welche begründet sie? Von welchen Epistemen geht sie aus bzw. welche bringt sie hervor? Und wie verhält es sich mit dem Bezug zu den beiden alteingesessenen Schuldisziplinen, welche die Ästhe­tik sowohl wissensgeschichtlich als auch ästhe­tisch konturieren: Poetik und Rhetorik? Wie greifen Ethik und naturrechtlich begründete Verbindlichkeit ineinander und welche Konflikte zwischen Vernunft und Glaube, Auf klärung und Pietismus entstehen in dieser Verbindung? Aufrisse von Horizonten über die Frankfurter Wirkungsstätte Baumgartens sowie ein Einblick in europäische Resonanzen von Gracián, Joachim Lange, Comenius bis zu Leibniz schließen den Band ohne Anspruch auf Vollständigkeit ab. Viel gibt es noch zu untersuchen und zu vertiefen. Die Unabgeschlossenheit ist Teil und Ergebnis der Auseinandersetzung mit einem epochemachenden Autor, seiner Theorie und Lehre. Das ernsthafte Interesse am Begründer der Ästhe­t ik in Frankfurt/Oder ist, auch bedingt durch die späte Editierung und Übersetzung des Gesamtwerks, die noch längst nicht abgeschlossen sind, immer noch jung. Gehört nicht auch die Unabgeschlossenheit mit zum Programm? Schließlich handelt es sich bei Werken wie der Aesthetica, der Metaphysica und der Ethica philosophica um manchmal sperrig anmutende Versuche, die einerseits in ihrer Entschlossenheit, erkenntnistheoretische Grenzen aufzusuchen, und andererseits in ihrer Unentschiedenheit, diese ganz zu überwinden, in einer Art widersprüchlichen Spannung Zwischenräume des Wahrscheinlichen entdecken. Auf der einen Seite schrieb Baumgarten auf spätlateinisch und sparte dabei die zeitgenössische Literatur zugunsten eines althumanistischen Kanons bewusst beinahe ganz aus. Auf der anderen Seite stellt sich sein Werk in die Tradition altgriechischer Philosophie und der Patristik 8 Steffen W. Groß: Cognitio sensitiva. Ein Versuch über die Ästhe­tik als Lehre von der Erkenntnis des Menschen, Würzburg 2011, 13: »Auf die enge Verbindung seiner Aesthetica mit der Metaphysica wird hingegen kaum verwiesen und damit ist beinahe vollständig in Vergessenheit geraten, daß Baumgarten die Ästhe­tik ausdrücklich als Erkenntnislehre, als Lehre von der sinnlichen Erkenntnis – ›scientia cognitionis sensitivae‹ – konzipiert.« Vgl. aber etwa Dagmar Mirbach: »›Ingenium venustum‹ und ›magnitudo pectoris‹. Ethische Aspekte von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica«, in: Aichele/Mirbach (Hgg.): Alexander Gottlieb Baumgarten, 199 – 218, hier 199: »Baumgartens Aesthetica (1759/58) und seine Ethica ( EA1740, 2. Auf l. 1751, 3. Auf l. 1763) folgen – trotz des zeitlichen Abstands ihrer ersten Publikationen – als ›Zwillingskinder‹ auf seine Meta­ physica.«

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und schafft damit nichts Geringeres als einen soliden Entwurf für eine philosophische Grundlegung, derer »die Begründung der Kulturwissenschaften«9 so dringend bedarf. Die Frage nach der »fragmentarischen Ganzheit«10 von Baumgartens Aesthetica schimmert in vielen Beiträgen des vorliegenden Bandes durch. Ist ihre Unvollendetheit, die sich auszeichnet durch wuchernde Paragraphenstrukturen, intertextuelle Verweise und fragmentarische Formen, welche gleichwohl gedanklich »ein in sich systematisch gegliedertes Ganzes«11 darstellen, einer Notlage oder einer Notwendigkeit entsprungen oder ist die Form der Darstellung nicht vielmehr Teil des theoretischen Programms? Eine solche Frage zu stellen, resultiert bereits aus einer intensiven Auseinandersetzung mit einem komplexen Gegenstand. Denn sie bringt Baumgartens methodologische Ansprüche in Anschlag. Wenn das Schöne als Gegenstand des Denkens begriffen wird, so erfordert das, diesen Gegenstand in einem aktiven Vollzugsmodus zu begreifen, ihn also »nicht lediglich abzubilden, sondern ihn vor uns entstehen zu lassen, ihn bis zu seinen Ursprüngen zurückzuverfolgen und ihn aus diesen wieder aufzubauen«.12 Ästhe­tik im und als Grenzgebiet – ein »logisches Zwitterding«.13 Schönes und Denken, Sinnlichkeit und Verstand, zwei »Stämme des Bewußtseins« (vgl. Rüdiger Campe) wissen voneinander, lassen sich vom jeweils anderen affizieren, wobei affizieren sowohl ›bewegen, reizen, auf jemanden Eindruck machen, sich übertragen‹ als auch ›angreifen, krankhaft verändern‹ meinen kann.14 Baumgartens Werk appelliert an eine epistemologische Gratwanderung zwischen Spekulation und Empirie, Wahrnehmung und Erkenntnis, Theorie und Praxis, Verstehbarkeit und Übung, Poetik und Rhetorik, Logik und Meta­phy­sik. Indem die Aesthetica nach dem »Beitrag der Sinne zur menschlichen Erkenntnis« und somit nach der Art der Wahrheit der sinnlichen Erkenntnis, der Aisthesis, fragt,15 bringt das interdisziplinäre Projekt der philosophischen Ästhe­t ik mehr als  9 Anselm Haverkamp: »Wie die Morgenröthe zwischen Tag und Nacht. Alexander Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschaften«, in: DV js 76/1 (2002), 3 – 26. 10 Dagmar Mirbach: »Einführung« in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007, XII. 11 Ebd., XV. 12 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung (Tübingen 1932), Neudruck Hamburg 2007, 358. 13 Ebd., 355. 14 Zur Wirkung der Kunst als einer Infektion vgl. Antonin Artaud: »Das Theater und die Pest«, in: ders.: Das Theater und sein Double, übers. von Gerd Henninger, Frankfurt a. M. 1969. 15 Vgl. auch Hans Adler: »Aisthesis, steinernes Herz und geschmeidige Sinne. Zur Bedeutung der Ästhe­tik-Diskussion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur, Stuttgart/Weimar 1994, 96 – 111, hier 97: »Die Leitfrage der theoretischen Ästhe­t ik […] war die nach dem Beitrag der Sinne zur menschlichen Erkenntnis und die nach der Art der Wahrheit dieser – der sinnlichen – Erkenntnis, der Aisthesis.«



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eine »Metapoetik«16 oder »Metasprache der Literatur«17 hervor. Es geht nicht allein um einen Übertragungsprozess des Denkens auf die Literatur, sondern um eine gegenseitige Affizierung, die Folgen für beide Seiten hat: »Der Ort wie der Sinn der Ästhe­t ik ist ein anderer als der einer philosophischen Übersetzung literarischer Praxis.«18 Diese negative Einsicht, dass das Ästhetische nur in einem komplexen »Bezeichnungszusammenhang« (nexus significativus)19 zu erkennen ist, nähert sich einer Schwelle, die epochal zu nennen ist. Baumgartens Auseinandersetzung mit der frühauf klärerischen Leibniz-Wolff’schen Schule greift das säkularisierte Erbe einer »Meta­phy­sik der Repräsentation« 20 auf und fragt nach deren Stellenwert für die Ästhe­t ik. Leibniz’ Lehre von den petites perceptiones – der kleinen unmerklichen Empfindungen wie etwa Wellengeräuschen, die erst in ihrer Gesamtwirkung als Meeresrauschen bewusst werden – beschert dem cartesianischen Erkenntnisideal des Klaren und Distinkten Konkurrenz in Form von Baumgartens cognitio sensitiva (aesthetica). Die »graeko-lateinische Doppelbenennung« referiert auf eine Aisthesis, die den Rahmen von Aristoteles’ Poetik zugleich aufruft und überschreitet.21 Denn als Theorie der ›unteren‹ oder ›sinnlichen Erkenntnis‹ liefert die Ästhe­t ik »eine Ergänzung zur Philosophie selbst, eben nicht bloß zur Poetik oder Rhetorik«.22 Das Ästhetische dient dem Deutlichen nicht etwa als Grund, sondern es steht für »die materiale Vollkommenheit der logischen Wahrheit im weiteren Sinne«.23 Baumgarten verlässt damit den Boden der Frühauf klärung, um auf Leibniz’ prämoderne Monadenlehre zurückzugreifen und ihn für eine ars inveniendi – Findungslehre und Erfindungskunst – fruchtbar zu machen. Leibniz »hatte den Prozeß der Aufwertung des kognitiven ›Feinstaubs‹ des ›Verworrenen‹ angestoßen, ohne ihn deswegen schon zu vollziehen.« 24 Die Herausforderung besteht in der Anerkennung einer ästhe­tisch-logischen Wahrheit (vgl. Hans Adler). Die philosophische Ästhe­tik ginge fehl, wenn sie versuchen würde, Literatur auf den Begriff zu bringen oder ihr einen Platz in der Ordnung des Wissens anzuweisen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, Begriff und Ort der Literatur »von der Literatur aus« 25 zu befragen. Das literaturtheoretische An16 Thomas

Abbt, zitiert in: Hans Adler: »Fundus Animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunkeln in der Auf klärung«, in: DV js 62 (1988), 197 – 220, hier: 204. 17 Eva Horn/Bettine Menke/Christoph Menke: »Einleitung«, in: Diess. (Hgg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München 2006, 11. 18 Ebd. 19 Met. § 619. 20 Zu Leibniz’ Meta­phy­s ik der Repräsentation vgl. Stephan Meier-Oeser: Die Spur des Zeichens. Das Zeichen und seine Funktion in der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Berlin/ New York 1997, 44. 21 So zu Recht Friedrich Kittler: Philosophien der Literatur. Berliner Vorlesung 2002, Berlin 2013, 103. 22 Ebd. 23 Aesth. § 558. 24 Simone Mahrenholz: Kreativität. Eine philosophische Analyse, Berlin 2011, 126. 25 Horn/Menke/Menke: »Einleitung«, 11.

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liegen wird nicht allein um ein erkenntnistheoretisches erweitert, beide bedingen sich vielmehr gegenseitig. Diese wechselseitige Einflussnahme schließt sowohl den literarischen Charakter der Philosophie als auch das Wissen der Literatur als Wissen über sich selbst ein. Literatur oder Kunst kann sich selbst nur behaupten, wenn sie die begriffliche Pointierung der Philosophie aufnimmt und zurückweist. Mit der Praxis der Künste und der Künstler ändert sich das Verständnis von Sinnlichkeit im Ganzen. Das bedeutet, dass schon die Konzepte der neuzeitlichen Philosophie einer Revision unterzogen werden müssen: »Übung, Gewohnheit und häufiger Gebrauch – so zeigt sich der Ästhe­tik im Blick auf die Künste – sind die Weise, die einzige Weise, in der sich sinnliche Vollzüge vervollkommnen lassen.« 26 Die Aufmerksamkeit für ästhe­tische, literarisch-philosophische Formen und Darstellungen der Philosophie wird somit nicht nur theoretisch abstrakt, sondern auch praktisch in der ästhe­tischen Übung entwickelt und zwar dank einer Konstruktion der »Ästhe­t ik als Experimentalkultur« (vgl. Rüdiger Campe). Das Phänomen der sinnlichen Wahrnehmung verlangt begriffliche und rhetorische Pointierung. Dies ist womöglich auch der Grund, warum sowohl die Ethica philosophica als auch die Aesthetica die Metaphysica als Grundbuch der veritas voraussetzen und zugleich in praxi über sie hinausführen (vgl. Dagmar Mirbach). Dem felix aetheticus gelingt Übung aus eigenem Antrieb (automato¯ s), also das natürliche Tun eines Geistes, der seiner Veranlagung zum Schönen unwillkürlich nachgeht. Baumgarten deutet so die Praxis der rhetorischen Improvisation um (vgl. Christiane Frey) und führt, von der Praxis her, einen neuen Begriff in die philosophische Kunstsprache ein, »›den Begriff des ›Subjektiven‹ in der seit Kant geläufigen Bedeutung«.27 In den sinnlichen Vollzügen verwirklichen sich die Kräfte des Subjekts, wobei der Ausdruck Kraft wie auch derjenige der Fähigkeit ( facultas) und der Fertigkeit (habitus) ein bestimmtes Vermögen des Subjekts bezeichnen, nämlich ein Können im Sinne einer Praxis und eines Vollzugs.28 Das mag auch die enge Wechselwirkung von Literatur und Philosophie, Kunst und Wissenschaft erklären. Denn Literatur und Kunst sind in eine komplexe Partizipationsstruktur eingelassen. Philosophie und Wissenschaft, die das Ästhetische zum Gegenstand macht, können sich nicht mit dessen restloser Übersetzung oder metasprachlicher Reformulierung begnügen. Das Ästhetische will im gelehrten Diskurs als Gegenstand stets neu adressiert und ins Leben gerufen werden. Das wirft die Frage nach der Aktualität der Aesthetica auf: Wie radikal war die Opposition gegen das logozentrische Weltbild? Kann man Baumgarten zum Kopernikus der Psychologie oder zum Columbus der Ästhe­t ik stilisieren, oder verstellen solche Attribute nicht vielmehr »die leisen Übergänge eines bahnbrechenden Umbruchs« Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhe­tischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, 31. 33. 28 In seiner bereits genannten gleichnamigen Monographie von 2008 hat Christoph Menke den Begriff der Kraft bei Baumgarten und Herder maßgeblich herausgearbeitet; vgl. ders.: Die Kraft der Kunst, Frankfurt a. M. 2013. 26

27 Ebd.,



Unter produktiver Spannung: 300 Jahre Baumgarten 13

(vgl. Gérard Raulet)?29 Baumgartens innovative Vorstöße wurden schon durch Zeitgenossen wie Meier, Sulzer und Mendelssohn bis zu Herder und Kant durch andere – engere oder weitere – Begrifflichkeiten verstellt. Doch wie mit dieser Verstellung umgehen, ohne die Quelle der begrifflichen Erstarrungen aufzusuchen? »Welche Quelle ist so klar, daß sie auf dem Grund nicht einige Kiesel aufwiese?« 30 Eine weitere Leitfrage im vorliegenden Band zielt auf die Einordnung von Schönheit: Ist Schönheit als ›niederer‹ Erkenntnisbereich innerhalb der graduellen Stufenfolge von Erkenntnisvermögen von oben herab bewertet oder nicht? Die untere Ebene im Gebäude der Erkenntnis unterscheidet sich von den cartesianischen Kriterien des Klaren und Deutlichen (der cognitiones clarae et distinctae). Wenn die schönen Dinge sich der Aufspaltung in einzelne Merkmale und somit auch einer Analyse entziehen, so zeichnet sich Schönheit durch eine zusammengesetzte und darin anschauliche – verworrene – Erkenntnis (cognitio confusa) aus. In der Skalierung der Erkenntnisvermögen sind die klaren und deutlichen – logischen – Erkenntnisse ganz oben zu finden, Sinnlichkeit und Empfindungen dagegen ganz unten. Im Ausgang von Leibniz orientiert Baumgarten die gesamte Erkenntnis noch auf die Logik hin. Die Aesthetica überwindet das logische Erkenntnisschema somit nicht vollständig, komplettiert es aber um ein weites Stück Neuland. Sie systematisiert das, »was dem Begriff noch nicht oder nicht mehr korrespondierte«.31 »Die Ästhe­t ik ist […] die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« 32 – diese Forderung führt in einen gefährlichen Zwischenraum oder eine »unübersehbare Kluft«.33 Die Aesthetica muss sich durch ein Gestrüpp von schulphilosophischen Gegenargumenten schlagen, so z. B. Michael Jäger: Die Ästhe­tik als Antwort auf das kopernikanische Weltbild. Die Beziehungen zwischen den Naturwissenschaften und der Ästhe­tik Alexander Gottlieb Baumgartens, Hildesheim/Zürich/New York 1984. 30 Met., »Vorrede« zur 1. Auf l. 1739. Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica/Meta­phy­sik, Hist.-krit. Ausgabe, übersetzt, eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011; 5. 31 Mahrenholz: Kreativität, 112. 32 Aesth. § 1. Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007; Bd. 1, 11. 33 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (hier und im Folgenden zitiert nach: ders.: Werkausgabe in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. X, Frankfurt a. M. 1974), Einleitung (1790), 83: »Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann: so soll doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.« 29 Vgl.

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z. B. den Einwand, »daß durch die Pflege des Analagons der Vernunft das Land der Vernunft und der Gründlichkeit einen Schaden erleidet«.34 Baumgarten antwortet darauf mit einer Mahnung zur Behutsamkeit, rät dazu, »die Vollkommenheit nicht zu vernachlässigen«.35 Das Schöne ist stets doppelt konnotiert: »Das Schöne ist zum einen Gegenstand eines Begehrens, das ihm selbst gilt und sich in ihm erfüllt, und zum anderen Medium, wenn nicht gar bloßer Anlaß eines Begehrens, dessen Erfüllung über den Gegenstand hinaus geht und das der gelingenden Bestätigung der menschlichen Vermögen im Erzeugen des Guten gilt; das Schöne ist erst Telos, dann bloßes Mittel.« 36

Baumgartens Versuch, die ars pulcre cogitandi zu etablieren, bemüht sich um Stiftung von Bezeichnungszusammenhängen: »Dies erfordert analytische Transparenz, die wiederum in der Klarheit der Verbindung der verschiedenen Eigenschaften zu der Einheit gebrauchten Begriffe, d. h. in deren definitorischer Deutlichkeit, und der aus ihnen gebildeten allgemeinen Urteile und den dadurch möglichen Ableitungen bzw. Beweisen besteht.« 37

Proportionen, Verhältnisse und Beziehungen sollen in eine sinn-volle Ordnung gebracht werden (vgl. Constanze Peres). Kants Kritik der Urteilskraft wird dieses Ordnungsbestreben in die Forderung eines möglich zu machenden »Übergang[s] von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen, zu der nach Prinzipien der anderen« 38 münden lassen. Baumgartens Charakterisierung der poetischen Vermögen und Einstellungen folgt noch den Klassifizierungen der Empirischen Psychologie nach Wolff, differenziert sie aber auch (vgl. Andrea Allerkamp).39 Das schafft zugleich neue Perspektiven für scientia und ars, die zu gleichermaßen poietischen Verfahrensweisen werden.40 Doch worin besteht genau der epochale Verdienst? Die gegenseitige Bedingtheit von Verstand und Sinnlichkeit mag heute, nach programmatischen Titeln wie Logik des Sinns,41 Ästhetisches Denken42 oder The Beauty of Theory,43 als selbstverständliche Einsicht anmuten. Doch dieser Schein trügt. 34 Aesth.

§ 9.

35 Ebd.

Menke: Die Kraft der Kunst, Frankfurt a. M. 2013, 48. Aichele: »Einleitung« zu den Gedancken vom vernünfftigen Beyfall, in: Aichele/ Mirbach (Hgg.): Alexander Gottlieb Baumgarten, 278. 38 Kant: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. X , 84. 39 Vgl. im Detail dazu Horst Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung, München 1982. 40 Groß: Cognitio sensitiva, 169: »Erkenntnis wird als offener Prozeß und als Gestaltungsleis­ tung verstanden, als Prozeß schöpferischer Gestaltung, der der künstlerischen Produktion strukturell ähnlich ist.« 41 Gilles Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt a. M. 1969. 42 Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990. 43 Joachim Küpper/Markus Rautzenberg/Mirjam Schaub/Regine Strätling (Hgg.): The 36 Christoph

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Nicht nur in der Epoche Baumgartens stellt die spannungsvolle Beziehungsstiftung zwischen Sinn, Sinnlichkeit und Logik eine radikale Herausforderung für das Unternehmen der Ästhe­t ik dar. Baumgarten übernimmt zwar die alten Hierarchisierungen, doch er wertet die untere Erkenntnis erstmals dezidiert auf, indem er sie der logischen Erkenntnis analog zur Seite stellt.44 Der Impuls jenes ersten Versuchs, das Terrain der ›unteren‹ Kräfte im Lichte einer logisch zu begründenden Ästhe­ tik in den Blick zu nehmen und neu zu vermessen, ist philosophiegeschichtlich besehen zunächst auf eine Art Empörung über eine »Ungerechtigkeit im System«45 zurückzuführen. Diese Ungerechtigkeit bestand vor Baumgarten darin, die verschiedenen Erkenntnis- und Begehrensvermögen in eine hierarchische Ordnung einzulassen und ihre ›niederen‹, ›dunklen‹ Facetten auszugrenzen: Die Ästhe­tik aber »ist die Logik des Undeutlichen«.46 Zu den unteren Erkenntnisvermögen am Grund der Seele – dem fundus animae –, um deren Verbesserung sich die Ästhe­t ik als gnoseologia inferior kümmern soll, zählen insgesamt neun: Sinn, Einbildungskraft, Dichtungsvermögen, Gedächtnis, durchdringende Einsicht, Voraussicht, sinnliches Urteilsvermögen (Geschmack oder gustus), Ahndungsvermögen und das Bezeichnungsvermögen.47 Die Einteilung in obere und untere Erkenntnisvermögen bezeugt die vormalige Geringschätzung seitens eines rational-logischen Denkens, das (noch) nicht in der Lage war, das »Andere der Vernunft«48 anzuerkennen, und es stattdessen als logisches Alleinunternehmen ansah, alle Erkenntnisansprüche gleichermaßen einlösen zu wollen. Es sind jene hohen Erwartungen an die Logik, die Baumgartens »wissenschaftskritische Frage eines Auf klärers danach, wie menschliche Erkenntnis und Materialfülle der Welt in Einklang zu bringen sind«,49 immer wieder an disziplinäre Grenzen stoßen lässt: »Die Ästhe­t ik stand in vielfältigen Verbindungen zu anderen Wissensbereichen und wuchs aus einem von Philosophie, Meta­phy­sik, Logik, Ethik und Theologie gesättigten Boden hervor.« 50 Dass hier Begriffsgeschichte oder »Begreifensgeschichte«, also »Reflexion des GeschichteWerdens von Geschichte« (vgl. Anselm Haverkamp), geschrieben wird, ist unumstritten. Im Anschluss und in differenzierter Abgrenzung von der Philosophie des Rationalismus – Descartes, Leibniz und Wolff (vgl. Gérard Raulet) – schafft die Beauty of Theory. Zur Ästhe­tik und Affektökonomie von Theorien, Paderborn 2013. 44 Vgl. hierzu in der Baumgarten-Forschung wegweisend und noch immer grundlegend Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972. 45 Groß: Cognitio sensitiva, 162. 46 Adler: »Fundus Animae«, 205. 47 Vgl. Dagmar Mirbach: »Dichtung als ›repraesentatio‹. G. W. Leibniz und A. G. Baumgarten«, in: Hans Feger: Handbuch Literatur und Philosophie, Stuttgart/Weimar 2012, 10 – 2 0, dort: »Die psychologische Grundlage der Ästhe­tik: Die Struktur der unteren Erkenntnisvermögen«, 14 f. 48 Gernot Böhme/Hartmut Böhme: Das Andere der Vernunft – Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1985. 49 Adler: »Fundus Animae«, 207. 50 Jäger: Die Ästhe­tik als Antwort auf das kopernikanische Weltbild, 1.

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Lehre von den ›unteren Erkenntnisvermögen‹ die Voraussetzungen für ein Denken »aufgrund des Ästhetischen«.51 Eine ›leichte‹ Antwort auf alle gestellten Fragen kann es hinsichtlich der Schwellenfunktion, die das Werk Baumgartens erfüllt, sicher nicht geben. Das zeigen auch die einzelnen Beiträge in unserem Band, die Geschichtlichkeit und Aktualität von Baumgartens Werk nuancieren und unterschiedlich einschätzen. Einig sind sich alle in der Feststellung von möglichen epistemologischen Öffnungen, Ambivalenzen, Annäherungen und Zwischenräumen, was eine vertieft dialogische Auseinandersetzung mit Baumgartens erkenntnistheoretischem Entwurf eines schönen Denkens erfordert. Erinnern sollte man im Vorfeld auch an den radikal modernen Zuschnitt von Baumgartens Frankfurter Antrittsvorlesung.52 Der Neuberufene war sich damals bewusst, dass er an der Viadrina in einer ausgesprochenen Juristenuniversität lehren würde. Vielleicht wird in der Vorlesung deshalb etwas angesprochen, das uns im heutigen akademischen Betrieb immer noch unter den Nägeln brennt. Der gerade aus Halle kommende Hochschullehrer dachte bei seinem Antritt laut nach über den »Beyfall auf Academien«. Wie gelingt es, so seine rhetorische Frage, die Hörer in ihrer Aufmerksamkeit nicht etwa zu fesseln oder zu entmündigen, sondern sie im Gegenteil dahin zu bewegen, dass diese ihre Urteilskraft frei und autonom ausbilden, vervollkommnen? Was kann man empfehlen, damit der akademische Diskurs die »untern Erkenntnis-Vermögen der Seele« 53 nicht vernachlässigt? »Lebhafftigkeit im Vortrage«,54 die Wahl »[u]nerwartete[r] Erläuterungen«, von »Beyspiele[n], die sich schicken« 55 – all das müssen Merkmale sein der mündlichen Ergänzung der Anatomie einer akroamatischen Schreibweise. Dem Hochschullehrer Baumgarten geht es dabei nicht bloß darum, die Hörer am Schlaf zu hindern, vielmehr soll ihr Verstand beschäftigt, »die Vernunfft beruhigt und überzeugt werden«.56 Das Programm eines aufgeklärten – schönen – Denkens und Handelns setzt auf vernünftigen Beifall. Der Erfolg dieses Konzepts – und damit ist man wieder im Heute angelangt – dokumentiert sich für Baumgarten in der freiwilligen und regelmäßigen Teilnahme einer Hörerschaft, die ihre individuelle Urteilskraft so weit zu schärfen lernt, dass sie nicht nur imstande ist, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden, sondern sich darüber hinaus auch bewusst darüber wird, wie sie zu diesem Schluss gekommen ist. Denn »gewisse Urteile« – das wiederum macht die Last des rationalen Erbes sichtbar – sind für Baumgarten letztendlich »nur im Bereich der formalen Logik möglich« und »können sich mithin nicht auf Dinge beziehen«: 51

Vgl. Anm. 7. vom Vernünfftigen Beyfall (2. Auf l. 1741). 53 Ebd., 293 (§ 7). 54 Ebd., 291 (§ 6). 55 Ebd., 292 (§ 6). 56 Ebd., 293 (§ 7). 52 Gedancken



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»Die meisten Aussagen über mögliche Gegenstände wissenschaftlicher Behandlung besitzen daher den epistemischen Status der Wahrscheinlichkeit, der darin besteht, daß mehr klar erkannte Kriterien für die Wahrheit eines Satzes sprechen als dagegen.« 57

Baumgarten muss schließlich selbst kategorisch urteilen, wenn er fordert, dass »[z]weiffelhafte Dinge, nebst unwahrscheinlichen Träumen […] mit Recht von allen Cathedern verbannt« 58 bleiben sollten. Schon die Antrittsvorlesung sucht nach verbindlichen Grundlagen für eine neu zu gründende Wissenschaft und ihre Lehrpraxis zwischen Denken und Darstellen. Beides muss sich unter Einbeziehung ihrer eigenen logischen und rhetorischen Voraussetzungen neu erfinden. Wissenschaft um ihrer selbst willen lehnt Baumgarten auch aufgrund der »Treuepflicht« des akademischen Lehrenden radikal ab. Es geht nicht um »schiere Berufung auf eigene oder fremde Autorität«, sondern vielmehr darum, die Erkenntnisvermögen der Hörer »durch die Klarheit [des] analytischen Vorgehens und durch »Ubungen [sic] in Gegenwart eines Geübtern« soweit zu stärken und auszubilden, bis ›sich in wenigen Monathen die ersten Früchte der gebührend angestrengten Aufmercksamkeit zeigen, und man das, was vorher dunckel schien, mit andern Augen anzusehn im Stande ist‹«.59 Im Fokus der Aufmerksamkeit steht bewusst ein ethisches Anliegen. Auf klärung zielt auf schrittweise Vervollkommnung, auf gelingende Lebensführung und Verbesserung der Lebensumstände, also auch auf Vervollkommnung eines lebendigen Wissens. Mit Baumgartens Plädoyer für ein philologisches Studium der Quellen im Lichte der Aktualität kündigt sich Kants »Zeitalter der Kritik« 60 an, ohne die Ästhe­t ik durch den Kritikbegriff zu verdrängen und sie durch philologische Fleißarbeit eines unkritischen Textstudiums überzustrapazieren. Das Quellenstudium der Alten erschöpft sich nicht in einem bloßen Auswendiglernen (memoria), sondern sucht die sachliche Angemessenheit (aptum) eines Gegenstands und seiner Darstellung. Damit reiht Baumgarten seine Überlegungen in den klassischen Ablauf einer öffentlichen Rede der rhetorisch-poetologischen Tradition ein.61 Gelingt die rhetorische Vermittlung in der Lebendigkeit des Vortrags, so winkt auch das Versprechen einer Auf klärung der Urteilskraft. Letztere darf sich nicht mit einem festen Wissens­ bestand an Überlieferungen begnügen:

Zitate: Aichele, »Einleitung« zu den Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall, 279. vom Vernünfftigen Beyfall, 295 (§ 8). 59 Aichele: »Einleitung« zu den Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall, 278 f., Zitate von Baumgarten, 290 (§ 4, Anm.) und 294 (§ 7). 60 Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werkausgabe in zwölf Bänden, »Vorrede« zur 1. Auf l. (1781), Bd. III, 13. 61 Vgl. Aichele: »Einleitung« zu den Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall, 275. 57 Alle

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»[S]o wird es bald Zeit seyn, den lächerlichen Wahn gäntzlich abzulegen, der vielleicht aus einigen irrigen oder übelverstandenen Redens-Arten des sonst ehrwürdigen Aristoteles seinen Ursprung genommen, als sey manches bloß darum zu erlernen, damit wirs wissen.« 62

In diesem Bemühen, »theoretisch[e] und practisch[e] Wahrheiten« 63 zusammenzuführen, zeigt sich eine doppelte Herkunft, die prägend ist. Baumgarten ist sowohl Auf klärer als auch Pietist: »DU bleibst mein Richter«,64 so die Apostrophierung in der öffentlichen Antrittsvorlesung. Die Forderung, das schöne Denken als Wissenschaft zu begründen, stellt in diesem Sinne eine Grenzerweiterung, vielleicht auch Grenzüberschreitung hin zu einem noch ausstehenden Akt des Lesens dar. Angestrebt werden spannungsreiche Beziehungen, auch Querverbindungen zwischen alten und neuen Disziplinen. Eine solche Gratwanderung zwischen dem Alten und dem Neuen schafft Bedarf an Diskussionsstoff. Das wird in dem vorliegenden Band deutlich. Neben der bilan­ zierenden Aufarbeitung der epistemologischen Neuerungen und Umwertungen durch Baumgartens Werk haben wir ein besonderes Gewicht auf die Würdigung von Baumgartens Ausstrahlungskraft in eine Vielzahl akademischer Disziplinen gelegt. Die einzelnen Beiträge lassen sich in vier große Abteilungen untergliedern: I. Ästhe­t ik, Systematik und Episteme II. Rhetorik und Poetik I II. Ethik und Naturrecht I V. Horizonte und Resonanzen. 1. Ästhe­tik, Systematik und Episteme Die epochemachende Geste von Baumgartens Begründung der Ästhe­tik gilt es als Überschreitung nationaler Literaturgeschichte zu würdigen. Baumgarten kann nach Horaz und Ovid als der letzte Vertreter der lateinischen Renaissance-Poetik angesehen werden. Das zeigt Anselm Haverkamp in seinem Beitrag. Rhetorik und Poetik sind zwei Säulen für die Ästhe­tik, die den Rahmen der Rhetorik-Hand­ bücher jedoch entschieden überschreitet und sie auf eine neue Grundlage stellt. Dem wahrscheinlich schönsten Bild der Auf klärung für Wahrheit – die Morgenröte oder Aurora in Anspielung auf Ovid – liegt das ästhe­t ische Grundmuster poetischer Produktivität zugrunde. Die Verflechtung der Worte (verba) ist nicht 62 Gedancken

vom Vernünfftigen Beyfall, 296 (§ 9).

63 Ebd. 64 Ebd., [Zueignung an den Leser], 284. Vgl. auch Met., »Vorrede« zur 1. Auf l. 1739, 3: »Indem ich DICH anspreche, spreche ich die Schar der zu allem Schwierigen auferlegten Geister an, die als meine Mitstreiter in freundschaftlichem Wetteifer durch die Vorhalle menschlicher Gelehrsamkeit und den Saal der spezielleren Logik ins innerste Heiligtum der ersten Prinzipien des Wissens vordringen wollen.«



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mit den Dingen (res) zu verwechseln, sie verkörpert vielmehr den ästhe­tischen Überschuss, die Wort-Ausdrucksfülle (copia), in allegorischen Bildern. Baumgartens Begriff der Vollkommenheit des ästhe­tischen Gegenstands als eines solchen ist nicht formal. Denn er orientiert sich an der sinnlichen Evidenz einer sich selbst durchsichtig werdenden Wahrnehmung. Im Analogon der Vernunft erscheint die logische Transparenz der noeta als funktionale Äquivalenz zu der obskuren Intransparenz der aistheta. Die Ästhe­t ik stellt eine Provokation der Literaturgeschichte dar. Das Reflexivwerden ihrer Figuren illustriert Geschichte nicht einfach, sondern ermöglicht deren Reflexivwerden in der ihr eigenen Geschichtlichkeit. Indem sie die aistheta als analoga der philosophisch-dogmatischen Begriffsgeschichten (noeta) rekonstruiert, ist Ästhe­tik nicht Motivgeschichte, sondern Begreifensgeschichte. Mit dem Begriff der ästhe­t ischen Wahrheit führt Baumgartens Ästhe­t ik eine Konkurrenz zum logischen Wahrheitsbegriff ein. Durch den Akt der Emanzipation der Sinne entsteht ein Wissensuniversum, das die logische Leitidee einer Wahrheit, die sich noch einer aufweisbaren Ontologie und Kosmologie verpflichtet weiß, unterläuft und pluralisiert: »Die aistheta sind der Schatten der noeta, aber auch deren Grund und Quelle.« Hans Adler beschreibt dieses Wissensuniversum in Form von konzentrischen Kreisen, deren Mitte die philosophische Poetik bildet, welche von der Ästhe­t ik und der Gnoseologie bis hin zum äußeren Rand der Meta­phy­sik umfasst wird. Die Theorie der unteren Erkenntnisvermögen ergänzt die Wolff’sche Meta­phy­sik, indem sie einen neuen Fluchtpunkt für die Umbesetzung des Begriffs der ratio schafft. Mit Rückgriff auf Leibniz wird die Erkenntnisleistung der Sinne als eine gewürdigt, die nur via Analogie erbracht werden kann. Menschliche Erkenntnis ist analog, das heißt deiktisch. Sie zeigt auf eine Ordnung, einen Kosmos, der nicht einfach ist, sondern sein soll. Wahrheit beschränkt sich nicht darauf, ein bloßes Attribut einer Abbildung eines Sachverhaltes zu sein, sie behauptet sich vielmehr in der Treffsicherheit von Vorstellungen (perceptiones, repraesentationes). Daraus ergibt sich eine Kaskade von Wahrheitsgraden, die Baumgarten mit einem Fächer von Wahrscheinlichkeiten versieht. Die logische und die ästhe­tische Wahrheit unterscheiden sich nicht durch den Reiz, der die Vorstellungen provoziert, sondern durch ihre unterschiedliche Reizverarbeitung. Beide sind dem Satz vom Grund und dem Satz vom Widerspruch verpflichtet, was ihren gemeinsamen gnoseologischen Ausgangspunkt sichert. Der Unterschied besteht in der Art der Gewinnung von Erkenntnis. Die logische Wahrheit wird analytisch-begrifflich gewonnen, die ästhe­t ische ganzheitlich. Die Tatsache, dass die wahrgenommenen Gegenstände nicht die Gegenstände selbst sind, erklärt auch, warum es keine Diskrepanz zwischen der Meta­phy­sik auf der einen und der Ästhe­tik auf der anderen Seite gibt. Baumgartens Wahrheit des ganzen Menschen stellt einen Beitrag zur anthropologischen Wende des auf klärerischen Rationalismus dar. Aus dieser Perspektive plädiert Adler dafür, sich die Brisanz der ästhe­t ischen Wahrheit im Licht gegenwärtiger Debatten um die Neurowissenschaften vor Augen zu führen.

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In Baumgartens eigene Reflektionen über Wahrheit und Größe des Ästhetischen entführt uns Francesco Piselli. Es wird ein zwiefältiger Baumgarten erkennbar: zum einen der gedanklich strenge und mehr als konsequente Verfasser der großen akroa­ matischen Lehrbücher, wie der Metaphysica, und zum anderen der phantasievolle, dem Sinnlichen zugetane Kenner und Liebhaber der klassischen Literatur, der über dem zweiten, unvollendet bleibenden Teil seiner Aesthetica sitzt und vor der dringlichen Abgabe des Manuskripts an den Verleger seine ästhe­t ischen, ihn selbst existentiell bestimmenden und tragenden Einsichten vor dem inneren Auge Revue passieren lässt. Dunkle Vorstellungen aus dem fundus animae drängen an das Licht des Klaren, verbinden sich mit seherischen Ahndungen zukünftiger philosophischer und literarischer Einsichten in das Wesen des Schönen, in die metaphysisch unverbrüchliche Wahrheit des Phänomenalen. Im unbeirrbaren Verfolgen und Festhalten an der dieselbe immer zugleich begründenden und übersteigenden sinnlichen Präsenz der Wahrheit wandelt sich das Schöne ins Erhabene – und Baumgartens ästhe­t ische Reflexionen von den Meditationes bis zu den letzten Seiten der Aesthetica werden so zu einem (Selbst-)Zeugnis der Seelengröße (magnanimitas) des Begründers der Ästhe­t ik, die darin selbst – ästhe­t isch – zur Erscheinung gelangt. Aber auch die genaue Systematik von Baumgartens Aesthetica ist beeindruckend. Sie sowohl philosophisch als auch literarisch zu entdecken und zu berücksichtigen, beansprucht eine Kunst des aufmerksamen Zuhörens (oder Lesens). Das Systematische an Baumgartens Werk verbindet die einzelnen Schriften zu einem (unabgeschlossenen) komplexen Ganzen. Mit Hilfe der Kategorie der ›Intertextualität‹ kann dieser systematische Zug herausgearbeitet werden. Dagmar Mirbach tut dies, indem sie die Intertextualität von Baumgartens Werk paradigmatisch in ihrer systematischen Methodik untersucht. Für die intertextuellen Bezugnahmen lassen sich drei Rahmenphänomene ausmachen. Zum einen besteht ein enger entstehungsgeschichtlicher Zusammenhang zwischen den drei Haupttexten Metaphysica, Ethica philosophica und Aesthetica, zum anderen liegt es in der Intention von Baumgartens akroamatischer Schreibweise, im Vortrag bzw. im Lesen ergänzt werden zu müssen, und zum dritten basieren Baumgartens intertextuelle Bezugnahmen auf einer von ihm selbst konzis formulierten Zeichentheorie. Intertextualität gerät nicht bloß zu einem äußerlichen Instrument, das die Textanalyse hinzufügen muss, sondern sie bildet vielmehr ein systematisch inhärentes Moment, dem eine bedeutsame Funktion innewohnt. Die dynamische Spannung zwischen zwei Prinzipien – praeponitur und illustratur – weist auf ein epistemologisches Projekt, das darin besteht, präzise Bestimmungen von Nähe und Distanz zum Prae- und Ausgangstext vorzunehmen. Sichtbar wird eine Typologie von verschiedenen Verweisen, die jeweils unterschiedliche Perspektiven hervorbringen. Binnenverweise, Querverweise, Zitate, Paraphrasierungen, Anspielungen, lexikalische Verweise – mehr oder weniger explizit verweist dieses komplexe Netz von intertextuellen Bezügen nicht nur auf das ›Woher‹ des in der Argumentation jeweils Vorausgesetzten, sondern oft auch erhellend auf das ›Wohin‹ oder das ›Wozu‹ der jeweiligen Argumentation selbst.



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Der vernetzte Werkzusammenhang erscheint trotz oder gerade aufgrund seiner systematischen Ganzheit selbst wie ein unvollendeter Praetext. Sein ästhe­tischer Anspruch auf Vollkommenheit ist nicht erfüllbar, vielmehr im Akt des reflektierenden und selbstreflektierenden Lesens erst näherungsweise einzulösen. Die Ästhe­tik erscheint als ältere Schwester der wissenschaftsgeschichtlich älteren Logik, ihr monadologischer Charakter fließt aus der Metaphysica. Nicht Rhetorik, sondern Logik ist daher die wichtigste Referenzdisziplin für Baumgartens Aesthetica. Das erfordert eine systembezogene Perspektive, wie sie Constanze Peres entwickelt. Das Verhältnis von observatio und experimentum weist auf einen methodischen Vermittlungsversuch zwischen der logischen und der ästhe­tischen ars empirica. Empirie ist im Sinne eines kontinuierlichen Übergangs hin zu einer Station höherer Erkenntnis zu verstehen. Der Ästhe­tik kommt aus diesem Grund eine Doppelfunktion zu. Zum einen geht es um die naturwissenschaftliche Erforschung physikalischer Körper und Prozesse, zum anderen um die Genese gnoseologischer Erkenntnis. Um diese Doppelfunktion zu gewährleisten, beruft sich Baumgarten in ungewöhnlicher Weise auf die Mantik. Die Traumlehren der Alten liefern die Grundlage für ein neues, verallgemeinerbares Zukunftswissen, ein metaphysisches Wissen vom lückenlosen Zusammenhang. Mithilfe der Mantik kann Ästhe­t ik auf diese Weise als epistemische Basis für den Bereich der theoretischen Philosophie dienen. Baumgarten leitet den Ort der Physik von der Kosmologie ab, ästhe­t ische Mantik und philosophische Physik überschneiden sich. In vielfacher Hinsicht geht es beiden um gemeinsame Gegenstände. Die antike Zeichenkunde der Vorbedeutungen – die darin besteht, Ähnlichkeiten in Verschiedenheiten auszumachen – bildet den vortheoretischen Erkenntnisbereich zu einer Empirie, deren Methode durch die des Witzes zu ergänzen ist. Beschreibung und Analyse werden so auf den vernunftgeleiteten Weg der Erfahrung gebracht. Der Umgang mit dem Wunderbaren führt in ein prinzipiell intelligibles Universum und zu einer neuartigen und vorausweisenden Konzeption des Ästhetischen. Mit Baumgartens Behauptung, dass »Philosophie die Wissenschaft« ist, die Beschaffenheiten in den Dingen zu erkennen«, eröffnet Alexander Aichele, und mit Baumgartens Behauptung, »dass jeder Satz der theoretischen Philosophie von Relevanz für die Praxis sei«, schließt er seine Untersuchung von Ding und Begriff. Baumgartens Theorie ästhe­tischer und szientifischer Erkenntnis schafft eine systematische Begründung und einen stringenten Zusammenhang zwischen beiden Behauptungen. Wenn das göttliche Allwissen in der vollständigen klaren und deutlichen Erkenntnis sämtlicher Bestimmungen durchgängig bestimmter Einzeldinge in Form von (intensional strukturierten) Individualbegriffen besteht, was deren (Wirklichkeit und Möglichkeit beinhaltende) Realdefinition in Form singulärer Terme einschließt, so muss im Gegensatz dazu die logische (extensional strukturierte) klare und deutliche Erkenntnis des menschlichen endlichen Geistes im Hinblick auf durchgängig bestimmte Einzeldinge aufgrund ihres für wahre Propositionen notwendigen Anspruchs auf universale Terme stets unvollständig, in einer »gewissen

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Ungewissheit« verbleiben. Denn die reale durchgängige Bestimmtheit (und damit Wirklichkeit) eines Einzeldings bleibt für die logische Erkenntnis nicht fassbar: Was logisch wahr ist, kann gleichzeitig metaphysisch falsch sein, logische und meta­ physische Wahrheit sind verschieden. Demgegenüber ist die sinnliche Erkenntnis eines endlichen Geistes auf der basalen Grundlage seiner eigenen leiblichen Existenz im Hinblick auf die aktuale Wirklichkeit sämtlicher vom Erkennenden selbst unterschiedenen anderen Einzeldinge immer schon vollständig und gewiss. Dies trifft jedoch nicht in Hinblick auf deren noch nicht existente, nur mögliche zukünftige Zustände zu, die im Bereich des Sinnlichen nicht überprüf bar sind und der sinnlichen Erkenntnis daher notwendigerweise verworren oder dunkel bleiben müssen. Aus dieser ungewissen Gewissheit logischer bzw. der Dunkelheit ästhe­ tischer Erkenntnis erwächst die Bedeutung der szientifischen (ästhetikologischen, empirischen) Erkenntnis bei Baumgarten. Formalontologisch mit dem Bereich des Möglichen befasst, empirisch an die hypothetische Notwendigkeit des nur ästhe­ tisch erfahrbaren Kontingenten zurückgebunden, ergibt sich daraus zum einen »die Offenheit der Philosophie für Revision und Forschung«, zum anderen der ihr intrinsische praktische Bezug zur Wirklichkeit. Einen weiteren Spannungsbogen, nämlich eine Doppeldeutigkeit von Baumgartens Ästhe­tik zwischen Leibniz und Wolff, öffnet Gérard Raulet. Der Figur der inventio kommt in dieser Ambiguität eine entscheidende Bedeutung zu – und zwar als logische Frage, an der sich die eigentlich epistemologischen Übergänge vollziehen. Die Radikalisierung der inventio erfolgte durch Bacon, Descartes und Leibniz. Auf diesem Terrain und nicht auf dem der imitatio spielt sich die Geburt der philo­sophischen Ästhe­t ik als einer logischen Wissenschaft ab. Die episteme esthetike¯ , die Baumgarten in seinen Philosophischen Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes herbeiwünscht, sind keine Schöpfung ex nihilo. Sie stellen eher bahnbrechende kleine Verschiebungen dar, die sich allmählich und innerhalb der etablierten Episteme durchsetzen. Äußerste philologische Vorsicht ist also geboten, wenn zu entscheiden ist, ob man es wirklich mit einer neuen Erkenntnisdimension zu tun hat oder lediglich mit einer Schicht oder Sphäre am Schnittpunkt der Logik und der Empirischen Psychologie. Das empirische Moment setzt bei den Eigenschaften der Dinge selbst ein. Mit der Erfindungskunst – ars inveniendi – also der Kunst, unbekannte Wahrheiten aus gegebenen Sätzen und Definitionen abzuleiten – spielt Baumgarten Wolff gegen Descartes aus. Leibniz’ inventive Logik wird transformiert in eine sensitive Logik, um deren Autonomie gekämpft werden muss. Sie macht sich frei von Leibniz’ Projekt einer logica universalis, ist nicht mehr kompatibel mit einer rhetorischen Praxis als einer Kombinatorik von gegebenen Versatzstücken. Kant sieht in der Vergeblichkeit, Ästhe­tik unter Vernunftprinzipien zu bringen, nur zwei Möglichkeiten: Sie ist teils im transzendentalen Sinn, teils in psychologischer Bedeutung zu entwickeln. Baumgarten erfasst dies auf paradoxem Wege, indem er die moderne Erkenntnis in Kenntnis setzt von der Unermesslichkeit ihres eigenen Feldes.



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2. Rhetorik und Poetik Die Definition der Ästhe­t ik in der Metaphysica weist auf ein komplementäres Verhältnis von Aufmerksamkeit und Abstraktion. Beide bedingen einander: Aufmerksamkeit erscheint das Nächstliegende, sie ist der Anfang aller Konzentration, deren Schatten, die Zerstreuung, sie begleitet. Abstraktion dagegen betrachtet die Konsequenzen der Aufmerksamkeit, indem sie von anderem absieht. Die Abstraktion betreibt das Geschäft der Wissenschaft, die Aufmerksamkeit das der Kunst. Diese Übernahme der Kunst durch die Wissenschaft markiert von Descartes bis Kant den Unterschied des Objektiven und Subjektiven. Baumgarten lässt jene Konfiguration in eine alte rhetorisch-technische Zweiheit ein, deren komplexer Bauweise sich Rüdiger Campe widmet. Die rhetorische Differenzierung zwischen Überredung (persuasio) und Überzeugung (convictio) trägt die Gespaltenheit von Sinnlichkeit und Intellekt in sich. Sie lässt auch die Einheit einer Kategorie zusammenfallen, die für die Ästhe­tik zentral ist: Die apperceptibilitas – Verstehbarkeit oder Auffassbarkeitals-etwas – oder auch Selbstauslegung des Seins beruht auf der Korrespondenztheorie. Wenn appercibilitas heißt, dass die Perzeptionen der Weise entsprechen, wie Welten zu Einheiten geordnet werden können, so ist der Zusammenhang von Möglichkeitsraum und technischer Realisierung in beide Richtungen gültig. Die rhetorische Technik erfährt daher durch Baumgartens Ästhe­tik eine psychologische Reinterpretation. In der rhetorischen Selbsterregung ist eine Doppelung von Verallgemeinerung und Anwendung (»Beobachtungen mitten im Experimente«) am Werk. Die gegenseitige Bedingtheit von Experiment und Beobachtung spiegelt die Struktur der apperceptibilitas. Jenes spiegelbildliche Verhältnis von Beobachtungspraxis und apperceptio geht schließlich in Baumgartens ästhe­tische Figur der Aufmerksamkeitserweiterung (attentio extendenda) ein, die zum Schlüsselbegriff für den zweiten Teil der Aesthetica wird. Indem sowohl die Aufmerksamkeit für den besonderen Gegenstand als auch das Allgemeine der Abstraktion zur Darstellung gelangen können, entsteht ein topisches Verfahren, das die Darstellungsweisen der Künste nicht nur beschreibt, sondern es ihnen zugleich ermöglicht, auf die Unterscheidung von Philosophie und Ästhe­t ik zurückzublicken. »Zum Charakter des glücklichen Ästhe­t ikers wird die Einübung und die ästhe­t ische Übung erfordert«.65 Unter anderem sollen diese ästhe­tischen Übungen aus »Improvisationen« bestehen. Wie aber übt man »aus dem Stegreif«? Christiane Frey geht diesen Fragen nach, mit Rekurs auf die rhetorische Tradition der progymnasmata, der Tradition des nachahmenden Lernens an Beispielen, und in einem Vergleich von Baumgartens Aesthetica mit Kants Kritik der Urteilskraft. Die Improvisation in der Redekunst besteht Quintilian zufolge darin, den Eindruck zu erwecken, etwas wie ein miraculum erscheinen zu lassen, was tatsächlich durch viel Arbeit und Übung (exercitatio) und immer in Verbindung mit der doctrina erreicht wurde. Baumgarten 65 Aesth.

§ 49.

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verändert diese Konzeption der Improvisation als »Ergebnis mühseliger Übung und genauer Theoriekenntnis«, indem er die Veranlagung zum Schönen als unwillkürlich, also als natürliches Tun des Geistes, versteht. Anders als Wolff, Gottsched oder Fabricius traut Baumgarten der Improvisation mehr Eigenständigkeit zu. Auch Kant schätzt die Urteilskraft als »ein besonderes Talent, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will«.66 Der vielzitierte Satz aus der Dritten Kritik – »Beispiele sind die Gängelwagen der Vernunft« 67 – schenkt gerade den konkreten Fällen Aufmerksamkeit. Denn Beispiele beugen einer Gewöhnung an Regeln vor und schulen die Urteilskraft durch Übung. Baumgartens Begriff von der ungeschulten Übung, die noch nicht im Dienst der doctrina steht, sich jedoch auch nicht mit bloßer Natur verrechnen lässt, erhält durch Kants Entlassung aus dem Dienstverhältnis der Regel noch schärfere Konturen. Baumgartens Philosophie wäre ohne das epistemische Medium Literatur »buchstäblich undenkbar gewesen«, so Frauke Berndt in ihrem Beitrag über die Kunst der Analogie. Um den Mangel an apriorischen Begriffen in der modernen Ästhe­tik aufzufangen, verschiebt Baumgarten die Grenze von Begrifflichem und Unbegrifflichem. Die Beobachtung und Beschreibung des literarischen Textes springt in die Lücke eines komplex gewordenen Wissens. Gerade für die wichtigeren Regeln der Ästhe­t ik ist Literatur nicht einfach nur Ausgangsbeispiel oder Belegbeispiel. In der aristotelischen Rhetorik hebt sich das Beispiel vom Beweis ab, weil nicht begriffliche Strukturen, sondern Ähnlichkeit sein epistemologisches Fundament bilden. Dadurch rückt das Beispiel in die Nähe zu anderen symbolischen und analogen Figuren wie dem Vergleich/Gleichnis, der Allegorie und der Metapher. Baumgartens Weg eines doppelten Syllogismus – »[d]ie rhetorische Figur des Beispiels ist Beispiel des literarischen Textes, der wiederum Beispiel der sinnlichen Erkenntnis ist« – führt direkt in die moderne Epistemologie des Exemplarischen, die am Anfang des 20. Jahrhunderts zur »eigentlich erkenntnisstiftenden Instanz« aufgewertet wird. Die Komplexität des Beispiels, das sich durch Merkmalsfülle und Verdichtungshöhe auszeichnet, erlaubt es, die Strukturen der sinnlichen Erkenntnis zu analysieren. In den Meditationes wird diese rhetorische Ausgangslage zu einer literarischen Epistemologie erweitert, welche die phänomenale Individualität des Zeichens zum Ausdruck bringt. Für die Aesthetica gewinnt das Beispiel des literarischen Textes schließlich paradigmatischen Status. Die Entdeckung der ästhe­tischen Wahrheit führt dazu, dass Baumgarten »aus dem begrifflichen in den poetischen Modus« wechselt und der Philosoph zum Dichter wird. Durch diese analogische Bewältigungsstrategie einer Wissenschaft, die sich selbst als eine sinnliche versteht, schreibt Baumgarten die Ambiguität seines eigenen Projekts fest. Der wechselseitige Balanceakt zwischen Erkenntnis und Darstellung wird zur Kunst der Analogie. Es entsteht eine meto­ 66 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 2. Auf l. 1787, in: ders.: AA , Bd. III , Berlin 1904, 131. Hervorhebung Chr. Fr. 67 Ebd.



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nymische »Verschiebungsdynamik«, in der Metonymie genau das leistet, was die philosophische Begriffsarbeit nicht mehr zu leisten vermag. Ästhetische Wahrheit verdichtet sich in einer Serie von Bildern. Das analoge Verfahren lässt sich in das Bild des Relais fassen, an dem die Episteme der Repräsentation in Episteme der Präsenz umschlagen. Die ästhe­tische Wahrheit erscheint als nie zu erreichender Fluchtpunkt. Einen signifikanten Anhalt im Balanceakt seiner Ästhe­t ik an der Schnittstelle von Erkenntnistheorie und Anthropologie und innerhalb des ästhe­tischen Doppel­ ansatzes selbst von Erkennen und Darstellen, Öffnen und Einlassen sieht Andrea Aller­kamp in Baumgartens Behandlung des Traums. Mittels der besonders ambivalenten Rolle, die der Mantik als Kunst des Deutens und des Erfindens von Zeichen zugesprochen wird, vermag Baumgarten zum einen zwar dem Anspruch auf eine wahrnehmungspsychologische Rehabilitation des singulären Träumens zu entsprechen, zum anderen aber droht schon die antike und frühauf klärerische Onirocritica (Traumkritik) in der ihren eigenen Systematisierungstendenz vor diesem Anspruch noch zu kollabieren. Anknüpfend an Heraklits Unterscheidung der gemeinsamen Welt oder Ordnung (kosmos koinon) der Wachenden und der idiosynkratischen Welt (kosmos idion) des einzelnen Träumenden kann auch Baumgartens Erweiterung der wirklichen Welt durch ›heterokosmische Erdichtungen‹ als zunächst beunruhigende Herausforderung der klaren und deutlichen Vorstellungen des Logos betrachtet werden. In den durch die facultas fingendi hervorgebrachten Erdichtungen, bei deren Genese ein – bildlich dem Verweilen im antiken Musentempel vergleichbarer – Zustand der kreativen Müßigkeit am Übergang zwischen Wachen und Träumen eine nicht unerhebliche Rolle spielt, gelangt ein »ästhe­ tische[r] Überschuss« der Erkenntnis zur Darstellung. Gerade in seinen nicht durch Deutlichkeit gekennzeichneten dunklen Abschattierungen birgt dieser Überschuss das Potential einer Wirklichkeitserweiterung in sich. Gleichwohl sollte, so Baumgarten mit Wolff, die heterokosmische Erdichtung die von zwei Prinzipien – des ausgeschlossenen Widerspruchs und des zureichenden Grundes – gesteckte Grenze nicht überschreiten. Denn schiere Unordnung und ästhe­tische Falschheit kennzeichnen den mundus fabulosus der utopischen Dichtungen. Der Traum bleibt somit erkenntnistheoretisch bei Baumgarten ein Grenzphänomen, eine Rehabilitation des Traumes gegenüber dem cartesischen Zweifel wird noch nicht vollzogen. Signifikant ist daher Baumgartens Verbindung des Träumens mit den sinnlichen Vermögen der praevisio und der praesagitio. Auch hier lässt sich eine Kontinuität zu den antiken Traumlehren und zu Descartes’ im Zusammenhang mit der Traumanalyse genannter admiratio beobachten. Zum einen insinuiert dies eine Öffnung und Einlassung der ästhe­t ischen Wahrnehmung und Darstellung auf Zukünftiges, was deren affektiv wirksames, handlungsleitendes Potential impliziert. Zum anderen aber wird die Schwelle zu einer erkenntnistheoretischen Traumkritik, deren methodische Grundlage Baumgarten zu schaffen versucht, indem er im Streben nach begrifflicher Deutlichkeit die Systematisierungsansätze der Mantik hoffnungslos überdeterminiert, noch nicht überwunden.

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Baumgartens Kenntnis des frühauf klärerischen Dichters Barthold Heinrich Brockes kann nicht philologisch nachgewiesen werden. Das ist auch nicht das hauptsächliche Anliegen von Andrea Krauß. In ihrem Beitrag stehen vielmehr »mittelbare Affiliationen« zur Verhandlung. Die Korrespondenz stellt sich über Dritte her. Breitinger und Bodmer kritisieren Brockes als Naturforscher, der zu sehr an den Sinnen haftet und der Einbildungskraft als treibende Kraft für die Dichtung zu wenig Raum gewährt. Demzufolge hat Brockes keinen Zugang zu den möglichen Welten der produktiven Einbildungskraft, er erscheint mehr als Historiker denn als Poet. Baumgarten dagegen wertet Einbildungskraft und Dichtungsvermögen anders, und zwar im Rahmen der Empirischen Psychologie nach Wolff. Da die Einbildungskraft auf die einst gegenwärtigen Empfindungen der Sinne bezogen bleibt, kann sie das Reservoir für die möglichen Ordnungen, Kombinationen und Zusammenhänge darstellen, welche das produktive Dichtungsvermögen hervorbringt. Baumgartens Begriff der extensiven Klarheit ist in diesem Kontext erhellend. Extensive Klarheit kulminiert in der Vermehrung verworrener Vorstellungen. Baumgarten zufolge ist es das Gedicht, das jene zur Einheit gebrachte Mannigfaltigkeit zur Vollkommenheit bringt, indem es das »Eigentümliche und nicht Vergleichbare« eines individuellen Gegenstandes konkretisiert. Das Gedicht offeriert Einzelvorstellungen und koordiniert diese zu einer komplexen vorbegrifflich-sensitiven Struktur. Dies geschieht in Gestalt von »verdichteten Formen« wie etwa Aufzählungen, Beschreibungen und Beispielen oder Worttechniken, also in rhetorischen Wort- und Gedankenfiguren wie Metaphern, Synekdochen, Allegorien und Epitheta, in Metrum und Reim. Baumgarten nennt das Kompositionsverfahren einer nach Grund und Folge organisierten Ordnung die »lichtvolle Methode«, die ganz im Sinne der Frühauf klärung der vollkommenen Weltordnung Gottes in der eigenen fiktiven Welt entspricht. Aus der Sicht der extensiven Klarheit schafft die rhetorische Figurenlehre schließlich die Grundlage für das menschliche Erkenntnisvermögen. Baumgartens Begriff der extensiven Klarheit ermöglicht es, Brockes’ Gedichte epistemologisch zu erschließen, was sich anhand des konkreten Beispiels Das Firmament zeigen lässt. Brockes präsentiert Ästhetisches im Sinne der allgemeinen Erforschung einer materialen Aisthesis, also diesseits einer Unterscheidung zwischen Gedichtpoetik und technisch-ästhe­tischer Erfahrungskunst. Die physikotheologische Vermittlung erscheint hier als »Sprung«, als »Übertritt zwischen Naturpreisung und Lobpreisung Gottes«. Brockes Firmament wird so zu einer Art ›poetischem Fernrohr‹, das die Aufmerksamkeit auf den Gegenstand Natur und die technisch-konstruierte Wahrnehmung lenkt. Die antithetische Topik seines »rhetorischen Perspektivs« kann ihr Augenmerk auf den Schwellenraum der Erkenntnis und damit auch auf die prinzipielle Unabschließbarkeit des Wissens richten. Damit inszeniert das Gedicht den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Medientheorie, der auch in Baumgartens Werk zunehmend unter Spannung gerät.



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3. Ethik und Naturrecht Im Spannungsfeld zwischen Pietismus und Rationalismus kommt Baumgartens Ethica philosophica eine »Schlüsselrolle« für Baumgartens »Abnabelung von seiner pietistischen Herkunft und für seine Ausbildung zu einem eigenständigen Wolffianer zu«. Unter Miteinbezug der Initia philosophiae practicae primae und der an der Viadrina unter dem Vorsitz des neuberufenen jungen Professors abgehaltenen Disputation De vi et efficacia ethices philosophicae zeigt dies Clemens Schwaiger in vier Schritten in seiner Vorstellung der u. a. von Immanuel Kant maßgeblich rezipierten ethischen Hauptschrift Baumgartens. Zentral ist, erstens, an Baumgartens Definition der Ethik, deren Kern erstmals der Begriff der obligatio bildet, zum einen – unter Aufnahme der von Christian Thomasius ausgebildeten Unterscheidung von Recht und Moral – ihre Bestimmung als ›Wissenschaft von den inneren Verpflichtungen des Menschen im natürlichen Zustand‹, und zum anderen – in Abgrenzung von der Moraltheologie – als dezidiert philosophische Wissenschaft. Als »genuine Schöpfung Alexander Gottlieb Baumgartens« kann, zweitens, sein Entwurf von vier »Anti-Modellen philosophischer Ethik« (lax, schmeichelnd, finster-mürrisch oder trügerisch) betrachtet werden, die seinen Entwurf näher konturieren. Auf der Grundlage des Satzes impossibilium nulla est obligatio beschreitet Baumgarten, drittens, im »Spannungsverhältnis von philosophischer Ethik und theologischer Moral« einen Mittelweg zwischen Glaubensmoral (Gnadenlehre) und Vernunftmoral (Pelagianismus-Vorwurf ), indem er trotz seines »selbstbewusste[n] Eintreten[s] für die Autonomie philosophischen Denkens« die grundsätzliche Vereinbarkeit von philosophischer und christlicher Ethik vertritt. Das »Grundanliegen« Baumgartens, die Wirksamkeit der philosophischen Ethik gegenüber ihrer Bezweiflung durch die pietistische Moraltheologie aufzuzeigen, erweist sich schließlich, viertens, an seiner »produktiven Aneignung [des] pietistischen Grundanliegen[s] einer Verlebendigung der Erkenntnis« in dem für Baumgartens Erkenntnispsychologie zentralen Begriff der cognitio viva, womit über den bereits von Johann Franz Budde verwendeten Begriff Schlüsselbegriff der aisthesis nicht nur eine »konsequente Enttheologisierung« des »pietistischen Erbes« einhergeht, sondern sich auch der Kreis zu Baumgartens Meditationes und zu seiner Aesthetica schließt. Betrachtet man den von Baumgarten nicht in seiner Ethica philosophica, sondern in seiner Metaphysica »wie selbstverständlich« verwendeten Satz causa causae est etiam causa causati mit Jan C. Joerden in seiner ethischen und rechtlichen Dimension, so geht es dabei um die Frage nach der »Zurechnung von Verantwortlichkeit«. Als Argumentationstopos steht der Satz bereits zur Zeit Baumgartens in einer längeren Tradition und wird auch nach ihm, so bei Kant und Schopenhauer, kritisch diskutiert. Erstmals verwendet wird die auch von Wolff in seiner lateinischen Meta­ phy­sik eingesetzte Formel der transitiven Kausalrelation, »Die Ursache der […] Ursache ist auch die Ursache des Versursachten«, bei Nikolaus von Amiens, um bei

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Thomas entscheidend gegen die Annahme einer durchgehenden Kausalkette durch die Frage der »aus der Ordnung der ersten Ursache« heraustretenden causa libera, der freien Entscheidung des einzelnen Menschen erweitert zu werden. Metaphysisch unterscheidet auch Baumgarten wesentliche und nur zufällige (akzidentelle), der obersten Ursache (Gott) untergeordnete Mitursachen. Beschreibbar mit dem sogenannten ›Münchhausen-Trilemma‹ findet die Diskussion um die causa-causaeFormel, die causa libera und die causa libera in actio und die damit verbundene »Lehre von der Verantwortlichkeit einer Person für ihre Taten« Eingang in die Kantische Moralphilosophie, um in einer nochmaligen Erweiterung um die Frage nach der – juristisch nach wie vor relevanten – ›mittelbaren Täterschaft‹ bei Schopenhauer im Sinne eines »gleichsam […] moralische[n] Reperkussionsgesetz[es]« reformuliert zu werden. Im strafrechtlichen Kontext von Notwehrrecht und Zurechnungsfragen spielt dabei und weiterhin die auch von Baumgarten aufgegriffene causa-causaeFormel eine wichtige Rolle. In einem spannungsreichen Traditionszusammenhang steht Baumgarten, wie Domi­ nik Recknagel zeigt, auch mit der Diskussion des Gedankens eines atheistischen Naturrechts und der damit verbundenen These eines hypothetischen Atheismus in seinem Ius naturae, aber auch in seinen Initia philosophiae practicae primae. Im Zentrum steht dabei die mindestens doppelte Frage in der Auseinandersetzung zwischen Voluntarismus und Rationalismus, ob das Naturrecht im Willen oder in der Vernunft Gottes gegründet und ob, angenommen ex hypotesi, es gäbe keinen Gott, das Naturrecht auch von einem Atheisten vernünftig und in seiner Verbindlichkeit einzusehen sei. Zurückgehend auf Suárez und über diesen letztlich auf Gregor von Rimini hatte »[i]m Zusammenhang des Naturrechts« schon Hugo Grotius »den hypothetischen Atheismus in der Form seiner berühmten Formulierung des etiamsi daremus non esse deum für die Neuzeit bekannt gemacht«. Während seit Suárez die Lösung in der via media besteht, nämlich der durch die Vernunft (unabhängig vom Glauben) einsehbaren moralischen Qualität, aber der durch Gottes Willen gegebenen Verbindlichkeit des Naturrechts, erneuert (der selbst dem Atheismus-Vorwurf ausgesetzte) Christian Wolff die Diskussion durch den Begriff einer ›natürlichen Verbindlichkeit‹, wodurch auch Toren – und Atheisten – trotz ihrer widervernünftigen Leugnung des göttlichen Gesetzgebers ihre natürlichen Verpflichtungen einzusehen in der Lage seien. Auf der Grundlage seiner intensiven Auseinandersetzung mit Heinrich Köhlers Exercitationes iuris naturalis gelangt Baumgarten zu folgender Position: Gott ist der Urheber der Verbindlichkeit des Naturrechts; ohne Gott kein Naturrecht; auch der Atheist kann aus Vernunftgründen vom Naturrecht überzeugt werden, gleichwohl ihm mangels der Einsichten der natürlichen Theologie eine vollständiger Erkenntnis des Naturrechts abzusprechen bleibt. Es ist schließlich Georg Friedrich Meier, der im Spannungsverhältnis auch zu Baumgarten die Position vertritt, dass die Beweisgründe des Naturrechts in ihrer Gewissheit »gar nicht von der natürlichen Gottesgelahrtheit« abhingen – und damit, als Resonanz, aber in diesem Punkt auch über Baumgarten hinausgehend, dem Atheisten eine



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dem natürlichen Theologen ähnliche Einsicht in das Naturrecht und damit letztlich auch »das Recht zur Atheisterey« einzuräumen. 4. Horizonte und Resonanzen Die Wissensgeschichte der Viadrina führt Reinhard Blänkner über den »Gipfelgratdialog« hinaus in lokale Zusammenhänge und damit zum akademischen Itinerar Halle und Frankfurt/Oder. Die alte Viadrina zog 1811 nach Breslau um, interessant sind die Jahre 1740 bis 1762. Baumgarten kam als Ersatz für Christian Wolff, der den Ruf nach Frankfurt/Oder abgelehnt hatte. Im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert gehörte die alte Viadrina zu den führenden Universitäten in Norddeutschland, was sich erst durch die Gründung der Universität Halle (1694) und der Sozietät der Wissenschaften (1700) änderte, deren erster Präsident Leibniz war. In Frankfurt/Oder und Halle diente die Lehre des preußischen Naturrechts als allgemeine Grundlage der Juristenausbildung. Über Baumgartens Zeit an der Viadrina berichten seine Kollegen Georg Friedrich Meier in Halle und Thomas Abbt in Frankfurt/ Oder. Vor allem von Meier geht die Rezeption seines Denkens aus. Baumgartens Werk hat aber auch bis in den Hallenser Anakreontikerkreis und in die Popularphilosophie (Friedrich Nicolai und Johann Georg Sulzer) weiter gewirkt. Die in Frankfurt und Leipzig datierten Philosophischen Brieffe von Aletheophilus stellen ein einzigartiges Dokument für die Baumgarten-Forschung dar. Das zeigen Dagmar Mirbach und Andrea Allerkamp in ihrem Doppel-Beitrag, der sich diesen Briefen sowohl editionsphilologisch als auch hermeneutisch nähert. Baumgarten schöpft das Potential der Brief-Adressierungen so geschickt aus, dass er gleich mehreren Anforderungen nachkommen will. Dagmar Mirbach skizziert das ›kaleidoskopische Rundpanorama‹ der philosophischen Themen, die mit einer biographischen und professoralen Standortbestimmung des Frankfurter Hochschullehrers einhergehen. Nichts weniger steht auf dem Spiel als eine Positionierung im akademischen und popularwissenschaftlichen Feld. Um das leisten zu können, bedarf es einer pseudonym getarnten Selbstbeschreibung als Aletheophilus. Die Scherzhaftigkeit der vielfältigen Anspielungen an den eigenen Namen und an die pietistische Auf klärungstradition machen deutlich, welche ungeahnten Möglichkeiten im Genre des Briefes stecken. In einem engmaschigen Netz von teils fiktiven teils historischen Verweisen treten hier verborgene Filiationen zu Tage. Aus diesem Grund widmet sich Andrea Allerkamp der Dynamik wechselnder Adressierungen in den sogenannten ›Brunnenbriefen‹. In dieser kurzen Serie von drei nicht direkt aufeinanderfolgenden Briefen geht es ganz konkret in Form einer (Bildungs-)Reise um die Vermittlung ästhe­tischer Wahrheit. Durch unterschiedliche Gruß- und Schlussformeln, kokette Fabeln, dichte Metaphern und intertextuelle Bezüge stellt der junge Baumgarten hier poetologisch unter Beweis, welch hohes Maß an poetischer Selbstreflexivität erforderlich ist, um ästhe­tische Wahrheit vermitteln zu können.

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Indem die Philosophischen Brieffe logische Wahrheitsansprüche ins epistemische Medium der Literatur übersetzen, geben sie diese Übersetzung als unendliche Aufgabe an den Akt des Lesens weiter. Pablo Valdivia Orozco schlägt vor, die vielfach auftauchende elegantia in der Aesthe­tica als Geschmack zu deuten und damit den weiten Bogen zur europäischen Ästhe­t ik aufzuspannen. Wie Karl Borinski dargelegt hat, sind Graciáns Schriften in der Debatte um den Geschmacksbegriff entscheidend. Sie können insofern als kongeniale Referenz für Baumgarten gelten. Für beide Denker ist der Einsatz ein doppelter: Systematisch geht es um eine Theorie der sinnlichen Erkenntnis, und grundsätzlich erfordert dies die Begründung einer neuen Disziplin, der Ästhe­tik. Graciáns Begrifflichkeiten – concepto, ingenium, agudeza – finden in Baumgartens schönem oder geschmackvollem Denken (oder des geschmackvoll zu Denkenden: eleganter cogitandis) zu strukturanalogen Entsprechungen. Die Absetzung von der Schulrhetorik und nicht vom rhetorischen Wissen überhaupt ist bereits bei Gracián angelegt. Der Geschmack als richtende Urteilsinstanz ist nicht auf Kunstwerke beschränkt, die sinnliche Erkenntnis geht über den Akt einer normativen Wertung hinaus. Die erkenntnistheoretische Aufmerksamkeit richtet sich daher weniger auf die Urteilsbegründung als auf die konkrete Erkenntnissituation. Analog zu Graciáns prudencia und dem genuin natürlichen iuducium differenziert Baumgarten zwischen logischem und sinnlichem Erkenntnisvermögen, letzterem ist der Geschmack zugeordnet. Ästhetische Theorie muss sich an der Praxis messen lassen. Auch hier lassen sich Parallelen zwischen Graciáns hombre en su punto und Baumgartens felix aestheticus feststellen. Übung und Theorie fallen nicht etwa funktional zusammen, sondern durchdringen einander. Geschmack ist nicht eingespannt in eine soziale Funktion oder wie bei Kant Garant für die Anteilnahme an einer transzendentalen Wahrheit. Mit Geschmack als Vermögen, die richtige Wahl zu treffen und Schönheit zu erkennen, ist dagegen ein menschliches Privileg bezeichnet, das die Erfahrung von Vollkommenheit erlebbar und erkennbar machen kann. Schließlich beziehen sich sowohl Gracián als auch Baumgarten kritisch auf die Topik. Diese wird nicht formalisiert, also als Frageverfahren oder Reservoir von Allgemeinplätzen in Anspruch genommen. Wenn Topik mehr in ihrem Umgang mit konkreten Topoi und Situationen interessiert, dann heißt das, dass sie mehr als Mnemotechnik denn als Findungslehre dient. Damit rückt erneut Baumgartens Frage der Darstellbarkeit ins Zentrum, die an die etablierten Wissenschaften gerichtet ist. Wer bei aller Nähe und scheinbar offensichtlichen Gemeinsamkeiten die historischen und soziokulturellen Wurzeln von Baumgartens ästhe­t ischer Theorie in einer einfachen Kausalrelation im Hallenser Pietismus suchen will, befände sich auf dem Irrweg, so die These von Simon Grote. Besonders deutlich wird dies bei einer Untersuchung der Begriffe des in Baumgartens Ästhe­t ik zentralen ›guten Geschmacks‹ (gustus, sapor) und des pietistisch beheimateten ›geistlichen Geschmacks‹. Im Werk Joachim Langes besitzt die ›geistliche Erfahrung‹ einer »übernatürlichen Erleuch-



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tung durch den Heiligen Geist« bei der Auslegung der Heiligen Schrift eine herausragende Bedeutung. Die Bestimmungen von Langes ›geistlichem Geschmack‹, ausgezeichnet als »lebendige Erkenntnis« göttlicher Wahrheiten und erlangbar durch Übung auf dem »Weg der Askese und Aisthesis«, scheinen nahezulegen, in ihm den theologischen Vorläufer dessen zu sehen, was Baumgarten – in säkularisierter Form – für die Ausbildung des Ästhe­t ikers fordert. Vielschichtiger verhält es sich, wenn man eine weitere, Baumgarten bekannte Quelle in der Geschmacksdebatte der Zeit, Johann Ulrich Königs Untersuchung Von dem guten Geschmack in der Dichtund Redekunst (1727), aufsucht. König nimmt dort auf den ›geistlichen Geschmack‹ Bezug, dessen Darstellung aber wesentlich in der zeitgenössischen französischen Diskussion über den goût fundiert ist. Noch komplexer wird die Frage nach den gegenseitigen Einflüssen, wenn man das Hallenser Umfeld mit einbezieht, das in Lange einen personifizierten Vertreter für die theologische Polemik gegen die sogenannte ›philosophische Predigt‹ findet, als deren Vertreter vor allem Christoph Gottsched gilt. Eine »all zu philosophische«, »Wolffische Methode« wurde aber auch in der homiletischen Lehre Siegmund Jakob Baumgartens befürchtet. Die philosophische Ästhe­t ik des jüngeren Bruders Alexander Gottlieb nimmt in dieser Debatte eine Schlüsselposition ein. Dies betrifft nicht nur das ›schöne Denken‹ in Literatur und Kunst, sondern auch die Frage nach der methodischen Demonstration und Vermittlung des göttlichen Wortes sowie nach der Ästhe­t ik der biblischen Sprache. Die Verbindung von Baumgarten zur theologischen Debatte seiner Zeit und zum pietistischen Hallenser Umfeld wäre insofern nicht bloß über eine vermeintlich herzustellende einfache genealogische Kausalrelation – etwa vom ›geistlichen‹ zum ›guten Geschmack‹ – zu ziehen. Eine weitere besondere Prägung Baumgartens durch den Hallenser Pietismus zeigt Christoph Asendorf, auf der Ebene ihrer Vermittlung – wie bekannt, aber in spezifischer Form – über August Hermann Francke, Gründer der Hallenser Schul- und Sozialstiftungen, der in Kontakt mit Leibniz stand und mit den Lehrmethoden von Comenius operierte. Der 1658 von Comenius publizierte Orbis sensualium pictus, das meist verbreitete Schulbuch der Frühen Neuzeit, enthält ein Kompendium der Weltkunde, das sich auf die Sache selbst konzentriert und damit auf exakte Naturforschung zurückgeht. Comenius’ Satz: »Es ist aber nichts in dem Verstand, wo es nicht zuvor im Sinne gewesen«, plädiert ganz im Sinne von Baumgartens Aesthethica für eine ganzheitliche Weltsicht über konkrete, einzelne Dinge. Der Humanismus will Anschaulichkeit und Erfahrung vermitteln und sie auf der Höhe der Erkenntnis präsentieren. Er speist sich nicht mehr allein aus der Philologie, sondern aus den Realien der frühneuzeitlichen Lebenswelt. Mit Bezug auf Otto Friedrich Bollnow wird deutlich, dass Comenius’ Orbis sensualium pictus ein ausgeprägtes Weltinteresse bezeugt. Die Dinge erscheinen nicht etwa als frei verfügbare Gegenstände, sondern eingebettet in ein kosmisches Ganzes innerhalb der Schöpfung. Leibniz’ Idee des wissenschaftlichen Theaters nutzt die mediale Übertragungskraft des Theaters, um Maschinerien der Vergegenwärtigung zu erzeugen. Die Visuali-

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tät befördert das Verstehen von Sachgehalten, das anschaulich Gemachte lässt sich so schneller und eindeutiger erfassen als es die Lektüre von Texten leisten könnte. Franckes Pädagogik, seine Affinitäten zum Ansatz des Orbis pictus und damit auch zu Leibniz’ Theatrum Mundi, finden sich schließlich im Unterbau der philosophischen Ästhe­t ik wieder. Die Initiative zur Feier des 300jährigen Jubiläums des Frankfurter Auf klärungsphilosophen Gottlieb Alexander Baumgarten ist aus der Kooperation zwischen zwei Lehrstühlen, Instituten und Fakultäten der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder hervorgegangen. Zum einen dem Lehrstuhl für Westeuropäische Literaturen sowie dem Heinrich-von-Kleist Institut für Literatur und Politik; zum anderen dem Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie sowie dem Interdisziplinären Zentrum für Ethik (IZE). Die Förderer und Kooperationspartner der Tagung »Schönes Denken. Baumgartens Epoche (1714/2014)«, vom 26. bis 28. Juni 2014 in Frankfurt/Oder waren die Fritz Thyssen Stiftung, die drei Fakultäten der Viadrina-Universität und die Sparkasse Oder-Spree. Das Kleist-Museum hatte während der Jubiläumstagung zu einem festlichen Rahmenprogramm mit Musik und Lesung geladen. Carl Philipp Bachs 300jähriger Geburtstag war 2014 in Frankfurt/Oder genauso zu feiern in wie der von Baumgartens Nachfolger an der Viadrina, dem Juristen Joachim Georg Darjes. Die Publikation des Bandes wurde mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung durch den Felix Meiner Verlag unter dem bewährten Lektorat von Marcel SimonGadhof und der umsichtigen Herstellung durch Jens-Sören Mann in der Zeitschrift für Ästhe­tik und Allgemeine Kunstwissenschaft ermöglicht. Malte Wessels hat bei der Organisation der Tagung mitgewirkt, Linn Schiemann durch sorgfältiges Korrekturlesen der Beiträge. Obwohl sie an der Tagung nicht teilnehmen konnten, haben Andrea Krauß und Simon Grote den vorliegenden Band mit ihren Aufsätzen bereichert. Unser ehrendes Angedenken gilt Merio Scattola (†). Ein großer Gelehrter und profunder Kenner Baumgartens ist von uns gegangen, bevor er seinen mit Freude erwarteten Beitrag zu den hier zusammengestellten Studien vollenden konnte. Ein Band lebt und wächst mit denen, die an seiner Vorbereitung, Komposition und Veröffentlichung beteiligt sind. Zuletzt sei uns die Freude gewährt, ihnen allen unseren herzlichsten Dank auszusprechen. Baumgartens Gründung der philosophischen Ästhe­tik zeitigt bis heute Wirkung. Um das zu zeigen, versammelt der Band Beiträge sowohl aus der langjährigen Baumgarten-Forschung als auch interdisziplinäre Neuzugänge. Zur Debatte stehen juristische, wissensgeschichtliche, erkenntnistheoretische, anthropologische, poetologische, aber auch ethische und rhetorische Aspekte eines epochemachenden Werkes. 300 Jahre Alexander Gottlieb Baumgarten – es bleibt spannend.

I. ÄSTH E­T IK, SYSTEM ATIK U N D EPISTEM E

ÄSTH E­T IK ••• A lexander Gottlieb Baumgarten als Provok ation der Literaturgeschichte Von Anselm Haverkamp Baumgarten ist nicht zuletzt deshalb ein vergessener, schwer in Erinnerung zu bringender Autor, weil er sich der Gewaltenteilung der wie absolut herrschenden nationalen Formate von Literatur- und Philosophiegeschichtsschreibung nicht fügt, die sich mit dem 19. Jahrhundert durchsetzten, im 20. Jahrhundert der Weltkriege verfestigten und seither in Pathosformeln und traumatophilen Phantasmen weitergeistern. Unter den europäischen Rahmenbedingungen, auf die eine Europa-Universität aufmerksam sein muß, sind dieses Pathos und diese Phantasmen ein schwer zu bewältigendes und folglich – das macht die Gattung der grand récits so unerträglich – ein mit Fleiß überspieltes Ärgernis der Forschungsverwaltungen und ihrer Forschungsrhetorik. Baumgartens lateinisches Werk stammt aus einer anderen Epoche, der Zeit der verblassenden Renaissance im Zustand ihrer kriegsgeschüttelten Zerstörung, bevor sie im 19. Jahrhundert der Jacob Burckhardt, Walter Pater und Johan Huizinga zum Fluchtpunkt von vornationalen, den nationalen Teleologien vorgreifenden Perspektiven wurde. Dem übermächtigen germanistischen Verlangen nach einer Nationalliteratur konnte der lateinische Baumgarten nicht gewachsen sein, und es ist bezeichnend, dass er es immer noch nicht, nicht einmal zur Vollendung seines 300. Geburtstags ist. In der Heilsgeschichte des emphatischen Deutschen Idealismus als der wichtigsten Stütze der Weimarer Klassik und der ihr auf dem Fuße folgenden romantischen Kant-Krisen war Baumgarten nichts als ein Schritt vor Kant, aber kaum je ein origineller Schritt, und in dieser begrenzten Rolle, an die man sich ob seiner Leibniz-Nähe durchaus gutwillig anzunähern angewöhnt hat, verharrt er bis heute. Allerdings, auch diese Annäherung – Stand der Dinge – war reduktiv und blieb oft genug hinter dem von Leibniz selbst Gebotenen zurück. Denn Leibniz war kenntnisreich in der mit Kant erst in vollendeten Diskredit gefallenen Rhetorik; an ihm kann es deshalb nicht liegen, dass ein stehender Einwand gegen Baumgartens Originalität sein Rückfall auf überholte rhetorische Termini ist.1 ist die Darstellung von Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhe­tik und Logik des 18. Jahrhunderts, Halle/Saale 1923, 192. Das bedeutendste BaumgartenPortrait von Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, machte aus der Not eine Tugend und ignorierte das Stichwort ›Rhetorik‹. Was der zum Teil ausgepichten his­to­ rischen Spezialforschung seither fehlt, ist der über das rhetorische Repertoire und seine Terminologie zugängliche, alles andere als pauschale und deshalb durchaus en detail zu differenzie1 Repräsentativ

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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Freilich wäre das nichts als die Spitze des scholastischen Eisbergs, dessen Gipfel einmal ›Poetik‹ hieß und zur Vermeidung möglicher Missverständnisse als ›Regelpoetik‹ fast verschrien war. So weiß man zwar in Baumgartens Aesthetica die programmatische Disposition des Werks nach ihren philosophischen Anknüpfungen zu deklinieren, nimmt aber, beispielsweise, schon den Schluss der »Prolegomena«, den ein Zitat aus der Poetik des Horaz bildet, als ein konventionelles Ornament ohne tragende Bedeutung, das der Rede nicht weiter wert sei. Wobei ich noch davon absehe, dass es derselbe Ort ist, aus dem Martin Opitz das Motto des Buchs von der deutschen Poeterey bezogen hatte, um sie den Standards der europäischen Literatur vergleichbar zu machen.2 Tatsächlich liegen die Dinge andersherum und Baumgarten begründete die Ästhe­tik in bedachter Absetzung von der Begründung der Philosophie, vorzüglich von Descartes’ cogito, auf die er mit dem Titel Meditationes angespielt, und mit Descartes der methodischen Wende, die Pierre de la Ramée der Rhetorik wie Descartes der Philosophie verschrieben hatte. Kurz, die Pointe, die bei Ramus zu beachten war, liegt in der Poetik zutage, die sich Baumgarten in der Ästhe­t ik vornimmt, hier in ihrer Urszene bei Horaz. Deshalb beendete er die »Prolegomena« der Aesthetica (§ 13) mit Horaz, den er schon zuvor (§ 11) als die erste Autorität benannt hatte, und er fügte dem Horaz noch einen trefflichen Merkvers an, der auf Ovid anspielt und ihn parodiert. Ich komme darauf, denn es ist dieser lateinische Hintergrund, vor dem die Aesthetica ihr Profil gewinnt. Zunächst ist die Einteilung der beiden Teile der Aesthetica zu beachten. Die ins Auge gefassten (angekündigten, aber nicht ausgeführten) weiteren Teile wären kaum vom selben Gewicht; das Werk liegt mit diesen beiden Teilen so gut wie abgeschlossen vor. Das ist wichtig, weil nur so die dialektische Anlage deutlich wird, in der sich der zweite Teil der Aesthetica auf den ersten bezieht (ähnlich anderen dialektisch gebauten Zweiteilern wie Walter Benjamins Trauerspielbuch). Das dia­ lektische Moment liegt bei Baumgarten darin, dass der disziplinäre Gegenstand des zweiten Teils, die Rhetorik inklusive ihrer kritischen Wende seit Ramus, im ersten Teil in den Grundzügen – nach dem derzeitigen Stand der Forschung – voraus­ gesetzt ist, während sodann der zweite Teil Baumgartens Revision im Lichte des ersten Teils ausarbeitet als eine Poetik, die in ihrer ästhe­tischen Dimension aufzuweisen und als neue Wissenschaft zu begründen ist. Baumgarten hat über diese Anlage des Unternehmens keinen Zweifel gelassen; das Grundmuster, das er vari­ iert, war scholastisch vorgegeben und verdient wie das ganze intrikate Netz der Paragraphen eine eigene Beachtung, die ich hier nur am Rande auf bringen kann. Auf jeden Fall ist es keine äußerliche Form und deshalb verfehlt die Annahme, Baumgarten verharre unoriginell in rhetorischen Konventionen, den Sachverhalt in der relevanten Hinsicht der begründenden Darstellung der neuen Disziplin, die rende europäische Zusammenhang mit der französischen und englischen Literatur, der gegenüber es in diesem Fall nichts beiträgt, einen eigenen deutschen Sonderweg, auf so außerordentliche Höhen er auch geführt haben mag, auszuschildern. 2 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, Breslau 1624, hg. von Richard Alewyn, Tübingen 1963, 2.



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den Rahmen der gegebenen Rhetorik-Handbücher entschieden überschritt und dabei nicht mehr und nicht weniger tat, als den verwilderten, scholastisch heruntergekommenen, lamentablen Stand der Dinge auf eine neue Grundlage zu stellen, von der man sich bis heute nicht schlüssig ist, ob und wieweit sie die kanonische Rhetorik Quintilians restituierte oder deren Revision seit Ramus und Erasmus revidierte. Die Prolegomena Baumgartens lassen in ihrer kalkulierten Pointierung an diesem Ehrgeiz keinen Zweifel. Baumgarten rekonfiguriert, hat Christoph Menke unterstrichen, die »Rhetorik als ästhe­tische Theorie, als ein Denken nicht über, sondern aufgrund des Ästhetischen«.3 Das ist etwas anderes als die Verlegenheit, über die überlieferten Begriffe nicht hinauszukommen. 1. Horaz, Ovid Das Zitat aus der Poetik des Horaz, ein aus dem Verszusammenhang herauspointiertes, katapultiertes Fazit an den poetologisch versierten Leser – »cui lecta potenter erit res« – ist buchstäblich eines: »Nec facundia deseret hunc, nec lucidus ordo, Hor. Ep.[istula ad Pisones]« (Aesth. § 13).4 Ein Fazit – facundia – das in der Pointierung einen so unmissverständlichen wie raffinierten Schluss zieht: Demjenigen (lautet die Maxime, die Baumgarten aus Horaz beizieht), der kompetent auswählt – lecta potenter – wird die Sache – res (am betonten Versende) – so zupass kommen und liegen, dass ihm weder die Worte fehlen, noch die luzide Anlage – lucidus ordo – eben dieser Worte. Die Übersetzungen des Horaz wie auch Baumgartens an dieser Stelle können, so scheint es, gar nicht anders, als die bei Horaz ›elegant‹ überspielten technischen Begriffe, die von ihm glücklich eingearbeiteten Implikationen des poetisch Relevanten zu unterschlagen. Denn das Ideal der e-legantia ist, wie die lecta, das der gelungenen Gewähltheit; es hat nicht mit ›Geschmack‹ zu tun, sondern eher mit J. L. Austins ›felicity‹ (sofern der ›glückliche‹ Ausdruck Austins nicht doch eine Sache von Geschmack ist). Die naturwüchsige Unterschlagung des technisch Relevanten in den Übersetzungen ist an dieser Stelle fatal, weil dadurch der Ausgangspunkt der Aesthetica unkenntlich wird, den Baumgarten in einen Merkvers für seine Zwecke gefasst und in die Reihe einer dreifachen cura gebracht hat: Res sit prima tibi, sit lucidus ordo secunda, / Signaque postremo tertia cura loco. Baumgarten kommentiert in dieser dreifachen cura – durch die Position am Ende hervorgehoben – die poetische Implikatur der Horaz-Verse. Deren ratio entnehmen wir dem Kommentar, mit dem Richard Heinze die Kommentartradition zu Horaz auf den Vgl. Rüdiger Campe/Anselm Haverkamp/Christoph Menke: Baumgarten-Studien. Zur Genealogie der Ästhe­tik, Berlin 2014, hier die »Vorbemerkung«, 12. Auf diese Arbeiten ist im Folgenden durchgängig Bezug genommen; auf ausführlichere Verweise verzichte ich zum vorliegenden Anlass. 4 Zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anm. und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007; Zitate im folgenden Text nach dieser Ausgabe. Übersetzungen oder Paraphrasen A. H. 3

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Stand des 20. Jahrhunderts gebracht hat. Danach sind die res das, woran die elocutio (oder lexis) in facundia zum Tragen kommt und fruchtbar wird, so dass der ordo (oder die taxis) sich bewährt – und das beides mit gleichem Gewicht.5 Res heuristisch an die erste Stelle zu stellen – prima sit tibi – entspricht Quintilians Ethos der Rhetorik, wonach die elocutio in den mutationes der Worte dafür Sorge trägt – cura –, dass den Dingen ›die Worte nicht fehlen‹ (Institutio oratoria 8.6.1 und Aesthetica § 780). Das Gleichgewicht im rhetorischen Doppel von res und verba, das heuristisch – qua inventio – die Sachlage der res zum Ausgangspunkt machen soll, macht die Balance beider zu einer ästhe­t isch relevanten Voraussetzung: Lucidus ordo nennt die lumina, die rhetorischen Figuren, die dem zweiten Band der Aesthetica von 1758, der Lux aesthetica heißt, den angemessenen Titel geben. Denn die lumina – alle Metaphorologie des Lichts in Ehren – sind bereits ein technischer Begriff, wenngleich nicht ohne metaphorologisch motivierte Bedeutung, nämlich die der Transparenz, die in der Folge an ästhe­tischer Relevanz gewinnt und charakteristisch wird in einer spezifisch ästhe­t ischen Hinsicht, auf die sogleich zu kommen ist. Soweit die wesentliche Anknüpfung an Horaz, deren Entfaltung in der Folge – von der Poetik zur Ästhe­tik – ansteht. Wobei ich im Vorbeigehen doch kurz auf das funkelnde Ornament aufmerksam machen will, das im Doppel der res als prima cura und des lucidus ordo als secunda cura auf Ovid anspielt, neben Horaz das andere Gestirn am Himmel der Renaissance-Poetik. Es hat die Metamorphose des Aktäon als poetologisches Paradigma zum Gegenstand und erhebt sie zum Emblem von Ästhe­t ik: In ihm zeigt sich die nackte Wahrheit der Diana, die im ersten Licht des Tages, der ›Morgenröthe – Aurora – zwischen Nacht und Tag‹ (einer Lieblings­ figur der Zeit), überrascht wird und im selben Moment der Erkenntnis auch schon die Hundemeute der alltäglichen Namen auf den armen Aktäon als unglückselige Figur des Dichters loslässt. Man ahnt: Er hat es in sich, dieser letzte RenaissanceTheoretiker Baumgarten. Wenn man den Text Ovids nachliest, findet man die ästhe­t ische Gewissheit, deren theoretische Kontur ich im Folgenden weitaus umständlicher unterbreiten will, in das schönste Bild von Auf klärung, und zwar auch schon ihrer Dialektik gebracht. 2. Copia, res Angesichts der leichthändigen Unterschätzung der vermeinlich oberflächlichen verba in der Rezeption der Aesthetica, insbesondere des zweiten Teils, ist der rhetorische Rahmen, wie er nach der Urszene der Poetik bei Horaz – rund hundert Jahre vor der von Quintilian raffinierten und ausbalancierten kanonischen Ordnung – Programm ist. Die nach Ciceros Begriffen von Horaz zum poetischen Programm erhobene Differenz der res et verba war der Kern von Erasmus’ Schrift De Copia, deren genauer Titel De duplici copia verborum et rerum lautete (1512), in dem 5 Q.

Horatius Flaccus, erklärt von Adolf Kiessling, 4. Auf l. bearbeitet von Richard Heinze, 3. Teil: Briefe, Berlin 1915, »Ad Pisones«, 295 ad 40.



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die res et verba die Reihenfolge getauscht haben, die verba vor den res stehen und sie noch einige Male tauschen werden.6 Das et ist nämlich ein verkürztes doppeltes et – et, das nach scholastischem Brauch das flexible Gleichgewicht eines ›sowohl – als auch‹ bedeutet: ein gesteigertes ›beides zugleich‹. Spätestens seit Terence Cave die prägende Bedeutung von Erasmus’ Formel der [et] res et verba erläutert und für die Renaissance ausgeführt hat (in impliziter Konkurrenz zu Foucaults Les mot et les choses), kann man diesen historisch manifesten Ausgangspunkt Baumgartens schlecht übersehen. Bereits der Lieblingsparagraph der Forschung, der erste Paragraph des ersten Teils (§§ 14 ff.), zeigt Baumgarten der Problemlage voll bewusst, noch bevor er zu Erasmus’ copia als auslösendem Moment unter dem Stichwort der ubertas aesthetica kommt. Dort führt er aus: »Prima nempe cura [nach einer Reihe von gewichtigen cautiones der §§ 107 ff.] sit in rebus cogitandis ubertas (copia, abundantia, multitudo, divitiae, opes) [und zwar in ästhe­t ischer Hinsicht], […] sed aesthetica« –

als spezifisch ästhe­tischer Ausgangslage (§ 115). Und er lässt als Paradebeispiel das Carmen Saeculare des Horaz nicht aus mit dem kunstvollen, zum Chiasmus verschlungenen Motiv der beata pleno Copia cornu [beata copia/pleno cornu] des cornucopischen Textes schlechthin (§ 118). Die Verflechtung der Worte – emblematisch in der Figur des Chiasmus – ist das ästhe­t ische Grundmuster poetischer Produktivität par excellence. Maurice Merleau-Ponty wird – auch ohne an Baumgarten zu denken, aber wie nach ihm Foucault und Cave an der französischen Renaissance geschult – auf eben diesen selben Chiasmus zurückkommen, um von einer »natürlichen Verflechtung« der Sprache mit dem Leben zu sprechen als der »leibhaften Verflechtung«, die den »geheimen Verkehr der Metapher« – Baumgartens figura cryptica – beherrsche und lebensnah halte.7 Doch ich greife vor. Im § 18 der Aesthetica kommt es dann zu einem ebenfalls nicht gut zu übersehenden, von Baumgarten mit großem Bedacht gesetzten Einschub zu den res et verba, der unvermerkt, wie blind, in der Literatur mitläuft. Zunächst führt § 18 die gern zitierte, aber hartnäckig falsch übersetzte Definition des § 14 weiter und handelt von der pulcritudo rerum et cogitationum. § 14 hatte mit einem feinsinnigen Pun eingesetzt, wie er seit Quintilian zum Standard der mnemotechnischen Selbstreflexivität gehört: Aesthetices finis est perfectio war der erste Satz der Aesthetica theoretica, und auch ohne dass ich den quintilianesken Pun finis est per-fectio en detail auseinanderlege, ist grammatisch sonnenklar – [et] clare et distincte bei Descartes – dass es die perfectio als solche ist – qua talis – die in puncto cognitionis sensitivae zählt (§ 14). Was in § 18 die pulcritudo [et] rerum et cogitationum angeht (auch hier ein starkes et – et), unterscheidet Baumgarten die res et cogitationes nach pulcritudo cognitionis auf der einen Seite 6 Erasmus von Rotterdam: De duplici copia verborum ac rerum commentarii duo, Lyon 1534, maßgebliche letzte Fassung. 7 Maurice Merleau-Ponty: Le visible et l’invisible, publ. par Claude Lefort, Paris 1964, 167; dt.: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, 166 f.

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und (nota bene!) obiectorum et materiae auf der anderen Seite einer Differenz, die er für nötigerweise distinguenda hält, weil es unter der Bezeichnung res – ob receptum rei – oft genug zu bösen Verwechslungen komme: male confunditur (§ 18). Das ist der alles andere als verborgene Punkt, an dem in der Folge – male confunditur – vieles hängt. Cave hat den entscheidenden, mit fortschreitender Moderne verkannten, in Abund Ver-schattungen prägenden Sachverhalt in wünschenswerter Klarheit an Erasmus’ De copia herausgearbeitet und die Entwicklung angedeutet, in die Baumgarten eintritt: »Res do not emerge from the mind as spontaneous ›ideas‹ [das ist eine moderne Verkürzung, deren Genealogie Foucaults Les mots et les choses behandelt]; they are already there, embedded in language, forming the materials of a writing exercise.« 8 Als ›in Rede stehende‹ Sach-Verhalte, syntaktisch präformierte RedeGegenstände – »embedded in language« – sind die res nicht zu verwechseln (werden es aber leicht: male confunditur) mit den Sachen selbst, die sie gerade nicht sind, deren Referenz sie aber in ihrer grammatisch verfestigten, historisch gewachsenen, komplexen Kontextur mitführen und modifizieren. Die Emphase ist bei Baumgartens Leibniz-Nähe keine rechte Überraschung. So erinnert Sibylle Krämer an einen von der langen Hand der Rhetorik vorbereiteten Kontext für den Umgang der verba mit den res in der Rede: an den »Übergang von einem ontologischen zu einem operativen Symbolismus […]: Nicht mehr verleihen die Dinge den Zeichen ihre Bedeutung, vielmehr konstituieren die Zeichen die Dinge überhaupt erst als epistemische Gegenstände.« 9 Rhetorisch ist der Übergang ins Operative vorgezeichnet, allerdings weit entfernt von ausgelastet. Die ›Idee‹ der copia »is attained, when verba, coalescing into res, point towards a sentential«, schildert Cave vorsichtig den Mittelweg aus. Aber auch dessen regressive Moral bestätigt nur eine »priority (if not primacy) of words [which] reveals that ›things‹ can only become apparent by virtue of language«.10 »Res and verba slide together to become ›word things‹« ist die Diagnose, die Foucault von einem verflossenen Zeitalter der ›Ähnlichkeiten‹ sprechen lässt und die in der Verschränkung von res und verba zu der aufgeklärten Vorsicht Baumgartens ebenso passt wie zu dem chronischen Missverständnis, vor dem er explizit warnt.11 Sein Popularisierer Georg Friedrich Meier kam unbeeindruckt davon zum Erfolg. Darauf will ich hier ebenso wenig eingehen wie auf William Empson, dessen Befund der grassierenden ›Ambiguität‹ und der unter deren Oberfläche anwachsenden sprachlichen Komplexität mit einzubeziehen ist in das  8 Terence Cave: The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance, Oxford 1979, 19. Allerdings versäumt Cave das doppelte et – et.  9 Sybille Krämer: »Kalküle als Repräsentation. Zur Genese des operativen Symbolismus in der Neuzeit«, in: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, hg. von Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina Wahrig- Schmidt, Berlin 1997, 111 – 122. Vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin 1991, 5. 10 Cave: The Cornucopian Text, 21. 11 Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris 1966, 40 ff.; dt.: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1972, 56 ff.



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Hypothesenfeld der ästhetik-trächtigen Symptome der Moderne. Das genealogisch bedeutende ›missing link‹ bietet der vergessene rhetorische Rahmen und die übersehene Rolle Baumgartens als des letzten Vertreters der lateinischen RenaissancePoetik, in deren Tradition die neue Disziplin der Ästhe­t ik als ein epochaler, epochemachender Faktor einzuschätzen ist. 3. Crypsis of method, master tropes Nichts war deshalb irreführender als der maßgebliche Ästhe­tik-Artikel von Joachim Ritter, in dem Baumgarten als historisch »umwälzende« Leistung bescheinigt wird, eine »nicht mehr auf Logik reduzierbare sinnliche Erkenntnis [das ist der heikle Begriff, der die cognitio sensitiva übersetzen soll] in das System der Philosophie hinein [genommen]« zu haben.12 Ich will deshalb die ästhe­tische Errungenschaft wiederholen, die ich im Unterschied zu Ritters Vulgata in den Aesthetica zur Entfaltung gebracht sehe. Die apostrophierte ›sinnliche Erkenntnis‹ wird analog zur Logik der reinen noeta deduzierbar und rhetorisch reduzierbar. Das heißt, in der Ästhe­tik wird die grundlegende Transparenz der rhetorischen Verfahren qua Verfahren wissenschaftlich zugänglich. Wo Kant weiterhin einen transzendentalen Unterschied macht zwischen Anschauung und Begriff, weist Baumgarten eine kontinuierliche Grund-Gegebenheit auf: die strukturbildende Grund-Gelegtheit der Sinne für die (nur insofern ›sinnlich‹ genannte) Erkenntnis (eine prekäre Begriffswahl, wie gesagt). Kant kommt frei nach Baumgarten dazu, in der Reflexion auf diese Grundlage eine Erkenntnis-Lust zu postulieren, die »bloß in der Form des Gegenstandes für die Reflexion überhaupt« ihren Grund habe.13 Kants Abweisung von Baumgartens Ansatz in der Einleitung zur »transzendentalen Ästhe­tik« der Kritik der reinen Vernunft hatte es konventionell bei der bloßen, im »Sinne der Alten« klassischen Trennung von »aisthetà kai noetá« gelassen.14 Was dagegen für Baumgarten die an der sinnlichen Seite der Werke ausgemachte Vergnügenslage vollkommen macht, ist nicht die formale Vollkommenheit des ästhe­t ischen Gegenstands als eines solchen.15 Sondern es ist die vollkommene Evidenz des am schönen Gegenstand seiner selbst erst inne werdenden Begreifens: einer sich durchsichtig werdenden Wahrnehmung, für die der schöne Gegenstand bei aller Appellqualität 12 Joachim Ritter: »Ästhe­ t ik«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 555 – 580, hier 556 f. Vgl. zuvor Ritters Münsteraner Rektoratsrede »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft« (1962), in: ders.: Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, 141 – 163, Anm. 172 – 190, hier 155 ff. 13 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Karl Vorländer, 6. Auf l., Hamburg 1924, 27 f. (meine kursiven Hervorhebungen). 14 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. von Raymund Schmidt, 2. Auf l., Hamburg 1956, 65. 15 Andrea Kern: Schöne Lust. Eine Theorie der ästhe­tischen Erfahrung nach Kant, Frankfurt a. M. 2000, 84 ff.

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notwendig im Dunkeln bleibt.16 Aber es ist diese ›bloße‹ formale Qualität, die ihn zur vollkommenen, ästhe­t ischen Evidenz bringt. Kants systemische Lust an der »bloßen Form des Gegenstandes für die Reflexion« weist diese Konsequenz ab; er verlängert stattdessen das logische Moment des ästhe­ tischen Vollzugs in die Teleologie des Gegenstands hinein, so dass die ästhe­t ische Voll-endung – perfectio qua finis – der zu sich kommenden Wahrnehmung sich in die Voll-kommenheit des Gegenstands als eines derart ästhe­tisch konstitutierten fortsetzt. Aesthetices finis est per-fectio cognitionis sensitivae qua talis: Haec autem est pulcritudo, war Baumgartens Formulierung (§ 14). Diese verschwindet für den Moment der ursprünglichen Erkenntnis in der voll-kommenen Wirkung, so dass die von Kant auf den Plan gerufene ›Reflexion überhaupt‹ die eigentümliche Leistung der Wirkung verlegenheitshalber verschiebt und die Vollkommenheit als Vorgabe eines abstrakten Wohlgefallens auffassen muss.17 Auf der Rückseite der kantischen Reaktionsbildung erkennen wir die von Baumgarten in weiser Voraussicht vorangestellte Ovid’sche Metamorphose des Aktäon wieder mit ihrer emblematischen Eignung, die in der Anspielung nicht thematisch, sondern grammatisch versteckt ist in dem Syntagma [res sit] prima/[ordo] secunda als leitender Ordnungsfigur. Als ­figura cryptica der Ordnung verkörpert und illustriert sie allegorisch den ästhe­t ischen Überschuss der copia im Text als Text. Ich breche mit der Erinnerung an diesen folgenschweren Verkennungszusammenhang ab, der Baumgarten selbst nicht fremd war (den er womöglich erwartete und in Meiers Werk lakonisch ertrug), denn ich will von der verkannten Grundlage der Durchsichtigkeit der ästhe­t ischen Evidenz handeln, die als lux aesthetica im zweiten Teil der Aesthetica zum technischen Thema wird. Die Lehre vom analogon rationis, von der homologen Struktur der Begründung, zeigt die logische Transparenz der noeta als funktional äquivalent zu der obskuren In-transparenz der aistheta. Da diese Intransparenz aber nichts anderes ist als die Kehrseite der rhetorischen copia und venusta plenitudo (§ 585) – die nämlich sonst, wie Ursula Franke glänzend reformulierte, »ungesehen und ungehört, unerkannt bleiben würde«, weil deren Latenz im Material »der Wörter, des Steines, der Farben oder Töne« beschlossen liegt – kann die Vollkommenheit des Schönen nicht schon und ›bloß‹ die formale der Erscheinung sein, der sie indessen durchaus zum Erscheinen verhilft.18 Für den vollendeten, in der Voll-endung erst per-fekten Voll-zug wird deshalb zusätzlich die Konstellation wichtig, ja unverzichtbar, die zur »Harmonie« von Stoff, Struktur

16

Ausführlich Christoph Menke: »Das Wirken dunkler Kraft. Baumgarten und Herder«, in: Campe/Haverkamp/Menke: Baumgarten-Studien, 73 – 115. Vgl. Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie, Ästhe­tik, Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990, 26 – 48. 17 Vgl. Paul Guyer: »Hegel on Kant’s Aesthetics. Necessity and Contingency in Beauty and Art« (1989), in: ders.: Kant and the Experience of Freedom, Cambridge 1993, 161 – 183, hier 169 ff. 18 Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhe­tik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972, 107.



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und Ausdruck in einer »Vielfalt von Bestandteilen« gebracht werden muss.19 Die logische Emanzipation der aesthetica impliziert also eine krasse Umkehrung der Hie­ rarchie, die das transzendentale Unternehmen, noch bevor es existiert, tieferlegt als Kant selbst es kritisch verantworten wollte, denn in der Umkehrung wird bei Baumgarten die sinnliche Un-durchsichtigkeit der Welt – wenn etwas ›sinnlich‹ ist, dann diese Undurchsichtigkeit – zum Funktionsmodell, dem die selbe Welt im rationalen Teil ihrer Handlungen allzu durchsichtigerweise immer schon zu genügen meint. Quintilians Tropen und Figuren, die als ornamentale Beleuchtungen das kunstgerechte, technisch-metaphorische Licht werfen und deshalb ­lumina heißen, werden bei Baumgarten zu dem, was sie latent bei Quintilian schon waren: elementare Tiefenstrukturen des kryptischen Funktionierens der Sinne für jede Sinn-Gebung und Setzung. Darin sind sie vergleichbar, ja sind sie womöglich eine präzise Antizipation der Figur des Chiasmus, in der das Leib-Apriori MerleauPontys die Sinne mit der Sprache verflochten weiß.20 Baumgartens Terminus, der freilich nicht bei Quintilian steht, ist die figura cryptica, die der ramistischen ›crypsis of method‹ bei Milton entspricht. In Bodmers Verteidigung des Verlorenen Paradieses ist sie als »heimliche Ironie« belegt und auf den Begriff gebracht, der der Zeit nahe lag.21 In Vicos ricorso kam er zu der größten kulturtheoretischen Plausibilität. In der romantischen Rezeption fand diese Variante der figura cryptica eine dominante Verbreitung, die bis in die Avantgarde der Joyce und Beckett reicht. In der strengeren Grundlegung der Aesthetica blieb sie dagegen eine Variante im Quartett der Master Tropes, das von Ramus bis Vossius – nur wieder die wichtigsten Bezugspersonen zu nennen – als Faustregel für die Anwendung der Figurenlehre diente.22 In den Aesthetica ist dieses Ensemble von Grundfiguren – dem quintilianischen Substrat bei Ramus entsprechend – zu modi der figura cryptica ausdifferenziert und in eine eigene Folgelogik gebracht worden, welche – anders als bei Vico, näher an Quintilian – auf die Metonymie statt der Ironie zuläuft (§ 782). Die Tropen unterliegen bei Baumgarten wie bei Quintilian dem Oberbegriff der Allegorie als contracta und im Verbund damit dem strukturellen Äquivalent der Allegorie in dieser Funktion, der Ironie; die figura cryptica ist der gemeinsame Nenner (§ 784).23 Baumgarten bestätigt und stärkt also den ironischen Nexus, der bei Vico Anlass und Umschlag des ricorso ist, indem er das für die Ironie konstitutive kryptische Moment auf die Allegorie zurückbezieht, so dass diese 19 Erhellend hierzu, aber ohne Baumgarten-Bezug, Hans Lipps: »Metaphern« (1934), in: ders.: Die Verbindlichkeit der Sprache, Frankfurt a. M. 1944, 2. Auf l. 1958, 66 – 79, hier 67. 20 Vgl. zu den transzendentalphilosophischen Voraussetzungen dieses Schlusses schon Martin Heideggers Ansatz in: Kant und das Problem der Meta­phy­sik (1929), Gesamtausgabe, Bd. 3, 2. Auf l., Frankfurt a. M. 2010, 21 ff. und 66 ff., der Baumgarten auf der ersten Seite seiner Kant-Revision nennt und die Anregung zu seiner Interpretation von Baumgarten bezogen haben mag. 21 Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, Zürich 1740, 213. 22 Anselm Haverkamp: Metapher. Die Ästhe­tik in der Rhetorik, München 2007, 42 ff. 23 Ders.: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt a. M. 2002, 81 ff.

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als eine generalisierte Ironie fungiert (§ 802), dies aber ohne den von Vico zum ricorso neu flott gemachten Hang zur virtualisierenden historischen ›Auf ­hebung‹ (in einem mehr oder minder hegelschen Sinne). Statt des kulturtypologisch so fruchtbaren ricorso bleibt Baumgarten unspekulativ bei der minimalen, assoziativen Metonymie. Auch das ist eine unausgeschöpfte, mit dem notorischen Paar von Metapher und Metonymie liegen gebliebene Konsequenz, die im Strukturalismus nach Roman Jakobson ein inzwischen auch schon wieder vergessenes Strohfeuer auslöste, das die letzte, bislang vergebliche Provokation der Literatur in ihrer histo­ rischen Gestaltenfolge darstellt. Eine Strukturgeschichte der Literatur hat sich daran nicht entzünden können. 4. Ästhe­tik-Geschichte, Begreifensgeschichte Ich lasse es bei der Andeutung des komplexen Zusammenspiels der Figuren-Variation und Konstellation. Denn was noch fehlt, ist die angekündigte historische Provokation, welche die Literaturgeschichte als eine Geschichte von Ästhe­t ik betrifft. Nicht nur tut sie das, indem sie die nationale Heilsgeschichte des deutschen Idealismus durchkreuzt und den von diesem unerledigten, breiten, lateinisch unterfütterten rhetorischen Untergrund hervorkehrt. Nach Baumgarten verlangt und ermöglicht die Ästhe­t ik eine andere als die nationalen oder sonstwie teleologischen, medialen Fortschritts- und Auf klärungsgeschichten; sie bietet – das leistet der von Baumgarten revidierte rhetorische Rahmen – den Anhalt dazu. Diesen Anhalt aus mehr als der Sache plausibel zu machen – ihn in einer neuen, größer angelegten Erzählung auszubreiten – besteht allerdings kein Anlass. Weder bietet die Forschung angesichts der gegebenen kulturellen Gebundenheiten und approbierten Erkenntnisinteressen mehr als flüchtige Ansätze, noch ist überhaupt ausgemacht, was mit der Ersetzung von leitkulturell bewährten, politisch indessen überlebten, nationalen oder ideologischen Narrativen durch eine Ästhe­t ikgeschichte sui generis zu erreichen wäre.24 Mehr als eine tentative, situationsbezogene Skizze, die mehr als der »rather fictitious importance« Baumgartens für die Moderne Genüge tun könnte, ist deshalb vorerst nicht gut möglich.25 Sie ist aber umso nötiger, denn die Ästhe­t ik ist nach Baumgarten eine Provokation für jede Geschichte im landläufigen Verstande, sofern sie, wie die Kunst und die Literatur, die sie begleiten, Geschichte nicht nur illustriert, sondern sie in einer ihr eigenen Artikulation und Reflexion hervor und zum Begreifen ihrer selbst bringt. Ästhe­t ik reflektiert, thematisiert, ja sie analysiert unter dem Titel der Kritik ein von Kunst und Literatur bezeugtes Reflexivwerden des Geschichte-Werdens von Geschichte. So findet Rüdiger Campe in diesem Reflexivwerden der Figuren bei Friedrich Schlegel eine »ganz andere Marginales zur Metapher. Poetik nach Aristoteles, Berlin 2015, »Einleitung«, 8 ff. Read, Chronist der Avantgarde: Art Now. An Introduction to the Theory of Modern Painting and Sculpture, London 1933, revised ed. 1948, 37. 24 Ders.:

25 Herbert



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Mächtigkeit« theoriefähig werden.26 Damit sind wir schon fast bei dem Stichwort ›Parrhesie‹, die Baumgarten als ein Stück proto-politischer Selbstbehauptung der Kunst an den Schluss der Aesthetica gestellt hat (§ 904) und die als Ansatz einer derartigen Reflektiertheit für das Zeitalter Foucaults die Quintessenz dessen eröffnet, was Geschichte ästhe­t isch zu bieten haben kann an politischer Konsequenz.27 Dazu gehört, was Ästhe­tik am selben Schluss dem ein letztes Mal aufgerufenen Quintilian verdanken mag, der dort das letzte Wort hat. Baumgartens Ästhe­t ik ist weit entfernt von dem, was man als erkenntnis-interessenloses Wohlgefallen ›ästhe­t isch‹ nennt und als solches nur sehr begrenzt gelten lassen will. Es ist nicht die Selbstbehauptung eines endlich sinnlich seiner selbst herr­lichen Subjekts, die man Baumgarten gutschreiben sollte. Es ist aber auch nicht das, was man im Gegenzug dazu an traditionaler Bindung ins Feld führt. Eine an Baumgarten geschulte Geschichte von Literatur und Kunst muss eine Begreifens­ geschichte eher denn eine Motivgeschichte sein – weder der Emanzipation, noch der Nationen, noch aller möglicher anders geleiteter Erkenntnisinteressenlagen. Wolfgang Isers Konstanzer Programmsatz »Literaturwissenschaft ist eine Wissenschaft von Texten, nicht von Nationen« ist ein uneingelöstes Reformpostulat Baumgarten’scher Provenienz geblieben.28 Als Ernst-Robert Curtius nach dem zweiten Weltkrieg zusammenstellte, was ihm nach Quellenlage der europäischen Literatur im lateinischen Mittelalter in den Sinn kam, war Baumgarten nicht dabei. Aber er handelte sich mit dem, was ihm als Substrat europäischer Kultur unter dem rhetorischen Begriff des Topos vorschwebte, in etwa dieselbe Kritik ein, die Lessing an Baumgarten geübt hatte: »Baumgarten bekannte [bemerkte Lessing am Rande seines Laokoon], einen großen Teil der Beispiele in seiner Ästhe­tik Gesners Wörterbuch schuldig zu sein. Wenn mein Räsonnement nicht so bündig ist als das Baumgarten’sche, so werden doch meine Beispiele mehr nach der Quelle schmecken.« 29

Die Quelle, die Lessing dagegensetzte, sollte der unmittelbaren Evidenz ästhe­ tischer Anschauung dienen an der Stelle der rhetorischen res, die, kulturell vermittelt, wie sie waren, einem Curtius als topoi der über den Weltkriegen verlorenen Kultur aushelfen sollten. Als Hans Robert Jauß zwanzig Jahre später mit Iser bei der Gründung der Reformuniversität Konstanz, die nicht zuletzt die Kulturschäden des auslaufenden Jahrhunderts bewältigen sollte, die erste Konstanzer Antrittsvorlesung hielt und sie unter dem Titel Literaturgeschichte als Provokation der Litera26 Rüdiger

Campe: »Das Argument der Form in Schlegels ›Gespräch über die Poesie‹. Eine Wende im Wissen der Literatur«, in: Merkur 68 (2014), Heft 777, 110 – 121, hier 121. 27 Vgl. Petra Gehring: »Foucault’sche Freiheitsszenen«, in: Parrhesia. Foucault und der Mut zur Freiheit, hg. von Petra Gehring und Andreas Gelhardt, Zürich 2012, 13 – 31, hier 15. 28 Wolfgang Iser: »Konstanzer Modell der Literaturwissenschaft«, in: Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1971, Anhang. 29 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon (1766), Gesammelte Werke in zehn Bänden, hg. von Paul Rilla, Berlin/Weimar, 2. Auf l. 1968, Bd. 5, 7 – 217, Zitat: 11 f.

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turwissenschaft zum Druck brachte, konnte er sich auf ein Einverständnis berufen, das dem philosophischen Mitglied des Gründungsausschusses zu danken war, dem Baumgarten-Kenner Joachim Ritter, der wusste, dass dieses Unternehmen auf den Schultern von Gründungsprofessoren wie Iser, Jauß und Wolfgang Preisendanz (kurz, der Forschungsgruppe ›Poetik und Hermeneutik‹) liegen sollte. Ritter hatte das von Reinhart Koselleck als Gipfel der »Sattelzeit« ausgerufene Epochenjahr 1750 im Blick und Baumgartens Aesthetica als das epochale, in die Gegenwart der Hochschulerneuerung hineinreichende Ereignis im Sinn, das in der ersten Reformzeit jeder Student der neuen Universität parat hatte.30 Nicht wenige darunter waren mit der Redaktion jenes Historischen Wörterbuchs der Philosophie beschäftigt, in dem Ritters programmatischer Baumgarten-Artikel zu stehen kam; er markiert die offene Stelle Baumgartens in der stecken gebliebenen Universitätsreform, die an der wiederbelebten Viadrina ein Schüler Kosellecks, Heinz-Dieter Kittsteiner, nur noch beklagen konnte in der doppelten Hinsicht der historischen Funktion der Ästhe­t ik für das Projekt ›Auf klärung‹ wie auch der offenen Unausgedachtheit seiner methodischen Konsequenzen.31 Jauß’ Antrittsvorlesung verwandte das Wort ›Provokation‹ in dem Sinne, in dem Isers Antrittsvorlesung Die Appellstruktur der Texte das amerikanische Modell der Rhetoric of Fiction zitierte: in einem Verständnis von Rhetorik, das der deutschen Philologie fremd geblieben ist. So lief Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft im Klartext hinaus auf Rhetorik als die der Literaturgeschichte implizite Provokation der Literaturwissenschaft.32 Die Formel von der ›Rhetorik der Geschichte‹, die von ungleich größerem Interesse sei als die geistesgeschichtlich überformte Geschichte der Rhetorik, stammte von Paul de Man, dem Sprecher der den Konstanzern derzeit eng verbundenen Yale School of Criticism, und erklärte innerhalb der Rhetorik der Geschichte die Literatur zum eigentlichen Organon von Geschichte.33 Darin geht es um die Freilegung von quasi-transzendentalen, textuell latenten Infrastrukturen, die nach Baumgarten im ästhe­t ischen Vorfeld der manifesten Grammatik als deren analogon rationis aufzufassen sind.34 Auf Baumgartens Innovation bezogen heißt das, dass es das Defizit an Rhetorikbegriffen war, das einer angemessenen Rezeption der Ästhe­tik als Organon der Literatur­ geschichte zu schaffen machte. Iser ließ der rezeptionsästhe­t ischen Anknüpfung an das angelsächsische Format der Rhetorik eine erste Adaption von Austins ›performatives‹ folgen.35 In der abgeflachten Performanz-Konjunktur blieb Baumgarten 30 Reinhart

Koselleck [u. a.] (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, XV. Kittsteiner: Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618 – 1715,

31 Heinz-Dieter

München 2010. 32 Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1967. 33 Paul de Man: The Resistance to Theory, Minneapolis 1985, 18 ff. 34 Rodolphe Gasché: The Tain oft he Mirror. Derrida and the Philosophy of Reflection, Cambridge Mass. 1985. 35 Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte, Konstanz 1971, 10 f.



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auf der Strecke. Nur in einigen Konstanzer Dissertationen, begonnen mit dem bedeutenden Schlegel-Buch von Heinz-Dieter Weber, kam Baumgarten zu einer weiterführenden Präsenz.36 Die Provokation Baumgartens für eine nicht-nationale Literaturwissenschaft – nicht für eine vergleichende, die im Modus der Querelle die nationalen, seien es nun mentale oder sonstwie stereotype Profile kulturell nur vertiefen kann und gegen den literarischen Strich verschärfen muss – blieb unausgeschöpft, obwohl sie wie keine andere wissenschaftliche découverte den strukturalistischen Provokatio­nen von Saussure bis Jakobson oder auch Chomsky korrespondiert. Das anhaltende Verflachen der von der Literatur endgültig emanzipierten Sprachwissenschaft entspricht der philologischen Verflachung zu dem Schreckbild, das Iser und Jauß, Starobinski und de Man, aber auch Peter Hartmann und Wolf-Dieter Stempel, die Konstanzer Linguisten der Zeit, in ihrer Abwehr eines ›positivistischen Objektivismus‹ als bereits überwunden glaubten. So muß Baumgartens Werk weiter auf seinen Platz warten in einer hochschulpolitischen Wüste, in der die karg geförderten Pflänzchen kaum über den Tag zu bringen sind. Das liegt nicht etwa an der fehlenden Förderung; es liegt am blamablen, theoriefeindlichen Desinteresse der im Alibi von Kulturwissenschaften ihrer analytischen Instrumente beraubten Disziplinen. Eine an Baumgarten geschulte Geschichte der Literatur solle eine Begreifensgeschichte eher denn eine Motiv­ geschichte sein, habe ich gesagt, und eine neueste Konjunktur kommt mir dabei zupass, die unter dem Titel der ›Digital Humanities‹ auftritt und anstelle der Sorgfalt des aus der Mode gekommenen ›closer reading‹ ein ›distant reading‹ offeriert: die computergestützte Erhebung von Daten, deren Auswertung Motive und Motivlagen von quantitativ größtmöglichen Textmassen teleskopisch herausfiltern soll – bei leider wenig reflektierter, aber gutwilliger Unterstellung der gängigen, leitkulturell befangenen Semantiken.37 Auf dieses Versprechen würde Lessings verfehlte Kritik an Baumgarten zutreffen, oder umgekehrt: Damit wüsste Baumgarten mehr anzufangen, als es Lessings Quellen-Romantik und die an ihr interessierten aufgeklärten Philologien sich vorstellen können, angefangen bei der Metonymie an der letzten Stelle von Baumgartens contracta. Denn in der Rolle der figurae crypticae wäre die historisch präfigurierte Materie der Daten nicht mehr als das bloße auto-telegene Echo eines kanonisch Bekannten vernehmbar, es wäre als das Spurenwerk des Begreifens in und als Geschichte rekonstruierbar: in einer Begreifensgeschichte der 36 Heinz-Dieter Weber: Friedrich Schlegels Transzendentalpoesie. Untersuchungen zum Funktionswandel der Literaturkritik im 18. Jahrhundert, München 1973, Kap. 2. Vgl. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, 105 mit ausführlicher Anm. 38. 37 Franco Moretti: La letteratura vista da lontano, Torino 2005; ders.: Distant Reading, London 2013. Der teleskopisch prägnante italienische Titel, dem die ästhe­t ische Konnotation noch nicht abhanden gekommen war, ist in der technizistischen Suggestion der deutschen und englischen Übersetzung verloren gegangen, vollends in der Abreviatur des Titels: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt a. M. 2009, 10, ausgehend von der Entgegensetzung zum ›close reading‹.

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aistheta als analoga der philosophisch-dogmatischen Begriffs­geschichten der n­ oeta. Das heißt nicht, dass dort die Zukunft der Kultur- und Geisteswissenschaften liegt, aber dass Baumgartens ästhe­tische Theorie aus der digitalen Datenverarbeitung heraus­holen kann, was an moderaten Lektüre-Ansinnen in der vollen kanonischen Breite erforschbar geworden ist. Weit entfernt davon, ›a closer reading‹ zu erübrigen, komplettierte das ›distant reading‹ den Blick aus der Nähe zu den ›speculative instruments‹ dessen, was Baumgarten lux aesthetica nannte und im Feld der rhetorischen Figuren vorgeprägt fand.

Was ist ästhe­t ische Wahrheit? Von Hans Adler Prolegomena Spontan neigen wir dazu, den Begriff ›Wahrheit‹ als Singular zu begreifen: die Wahrheit. Jemand sagt die Wahrheit, lügt oder irrt. Lügen haben kurze Beine, soll heißen: Letztendlich setzt sich gegen alle Manipulationen doch die Wahrheit durch. Die Vorstellung, dass eine Wahrheit der Prüfstein aller Konjekturen, Hypothesen, Mutmaßungen und Annahmen sei, impliziert die Gewissheit, dass Denken und Erfahrung miteinander zu tun haben, derart, dass Denken via Erfahrung eine Form von Realität erschließt und somit eine Ordnung herstellt, die Orientierung und Handeln ermöglicht. ›Wahr‹ ist demnach, was diskursiv der Erfahrung von Welt korrespondiert, und ›Welt‹ schließt hier den Menschen als Subjekt der Erkenntnis mit ein, denn er ist nicht nur Beobachter, sondern als Beobachter auch Teilnehmer. ›Wahrheit‹ als Bezeichnung für die Übereinstimmung der Semantik und Referenz von Propositionen einerseits und ›Wahrheit‹ zur Bezeichnung der Erfahrung, dass gewisse Annahmen des Subjekts der Erkenntnis sich als womöglich tatsächliche Einsicht erweisen in die eigene Fähigkeit, der unendlich vielfältigen Zumutung kontingenter und ständig überfordernder Erfahrung Herr werden zu können. In beiden Fällen ist ›Wahrheit‹ das Attribut der Erfahrung, dass Hypothesen den Praxistest bestehen, d. h. dass Annahmen, Konjekturen, Mutmaßungen, ›Ideen‹ in der Lebenspraxis sich als erfolgreiche Orientierungsversuche erweisen. Überlegungen dieser Art gehen aus von der Leitidee einer Wahrheit im Singular, die einer aufweisbaren Ontologie und Kosmologie verpflichtet ist. Die Sicherung des Seins basiert nicht auf Erkenntnis, sondern auf Anerkennung, und die grundlegende Anerkennung ist weder analytisch noch synthetisch, sondern tautologisch. Der Satz, ›Was ist, das ist‹ (quicquid est, illud est) als grundlegendes Axiom einer Onto­logie ist in seinem Hinnehmen einerseits nicht zu unterbieten. Andererseits – und hier treffen sich Volksweisheit und hochelaborierte Philosophie – impliziert diese Art Tautologie die Einsicht, dass menschliche Erkenntnis und menschliches Wissen in einen Horizont verwiesen sind, der als Horizont zwar unhintergehbar, dessen Jenseits als solches aber auch gewiss ist. Wahrheit – die Wahrheit – ist in ihrer Einheit und Einzigkeit angesichts des beschränkten Horizonts menschlicher Erkenntnis und menschlichen Wissens eine Universal-Hypothese, die dem Menschen in dieser Welt eine Gewissheit geben soll, die nämlich, dass diese Welt – auch jenseits menschlichen Fassungsvermögens – eine Ordnung, ein Kosmos und nicht Chaos ist und somit eine Topologie aufweist, in der der Mensch seinen Ort hat und ›ich‹ sagen kann. ›Was wahr ist, ist wahr und muss wahr bleiben‹ bezeichnet diesen Sachverhalt der unteilbaren Wahrheit recht gut, denn der Tautologie

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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wird eine Ermahnung hinzugefügt, die deshalb nötig ist, weil die Tautologie hier eben kein ›Abbild‹ der Realität, sondern eine diskursive Zurichtung der Realität mit Wunschcharakter ist. Der Zusatz ›und muss wahr bleiben‹ entlarvt den Trotz-Charakter der Tautologie als Widerstand gegen eine grundsätzlich nicht voll erkennbare Welt, der ›hochgerechnete‹ Erkenntnisse entgegengestellt werden. Analogie, Konjektur, Repräsentativität und Exemplarizität sind Verfahren dieser ›Hochrechnungen‹. Was aber geschieht, wenn ›Wahrheit‹ pluralfähig gedacht wird? Wenn es ›Wahrheiten‹ gibt und diese Wahrheiten in ihrem Anspruch gleichberechtigt sind? Wenn die Hegemonie der Logik durch den Einzug der traditionell erkenntnistheoretisch schlecht beleumdeten Sinne empfindliche Herrschaftseinbußen erleidet? Wie kann die von Alexander Gottlieb Baumgarten eingeführte ästhe­tische Wahrheit überhaupt eine ernst zu nehmende Konkurrentin für die Logik werden? Sprengt die Teilung der einen Wahrheit die Einheit der Wahrheit, oder ist das nur ein Faktor der Binnendifferenzierung? Und was meint ›ästhe­tisch‹ hier? Ich versuche im Folgenden, ein paar Antworten aus meiner Sicht vorzulegen und einen Bezug zu jüngsten Entwicklungen in der Neuroästhetik anzudeuten. 1. Einführung/Überblick Baumgarten definierte und benannte 1735 die Ästhe­tik, führte sie 1739 in sein Meta­phy­sik-System ein und veröffentlichte bekanntlich 1750/1758 große Teile seiner theoretischen Ästhe­tik. Der praktische Teil blieb unausgeführt. Baumgarten stellt sich explizit mit seiner Definition, Benennung und systematischen Installierung der Ästhe­tik in die Tradition griechischer Philosophie und der Patristik. Beide Bezugsfelder mit ihrer scharfen Trennung zwischen aistheta – den Objekten sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis – auf der einen Seite und den noeta – den Objekten der verstandesmäßigen Erkenntnis – auf der anderen sind nicht schlicht Elemente einer deskriptiven Gnoseologie. Die antike Tradition, vermittelt über die neuplatonische und judäo-christliche bis hin zu Baumgarten und darüber hinaus bis hin in unsere Gegenwart, geht aus von einer Trennung, nicht selten von einem Antagonismus von Geist und Körper, Verstand und Sinnen, wobei Geist und Verstand Körper und Sinne dominieren. Die aistheta sind der Schatten der noeta, aber auch deren Grund und Quelle. Was Baumgarten da am Ende seiner philosophischen Poetik, den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus von 1735 entwirft, ist aus seiner Sicht ein Plädoyer für die Gestaltwerdung dessen, was bis dato als eine obskure und zumindest ambivalente Begleitung der Noesis galt. Baumgarten plädiert dafür, dass die Aisthesis bedacht, d. h. legitimer Gegenstand philosophischer Reflexion wird, und zwar nicht nur marginal, sondern als der ­Noesis gleichberechtigtes Feld im philosophischen Denken. Über den Punkt, zu welchem Zweck Baumgartens Ästhe­t ik entworfen sei, gehen die Meinungen auseinander. Da sind zum einen diejenigen, die seine Ästhe­t ik



Was ist ästhe­t ische Wahrheit?51

als eine Theorie des Schönen und der Kunst begreifen. Und hier ist zu unterscheiden zwischen denen, die eher unreflektiert den Ästhe­t ik-Begriff aus dem 20. und 21. Jahrhundert auf Baumgarten zurückprojizieren, womit der historischen Differenz der Geschichte des Begriffs nicht Rechnung getragen wird und der verengte, Kantische und post-Kantische, Hegel’sche und post-Hegel’sche Ästhe­tik-Begriff den weiten Ästhe­tik-Begriff Baumgartens verfehlt. Zum anderen gibt es in der Baumgarten-Rezeption die – keineswegs homogen argumentierende – Gruppe, die seine Einführung der sinnlichen Erkenntnis (aisthesis) in das System des Wolff’schen Rationalismus als einen Akt der Emanzipation der Sinne begreifen. Mit den Sinnen kommt der Körper – das pudendum der abendländischen Denktradition – ins Spiel in seinem Wandel vom Störfaktor zu einer der entscheidenden Determinanten menschlicher Erkenntnis. Beide ›Fraktionen‹ – nennen wir sie die ›Ästhe­t iker‹ und die ›Aisthetiker‹ – können aus Baumgartens Texten Gründe für sich reklamieren. Baumgartens Bestimmung der Ästhe­tik als »Theorie der freien Künste« (Aesth. § 1), sein wiederholter Hinweis darauf, dass neben der Dichtung auch andere Künste wie Malerei, Musik und Architektur in einer Ästhe­t ik zu bedenken seien, die extensive Ausformulierung kunst- und dichtungsrelevanter Mittel, deren Präsentation rhetorisch systematisiert ist – all das sind Belege für eine Ästhe­tik als Theorie der freien Künste, obwohl in seiner Aesthetica die Künste im Vergleich zur Dichtung deutlich unterrepräsentiert sind. Es ist aber auch klar, dass Baumgarten die philosophische Poetik in den letzten Paragraphen seiner Meditationes von 1735 systematisch in die zu erstellende Ästhe­t ik einbettet, die ihrerseits wiederum in den Kontext der sie umfassenden Erkenntnislehre, der Gnoseologie, eingebettet wird. Auf diese Weise entsteht ein Wissensuniversum, das in Form quasi-konzentrischer Kreise beschrieben werden kann, die diskursive Räume in hierarchischer Ordnung andeuten. (1) Der innere Kreis, die Poetik, wird erst dann ›philosophisch‹ (und das ist das Thema und Ziel der Baumgarten’schen Meditationes), wenn die Poetik als konstitutiver Teil systematisch in die Ästhe­t ik implementiert wird (Abb. 1).

Ästhetik

Poetik

Abb. 1

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Hans Adler

(2) Weiterhin wird die Ästhe­t ik erst dann ›philosophisch‹, wenn ihre Elemente und Konstitution in eine umfassende Erkenntnislehre eingebettet und wiederum einer der konstitutiven Teile dieser Erkenntnislehre – Gnoseologie – werden (Abb. 2).

Metaphysik

Gnoseologie

Gnoseologie

Ästhetik

Ästhetik

Poetik

Poetik

Abb. 2

Abb. 3

Der Hauptsatz der Ästhe­t ik Baumgartens lautet nicht: Die Ästhe­t ik ist die Theorie der Schönheit, der Dichtung und der Künste. Der Hauptsatz der Baumgarten’schen Ästhe­t ik lautet: »Die Ästhe­t ik […] ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« (Aesth. § 1).1 Drei der dann folgenden vier Nebenbestimmungen betreffen das Denken und die Erkenntnis: »untere Erkenntnislehre«, »Kunst des schönen Denkens«, »Kunst des Analogons der Vernunft« (ebd.) Der Unterschied zwischen den ›Ästhe­tikern‹, die Baumgartens Ästhe­tik als Theo­rie der Schönheit und der Künste lesen und den ›Aisthetikern‹, die sie als eine Theorie der unteren Erkenntnisvermögen lesen, ist meines Erachtens nicht exklusiv. Es kann das eine gedacht werden, ohne das andere zu lassen, vorausgesetzt, dass die gnoseologische Rangfolge beachtet wird, soll heißen, dass Baumgartens Ästhe­t ik nur dann richtig gelesen werden kann, wenn der metaphysisch-gnoseologische Aspekt als grundlegender anerkannt wird, auf dem dann Ästhe­t ik und Poetik aufruhen. Eine Interpretation von Baumgartens Ästhe­t ik ohne die umfassende Gnoseologie und Meta­phy­sik kommt dem Bau höherer Stockwerke eines Gebäudes ohne Fundament gleich. So etwas mag als malerische Groteske hingehen, als Theorie ist es nicht haltbar. (3) Die Gnoseologie ihrerseits trägt nur dann, wenn sie in eine umfassende Meta­phy­sik eingebettet wird (Abb. 3, oben). 1 Vgl. dazu Dagmar Mirbach in ihrer »Einführung« in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anm. und Registern, hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007, XXVII – XXXII.



Was ist ästhe­t ische Wahrheit?53

Die Fundierungsrelationen zwischen Poetik, Ästhe­tik, Gnoseologie und Meta­ phy­sik machen jedenfalls klar, dass eine Poetik ohne Ästhe­t ik, eine Ästhe­t ik ohne Gnoseologie und eine Gnoseologie ohne metaphysischen Rahmen nicht bestehen kann. Wir bewegen uns somit in einem klar strukturierten Wissenssystem, das seine eigenen Grenzen wie auch den Anschluss an nicht-philosophische Erkenntnis oder Gewissheit mit reflektiert. 2. Der systemische Ort der sinnlichen Erkenntnis und ihr Realitätsbezug

Erkenntnisvermögen

analogon rationis Verstand

höhere Existenz der Seele

Vernunft

Menschliche Fähigkeiten niedere

Gleichgültigkeit / Vergnügen / Begierde

höhere

Wille / Spontaneität

Begehrungsvermögen

Logik

niedere

Praktische Philosophie

PSYCHOLOGIA EMPIRICA

Sinne

Ästhetik

Baumgartens Entscheidung, in der traditionellen Entgegensetzung von Aisthesis und Noesis sich für den traditionell schwächeren Teil – die Aisthesis – zu interessieren und ihre philosophische Durchdringung einzuleiten, wird von ihm als Befriedigung eines Desiderats des Wolff’schen Systems gerechtfertigt. Der Wolff’schen Meta­phy­sik fehle – ich kürze hier ab – eine Theorie der unteren Erkenntnisvermögen. Die Formulierung des Anspruchs der Aisthesis auf ein Anrecht im Haus der Philosophie war ein mutiger Eingriff Baumgartens in die rationalistische Gnoseologie, in der die Logik bis dahin den erkenntnistheoretischen und -praktischen Alleinvertretungsanspruch erhob, ohne dem Bereich des Sinnlichen eine Chance zur theoretischen Entfaltung zu eröffnen. Dem Anspruch nach geht es also um eine Erweiterung der Meta­phy­sik Wolff’schen Zuschnitts (Abb. 4).

Abb. 4: Gliederung der Empirischen Psychologie A. G. Baumgartens

Gemeint ist mit diesem ›Sinnlichen‹ der Aspekt der Erkenntnis, der »unter der Deutlichkeit« (Aesth. § 17) verbleibt, also in damaliger Terminologie klar, aber verworren (confusa) ist. Dass diese Erkenntnis nicht apperzeptiv-rational als Erkenntnis ausgewiesen werden kann, nimmt ihr nicht den Status einer Erkennt-

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nis2 eigener Art, sondern schafft – und das ist ein entscheidender Schritt – einen erweiterten Erkenntnisbegriff, der sich der vollständigen rational-logischen Erfassung entzieht, anthropologisch, psychologisch und lebensweltlich gleichwohl unabweislich relevant ist. Mit anderen Worten: Was Baumgarten hier mit seiner Theo­r ie von den Leistungen der Sinnlichkeit entwickelt, ist mehr als eine Lehre von der sinnlichen Darstellung oder Vorstellung und nicht als bloße Propädeutik ratio­ naler menschlicher Erkenntnis zu begreifen. Mit der Annahme einer sinn­lichen Erkenntnis sui generis wird ein neuer Fluchtpunkt für eine Umbesetzung des Begriffs der ratio, wenn auch nicht in vollem Umfang sichtbar, so doch vorstellbar. Und hier greift Baumgarten auf Leibniz zurück, der 1684 mit seinen Descarteskritischen »Meditationes de cognitione, veritate et ideis« 3 eine bis dato allenfalls als Wahrnehmungs- und Vorstellungsart geduldete Reaktion auf äußerliche Stimuli in den Stand der Erkenntnis erhob. Es gebe, so Leibniz, Erkenntnisse, die »simplici sensuum testimonio, non vero notis enuntiabilibus« (G IV, 422), (›einfach [oder: ausschließlich] durch das Zeugnis der Sinne, nicht aber durch eine Merkmalliste‹) gewonnen werden. Das Neue bei Leibniz ist die Behauptung, dass die Sinne nicht nur überhaupt Erkenntnisse beizubringen vermögen, sondern dass die durch die Sinne gewonnenen Erkenntnisse ihnen und nur ihnen eigen seien. Kurz: Es gibt eine nicht auf rationale menschliche Erkenntnis reduzierbare Erkenntnisleistung der Sinne. Und Leibniz illustriert seine These mit Beispielen für die Eigenständigkeit der klaren und verworrenen Erkenntnis (die Baumgarten dann rund sechzig Jahre später ›sinnliche‹ Erkenntnis nennt). Ich nenne drei dieser Beispiele: 1) Die Farbe Grün als Farbmischung aus Blau und Gelb sei als Grün ein »novum aliquid ens« (G IV, 426), das als solches verschwinde, wenn es in seine Elemente Blau und Gelb zerlegt werde. Die Mischungskomponenten müssen also als solche ›verworren‹ (gemischt) bleiben, um physikalisch Grün zu erzeugen. Moderner gesagt: Es geht um die subtraktive Farbmischung. 2) Das Rauschen des Meeres setze sich aus dem Geräusch einzelner Wellen zusammen, und als Gesamteindruck verschwinde das Rauschen in dem Augenblick, in dem die Wellen als einzelne für sich klar und deutlich wahrgenommen werden. (G V, Preface, 47) 3) Leibnizens Idee, dass das Hören von Musik letztlich in einem ›unbewussten Zählen‹ der Seele bestehe, legt offen, wie die klare und verworrene Erkenntnis in die Hypothese einer mit mathematischer Präzision strukturierten Welt eingebettet ist. Die klare und deutliche Einsicht in diese kosmische Mathematik ist dem Men2

Um die negativen Konnotationen des Terminus »confusa/verworren« zu vermeiden, schlägt Johann Christoph Schwab 1813 »zusammengeflossene oder verschmolzene Empfindungen« vor, s. ders.: Von den dunklen Vorstellungen; ein Beytrag zu der Lehre von dem Ursprunge der menschlichen Erkenntniß. Nebst einem Anhang über die Frage: in wie fern die Klugheit eine Tugend sey?, Stuttgart 1813, 17. 3 Gottfried Wilhelm Leibniz: »Meditationes de cognitione, veritate et ideis« (1684), in: ders.: Die philosophischen Schriften, hg. von C. J. Gerhard, Bd. IV, Hildesheim/New York 1978 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1880), 422 – 426.



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schen freilich verwehrt, die universale Ordnung (Kosmos) ist eine Annahme, die sinnlich ›geahnt‹ und erfasst werden könne (G VI, § 17, 605 f.). Im Beispiel der Musik als sinnlicher Botin kosmischer Mathematik scheint die klare und verworrene Erkenntnis keine eigenständige, sondern nur eine propädeutische Funktion zu haben. Es scheint, als gelte die sinnliche Erkenntnis nur bis zu dem Zeitpunkt, wo das sinnlich Verworrene von einer mathematisch formulierbaren Klarheit übernommen werde. Zwar ist Leibnizens Annahme der kosmischen Mathematik die Grundlage des Optimismus der rationalistischen Auf klärung, aber diese Annahme kann bloß als Hypothese formuliert werden, denn der Grad und die Ebene dieser Erkenntnis sind, so Leibniz, dem Menschen nicht zugänglich. Der Mensch bleibt angewiesen auf die menschenmögliche rationale und sinnliche Erkenntnis als maximale Einsicht in übermenschliche Dimensionen einer hypothetischen Rationalität. Was in anthropologischen Dimensionen als Erkenntnis fungiert, erweist sich aus der Perspektive einer allumfassenden Rationalität, die analog zur menschlichen Mathematik gedacht wird, als Hinweis. Die klare und verworrene menschliche Erkenntnis (und im Grunde ebenso die klare und deutliche menschliche Erkenntnis) besteht nicht in der Erkenntnis der Dinge, wie sie sind, sondern sie weist auf den großen Zusammenhang hin, kurz: Menschliche Erkenntnis ist mit ihren Analogien eine deiktische Erkenntnis. Subjektiv ist Kosmos – Ordnung – nicht einfach; Kosmos – Ordnung – soll sein. Der Nachweis, dass überhaupt Ordnung und nicht vielmehr keine Ordnung ist, kann nur via Analogie erbracht werden. Damit ist in Leibnizens gnoseologischem Modell die Grenze menschlichen Wissens als konstitutiver Bestandteil des Wissens selbst immer präsent. Den Versuch, Ordnung – einen Kosmos – im weitesten Sinne zu schaffen, nennen wir Kultur. 3. Ästhetische Wahrheit und ästhe­tische Evidenz Die Praxis und Theorie menschlicher Kultur, deren Dynamik auf Vereinfachung und Ordnung des scheinbar kaum zu bändigenden heteroklitischen Materials der Erfahrung zielt, muss – auch bei Baumgarten und sogar bis heute – sich mit dem Verhältnis von Ding und Dingerkenntnis auseinandersetzen, aber auch mit dem Verhältnis von Wahrnehmung und Erkenntnis. Während das erstere Verhältnis – zwischen Ding und Dingerkenntnis – im 18. Jahrhundert philosophisch im Spiel zwischen Ontologie und Gnoseologie sich einrichtet, etabliert sich das letztere Verhältnis – zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis – in der Auseinandersetzung um die Rollen von Körper und Geist. Aussagen über eine erfahrungsunabhängige Realität und Aussagen über die Bedingungen solcher Aussagen reklamieren eine gewisse ›Treffsicherheit‹ für sich im Erfassen der propositionalen Referenz, sprich: der objektiven Realität und der menschlichen Perspektive auf diese Realität. Anders formuliert: Menschliche Welt- und Selbsterkenntnis wird praktiziert als ein hypothetisches Austarieren zwischen Perzeption, Transformation der Perzepte und deren axiomatisch begründeter Verarbeitung zu hypothetischen Mustern, die durch

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Vergleich und Unterscheidung erstellt und durch regelhafte Wiederholung gekennzeichnet sind. Die Validität der Verfahren und Resultate der Welt- und Selbsterkenntnis wird an deren Wahrheit bemessen, und ich halte hier noch einmal fest, dass »Wahrheit« nicht einfach ein Attribut einer Abbildung eines Sachverhalts ist, sondern im Wesentlichen eine Behauptung der Treffsicherheit von ›Vorstellungen‹ (perceptiones, repraesentationes) meint. Es ergibt sich von daher bei Baumgarten eine Kaskade von Wahrheitsgraden, -dimensionen und -stufen, nämlich die Wahrheit im strikten Sinne (Aesth. § 441), die logische Wahrheit im engeren sowie im weiteren Sinne (Aesth. § 424); die ›reale‹ Wahrheit dieser Welt und die heterokosmische Wahrheit (Aesth. § 441) anderer möglicher Welten; die materiale und die geistige Wahrheit (Aesth. §§ 423, 427); die subjektive und die objektive oder metaphysische Wahrheit (Aesth. §§ 424, 423 f.4) und andere mehr. All diese Spielarten der Wahrheit werden flankiert von einem Fächer von Wahrscheinlichkeiten, und Baumgarten etabliert auch Verfahren ästhe­t ischer Überredung und ästhe­t ischer Evidenz (Aesth. §§ 847 ff.). Baumgarten konfrontiert uns also mit einer stattlichen Anzahl von Wahrheiten, die er gewissermaßen systematisch generiert im Rahmen der Axiome des Satzes vom Grund und des Satzes vom Widerspruch. Auf diesem Terrain wird Philosophie als Wissenschaft des Denk-Möglichen ausgetragen, und auf diesem Terrain hatte Baumgarten den weißen Fleck der Logik des unteren Erkenntnisvermögens – die Ästhe­t ik – identifiziert und besetzt. Das einfachste, bekannteste und knappste Modell des Zusammenhangs zwischen den Wahrheiten der neuen Ästhe­tik, der traditionellen Philosophie und des umfassenden Denksystems, in dem die Wahrheiten ihren Ort haben, ist das Modell der Nachschrift zu Baumgartens Ästhe­ tikvorlesung (Abb. 5). VERITAS metaphysica / obiectiva

subiectiva logica

Abb. 5

aesthetica

aestheticologica

Die ästhe­t ische Wahrheit ist demnach, zusammen mit der logischen, eines der beiden konstitutiven Elemente der subjektiven Wahrheit. Schon in seinen Meditationes von 1735 bestimmt Baumgarten die Ästhe­t ik als Teil der »Logik im weitesten Sinne« (Med. § 115; Aesth. § 424), und er spezifiziert in der Aesthetica die logische Wahrheit als »logische Wahrheit im engeren Sinne« (Aesth. § 424). Sie wird durch 4 Vgl. Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehung zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhe­tik Baumgartens, Borna-Leipzig 1907, 215.



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die Aufnahme von Vorstellungen durch den Verstand gewonnen. Die Aufnahme von Vorstellungen durch das analogon rationis und die »unteren Erkenntnisvermögen« (Aesth. § 424) resultiere in der ästhe­tischen Wahrheit. Es ist grundlegend für Baumgarten, dass nicht der Reiz, der die Vorstellungen provoziert, für beide Wahrheiten je verschieden ist, sondern verschieden ist die Reizverarbeitung – sei es im oberen oder im unteren Erkenntnisvermögen. Und noch etwas steht fest für Baumgarten, dass nämlich beide Wahrheiten den gnoseologischen Eckpunkten der Sätze vom Grund und vom Widerspruch verpflichtet sind (Aesth. §§ 426, 431). Somit ist der gnoseologische Ausgangspunkt für die beiden Erkenntnisformen ebenso gesichert wie der ontologische Status des Erkenntnis-Reizes. Dennoch haben logische Wahrheit und ästhe­tische Wahrheit ihren je eigenen Status und Wert. Zum einen unterscheiden sie sich im Grad der Erkenntnis, zum anderen aber auch in den Bereichen der Vorstellungen. Die klare und deutliche Erkenntnis wird analytisch-begrifflich – aufzählend – gewonnen. Die für die sinnliche Erkenntnis charakteristische klare und verworrene Erkenntnis wird dagegen eher ganzheitlich gewonnen: Ein Grün, das durch die diskursive Anatomie gegangen ist, ist kein Grün mehr. Ein sinnlich aufgefasstes Grün gibt sich mit dem ganzheitlich Perzipierten und Vorgestellten zufrieden und erhält sich damit als Phänomen. Beide Wahrheiten, konfrontiert mit demselben physikalischen Phänomen, erfassen den Erkenntnisgegenstand nicht aus unterschiedlichen Perspektiven, sondern entsprechend den Leistungen verschiedener menschlicher Erkenntnisvermögen. Baumgarten entwickelt dazu eine Theorie menschlicher Erkenntnishorizonte, wobei er einen logischen und einen ästhe­tischen Horizont unterscheidet (Aesth. §§ 119, 122), die in gewissen Fällen deckungsgleich sein können, normalerweise sich aber durch den Grad der Klarheit unterscheiden: Innerhalb des ästhe­tischen Horizonts bietet sich die Wahrheit lebhaft (mit einer großen Anzahl von Merk­ malen) dar. Der Merkmalsreichtum in der Darstellung – ihre Anschaulichkeit – ist, so Baumgarten, ein Aspekt der prima cura (das »erste Besorgnis«) im »Denken der Sachen« (in rebus cogitandis, Aesth. § 115); die secunda cura (das »zweite Besorgnis«) »im anmutigen Denken« der Sachen (in rebus venuste cogitandis, Aesth. § 177) ist die Digni­t ät/Größe der Sachen, und die tertia cura, das »dritte Besorgnis bei geschmackvoll zu denkenden Sachen« (Aesth. § 423), ist eben die ästhe­t ische Wahrheit. Es geht bei allen drei ›Besorgnissen‹ nicht um die Sachen selbst oder deren Schönheit, sondern um das ›Denken der Sachen‹ (Hervorhebung H. A.), und das ästhe­tische ›Denken‹ ist das Denken der Erscheinung als vollkommene. Baumgarten ist sich der Tatsache, dass wahrgenommene Gegenstände nicht die Gegenstände selbst sind, sehr deutlich bewusst, und es besteht keine Diskrepanz zwischen seiner Meta­phy­sik auf der einen Seite und seiner Ästhe­tik auf der anderen, was den Unterschied zwischen Gegenstand an sich und wahrgenommenem Gegenstand betrifft. Im vieldiskutierten § 14 der Aesthetica heißt es: »Der Zweck der Ästhe­t ik ist die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Diese [Vollkommenheit] aber ist die Schönheit.« (Aesth. § 14)

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Der bisweilen in Konkurrenz zum § 14 begriffene § 662 der Meta­phy­sik lautet: »Die Vollkommenheit der Erscheinung oder diejenige, die vom Geschmack im weiteren Sinne bemerkt werden kann, ist die Schönheit«. (Met. § 662)

Es ist offenbar, dass Baumgarten in keinem der beiden zitierten Paragraphen von den Gegenständen selbst – also einer objektiven, vom Erkenntnissubjekt unabhängigen Realität – spricht, sondern von der ›sinnlichen Erkenntnis‹ oder dem ›Geschmack‹, die sich der Phänomena, der Erscheinungen, annehmen. Diese ›Erscheinungen‹ sind aber nicht die Phänomena Platons, die als Abbilder der reinen Ideen die Welt des sinnlich Wahrnehmbaren ausmachen, kurz: Baumgartens ›Erscheinungen‹ sind nicht ontologisch sekundäre Gegenstände einer objektiven Realität, sondern deren Perzepte, die gnoseologisch subjektiv bestimmt, aber nicht idiosynkratisch beliebig sind. ›Erscheinungen‹ bilden das perzipierte und kognitive Material, das dem Erkenntnissubjekt nach Maßgabe seiner Wahrnehmungsorgane (äußere Sinne) und seiner inneren Verarbeitungskapazität der oberen und unteren Erkenntnisvermögen zugänglich ist. Schönheit besteht demnach in der merkmalsreichen Ordnung der Empfindungen (sensationes) und Einbildungen (imaginationes). Baumgarten positioniert die Ästhe­t ik als Teil der Gnoseologie sehr präzise als Teiltheorie der subjektiven Wahrheit und fasst folgerichtig logische und ästhe­t ische Wahrheit terminologisch in einer ästhetikologischen Wahrheit zusammen. Sie ist die Wahrheit des ganzen Menschen, und ihre Formulierung ist Baumgartens Beitrag zur anthropologischen Wende des auf klärerischen Rationalismus. Es ist ein Beitrag zur Vervollkommnung des Rationalismus, basierend auf dem Nachweis eines strukturellen Mangels in der Architektur des Wolff’schen Systems, keineswegs aber gemeint als grundsätzlicher Einwand gegen das System als solches. Dies ist einer jener Beiträge zur Philosophie, die in Solidarität mit den Zielen einer bereits existierenden Richtung (hier: der Auf klärung) entworfen werden und die – malgré eux – zu systemischen Verwerfungen geführt haben, die bis heute zu spüren sind. Moses Mendelssohn, Johann Georg Sulzer, Johann Gottfried Herder, Karl Philipp Moritz, Goethe und andere sind Mitstreiter in diesem Kampf um das zentrale Konzept der Auf klärung: Vernunft. Es geht bei den Diskussionen um die Ästhe­tik nicht nur um Worte, es geht um Begriffe, um Begriffspolitik und damit um Deutungshoheiten. Zunehmend wird aber auch klar, dass Diskussionen um das Konzept der Vernunft dessen Variabilität voraussetzen und die neue Wahrheit zu vermitteln versuchen, dass Konzepte nicht mehr als Tatsachen bloß entdeckt werden müssen durch genaueres Hinsehen, sondern dass Konzepte Resultate von reizinduzierten innersubjektiven Transformationen bzw. Verrechnungen (s.u.) und intersubjektiven Verhandlungen sind, die prinzipiell widerrufen werden können. Für seine unspektakuläre Vorgehensweise5 konnte Baumgarten sich freilich auf 5 Vgl.

den Beitrag von Gérard Raulet in diesem Band.



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einen Grund berufen, der uns heute abgeht. Es ist das philosophisch nicht beweisbare, systemisch aber begründbare Axiom, das unter dem Namen veritas metaphysica oder veritas obiectiva firmiert. Diese Wahrheit – so die Hypothese der meisten deutschen Auf klärer – gilt unverbrüchlich, und sie garantiert, dass Kosmos, Ordnung, objektiv nicht nur sein soll, sondern tatsächlich ist, und zwar unabhängig von der bedauerlichen Tatsache des malum metaphysicum, dass die menschliche Erkenntnis unhintergehbar beschränkt ist und zum Gehalt der metaphysischen Wahrheit keinen direkten Zugang hat. Der Optimismus der Theodizee – dass alles und jedes seinen Ort, Maß, Zahl und Gewicht hat, dass ›Whatever is, is Right‹6 – ist für Baumgartens Philosophie und somit auch für seine Ästhe­tik als Gnoseologie ausnahmslos verbindlich. Jede ästhetikologische, menschliche Wahrheit ist im Verhältnis zur »höchsten Wahrheit« (veritas maxima) unendlich defizitär, wie Baumgarten formuliert (»defectus […] infinite magnus«, Aesth. § 557). Das Gemüt (mens) muss, »mit einem unendlich kleinen Teile der höchsten logischen Wahrheit im weitesten Sinne zufrieden sein, mit dem nämlich, den es erlangen kann«.7 (Aesth. § 557). Die Philosophie liefert damit den zwingenden Grund für die Notwendigkeit des Glaubens als Fortführung der geistigen Erkenntnis mit anderen Mitteln. Schönheit als ästhe­t ische Wahrheit ist das dem Menschen zugängliche metaphysische Analogon und Deiktikon der hypothetischen Totalität des Kosmos. Es ›passt‹ alles und hat seine Ordnung. Aber auch in Baumgartens Bemühungen um eine denkbare und praktikable Balance zwischen Wissen und Nichtwissen als zeitunabhängigem Sachverhalt gehen systemisch kaum kompatible Elemente eher nebenher ein, die wie Haarrisse im Damm des Rationalismus wirken. In einem späten Abschnitt der Aesthetica zur ästhe­tischen Überredung betont Baumgarten noch einmal die Unterordnung des Ästhetischen unter das (logische) Gebot der Wahrscheinlichkeit. Interessanter ist in diesem Zusammenhang aber, wie Baumgarten bei Horaz in den Carmina etliche »logisch unwahrscheinliche« (logice improbabile, Aesth. § 845) Dinge aufzeigt und darauf hinweist, dass diese Dinge aber für Horaz 8 – d. h. zu seiner Zeit und in seiner Kultur – »nicht ästhe­t isch unglaubhaft« (ebd.) gewesen seien. Das Glaubhafte oder Wahrscheinliche hat also seine Geschichte. Zwar ist diese Historizität mensch­l icher Erkenntnis bei Baumgarten noch im Modell auf klärerischen Fortschritts gebändigt, ein Modell, in dem Horazens ›Wahrheit‹ im 18. Jahrhundert nicht als eine mögliche Option einer ›anderen‹ Wahrheit galt, sondern als eine überwundene, defizitäre, die einst eine Erklärungs-, im modernen Sinne freilich keine Erkenntnisfunktion mehr habe. Es bleibt aber das Anzeichen der systemverunsichernden Historizität der Axiome menschlicher Erkenntnis, deren Energie sich über Herder erst im 19. Jahrhundert voll entwickeln sollte. 6 Alexander Pope: An Essay on Man in Four Epistles to H. St. John Lord Bolingbroke (1733/1734), in: ders.: A Critical Edition of the Major Works, ed. by Pat Rogers, Oxford/New York 1993, Zitat: 280. 7 Übersetzung modifiziert, H. A. 8 Im Text versehentlich »Vergil«, 867.

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4. Die Brisanz der ästhe­tischen Wahrheit im Licht gegenwärtiger Debatten 9 Baumgartens Idee der ästhe­tischen Wahrheit führt Begriff und Anschauung zusammen und liefert gewissermaßen eine Vorlage für Kants Diktum aus der Kritik der reinen Vernunft: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (KrV B75),10 womit Begriff und Anschauung als »Elemente aller unserer Erkenntnis« (B74) in erkenntnisnotwendiger Kooperation ausgewiesen werden. Kant, Herder und andere Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts, die sich mit dem Verhältnis von Anschauung und Begriff befasst haben, sind sich einig darin, dass Fakten existieren, deren Erklärung sie nicht kennen und die sie als Geheimnisse zwar auf sich beruhen lassen, sie aber gleichwohl benennen. In Anlehnung an d’Alembert formuliert Johann Georg Sulzer neun Jahre nach dem Erscheinen des ersten und ein Jahr nach dem Erscheinen des zweiten Bandes von Baumgartens Aes­ thetica das Desiderat einer »Experimentalphysik der Seele« (SGS 1, 140, 215 f.),11 die als Zentralorgan der menschlichen Erkenntnis noch in philosophisch unangemessener Dunkelheit verborgen sei. Er schreibt in der 2. Auf lage seines Kurzen Begriffs aller Wissenschaften von 1759, dass einige »Würkungen« der Seele »so dunkel [seien] und […] so plötzlich [geschehen], daß sie der Aufmerksamkeit sehr leichte entgehen. Einige dieser Würkungen sind so beschaffen, daß man sie in der Tiefe der Seele nicht würde gewahr werden, wenn sie nicht durch entferntere Veränderungen, die von ihnen herrühren, Spuren ihres Daseyns entdekten. Mithin wird überall eine ungemeine Fertigkeit und Genauigkeit im Beobachten erfordert. Nicht weniger Fleis und Scharfsinnigkeit gehört dazu, alle besondere Eigenschaften aus den Beobachtungen deutlich zu bestimmen, ihre Abhänglichkeit zu bemerken, und ihre eigentliche Beschaffenheit zu beschreiben.« (SGS 1, 141)

Da es dabei – vergleichbar der Baumgarten’schen Einführung der Ästhe­tik – um grundlegende Fragen geht, ist diese Einkapselung von Nicht-Begriffenem, möglicherweise gar das zum grundsätzlich Nicht-Begreif baren Erklärte bemerkenswert. Kant deutet auf eine mögliche gemeinsame, aber unbekannte Wurzel der beiden »Grundquellen des Gemüths« – d. h. Sinnlichkeit und Verstand – hin, und er muss sich wegen dieses Nichtwissens um ein Verbindungsmodell in Gestalt seines viel diskutierten ›Schemas‹ bemühen.12   9 Der folgende Abschnitt ist ein Teil meines Vortrags auf dem Wisconsin Workshop 2013, der 2016 im Druck dokumentiert wird: Anschauung und Anschaulichkeit. Spielarten der Visualisierung im Lesen, Wahrnehmen und Denken, hg. von Hans Adler und Sabine Gross, München (im Druck). 10 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1990 (B = 2. Auf l. von 1787). 11 Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften. Erste (1745) und zweite (1759) Auf l., hg. von Hans Adler, mit einem Beitrag zu Leben und Werk J. G. Sulzers von Elisabeth Décultot, Basel 2014 (= Gesammelte Schriften 1). 12 Vgl. dazu Hans Adler: »Metaschema und Aisthesis. Herders Gegenentwurf zu Kant«, in:



Was ist ästhe­t ische Wahrheit?61

Herder konstatiert die unbegreifliche »Metastasis« (Umwandlung) des Gegenstandes in einen Gedanken, und er gesteht, nicht zu wissen, wie die Ektypen sich »im Nerv des Organs fortpflanzen [und] wie sie materiell auf bewahrt werden« (SWS 21, 117).13 Klar aber ist, dass eine Transformation – ein »Metaschematisieren« – von Reiz (impressio) in ein geistiges Gepräge (typos) stattfindet, und Herder insistiert auf einer Ähnlichkeit des Körperlich-Materiellen mit dem davon induzierten Geistigen. Was sich bei genauerem Hinsehen auf philosophische, psychologische und anthropologische Versuche zur Erklärung des menschlichen Erkenntnisprozesses vielfältig belegen lässt, ist, dass mehr oder weniger transparente und mehr oder weniger konsistente Spekulationen diese Wissensdefizite kompensieren. Wissensund wissenschaftsgeschichtlich lässt sich für das 18. Jahrhundert und dann für die folgenden Jahrhunderte eine zunehmende Konkurrenz zwischen philosophischspekulativem und (natur-)wissenschaftlich-empirischem Diskurs konstatieren. Die Diskreditierung des philosophischen Diskurses durch den naturwissenschaftlichen Empirismus basiert auf einem Evidenzbonus auf Seiten des Empirismus zu Lasten spekulativer, d. h. philosophischer Verfahren zur Erkenntnis- und Wissensgewinnung. Bei dieser Aufteilung fehlt aber die Berücksichtigung der Annahme, dass die von Herder geforderte anthropologische und die von Kant geforderte transzen­dentalphilosophische Wende sich beide gleichermaßen auf empirische wie auf spekulative Verfahren der Wissens- und Erkenntnisgewinnung beziehen. Ein empirisch gewonnenes Faktum naturwissenschaftlicher Provenienz ist ein bedingtes Wissen von Dingen, nicht ein Wissen vom factum brutum in seinem vollen Umfang. Ein spekulativ gewonnenes Faktum ist gleichfalls bedingtes Wissen von Dingen, die Spekulation integriert aber nach den kopernikanischen Wenden des 18. Jahrhunderts zunehmend das Bewusstsein der diskursiven Konstruktivität dieser Art Wissensgewinnung als Bedingung der Möglichkeit von Wissen in den Gegenstand des Wissens selbst. Diese Aufwertung des empirischen Zugriffs auf die Heteroklisie menschlicher Erfahrung findet ihren Ausdruck in einer Zunahme deskriptiv-analytischer Werke von Anatomen, Naturkundlern, Psychologen, Medizinern, Physikern, Astronomen etc. Wir sind gegenwärtig Zeugen einer Konstellation in den Wissenschaften, in der Empirismus und Technologietransfer Leitwerte sind. Leitdisziplin in dieser Konstellation ist seit einiger Zeit die Biologie. Und innerhalb der Biologie – mit vielfältigen Ausfächerungen in die Medizin und Chemie – sind es die Neurowissenschaften, die in dieser Führungsposition Nachfolger der Genetik geworden sind. Mit gewissem Erstaunen mag man feststellen, dass insbesondere die Neuroästhetik in bemerkenswertem Maße Aufmerksamkeit auf sich zieht, und man wird fragen müssen, warum ein hochelaborierter Bereich der Naturwissenschaft mit beacht­ Zwischen Bild und Begriff. Kant und Herder zum Schema, hg. von Ralf Simon und Ulrich Gaier, München 2010, 119 – 154. 13 Johann Gottfried Herder: Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799), 2. Nachdruckaufl. Hildesheim/New York [1978/1979] (= Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 21).

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lichem Aufwand sich auf das Feld der Ästhe­t ik begibt, und das nicht als zufälliges lokales Ereignis, sondern international.14 Im Jahr 2002 durch einen Kongress in San Francisco aus der Taufe gehoben, machte der Begriff Neuroästhetik rasch Karriere, und es dauerte – wie schon zuvor bei der Genetik und der Chaos-Theorie – nicht lange, bis auch Neurowissenschaftler Hegemonialansprüche stellten. Der Londoner Neurobiologie Semir Zeki verkündete 2009 in seinem »Statement on Neuroesthetics«: »Art is a human activity and, like all human activities, including morality, law and religion, depends upon, and obeys the laws of the brain.«15 Kunst, so Zeki, habe mit dem Gehirn den Wissenserwerb (»acquisition of knowledge«) gemein, wobei Kunst von Zeki brachial reduktionistisch definiert wird als »a search for constances, during which the artist discards much and selects the essentials, and that art is therefore an extension of the function of the brain«.16 Diese Gemeinsamkeit führe zu den tiefgründigen philosophischen und neurowissenschaftlichen Fragen, wie wir Wissen erwerben, welchen formalen Beitrag das Gehirn genau leiste, welche Grenzen das Gehirn setze und welche neuronalen Regeln den Wissenserwerb leiten. Dieser Katalog, so Zeki, »is not much different from that [one] outlined by Immanuel Kant in his monumental Critique of Pure Reason, save that Kant spoke exclusively in terms of the mind«.17 Effiziente Wissenserwerbssysteme seien durch ihre Abstraktionsfähigkeit gekennzeichnet, d. h. dass in ihnen das Allgemeine zu Lasten des Besonderen betont werde, um dem »enslavement to the particular« und den »imperfections of the memory system« zu entkommen. Kunst sei als ein solches abstrahierendes Wissenserwerbssystem anzusehen, denn, so Zeki in einer weiteren reduktionistischen Volte: »[A]ll art is abstraction […], the artist is in a sense, a neuroscientist, exploring the potentials and capacities of the brain, though with different tools. How such crea14 Um

nur eine Auswahl von Titeln zur Neuroästhetik zu nennen: Jean-Pierre Changeux: Raison et plaisir (1994), Paris 2002. – Ders.: Du vrai, du beau, du bien. Une nouvelle approche neuronale (2008), Paris 2013. – Ders.: L’homme neuronal (1983), Paris 2012. – Semir Zeki: Inner Vision. An Exploration of Art and the Brain, Oxford 1999. – Irving Massey: The Neural Imagination. Aesthetic and Neuroscientific Approaches to the Arts, Austin, Texas 2009. – Olaf Breidbach/Federico Vercellone: Anschauung denken. Zum Ansatz einer Morphologie des Unmittelbaren, München 2011. – Olaf Breidbach: Neuronale Ästhe­tik. Zur Morpho-Logik des Anschauens, München 2013. – Vilayanur S. Ramachandran/William Hirstein: »The Science of Art. A Neurological Theory of Aesthetic Experience«, in: Journal of Consciousness Studies 6  –  7 (1999), 15  –  51. – Suzanne Nalbantian: »Neuroaesthetics. Neuroscientific Theory and Illustration from the Arts«, in: Interdisciplinary Science Reviews 33/4 (2008), 357 – 368. – Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 7/1 (2013, Themenheft: Neuroaesthetics: Cognition and Neurobiology of Aesthetic Experience). – Einführend zur Neurobiologie (die Literatur dazu ist in den letzten 15 Jahren fast unüberschaubar geworden): M. Deric Bownds: The Biology of Mind. Origins and Structures of Mind, Brain, and Consciousness, Bethesda/Maryland 1999 [u.ö.]. 15 http://www.neuroesthetics.org/statement-on-neuroesthetics.php (19.03.2014). 16 Zeki: Inner Vision, 22. 17 Zeki: »Statement on Neuroesthetics«. Vgl. auch Zeki: Inner Vision, 44.



Was ist ästhe­t ische Wahrheit?63

tions [wie z. B. Michelangelos Pietà im Petersdom] can arouse aesthetic experiences can only be fully understood in neural terms.«

Und Zeki beschließt, effektvoll die rhetorische Klimax krönend, sein »Statement«: »It is only by understanding the neural laws that dictate human activities in all spheres – in law, morality, religion and even economics and politics, no less than in art – that we can ever hope to achieve a more proper understanding of the nature of man.«18

Was Zeki hier lautstark und wirkungsvoll vorträgt, ist einerseits ein Appell zum Verlassen des sinkenden Schiffes der spekulativen Wissensgewinnung – was als polemische Formulierung der Humanities begriffen werden darf –, um die materialen, sprich: neuronalen Grundlagen menschlichen Wissens und der Kunst (und Zeki beschränkt sich auf Malerei und Skulptur) zu ergründen. Sich und die Neurowissenschaften stellt er nicht ungeschickt in die Tradition der Reflexionen Kants über Anschauung und Begriff,19 nur dass Kant eben von den Neurowissenschaften vom Kopf auf die Füße gestellt werden müsse. Diese Wende wird terminologisch als ›Naturalismus‹ oder auch ›Physikalismus‹ bezeichnet. Der Anspruch, den Zeki da formuliert, ist umfassend, und er teilt ihn mit JeanPierre Changeux, der nicht nur einen homme neuronal (homo neuronalis, nach Huizingas Homo Ludens [1938], Ralf Dahrendorfs Homo Sociologicus [1958] und [später] Luc Ferrys Homo Aestheticus [1990] als Varianten zum Terminus homo sapiens) proklamiert hat, sondern auch die klassische Trias Wissenschaft, Ästhe­tik und Ethik in seinem Buch Du vrai, du beau, du bien. Une nouvelle approche neuronale (2008) auf eine wissenschaftlich solide, d. h. empirisch verifizierbare Basis stellen will. Konstitutiver Bestandteil der Nerven- und Hirnforschung ist, dass evolutionsbiologische Aspekte bestimmend sind für organische Funktionen und deren Veränderungen, die z. T. in behavioristischen Kategorien am Individuum konkretisiert werden. Der Evolutionsaspekt bringt etwas in die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis ein, was bei Baumgarten und Kant weitgehend fehlte, bei Herder schon programmatisch eingebracht war, wenngleich nicht im Darwin’schen Verständnis. Dieses neu Eingebrachte ist die Zeit als Zeit der Entwicklung und Veränderung, und zwar in dreierlei Hinsicht: Entwicklung und Veränderung 1) des Perzeptionsverhaltens, 2) des Reiztransfers und der Reizverarbeitung und 3) der Perzeptspeicherung, -reaktivierung und -rekonstellation. Konrad Lorenz hatte 1941/1942 mit seiner Kritik an Kants Transzendentalphilosophie im Lichte der neueren Biologie Bahnbrechendes geleistet, indem er das epistemologisch angeblich panchron Gültige des Transzendentalismus in die evolutionäre Perspektive hineinholte.20 18

Zeki: »Statement on Neuroesthetics«. Inner Vision, 70. 20 Vgl. Konrad Lorenz: »Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie«, in: Blätter für deutsche Philosophie, 15 (1941/1942), 94 – 125. 19 Zeki:

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Man mag bei dem gegenwärtigen ›Neuro-Hype‹ geneigt sein, bloß polemisch zu reagieren,21 es wird aber unumgänglich sein, sich aus der Sicht der Humanities mit wohldefinierten Positionen der Neuroästhetik auseinanderzusetzen, nicht zuletzt deshalb, weil ein Trend des neurowissenschaftlichen Zugriffs auf traditionelle Domänen der Humanities – wie der Ästhe­tik – und tendenziell auf die Abschaffung der Humanities zielt. Eine der diskutabelsten Positionen ist die des vor kurzem verstorbenen Olaf Breid­bach, Wissenschaftshistoriker in Jena, ein Musterfall eines inter- und transdisziplinären Denkers mit hohem Anregungspotential, vielen Angeboten zum echten Dialog zwischen Naturwissenschaften und Humanities und einem dynamischen, nicht-mechanistischen, Biologie und Kultur verbindenden Modell. In seinem Buch Neuronale Ästhe­tik. Morpho-Logik des Anschauens (2013)22 versucht Breidbach sich an einem prädiskursiven Zugriff auf das, was ›Anschauung‹ genannt wird. Prä-diskursiv soll hier heißen, dass Breidbach nach biologischen und physiologisch fassbaren Daten und Ereignissen sucht, die begrifflich noch nicht sistiert, also noch nicht systemisch verortet sind.23 Seine Ausgangsthese ist einfach und die Bedingung für jeden neurobiologischen Zugang: »Unsere Anschauung – und somit auch unsere Anhörung – von Welt sind Produkte eines Hirns«.24 Insofern ist auch Breidbach ein Vertreter des neurobiologischen Naturalismus. Sein Versuch, die ›Geheimnisse‹ der Transzendentalphilosophie und der Anthropologie wenn nicht zu lösen, so doch Lösungskonturen aufzuzeigen, verbleibt indessen nicht in ›innerbiologischen‹ Grenzen wie bei Zeki und Changeux, sondern Breidbach versteht menschliche Erkenntnis und menschliches Wissen als Resultat eines Amalgams von Biologie und Kultur, das die neuronale Ausstattung via Erziehung, Sozialisation usw. erheblich in ihrer Konturierung onto- und phylogenetisch bestimmt. Breidbachs Mantra ist der Form nach kantisch: »Die Objektivität [der] im Hirn repräsentierten Welt ist die Objektivität einer Konstruktion. Ihre Objektivierung kann nur erreicht werden, wenn das Subjekt selbst zum Maßstab der Objektivität genommen wird.« 25 Vgl. Felix Hasler: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 2012. Hasler erschöpft sich in z.T. zwar durchaus bedenkenswerten Nachweisen der ökonomischen Verflechtungen von Hirnforschung und Pharmaindustrie, verliert dabei aber das Projekt der Neurobiologie aus dem Blick, indem er es mit den ökonomischen Interessen in eins setzt. 22 Vgl. Olaf Breidbach: Neuronale Ästhe­tik. Morpho-Logik des Anschauens, München 2013. Ich zitiere Breidbach im Folgenden im Text mit Seitenzahlen aus seiner Neuronalen Ästhe­tik. Vgl. meine Rezension zu Breidbachs Neuronaler Ästhe­tik in: Monatshefte 105.4 (2013), 691 – 694. 23 Über den Zusammenhang von Wissen in seiner konstitutiven Historizität vgl. Olaf Breidbach: Radikale Historisierung. Kulturelle Selbstversicherung im Postdarwinismus, Frankfurt a. M. 2011 sowie Lorraine Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. 2001. 24 Breidbach: Neuronale Ästhetik, 159. 25 Ebd., 160. 21



Was ist ästhe­t ische Wahrheit?65

Das mag man als Breidbachs Aktualisierung der Kantischen Fassung der ›kopernikanischen Wende‹ nehmen. Dass aber spezifische Reize schon bei der sinnlichen Perzeption und vollends im Gehirn in eine Verrechnungsarchitektur eingespeist werden (›Verrechnen‹ hier im Sinne von ›X mit Y verrechnen‹) und so die Quali­ tät der Reize (etwa als optische oder akustische Reize) nur noch als Herkunftsmerkmal tragen, weist darauf hin, dass schon der Perzeptionsprozess keineswegs ein mechanisch-passives Hinnehmen ist. Breidbachs Versuch, dem Geheimnis der Beziehung zwischen Anschauen und Anschauung von den biologischen und kulturellen Bedingungen ihrer Möglichkeiten in ihrer präkonzeptuellen Dimension her näher zu kommen, ist eine Annäherung an den aisthetischen Vorhof der Begriffe vom Anschauen und von der Anschauung. Es geht nicht, wie er ausdrücklich betont, um intellektuelle Anschauung, sondern um den Bereich von Weltaneignung, »in dem wir etwas handhaben, mit etwas umgehen, das wir noch nicht kennen«, und Breidbach stellt die entscheidende Frage, »ob es etwas gibt, das wir uns vor Augen setzen und von dem wir keinen Begriff haben«.26 Breidbach geht vor Kants Annahmen etwa der transzendentalen Ästhe­t ik zurück und tastet sich in Bereiche »prädiskursiver Verfasstheit« 27 vor, wobei er sich der sprachlichen Verfasstheit seines eigenen Vorgehens durchaus bewusst ist. Dass der Raum nicht, wie bei Kant, »am Beginn der Erfahrung [steht, sondern] vielmehr das Resultat eines ganzen Komplexes uns in unserer Kultur vermittelter Wahrnehmungsgefüge« sei,28 mag hier als Beispiel für Breidbachs evolutionären Zugriff auf prä-diskursive Bedingungen der Anschauung genügen. Bei aller Faszination dieser »Vorschule der Ästhe­t ik« 29 in seiner Anspielung auf Jean Paul und in der ambivalenten Bedeutung von »Ästhe­t ik« als Erfahrungslehre einerseits und als Theorie der Kunst und des Schönen andererseits ist doch zu bedenken, dass ›Schönes‹ und ›Kunst‹, wenn sie denn in den naturwissenschaftlichen Fokus geraten, mitunter bestürzend konventionell begriffen werden, und zwar so, dass Bestimmungen wie Harmonie, Proportion, Regelmäßigkeit usw. den Blick auf den Zusammenhang von Aisthesis und Ästhe­tik geradezu verstellen. Das gilt zwar für Zeki und Changeux, kaum aber für Breidbach, der von einer entwaffnenden intellektuellen Neugierde und Offenheit ist. Das Kooperationsangebot aus den Neurowissenschaften auf der Grundlage eines Satzes wie »Die Kunst ist ein InFrage-Stellen der Kategorien unserer Selbstversicherung« 30 sollten die, die ernsthaft in den Humanities arbeiten, durchaus als Angebot begreifen. Vorausgesetzt ist freilich, dass die reichen Ergebnisse der Forschungen im Bereich der Ästhe­tik aus den Humanities aufseiten der Naturwissenschaften nicht schlicht ignoriert und durch stark konventionalisierte Ideen von dem, was denn ›ästhe­t isch‹ sei, verdrängt werden. Eine Kooperation zwischen Neurobiologie und Ästhe­t ik kann nur gelin26 Ebd.,

135. 200. 28 Ebd., 201. 29 Ebd., 213. 30 Ebd., 216. 27 Ebd.,

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gen, wenn sie auf Gegenseitigkeit beruht, und es ist schlicht eine Tatsache, dass Vertreter der Neurobiologie mitunter erhebliche Defizite im Bereich sowohl der Geschichte als auch der Theorie der Ästhe­t ik aufweisen. Obwohl Baumgarten und die Neuroästhetik am Wahrheitsbegriff der Aisthesis arbeiten, ist Baumgartens Zugriff den Neuroästhetikern unbekannt. Die Unterschiede zwischen dem Ästhe­t ikKonzept Baumgartens und dem der Neurowissenschaften sind zwar beträchtlich, es darf aber nicht vergessen werden, dass beide das Problem des Verhältnisses von Körper und Geist gemeinsam haben, obwohl ein Teil der Neuroästhetiker dies bestreiten würde. Die Neuroästhetik ist ein erneuter Versuch, diesem Problem beizukommen. Um einen Dialog zwischen den Humanities und den Naturwissenschaften auf dieser Ebene zu installieren, sollte vorerst eine gemeinsame ›Sprache‹ gefunden werden, soll heißen: ein Fundus gegenseitig akzeptierter Definitionen und eine Syntax, die diese Definitionen in eine sinnvolle, d. h. von einer scientific community akzeptierte Form bringt.31 Im Licht der vorkantischen Ästhe­tik und der Entwicklung von den kopernikanischen Wenden des 18. Jahrhunderts (Herder und Kant) über Darwin und Lorenz bis zu Zeki und Breidbach ist das Engagement für eine Kooperation zwischen Humanities und Neuroästhetik dann durchaus sinnvoll und zukunftsweisend, wenn auch die historische Dimension des Problems als diskursive Genese in Betracht gezogen wird und der ästhe­tischen Wahrheit als kulturellem Leitwert einer komplexen, evolutionären, historischen, diskursiven und bio-physikalischen Dimension menschlichen Wissens ihr legitimer Ort im Denken und Handeln eingeräumt wird.

31 Suzanne

Nalbantian hat in diesem Sinne 2013 im Rahmen des 20. Kongresses der International Comparative Literature Association in Paris ein internationales Symposium zum Thema »Consciousness and the Brain. Literature and Neuroscience« veranstaltet. Die von Sowon Park und Ben Morgan im April 2015 in Oxford veranstaltete Tagung zum Thema »Cognitive Futures 2015 – Forging Futures from the Past: History and Cognition« hat zahlreiche weiterführende Beiträge zum Problembereich Neuroästhetik und Kognitivismus erbracht.

Einige philologische und theoretische Überlegungen zu A. G. Baumgartens A est h et ic a Von Francesco Piselli Frankfurt/Oder, im Frühjahr 1758. Alexander Gottlieb Baumgarten, ein wichtiger Vertreter der Universität Viadrina, hat das gerade erst vollendete zweite und letzte Buch seiner Aesthetica vor sich liegen; blättert es durch, wobei er an den Beginn seiner akademischen Lauf bahn als Philosoph mit den später dann ruhmreichen Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus denkt. Wir sind im September 1735. Der Einundzwanzigjährige, der sich seit kurzem erst mit einem Aufsatz zur Philologie der Bibel1 hervorgetan hatte, hat mit beeindruckender Kürze eine mit ›Ästhe­t ik‹ betitelte Metapoetik erarbeitet, jene Ästhe­ tik, die stets, ungeachtet seiner vielseitigen anderen Verpflichtungen und Studien (Lehre der Philosophie, Ethik, Meta­phy­sik, Physik, Logik, Natur- und Sozialrecht, Theologie, hebräische Philologie sowie Dissertationen von Schülern und das Amt als Rektor der Universität), seine bevorzugte wissenschaftliche Disziplin bleibt. Im Laufe der Zeit hält er Vorlesungen über die Ästhe­tik, anhand verschiedener kleinerer Publikationen, in denen interessante begriffliche Varianten leicht ins Auge fallen, dazu nimmt die Ästhe­t ik einen ehrenvollen Raum in der Metaphysica 2 ein. Baumgarten verweilt schließlich bei der Aesthetica, einem komplexen Handbuch, das auf seine ganz besondere Art und Weise einem jeden dichterischen Aspiranten (pulcre cogitaturus) die Grundvoraussetzung einer jeglichen guten Lebensführung: »Vervollkommne dich!«,3 einflößt. Mit dieser Zielsetzung übernimmt Baumgarten die Aufgabe als Wegweisender und Meister, wobei er folglich mit Horaz, seinem ständigen Inspirator, erklärt: Munus et officium, nil scribens ipse, docebo.4

Aber docendo discitur, da er sich selbst schließlich, wenn auch nicht in poetischem, so doch in geschmücktem Stil ausdrückt oder auszudrücken versucht.5 Somit stehen sich zwei Baumgarten gegenüber: ein phantasievoller, sympathischer, pitto1 [Alexander Gottlieb Baumgarten:] Dissertatio […] Notiones superi et inferi […] in corographiis sacris occurrentes evolvens, […], Halle, Feb. 1735. Italienische Ausgabe mit einem einleitenden Essay von Francesco Piselli und Claudia Rondini, in: Bibbia e Oriente XLV/218 (2003), 193 – 262. 2 Hier und im Folgenden sei zur weiteren Vertiefung verwiesen auf meine Beiträge A. G. Baumgarten: Riflessioni sul testo poetico/Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, Palermo 1985; Alle origini dell’estetica moderna, Milano 1992. 3 »Perfice Te«, Eth. (2. Auf l. 1751) § 10. Insbesondere: »Aesthetices finis est perfectio cog­ nitionis sensitivae«, Aesth. § 14. 4 Aesth. § 15. 5 In Wirklichkeit ist er kein unbedarfter Dichter. In den Meditationes steht: »Ex quo […] tempore ad humanitatem informari coeperam, […] transiit mihi paene nulla dies sine carmine«,

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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resker, der sein eher schwerfälliges Latein mit den Stilblüten aus dem von Gessner vorgegebenen Wortschatz ausstattet,6 und ein unnachgiebiger, strenger, der stets befürchtet, nicht dozierend genug zu sein:7 Je akademischer je besser.8 Ständig ist die Kluft zwischen diesen beiden Einstellungen zu spüren. Der bravouröse Professor schöpft aus einer poetisch-rhetorischen Welt des Klassizismus,9 welche sich ihm als ursprünglich und unvergänglich offenbart. Diese Welt liefert ihm, wie man heute sagen würde, wieder das phänomenologische Material; dieser Welt entspringen für ihn die vor allem literarischen Zeugnisse10 von einer ästhe­t isch-synthetischen Macht, die im Gegensatz zur logisch-analytischen steht.11 Es ist nämlich sein Bestreben, gerade anhand eines streng logischen Ansatzes den Begriff seiner ästhe­t ischen Kenntnisse erheblich zu festigen. Dies bringt einen epistemologischen Bruch und eine allgemeine und unübersichtliche Vorgehensweise mit sich.12 Es sei kurz darauf verwiesen, inwiefern das dichterische Denken sich zu einer dem logischen Wissen ähnlichen Eigenschaft erhebt, so wie Baumgarten es sich erheben lässt, wenn also die Wahrheit über die Dinge und übrigens auch das Wesen wieder in den Zuständigkeitsbereich dessen zurückgeführt wird, wo dieses sich zumindest mit dem metaphysisch-philosophischen Denken auf einer Ebene bewegt. Wärest du damit etwa nicht zufrieden, Martin Heidegger? Obgleich Baumgarten wie andere auch (nicht zuletzt unser Vico) davon überzeugt ist, dass jedem von uns ein gewisses ästhe­tisches, oder zumindest ur-ästhe­ tisches, Wissen innewohnt, geht er lieber von einem dafür bereits einigermaßen prädisponierten Menschentypen aus. Sein glücklicher Held (aestheticus felix), von der Natur bereits reichlichst mit jedem nur erdenklichen esprit de finesse versehen, vervollkommnet sich, indem er von sich aus und unter guter Anleitung Übungen vornimmt, ohne Unterlass die besten Autoren studiert und diesen nachMed. [»Praefatio«]. Ich verweise auf seine lateinische Ode, Serenissimo potentissimo principi Frederico […]/Allerunterthänigster Glückwunsch […] an Friedrich den Großen (1740).   6 Vgl. Aesth., »Praefatio« von 1750.   7 »Egone vero reiiciam ac reprehendam concisum cogitandi genus, cui tot ambitiosa scriptionum mearum ornamenta philosophicarum immolavi, quod nunc ipse sequor, licet paulisper laxius?«, Aesth. § 122. Er ermuntert die Studenten zum Besuch seiner Vorlesungen: »Quam primum Tu veneris, et non videris solum, sed etiam audieris, ecce, nervi succrescunt, adiicitur caro, cute vestitur, nec reor colorem omnino deesse bonae foeminae«, Met. (3. Auf l. 1750), »Prae­f atio«.   8 [Georg Friedrich Meier]: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, beschrieben von Georg Friedrich Meier, Halle 1763, 25.   9 Siehe dazu die Rezension von Ludwig Daniel Huch: Virgilii, Horatiique nonnulla loca a stricturis […] Baumgartenii […] Vindicare tentat […] Aesthetices principio prefato […], Leipzig 1756. 10 Bisweilen denkt er an die Musik und verweilt im übertragenen Sinne bei der Malerei. 11 Ich schaffe es nicht, das alte Motto solve, et coagula zu vergessen. 12 Man denke an die zahlreichen Hinweise, die, ausgehend von der Metaphysica, in der Anlage der Aesthetica zum Tragen kommen; die Methode wurde ebenso, wenn auch erst im Anfangsstadium, in den Meditationes übernommen.

Philologische und theoretische Überlegungen zu Baumgartens Aesthetica69



eifert.13 Als körperlich und geistig gesunder bon vivant lässt er sich bereitwillig von so mancher Lesbia verführen oder vom Rausch stimulierender körperlicher Aktivi­täten oder einem guten Schluck Wein oder vom Bier beflügeln.14 Indessen ist er nicht weniger dazu befähigt, sich, wenn er es will, unterhalb seiner selbst zu bewegen, in seinen inneren finsteren Abgrund zu versinken ( fundus animae); gleichsam an der Grenze zum rein Tierhaften bringt er die dunklen Seiten zum Vorschein und geleitet diese triumphierend dem Lichte entgegen. Begünstigt er eine über die logische Erkenntnis hinausgehende Neigung des Wesens nach seiner Enthüllung im ästhe­t ischen Licht? Von Montale stammt der Ausspruch: »Tendono alla chiarità le cose oscure«.15

Rimbaud sagt: »Si ce qu’il rapporte de a là-bas forme, il donne forme: si c’est informe, il donne de l’informe«.16

Nein! All das, was es im fundus animae an Gestaltlosem gibt, kommt stets vollkommen klar und deutlich ans Licht. In dem ungestüm aufstrebenden Sog der Gedanken nehmen die dichterischen Konkretionen unter dem Einfluss der Kunst Gestalt an. Man beachte wohl: Diese sind immer real. Ich spreche nicht – was leicht nachvollziehbar ist – von stilistischem Realismus im Sinne einer Präferenz seitens Baumgartens. Vielmehr meine ich, dass es sich dabei nicht um etwas Unwirkliches handeln kann. Wenn diese Gedanken das sein sollen, was sie sind, können sie keine Widersprüche beinhalten, die sie zunichtemachen könnten; mittels leichter Übertragungen lässt sich beweisen, dass sie dennoch immer wahr sind. Dies ist die Grundlage ihrer phänomenalen Vollkommenheit, auch Schönheit, pulcritudo, genannt. Schleichen sich bei ihnen Rausch der Sinne und Zügellosigkeit ein, aegri somnia, wie Horaz sie in der Ars poetica nennt,17 so werden sie von diesen verdorben, denn sie lassen Übergriffe entstellender intellektueller Absichten zu, und dann fühlte sich die herrliche Muse lediglich wie eine herausgeputzte Lügnerin.18 13

»Exemplaria bellissimorum auctorum nocturna versare manu, versare diurna«, Aesth. § 56 (aus Horaz). 14 »Generosioris laticis modicus haustus«, Aesth. § 85. Auch die »cerevisia« von Frankfurt an der Oder ist »amica Musis« (im Anhang zu Karl Friedrich Goede: De Corpore Angelorum [1741], lat. Text hg. von Claudius Pica und mein Kommentar in: Rivista di Estetica 9 (1998), 51 – 97, dort: 87 – 97. 15 Die undurchsichtigen Dinge streben nach Klarheit, vgl. Eugenio Montales »Portami il girasole«, Ossi di Seppia (1925). 16 Arthur Rimbaud: Lettres du voyant, Brief an Paul Demeny, 15. 05. 1871. 17 Aesth. § 446. 
 18 »Splendide mendax«, Aesth. § 478 (aus Horaz).

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Aber die Gedanken müssen auch Größe besitzen. Zur Beschreibung eines Dichters führt Baumgarten Horaz an: »Ingenium cui sit, cui mens diuinior, atque os Magna sonaturum, des nominis huius honorem«.19

Virgil hat die Erscheinungsformen der Gedanken nach ihrer zunehmenden Größe eingeordnet: myricae, arbusta, silvae. (Pseudo-)Longinus sagt die Erhabenheit von Dingen und Stilen voraus. Vergegenwärtigt man sich noch einmal diese und andere Orte unter minuziöser Wiederaufnahme berühmter Sprüche und Beispiele aus dem Klassischen, so ist der aestheticus felix, der sich bereits als vielversprechend, indes noch ein wenig unreif, gar etwas oberflächlich, erwies, durchaus zu den allergrößten Gedanken f ähig, in Übereinstimmung mit einer majestätischen Lebensführung, bis hin zu seiner Verwandlung in eine große Seele, magnanimus. Schmachtete er am Anfang seiner Lauf bahn geradezu nach irgendeiner Lesbia oder sank er ab, »Au fond de l’Inconnu, pour trouver du nouveau«,20

so verweilt er nunmehr, von einer erhabenen und gebührenden Liebe inspiriert und bewegt,21 bei den göttlichen Dingen: »Insuetum miratur limen Olympi, Sub pedibusque videt nubes et sidera […]. Saepe deum vitam accipiet, diuisque videbit Permixtos heroas, idemque videbitur illis«.22

Der Herr Professor schließt sein Buch. Er sieht sehr wohl, dass er dem umfangreichen Programm seines einleitenden Inhaltsverzeichnisses nicht ganz Folge zu leisten vermag, wobei er zu abrupt bei § 904 auf hört. Aber der Buchverleger Kleyb hat ihm Eile geboten, oder vielleicht fehlt Baumgarten die Kraft weiterzumachen; oder vielleicht hat er alles gesagt, was er wollte. Dennoch findet er eine Genugtuung anderer Art, da er selbst in der Geschichte seiner ästhe­tischen Helden die Geschichte seiner eigenen Seele wiedererkennt. Übersetzung von Marion Mohr

Aesth. § 178. Baudelaire: Le Voyage, VIII. 21 »Ama Deum super omnia«, Eth. (2. Auf l. 1751) § 72. 22 Aesth. § 394 (aus Vergil). 19

20 Charles

SYSTEM ATIK ••• P r a ep on i t u r –

i l l ust r at u r

Intertextualität bei A. G. Baumgarten Von Dagmar Mirbach Einführung »Sein Kopf war vorzüglich systematisch. ­A lles, was er dachte, ward System. In die Chaos, der Wahrheiten und der Meynungen der alten Weltweisen, brachte er Ordnung, und in seinem Verstande wurden Welten der Wahrheiten und Meynungen daraus.«1

Dies schreibt Georg Friedrich Meier über Baumgarten in seinem Nachruf Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, veröffentlicht in Halle 1763, ein Jahr nach dem Tod des damals 47jährigen, am 17. Juni 1714 geborenen Philosophen. Baumgartens Werk ist wie das weniger anderer Philosophen systematisch. Sowohl hinsichtlich des Auf baus seiner einzelnen Schriften und deren jeweiliger innerer Argumentationsstruktur als auch im Gesamtzusammenhang vor allem seiner veröffentlichten Schriften in ihren vielfachen, von Baumgarten bis 1762 selbst betreuten und überarbeiteten Auf lagen. Und Baumgartens Werk ist, ebenfalls sowohl hinsichtlich der einzelnen Schriften als auch in deren Gesamtzusammenhang, wie das kaum eines anderen Philosophen durch Intertextualität gekennzeichnet. So allgemein wie einfach gesagt, besteht Intertextualität in der Bezugnahme von ›Texten‹ auf andere ›Texte‹. Die hier gemeinten ›Texte‹ sind ganz konkret Baumgartens Schriften, und in diesem Fall speziell die Dreiergruppe Metaphysica (EA 1739, 7. Auf l. 1779) Ethica philosophica ( EA 1740) und Aesthetica (1750/1758). Aus der Vielzahl der in der Literaturwissenschaft durchaus kontrovers diskutierten Theorien von Intertextualität wurden im Zusammenhang dieser Darstellung nur diejenigen Begriffe und Strukturmodelle herangezogen, die für eine Untersuchung speziell der Baumgarten’schen Schriften besonders hilfreich erschienen sind:2 im Hinblick auf intertextelle Bezüge, erstens, innerhalb der Einzelschriften 1 [Georg Friedrich Meier:] Alexander Gottlieb Baumgartens Leben und Schriften, beschrieben von Georg Friedrich Meier, Halle 1763, neu hg. von Dagmar Mirbach in: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Auf klärung, 20), hg. von Alexander ­A ichele und Dagmar Mirbach, Hamburg 2008, 351 – 373, hier: 367. 2 Als besonders hilfreich möchte ich aus der literaturwissenschaftlichen sowie aus der theo-

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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selbst, zweitens, in deren wechselseitigem Zusammenhang sowie schließlich, drittens, ›holistisch‹ im Hinblick auf Grundstrukturen von Baumgartens ›Schreibart‹ in seinen Schriften und vielleicht auch seines Denkens überhaupt. Der Begriff der ›Intertextualität‹ wird hier zunächst auf die textanalytische (oder textdeskriptive) Ebene beschränkt und im engeren Sinne als charakteristisches Merkmal von Baumgartens Schriften verstanden, als eine seinen Texten eigene Strategie bewusst gesetzter und markierter Bezugnahmen auf andere Texte, die primär auf der linearen Ebene dieser Ausgangstexte selbst verbleibt. Die These aber, die in diesem Beitrag in Grundzügen vorgestellt werden soll, ist, dass in der hier zu beobachtenden textimmanenten, ›horizontalen‹ intertextuellen Bewegung von jeweiligem ›Ausgangstext‹ zum jeweiligen ›Praetext‹, auf den durch meist explizite Verweise Bezug genommen wird, und den aus dieser Bezugnahme wiederum resul­t ierenden Wirkungen zurück auf den dadurch sich verändernden Ausgangstext sich auch die Struktur einer impliziten (oder: implizierten), die Textebene übersteigenden, sozusagen ›vertikalen‹ intertextuellen Bewegung abbildet. In dieser die Textebene transzendierenden Bewegung sind Baumgartens Texte als solche darauf angelegt, selbst zu ›Praetexten‹ von dann außerhalb ihrer – nämlich durch den (selbst)reflek­t ierenden Rezipienten gebildeten – ›Folgetexten‹ zu werden, in denen die über die Textebene hinausgehende, aber ursprünglich intendierte Bedeutung der Ausgangstexte sich erst eigentlich erfüllt. Baumgartens intertextuelle Bezugnahmen wären so immer zugleich schon Hinweise darauf, wohin er als Autor seine Hörer und Leser, ohne dass dies eigens in den Texten selbst explizit gemacht würde oder werden sollte, letztlich führen will. Die folgende Darstellung gliedert in sich drei Teile. Der erste Teil befasst sich mit vier Beobachtungen an Baumgartens Schriften, bei denen es sich jeweils um Phänomene handelt, die in auffälliger Analogie zu dem unter der Kategorie der Intertextualität thematisierten Spannungs- und Wirkungsgefüge von Text und Praetext stehen und damit den Rahmen bilden, in den sich Baumgartens auf der Text­ ebene methodisch gesetzte intertextuelle Bezugnahmen folgerichtig integrieren. Im zweiten Teil wird eine repräsentative Auswahl an Formen von Baumgartens intertextuellen Verweisen unterschieden und an ausgewählten Textstellen aufgezeigt. Der dritte Teil widmet sich Baumgartens Ethica philosophica. Im Fokus stehen hier einige wenige, aber bedeutende textimmanente intertextuelle Bezugnahmen, die im Sinne der genannten übergreifenden, die Textebene transzendierenden Bewegung das Verständnis des Textes insgesamt auf eine erst in der Rezeption zutage tretende Bedeutungsebene hin erweitern, die – so meine ich – gleichwohl von Anfang an in der Intention Baumgartens hinsichtlich der für den aufmerksamen Leser gedachten Aussage der Ethica philosophica liegt.

logischen Forschung hervorheben: Frauke Berndt/Lily Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einführung, Berlin 2013 (Grundlagen der Germanistik, 53); Michael Schneider: Gottes Gegenwart in der Schrift. Intertextuelle Lektüren zur Geschichte Gottes in 1Kor, Tübingen/Basel 2011.



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1. Beobachtungen von Rahmenphänomenen zur Integration von Baumgartens Methode intertextueller Bezugnahmen Das erste Phänomen, das einen äußeren Rahmen von Baumgartens intertextueller Verweismethode bildet, ist der enge werkgeschichtliche Zusammenhang zwischen seinen drei Hauptschriften Metaphysica, Ethica und Aesthetica. Ethica und Aesthetica sind nicht nur in der Reihe der Veröffentlichungen, sondern auch in systematischer Hinsicht und inhaltlich als ›Zwillingsschwestern‹ auf den Schultern der Meta­ physica zu betrachten. Versteht man die Metaphysica seit ihrer Erstveröffent­lichung 1739 als fundamentale und Fundamentalität beanspruchende Wissenschaft von den Inhalten und gleichsam als explizierte Selbstvergewisserung der principia catholica der menschlichen Erkenntnis 3 und die in sie integrierte Psychologie als Wissenschaft der Eigenschaften der menschlichen Seele,4 so kann man die Ethica philosophica, erstmals veröffentlicht 1740, und die unvollständig gebliebene Aesthetica von 1750/1758 als in den beiden Einzeldisziplinen Ethik und (der als Wissenschaft neu geschaffenen) Ästhe­tik als entfaltete Anwendungsbereiche, als illustrationes des in der Metaphysica Zugrundegelegten begreifen. Ethica und Aesthetica verhalten sich komplementär zueinander. Beide knüpfen insbesondere an die Empirische Psychologie der Metaphysica an, an die dort enthaltene Darlegung der Erkenntnis- und Begehrungsvermögen der menschlichen Seele – jeweils aber nicht exklusiv, sondern in verschränkter, wechselseitig aufeinander bezogener Weise: Geht es der Ethica philosophica bei ihrer Adressierung an das menschliche Streben, die Begehrungsvermögen, gleichwohl an erster Stelle um das Streben nach Vervollkommnung der Erkenntnis, so sind umgekehrt in der sich mit dem unteren Erkenntnisvermögen befassenden Aesthetica auch die Begehrungsvermögen schon in der an den felix aestheticus gestellten Forderung der angeborenen Größe des Herzens präsent und weiterhin Thema des großen Kapitels zur magnitudo aesthetica. Auch den ersten drei von Baumgartens sechs Kriterien der vollkommenen Erkenntnis lassen sich – in umgekehrter chronologischer Reihenfolge – die drei Schriften zuordnen: Repräsentiert die Metaphysica als ›Grundbuch‹ die veritas, so folgen daraus als deren Ableitungen die Ethica unter dem Leitstern der magnitudo (magnanimitas) und die Aesthetica mit dem in ihr an erster Stelle behandelten Kriterium der ubertas – beide setzen die veritas der Metaphysica voraus, führen letztlich wieder zu dieser zurück und, als anwendungsbezogene Entfaltung der in ihnen vorausgesetzten theoretischen Grundlagen, zugleich auch über die Metaphysica, diese in praxi erweiterend, hinaus. Schon durch ihre enge und in sich verschränkte Verbundenheit liegen wechselseitige, insbesondere an die Metaphysica geknüpfte intertextuelle Bezugnahmen zwischen den drei Schriften nahe.

3 Vgl. Met. §§ 1, 5; § 92: »[…] veritas metaphysica potest definiri per convenientiam entis cum principiis catholicis.« 4 Vgl. Met. § 501.

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Das zweite für Baumgartens Verweismethode bedeutsame Phänomen ist seine sogenannte ›akroamatische Schreibweise‹. Insbesondere Metaphysica und Ethica gehören zu Baumgartens akroamatischen, ›für Vorlesungen bestimmten‹ Schriften – was, aufgrund der in ihr gebotenen Bilderfülle, zwar weniger, im Blick auf die konzise Dichte ihrer argumentativen Struktur aber auch für die Aesthetica gilt. Baumgarten erläutert und verteidigt seine akroamatische Schreibart als Methode an verschiedenen Stellen, ausführlich in der Vorrede zur 2. Auf lage der Ethica von 1751: ›Akroamatisch‹ sind gemäß der ursprünglichen aristotelischen Bedeutung vorrangig Bücher, die – wie Baumgartens eigene zu diesem Behuf verfasste Schriften – als Vorlagen für Vorlesungen konzipiert sind, in denen die »erste[n] Grundsätze« und »erste[n] Umrisse« einer Wissenschaft ohne Umschreibungen (circum­loquutiones), Abschweifungen (ambages) oder Wiederholungen in Kürze (in brevitate), in »verstandesmäßiger Fasslichkeit« (intellectuali perspicuitate), mit genauer Unterscheidung (accurata distinctio) und in offenbarstem Zusammenhang (in nexu manifestissimo) zusammen- und dargestellt sind – dabei aber, und dies ist entscheidend, noch der Erläuterung durch den Vorlesenden im lebendigen Vortrag bedürfen, um erst in dieser Ergänzung ihre vollkommene Einheit (unitas perfecta) zu erreichen.5 Eine akroamatische Schrift ist als solche »niemals vollständig« (nunquam recte completum), sie ist – so drückt es Baumgarten in einem Bild in der 1. Vorrede zur Meta­physica von 1739 aus – wie ein »reichlich dürres«, aber im besten Fall »ordentlich verkettet[es]« und tragf ähiges »Gerippe« – noch keine schöne Gestalt.6 Doch noch ein weiterer entscheidender Punkt kommt hinzu: Es sind nicht nur die Erläuterungen des Vortragenden, die zur Vollständigkeit und zur ›Lebendigwerdung‹ des akroamatisch schriftlich Fixierten hinzukommen müssen, sondern auch die Aufmerksamkeit, Auffassungsgabe und Vorstellungskraft des Zuhörers (oder Lesers). Jemandem, so erläutert Baumgarten in der »Nova praefatio« der Ethica, der in der betreffenden Wissenschaft noch unerfahren ist, muss der mündliche Vortrag des Lehrers zur Erläuterung dienen, jemand anderes hingegen, der in derselben Wissenschaft schon »genügend bewandert« (satis versatus) ist, »versteht ein solches Buch dann ganz« (omnem librum), wenn er sich genügend Muße nimmt, über dessen kürzere Aussagen nachzusinnen«, und sich dabei auch diejenigen Aussagen »ins Gedächtnis zurück[ruft]«, von denen er wohl schon wußte, sie aber beinahe wieder vergessen hatte. Im Bild und im Wortlaut Baumgartens in der 1. Vorrede der Metaphysica: 5 Eth., »Praefatio nova«, [s.p.]: »Liber eiusmodi nunquam recte completum et suis numeris iam omnibus absolutum opus est, sed tunc demim perfectam unitatem nanciscitur, quando viva vox et sermo commentantis in eundem liberior accesserit. – »Ein solches Buch ist sicher niemals ein vollständiges und in sich abgeschlossenes Werk, sondern es erreicht dann erst eine vollkommene Einheit, wenn der mündliche Vortrag und die freiere Rede des Erläuternden hinzugekommen sein werden.« Lat. Text nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ethica philosophica, 2. Nachdruck der 3. Aufl. Halle/Saale 1763, Hildesheim/Zürich/New York 2000; dt. Übers. D. M. 6 Hier zitiert in der Übers. von Ursula Niggli in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Die Vorreden zur Meta­phy­sik, hg., übers. und kommentiert von Ursula Niggli, Frankfurt a. M. 1999, 5.



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»Quam primum tu veneris, et non videris solum, sed eitiam audieris, ecce, nervi succrescunt, adiicitur caro, cute vestitur, nec reor colorem omnino deesse bonae feminae, nec vitam, nisi tibi, forte visum fuerit aliter.« – »Sobald nun aber Du gekommen und nicht nur gesehen, sondern auch aufmerksam vernommen haben wirst, siehe, da wachsen Nerven hinzu, bildet sich Fleisch, wird es [das Gerippe] mit Haut bekleidet, und ich meine, daß [dann] weder Farbe noch Leben einer gut aussehenden Frau gänzlich fehlen [werden], es sei denn[,] es möchte dir anders erscheinen.« 7

Baumgartens akroamatische Schriften sind auf ihre Vervollständigung im Geiste, d. h. in der Vorstellung und Erkenntnis ihrer Rezipienten hin angelegt – und sie sind dies im methodischen Bewusstsein und nach ausdrücklicher Maßgabe ihres Autors. Versteht man Intertextualität auch im Sinne der die Textebene transzendierenden Bewegung, in welcher der Ausgangstext zum Praetext eines ihn erst in seiner Bedeutung erfüllenden Folgetextes in der Fortschreibung durch den Rezepienten wird, dann entspricht dies genau der Struktur, die Baumgarten hier mit dem Bild des erst vom Hörer oder Leser ›mit Fleisch‹ und Leben zu füllenden ›dünnen Gerippes‹ seiner akroamatischen Schriften veranschaulicht. Das dritte Rahmenphänomen für die Intertextualität seiner Schriften ist Baumgartens Zeichentheorie, die er nicht ausführlicher expliziert, aber an prominenter Stelle in § 13 der Aesthetica in Anverwandlung eines Horaz-Zitats zugrunde legt, wo es heißt: »Res sit tibi prima, sit lucidus ordo secunda, Signaque postremo tertia cura loco.« – »Der Sache soll deine erste Sorge gelten, der lichtvollen Ordnung die zweite, und die Zeichen sollen an letzter Stelle dein drittes Besorgnis sein.« 8

Baumgarten versteht ›Zeichen‹ (signum, signa), wie aus den äußerst komprimierten Aussagen in §§ 18 – 20 der Aesthetica hervorgeht, in einem dreifachen Sinn: 1) Zeichen sind in erster Instanz Zeichen der Dinge (der entia exsistentia) als Zeichen ihrer selbst, verwirklichte, zeichenhafte Formen dessen, was die Dinge ihrem Wesen und ihrem Sein nach sind. Als Zeichen ihrer selbst stehen alle Dinge in dieser Welt in einem im Sinne der Mantik deutbaren zeichenhaften Zusammenhang (nexus significativus).9 2) Zeichen sind in zweiter Instanz durch die mit der facultas fingendi eng zusammengehörende facultas characteristica10 hervorgebrachte Zeichen – Zeichen, die das Bezeichnungsvermögen (als eines der neun unteren ErkenntnisverLat. Text und Übers. nach Baumgarten: Die Vorreden zur Meta­phy­sik, 4 f., Hinzufügungen D. M.  8 Aesth. § 13, hier und im Folgenden lat. und in dt. Übers. zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007; Hervorhebungen im Orig. Vgl. zu dieser Stelle Horaz: Ars poetica, 40 f.  9 Vgl. Met. § 619. 10 Vgl. Met. §§ 619 – 623.  7

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mögen) der vorstellenden Seele (als vis repraesentativa),11 um überhaupt vorstellen zu können, in der Vorstellung für die jeweils vorgestellten Dinge (nicht als entia, sondern als res) setzt: »Signa cum signatis« – und das heißt notwendig: signatis cum signa  – »una percipio«.12 3) Erst in letzter Instanz sind Zeichen natürliche oder willkürliche Zeichen im Sinne von Ausdruckszeichen, so auch, neben anderen semi­otischen Formen, sprachliche Zeichen. Umgekehrt: Sprachliche signa als Ausdruckszeichen bezeichnen res in der vorstellenden Seele, die als res selbst Zeichen sind für jeweils dasjenige ens, das sie bezeichnen und das seinerseits als ens mit der Gesamtheit aller entia in einem zeichenhaften Zusammenhang steht. Es liegt in der Natur des Zeichens, dass es auf das verweist, was es selbst nicht ist, aber von dem, was es selbst nicht ist, seine Bedeutung erhält. So verstanden kann Baumgartens Zeichentheorie nun für die Untersuchung seines Schreibens und Denkens unter dem Aspekt der Intertextualität fruchtbar gemacht werden: Baumgartens intertextuelle Bezugnahmen verweisen an den entsprechenden Stellen immer zugleich auf das, was im Ausgangsgstext selbst am jeweiligen Ort nicht explizit gemacht wird, woraus es als im jeweils vorausgesetzten Praetext Vorfindliches jedoch seine Bedeutung entweder (als Voraussetzung) grundlegend bezieht oder wodurch es (als Erweiterung) konnotativ ergänzt oder womit es (als Erläuterung oder in Anwendung) illustrativ erhellt wird. Von besonderer Bedeutung ist dabei folgende paradoxale Beobachtung: Praetexte von Ausgangstexten können diesen auf der ›horizontalen‹ Textebene vorausgehen (und tun dies gewöhnlich in ihrem Verständnis als ›Praetexte‹), sie können ihnen aber auch nachfolgen. Ein Prae­text kann vorausgesetzt werden (praeponitur), er kann aber auch das bedeuten, wodurch der Ausgangstext sich erst in der Folge erhellt (illustratur). In der ›vertikalen‹, den Ausgangstext transzendierenden Bewegung zu dem durch den Rezipienten gebildeten Folgetext entspricht dies folgender Doppelbewegung: In seiner Rezeption wird ein Ausgangstext notwendig als Praetext vorausgesetzt, ebenso aber ist es im Ausgangstext angelegt, erst in dem außerhalb seiner selbst, in seiner Rezeption gebildeten Folgetext erhellt zu werden oder sich letztlich dort erst selbst zu erhellen. Damit seien in Kürze die Rahmenphänomene skizziert, in die Baumgartens methodische Arbeit mit intertextuellen Bezugnahmen in seinen Schriften eingebettet werden kann und die zugleich einen Hinweis darauf geben können, dass die Kategorie der Intertextualität nicht an Baumgartens Texte als ein im Grunde fremdes aliud oder rein äußerliches Instrument der Textanalyse herangetragen werden muss, sondern diesen in spezifischen Hinsichten bereits systematisch inhäriert. Die diesem Beitrag vorangestellten und im Sinne von Prae- und Folgetext eines Ausgangstextes herangezogenen Ausdrücke praeponitur und illustratur – ›wird vorausgesetzt‹ und ›wird erhellt‹ – werden von Baumgarten öfter im Zusammenhang von Textverweisen verwendet und markieren dort nachdrücklich intertextuelle Met. § 506. § 619. Lat. Text hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica (Editio VII), 2. Nachdruckaufl. der Ausgabe Halle 1779, Hildesheim/New York 1982. 11 Vgl.

12 Met.



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Bezugnahmen. Es soll an dieser Stelle schon darauf hingewiesen werden, dass innerhalb des intertextuellen Gefüges seiner Schriften dem illustratur eine über das praeponitur noch hinausgehende, inhaltlich und systematisch besonders bedeutsame Funktion zugesprochen werden muss. Dazu zunächst ein kurzer Blick auf die von Baumgarten herangezogene Semantik und von ihm verwendete Flexionsformen von illustrare: Baumgarten selbst übersetzt das Partizip illustrans mit »[etwas, das] erläutert, auf hellt«.13 Als Teilsynonyme zu illustrans werden in der Aesthetica im Kapitel zur lux aesthetica im Abschnitt zu den argumenta illustrantia14 genannt: declarans (»auf klärend«), explicans (»erhellend«), resolvens (»auseinandersetzend«) und pingens (»malend«).15 Das Nomen illustratio übersetzt Baumgarten nur an einer Stelle mit nur einem Wort: »Verherrlichung« – im Zusammenhang der illustratio gloriae divinae in § 947 der Metaphysica. Im Zusammenhang der kurzen Skizze von Baumgartens intertextuellen Bezugnahmen in der Ethica wird im abschließenden Teil dieses Beitrags darauf zu sprechen zu kommen sein. 2. Formen intertextueller Bezugnahme bei Baumgarten Die von Baumgarten eingesetzten, vielfältigen verschiedenen Formen von intertextuellen Bezugnahmen in seiner Metaphysica, Ethica und Aesthetica können – ohne hier Vollständigkeit zu beanspruchen oder weitergehende, subtilere Unterscheidungen vorzunehmen – wie folgt katalogisiert werden: 1) Intratextuelle Verweise oder Binnenverweise innerhalb einer Baumgarten’schen Schrift, 2) auto-intertextuelle Verweise auf Textstellen in anderen, ebenfalls publizierten Schriften oder nicht gekennzeichnete Bezugnahmen auf nicht publizierte Texte eigener Autorschaft Baumgartens, 3) hetero-intertextuelle Verweise als mehr oder weniger gekennzeichnete Zitate, modifizierte Zitate oder Paraphrasierungen von Textstellen anderer Autoren, 4) namentliche Nennungen anderer Autoren, 5) nicht explizit gemachte Anspielungen auf dem Leser mutmaßlich bekannte Texte und schließlich 6) lexikalische Verweise, wozu terminologische Verweise, der Einsatz von lateinischen Synoymen und Teilsynonymen sowie Baumgartens eigene deutsche Übersetzungen lateinischer Termini ab der 4. Auflage der Metaphysica von 1757 gehören. Von diesen verschiedenen intertextuellen Bezugnahmen sollen hier nur die ersten drei genannten anhand ausgewählter Beispiele vorgestellt werden. Baumgartens intratextuelle (Binnen-)Verweise verweisen innerhalb einer Schrift (hier der Metaphysica, Ethica oder Aesthetica) auf vorangegangene Stellen in derselben Schrift. In Baumgartens in der Anlage ihrer Kapitel (capita) und Abschnitte (sectiones) in äußerster Konsequenz und bis zu Kleinstziselierungen systematisch geglie13 Met.

§ 513. Aesth. §§ 730 – 741. 15 Vgl. ebd., § 730. 14 Vgl.

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derten Schriften, die bei der Metaphysica und Ethica bis hin zu der exakten Zählung und Aufteilung der Paragraphen reicht,16 besteht diese Form des Verweises in der jeweils am Ende eines Gliedsatzes oder am Satzende angegebenen Nummer zumeist eines oder mehrerer vorangegangener Paragraphen, auf die sich die aktuell gemachte Aussage als inhaltliche Voraussetzung zurückbezieht. Es ist dies die von Baumgarten durchgängig am häufigsten verwendete Form der intertextuellen Bezugnahme und das auffälligste, charakteristischste äußere Merkmal von der bis ins Kleinste durchgehaltenen Systematizität von Baumgartens Argumentation, die logisch und methodisch dem mos geometricus Rechnung trägt. Unterschieden werden können vor allem drei Untergruppen der intratextuellen Verweise: a) Rückverweise auf unmittelbar oder kurz zuvor vorangegangene Paragraphen als Hinweise auf die stringente Fortführung, Erweiterung oder Präzisierung eines einzelnen Arguments, b) Rückverweise auf ganze Paragraphengruppen oder sectiones als Rückversicherung der bisher verhandelten Inhalte und vorangegangene Argumentationsketten und als sich fortbildendes Gerüst der internen Systematik des Textes als Ganzem sowie c) Rückverweise auf nur einzelne Paragraphen (weniger Paragraphengruppen), bei denen sich erst im Fortgang des Textes zeigt, dass auf sie an den verschiedensten und gegebenenfalls weit auseinanderliegenden Stellen, aber persistent immer wieder und erneut verwiesen wird: Paragraphen, die ganz offensichtlich inhaltlich Grundlegendes enthalten und systematisch tragend sind, bei denen die Häufigkeit ihrer wiederholten Nennung sich als Indikator für ihre ausgezeichnete Relevanz herausstellt und die daher als intratextuelle Leitparagraphen innerhalb jeweils einer und derselben Schrift Baumgartens betrachtet werden können. Beispiele der ersten Untergruppe, Rückverweise als Aufweis der stringenten Abfolge der Inhalte und Entwicklung der Argumentation finden sich in Baumgartens Schriften allerorts – eindrücklich etwa in der Entfaltung der möglichen Bestimmungen eines possibile in §§ 34 – 52 der Ontologie der Metaphysica (vor Baumgartens berühmter und Wolff korrigierender Fassung der exsistentia als complementum possibilitatis17 in Met. § 55). Die Argumentationskette ist hier die folgende: § 34: Was bestimmt werden kann (determinatur), ist bestimmbar (determinabile). § 36 (unter Rückbezug auf § 34): Was in etwas bestimmt wird, sind seine Bestimmungen (determinationes), entweder positiv als realitas oder privativ als negatio. § 37: Die Bestimmungen eines possibile sind entweder absolut oder kommen ihm bezie16 So umfasst die Metaphysica 350 + 150 + 300 + 200 = 1000, die Ethica 150 + 150 + 200 = 500 Paragraphen. Die unvollendete, in ihrer Anlage beinahe sich selbst an Fülle überbordende Aesthetica f ällt selbstredend aus dieser numerischen Präzisionssystematik heraus. 17 Eine meinerseits erste Studie dazu ist: Dagmar Mirbach: »Wolffs complementum possibilitatis in der Rezeption durch Alexander Gottlieb Baumgarten«, in: Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.-8. April 2004, hg. von Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph, Bd. 4 (Christian Wolff: Gesammelte Werke, hg. von Jean École [u. a.], 3. Abt., Bd. 104), Hildesheim/Berlin/New York 2008, 257 – 274.



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hungsweise zu, letztere sind entweder innere Folgebestimmungen (determinationes internae) oder äußere Bestimmungen (relationes). § 39: Innere absolute Bestimmungen eines Möglichen sind essentialia. § 41: Innere Folgebestimmungen, die in den essentialia begründet sind, sind affectiones. § 42 (unter Rückbezug auf §§ 39, 40 und 41): Jede innere Bestimmung, die nicht zu den essentialia gehört, gehört zu den affectiones. § 50 (unter Rückbezug auf § 41): Haben affectiones ihren zureichenden Grund in den essentialia, so handelt es sich um attributa (»Eigenschaften«); affectiones, die nicht zureichend in den essentialia begründet sind, sind modi (»Zufälligkeiten«). § 52 fasst (unter Rückbezug auf §§ 37, 39 und 42) zusammen: »Omnis possibilium determinatio aut est essentiale, § 39, aut attributum, aut modus, § 42 [dort Rück­bezug auf §§ 39, 40 und 41], aut relatio, § 37.« Mehrfach genannter Referenzparagraph der so verbundenen Paragraphen ist zudem Met. § 10 mit der logischen Prämisse des tertium non datur, die ihrerseits aus dem principium contradictionis in Met. § 7, dem ersten Paragraphen des Abschnitts zum possibile, folgt. Mit dessen Nennung wird die Reihe der determinationes eines possibile (vor dem Übergang zur actualitas oder exsistentia in § 54) schließlich in § 53 abgeschlossen: »Omne possibile determinatum est […]. Ergo omnimode indeterminatum nihil est, § 7.« Beispiele der zweiten Untergruppe, intratextuelle Verweise in Form von immer wiederkehrenden und jeweils entsprechend differenzierten Rückverweisen auf ganze Teilabschnitte des Vorhergegangenen als Rückversicherung der internen Systematik des Textauf baus als Ganzem finden sich vor allem in den bisweilen in sich recht kompliziert verschachtelten großen Abteilungen der Aesthetica, etwa in den Abschnitten §§ 177 – 422 zur magnitudo aesthetica: Übergreifend ist dort die in den einleitenden Paragraphen gemachte Unterscheidung von absoluter und relativer Größe, auf die im Folgenden stetig zurückverwiesen wird. Der zuerst erfolgenden Behandlung der Größe des schön zu denkenden Stoffes (magnitudo materiae, §§ 191 – 351) einerseits entspricht die nachfolgende Behandlung der sittlichen Größe der schön denkenden Person (magnitudo personae, §§ 352 – 422) andererseits, an die Größe des Stoffes knüpft mit stetigen Rückverweisen die Diskussion der schlichten, mittleren und erhabenen Denkungsart (genus cogitandi tenue, medium, sublime, §§ 230 – 328) an, und parallel an die Größe der Person angeknüpft, aber mit stetigen Rückverweisen auf die zuvor behandelte Größe des Stoffes sowie die bereits verhandelten drei Denkungsarten, folgt schließlich die Diskussion der drei Stufen ästhe­t ischer Seelengröße (§§ 364 – 422) bis hin zur höchsten ästhe­t ischen Großmut (magnanimitas in aestheticis genere maxima, §§ 394 – 422). In solchen großen, aber bis ins Detail strukturierten und intern verknüpften Passagen der Aesthetica wird beinahe handgreiflich, wie sehr es ihrem Autor angelegen ist, den systematischen Aufbau des Textes durch stetige Binnenverweise auf bereits Dargelegtes nicht nur dem projektierten Leser, sondern offenbar auch sich selbst immer wieder vor Augen zu führen. Bemerkt sei, dass – auch in den späteren Auf lagen seiner mehrfach aufgelegten Metaphysica und Ethica – Vorverweise auf im Text noch folgende Para­g raphen überaus selten sind. Intratextuelle Verweise sind bei Baumgarten in der Regel und beinahe immer Rückverweise auf Vorauszusetzendes im Sinne des praeponitur.

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Die dritte Untergruppe von Baumgartens intratextuellen Verweisen, bei denen sich einzelne Paragraphen innerhalb derselben Schrift als besonders bedeutsame ›Leitparagraphen‹ eben derselben herauskristallisieren, wird mit der Darstellung eines Leitparagraphen der Ethica philosophica Thema des abschließenden Teils dieses Beitrags sein. Baumgartens auto-intertextuelle Verweise innerhalb einer Schrift auf Referenzstellen innerhalb einer anderen, ebenfalls eigenen Schrift kennzeichnen wohl am eindrücklichsten die Systematizität nicht nur von Baumgartens Autorschaft, sondern seines Denkens überhaupt. Bei den hier betrachteten drei Hauptschriften Baumgartens ist der Auf bau ihres Verweisgefüges untereinander im Großen und Ganzen klar: Publiziert hat Baumgarten zuerst seine Metaphysica im Jahr 1739, die 2. Auflage erschien 1743. Die Erstveröffentlichung seiner Ethica philosophica datiert auf das Jahr 1740 – dem Jahr des Beginns seiner Lehrtätigkeit in Frankfurt/Oder –, gefolgt von einer 2. Auf lage 1751 und einer 3. Auf lage postum 1763. Der erste Teil der Aesthetica mit den grundlegenden einführenden Abschnitten sowie denjenigen zur ubertas, zur magnitudo und zur veritas aesthetica erschien als nächstes Werk nach der Ethica mit zehn Jahren Abstand im Jahr 1750, der unabgeschlossene zweite Teil zur lux und zur certitudo aesthetica im Jahr 1758. Die Metaphysica wurde hier bereits als ›Grundbuch‹ im Hinblick auf die Ethica und Aesthetica bezeichnet: Beide Folgeschriften sind durchgängig durch eine beinahe unausschöpf bar wirkende Menge an Rückverweisen auf die 1000 Paragraphen umfassende Metaphysica charakterisiert. Schon aus der Publikationsfolge ergibt sich, dass die Aesthetica von 1750/1758 auch Verweise auf die vor ihr publizierte Ethica enthält, während Verweise in der 2. Auf lage der Ethica von 1751 auf den kurz zuvor veröffentlichten ersten Teil der Aesthetica fehlen.18 Hinsichtlich der Rückverweise in beiden Folgeschriften, der Ethica und der Aesthetica, auf die Metaphysica (mit ihren vier Teilen Ontologie, Kosmologie, Psychologie und Natürliche Theologie) bestätigt sich zunächst, was zu erwarten war: In der Ethica bezieht sich der Großteil der Rückverweise auf die Empirische Psychologie der Metaphysica und dort vornehmlich auf die Abschnitte zu den Begehrungsvermögen (den facultates appetitivae), in der Aesthetica beziehen sich die Rückverweise in überaus großer Mehrheit ebenfalls auf die Empirische Psychologie, nun aber auf die Abschnitte zu den Erkenntnisvermögen und dort auf diejenigen zu den facultates cognoscitivae inferiores. Beide, Ethik und Ästhe­t ik haben – wie es Baumgarten bereits in seinen Meditationes von 1735 für die Ästhe­tik formuliert hatte19 – ihre wissenschaftliche Grundlage in der Psychologie, in der dort vorgenommenen Identifikation und Darstellung der Wirkungsgefüge und 18 Erst in die 3. Aufl. der Ethica von 1763 wurden (insgesamt 13) Verweise auf die Aesthetica hinzugefügt. 19 Vgl. Med. § 115: Quum psychologia det firma principia, nulli dubitamus scientiam dari posse facultatem cognoscitivam inferiorem quae dirigat, aut scientiam sensitive quid cognoscendi.« Hier zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinenti-



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des Zusammenhangs der Vermögen der menschlichen Seele. Auf die entsprechenden Textstellen in der Metaphysica jeweils genauestens zurückzuverweisen, ist für Baumgarten obligat. Hetero-intertextuelle Bezugnahmen in Form von Zitaten und Paraphrasierungen aus Texten anderer Autoren finden sich in den hier betrachteten drei Schriften Baumgartens konsequenterweise am auffälligsten und beinahe als Alleinstellungsmerkmal in der Aesthetica, und dort in Überfülle – nicht nur, aber vor allem aus dem Bereich der Dichtung und der Dichtungstheorie. Und dies konsequenterweise: Erstens deshalb, weil Baumgarten in seiner Ästhe­t ik selbst ästhe­t isch verfährt und von seiner akroamatischen oder logico-dogmatischen Schreibweise zugunsten einer auch sinnlich anschaulichen logico-ästhe­t ischen Darstellung abweicht; zweitens deshalb, weil nicht nur, aber auch und in vorzüglicher Position die Dichtung (von der Baumgarten 1735 ausgegangen war) Gegenstand der Ästhe­t ik als Wissenschaft und Kunst des schönen Denkens ist; drittens deshalb, weil im sprachlichen Medium der Ästhe­t ik als Lehre vom Schönen das Schöne selbst im Medium der Sprache (in der Dichtung) am angemessensten dargestellt werden kann. Ganz generell kann man bei Baumgartens Verwendung dieser Formen von ­hetero-intertextuellen Bezugnahmen in der Aesthetica wie folgt unterscheiden: Zitate und Paraphrasierungen aus theoretischen Kontexten (der Poetik, der Rhetorik, der Philosophie) werden zumeist in der Funktion einer Voraussetzung oder eines vorangeschickten Beleges (beides im Sinne des praeponitur) herangezogen, um in kritischer Auseinandersetzung mit denselben die eigene Argumentation zu entwickeln, zu präzisieren oder zu pointieren. Zu nennen wäre hier die Vielzahl von Baumgartens Zitaten und Paraphrasierungen aus der antiken und spätantiken Poetik und Rhetorik von Horaz, Cicero, Quintilian, Longin und anderen, aus der neueren Diskussion von Fabricius, Vossius oder Gottsched. Die in der Aesthetica vorfindliche beträchtliche Menge von Zitaten aus der Dichtung selbst hingegen dienen Baumgarten vor allem als Mittel der anschaulichen Erhellung (im Sinne des illustratur) des theoretisch Dargelegten, so etwa in dem von ihm oft benutzten Verfahren des Vergleichs verschiedener dichterischer Umsetzungen desselben Stoffs. Eines der faszinierendsten Beispiele von Baumgartens Einsatz hetero-intertextueller Bezugnahmen findet sich in seiner Erarbeitung des Begriffs der magnanimitas in aestheticis genere maxima in §§ 394 – 422 der Aesthetica.20 Die Passage gliedert sich deutlich in zwei Teile. Im ersten Teil (§§ 394 – 404) illustriert Baumgarten zunächst allein anhand einer Reihe von Zitaten aus Vergil, Cicero und Horaz, ohne weiterbus / Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, Lat./Dt., übers. und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, 84; Hervorhebungen im Orig. 20 Vgl. zum Folgenden meine Ausführungen in: »Ingenium venustum und magnitudo pectoris. Ethische Aspekte von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica. in: Aichele/Mirbach (Hgg.): Alexander Gottlieb Baumgarten, 199–218.

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gehende Erläuterung und ohne das Gemeinte selbst zu explizieren, das, was zu den wesentlichen Bestimmungen der magnanimitas maxima gehört: Sittliche Tugend, Gottesfürchtigkeit und daraus resultierende Seelenruhe – Eigenschaften, die ein in höchstem Maße erhabenes Gemüt bereits in diesem Leben unsterblich machen und in die Gemeinschaft der Götter emporführen. Erst im zweiten Teil des Abschnitts, ab Aesth. § 412 erhält diese Bestimmung der magnanimitas maxima ihre philosophische Begründung, und zwar in der Auseinandersetzung Baumgartens mit der Schrift Peri hypsous Pseudo-Longins. Bezeichnenderweise nennt Baumgarten auch hier gerade diejenige Stelle bei Longin nicht explizit, an der dieser – ganz analog zu den im Vorherigen bereits zitierten Passagen aus der Dichtung – die erhabene Seelengröße (megalopsychia) als eine über den gewöhnlichen menschlichen Horizont hinausgehende Liebe zum Großen und Göttlichen bestimmt. Baumgarten setzt vielmehr mit einer Erörterung der Schlusspassagen des Fragments Peri hypsous ein. Wird bei Longin diskutiert, ob der Mangel an Seelengröße in seiner Zeit entweder auf die äußere Unfreiheit großer Geister aufgrund der herrschenden politischen Despotie oder auf die innere Unfreiheit der menschlichen Gemüter unter der ›Gewaltherrschaft‹ der niederen Begierden und Leidenschaften zurückzuführen sei, so stimmt Baumgarten beiden Thesen zu, jedoch indem er selbst in Aesth. § 414 den Begriff der Freiheit grundlegend neu bestimmt: Freiheit besteht weder allein in der psychologischen Freiheit als Freiheit von Begierden und Leidenschaften noch allein in der Freiheit von äußerer politischer Unterdrückung. Freiheit besteht vielmehr in der Verbindung der inneren Seelenruhe mit der ›innigsten sinnlichen Gewissheit‹ (intima persuasio) hinsichtlich Gottes allumfassender Einrichtung der besten aller Welten, eine Gewissheit, in der – auch entgegen jeglicher lebensweltlicher, äußerer Unfreiheiten und als notwendige Ergänzung (complementum ac supplementum) der inneren, psychologischen Freiheit – die Freiheit der eigenen Person metaphysisch, in Gott, immer schon und unverbrüchlich verbürgt ist. Erst in der Verbindung beider, der inneren psychologischen Freiheit und der Gewissheit hinsichtlich der in Gott verbürgten metaphysischen Freiheit, ist Seelengröße möglich. Baumgarten arbeitet hier bewusst zum einen zuerst mit illustrativen Zitaten aus der Dichtung, die es (noch) dem Leser anheimstellen, die nicht weiter erläuterte Verbindung der Seelengröße zum Göttlichen zu ziehen, und zum anderen erst an zweiter Stelle mit der Bezugnahme auf die theoretische Diskussion der Seelengröße bei Longin, mit der er, indem er sich entscheidend von ihr abhebt, seinen eigenen Begriff von Seelengröße, nämlich in ihrem notwendigen Bezug auf die Gottes­ gewissheit, abschließend und in der Klimax der Passage erst begründet. Angemerkt sei, dass Baumgarten seinen mit Hilfe dieser beiden verschiedenen hetero-intertextuellen Bezugnahmen erarbeiteten Begriff der magnanimitas in aesthe­ticis genere maxima in Aesth. § 416 durch einen zusätzlichen, inhaltlich bedeutsamen auto­ referentiellen Verweis noch weiter vertieft, indem er dort auf § 445 seiner Ethica verweist: Es genügt nicht, so heißt es im dort unmittelbar vorausgehenden Paragraphen Eth. § 444, eine möglichst vollkommene Erkenntnis des sittlich Erhabenen zu besitzen, sondern allein derjenige, der auch entsprechend handelt, ist wahrhaft



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im »Zustand des Lichts« (in statu lucis s. regno lucis morale),21 und dessen Pflicht ist es, den Maueranger (pomoeria) des Reichs des Lichtes, soweit es seine Kräfte vermögen, stetig zu erweitern – erst dies bedeutet, so Baumgarten, »im Lichte wandeln« (ambulare in luce).22 Es ist der hier erkennbare Einsatz und die Abfolge der alternierenden intertex­ tuellen Bezugnahmen, die den Abschnitt zur magnanimitas in aestheticis genere maxima auf seine Klimax zuführen: Er beginnt mit hetero-intertextuellen Illustrationen der magnanimitas maxima aus der Dichtung, deren Zusammenhang (Nähe zum Göttlichen) zu finden zunächst der Aufmerksamkeit des Lesers anheimgestellt bleibt, gefolgt von ihrer hetero-intertextuellen Begründung bei Longin (Freiheit von Begierden und Leidenschaften), die aber vor allem darin ihre Funktion hat, Baumgartens eigene Begründung der magnanimitas in ihrer Ähnlichkeit, vor allem aber in ihrer spezifischen Differenz (Freiheit von Leidenschaften verbunden mit der Gewissheit der in Gott unverbrüchlich verbürgten metaphysischen Freiheit) zum Referierten darzulegen, abgeschlossen von der auto-intertextuellen Referenz auf die notwendige Ergänzung der magnanimitas als Erkenntnismodus durch die ­magnanimitas im Handeln, das in der letzten, wiederum hetero-intertextuellen Referenz auf den auf Leibniz’ ›Reich der Gnade‹ zurückgehenden Terminus ›Reich des sittlichen Lichts‹ 23 die magnanimitas in aestheticis genere maxima schließlich als Gemeinschaft mit dem Göttlichen nicht nur beschreibt, sondern auf nun wesentlich höherer, begründeter Ebene als wahrhafte Zugehörigkeit zum göttlichen ›Reich der Gnade‹ erweist. Es soll bei diesen wenigen Beispielen der Formen intratextueller, auto-intertextueller und hetero-intertextueller Verweise bei Baumgarten bleiben. Im abschließenden dritten Teil dieses Beitrags soll nun auf eine weitere, in dieser Form vielleicht einzigartige, verständniserweiternde Bedeutung intertextueller Bezugnahmen in Baumgartens Ethica eingegangen werden.

Eth. § 443. § 444: »Homo vel maxime rationalis […] tamen esse potest in statu tenebrarum; solus virtuosus in statu lucis est […]. Sed huius etiam officium est et regni lucis pomoeria proferre […] et luci ipsius proportionate agere, i. e. AMBULARE IN LUCE [im Lichte wandeln], quantum potest.« Übers. Baumgarten. Im folgenden § 445 der Ethica, auf den Baumgarten in der Aesthetica § 416 verweist, wird der daraus resultuierende Zustand der Seelenruhe (»Zustand der Beruhigung«: status tranquillitatis) weiterhin als Zustand »der Gewissheit« (status convictionis) bestimmt. 23 Zu Baumgartens expliziter Stellungnahme zur Übernahme von Leibniz’ regnum gratiae, das dem in Eth. § 443 so genannten regnum lucis morale entspricht, vgl. die zweite Vorrede zur Metaphysica von 1742, in: Baumgarten: Die Vorreden zur Meta­phy­sik, 43; dazu Mirbach in Aichele/ Mirbach (Hgg.): Alexander Gottlieb Baumgarten, 215. 21 Vgl. 22 Eth.

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3. Intertextuelle Bezugnahmen als Bedeutungsträger in Baumgartens Ethica philosophica Baumgartens 1740 erstmals veröffentlichte Ethica philosophica ist weder eine Glücks­ ethik noch eine praktische Sittenlehre. Es handelt sich bei Baumgartens Ethik in erster Instanz um eine Pflichtenethik – ähnlich wie bei Christian Wolff, aber in deutlicher Abgrenzung zu diesem in einer veränderten Reihenfolge der moralischen Pflichten. Am Anfang stehen bei Baumgarten nicht wie bei Wolff die Pflichten gegenüber sich selbst, sondern die religiösen Pflichten gegenüber Gott. Baumgartens Ethik gliedert sich insgesamt, wie bereits ein Blick in die Inhaltsangabe zeigt, systematisch zunächst in einen allgemeinen und einen besonderen Teil. Der auf die »Prolegomena« (§§ 1 – 10) folgende allgemeine Teil enthält als solcher drei Teilstücke. Er beginnt im ersten Teilstück mit den officia erga Deum, dem inneren und äußeren Gottesdienst (religio interna, cultus dei externus, §§ 11 – 149), auf die im zweiten Teilstück die Pflichten gegenüber sich selbst, die officia erga te ipsum folgen (§§ 150 – 300), gegliedert in Pflichten zunächst bezüglich der eigenen Seele, gegenüber den Erkenntnis- und darauf folgend der Begehrungsvermögen, sodann bezüglich des Körpers. Im dritten Teilstück schließlich folgen die Pflichten gegenüber anderem, officia erga alia (§§ 301 – 399), zuerst ausführlich die Pflichten gegenüber anderen Menschen, sodann in wenigen Paragraphen diejenigen gegenüber anderen Wesen (agathodaemones). Der zweite Teil der Ethik (§§ 400 – 500) enthält die besonderen Pflichten gegenüber der Seele, des Körpers und des äußeren Zustands. Ist die Hierarchie der Wichtigkeit der Pflichten in dieser Abfolge eindeutig bestimmt – zuerst die officia erga Deum, sodann die officia erga te ipsum und danach die officia erga alia – so scheint die Analyse der intratextuellen Rückbezüge in der Ethica hingegen zunächst ein anderes Ergebnis zu zeitigen: Der Paragraph, auf den sich Baumgarten mit Abstand am häufigsten im Verlauf seiner Ethica zurückbezieht und dem daher aus dieser Blicknahme eine herausragende Bedeutung als ›intratextueller Leitparagraph‹ zugesprochen werden muss, befindet sich nicht in den Abschnitten zu den Pflichten gegenüber Gott, sondern es ist der letzte Paragraph der Prolegomena, Eth. § 10 mit der eindeutigen Aufforderung: Perfice te quantum potes – »Vervollkommne Dich selbst, soviel Du vermagst«: »Perfice te. Ergo perfice te in statu naturali, quantum potes, i.e. fac in eodem, quae te perficiunt, vel ut finem, quorum tu ipse es ratio perfectionis determinans, vel ut medium, quae te cum aliis consentire faciunt ad rationem perfectionis determinantem extra te positam […]. Fac bona, omitte mala, quantum potes, in statu naturali […]. Fac in eodem, quod tibi factum optimum […]. In statu naturali vive convienter naturae, quantum potes […], ama optimum, quantum potes […], optimamque, quam potes, tuam ubique conscientiam sequere […]. – »Vervollkommne Dich. Also vervollkommne Dich im natürlichen Zustand, soviel du kannst, d. h. tue Dinge, die Dich vervollkommnen, entweder als Zweck, von denen du selbst der bestimmende Grund der Vollkommenheit bist, oder als Mittel, die dich mit ande-



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ren zu einem die Vollkommenheit bestimmenden Grund, der außer dir gesetzt ist, zusammenzustimmen lassen. Tue Gutes, vermeide Böses, soviel du es im natürlichen Zustand kannst. Tue das, was Du am besten kannst. Lebe im natürlichen Zustand der Natur angemessen, so gut du es kannst, liebe das Beste, so sehr du kannst, so dass du überall, so gut du es kannst, deinem besten Gewissen folgst.« 24

Die scheinbare Unvereinbarkeit oder zumindest Konkurrenz dieser beiden einer­ seits durch die Gliederung der Schrift, andererseits durch die Häufigkeit der Rückverweise jeweils als höchste hervorgehobenen Verpflichtungen lösen sich mit e­ inem Blick auf den unmittelbar darauf folgenden Paragraphen Eth. § 11 auf: Die erste und höchste Pflicht gegenüber Gott ist die Gotteserkenntnis. Die Gotteserkenntnis aber setzt, als Ruhm Gottes (gloria dei) und als Verherrlichung des Ruhmes Gottes (illustratio gloriae divinae) im erkennenden Menschen Wirklichkeit (realitas): In der Gotteserkenntnis verwirklicht sich der Mensch. Je vollkommener die Erkenntnis Gottes als des vollkommensten Wesens (ens perfectissimum) im Menschen ist, desto mehr vervollkommnet sich der Mensch gemäß seiner ihm wesentlichen Bestimmung als erkennendes Wesen. Die Religion (an erster Stelle als religio interna) aber basiert auf der Gotteserkenntnis und vervollkommnet daher den Menschen: Auch oder gerade unter der Maßgabe des perfice te ist dieser, und unter Voraussetzung des ihm erst Wirklichkeit verleihenden Modus der Erkenntnis an erster Stelle, zur Religion verpflichtet. Der überaus dichte, voraussetzungsreiche § 11 der Ethica lautet (mit sämtlichen dort genannten intra- und auto-intertextuellen Verweisen): »Ens perfectisimum uberius, dignius, verius, clarius, certius, ardentius nosse est rea­ li­t as[,] M. § 36. Ergo gloria dei in te ponit realitatem[,] M. § 947. Illustratio gloriae divinae etiam in te ponit realitatem, alias esset mala, M. § 146[,] quod contra M. § 947. Ergo gloria dei et illustratio eius in te, tanquam rationem perfectionis determinantem, consentiunt, M. § 94[,] tibi bonae, M. § 660. Ergo religio te perficit, ut finem, M. § 947[,] adeoque obligaris ad religionem, § 10.« – »Das vollkommenste Wesen reicher, würdiger, wahrer, klarer, gewisser und feuriger zu erkennen, ist Wirklichkeit, Met. § 36. Also setzt die Ehre Gottes in dir Wirklichkeit, Met. § 947. Auch die Verherrlichung des Ruhmes Gottes setzt in dir Wirklichkeit, sonst wäre sie von Übel, Met. § 146, was gegen Met. § 947 verstieße. Also ist die Ehre Gottes und seine Verherrlichung in dir, in dem Maße sie zum bestimmenden Grund der 24 Eth. § 10. Lat. Text nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ethica philosophica, 2. Nachdruck der 3. Auf l. Halle/Saale 1763, Hildesheim/Zürich/New York 2000; dt. Übers. D. M. – Die Häufigkeit, mit der Baumgarten intratextuell auf jeweilige vorangegangene Paragraphen innerhalb der 3. Auf l. der Ethica verweist, ist insgesamt aufschlussreich: Die häufigsten Rückverweise zählen mit 50 auf Eth. § 10, dicht gefolgt von 43 Rückverweisen auf Eth. § 202 (Aufforderung zur Kenntnis, Pflege und Verbesserung der eigenen Selenvermögen). Am dritthäufigsten folgt eine Dreiergruppe von Rückverweisen mit 25 auf Eth. § 249 (temperantia: »Mässigkeit, Mässigung«), 22 auf § 200 (dem letzten Paragraphen der Abschnitte über die amor tui ipsius) und 21 auf Eth. § 21 (philanthropia: »amo[r] […] aliorum hominum«).

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Vollkommenheit zusammenstimmen, Met. § 94, ein Gutes für dich, Met. § 660. Also vervollkommnet dich die Religion, als Zweck, Met. § 947, und in eben dem Maße bist du zur Religion verpflichtet, § 10.« 25

Die von Baumgarten durch die Häufigkeit der intratextuellen Rückbezüge auf Eth. § 10 am meisten hervorgehobene Verpflichtung der Selbstvervollkommung steht nicht im Gegensatz oder in Konkurrenz zu den an den Anfang der Ethica gesetzten wichtigsten Pflichten gegenüber Gott, sondern untermauern diese vielmehr: Das »Vervollkommne Dich selbst« besteht gerade an erster Stelle und in dieser gipfelnd in der Vervollkommnung der Gotteserkenntnis als zugleich erster Pflicht gegenüber Gott in der an den Anfang der Pflichtenhierarche der Ethica gestellten inneren Religion. Und umgekehrt, so der letzte Satz von § 11 mit Rückbezug auf § 10: Die Verpflichtung zur Religion beruht gerade auf der Maßgabe des »Perfice te«. Doch eine genauere Betrachtung des intertextuellen Bezugrahmens von Eth. § 11 bringt noch weitere bedeutende Aufschlüsse zutage. Die bei weitem am häufigsten genannten auto-intertextuellen Bezugnahmen in der Ethica insgesamt beziehen sich in genau gleicher Zahl zum einen auf § 658 innerhalb der Empirischen Psychologie, zu voluptas und taedium als Triebfedern der Begehrungsvermögen, zum anderen aber auf den allein in Eth. § 11 sechs Mal genannten – und dort einmal argumentativ miteinbezogenen – § 947 innerhalb der Natürlichen Theologie von Baumgartens Metaphysica.26 In Met. § 947 heißt es: Der Zweck der gesamten Schöpfung ist die illustratio gloriae divinae, die Verherrlichung des Ruhmes Gottes: »Bona spiritus determinatio ex motivis gloriae divinae est illustratio gloriae divinae (cultus dei). Gloria dei & illustratio eius sunt religio. Iam gloria Dei utilis est ad cultum eius […], gloria & cultus ad religionem […]. Ergo fines creationis fuerunt cultus dei & religio […].« – »Eine gute Bestimmung eines Geistes aus Beweggründen des Ruhmes Gottes ist die Verherrlichung des göttlichen Ruhmes. Der Ruhm Gottes und seine Verherrlichung sind die Religion. Nun ist der Ruhm Gottes nützlich für den Gottesdienst, der Ruhm Gottes und der Gottesdienst für die Religion. Also werden die Zwecke der Schöpfung der Gottesdienst und die Religion sein.« 27

Man erinnere sich: Im Zentrum von Eth. § 11 stehen die beiden Sätze »[D]ie Ehre Gottes [setzt] in Dir Wirklichkeit« und »auch die Verherrlichung des Ruhmes Gottes« (etiam illustratio gloriae divinae) »setzt in dir Wirklichkeit« (in te ponit realitatem). 25 Eth.

§ 11; dt. Übers. D. M. der 3. Auf l. der Ethica finden sich insgesamt jeweils 18 Rückverweise auf Met. § 658 (voluptas: »Lust, Gefallen, Vergnügen«, und taedium: »Unlust, Missfallen, Missvergnügen« und deren Bezug zur anschauenden Erkenntnis von Vollkommenheit) sowie auf Met. § 947 (illustratio gloriae divinae [cultus dei]: »Verherrlichung Gottes, Gottesdienst«). 15 Rückverweise beziehen sich auf Met. § 669 (zu den elateres animi: »Triebfedern des Gemüths«), 14 auf Met. § 684 (zu gloria: »Ehrliebe«, amor: »Liebe«, gratitudo: »Dankbarkeit«, misericordia: »Barmherzigkeit, das Erbarmen«, favor: »Gunst«, benevolentia: »Gewogenheit« und clementia: »Gnade«). 27 Met. § 947; dt. Übers. D. M. 26 In



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Und es ist § 947 der Metaphysica, in dem Baumgarten an der einzigen Stelle seines Werkes das Nomen illustratio übesetzt: Illustratio als »Verherrlichung«, illustratio gloriae divinae als »Verherrlichung Gottes«. Die Aussage der von Baumgarten selbst hervorgehobenen Verbindung von Met. § 947 und Eth. § 11 ist klar: Die Vollkommenheit des vollkommensten Wesens Gottes entfaltet sich, findet ihren Niederschlag, ›erhellt sich‹ in der Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheit durch den Menschen. Gotteserkenntnis setzt im Menschen Wirklichkeit. Die illustratrio des Ruhmes Gottes in der menschlichen Erkenntnis ist damit nicht nur Grund der Verwirklichung des Menschen als der Erkenntnis fähiges Wesen, sondern über den Menschen als des der höchsten finiten Form von Erkenntnis fähigen Wesens zugleich die höchstmögliche Form der ›Ver-Wirklichung‹ im Sinne der Entfaltung oder ›Erhellung‹ der allumfassenden Wirklichkeit Gottes in dieser ihm als illustratio seiner selbst zugehörigen Welt. Faszinierend ist im Kontext der vorliegenden Darstellung, dass der inhaltlichen Entsprechung und Ergänzung von Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheit einerseits und Entfaltung der göttlichen Vollkommenheit in der Erkenntnis andererseits Baumgartens Einsatz der verschiedenen intertextuellen Bezugnahmen methodisch entspricht: Dem intratextuellen, Ethica-internen Bezug auf die Voraussetzung der Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheit in der Vervollkomnung der menschlichen Erkenntnisvermögen (dem praeponitur) entspricht als seine Ergänzung der auto-intertextuelle Bezug auf die Darlegung der Entfaltung der göttlichen Vollkommenheit in der menschlichen Erkenntnis (das illustratur) in der Metaphysica. Und nichts hindert, dies im Sinne der ›vertikalen‹, die Textebene selbst transzendierenden intertextuellen Bewegung weiterzudenken: Dann nämlich stellte Baumgartens Ethica als Text mit der Zusammenführung der beiden sich ergänzenden Hinsichten auf die göttliche Vollkommenheit das praeponitur dar, deren weitere illustratio außerhalb der Ethica in der jeweiligen Erkenntnis ihrer Leser – gleichsam vervielfältigt – zu vollziehen ist. Mit Leibniz: »Auf diese Weise wird das Universum gewißermaßen so viele Male vervielf ältigt wie es Substanzen gibt, und ebenso mehrt sich der Ruhm Gottes im selben Maße, als es eine Vielheit von einander ganz verschiedener Darstellungen seines Werkes gibt.« 28

Man muss nicht annehmen, dass Baumgarten im vorliegenden Kontext diese Stelle voraussetzt. Man kann aber begründet annehmen, dass er sie und vergleichbare Stellen bei Leibniz kennt. Wird der Text der Ethica in seinen grundlegenden Aussagen bei dessen Lektüre notwendig vorausgesetzt (praeponitur), doch im je eigenen Verständnis des je einzelnen Lesers erst eigentlich erhellt (illustratur), dann bildet Wilhelm Leibniz: Metaphysische Abhandlung, in: ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übers. von Artur Buchenau, mit Einleitung und Anm. hg. von Ernst Cassirer, Teil II (Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Werke in vier Bänden, in der Zusammenstellung von Ernst Cassirer, Bd. 2), Hamburg 1996, 343–388, hier: Abschnitt 9, 351. 28 Gottfried

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Baumgartens Ethica als solche einen möglichen Ausgangspunkt (praepositio) zu einer fortwährenden, in der Erkenntnis und im danach ausgerichteten Tun des Einzelnen sich fortsetzenden, spektral sich entfaltenden Verherrlichung (illustratio) des Ruhmes Gottes (gloriae divinae) in der Welt. Die dargestellte Intertextualität in Baumgartens Werk hat damit auch und womöglich grundlegend vor allem diese Funktion: Sie setzt Baumgartens Schriften selbst als Praetexte, vor deren Hintergrund die reflektierende und selbstreflektierende Erkenntnis des Lesers sich als deren Folgetext – und in Baumgartens Sinne letztlich zum Ruhme Gottes – weiter fortschreiben kann und soll. Als heutige ­L eser Baumgartens bleiben wir zu dieser Fortschreibung aufgefordert.

Die Doppelfunktion der Ästhe­t ik im philosophischen System A. G. Baumgartens Von Constanze Peres 1. Relevanz der systematischen Verortung der Ästhe­tik Die gewaltige Neuerung Baumgartens, der über zweitausend Jahre alten abendländischen Philosophiegeschichte 1750 mit der Aesthetica eine neue Disziplin hinzugefügt zu haben,1 gewinnt noch an Bedeutung, wenn man diesen diachronen Aspekt um eine synchrone Sichtweise erweitert. Denn Baumgarten fasst nicht nur erstmalig eine Fülle der seit der antiken Philosophie verstreuten Theoreme zum Schönen und der Kunst zu einer einheitlichen, wenn auch nicht vollendeten, Theorie zusammen und gibt ihr einen eigenen Namen. Vielmehr erhärtet er ihren selbständigen Theoriestatus, indem er sie in dem von Christian Wolff festgeschriebenen System der Philosophie situiert und ihr darin einen parallelen Systemort zu der seit Aristoteles etablierten Logik einräumt.2 Dass die systematische Verfasstheit der Philosophie für Baumgarten ein wichtiger Aspekt war, ergibt sich bereits philosophiehistorisch daraus, dass er sich dezidiert als Anhänger des Systemphilosophen Christian Wolff bekennt.3 Wie und in welchem Maße ihn aber die Systemsituierung der Aesthetica insbesondere in den Alle Zitate und ihre Übersetzungen stammen aus: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­ tik/Aesthetica (Frankfurt/Oder, 1750/1758), Dt./Lat., hg. vom Constanze Peres, übers. aus dem Lat., kommentiert und mit Begleittexten versehen von Constanze Peres und Peter Witzmann, München 2016 (in Vorbereitung). 2 Das philosophische System eines Philosophen in den Mittelpunkt einer Untersuchung zu stellen, erfordert per definitionem beträchtlichen Raum. Wenn dies in einem kurzen Aufsatz unternommen wird, so ist eine Beschränkung erforderlich. In den vorliegenden Ausführungen und Übersichtsschemata wird deshalb das Hauptgewicht lediglich auf die Grundzüge des Systemgedankens und einige daraus abzuleitende Erkenntnisse für das Verständnis der Ästhe­tik Baumgartens gelegt. Für genauere Ausführungen vgl. meine Begleittexte und Kommentare in der 2016 erscheinenden Aesthetica-Edition. Besonders sei zu dem Thema auch auf die sorgf ältige Untersuchung Alexander Aicheles zum Systembegriff Baumgartens verwiesen; vgl. Alexander Aichele: »Wahrheit – Gewissheit – Wirklichkeit. Die systematische Ausrichtung von A. G. Baumgartens Philosophie«, in: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Aufklärung, 20), hg. von Alexander Aichele und Dagmar Mirbach, Hamburg 2008, 13 – 36. 3 Vgl. Brieffe, Brief. 1. Vgl. zu Wolffs System z. B. seine Überblicksdarstellungen im »Discursus praeliminaris« zu seiner Lateinischen Logik, Christian Wolff: Philosophia Rationalis Sive Logica, Pars I: »Discursus praeliminaris« (in: ders.: Gesammelte Werke, Abt. II, Bd. 1.1, ed. par Jean École, 1983). Vgl. auch die Darstellungen seiner Schüler: Carl Günther Ludovici: Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie, 3 Bde., Leipzig 1738 (in: Christian Wolff: Gesammelte Werke, Abt. III, Materialien und Dokumente, Bd. 1.1 – 1.3, 2003, Bd. 1, § 100; Ludwig Philipp Thümmig: Institutiones philosophicae Wolfianae, 2 Bde., Frankfurt/Leipzig 1725 f. (in: Christian Wolff: Gesammelte Werke, Abt. III, Materialien und Dokumente, Bd. 19.1 – 19.2, 1982). 1

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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Constanze Peres

Jahren um 1740 beschäftigte, zeigen seine Systemaufrisse in den Schriften dieser Zeit, allen voran die Sciagraphia Encyclopaediae Philosophicae und die Philosophia generalis. Sie sind zwar postum erschienen, gehen aber auf Vorlesungen zurück, die Baumgarten ab ca. 1740/1741 in Frankfurt an der Oder hielt und nach Aussage Georg Friedrich Meiers wohl schon ab 1735 in kleineren Kollegien in Halle vorbereitet hatte. Neben partiellen Übersichten in der Ethica und Metaphysica (vgl. z. B. Eth. § 9 und Met. § 6) ist weiterhin die vollständige, wenn auch kurze Überblicksdarstellung in § 7 seiner Logik wichtig für Baumgartens systematische Konzeption. Diese letzte von eigener Hand 1761 veröffentlichte Schrift, die unter dem Titel A ­ croasis logica erschien, hatte Baumgarten ebenfalls schon seit Mitte der 1730er Jahre kontinuierlich in Vorlesungen entwickelt.4 In den meisten der Schriften Baumgartens kommt somit der systematische Aspekt seines Philosophierens mehr oder weniger ausführlich zur Sprache, mit der Sciagraphia ist ihm zudem eine eigene Schrift gewidmet, und sogar in seiner popularphilosophischen Zeitschrift Philosophische Brieffe von Aletheophilus von 1741 sollte mit dem 2. Brief den ›Frauenzimmern‹ das ›Gebäude‹ seiner (und der Wolff’schen) Philosophie nähergebracht werden. Die Acroasis logica allein trägt im Namen, was für alle anderen bisher erwähnten Schriften, aber ebenso auch für die Aesthetica, gilt: Es handelt sich um akroamatische Schriften, d. h. um Vorlesungsvorlagen. Vor dem Hintergrund, dass Baumgartens Publikationstätigkeit eng an seine Vorlesungsvorbereitung und -praxis gebunden war, ist es kein Zufall, dass er in der Philosophia generalis für den »rigor« – diejenige »Vollkommenheit der Philosophie [perfectio philosophiae]«, die er mit »Genauigkeit« übersetzt – als erklärende Alternativbegriffe das Akroamatische, Lehrgerechte (acroamaticum) und das »Systematische« (systematicum) anführt, philosophische Tugenden, die er offenbar auch für sich beanspruchte (vgl. Phil. gen. § 35). Sowohl durch die gemeinsame Verortung der Ästhe­tik und der von alters her sanktionierten Logik in seinem philosophischen System, wo beide Disziplinen zusammen die sogenannte ›Gnoseologie‹ konstituieren, als auch durch den Umfang, den die Darstellung der neuen Disziplin ›Aesthetica‹ darin einnimmt, wird deutlich, welch hohen Stellenwert Baumgarten der Ästhe­tik zuweist. Dass der überproportional ausgedehnten Darstellung der Aesthetica eine hohe Differenziertheit ihrer Einteilungen und Subeinteilungen entspricht, indiziert wiederum die »Genauigkeit« (s. o. Phil. gen. § 35), mit der sich Baumgarten seiner philosophischen Innovation widmet. Zudem tritt aus der systematischen Verortung klar hervor, dass und wie die Ästhe­t ik als zur Logik parallele und komplementäre Erkenntnistheorie zu sehen ist.

Georg Friedrich Meier: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, beschrieben von Georg Friedrich Meier, Halle 1763, 15 – 18. 4 Vgl.



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2. Ästhe­tik und Logik im System und die antike Rhetorik Entgegen dem derzeit feststellbaren Trend, die Rhetorik als den vorrangigen und heuristisch maßgeblichen Interpretationsrahmen für Baumgartens Ästhe­tik anzusehen,5 wird nach den vorherigen Überlegungen davon ausgegangen, dass es nach der Grundlagenwissenschaft Meta­phy­sik vor allem die Logik ist, die Baumgarten als wichtigste Referenzdisziplin heranzieht, und dass seine Rhetorikbezüge von seiner Logik her zu verstehen sind und nicht umgekehrt – so, wie ja auch innerhalb der Sieben Freien Künste, die Baumgarten mehrfach erwähnt, die im Trivium auf die Grammatica und Rhetorica folgende Dialectica oder eben Logica die höchste und einzige philosophische ars ist, welche die ihr vorangegangenen Gebiete als bereits erlernte artes voraussetzt.6 Das tangiert nicht die unbestreitbare Voraussetzung, dass die in der Aesthetica vielzitierte Meta­phy­sik mit ihren vier Subdisziplinen – der Ontologie (metaphysica generalis) und den drei metaphysicae speciales Kosmologie, Psychologie und Natür­ liche Theologie – als Grundlage für die Ästhe­t ik wie für alle anderen philosophischen Disziplinen zu gelten hat. Denn die Logik ist unter einer anderen Rücksicht als die Meta­phy­sik die wichtigste Referenzdisziplin für die Ästhe­t ik. Sie hat keine schlechthin grundlegende Funktion wie die Meta­phy­sik, sondern sie offeriert eine analoge Struktur. Als ›Logik der oberen Erkenntnisvermögen‹ Verstand und Vernunft (gnoseologia superior) setzt sie zwar andere Schwerpunkte als die Ästhe­t ik und ordnet sie in anderer Reihenfolge an als die ›Logik der unteren, sinnlichen Erkenntnisvermögen‹. Doch als gnoseologisches Pendant und theoriegeschichtlich »ältere Schwester« der Ästhe­t ik (Aesth. § 13, »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, § 13) hat sie mit ihrer Einteilung und Anordnung einen Vorbildcharakter, der sich innerhalb der Binnenstrukturierung der Ästhe­tik vielfach niederschlägt.7 Deren 5 Vgl.

z. B. John Poulakos: »From the Depth of Rhetoric. The Emergence of Aesthetics as a Discipline«, in: Philosophy and Rhetoric 40/4 (2007), 335 – 552, bes. 336 – 344. Poulakos beruft sich allerdings nur auf wenige zu seiner These passende Textstellen aus den Meditationes und den Prolegomena zur Aesthetica. 6 Vgl. Baumgartens Auffassung in Phil. gen. §§ 11 und 12, wonach die Sieben Freien Künste mit dem Trivium der sprachlichen und dem Quadrivium der mathematischen Künste ›eigentlich nicht zur Philosophie gehören‹. Sowohl die auch in Aesth. § 1 u.ö. zu findende Anspielung auf die ›freien Künste‹, die ja wissenschaftlich fundierte Unterweisungen waren, als auch Baumgartens Definition in Aesth. § 68, wo er ars als Regelwerk definiert, verdeutlichen den zu dieser Zeit noch ambigen Charakter einer Ars als Lehre im Sinne angewandter Wissenschaft und als Kunst im Sinne angewandten Regelwissens dieser Lehre. Die für das Ästhetische geltende Logizität des Rhetorischen lässt sich im Einzelnen insbesondere in Baumgartens Behandlung der ursprünglich rhetorischen Kategorien der ästhe­tischen Klarheit und lebhaften Verständlichkeit (claritas, lux, perspicuitas, vividitas) und der darauf auf bauenden Überzeugungskraft (persuasio, certitudo, evidentia) in der Aesthetica aufzeigen. Dem kann hier nicht nachgegangen werden. So viel kann jedoch gesagt werden: Die Systemsituierung der Ästhe­t ik und ihre Parallelität zur Logik führen zu einer dezidiert anderen Schwerpunktsetzung in der Deutung der Aesthetica Baumgartens. 7 Der Vorbildcharakter der Logik schlägt sich nicht in der Anordnung und Reihenfolge der Teile innerhalb der Schriften nieder. Diese ist in Ästhe­tik und Logik im Wesentlichen umge-

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Orientierung an rhetorischen Grundbegriffen ist einerseits mit großer Wahrscheinlichkeit darin begründet, dass sich Baumgarten mit seiner philosophischen Ästhe­t ik auf theoretisches und terminologisches Neuland begab, wie er gelegentlich anklingen lässt,8 und deshalb die antiken Rhetoriken in Hinsicht auf ihre philosophische und begriffliche Ergiebigkeit für seine Ästhe­t ik verwendete. Aber das trifft ebenso, wenn nicht sogar in höherem Maße, für die Poetiken der Antike zu.9 Dass er die Ästhe­t ik wie keine andere philosophische Schrift bis hin zu Detailfragen an den sechs aus der Rhetorik bekannten Vollkommenheiten ausrichtet,10 hat insofern nicht so sehr mit deren Rhetorizität als vielmehr mit deren Philosophizität zu tun, deretwegen er sie schon in früheren Schriften und in rhetorisch wie ästhe­ tisch nicht relevanten Zusammenhängen aufführt. Denn Reichtum (ubertas), Größe (magnitudo), Wahrheit (veritas), klare und lebhafte Verständlichkeit (claritas, lux, perspicuitas, vividitas), Überzeugungskraft (persuasio/convictio) und lebendige Wirksamkeit für die Praxis (vita cognitionis) werden von Baumgarten grundlegend philosophisch umgedeutet. Gemäß seiner Logik gelten sie als »Kardinalvollkommenheiten aller Erkenntnis« überhaupt (Acr. log. §  100, »perfectiones cardinales cognitionis«, vgl. Acr. log. § 412), also primär als (in der Meta­phy­sik begründete) erkenntnistheoretische Kategorien. Als solche werden sie häufig und in allen Schriften an zentraler Stelle hervorgehoben und auch immer wieder als kriterielle Leitlinie für die Darstellung der Erkenntnisvervollkommnung des Menschen herangezogen, so in der Meta­phy­sik, Logik, Ethik, Philosophia generalis und Sciagraphia und auch den Philosophischen Brieffen.11 Und deshalb gelten sie auch als Leitlinien für die gnoseologia inferior: »Die Ästhe­tik wird die Vollkommenheit haben müssen, die die Erkenntnis überhaupt haben muß, wann sie vollkommen sein soll. Die Meta­phy­sik hat uns schon gelehrt, daß die Kenntnis um so viel besser ist, je reicher, edler, richtiger, klarer, gewissenhafter und lebhafter sie ist. Diese 6 Kennzeichen geben ihr ihre Vorzüge. Die ästhe­t ische Kenntnis muß ebendieselben haben«.12 kehrt, was sich folgerichtig daraus ergibt, dass eine Logik der oberen Erkenntnisvermögen auch deren Denkduktus folgt, d. h. nach der Deduktion aus den drei Grundoperationen Begriff, Urteil, Schluss steigt sie zu deren Anwendung in der Heuristik, Hermeneutik etc. etc. hinab. Dem gegenüber beginnt die Aesthetica als ›Logik der unteren Erkenntnisvermögen‹ innerhalb ihres theoretischen Teils mit der Heuristik. Baumgartens Aesthetica blieb unvollendet, aber Meiers fertig gestellte Anfangsgründe enden dementsprechend im 3. Band mit der ästhe­t ischen Lehre von Begriff, Urteil und Schluss.  8 Vgl. z. B. Baumgartens Vorwort zum 1. Teil der Aesthetica von 1750 und § 1 der »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«.  9 So nimmt Baumgarten z. B. auf weite Teile aus dem Gesamtwerk des Horaz Bezug, die sog. Ars poetica zitiert er im Verlauf der Aesthetica sogar vollständig. 10 Vgl. z. B. Marie-Luise Linn: »A. G. Baumgartens ›Aesthetica‹ und die antike Rhetorik«, in: Josef Kopperschmidt: Rhetorik, Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik, Darmstadt 1991, 81 – 107. 11 Vgl. Met. §§ 515, 531, 669, 681; Acr. log. § 6, vgl. §§ 100, 412, 425, 426, 445; Eth. §§ 11, 26, 202, 225, 414, 443 f.; Phil. gen. §§ 30, 33 – 4 6, 156, 172, 206, vgl. § 218, vgl. §§ 232, 260; Sciagr. §§ 121, 128. 12 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, § 22.



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Immer wieder wird in der Literatur die Bedeutung der Ethik für die Aesthetica betont, und das trifft insbesondere für Baumgartens Behandlung der ästhe­tischen Größe und Würde zweifellos zu. Für die Ethik kann aber nicht ein durchgängig erkenntnistheoretisch prägender Charakter angenommen werden, wie er für die Logik als gnoseologische Paralleldisziplin gilt. Dagegen ließe sich zwar anführen, dass die Ethik in der Aesthetica explizit zitiert wird und die Logik nicht. Aber diese Tatsache hat einen schlichten editionsgeschichtlichen Hintergrund. Die erste Auflage der Ethik erschien 1740, d. h. zehn Jahre vor der Aesthetica, und lag somit für den zitierenden Rückgriff vor, die Logik hingegen wurde erst 1761 publiziert und damit drei Jahre nach dem 2. Teil der Aesthetica. Deshalb wird in der Acroasis logica zwar mehrfach explizit auf die Ästhe­tik Bezug genommen,13 aber umgekehrt eben nur implizit. Dass Baumgarten die Logik nicht in der Ästhe­tik zitiert, bedeutet also keineswegs, dass er sie nicht gedanklich und argumentativ herangezogen hat. Aus dem logik-parallelen Systemort der Ästhe­tik bestätigt sich zudem, was § 1 der Aesthetica als deren intrinsisches ›Wesen‹ fixiert. Wenn Baumgarten die neue Disziplin dort als ›Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis‹ definiert, wird damit zugleich erstmals in der Geschichte der Philosophie für die Kunst, und damit für das in der Aesthetica vorrangige Gebiet der sinnlichen Erkenntnis, in derart expliziter Form der Anspruch auf Kognitivität erhoben. 3. Der Ausdruck ›System‹14 In der Meta­phy­sik schlägt Baumgarten ab der 4. Auf lage von 1757 deutsche Übersetzungen für wichtige philosophische Termini vor, für systema irritierenderweise den Ausdruck »Meinung« (Met. §§ 448, 452). Er ist jedoch nicht in dem ungenauen Sinne der antiken ›doxa‹ als ›bloße Meinung‹ zu verstehen, sondern im Sinne von ›Lehrmeinung‹, ›Lehrsatz‹, ›grundlegende Auffassung oder Konzeption‹, ›Theorieansatz‹ o. ä. (vgl. Met. §§ 448, 452, 463, 762, 768). Wenn man davon ausgeht, dass aus einer solchen grundlegenden Lehrmeinung die Einteilung und Ordnung der konstitutiven Aussagen einer philosophischen Auffassung abgeleitet werden kann, gelangt man zu einem Systembegriff, wie ihn Meier in seinem Auszug aus der Vernunftlehre vorlegt. In § 104 heißt es: »Ein Lehrgebäude (systema) ist eine Menge dogmatischer Wahrheiten, welche dergestalt mit einander verbunden werden, daß sie zusammengenommen eine Erkentniß ausmachen, welche man als ein Ganzes betrachten kann«;

und in § 518: Vgl. z. B. Acr. log. §§ 7, 402, 412, 416, 424, 445, 449, 452, 502. Bisher ist allein Alexander Aichele mit seiner akribischen Analyse der Vorkommnisse des Ausdrucks und seiner Übersetzungen dem Systembegriff bei Baumgarten nachgegangen, vgl. Aichele: »Wahrheit – Gewissheit – Wirklichkeit«. 13

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»dogmatische Schriften […,] [w]elche entweder eine gemeine Erkentniß dogmatischer Wahrheiten vortragen, oder eine gelehrte […,] diese aber [sind] systematische Schriften (scriptum systematicum), wenn sie eine Wissenschaft vortragen […]. Eine iede Schrift ist in Absicht auf ihren Inhalt entweder sehr weitläufig, oder sehr kurz. Jene ist ein grosses Werk (systema), diese aber ein Auszug (compendium)«.15

Auch Baumgarten verwendet den Ausdruck in diesem Sinne für ein umfangreicheres Werk, innerhalb dessen die wahren Aussagen so miteinander zusammenhängen, dass sie sich zu einem »Ganzen« verbinden, wenn in seinen deutschsprachigen Schriften von Wolffs »Systema« (Philos. Brieffe, 1. Brief, 4) oder dem »Systema copernicanum« (»Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, § 485) die Rede ist. 4. Der Systembegriff Wie vor allem aus Baumgartens Aussagen zu Begriff, Anspruch und Methode der Philosophie als solcher in der Philosophia generalis hervorgeht, vertritt er, ähnlich wie Meier im obigen Zitat, einen zugleich streng deduktiven und kohärentialen Systembegriff. Er rekurriert damit auf Christian Wolff, der in seiner sogenannten Latei­nischen Logik den Ausdruck wie folgt definiert: »Als System wird eine Ansammlung von Wahrheiten bezeichnet, die untereinander & auch mit den ihnen zukommenden Prinzipien zusammenhängen.« – »Systema enim dicitur veritatum inter se & et cum principiis suis connexarum congeries.«16

Für Wolff wie für Baumgarten ist für den Zusammenhang der ›Wahrheiten‹ das Prinzip de omni et nullo von großer Wichtigkeit,17 aber Baumgarten folgt stärker Leibniz, wenn er als basale Prinzipien seiner Philosophie durchgängig die beiden Grundsätze des principium identitatis et contradictionis und des principium rationis suffi­ cientis als maßgeblich anführt und voraussetzt. So übernimmt er sie auch in seiner Ästhe­tik im wörtlichen Zitat aus Leibniz’ Theodicée als höchste und allgemeinste Prinzipien für die Begründung der metaphysischen Wahrheit und in der Folge der logischen und ästhe­tischen Wahrheit (vgl. Aesth. § 423). Er selbst behandelt sie in seiner Meta­phy­sik jeweils zergliedert in verschiedene Einzelprinzipien.18 Friedrich Meier: Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752, §§ 104 und 518. Wolff: Philosophia Rationalis Sive Logica [Lateinische Logik] § 889, vgl. § 829 (in: ders.: Gesammelte Werke, Abt. II, Bd. 1.1 – 1.3, 1983). 17 Zum dictum de omni et nullo und seiner Bedeutung für Wolff vgl. Hans-Werner Arndt: »Einführung«, in: Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkäntniß der Wahrheit, hg. und bearb. von Hans Werner Arndt, Hildesheim/New York 1978 (Christian Wolff: Deutsche Logik, in: Gesammelte Werke, Abt. I, Bd. 1), 5 – 102. 18 In Met. § 11 behandelt er das Prinzip der Identität (principium identitatis), in Met. §§ 12 f. deduziert er das Prinzip des Widerspruchs. In Met. § 14 führt Baumgarten in die Grund-FolgeTerminologie ein, um ab Met. § 20 zunächst das Prinzip des Grundes (principium rationis), dann 15 Georg

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Baumgarten charakterisiert das »Systema eines ieden Philosophen« (Philos. Brieffe, 29. Brief, 88) als ein Denk- und Lehrgebäude, innerhalb dessen alles mit allem folgerichtig zusammenhängt. Demzufolge sind per definitionem nur philosophische Schriften systematisch: »Eine auf das Allgemeine gerichtete Schrift, die […] ein Lehrgebiet philosophisch darstellt, ist systematisch« – »Scriptum dogmaticum […] philosophice disci­pli­ nam proponens, est systematicum«.19

Zugleich stellt die Systematizität philosophischen und überhaupt wissenschaft­ lichen Denkens, innerhalb dessen alle Gedanken in einem Folgerungszusammenhang stehen, für Baumgarten eine valuative Kategorie dar. Der »beste und größte Philosoph« (»summus philosophus«) ist es, der den größtmöglichen Zusammenhang erkennt, in dem »alles aus allem fließt (folgt)« (Phil. gen. § 45).20 Diese philosophische Qualifikation wiederum erörtert Baumgarten im Rahmen der sechs perfectiones wissenschaftlichen Erkennens (Phil. gen. §§ 31 ff.). Dort bezeichnet er innerhalb der dritten Vollkommenheit der Wahrheit »das Systematische« als die »Vollkommenheit […] der Philosophie« (Phil. gen. § 35). Als bekennender ›Wolffianer‹ (vgl. Philos. Brieffe, 1. Brief ) folgt er darin seinem Lehrer, der mit seinem umfangreichen System, das er zuerst in deutscher Sprache, dann in lateinischer Sprache publiziert hatte, als Schul- und Systemphilosoph zu einem der meistgelesenen europäischen Philosophen des 18. Jahrhunderts wurde.21 Im Anschluss an Wolff vertritt Baumgarten seinen eigenen systematischen Ansatz, der allein schon durch die Einfügung der neuen Disziplin ›Aesthetica‹ und deren prominente Platzierung neben bzw. vor der Logik einen in der Philosophiegeschichte einzigartigen Stellenwert erhält. Ein System, in dem ›alles aus allem fließt‹, stellt mithin einen strengen Begründungszusammenhang dar, in dem nichts nur zufällig vorkommt, sondern in dem alles seinen determinierten Ort hat. Im Falle der Ästhe­t ik und ihres Gegenstands, in Met. § 22 das des zureichenden Grundes (principium rationis sufficientis) zu erörtern, und schließlich, als einen nur bei ihm zu findenden neuen Grundsatz, daraus in Met. § 23 das Prinzip des Gegründeten bzw. der Folge (principium rationati) und in Met. § 24 das Prinzip des nach beiden Seiten Verknüpften (principium utrinque connexorum) abzuleiten. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de Theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal (1710, in: ders.: Die philosophischen Schriften, 7 Bde., hg. von Carl I. Gerhardt, Berlin 1875 – 9 0, Bd. VI, Hildesheim/ New York 1978), 1 – 371). Baumgarten bezieht sich in Aesth. § 423 wie auch in den Philosophischen Brieffen (9. Brief, 23), wo er die Textstelle vollständig übersetzt hat, auf Theod. § 44, GP VI, 413 f.. 19 Acr. log. § 440. 20 Vgl. auch Leibniz: Theod., GP VI, 469. Die Alternativübersetzung mit dem logisch strengen ›folgt‹ zu ›fließt‹ für fluens bzw. fluentia in diesem wichtigen Paragraphen wie auch z. B. in Phil. gen. § 30, ist inter- und kontextual in Acr. log. § 208 abgesichert, wo Baumgarten selbst für die Folgerungsbeziehung im Syllogismus den Terminus »sequi (fluere)« verwendet und als deutsche Übersetzung »folgen (fließen)« vorschlägt. 21 Vgl. Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Hildesheim/ Zürich/New York 1992; vgl. zu den Darstellungen seines Systems bei Thümmig und Ludovici Anm. 3.

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der ›sinnlichen Erkenntnis‹ erschließt sich aus ihrem Systemort ihre doppelte Funktion als spezielle Erkenntnistheorie einerseits und Kunstphilosophie andererseits. 5. Grundlegung in der Meta­phy­sik: Vollkommenheit, Kräftemessung, Kontinuität Der kohärentiale systematische Charakter der Philosophie Baumgartens selbst ›fließt‹ aus seiner Meta­phy­sik, d. h. ist aus ihr abgeleitet. Um demnach das Gedankengebäude, das der neuen Disziplin Ästhe­t ik ihre systematische Bestimmung verleiht, nachvollziehen zu können, muss hier, wenn auch stark verkürzt, rekonstruiert werden, was in Baumgartens Denken die Welt und sein philosophisches System ›im Innersten zusammenhält‹. Nach dem vorliegenden Interpretationsansatz ist seine Meta­phy­sik stärker von Leibniz und dessen metaphysischer Monadentheorie als von Christian Wolff geprägt, auch wenn Baumgartens substanzontologische Begrifflichkeit bis auf einen grundlegenden Abschnitt in hohem Maße von der scholastischen Terminologie der Wolff’schen ›Schule‹ durchsetzt ist.22 Der im Kern monadologische Charakter von Baumgartens Meta­phy­sik wird bereits dadurch offensichtlich, dass er einen zentralen Abschnitt seiner Meta­phy­sik dem Begriff der Monade widmet (Met., Teil I, Abschnitt X). Die Monadentheorie Baumgartens ist eng mit dem Begriff der ›Vollkommenheit‹ (perfectio) verknüpft, der nicht nur innerhalb der Meta­phy­sik, sondern (gemäß dem dictum de omni et nullo) ebenso für alle von ihr abgeleiteten philosophischen Gebiete von tragender systematischer Bedeutung ist. In Logik und Ästhe­t ik ist sie dasjenige, worauf hin als Ziel die Verbesserung aller Kräfte des Erkennens (percipere) und Strebens (appetere) erfolgt. Insofern bildet Baumgartens Monadentheorie die Grundlage für seine ebenfalls in der Meta­phy­sik (vgl. Met. § 204) sowie in der Logik (vgl. Acr. log. § 14 und Kapitel VIII), der Ethik und der Ästhe­tik relevante ›Dynamica‹. Da nämlich die Erkenntnis- und Strebekräfte zu ihrer Vervollkommnung angemessen und richtig zu bemessen sind, bezeichnet Baumgarten die Dynamik als Lehre der Kräftebeurteilung und -ermessung, in der Meta­phy­sik auch als ›Dynameometria‹, und gibt als deren Zentrum »die Wissenschaft der Substanzen selbst (Sciagr. § 131), die Monadologie oder Monadenlehre« an (Sciagr. § 132).23 Im Hinblick auf das höchste Ziel der sinnlichen Erkenntnis, nämlich die ihr eigene Vollkommenheit der Schönheit (vgl. Aesth. § 14), ist diese Beurteilung und Be- und Ermessung der sinnlichen Erkenntniskräfte deshalb auch für die Aesthetica durchgängig von Bedeutung. Dort heißt es explizit:

22 So interpretiert schon Baumgartens engster Schüler Georg Friedrich Meier den metaphysischen Ansatz seines Lehrers als primär von Leibniz geprägt; vgl. Meier: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, 40 f. 23 Vgl. Sciagr. § 131; Met. § 234.



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»Die dynamische oder kritische Ästhe­t ik ist die Lehre der Beurteilung der Kräfte eines gegebenen Menschen im Hinblick auf das Ziel, die bestimmte Schönheit einer bestimmten Erkenntnis zu erlangen; und sie kann die angeborenen Kräfte der Natur nicht anders als nach ihren Wirkungen, d. h. den Ausübungen [… ] messen.« – »Aesthetica dynamica s. critica virium dati hominis ad datam datae cog­ nitionis pulcritudinem assequendam, connatas naturae vires metiri nequit, nisi ex effectibus, exercitiis […]«.24

Mit Verweis auf die parallele, in Kap. 8 der Acroasis logica dargestellte, logische Dynamik wird die ästhe­t ische Dynamik in der Ästhe­t ikvorlesungsmitschrift dann in ihrer Eigenart charakterisiert als Messung und Beurteilung »in individuo« der ästhe­t ischen Kräfte des Subjekts in Relation zur gewählten Themenstellung sowie zu deren Vorlage in der Wirklichkeit (»Objekt«; vgl. »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, §§ 60, 104; vgl. Acr. log. Kap. VIII). In ihrer Funktion als Mess-Lehre der Seelenkräfte, der vis repraesentativa, trägt die dynamische Ästhe­t ik somit zur immer vollkommeneren (Selbst-)Einschätzung der sinnlichen Erkenntnis- und Strebekräfte bei. Sofern letztere nun die Grundqualitäten der menschlichen Geistseele (und auf niedrigerem Niveau jeder Monade) sind, erfordert nach Baumgarten die Messung und Kalkulierung ihres ›Mehr-oder-weniger‹ ihre Begründung in einer Messwissenschaft der Qualitätsgrade. Diese noch nicht elaborierte Disziplin umreißt er als Theorie der quantitativen Erfassung »unausgedehnter Größen« und nennt sie in der Meta­phy­sik »Mathesis intensorum« (Met. § 249).25 Die Vervollkommnung, also das graduelle Steigern der Erkenntniskräfte, hat weiterhin ihre Grundlage in dem von Leibniz übernommenen Prinzip und Gesetz der Kontinuität. Ex negativo formuliert lautet diese auch in der Ästhe­tik in Anspruch genommene lex continui »Die Natur macht keine Sprünge« (Aesth. § 7). In positiver Formulierung heißt das, dass die Welt, und so auch die Erkenntnis der Dinge, kontinuierlich-graduell verfasst ist. Sie reicht somit, wie Baumgarten im Rahmen seiner Licht- und Tageszeitenmetaphorik exemplifiziert, von der Dunkelheit der Noch-nicht-Erkenntnis der Nacht über die sinnliche Erkenntnis der Morgendämmerung bis hin zur höchsten luziden Vernunfterkenntnis des hellen Mittagslichts (»ex nocte per auroram meridies«).26 Innerhalb dieses Kontinuums erfüllt die sinnliche Erkenntnis zwei verschiedene Funktionen. Einerseits fungiert sie z. B. im Kontext naturwissenschaftlicher Forschung als Empirie im Sinne eines kontinuierlichen Übergangs und einer Station zu ›höherer‹ Erkenntnis (Morgendämmerung). Andererseits fungiert sie vorrangig im Kontext der Kunst (aber auch 24 Aesth.

§ 60. Met. Teil I , Abschn. VI, bes. Met. § 165; vgl. Sciagr. § 128; Phil. gen. § 172. 26 Vgl. Constanze Peres: »Leibniz’ Konzeption von Kontinuität und Ganzheit und ihre Konsequenzen für die philosophische Ästhe­tik Baumgartens und der Gegenwart«, in: Sander Wilkens: Leibniz und die Künste, München 2007, 166 – 188; dies.: »Leibniz’ und Baumgartens Konzeption der Kontinuität und Ganzheit als Grundlage einer Ästhe­tik«, in: Die Permanenz des Ästhetischen. Perspektiven der philosophischen Ästhe­tik, hg. von Melanie Sachs und Sabine Sander, Wiesbaden 2009, 139 – 162. 25 Vgl.

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Naturbetrachtung in ästhe­tischer Einstellung) als eigenwertige Erkenntnis auf dem Weg zur sinnlichen Vollkommenheit, d. h. Schönheit (›Aurora/Morgenröte‹) und stellt damit eine elaborierte philosophische Weiterentwicklung der spezifischen Erkenntnis der Künstler dar, wie sie schon Leibniz beschreibt. Danach ist sie durch ein ›zutreffendes Erkennen‹ (probe cognoscere) und Wissen charakterisiert, das aber, statt näher begründet oder erklärt werden zu können, auf der Gewissheit eines »Jene-sais-quoi« beruht.27 Die maximale Vollkommenheit der Welt und der Erkenntnis ist als höchstmögliche Einheit in der höchstmöglichen Mannigfaltigkeit und ›positiven Realität‹ zu verstehen. Die Mannigfaltigkeit ist in der durchgängigen Bestimmtheit jedes Zustands der Welt und jedes ihrer Seienden (durch Gott), d. h. im gewaltigen dynamischen Ganzen des Universums gewährleistet (vgl. Met. §§ 36, 66, 135 f.).28 Die Einheit ist durch die Prästabilierung aller vielfältigen Beziehungen und Prozesse gegeben, die wiederum in zwei Prinzipien ihren Grund hat: im principium identitatis et contradictionis, dem Prinzip der Identität und des Widerspruchs (vgl. bes. Met. §§ 11 – 13) und im principium rationis sufficientis, dem Prinzip des (zureichenden) Grundes. Das erste Prinzip (der Identität und) des Widerspruchs garantiert die ontologische Möglichkeit, d. h. die Konsistenz der ›Dinge‹ in sich und miteinander. Das zweite Prinzip, das Grund-Folge-Prinzip des (zureichenden) Grundes garantiert die Wirklichkeit, d. h. die durchgängige Kohärenz des Welt-Nexus der ›Dinge‹.29 6. Zwei Einteilungen des philosophischen Systems und die Doppelfunktion der Ästhe­tik Bei Baumgarten finden sich zwei systematische Einteilungen seines Gedankengebäudes, die mithin zu zwei unterschiedlichen Situierungen der Ästhe­t ik im philosophischen System führen. Entsprechend gehen sie mit zwei verschiedenen Funk­ tionen der Ästhe­tik und ihres Gegenstands, der sinnlichen Erkenntnis, einher. Zwei verschiedene Systemkonzeptionen im Werk eines systematisch ausgerichteten Philosophen erscheinen widersprüchlich, aber nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick wird klar, dass die beiden Systemkonzeptionen nach einem je anderen Einteilungsgrund erfolgen. Im ersten Fall werden Ästhe­t ik und Logik nach der Erkenntnis- und Denkgenese, im zweiten Falle nach ihrem Ort in der Deduktions- oder Ableitungsfolge gemäß dem dictu de omni et nullo situiert. Die beiden Einteilungen gehen mit verschieden gewichteten Funktionen der Ästhe­tik und ihres Gegenstandes, der sinnlichen Erkenntnis (cognitio sensitiva) einher.

27 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis, GP IV, 422 – 426, dort 423. 28 Vgl. auch Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, GP VI, 607 – 623, Punkte 40, 49 – 5 4. 29 Letzteres fasst Baumgarten neu, vgl. zu den Prinzipien Anm. 17.



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Seit ihrer ersten Hervorhebung als eigene »Wissenschaft […] der Ästhe­tik« in Baumgartens Meditationes von 1735 (Med. §§ 115 – 117), deren Gegenstand eine gesondert zu behandelnde Erkenntnisweise ›Aisthesis‹ ist, attestiert Baumgarten der sinnlichen Erkenntnis eine Doppelfunktion.30 Sie ist auf der einen Seite conditio sine qua non aller Erkenntnisse der wirklichen Welt, ihrer Gegenstände und Prozesse und insofern konstitutive Vorstufe jeder höherstufigen wissenschaftlichen Erkenntnis. In diesem Sinne fungiert die Ästhe­tik als Erkenntnistheorie der empirischen Erkenntnis überhaupt, als Ars empirica. Damit kongruieren zwei der vier Alternativbegriffe zu ›Aesthetica‹ in deren Definition in § 1 der Aesthetica, ihre Bezeichnung als »gnoseologia empirica« und »ars analogi rationis«. Auf der anderen Seite bringt das sinnlich-ästhe­t ische Erkennen mit seinen künstlerischen Erzeugnissen Erkenntnisse hervor, die sich zwar als zu wissenschaftlichen Erkenntnissen analoge Hervorbringungen analysieren lassen, aber keineswegs als deren Vorstufen. In Bezug darauf fungiert die Ästhe­tik primär als Kunstphilosophie. Dem entsprechen diejenigen zwei anderen Alternativbegriffe zu ›Aesthetica‹ in deren Definition, wonach die Ästhetik den Bereich einer Theorie der schönen Künste (»theoria liberalium artium«) wie auch einer Begründung und normativen Lehre künstle­r ischen Denkens (»ars pulchre cogitandi«) abdeckt. Die folgenden Abschnitte widmen sich zunächst der Ästhe­t ik als Ars empirica in Baumgartens frühen systematischen Überblickswerken. 7. Systematische Situierung nach der Denkgenese – Aesthetica empirica Im Falle der frühen Systemkonzeption in der Sciagraphia und der Philosophia generalis entwickelt Baumgarten sein Gedankengebäude unter der Rücksicht der Erkenntnisgenese.31 Danach wird die Ästhe­t ik am philosophischen Anfang des Systems ver­ortet, 30 Zur

ambigen Bedeutung des Begriffs der Wissenschaft vgl. Constanze Peres: »Cognitio sensitiva. Zum Verhältnis von Empfindung und Reflexion in A. G. Baumgartens Begründung der Ästhe­tiktheorie«, in: Empfindung und Reflexion. Ein Problem des 18. Jahrhunderts, hg. von Hans Körner, Constanze Peres [u. a.], Hildesheim/Zürich/New York 1986, 5 – 48; vgl. auch z. B. Waltraud Bumann: »Der Wissenschaftsbegriff im deutschen Sprach- und Denkraum«, in: Alwien Diemer (Hg.): Der Wissenschaftsbegriff. Historische und systematische Untersuchungen, Meisenheim 1970, 64 – 75. 31 Innerhalb der Theoretischen und Praktischen Philosophie wird die systematische Anordnung der frühen Entwürfe dann in groben Zügen in Verschränkung mit dem Einteilungsgrund der Deduktion fortgeführt, was aber mit der Einteilung gemäß der Denkgenese zusammengeht. Denn vorausgesetzt, dass die für jedes Denken notwendige Konsistenz gemäß dem principium contradictionis (Met. § 7, Aesth. § 423) gewahrt ist, muss sich die faktische philosophische Denkentwicklung über die Dinge im Grund-Folge-Zusammenhang gemäß dem Grund-Folge-Prinzip der Kohärenz, dem principium rationis et rationati (Met. §§ 20 ff., Met. § 23 ff.), vollziehen. Das heißt an die je grundlegendere Disziplin schließt sich in der philosophischen Denkgenese die betreffende Folgedisziplin an. Sciagraphia und Philosophia generalis (Phil. gen. §§ 146 – 149) stimmen in Bezug auf die Situierung von Ästhe­tik und Logik überein. Sie unterscheiden sich in der Platzierung und numerischen Gewichtung erstens der Theologia naturalis, zweitens der praktischen Philosophie

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sofern sie zusammen mit der Logik das Denkinstrumentarium oder Organon für die Theoretische und Praktische Philosophie bereitstellt. Innerhalb der ›organischen Philosophie‹ stellt die Ästhe­tik die erste Stufe dar, denn in der ›wirklichen‹ Rei­ henfolge der Denkgenese beginnt die menschliche Erkenntnisentwicklung mit der sinnlichen Erkenntnis. Lediglich eine ›vorphilosophische‹ Einführung und die Philologie als ›Wissenschaft von der Sprache überhaupt‹ gehen ihr in der Abfolge voraus.32 Im Überblick stellt sich das System gemäß Denkgenese wie folgt dar:

Status und Funktion von Ästhe­t ik und Logik in der Erkenntnisentwicklung bestehen in diesem Zusammenhang der philosophischen Disziplinen darin, als ars oder ›Lehre‹ Voraussetzung für die Theoretische und Praktische Philosophie zu sein. Daraus erklärt sich auch der instrumentelle propädeutische Status beider Diszi­ pli­nen. Die bis dato nur partielle, aber allein anerkannte streng logische Schulung des philosophischen Denkens erfährt durch Baumgartens Gnoseologia inferior somit eine entscheidende Ergänzung. Sie vervollständigt die bis dahin allein logische Unterweisung zur Ausbildung der gesamten Erkenntnis und verbessert sie, sofern und drittens der Physik oder Naturphilosophie. Ein genauerer Vergleich wird in den Begleittexten zu Baumgarten: Ästhetik/Aesthetica (2016) vorgenommen. 32 Vgl. Sciagr. § 7, §§ 5 – 7 und ab § 25; Phil. gen. §§ 146 f.



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ohnehin jeder (auch logischen) ausgeübten Erkenntnis »notwendig etwas an Verworrenheit beigemischt ist« (Aesth. § 7).33 Schon Leibniz stellt in seiner Monadologie fest, dass die Menschen in ihren Handlungen »zu drei Vierteln reine Empiriker« seien (Monadologie, Abschnitt 34). Und nicht erst Bilfinger fordert 1725, dass »in Bezug auf das Vermögen der sinnlichen Empfindung, der Imagination, der Aufmerksamkeit und der Abstraktion […] das in die Form einer Lehre gebracht werde, was dazu beiträgt, jene Vermögen in ihrem Gebrauch zu leiten & zu fördern; so wie Aristoteles in seinem Organon die Logik oder das Vermögen zu beweisen in eine Ordnung gebracht hat« – »[…] ut in artis formam redigerent, quicquid ad illas in suo usu dirigendas, & et juvandas pertinet & conducit; quemadmodem Aristoteles in organo logicam, sive facultatem demonstrandi redegit in ordinem.« 34

Schon Wolff meldet in seiner Deutschen Meta­phy­sik eine Ars empirica als Desiderat an: »Es ist die Erfahrungs-Kunst so reich an Regeln, daß man einen besondern Theil der Wissenschaft daraus machen kan. Und wäre nicht ohne großen Nutzen, wenn es geschähe, weil wir durch die Erfahrung zu gar vieler Erkäntniß gelangen«.35

Baumgarten verleiht bereits mit seinen frühen Schriften dieser Forderung Nachdruck, indem er die hauptsächliche Zugangsweise des Menschen zur Welt, seine empirische Erfahrung, mit einer erweiterten Logik geschult und vervollkommnet wissen will und dazu auch verschiedene Entwürfe vorlegt.36 Weite Teile dieser ihren Gegenstand übersichtsartig entfaltenden Schriften sind der Lehre des empirischen Erkennens im allgemeinen gewidmet, die Baumgarten in der Philosophia generalis ›Aesthetica empirica‹, übersetzt »ÄSTHETISCHE EMPIRIK , Erfahrungs- und Versuchslehre« nennt (Phil. gen. § 147). Damit lehnt er sich an Wolffs deutschen Terminus »Erfahrungs- und Versuchskunst« für das lateinische ars observandi im ersten Register der Deutschen Meta­phy­sik an.37 Der keineswegs nur kunstrelevante, sondern allseits lebensdurchgreifende und praxisbestimmende Charakter der solcherart zu schulenden sinnlichen Erkenntnis erschließt sich aus den Beispielen, die Baumgarten in seinen ebenfalls um 1740 erschienen Brieffen von Aletheophilus für die »Aesthetische Empirik, oder Kunst seine Erfahrung zu verbeßern« gibt: hierzu die Prolegomena zur Aesthetica, bes. Aesth. § 6. Georg Bilfinger: Dilucidationes philosophicae de Deo, anima humana, mundo et generalibus rerum, Tübingen 1725, § 168. 35 Christian Wolff: Deutsche Metapysik, § 329. 36 Bereits in seinen Meditationen meldet Baumgarten das Desiderat einer Ästhe­t ik an, die er als eine die Vernunftlogik ergänzende Logik der sinnlichen Erkenntnis versteht. Eine solche »aisthetike episteme«, eine »Wissenschaft, welche die unteren Erkenntniskräfte anleitet […] durch welche die sinnlichen Kräfte geschliffen, geschärft und erfolgversprechender zum Nutzen der Welt angewandt werden« sei ein noch »unbestelltes Feld […] in Bezug auf die Gegenstände des sinnlichen Erkennens«, Med. §§ 115 f. 37 Vgl. Christian Wolff: Deutsche Meta­phy­sik, 1. Register; vgl. Met. § 544 und auch § 534. 33 Vgl. 34

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»Anf änglich scheint es, als wenn hier nicht vielmehr zu sagen wäre, als: thue deine Augen auf / und siehe! thue deine Ohren auf / und höre u.s.f. Allein wer etwas tieffer in die Beschaffenheit derer Empfindungen einsieht, wird ein gantz ander Urtheil f ällen […] Wir haben sie alle. Daß sie aber bey dem einen beßer, bey dem andern schlechter seyen, beweist die Empirische Psychologie derer Neuern […]. Einer erf ährt täglich, daß seine Sinne triegen und denckt nicht, daß sie ihn vielleicht allein darin betriegen mögten. Ein andrer erf ährt ihre Unfehlbarkeit durch sehr betriegliche Mittel. […] Einen lehrt die tägliche Erfahrung, daß die Menschen in zukünfftigen Dingen gantz blind seyn, und ein andrer hat in eben der Schule gelernt, daß er täglich viele hundert zukünfftige Sachen entdecket, wenn er gleich kein Prophet ist […]. Dieser klaget, daß er gar kein Gedächtnis habe, weil er einerley Zinsen zweymahl gefordert, indem er seinen ihm vor 70. Jahren gegebenen Nahmen einer Quittung unterschreibt«.38

Aus der Sciagraphia, der Philosophia generalis wie auch der Acroasis logica kann rekonstruiert werden, dass die ästhe­tische Ars empirica die Voraussetzung für die naturwissenschaftliche Erforschung der phys(ikal)ischen Körper und Prozesse darstellt, sofern diese empirisch erfassbar sind. Das heißt, sie ist die epistemische Basis für denjenigen Bereich der theoretischen Philosophie, den Baumgarten Physica, in seiner deutschen Übersetzung »die Physik, die Naturwissenschaft«, nennt.39 Die methodische Vermittlung leistet die im engeren Sinne logische Ars empirica, welche die in der ästhe­t ischen Ars empirica situierte Schulung und Ausbildung der zwölf sinnlichen Erkenntnisvermögen, d. h. der ›normalen‹ sensitiven und sensiblen Erfahrung des Menschen, methodisch zu naturwissenschaftlichen Verfahren ausbauen soll, so dass allgemeine empirische zu naturwissenschaftlichen Gegenständen der Physik werden. Baumgarten setzt in seiner Logik die ›normale‹ Empirie und die logisch begründete, naturwissenschaftlich genutzte Empirie in ein Verhältnis, indem er die observatio (von ihm übersetzt mit »Beobachtung«) und das experimentum/›Experiment‹ (von ihm übersetzt mit »Versuch«) unterscheidet. Unter ›Beobachtung‹ ist danach die beiläufige Erfahrung ohne ein spezifisches Ziel etwa im Sinne der Alltagserfahrung zu verstehen, unter ›Versuch‹ hingegen eine vernunftgeleitete, absichtsvolle Erfahrung, eine methodische Versuchsanordnung mit spezifischen Erkenntniszielen (vgl. Acr. log. § 329).40 Würden sich eine ausgearbeitete Ars empirica aesthetica mit gnoseologischem Schwerpunkt und eine methodologisch entfaltete Ars empirica logica dieser kognitiven Verfahren anneh38 Philos.

Brieffe, 2. Brief, 7 f. Phil. gen. §§ 147 f.; Sciagr., Kap. I, Abschn. II, §§ 26 – 89 sowie Sciagr., Kap. IV, § 228, vgl. Sciagr. §§ 228 – 279. 40 Meier stellt die Parallele beider Artes empiricae in seinen Anfangsgründen heraus: »Die Erfahrungskunst (empirica) ist die Wissenschaft der Erfahrungen. Sie ist entweder die logische Erfahrungskunst, oder die ästhe­tische (empirica logica & aesthetica). Jene handelt von den Erfahrungen, in so ferne sie deutlich sind, und die komt in allen Vernunftlehren vor; diese handelt von den Erfahrungen, in so ferne sie sinnlich und undeutlich sind […]«, Meier: Anfangsgründe, Bd. 2, § 344 (Hervorhebungen im Orig.). 39 Vgl.



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men, so könnten sie der induktiven Erkenntnisweise der Naturwissenschaft ein umfassendes ›Erkenntnis- und Verfahrensinstrument‹ an die Hand geben.41

7.1 Mantische Zukunftsahnung und Naturwissenschaft Dass die primär, wie man heute sagen würde, wissenschaftstheoretische Funktion der Ars empirica aesthetica darin besteht, die sinnliche Erkenntnis als Basis- und Vorform für die Verstandes- und Vernunftoperationen zu erforschen und auszubilden, lässt sich exemplarisch in Baumgartens früheren Schriften an seiner Behandlung menschlichen Zukunftswissens rekonstruieren. Baumgarten räumt dort den Formen ahnender Voraussicht einen unverhältnismäßig großen Umfang ein. Bereits die Zeitgenossen waren von seiner ausufernden ›Mantica‹ befremdet.42 In der Tat hat Baumgarten im Rahmen der insgesamt 279 Paragraphen seines großen Systemüberblicks in der Sciagraphia allein der Aufzählung prognostischer Praktiken in der Ästhe­t ik 47 Paragraphen gewidmet, d. h. einem einzigen Unterpunkt einer einzigen Disziplin. Druiden- und Orakeläußerungen unterschiedlichster Art, alle nur denkbaren Naturphänomene im Bereich der vier Elemente, der physischen Beschaffenheiten und Bewegungen aller Lebewesen, der Gestirne etc. werden als deutbare Zukunftszeichen, die entsprechenden (antiken) Praktiken als mantische Techniken aufgelistet. Auf der anderen Seite vertritt Baumgarten eindeutig die aufgeklärte Haltung, dass die Praktiken antiker Zeichendeutung und Wahrsagerei zu den ›Schatten der abergläubischen Vorstellungen‹ (umbrae superstitionum) gehören und allein das wahre ›Licht der Natur‹ (lumen naturae), d. h. der natürliche Ablauf der Dinge und seine wissenschaftliche Deutung maßgeblich für relevante, auch prognostische, Erkenntnisse über die Welt sind (vgl. z. B. Aesth. §§ 655, § 35 u.ö.). Sein ungewöhnlicher Schwerpunkt auf der Mantik kann deshalb, und zudem vor dem Hintergrund seiner Leidenschaft für die Antike, einerseits eher als wissens­ geschichtliches Interesse an immer schon irgendwie vorhandenen Formen von kognitiver Zukunftsorientierung ausgelegt werden. Andererseits gibt es aber auch einen sachlichen Kern, der sich z. B. aus der Ästhe­t ikvorlesungsmitschrift erschließt. Dort wird gegen das Vorurteil, eine Zukunftseinsicht sei überhaupt nicht möglich, die mantische »Denkungsart« angeführt und als ein vernünftig zu betrachtendes 41 Eine logische Ars empirica hat Baumgarten selbst nur in einzelnen Passagen der Acroasis logica behandelt, vgl. Acr. log. §§ 14, 329 ff., vgl. Phil. gen. § 147; Eth. § 224; für eine ästhe­tische Ars empirica und ihre Unterthemen in der späteren, ausgearbeiteten Aesthetica von 1750/1758 gilt, sofern sie den Schwerpunkt auf die künstlerisch-ästhe­t ische Erkenntnis legt, Ähnliches; vgl. aber Aesth. § 420, sowie z. B. Aesth. §§ 1, 11, 16, 22, 54 u. ö. 42 So gesteht Johann Christian Foerster in seinem 1769 verfassten Vorwort zu der von ihm postum herausgegebenen Philosophia generalis Baumgartens, er habe mit dem Gedanken gespielt, die von Baumgarten in der Philosophia generalis, § 147 und in Sciagr. §§ 39 – 72 minutiös unterteilten mantischen »Skurrilitäten der Alten« in der Edition einfach fortzulassen; vgl. Phil. gen., Praef. a3.

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Vermögen qualifiziert (»Kollegnachschrift über die Ästhe­tik«, § 580). Das bezieht sich zum einen auf die im engeren Sinne ästhe­tische Anwendung dieses Vermögens, die es dem künstlerischen Subjekt gestattet, im Erschaffen seines Werkes das spätere Verstehen und damit die mögliche lebendige Wirksamkeit auf zukünftige Rezipienten vorherzusehen (vgl. Aesth. § 35). Zum anderen geht es Baumgarten in metaphysischer Hinsicht darum, aufzuzeigen, dass in einem »System der […] vergangenen und gegenwärtigen, […] auch der zum größten Teil noch zu erwartenden Begebenheiten« (Aesth. § 414), d. h. in einem prästabilierten Weltzusammenhang, innerhalb dessen »aus dem mit dem Vergangenen schwangeren Gegenwärtigen das Zukünftige geboren« wird (Met. § 596), eine begründete Einsicht in zukünftige Ereignisse möglich ist.43 Auf der psychologischen Ebene legt Baumgarten diese Fähigkeit zu einem Zukunftswissen ausführlich in den betreffenden Abschnitten über die Erkenntnisvermögen der praevisio und praesagitio dar (Met., Teil III, Abschnitte VII und X). Nach dem eben zitierten Ästhe­tikparagraphen Aesth. § 414 soll deshalb auch ein ästhe­tisch großrahmig denkendes Gemüt ein metaphysisches Wissen sowie ein »genauestes Bewußtsein« und eine »innerste Überzeugung« von dem lückenlosen Zusammenhang aller neben- und nacheinander bestehenden Begebenheiten haben, die in der »besten aller möglichen Welten« durch ihr Grund-Folge-Verhältnis in einem Seinskontinuum stehen (Aesth. § 414). Wenn nun aber in einer so verfassten Meta­phy­sik ein Wissen über zukünftige Weltverläufe möglich ist, so hat dies seinen Ort in der Physik (oder Naturwissenschaft und -philosophie), die wiederum aus der Metaphysica specialis von der Welt, der ›Kosmologie‹, abgeleitet ist. Und hier kann man in ›materialer‹ Hinsicht erstaunliche Überschneidungen zwischen ästhe­tischer Mantik und philosophischer Physik konstatieren. Es zeigt sich, dass beide in vielfacher Hinsicht gemeinsame Gegenstände anzielen. Die Mantik als Zeichenkunde der Vorbedeutungen interpretiert sinnlich erfahrbare Phänomene als Vorzeichen für zukünftige Begebenheiten (vgl. Met. § 349, Sciagr. §§ 32 f.), so z. B. Naturphänomene aus dem Bereich der vier Elemente Wasser, Feuer, Erde, Luft, aus Pflanzen oder allem, was mit menschlichen und tierischen Körpern zusammenhängt. Eben solche Naturphänomene sind aber auch die Forschungsgegenstände einer auf der empirischen Beobachtung fußenden wissenschaftlichen Auswertung seitens der Naturwissenschaft und -philosophie, deren Untersuchungsgegenstand nach Sciagr. § 228 der Kausalitätszusammenhang der Körper dieser Welt, ihrer Prozesse und Zustände ist. Als Beispielgegenstände sind in der untenstehenden Graphik erstens Himmelsphänomene herausgegriffen. Sie werden u. a. in der mantischen Astrologie und Horo­ skopie als Zukunftszeichen gedeutet (Sciagr. §§ 35 f.) und in der wissenschaftlichen 43 Baumgarten paraphrasiert damit Leibniz’ mehrfach geäußerten Satz, wonach in der prästabiliert harmonischen Welt ›die Gegenwart mit der Vergangenheit erfüllt und mit der Zukunft schwanger‹ ist; vgl. z. B. in Leibniz’ Monadologie, Abschn. 22, GP VI, 610; vgl. GP III, 66 (Leibniz an Bayle).



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Naturphilosophie in ihrem ›Zusammenhang der Ursachen und Wirkungen‹ (Sciagr. §§ 228 ff.; Met. §§ 335, 358) erforscht. Alle Arten von Gewässern sind, zweitens, Gegenstand der mantischen Hydromantie (Sciagr. §§ 52 ff.) und der naturwissenschaftlichen Hydrologie (Sciagr. § 242). Die Gegenstände und Beschaffenheiten der Erde sind, drittens, Deutungsobjekt der Geomantie (Sciagr. § 46) und Gegenstände der wissenschaftlichen Deutung, z. B. der Mineralogie (Sciagr. §§  250 ff.). Viertens wird die Luft, z. B. mit ihren Winden, Schallwellen, von der Aeromantie auf ihre Zukunftsaussagekraft hin interpretiert (Sciagr. § 57) und von der Aerologie naturwissenschaftlich erforscht (Sciagr. §§ 239 f.). Lebendige Körper z. B. von Tieren sowie ihre Organe sind, fünftens, Gegenstand der mantischen Tyoskopie, z. B. in der Hepatoskopie oder Leberschau (Sciagr. §§ 62 und 63 ff., vgl. Phil. gen. § 147), und im naturwissenschaftlichen Sinne der anatomischen Zootomie (Sciagr. § 266). Menschliche Körper schließlich sind, sechstens, Objekte der Zukunftsdeutung in der Anthro­pomantie (Sciagr. §§ 66 ff.), in naturwissenschaftlicher Hinsicht der anatomischen Anthropotomie (Sciagr. §§ 266 ff.). Alle sich auf diese und viele andere Gegenstände beziehenden mantischen wie auch naturwissenschaftlichen Erkenntnis- und Deutungsbereiche fächert Baumgarten überaus differenziert bis hin zu entlegensten Subgegenständen auf. Auch wenn es also in ›materialer‹ Hinsicht vielfache Überschneidungen zwischen Ästhe­t ik und Naturwissenschaft gibt, so sind sie doch in ›formaler‹ Hinsicht, d. h. in Bezug auf die Art und Weise ihrer Erkenntnis, höchst unterschiedlich. Zwar bedienen sich beide der empirischen Daten als Zeichen und ›Mittel‹ der Erkenntnis des Wirklichen (vgl. Met. § 347).44 Aber die Mantik schärft und schult die sinnlichen prognostischen Erkenntnisvermögen, vorauszusehen, Zukünftiges zu erwarten und zu erahnen sowie sinnliche Zeichen differenziert wahrzunehmen und entsprechend zu deuten. In ihr wird ein vortheoretischer Erkenntnisbereich der Empirie sozusagen als ›Instrument‹ für die Naturwissenschaft und -philosophie vorbereitet. Letztere zielt zwar die im weiteren Sinne ›selben‹ Gegenstandsbereiche an, verwendet aber für die Ermittlung und theoretische Auswertung der empirischen Daten die Verfahren der ›oberen‹ Erkenntnisvermögen. Dieser Zusammenhang von mantischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnis findet seine Bestätigung bei Meier. Er hält einerseits wie Baumgarten die aufgeklärte Kritik an irrationalen oder abergläubischen mantischen Praktiken für unabdingbar,45 weist aber andererseits explizit darauf hin, dass auch die ästhe­t isch-empirische Zeichendeutung bereits wissenschaftlichen Charakter haben kann. Er macht dies am Beispiel der ärztlichen Diagnostik und Therapie fest, d. h. an der Zeichendeutung von Symptomen und zukünftigen Krankheitsverläufen, und empfiehlt hierfür die 44 Zur

Bedeutung der semiotischen Ausrichtung Baumgartens vgl. z. B. Ursula Franke: »Die Semiotik als Abschluß der Ästhe­t ik. A. G. Baumgartens Bestimmung der Semiotik als ästhe­t ische Propädeutik«, in: Zeitschrift für Semiotik 1 (1979), 345 – 359; Constanze Peres: »Komplexität und Mangel ästhe­t ischer Zeichen. Baumgartens (proto)semiotische Theorie und Goodmans Symptome der Kunst«, in: Studia Leibnitiana 32/2 (2000), 215 – 236. 45 Vgl. Meier: Anfangsgründe, Bd. 2, § 501, 577 f.

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nüchterne Inanspruchnahme und Einübung der Interpretation von zukunftsverweisenden Zeichen für die empirischen Wissenschaften.46 Im Überblick stellt sich die exemplarisch rekonstruierte Struktur wie folgt dar:

7.2 Zukunftswissen und Induktion Als organische Wissenschaft stellt die Ästhe­t ik den theoretischen und praktischen Disziplinen durch die Schulung aller sinnlichen Erkenntnisvermögen ein geschärftes empirisches Instrumentarium zur Verfügung. In dieser erkenntnisgenetischen Hinsicht ist sie auch die eigentliche ›ältere Schwester‹ (soror maior natu) der wissenschaftsgeschichtlich älteren Logik (»Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, § 1; vgl. Aesth. § 13); sie geht ihr demnach voraus und bereitet sie vor. Vgl. z. B. Wolfgang Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt a. M. 1996, bes. 7 – 4 6. In Kap. 4 behandelt Hogrebe den Philosophen ­Justus Christian Hennings als ›Entdecker der Ahnung in der Auf klärung‹. Dessen maßgebliche Schriften erschienen jedoch erst 1777, also knapp vierzig Jahre nach Baumgartens empirisch psychologischer Untersuchung der Voraussicht und Ahnung in der Meta­phy­sik und gut sieben Jahre später als die dazu publizierten Überblickswerke Sciagraphia und Philosophia generalis. 46



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So kann zwar die schlichte und beiläufige sinnliche Erfassung der observatio (s. o.) vielleicht in der Ästhe­t ik geschult und differenziert werden. Um aber zum wissenschaftlichen Verfahrensschritt zu werden, muss sie zum in der Logik methodologisch begründeten experimentum, d. h. zu einer vernunftgeleiteten Versuchsanordnung ausgearbeitet werden (vgl. Acr. log. § 329). Analog kann die schon in schlichten ästhe­tisch-empirischen Akten nach dem lex exspectationis casuum similium praktizierte »Erwartung ähnlicher Fälle« (exspectatio casuum similium, Met. § 612) als Vorform induktiver Forschung und wissenschaftlich begründeter Prognostik aufgefasst werden.47 Bereits Leibniz stellt eine Parallele zwischen der unsere Lebenspraxis durchziehenden Erwartung ähnlicher Fälle und z. B. astronomischen Voraussagen her. Die Erwartung ähnlicher Fälle, die bereits Tieren eigen ist, besteht in der vernunftähnlichen empirischen Schlussfolgerung, dass etwas, das wir vielfach erfahren haben, so oder ähnlich künftig wieder eintreffen wird. So erwarten wir aufgrund der rein empirischen Folgerung aus ähnlichen Fällen, in denen es z. B. am Morgen hell wurde, dass auch ›morgen ein neuer Tag anbricht‹. Ein Astronom hingegen schlussfolgert diese Erwartung wissenschaftlich begründet.48 Wenn Baumgarten schreibt: »ein andrer hat […] gelernt, dass er täglich viele hundert zukünftige Sachen entdecket, wenn er gleich kein Prophet ist […]« (Philos. Brieffe, Brief 2, 7 f.), so verweist das auf den basalen Stellenwert der ›Erwartung ähnlicher Fälle‹, die als zentrale empirische Erkenntnisweise Alltag und Lebenswirklichkeit durchgreift. Bei den ›Fällen‹ handelt es sich, ontologisch gesehen, um singuläre Ereignisse oder Prozesse, d. h. um individuelle Entitäten, die per definitionem nur der sinn­ lichen Erkenntnis zur Verfügung stehen und wegen ihrer durchgängigen Bestimmtheit als entia omnimode determinata, aber auch dieser nur bedingt und begrenzt zugänglich sind.49 Die ›Methode der Empiriker‹ ist also verbesserungsbedürftig und muss durch die »Methode des Witzes« ergänzt werden (Acr. log. § 295). Danach erfasst und ggf. beschreibt das erkennende Subjekt in der ›Erwartung ähnlicher Fälle‹ vermöge seiner sinnlichen Empfindung (sensus, sensatio) einen je gegenwärtigen Einzelfall. Diesen vergleicht es mittels seines Vermögens, Ähnlichkeiten Anfangsgründe, Bd. 2, § 501: »Die Mantic, (mantica) ist die Wissenschaft oder Kunst, welche die Regeln der Verbesserung und des Gebrauchs des Vermögens zu vermuthen enthält […,] wer wollte aber deswegen, alle Vermuthungen und die ganze Mantic verdammen, und unter die Hirngespinste rechnen, weil es so viele lächerliche mantische Künste, und so viele Irrthümer in den Vermuthungen der Menschen gibt?«; Meier: Anfangsgründe, Bd. 2, § 505: »[…] so darf ich mich nur auf die Semiotic der Aerzte, auf die Vorherverkündigungen der Sternseher, und auf die natürliche Astrologie berufen. Ein erfahrner Arzt kan, die künftigen Zuf älle seines Patienten, vorhersagen, und eben das kan der Sternseher und Naturkündiger, in Absicht auf viele Begebenheiten in dem Reiche der Natur thun. es wäre demnach gut, wenn man die Regeln dieser Vermuthungen abstrahirte, so würde man vielleicht viele nützliche Entdeckungen machen«; vgl. Constanze Peres: »Zukunftswissen – Prognose und Fiktion«, in: Die Zukunft des Wissens. XVIII. Deutscher Kongress für Philosophie, hg. von Jürgen Mittelstraß, Konstanz 1999, 1338 – 1345. 48 Vgl. Leibniz: Monadologie, Abschn. 26. 49 Vgl. Met. § 148 und §§ 53, 544, 751, 914; Aesth. § 304, 561; Med. § 19; Acr. log. § 425. 47 Meier:

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in Verschiedenem zu entdecken (Witz und Scharfsinn/ingenium und acumen) mit Vorstellungen von vergangenen ähnlichen Fällen (imaginationes), die das Subjekt kraft seines Erinnerungsvermögens (memoria) abrufen kann, um auf der Basis der entdeckten Übereinstimmungen in einer Art von empirischer Schlussfolgerung dank der praevisio und praesagitio ähnliche Fälle in der Zukunft vorauszusehen, zu vermuten und zu erwarten.50 Die Methode wissenschaftlichen empirischen Denkens, und insbesondere der Induktion, baut zwar auf der Erwartung ähnlicher Fälle auf, unterscheidet sich aber, wie aus Baumgartens Logik, insbesondere der Behandlung der Induktion im Rahmen der Syllogistik (Kap. 4) und der empirischen Heuristik (Kap. 5), hervorgeht, in einer ganzen Reihe von Punkten. Ziel der Induktion ist es nicht, einzelnes, sondern neues verallgemeinerbares, d. h. bewiesenes (und weiter beweisbares) empirisches Zukunftswissen zu finden. Dies geschieht auf dem Weg vernunftgeleiteter Erfahrung, Beschreibung, Analyse, Vergleichung und Übereinstimmung einzelner Entitäten (›Fälle‹), wie sie in den gezielt generierten (›absichtsvollen‹) Erfahrungen von Experimenten vorliegen, d. h. in Versuchsanordnungen mit spezifischen Erkenntniszielen. Wenn somit aus ›einzelnen Erfahrungsurteilen […] allgemeine Urteile‹ gebildet werden, liegt das Verfahren der Induktion vor (vgl. Acr. log. § 332). Die allgemeine Urteilsbildung erfolgt aufgrund der vernünftigen Schlussfolgerung eines Typs, der in der logischen Syllogistik seine formale Grundlage hat. Dies ist nach Baumgarten das Enthymem, der unvollständige Schluss, in dem in der Regel die Maior (der allgemeine Obersatz) fehlt. In induktiven Verfahren, die aus singulären Erfahrungssätzen (iudicia intuitiva singularia) allgemeine Urteile (iudicia universalia) folgern, ist nur eine begrenzte, annähernde Beweisbarkeit im Sinne maximaler Wahrscheinlichkeit möglich, denn für das Erzielen induktiver Wahrheit im strengen Sinne wäre eine vollständige Induktion (inductio completa) notwendig (vgl. Acr. log. § 267). Baumgarten definiert sie dadurch, dass in ihr alle Einzelfälle, aus denen die allgemeine Erkenntnis gefolgert wird, erfasst werden. Da dies im universalen dynamischen Zusammenhang aller Entitäten nicht möglich ist, kann in induktiven Verfahren keine vollständige Wahrscheinlichkeit erreicht werden. Faktisch kann der Mensch also ausschließlich zu einer unvollständigen Induktion gelangen, die nur zu der graduellen Evidenz führt, dass ähnliche Fälle erwartet werden können. Den Grad dieser unvollkommenen Wahrscheinlichkeit legt Baumgarten quantitativ fest. Erst wenn mindestens 50 Prozent aller relevanten Einzelfälle erfasst und in Erfahrungsurteilen als Untersätzen des Enthymems formuliert werden, kann die aus ihnen gezogene Schlussfolgerung wissenschaftlich als wahrscheinlich anerkannt werden. Oder anders ausgedrückt: Aus je mehr Einzelfällen über der 50-Prozent-Grenze eine allgemeine Erkenntnis gefolgert wird, desto graduell wahrscheinlicher ist sie.51 50 Met. §§ 610, 612, 617, 640 und überhaupt Met., Teil III, Abschn. II – VI, VII, X , vgl. auch Abschn. XI. 51 Vgl. zu diesem Zusammenhang in der Logik bes. Acr. log. §§ 218, 332 – 333, 263, 266 f., 296, 318, 331 und Kap. IV; vgl. Phil. gen. §§ 73, 103.



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Umso wichtiger ist die ästhe­tisch-empirische Grundlage, die betreffenden einzelnen Fälle überhaupt entdecken, differenziert als solche erfassen, unterscheiden und vergleichen, sowie als relevant für eine Erwartung ähnlicher zukünftiger Fälle einstufen zu können. Dies ist die Kompetenz des sinnlichen Erkennens. Wichtig und neu ist an Baumgartens Konzeption dieser Seite der sinnlichen Erkenntnis, dass damit überhaupt – wie schon bei Leibniz der Struktur nach grundgelegt 52 – der Empirie im Kontinuum der Erkenntnis in diachroner Hinsicht eine epistemologisch konstitutive Rolle und Wahrheitsfähigkeit zugewiesen wird (vgl. Aesth. § 7: »Morgendämmerung«). Sofern sie als Basisperzeption der einzelnen Seienden der wirklichen Welt die empirischen Daten für die induktiven Verfahren der Naturwissenschaft liefert, muss die sinnlich-empirische Erkenntnis, um den bereits in den ersten Schritten der Erkenntnisgenese innewohnenden Fehlerquellen vorzubeugen, durch eine eigene Wissenschaft/scientia wohlbegründet in einer eigenen Lehre/ars geschärft, verfeinert, ausgebildet und methodisch unterwiesen werden. 8. Die Systemeinteilung nach dem deduktiven Prinzip Die andere Systemkonzeption, die in § 7 der Acroasis logica entworfen wird, basiert auf einer deduktiven Begründungsstruktur, die in ihrer groben Struktur dem dictum de omni (et nullo) folgt.53 Dieser ›Satz von allem (und nichts)‹ ist zentral für Wolffs Philosophie und wird auch vielfach in Baumgartens Schriften einschließlich der Ästhe­t ik zur Anwendung gebracht. In der affirmativen Form gilt danach dasjenige, was vom Allgemeinen ausgesagt werden kann, notwendig auch für jedes Speziellere, das unter dieses Allgemeine fällt. So bezeichnet Baumgarten das dictum de omni et nullo in seiner Logik als ›Fundament des Syllogismus‹.54 Das erklärt sich dadurch, dass im Syllogismus für eine korrekte Schlussfolgerungsbeziehung aus den Prämissen die Minor, d. h. der speziellere Untersatz unter die Maior, d. h. den allgemeineren Obersatz fallen muss (z. B. Os: ›Alle Menschen sind sterblich‹ – Us: ›Sokrates ist ein Mensch‹ – Concl: ›Also ist Sokrates sterblich‹). Als Prinzip der Ableitungsbeziehung stellt das dictum de omni (et nullo) den leitenden Einteilungsgrundsatz des von Baumgarten deduktiv aufgebauten Systems bereit. Im Überblick lässt sich diese Systemeinteilung gemäß Acr. log. § 7 wie folgt rekonstruieren:

52 Vgl.

Leibniz, GP IV, 423 f. artikuliert es in Acr. log. §§ 213 f.; Met. § 154. ›In der groben Struktur‹ heißt hier, dass innerhalb einiger Subunterteilungen andere Einteilungsprinzipien zugrunde liegen. Es wird z. B. genauer zu klären sein, wie sich innerhalb der Metaphysica specialis die modalontologische Ableitung des kontingenten Seienden des Welt aus dem notwendigen Seienden Gottes und demzufolge der Cosmologia aus der Theologia naturalis zum dictum de omni et nullo verhält, was aber hier zu weit führen würde. 54 Vgl. dazu Acr. log. §§ 214, 218, 233; Wolff: Lateinische Logik, § 346. 53 Baumgarten

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8.1 Vertikale Ableitungsstruktur Nach dieser Einteilung in Baumgartens Acroasis logica wird in der direkten vertikalen Ableitung aus der Metaphysica generalis oder Ontologie als der allgemeinsten ›Grundwissenschaft‹ vom Seienden überhaupt und den Erkenntnisprinzipien des Seienden die Metaphysica specialis deduziert. In der Reihenfolge ihrer drei Gebiete steht, umgekehrt zur Systemeinteilung gemäß der Denkgenese (s. o.), die Theologia naturalis an erster Stelle, weil aus Gott als dem notwendigen (und absoluten) Seienden das kontingente (und relative) Seiende der Welt abzuleiten ist. Die Welt, der Kosmos oder das Universum ist in seiner Kontingenz die Gesamtheit aller Körper und Geister. So wie also aus der Philosophie von Gott an zweiter Stelle die Cosmologia, die Philosophie von der Welt deduziert wird, so wird aus dieser an dritter Stelle der Metaphysica specialis der Teilbereich der Pneumatik abgeleitet, die alle Geister, auch z. B. Dämonen und Engel umfasst. Aus dieser allgemeinen Philosophie der Geister schließlich wird nach dem dictum de omni et nullo die speziellere Psychologie als Meta­phy­sik der menschlichen Geistseele deduziert. Die Psychologie wiederum ist in die ›besonderen‹ Teilgebiete der Rationalen und der Empirischen Psychologie unterschieden, wobei in der ersteren als ihr Hauptgegenstand die Unsterblichkeit der Seele behandelt und vernünftig-folgerichtig (›rational‹) begründet wird. In der letzteren hingegen legt Baumgarten eine differenzierte Beschreibung (›empirisch‹) aller menschlichen Seelenvermögen vor.



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Die menschliche Seele bestimmt Baumgarten hier grundlegend als »vis repraesentativa huius universi«, als »eine Kraft, dieses Universum zu vergegenwärtigen« (bes. Met. §§ 507, 513 u. ö.). Das repraesentare bzw. percipere und das appetere als die in der Monadenontologie schlechthin grundlegende Strukturen eines jeden Seienden werden in Baumgartens Psychologia empirica für und auf den Menschen hin deduziert und geben auch die sachliche Unterteilung der Disziplin vor:55 Nach einer kurzen allgemeinen Einführung in die Beschaffenheit der menschlichen Seele werden deren Vermögen aufgeteilt in ›‫ )א‬Erkenntnisvermögen ( facultates cognoscitivae)‹ und ›‫ )ב‬Strebevermögen ( facultates appetitivae)‹; in Abschnitt II–XI beschreibt und analysiert Baumgarten die unteren, in Abschnitt XII die oberen Erkenntnisvermögen; ab Abschnitt XV, ebenfalls vorbereitet von allgemeinen Abschnitten XIIII –XVI zu den Gemütskräften, in Abschnitt XVII die unteren, in Abschnitt XVIII die oberen Strebe- und Begehrungsvermögen (vgl. auch Met., Synopsis).56 In dem in der Logik deduktiv eingeteilten philosophischen System Baumgartens wird nun aus der Empirischen Psychologie der Erkenntnisvermögen die Logik im weiteren Sinne als Erkenntnistheorie und -lehre überhaupt deduziert; aus der Psychologie der ›unteren‹ Erkenntnisvermögen die Ästhe­tik, aus der Psychologie der ›oberen‹ Erkenntnisvermögen die Logik im engeren Sinne. Nach diesen beiden wiederum folgt aus der der Empirischen Psychologie der Strebevermögen die das Streben und Handeln betreffende praktische Philosophie. In dieser Systemkonzeption sind die Erkenntnistheorien Ästhe­t ik und Logik gegenüber der ersten Systemkonzeption nicht in ihrer Instrumentalfunktion am Anfang, sondern am Ende der systematischen Ableitung verortet. Der Abfolge nach führt Baumgarten Ästhe­t ik und Logik in Acr. log. § 7 vor der Praktischen Philosophie auf, so, wie er in der Empirischen Pschologie die Vermögen des percipere vor denen des appetere behandelt. Der Deduktionsbeziehung nach sind sie allerdings, wie im schematischen Überblick dargestellt, auf einer parallelen systematischen Ebene angesiedelt. 8.2 Gegenstands- und themenbezogene Ableitungen für die Ästhe­tik als Kunstphilosophie Auch innerhalb dieser deduktiven Struktur lassen sich aber, wie die auf der linken Seite befindlichen gebogenen Ableitungspfeile in der Graphik auf S. 110 kenntlich machen, zahlreiche direkte und speziellere sub-deduktive Beziehungen wie auch Baumgarten verwendet, wie Met. § 510 belegt, die Ausdrücke zumindest im weiteren Sinne synonym. Vgl. zu perceptio und appetitus als den Grundkonstituentia der Monade Leibniz: Monadologie, Abschn. 1 ff., bes. Abschn. 14 f. und 16 – 30. Vgl. Met., in Abschnitt II -XI die unteren, in Abschnitt XII die oberen Erkenntnisvermögen; ab Abschn. XV, vorbereitet von den allgemeinen Abschn. XIIII -XVI, in Abschn. XVII die Beschreibung der unteren, in Abschn. XVIII der oberen Strebe- und Begehrungsvermögen. 56 Vgl. zum percipere bes. Met. §§ 510, 512, 520, 525, 529, 546, 563, 567, 571 – 575, 578 f., 581, 589 – 591, 605 – 607, 610, 614 f., 617, 619 f., 627, 629, 640, 651, 674, 743, 751, zum appetere bes. Met. §§ 663, 683, 712, 719, 741, 894. 55

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Analogien und wechselseitige Prägungen zwischen den anderen philosophischen Disziplinen und der Ästhe­tik ausmachen (die sich natürlich auch für die anderen Disziplinen aufzeigen ließen). Dies kann hier nur skizziert und beispielhaft dargestellt werden. Den unmittelbaren Anschluss hat die Aesthetica an die Empirische Psychologie der Erkenntnisvermögen, aus der sie ihre sogenannte ›natürliche Ästhe­t ik‹, d. h. ihre Darstellung aller für die ästhe­t ische Erkenntnis relevanten Erkenntnis- und Strebevermögen herleitet. Darauf wiederum baut Baumgarten die natur- und lehrgerechten Übungen sowie alle zu lehrenden und zu lernenden Erkenntnisvoraussetzungen auf, um in der Folge primär die Bedingungen ihrer Verwirklichung, d. h. ihrer Umsetzung in das künstlerische Handeln und seine Erzeugnisse sowie (sekundär) deren ästhe­t ische Beurteilung zu untersuchen (vgl. Aesth., Abschn. II–III; IV–VII). Zugleich erfüllt die Ästhe­t ik als Disziplin damit eine ethische Aufgabe. Sie trägt dazu bei, dass der Mensch seiner gottgegebenen Verpflichtung sich selbst gegenüber nachkommt. Diese besteht darin, seine ästhe­tische Disposition und Bestimmung in höchstem Maße Realität werden zu lassen, d. h. maximal zu vervollkommnen (vgl. Eth., Teil I, Kap. II, Abschnitt V: Die Pflichten gegenüber dem Analogon der Vernunft; Eth. §§ 201 – 220). Im Einzelnen kommen Gedanken aus der Ethik vor allem in den Abschnitten zur Größe und Würde zum Tragen.57 Bezüge dieser Art zu gleichsam parallel situierten Disziplinen können vielfach zur Logik nachgewiesen werden, wie bereits oben im Rahmen der Systemordnung gemäß der Denkgenese dargestellt wurde. Sie betreffen die analoge Unterteilung in natürliche und künstliche wie auch theoretische und praktische Logik (Acr. log. §§ 9 – 14), die Begriffs-, Urteils- und Schlusslehre (Acr. log., Kap. 1 – 4) ebenso wie z. B. die logische Heuristik a posteriori (Acr. log., Kap. 5) und die Hermeneutik (Acr. log., Kap. 12), die Beurteilungs-, Wahrheits- und Kräftelehre (Acr. log., Kap. 7 – 10) usw. Die Ontologie ist in jeder Hinsicht, auch terminologisch, die Grundlage für die Ästhe­tik, wie sich in allen Teilen zeigen lässt, vor allem aber in den Abschnitten zum Reichtum und zur ästhe­tischen Wahrheit. Das Zentrum der Aesthetica, die Einführung und Begründung der ästhe­tischen Wahrheit, innerhalb deren Baumgarten am ausführlichsten seine Wahrheitstheorie überhaupt darlegt, beruht auf den in § 423 der Ästhe­t ik explizit aus Leibniz’ Theodicée entlehnten beiden Grundprinzipien ›der Identität und des Widerspruchs‹ und ›des zureichenden Grundes‹, die wiederum Ausgangspunkt und Grundlage der Ontologie und damit der gesamten Meta­phy­sik Baumgartens bilden. Davon zeugen insbesondere Baumgartens ausführliche modalontologische Ausführungen zur genaueren Strukturierung der ästhe­t ischen Wahrheit des Individuellen und des Fiktionalen.58 Aesth., Abschn. XV –  X XVI. bes. Aesth., Abschn. XXVII, XXIV, XXXIV –  X XXVI und Abschn. XXX –  X XXII. Zum Begriff der Wahrheit im Gesamtzusammenhang der Philosophie Baumgartens vgl. den jüngst erschienenen, sehr instruktiven Aufsatz von Armin Emmel: »Logische, ästhe­tische und metaphysische Wahrheit bei Alexander Gottlieb Baumgarten«, in: Identität – Logik – Kritik, hg. 57 Vgl. 58 Vgl.



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Aus seiner Theologia naturalis leitet Baumgarten beispielsweise den Gedanken der künstlerischen Quasi-Schöpfung einer ›Welt‹ und des Wissens möglicher Welten (scientia media) ab. Analog zu Gottes Weltschöpfung aus sich selbst, innerhalb deren er aus dem Wissen aller möglicher Welten die eine und beste aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt, kann auch das künstlerische Subjekt einen »mundus a se quasi creare«, »eine künstlerische Welt gleichsam aus sich erschaffen« (Aesth. § 34; vgl. Med. § 68), indem es aus der Fülle möglicher und denkbarer Zusammenhänge einen konsistenten und (mit anderem) kompossiblen Nexus schafft, der einen ästhe­t isch kohärenten Grund-Folge-Zusammenhang darstellt.59 Das philosophische Problem des Wunders, das Gegenstand der Kosmologie ist, kommt bei dem im 18. Jahrhundert vieldiskutierten Problem des Wunderbaren zur Anwendung, das für die Themen der wirklichen und möglichen Welt(en), des künstlerischen Erschaffens, der Mimesis und des Fiktionalen eine Rolle spielt und dem Baumgarten in der Ästhe­t ik explizit den Abschnitt XXXXVIII »Thaumaturgia aesthetica« widmet (vgl. Sciagr. §§ 102 f.).60 In der Ästhe­t ik bemerkt Baumgarten in § 304 eher beiläufig, dass den Menschen die Zukunft nur »wegen der mangelnden Kenntnis der durchgängigen Bestimmtheit dieser zukünftigen Begebenheiten« (Aesth. § 304) nicht einsichtig oder dunkel oder sogar »außerhalb der Ordnung« erschiene. ›Außerhalb der Ordnung‹ der Dinge wären nach seiner Definition in der Meta­phy­sik sogenannte Wunder angesiedelt (Met. §§ 349, 350, 369). Nun gibt es aber im System der (von Gott) praestabilierten Harmonie keine Wunder im strengen Sinne, denn nach Baumgarten und in der Folge von Leibniz ist das Universum, und mit ihm jedes Individuum, durchgängig ›harmonisch‹ determiniert, d. h. ein »ens omnimode determinatum« (Met. § 148). Würde Gott in ›den natürlichen Lauf‹ seiner ›besten aller möglichen Welten‹ Wunder, d. h. außernatürliche oder sogar übernatürliche Begebenheiten einfügen, so wäre damit seine eigene Schöpfung in Frage gestellt.61

von Benedikt Vait und Daniela Zumpf, Berlin 2014 (Philosophie. Forschung und Wissenschaft, 37), 211 – 242. 59 Vgl. zum ontologischen und logischem Miteinander-Möglich-Sein (compossibile, compossibilitas) Met. §§ 54 f., 66, 148, 165, 436 f., 443, 482 f., 567; Acr. log. §§ 55 f.; Phil. gen. § 35; vgl. in der Ästhe­t ik Abschn. XXVII; Met., Teil IV, Kap II: Die bewirkenden Handlungen Gottes, Abschn. I: Erschaffung der Welt, Schöpfung, bes. Met. §§ 928, 940; Phil. gen. § 148; vgl. zum Wissen möglicher Welten (scientia media) Gottes bes. Met. § 876; Aesth. § 441 und »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, § 34. 60 Aesth. §§ 39 f.; vgl. Met., Teil II, Kap. III, Abschn. III und IV: Das Übernatürliche; bes. §§ 474, 477 f., 497, 604, 610; Brieffe, Brief 28, 84; Phil. gen. § 147; Sciagr. §§ 32 – 79 sowie die Sectio XXXXVIII: Thaumaturgia, Aesth. §§ 808 – 828; vgl. auch Leibniz: Theod. §§ 207 f. und GP VI, 467; vgl. auch GP II, 12, Punkt 7; 9, GP III, 508; auch für diese Zusammenhänge sind die oben erwähnten Ausführungen Baumgartens in seiner Theologia naturalis relevant. 61 Vgl. Met., Teil II , Kap. III , Abschn. II: Die Gemeinschaft der Substanzen (der für sich bestehenden Seienden), Abschn. III: Das Natürliche, bes. Met. §§ 469, 472 f.; Teil II, Kap. III, Abschn. IV: Das Übernatürliche, bes. Met. §§ 474 ff.

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Mithin ist das Universum in seiner durchgängigen Determiniertheit prinzipiell intelligibel, so dass es ›from God’s eye’s view‹ vollständig ›klar und deutlich‹ durchschaubar ist und durchschaut wird. Potentiell und bis zu einem gewissen Grad ist das auch ›from men’s eye’s view‹ möglich. ›Wundersam‹ erscheinende Ereignisse können demnach grundsätzlich als der Natur gemäß verstanden und vorhergesagt werden, was aber wegen der ungeheuren Komplexität faktisch nicht oder nur graduell geschieht (s. o. Aesth. § 304; vgl. Met. §§ 480 ff.). Wenn deshalb das künstlerische Subjekt mit seinem feinsinnigen Witz (ingenium im engeren Sinne) in höchst heterogenen Dingen Gemeinsamkeiten entdeckt und auf dieser Basis in außergewöhnlicher Weise kombiniert und mit seinem künstlerischen Erfindungsvermögen ( facultas fingendi) im Kunstwerk zu einer höherstufigen, auch fiktionalen, ›Welt‹ entwickelt, dann sind das keine Hirngespinste oder mutwillig ersonnene falsche Wunder.62 Vielmehr beziehen sich diese Schöpfungen, semantisch ausgedrückt, auf diese Welt, d. h. sie sind Ergebnis von Erkenntnis und vermitteln Erkenntnis, wie Baumgarten bereits dezidiert in den Meditationes herausstellt: »Längst ist beobachtet worden, daß der Dichter ein Erschaffender oder Schöpfer ist; folglich muß ein Gedicht gleichsam eine Welt sein. Folglich ist von derselben in Analogie dasjenige zu denken, was durch die Philosophen von der Welt offenbar wird«.63

Künstlerische Werke artikulieren und vermitteln Erkenntnis auf höchst wirksame Weise, indem sie die Dinge in einem ›neuen Licht‹ erscheinen lassen und damit Verwunderung (admiratio) und Aufmerksamkeit (attentio) erregen. Das »Licht der Neuheit« (Met. §§ 549 f.) evoziert das Streben, diese neuen Perzeptionen zu erkennen, d. h. es animiert zur ›Neu-Gier‹ oder »Neubegierde«, wie Meier sagt (Anfangsründe, Bd. 1, § 147). Entsprechend definiert Baumgarten die Neugier (curiositas) in der Meta­phy­sik im Sinne der Wissbegier als Drang, etwas bis dato Unerkanntes zu erkennen, und unterscheidet sie dreifach in eine 1. empirische, 2. philosophische und 3. mathematische Neugier.64 9. Philosophische Ästhe­tik und kognitive Kunst In Baumgartens doppelgleisiger Ästhe­t ikauffassung als Ars empirica und Kunstphilosophie kommt seiner Entwicklung einer eigenständigen Kunstphilosophie in der Aesthetica von 1750/1758 die wirkungsgeschichtlich zentrale Bedeutung zu. Zugleich aber eröffnen, wie oben aufgezeigt, der durch Baumgarten begründete Erkenntnis- und Wahrheitscharakter und der ›kontinuierliche‹ Zusammenhang, z. B. bes. Met. §§ 572, 576, 578, 649; Met. §§ 589 f., 592, 609, 640; Aesth. § 34. § 68. 64 Vgl. Met. §§ 529 ff. und 625, 628; Met. § 688, Eth. §§ 155, 215; Sciagr. § 4; Brieffe, 10. Brief, 38; »Kollegnachschift über die Ästhe­t ik«, § 48. 62 Vgl.

63 Med.



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mit Vorgehensweisen und Gegenständen der Logik und den Naturwissenschaften, eine synchrone Perspektive, die auch für die kunstphilosophische Betrachtungsweise der sinnlichen Erkenntnis und ihrer Ergebnisse von großer Bedeutung ist und entsprechende Interpretationspielräume freisetzt. Erst im späten 20. Jahrhundert wurde diese Perspektive auf naturwissenschaftliche und künstlerische Erzeugnisse durch den Philosophen Nelson Goodman sowie zur Zeit, aus einer ganz anderen Richtung kommend, durch den Kunsthistoriker Horst Bredekamp wieder aufgegriffen und betont. Danach sind Kunstwerke als Symbolisierungen wissensrelevanter und wissenschaftsanaloger Erkenntnisse anzusehen (Goodman) und haben Bildentwürfe und Objekte eine irreduzible Erschließungskraft im wissenschaftlichen Kontext (Bredekamp). Die Erzeugung und Erfassung bildhafter Schöpfungen und technischer Errungenschaften (z. B. Faustkeile) wie auch die Sammlung und Anschauung aussagekräftiger Objekte fungieren als kunstanaloge und -äquivalente Welterschließungen (Bredekamp).65 Wohl in diesem Sinne »zeigt sich Leibniz, der von allen Seiten groß war«, der Erfinder der Infinitesimalrechnung und des binären Systems, der Verfechter einer Characteristica universalis, d. h. eines universalen Zeichensystems für die Darstellung seines metaphysischen Weltentwurfs, in Baumgartens Perspektive insbesondere durch seine Theodicée »auch als ein ästhe­t isch großer Kopf« (»Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, § 1). Mit anderen Worten: Die Hervorbringungen künstlerisch-sinnlicher und wissenschaftlicher Erkenntnis gehören nicht gänzlich unterschiedlichen Kategorien an, sondern sind zwar je eigenwertige, aber analoge »Weisen der Welterzeugung«, so ein Buchtitel Nelson Goodmans, in deren kognitiven Strukturen sich bei aller Verschiedenheit für die Erkenntnis der Welt konstitutive Analogien aufzeigen lassen. Baumgartens neuartige und vorausweisende Konzeption des Ästhetischen ist von empiristischen und sensualistischen Strömungen seiner Zeit geprägt, aber grundständig in den großen rationalistischen Systementwürfen Leibnizens und Wolffs verwurzelt und damit in einer Denktradition, die den universalen Anspruch hat, das Universum mit einem universalen System der ›Weltweisheit‹ zu erfassen. 65 Ein

derzeit vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte und der Ludwig-Maximilians-Universität in München und der Universitätsbibliothek Heidelberg vorbereitetes Projekt veranschaulicht das kategorienübergreifende zeichnende Erkennen und Verstehen der Welt in einer Ausstellung »Punkt, Punkt, Komma, Strich. Zeichnungen zwischen Kunst und Wissenschaft 1525 – 1925«. Goodman hat diese Grundgedanken in seiner semantischen Theorie unterschiedlicher, aber gleichermaßen kognitiver Symbolisierungssysteme in seinem philosophischen Werk seit seinem Buch Languages of Art immer differenzierter ausgearbeitet, zuletzt in einer zusammen mit Catherine Z. Elgin herausgegebenen Aufsatzsammlung mit dem vielsagenden Titel Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences, Indianapolis/Cambridge 1988; vgl. Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to the Theory of Symbols, Indianapolis/Cambridge 1968, Neudruck 1976; vgl. z. B. auch ders.: Ways of Worldmaking, Indianapolis/Cambridge 1978. Vgl. von Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004; ders.: Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005 und sein jüngst grundlegend überarbeitetes Buch zu Galileo Galilei, ders.: Galileis denkende Hand. Form und Forschung um 1600, Berlin/Boston 2015.

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Im Rahmen eines solchen großrahmigen Entwurfs hat Baumgarten auf der Metaebene einer philosophischen Theorie über sinnliche Erkenntnis einen System-Ort der Ästhe­t ik etabliert. Zugleich hat er auf der Objektebene für den Gegenstand der Aesthetica, die sinnliche und insbesondere künstlerische Erkenntnis und ihre Hervorbringungen, einen bis dato in der Geschichte des Denkens nicht vorgesehenen neuen ›Welt-Ort‹ geschaffen und damit die irreduzibel eigenständige Kognitivität der Kunst begründet.

EPISTEM E ••• Ding und Begriff Wirklichkeit und Möglichkeit in A. G. Baumgartens Theorie ­ä sthetischer und szientifischer Erkenntnis Von Alexander Aichele Schon weil man recht leicht vergisst, dass sie überhaupt einen hat, ist es vielleicht keine allzu große Trivialität, gleich zu Anfang daran zu erinnern, zu welchem Zweck Philosophie nach Alexander Gottlieb Baumgarten eigentlich betrieben wird: »Philosophie ist die Wissenschaft, die Beschaffenheiten in den Dingen ohne Glauben zu erkennen.«1 Im Gegensatz zu Christian Wolffs viel weitgreifenderer und ihrem Anspruch nach kaum durch endliche Geister erfüllbarer Definition, welche die Philosophie mit der nicht bloß negativen, sondern positiven Bestimmung der Möglichkeit alles Möglichen betraut, mutet diejenige Baumgartens viel bescheidener an.2 Zum einen umfasst sie weder Mathematik noch geoffenbarte Theologie: Die Mathematik nicht, weil sich die Philosophie nicht mit extensiven Größen beschäftigt, sondern mit Qualitäten und deren Graduierung, also allenfalls mit intensiven Größen; die Offenbarungstheologie nicht, weil deren Erklärungen naturgemäß nicht ohne Glauben funktionieren. Zum anderen geht die Philosophie nach Baumgarten allererst von der positiven Bestimmtheit wirklicher Dinge, d. h. ihrer Realität, aus. Deren transzendentale, d. h. in jeder denkbaren Welt gültige, Möglichkeit untersucht sie im Rahmen der formalen Ontologie, während sie deren hypothetische Notwendigkeit in einer kontingenten Welt mit den Mitteln empirischer Begriffsbildung zu bestimmen sucht, die wiederum einer eigenen Analyse bedarf. Die Kontingenz solcher Begriffsbildung als einziges dem endlichen Geist zugängliches Instrument zur Gewinnung inhaltlich bestimmter Erkenntnis erfordert die Aufgabe des realdefinitorischen Anspruchs, mithin des Anspruchs auf Vollständigkeit bei der Erkenntnis kontingenter Dinge. Die Beschränkung der epistemischen Fähigkeiten des endlichen Geistes hat zur Folge, dass er kein kontingentes Ding unter allen möglichen Dingen überhaupt mit vollständiger Eindeutigkeit identifizieren, wenngleich er jedes existente Ding von allen anderen existenten Dingen unterscheiden kann. Diese »gewsse Ungewissheit«,3 die jeder Erkenntnis 1 Acr.

log. § 1; s. a. Philos. gen., § 21; Antrittsvorl. § 12, Anm.**. Vgl. Alexander Aichele: »Allzuständigkeit oder Beschränkung? Alexander Gottlieb Baumgartens Kritik an Christian Wolffs Begriff der Philosophie«, in: Studia leibnitiana 42/2 (2010), 162 – 185. 3 Acr. Log. § 424: »quaedam rationis incertitudo«. 2

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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von Kontingentem durch Kontingentes innewohnt, soll jedoch keinesfalls in einen allgemeinen Skeptizismus führen – auch dann nicht, wenn er sich ›nur‹ auf die sog. Außenwelt bezieht.4 Baumgartens zentrales Argument gegen den Skeptizismus liegt in der vollständigen Gewissheit der Existenz differenter Einzeldinge, welche ästhe­t ische Erkenntnis gewährt. Es läuft letztendlich darauf hinaus, dass es einem endlichen Geist gar nicht möglich ist, auf andere Weise Singuläres vorzustellen. Das Argument setzt daher die Wahrheit derjenigen metaphysischen Position voraus, dergemäß alles, was aktual existiert bzw. überhaupt aktual existieren kann, singulär, d. h. von sich aus bzw. intern von allen anderen möglichen Dingen verschieden, sein muss. Beschäftigt sich die Philosophie also mit der Wirklichkeit, beschäftigt sie sich mit einzelnen, weltlich existenten Dingen. Sie bilden in guter aristotelischer Tradition den Anfang jeder Erkenntnis und genießen so zwar nicht sogleich systematische, doch methodische Priorität: Auch die Erkenntnis transzendentaler Prinzipien resultiert aus einem, allerdings analytischen und nicht beliebigen, Prozess der Abstraktion, gerade weil sie als logische Gebilde verstanden werden müssen, welche formale Qualitäten aussagen, die ein jedes Ding besitzen muss, um sein zu können. Es gibt daher Vorstellungen und Begriffe wirklicher Dinge wie Vorstellungen und Begriffe möglicher Dinge. Dabei enthalten die Begriffe wirklicher Dinge ihre eigene Möglichkeit, und zwar in positiv bestimmter Form. Dies gilt aber nicht umgekehrt: Aus dem Begriff eines möglichen Dings folgt noch nicht dessen vollständige Bestimmtheit, die seiner Wirklichkeit entspräche. Die bloße Möglichkeit, sich in der Welt einigermaßen kontrolliert zu orientieren, hängt vielmehr gerade an dieser relativen Unbestimmtheit. Trotzdem sollen sich beide – sowohl vollständig bestimmte, ästhe­t ische Vorstellungen von Wirklichem als auch teilweise unbestimmte, logische Vorstellungen von Möglichem –, insofern sie die einzigen Mittel zu inhaltlich bestimmter Erkenntnis sind, über die ein endlicher Geist verfügt, auf ein und dasselbe beziehen, nämlich die Welt, in der dieser existiert. Auf welche Weise gerade jene modale Differenz die Grundlage aller Erkenntnis von Kontingentem durch Kontingentes bildet, soll im Folgenden gezeigt werden. Bevor indes die charakteristische Bestimmtheit ästhe­tischer Erkenntnis und die ebenso charakteristische Unbestimmtheit logischer, genauer: ästhetikologischer Erkenntnis im Bezug auf Einzeldinge untersucht werden kann, soll zunächst an eine der Differenzen erinnert werden, die zwischen den epistemischen Fähigkeiten eines unendlichen Geistes – nennen wir ihn der Einfachheit halber ›Gott‹ – und eines endlichen, mithin menschlichen bestehen.

4

Vgl. ebd.



Ding und Begriff119

1. Intensionalität und Extensionalität Was ist, insofern es existiert oder existieren kann, muss vollständig bestimmt sein. Denn es könnte sonst nicht von allen anderen möglichen Dingen verschieden sein, wäre also nicht nur mit sich selbst identisch und folglich mehr als eins. In dieser Weise vollständig bestimmt sind allein Einzeldinge, und nur diese existieren oder können existieren. Gott nun denkt und erkennt dabei vollständig alles, was möglich ist. Weil für Gott aufgrund seiner Allmacht die Unterscheidung zwischen logischer und realer Möglichkeit irrelevant ist und er aufgrund seines Allwissens nur vollständig Bestimmtes denkt, besteht der Inhalt seines unendlichen Geistes in allen möglichen einzelnen Dingen in all ihren möglichen Zuständen, d. h. Gott denkt alle überhaupt möglichen Welten. Er tut dies klar und deutlich, weil er jedes einzelne Ding bzw. jede einzelne mögliche Welt jederzeit absolut, d. h. nicht relativ und mithin bloß ex negativo im Verhältnis zu anderen, identifizieren kann. Sonst wäre sein Geist weder unendlich noch besäße er Allwissen. Gott verfügt daher über die Definition eines jeden möglichen einzelnen Dings, so dass diese auch logisch unbedingt voneinander unterschieden sind. Er verfügt daher über Realdefinitionen von Individualbegriffen (ideae),5 d. h. vollständigen und positiven begrifflichen Erklärungen singulärer Terme, mithin echter Namen, deren Singularität keine universalen Teile, also auch keine Indexikalisierungen einschließt. Nun kann aus der Addition auch unendlicher vieler universaler Terme kein singulärer Begriff entstehen, sondern nur wiederum ein universaler Klassenbegriff. Dieser besitzt zwar unendlich großen Inhalt, kann aber der Möglichkeit nach immer noch auf unendlich viele Einzeldinge und eben nicht allein auf genau und nur eines angewendet werden. Die Teile, aus denen die Definition eines Individualbegriffs besteht, müssen daher selber singuläre Terme sein. Folglich müssen die Propositionen, welche Einzeldinge vollständig bestimmen, von intensionaler Struktur sein. Die Prädikate, die dem zu definierenden Subjektterm bejahend zugesprochen werden, sind dann nämlich alle in diesem enthalten und können aufgrund seiner Singularität von keinem anderen Term bejahend ausgesagt werden. Das Allwissen eines unendlichen Geistes besteht somit zuallererst im klaren und deutlichen, d. h. logisch-begrifflichen, Bewusstsein von allem Möglichen in seiner positiven Bestimmtheit. Es muss nicht erst erworben werden, sondern in ihm liegt die Unendlichkeit eines Geistes selbst, der seine Gegenstände erkennt, indem er sie denkt. Deswegen heißt dieses theoretische Allwissen auch die scientia naturalis Dei. Gott erkennt daher sowohl auf intuitive als auch auf allein logische Weise, weil sein Erkennen durch Individualbegriffe geschieht und daher einer intensionalen Logik folgt. Eine solche Logik steht dem endlichen Geist aufgrund seiner Beschränktheit nicht zur Verfügung. Die Begriffe, durch die er auf klare und deutliche Weise erkennt, sind immer universale Terme. Sie definieren daher keine Einzeldinge, 5 Acr.

log. § 44.

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sondern Klassenbegriffe mehr oder minder großen Umfangs. Sie werden demnach durch Propositionen von extensionaler Struktur ausgesagt, bei denen der zu definierende Subjektterm stets im Prädikatterm, der ihm zugesprochen wird, enthalten ist, so dass dieses Prädikat auch anderen, und zwar der Möglichkeit nach unendlich vielen, Subjekttermen ebenso zukommen kann. Sosehr also das Subjekt durch eine Vielzahl von kompossiblen Prädikaten auch immer spezifiziert werden mag, bleibt es doch stets ein universaler Term, der schlicht aufgrund seiner Universalität niemals nur genau und nur ein einzelnes Ding zu bestimmen, mithin vollständig zu identifizieren und damit von allen anderen möglichen Dingen zu unterscheiden geeignet ist. Derart bestimmte universale Terme sind also strenggenommen nicht eigentlich Begriffe von wirklichen Dingen, sondern von Klassen möglicher Dinge und daher Begriffe von Begriffen. Sie müssen erst eigens durch den end­ lichen Geist gebildet werden, und dies geschieht hinsichtlich ihres Inhalts durchaus willkürlich, da das einzige Kriterium ihrer Bildung ein negatives ist, nämlich der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch. Die logische Wahrheit einer extensionalen Proposition besteht daher ausschließlich in ihrer Möglichkeit und ist folglich formaler Natur. Inhaltlich bestimmte Erkenntnis kontingenter Dinge durch universale Terme resultiert also aus deren Anwendbarkeit bzw. Anwendung auf Einzelnes. Weil aber Einzelnes aufgrund seiner Singularität in klarer und deutlicher Weise nur durch intensionale Individualbegriffe vollständig erkannt werden kann, ist jede extensionale Klassifikation der Beschaffenheit eines Einzeldings unvollständig. Sie reicht daher nicht nur nicht zu seiner eindeutigen Identifikation unter allen anderen möglichen Dingen zu, der universale Term mag auch Teile enthalten, die der Realität desjenigen Dings, auf das er angewendet wird, sogar widersprechen. Denn die extensionale Bestimmung eines Begriffs bleibt ja im Verhältnis zur realen Bestimmtheit eines Dings stets unvollständig. Sie kann daher gleichzeitig logisch wahr und metaphysisch falsch sein. Logische Wahrheit, wie sie durch universale Bestimmungen möglich ist, und metaphysische Wahrheit, wie sie durch Individualbegriffe ausgesagt wird, sind also verschieden. Folglich kann jede ihrem Inhalt nach kontingent bestimmte, extensionale Proposition metaphysisch falsch sein. Darin besteht die ›gewisse Ungewissheit‹ der Erkenntnis von Kontingentem durch Kontingentes. 2. Aktualität und Ästhe­tik Aus dieser ob der Endlichkeit eines Geistes unvermeidlichen Ungewissheit folgt jedoch nicht allgemeine Skepsis. Denn sofern der endliche Geist kontingenterweise in einer Welt – und das heißt: außerhalb des göttlichen Geistes – existiert, verfügt er jederzeit über Kenntnis nicht nur seiner eigenen Existenz, sondern auch der anderen Dinge, die außer ihm selbst existieren, und der ganzen Welt, und er kann diese auch voneinander unterscheiden, weil jene Kenntnis sowohl gewiss als auch vollständig ist. Diese fundamentale Funktion der Gewissheit fremder kontingenter Existenz bzw. anderer Identität schreibt Baumgarten dem zu, was er ästhe­tische



Ding und Begriff121

bzw. sinnliche Erkenntnis nennt. Sie ist daher – dies ist sogleich festzuhalten – eine Erkenntnisart eigenen Rechts, d. h. keineswegs nur insofern relevant, als sie die unverzichtbare Grundlage jeder möglichen propositionalen Erkenntnis von Kontingentem bildet. Den Grund dieser Eigenständigkeit gilt es jetzt herauszuarbeiten. Baumgarten vertritt einen ebenso weiten wie basalen Begriff von Erkenntnis. Jeder Komplex von Vorstellungen nämlich gilt als solche. Erkenntnis und Wissen sind demnach voneinander verschieden:6 Jedes Wissen ist ein Vorstellungskomplex,7 aber nicht jeder Vorstellungskomplex ist Wissen, wie es durch eine wahre Proposition ausgesagt wird. Erkenntnis ist daher in jedem Fall ein mentaler Gegenstand, dem irgendeine Form von Einheit zukommt, ohne dass er auch in jedem Fall in allen seinen Teilen bewusst sein müsste. Bewusstsein nämlich beginnt erst mit der Unterscheidung von Verschiedenem,8 also in seiner einfachsten Form mit der Unterscheidung des Erkennenden selbst von anderem. Daher impliziert der Begriff des Bewusstseins bereits ein Mindestmaß an Klarheit.9 Denn er enthält in jedem Fall die Unterscheidung eines Gegenstands von dem, was nicht zu diesem gehört bzw. was er nicht ist. Dies erfordert aber nicht die logische Bestimmung, mithin die klare und deutliche Erkenntnis, der verschiedenen beteiligten Gegenstände bzw. Vorstellungskomplexe. Jedes Ding, das Vorstellungen hat, ist prinzipiell im Stande, sich selbst von anderen Dingen zu unterscheiden, wenn es die Verschiedenheit vorliegender Vorstellungskomplexe bemerken kann. Dies involviert wenigstens den Gebrauch des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch. Denn dieser fungiert als negatives Prinzip der Einheit von Verschiedenem, und jeder komplexe Gegenstand ist aus Verschiedenem zusammengesetzt. Sollen indes mehr als zwei Vorstellungskomplexe voneinander unterschieden werden, reicht dieses Kriterium nicht mehr zu. Dann nämlich, wenn ein dritter von einem zweiten zu unterscheiden ist, genügt die bloß negative Identifikation des ersten nicht mehr, so dass auch der Satz der Identität zumindest in seiner negativen Form des principium identitatis indiscernibilium zur Verfügung stehen muss. Umfasst die Differenzierung darüberhinaus noch die Zuständlichkeit bzw. Veränderlichkeit jener mentalen Gegenstände, kann dies nur unter Gebrauch des Satzes vom zureichenden Grund als Identitätsprinzip geschehen. All diese transzendentalen Prinzipien der Meta­phy­sik und damit a fortiori auch der Erkenntnis müssen nun nach Baumgarten auch in der ästhe­tischen Erkenntnis zum Tragen kommen. Denn sie bedingen schon die Möglichkeit einer komplexen Einheit von Vorstellungen und damit zugleich die Unterscheidbarkeit von Gegenständen sowohl im metaphysischen wie im epistemischen Sinn: Die transzendentalen Prinzipien der Meta­phy­sik und der Logik wie der Ästhe­tik bzw. aller Erkenntnis sind ein und dieselben. Zwar kann an diesem Ort nicht auf Baumgartens ziemlich intrikate, aber durchaus kohärente Theorie dieses vorlogi6 Acr.

log. § 3. Ebd., § 2. 8 Ebd., § 15. 9 Ebd., § 18. 7

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schen Gebrauchs transzendentaler Prinzipien und ihrer ästhe­t ischen Erkennbarkeit eingegangen werden, wie sie im Zentrum seiner Untersuchung des analogon rationis in der empirischen Psychologie der Meta­phy­sik steht. Allerdings lassen auch die bisher ganz formalen Überlegungen bereits eine Unterscheidung zwischen bloßer Sinnesempfindung und sinnlicher Erkenntnis zu. Empfindungen nämlich sind zwar ohne Zweifel Vorstellungen. Sie gruppieren sich aber nicht von selbst zu komplexen Einheiten, die verschiedenen Dingen in der Welt entsprechen. Ästhetische Erkenntnis resultiert daher aus der Aktivität des analogon rationis, und sie involviert Bewusstsein differenter Gegenstände, d. h. zumindest das Bewusstsein der Differenz zwischen dem, was zum Erkennenden selbst gehört und was nicht. Dabei kommt es jedoch keineswegs auf das Bewusstsein an, was all diese diversen Gegenstände denn ihrer Bestimmtheit nach sind. Rein ästhe­ tische Erkenntnis reicht vielmehr nicht weiter als bis zu dem Bewusstsein, dass da differente Einzeldinge sind. Gerade deswegen ist sie für jedes Wissen von kontingentem Wirklichem fundamental. Das Bewusstsein, dass da etwas Wirkliches ist, ist nicht nur verschieden von dem Wissen darum, was das ist, sondern schon die Möglichkeit des letzteren setzt die Wirklichkeit des ersteren voraus. Die Aktualität ästhe­tischen Erkennens ist sonach gleichsam der Naturzustand eines jeden endlichen Geistes, der außerhalb Gottes weltlich, mithin durch einen belebten Körper existiert, und dieser mentale Zustand enthält viel mehr, als das doch recht beschränkte logisch positiv bestimmte Wissen von der kontingenten Welt – m. a. W. empirisches Wissen – vermuten lässt. Ästhetische Erkenntnis enthält nämlich jeweils alles kontingente Wirkliche, das einem kontingenten Wirklichen überhaupt zugänglich ist, und das ist in der Tat alles, d. h. die ganze existente Welt. Denn insofern diese selbst ein Ganzes in der Art eines einzelnen Dinges ist, sind alle seine Teile wie die Bestimmungen eines Dinges miteinander durch einen allgemeinen Zusammenhang (nexus universalis) verbunden. Jede ästhe­t ische Erkenntnis ist also stets aktuale Erkenntnis des Universums, und das heißt alles Einzelnen in ihm. Das bedeutet aber nicht, dass der ästhe­t isch erkennende Geist alles weiß. Denn er erkennt zum einen die Welt aus interner Perspektive, und zwar gemäß der Position seines Leibes im Universum. Daraus folgt die unterschiedliche Intensität seiner Sinnesempfindungen, die zwar in ungeordneter Weise das Ganze vorstellen, aber erst zu differenten Vorstellungskomplexen verbunden werden müssen. Unterschreiten also Empfindungen die Aufmerksamkeitsschwelle, bleibt zwar das Bewusstsein, dass da noch irgendetwas ist. Dies lässt sich aber ohne Veränderung der Position des Leibes nicht mehr differenzieren: Ich bin mir der Präsenz Jan Joerdens hier vor mir durchaus klar bewusst, nicht aber derjenigen des Wombats Hubert, der sich gerade durch die Erde des australischen Outback gräbt, obwohl ich Empfindungen von beiden habe. Zum anderen erweist schon die bloße Möglichkeit solcher petits perceptions und noch mehr ihre Wirklichkeit die Beschränktheit des endlichen Geistes. Er erkennt Kontingentes nämlich nur unter der Bedingung seiner eigenen Existenz, und das heißt seines jeweiligen, auch körperlichen Zustands. Weil aber aus Bedingtem niemals Unbedingtes her-



Ding und Begriff123

vorgehen kann, folgt aus dieser Beschränktheit die Relativität der Identifikation wirklicher Dinge, die sich aus ihrer Differenzierung von allen anderen existenten, aber nicht allen anderen überhaupt möglichen Dingen ergibt. Zwar enthält ästhe­ tische Erkenntnis die vollständige Aktualität aller kontingenten Dinge und damit das Universum in seiner durchgängigen Bestimmtheit, aber dies reicht nicht für die vollständige, mithin absolute Identifikation genau und nur eines Dinges unter allen möglichen Dingen zu. Denn zu dessen Identität gehört nicht nur sein aktualer Zustand, der wie seine vergangenen Zustände aufgrund seiner hypothetischen Notwendigkeit unveränderlich geworden ist, sondern auch seine zukünftigen Zustände. Diese bleiben so lange bloß möglich, bis sie aktual und damit hypothetisch notwendig geworden sind. Daraus folgt einerseits, dass jeder zukünftige Zustand eines Dinges, der nicht durch seine aktuale Bestimmtheit gemäß des Satzes vom Widerspruch ausgeschlossen ist, hypothetisch möglich ist, dass es also unendlich viele mögliche zukünftige Zustände eines Dings gibt, und andererseits, dass diese kein unmittelbarer Gegenstand ästhe­t ischer Erkenntnis sein können. Denn NichtSeiendes, mithin Mögliches ist kein möglicher Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung. Das Mögliche lässt sich daher in der ästhe­t ischen Erkenntnis nicht potentiell unendlich differenzieren wie das Wirkliche. Aufgrund des sinnlichen Gedächtnisses lässt sich zwar die gewohnte Fortsetzung eines Zustands voraussehen, jedoch kann hier im Bereich der Sinnlichkeit nicht zwischen möglichen alternativen Verläufen ex ante unterschieden werden, da differente zukünftige Zustände allein in der Gestalt logisch bestimmter Begriffe existieren: Ich kann das Glas braunen Bieres an die Lippen setzen, ohne ausdrücklich an seine mögliche Säuernis zu denken und den Zustand des Bieres vorher zu überprüfen, obgleich jene schreckenerregende Möglichkeit sauren Bieres freilich besteht. Damit ist nun die Eigenständigkeit ästhe­t ischer Erkenntnis klargelegt: Sie ist eo ipso vollständige Erkenntnis des aktualen Zustands der kontingenten Welt durch einen endlichen, mithin selbst kontingenten Geist. Daraus folgt zugleich ihre Verworrenheit, d. h. der mehr oder weniger große, aber niemals vollständige oder inexistente Anteil an Dunkelheit in ihr. Eine andere Art vollständiger Erkenntnis von Aktualität, d. h. der kontingenten metaphysischen Wahrheit, lässt sich aber unter der Bedingung der Endlichkeit nicht denken. 3. Potentialität und Logik Nun soll sich wissenschaftliche bzw. szientifische Erkenntnis ebenfalls auf die Wirklichkeit der Welt beziehen, d. h. auf die positiven Bestimmungen der Dinge. Sie tut dies aber nicht unmittelbar. Denn sofern sie Kontingentes zum Gegenstand hat, erfordert sie die Grundlage ästhe­tischer Erkenntnis und nicht einfach die ungeordnete Masse gegebener Sinnesempfindungen. Sonst nämlich wäre der Vergleich zwischen verschiedenen Vorstellungskomplexen, der zur abstraktiven Begriffsbildung gehört, mangels Vergleichsgegenständen ausgeschlossen. Szienti­

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fische Erkenntnis des Kontingenten, mithin – nach Baumgarten – ästhetikologische bzw. empirische Erkenntnis, besteht indes gerade in der Bildung solcher positiv bestimmter Begriffe kontingenten Inhalts und ihrem propositionalen Gebrauch nach den Regeln der extensionalen Logik. Aus den ästhe­tisch vollständig bestimmten und singulären, mithin schönen, Vorstellungskomplexen, die bei ihrer vollständigen Analyse Gegenstand einer intensionalen Logik wären, müssen zum Zwecke klarer und deutlicher Erkenntnis durch den endlichen Geist universale Begriffe erzeugt werden. Diese können nicht unendlich viele Teilbestimmungen und daher auch keine dunklen Teile enthalten. Aus ihrer vollständigen logischen und exten­ sionalen Bestimmtheit folgt also ihre Unvollständigkeit hinsichtlich der Intensionalität metaphysischer Wahrheit. Kontingente universale Terme sind daher teilweise unbestimmte Begriffe singulärer Vorstellungskomplexe. Es ist gerade diese Unbestimmtheit, die ihre Anwendung auf mehr als einen singulären Vorstellungskomplex ermöglicht, wie ihn ästhe­t ische Erkenntnis liefert und wie er die metaphysische Wahrheit eines singulären Dinges enthält. Ebenso erlaubt jene Unbestimmtheit eine immer weitergehende Spezifikation des logischen Begriffs, so dies zu Zwecken propositionaler Erkenntnis nötig ist. Jedoch kann niemals vollständige Gewissheit darüber bestehen, ob die extensionale Bestimmung eines einzelnen Dinges, das zum Gegenstand szientifischer Erkenntnis gemacht wird, adäquat ist, weil sie immer nur mit Begriffen von Klassen von Dingen operieren kann. Die Willkür ihrer Bildung steht allein unter der Restriktion der transzendentalen Prinzipien, insbesondere des Satzes vom Widerspruch, und ihrer Praktikabilität beim Versuch der Orientierung in der Welt. Die Begriffe und Sätze szienti­ fischer Erkenntnis von Kontingentem können daher aufgegeben oder zum Zwecke ihrer Reformierung verworfen oder beliebig spezifiziert werden. Szientifische Erkenntnis hat daher immer nur mögliche Dinge und folglich mögliche Welten zum Gegenstand, ohne je definit über ihre metaphysische Wahrheit bzw. über ihre Wirklichkeit entscheiden zu können. Die Weltweisheit im buchstäblichen Sinne, d. h. als wissenschaftliche Erkenntnis, welche transzendentale Prinzipien und daraus folgende formalontologische Propositionen in Richtung der kontingenten Dinge überschreitet, bleibt daher immer im Bereich des mehr oder weniger Wahrscheinlichen. Dies hat neben der sich daraus ergebenden Offenheit der Philosophie für Revision und Forschung – so etwas wie ein endgültig feststehendes wahres System dieser kontingenten Welt wäre aus ihrer Perspektive sogar eine contradictio in adiecto – einen weiteren, systematisch zentralen Vorteil. Denn die aus ihrer notwendigen Unbestimmtheit folgende Festgelegtheit auf die Erkenntnis möglicher Welten fundiert ihre Praxistauglichkeit, gerade weil mit logischen Mitteln nicht definit entschieden werden kann, welche davon nun eigentlich die aktuale ist. Jede Praxis nämlich ist ihrem Wesen nach auf die Veränderung oder Aufrechterhaltung des aktualen Zustands bezogen, und das heißt auf die Herbeiführung zukünftiger Zustände. Deren Möglichkeit ist zuallererst nur negativ durch die hypothetische Notwendigkeit des jeweiligen aktualen Zustands bestimmt. Dieser lässt aufgrund der Kontingenz der



Ding und Begriff125

Welt eine Vielzahl von Folgezuständen zu, deren Verwirklichung aufgrund ihrer hypothetischen Möglichkeit mehr oder weniger wahrscheinlich ist und bleibt, da sich hypothetische Notwendigkeit nur auf den aktualen und vergangenen, aber nicht auf den zukünftigen Zustand erstreckt. Schon der Versuch einer gezielten und in irgendeinem Maße kontrollierten Herbeiführung eines zukünftigen Zustands durch einen endlichen Geist erfordert aber dessen positive Bestimmung, d. h. die Erkenntnis seiner Möglichkeit, die nur auf logischem Wege geschehen kann. Die logische Bestimmung einer kontingenten, mithin hypothetischen Möglichkeit schließt aber immer auch ihr Gegenteil ein, sonst wäre die mögliche Fortsetzung eines Zustands nicht kontingent, sondern notwendig. Folglich impliziert die szien­ tifische Erkenntnis des in Zukunft Möglichen die Bestimmung zumindest eines weiteren, alternativen Zustands, und es ist klar, dass die Anzahl der Fortsetzungsmöglichkeiten mit der Komplexität des Ausgangszustands steigt. Daher ermöglicht erst derart logische Erkenntnis das Bemühen eines endlichen Geistes, bestimmte zukünftige Zustände herbeizuführen und andere zu vermeiden. Baumgartens in seiner hier, an der Viadrina gehaltenen Antrittsvorlesung vehement vorgetragene Behauptung, dass jeder Satz der theoretischen Philosophie von Relevanz für die Praxis sei, findet so seine systematische Rechtfertigung.

L og ic a

i n v e n t ion is

und

epist e m e ¯ est h et i k e¯

Die leisen Übergänge eines bahnbrechenden Umbruchs Von Gérard Raulet Im Gedenken an Heinz Paetzold († 2012), den Herausgeber der Meditationes »Die Sinne sind daher unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden.«1

Die Literatur über Baumgarten und über die Anfänge der ›philosophischen Ästhe­ tik‹ leidet unter zwei Fehleinschätzungen: der Skylla der Überschätzung Baumgartens und der Charybdis der teleologischen Perspektive, die auf Baumgarten den terminus ad quem zurückprojiziert und in ihm unbedingt den ›Vorgänger von Kant‹ sehen will. Die Interpretationen, die so verfahren, gehen an der R ­ ealität der Diskurse vorbei, aus welchen Baumgartens Durchbruch hervorgegangen ist. Denn die episteme¯ esthetike¯ , die Baumgarten im vorletzten Paragraphen seiner Philosophische[n] Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes aus der Taufe hob, ist keine Schöpfung ex nihilo. Vielmehr setzt sie sich mühselig, durch teilweise unscheinbare Verschiebungen innerhalb der etablierten Episteme und mit deren gedanklichen Mitteln durch, so dass äußerste philologische Vorsicht sich empfiehlt, wenn zu entscheiden ist, ob man es wirklich mit einer neuen Erkenntnisdimension zu tun hat oder lediglich mit einer Schicht oder Sphäre, die am Schnittpunkt der Logik und der empirischen Psychologie eine differenzierte Behandlung erfordert. Diese Frage ist die philologische Übersetzung des Paradoxons, das die Rezeption Baumgartens charakterisiert: Man feiert den vermeintlichen Erfinder der ›Ästhe­tik‹, aber man geht sofort zu Kant über, und damit ist die Sache abgetan, ohne dass man sich für die Wege der ›Erfindung‹ interessieren würde.2 Der Grund liegt in erster Linie darin, dass der Denkstil und die Kategorien von Baumgarten in eine Zeit gehören, die gerade durch Kants ›Revolution‹ völlig verdrängt wurden. Baumgartens Denken setzt den ganzen Hintergrund der Leibniz’schen und Wolff’schen Schule voraus, deren Logik, Ontologie und Psychologie eine Art von Subtext bilden, von dem man nicht abstrahieren kann, will man Baumgartens VorKarl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: ders., Frühschriften, hg. von Siegfried Landshut (1. Aufl. 1932), Neudruck Stuttgart 1971, 241. 2 »La contribution de Baumgarten à la constitution de l’esthétique, si elle est reconnue et saluée verbalement, est cependant pour l’essentiel occultée par l’ombre portée de Kant et par l’extraordinaire focalisation des ressources interprétatives sur la seule reprise kantienne du projet esthétique développée dans la Critique de la faculté de juger.« (Stefanie Buchenau: »Alexander Gottlieb Baumgarten«, in: Jean-François Goubet/Gérard Raulet [dir.]: Aux sources de l’esthétique. Les débuts de l’esthétique philosophique en Allemagne, 2. Auf l., Paris 2005, 102). 1

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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haben richtig erfassen.3 In Anlehnung an einige neuere Arbeiten will ich das hier in einem ersten Schritt summarisch unternehmen. In einem zweiten Schritt werde ich Baumgarten in den Kontext zeitgenössischer Reflexionen wieder einschreiben, die an demselben Strang ziehen. Abschließend werde ich thesenartig die Frage zu beantworten versuchen, wie bahnbrechend die kleinen Verschiebungen Baumgartens eigentlich gewesen sind. 1. Baumgartens ›Ästhe­tik-Projekt‹, das schon in den Meditationes mehr als nur programmatische Form annimmt, stellt eine Auseinandersetzung mit der Logik als der modernen Form der inventio dar.4 Baumgarten macht den grundlegenden Anteil der Sinnlichkeit an dem geistigen Verfahren der Erfindung geltend. Er knüpft dabei an Wolff an. Während der Cartesianismus sozusagen ›anästhe­t isch‹ war, hat sich Wolff der Leibniz’schen Rehabilitierung der Sinneswahrnehmung und dem Gedanken einer Kontinuität zwischen Sinnen und Verstand angeschlossen. Gegen eine seit Baeumler verbreitete Interpretation muss deshalb betont werden, dass Baumgarten keineswegs den Boden des Rationalismus verlässt: Vielmehr geht er davon aus, dass der ›ganze Mensch‹ ein Vernunft- und Sinneswesen ist und dass die ›sensitive‹ Erkenntnis eine Komponente des Logos ist. Das entspricht durchaus der Auffassung von Bacon, auf dessen Anregung diese ganze Entwicklung zurückzuführen ist: Um ars inveniendi zu sein, muss die Logik die Erkenntnis leiten, ohne ihr vorzugreifen, und das heißt, dass sie »von den ersten wirklichen Wahrnehmungen der Sinne selbst« 5 ausgeht und eine Verbindung zwischen dem empirischen und dem rationalen Vermögen herstellt. Auch Wolff bezieht dieses empirische Moment ein, das bei den Eigenschaften der Dinge selbst ansetzt. Er definiert zwar die ars inveniendi a priori als die Kunst, unbekannte Wahrheiten aus gegebenen Sätzen und Definitionen abzuleiten,6 aber er hält eine Erfindungskunst a posteriori für möglich und 3 Neuere Publikationen haben in dieser Richtung gearbeitet: So zum Beispiel Salvatore Tedesco: L’estetica di Baumgarten (Aesthetica Preprint Supplementa, 12), Palermo 2000, oder die Beiträge von Pietro Pimpinella. Vgl. hierzu die bibliographischen Hinweise in Buchenau: »Alexander Gottlieb Baumgarten«, 101 f., Anm. 3. 4 So meine an Gottsched erprobte These (vgl. u. a. »Zur Vorgeschichte der Einbildungskraft. Abbild, Vorbild, Bildung und Einbildungskraft bei J. C. Gottsched«, in: Richard Heinrich/ Helmuth Vetter [Hgg.]: Bilder der Philosophie, Wien 1991, 91 – 126, sowie »Johann Christoph Gottsched«, in: Goubet/Raulet [dir.]: Aux sources de l’esthétique, 177 – 244), deren meisterhafte Begründung erst durch die hervorragende Dissertation (Ecole Normale Supérieure de Lettres et sciences humaines/Yale University) von Stefanie Buchenau über Baumgarten geleistet wurde (Buchpublikation: Stefanie Buchenau: The Founding of Aesthetics in the German Enlightenment, Cambridge 2013). 5 Francis Bacon: The New Organon, in: The Works of Francis Bacon, collected and ed. by James Spedding, Robert Leslie Ellis and Douglas Denon Heath, vol. VIII, Boston 1863, 28. 6 Christian Wolff: Psychologia empirica, § 460. Hier und im Folgenden verwendete Ausgabe: Ders.: Psychologia empirica, in: ders.: Gesammelte Werke, II. Abteilung (Lateinische Schriften), Bd. 5, hg. von Jean Ecole, Hildesheim 1968.

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empfiehlt, beide nicht zu trennen.7 Dadurch emanzipiert er sich von den Grenzen der cartesianischen und leibnizianischen Auffassung: »By expanding the method of invention to the a-posteriori disciplines, Wolff buries the Cartesian dream that there is in mathematics an a-priori propaedeutic discipline for all the other sciences.« 8

Denn Leibniz war nicht bereit, sich vorbehaltlos der Bacon’schen Auffassung der Poesie als Erfindungskunst anzuschließen, obwohl er sich der Unzulänglichkeit der formalen Logik bewusst war und sie durch eine ars characteristica zu ergänzen strebte. Das Leibniz’sche Projekt einer wirklich inventiven Logik warf das Problem der Einheit der Logik bzw. der Gesamtökonomie und Einheit einer allgemeinen Logik auf. Baumgarten geht seinerseits eher in die Richtung einer um ihre Auto­ nomie kämpfenden ›sensitiven Logik‹. Denn der Ursprung der ›sensitiven‹ oder ›sinnlichen‹ Wahrheiten (auf dieses Problem werden wir sofort zurückkommen) und deren Beitrag zur inventio haben mit Leibniz’ Auffassung einer begrifflichen Kombinatorik nichts gemein. Der Anspruch, eine neue Wissenschaft zu begründen, wird dennoch nicht aufgegeben, sind doch die ›sensitiven Wahrheiten‹ weder bloße Erfahrungen aus der empirischen Praxis noch eine bloß empirisch fundierte Erkenntnis. Das unterscheidet für Baumgarten wie für Wolff und vor diesem für Bacon die Praxis des Handwerkers und alle mechanischen Künste von der Wissenschaft. Auch die Ästhe­t ik soll eine logische Wissenschaft, ein Organon der inventio sein – eine Eigenschaft, die Kant ihr bekanntlich abgesprochen hat: »Die Deutschen sind die einzige, welche sich jetzt des Worts Ästhe­t ik bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des Geschmacks heißen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst Baumgarten faßte, die kritische Beurtheilung des Schönen unter Vernunftprincipien zu bringen und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich. Denn gedachte Regeln oder Kriterien sind ihren Quellen nach blos empirisch und können also niemals zu Gesetzen a priori dienen, wornach sich unser Geschmacksurtheil richten müßte; vielmehr macht das letztere den eigentlichen Probirstein der Richtigkeit der ersteren aus.« 9

Für Kant ist die Alternative klar, bzw. die Stellung der Ästhe­t ik in der Architektonik der Vermögen lässt nur zwei Möglichkeiten zu, die auf keinen Fall vermengt werden dürfen: »die Ästhe­t ik theils im transcendentalen Sinne, theils in psychologischer Bedeutung zu nehmen«.10 Dieser Gegensatz des Transzendentalen und des Psychologischen ist, wie man weiß, zum Glaubenssatz des Neukantianismus geworden. An ihm hat sich aber Ebd., §§ 455, 457, 461; vgl. hierzu Buchenau: The Founding of Aesthetics, 41. The Founding of Aesthetics, 43.  9 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, »Transzendentale Ästhe­t ik«, in: ders.: Studienaus­ gabe in 6 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel und C. C. E. Schmid, Wiesbaden 1956, Bd. 2, 70. 10 Zusatz in der Fassung B, ebd.  7

 8 Buchenau:

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Kant selbst die Zähne ausgebissen – hat er doch bis zum Schluss an der Hoffnung festgehalten, die erkenntniskonstituierende Einbildungskraft der Kritik der reinen Vernunft und die reproduktive Einbildungskraft der Kunst auf einen gemein­ samen Nenner zu bringen.11 Diesen Glaubenssatz strafte Baumgarten von vornherein Lüge. Für ihn ist die Sinnlichkeit die »ältere Schwester der Logik«.12 Eine merkwürdige und provokative Formel, die alles andere als selbstverständlich ist. Baumgarten, kommentiert Cassirer, ›entfaltet‹ die Ästhe­tik aus der Logik. Dieses ›Entfalten‹ ist (absichtlich) doppeldeutig: Es bedeutet zugleich, dass die Ästhe­tik aus dem Schoß der Logik entsteht und dass sie sich von dem Leibniz’schen Projekt einer logica universalis freimacht. Was sich dahinter verbirgt, ist folgende ziemlich verworrene Problematik: Ohne die Radikalisierung der inventio durch Bacon, Des­ cartes und Leibniz wäre deren Verständnis in der Abhängigkeit von der Rhetorik geblieben. Aber die Antworten von Descartes und selbst von Leibniz, die in einer strengen Anwendung der dem Geist zur Verfügung stehenden logischen Denkmittel bestehen, dringen nicht bis zur eigentlichen Quelle der Erfindung. Baumgarten erfasst diese auf paradoxem Wege, indem er wieder bei der Rhetorik und Poetik ansetzt und im Gedicht die Konkretisierung einer Erkenntnisform sieht, die Sinnliches und Vernünftiges auf eigentümliche Weise verbindet. Für Bacon war die Erfindung von Argumenten in der Rhetorik keine eigent­ liche Erfindung, da man nicht eigentlich Unbekanntes entdeckte. »The invention of arguments is not properly an invention; for to invent is to discover what we know not, not to recover or re-summon that which we already know.«13 In der aristotelischen Tradition der Topik bestand sie ja nur in der Bestimmung von ­Topoi, die wert waren, behandelt zu werden. Auch die Beschränkung auf die imitatio ist unbefriedigend, denn die Natur lässt sich nicht auf den Bereich des Bekannten beschränken. Das eigentlich moderne Moment ist dabei die Auffassung, dass die Wissenschaft noch in den Anfängen ist und dass das Feld der Erkenntnis unermesslich ist. Dieses Bewusstsein ist mit der rhetorischen Praxis als einer Kombinatorik von gegebenen Versatzstücken nicht kompatibel. Als solche ging aber die Rationalisierung zunächst keineswegs in die Richtung der Versinnlichung. Die eigentliche Revolution hat darin bestanden, unter die Erkenntnisvermögen das sinnliche Organon der Ästhe­t ik einzuführen. Gerade in dieser Hinsicht geht man an Baumgartens Beitrag vorbei, wenn man seinen Ausgangspunkt in der Rhetorik verkennt und in den Meditationes oder der Aesthetica gerade die (langweiligen) Paragraphen überspringt, die seine merkwürdige Rückkehr zu den Alten belegen. Allem Anschein nach bekennt er sich zu Vgl. die Einleitung zur Kritik der Urteilskraft. § 13. Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007. 13 Francis Bacon: Of the Dignity and Advancement of Learning [De augmentis], in: The Works of Francis Bacon, ed. James Spedding, Robert Leslie Ellis and Douglas Denon Heath, 14 vols., Boston 1863, Vol. IX , Book V, 83 f. 11

12 Aesth.

Logica inventionis und episteme¯ esthetike¯131



Cicero und übernimmt im Wesentlichen dessen Einteilung der Redekunst in inventio, dispositio und elocutio – in Baumgartens Terminologie sind es die Heuristik, die Methodik und die Semiotik. Er bedient sich ebenfalls der Kategorien Ciceros – ubertas, brevitas, magnitudo, veritas, verisimilitudo, lux, persuasio –, um das poetische Argumentieren zu beschreiben. Was aber ein Rückfall hinter die Modernen zu sein scheint, die die inventio von der Rhetorik befreit und sie der Logik anvertraut hatten, ist eben der Nerv der Subversion, die Baumgarten vollzogen hat. Mit vollem Recht spricht Stefanie Buchenau von einem »rhetorical shift«, welcher den »shift of the category of invention from rhetoric to logic« rückgängig zu machen scheint.14 Zwar hatte Leibniz durch seine Reflexionen über Sprache, die für ihn in den Zeichen der natürlichen Sprachen selbst und nicht in den von ihnen ausgedrückten logischen Gedanken ihren Schwerpunkt hat, bereits einen Schritt über die Logik hinaus gemacht. Aber der Durchbruch zur Ästhe­t ik wäre ohne Wolffs Impuls undenkbar gewesen. Nicht nur hat Wolff in seiner Philosophia universalis practica der Poesie einen praktischen Wert zugestanden, sondern sein ästhe­tischer Rationalismus hat als erster den Gedanken geltend gemacht, dass das Geheimnis der Erfindungskunst mit den Mitteln der Logik nicht aufzuhellen war. In seinem Discursus praeliminaris, § 74, meint er ohne Umschweife, dass bis jetzt niemand etwas publiziert hat, was den Namen einer Erfindungskunst wirklich verdienen würde. Es geht ihm nicht nur darum, eine »Philosophie der Künste« zu fördern,15 wobei letztere in einem äußerlichen Verhältnis zur Logik der Erfindung bleiben würden. Er hält vielmehr die liberalen Künste für einen unerlässlichen Teil der Erfindungskunst. An verschiedenen Stellen seiner Psychologia empirica, die von der facultas fingendi handeln, knüpft er an Bacons Reflexionen über die Hieroglyphe an und macht geltend, dass jedes »Bild, darin Wahrheit ist«,16 hieroglyphischen Charakter hat. In diesem Sinn enthält jedes echte Kunstwerk – sei es ein Gemälde, eine Skulptur oder ein poetisches Werk – wahre Bilder. Hinzukommt die Lust am Erkennen und am Wiedererkennen bzw. Wiedererfinden: So wie erstere die Erkenntnis begleitet, geht letztere mit der ästhe­t ischen Erfahrung einher. Gleich im ersten Paragraphen seiner Schrift Von dem Vergnügen zitiert er Tschirnhaus, für welchen nichts unserem Glück förderlicher ist als das Entdecken unbekannter Wahrheiten. Daraus ergibt sich eine enge Verbindung zwischen Erfindung und Empfindung, in der man vielleicht sogar eine Vorwegnahme des Verhältnisses zwischen Genie und Rezipient sehen kann. Allerdings ist diese Lust, wie man sofort präzisieren soll, alles andere als ein Ausdruck der Sinne oder Triebe. Die Wahl des Begriffs sensitivus, den man wahrscheinlich zu Unrecht mit ›sinnlich‹ gleichsetzt, zielt darauf, den Gegensatz zum Sensualismus aufrechtzuerhalten. Zwar »ist es poetisch, Affekte zu erregen«17 – The Founding of Aesthetics, 114 und 117. Christian Wolff: Discursus praeliminaris, § 39. Hier und im Folgenden verwendete Ausgabe: Ders.: Discursus praeliminaris de philosophia in genere, Hist.-krit. Ausgabe, hg. von Günter Gawlick, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. 16 Wolff: Psychologia empirica, § 152. 17 Med. § 25. Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Medita14 Buchenau: 15

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salopp ausgedrückt: Es gehört zur Sache – aber das Gedicht lässt sich nicht auf eine Sprache der Affekte reduzieren. In § 114 der Meditationes kritisiert Baumgarten die Definition der Dichtung als »die Sprache der Affekte«, die Johann Georg Walch in seinem Philosophischen Lexicon (1728) gab. Der Affekt (affectus) stellt nur einen Aspekt der sensitiven Erfahrung dar, die wir an einem Gedicht machen.18 Wenn dieses nur Affekt wäre, würde er zum Bereich der ›sinnlichen Triebfeder‹ gehören und der Weg von der sensitiven Erfahrung zur höheren Erkenntnis bzw. zum Bereich der motiva (des verstandes- oder vernunftgemäßen Wollens19) wäre ihm versperrt. Die Lust, von der Baumgarten spricht, ist ein Vergnügen an der Vollkommenheit: Je analytisch deutlicher der Gesamtzusammenhang und je mannigfaltiger dessen einzelne Elemente sind, desto größer ist das Vergnügen. Was Baumgartens Ansatz von der Leibniz’schen Systematik grundsätzlich unterscheidet, ist nicht nur die Rehabilitierung der sinnlichen Erfahrung, sondern zugleich die Ersetzung einer vertikalen Hierarchie der Erkenntnisarten durch ein horizontales Verhältnis. Im Großen und Ganzen hatten der Leibnizianismus und der Wolffianismus die alte scholastische Tradition der unteren und der höheren Seelenkräfte oder Vermögen beibehalten: Die höheren Vermögen sind der Verstand, die Vernunft, der Wille; zu den unteren Vermögen gehören die Einbildungskraft (imaginatio), die facultas fingendi, das Gedächtnis (memoria), das analogon rationis und die sinnliche Begierde (sensus). Grundsätzlich hält sich Baumgarten an diese Typo­ logie, die er weiter ausdifferenziert – so unterscheidet er verschiedene Formen des Urteils (iudicium, ingenium, acumen) sowie Vermögen der Voraussicht (praevisio, praesagitio).20 Aber diese Unterscheidungen bedeuten zugleich eine Verfeinerung und eine Auf lösung der scholastischen Typologie. Vor allem aus der Bedeutung, die Baumgarten der facultas characteristica zuschreibt, geht eindeutig hervor, dass eine neue Auffassung der Erkenntnis im Entstehen ist, bei der die überlieferte Hierarchie nicht mehr gilt. Die Ästhe­t ik bildet ein Ganzes. Schon im dritten Paragraphen seiner Meditationes führt Baumgarten den Begriff der ›sensitiven Vorstellungen‹ (repraesentationes sensitivae) ein. Er reduziert das Sinnliche nicht mehr auf die Begierde, den appetitus sensitivus, wie es bei Wolff noch der Fall war,21 sondern er versucht vielmehr von den unteren Formen des Geschmacks zu den höheren aufzusteigen. Der Umstand, dass er in den Meditationes von Poesie handelt, hat zweifelsohne dieses Wagnis ermöglicht. Alle Interpreten, die die Bedeutung dieser Ersetzung der Hierarchie durch ein horizontales Verhältnis vernachlässigt haben, haben die extensive Klarheit ›hiertiones philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus / Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, Lat./Dt., übers. und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983. 18 Vgl. hierzu Frauke Berndt: Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750 (Hallesche Beiträge zur europäischen Auf klärung, 43), Berlin 2011, 67 und 71. 19 Vgl. Met., insb. §§ 677 ff. und § 690. 20 Vgl. »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 86 – 9 6 (§§ 29 – 45). 21 Wolff: Psychologia empirica, § 580.

Logica inventionis und episteme¯ esthetike¯133



archisch‹, d. h. abwertend, als eine Wahrnehmung verstanden, der es an Klarheit fehlt. Der § 640 der Meta­phy­sik unterscheidet hingegen nur zwischen dem Vermögen, Dinge deutlich zu erkennen, und dem Vermögen, sie undeutlich zu erkennen, welches verschiedene Formen annimmt, die Wolff alle dem analogon rationis zuschreibt. Entschieden setzt sich Baumgarten für die Anerkennung der aistheta als einer besonderen Art von Erkenntnissen – den extensiv klaren – ein. Mehr noch: Alles deutet darauf hin, dass die Logik alleine nicht auskommt. Mit Michael Jäger darf man sich durchaus fragen, ob die Ästhe­t ik nur einen ›zweiten Weg‹ neben der Logik darstellt oder ob unter cognito sensitiva nicht sowohl ein genitivus subjectivus als auch ein genitivus objectivus zu verstehen sei. Denn eines steht fest: Es handelt sich um eine Erkenntnis mit Hilfe der Sinne und im Medium der sinnlichen Erfahrung – um eine Erkenntnis, die durch die Sinne hervorgebracht wird. Nachdem er die Grenzen der traditionellen Logik unterstrichen hat, schreibt Baumgarten am Ende seiner Meditationes: »Da die Psychologie feste Prinzipien gibt, zweifeln wir nicht, daß es eine Wissenschaft geben kann, die das untere Erkenntnisvermögen lenkt, bzw. eine Wissenschaft, wie etwas sensitiv zu erkennen ist. Da eine Definition gegeben ist, kann der definitive Ausdruck leicht ausgedacht werden. Schon die griechischen Philosophen und die Kirchenväter haben immer sorgf ältig unterschieden zwischen den αἰσϑητά und den νοητά. Und ganz offensichtlich ist, daß sie die αἰσϑητά nicht allein mit den Sinneswahrnehmungen gleichsetzten, da auch das in Abwesenheit sinnlich Erkannte, nämlich die Einbildung, mit diesem Namen beehrt wird. Es seien also die νοητά – das, was durch das höhere Vermögen erkannt werden kann – Gegenstand der Logik, die αἰσϑητά dagegen seien Gegenstand der ἐπιστέμη αἰσϑητικῆ (= der ästhe­t ischen Wissenschaft) oder der Ästhe­t ik.« 22

Baumgarten entwickelt dieses Argument im ersten Paragraphen der Kollegnachschrift, wo er ebenfalls mit Nachdruck betont, dass die Ästhe­t ik als die Kunst des analogon rationis eine Wissenschaft der sinnlichen Erfahrung ist. Auch dort bestimmt er die aistheta, d. h. die nicht nur empfundenen, sondern auch wahrgenommen Dinge, als den eigentlichen Gegenstand der neuen Wissenschaft, im Gegensatz zu den noeta, d. h. zu den nur intellektuell erkannten Dingen, die in den Bereich der traditionellen Logik gehören. Nach ihm unterscheiden sich die unteren und die höheren Vermögen dadurch voneinander, dass sie zwei verschiedene Denkweisen mobilisieren und jeweils einen spezifischen Gegenstandstypus betreffen. Dasselbe folgt auch aus den Überlegungen über die beiden Horizonte der menschlichen Erkenntnis in § 119 der Ästhe­tik: den logischen Horizont der Gegenstände, die in den Gesichtskreis des Verstandes und der Vernunft gehören, und den ästhe­t ischen Horizont, d. h. den »Gesichtskreis des schönen Analogons der Vernunft«.23

22 Med.

§§ 115 f. § 119.

23 Aesth.

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Die neue horizontale Auffassung fördert insofern nicht nur die Gleichberechtigung der sinnlichen Erfahrung neben dem Verstand, sondern sie umfasst zugleich auch das ganze Spektrum der sinnlichen Erfahrung – als Quelle der entsprechenden Empfindungen, als Medium entsprechender Vorstellungen, als Fähigkeit des Geistes (Vermögen). Herder hat das in seinem vierten Kritischen Wäldchen kritisch kommentiert: »[…] [S]o hat auch in dieser Erklärung Baumgarten ein Wort gebraucht, das bis zur Vieldeutigkeit reicht und prägnant ist, das also auch bis zum Streit und zum Mißbrauch vieldeutig werden kann: sinnlich. Wie viel Begriffe paaret die Deutsche Philosophie mit diesem Worte! Sinnlich leitet auf die Quelle und das Medium gewißer Vorstellungen, und das sind Sinne; es bedeutet die Seelenkräfte, die solche Vorstellungen bilden, das sind die sogenannten untern Fähigkeiten des Geistes; es charakterisiert die Art der Vorstellung, verworren und eben in der reichen, beschäftigenden Verworrenheit angenehm zu denken, d. i. sinnlich; es weiset endlich auch auf die Stärke der Vorstellungen, mit der sie begeistern, und sinnliche Leidenschaften erregen – auf alle vier Gedankenwege zeigt das vielseitige Wort sinnlich, sensitiv, nach Wolfs, Baumgartens, und Moses Bestimmung.« 24

Auch Kant hat in seiner Fußnote in der Kritik der reinen Vernunft bemerkt, dass Baum­g arten unter Ästhe­t ik zugleich eine Wissenschaft der Sinne und eine Theorie der Poesie versteht. Die Ausdehnung des Begriffs erklärt sich wohl daraus, dass er einen Bogen von der Meta­phy­sik über die Logik bis hin zur Rhetorik und Poetik spannt. In den Medi­tationes spricht Baumgarten von einer ›philosophischen Poetik‹, deren Ziel darin besteht, die Rede zur Vollkommenheit zu führen. Diese Auffassung ist noch ganz im rhetorisch-poetischen Register verankert, mit dem sie freilich einen rationalistischen Anspruch verbindet. Mit ihrem Hinweis auf die Vollkommenheit bekennt sie sich zur leibnizianischen Auffassung. Sie stellt neben der Logik einen zweiten Weg dar, aber ihr Ziel ist dasselbe bzw. es kann dem Ziel der Logik nicht widersprechen. In seinem »Kollegium über die Ästhe­tik«, das er ab 1742 an der Viadrina lehrte, erklärt Baumgarten: »Die Ästhe­t ik wird die Vollkommenheit haben müssen, die die Erkenntnis überhaupt haben muß, wann sie vollkommen sein soll.« 25 Sie erreicht allerdings diesen Zweck auf dem Wege der ›charakteristischen‹ Vielfalt. Auch hier ist das Wolff’sche Gepräge unübersehbar: Bei Wolff war die Einbildungskraft eine facultas characteristica und die Vollkommenheit ihrer Bilder bestand in der größtmöglichen Zahl der Komponenten, die sie zu einem komplexen Zusammenhang (ordo compositus) verband.26 24 Johann Gottfried Herder: Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der Künste, in: ders.: Werke in 10 Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhe­tik und Literatur 1767 – 1781, hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1993, 377 f. 25 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 83 (§ 22). 26 Vgl. Wolff: Psychologia empirica, §§ 151 – 172.

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»In jeder Vollkommenheit ist Ordnung. Daher ist in der vollkommensten Welt die größte Ordnung, die in einer Welt möglich ist. Also sind die meisten Regeln der Ordnung allgemeine […]. Die Ordnung ist die größtmöglich zusammengesetzte, und zwar so, dass alle unteren und höheren Regeln schließlich aus einer höchsten und stärksten Regel der Vollkommenheit abgeleitet werden können.« 27

Was an einer solchen Vor- oder Darstellung ›extensiv‹ genannt werden kann, ist eben die Vielfalt der Merkmale (notae), welche die ›sensitive‹ Erkenntnis erfasst. An diesem Punkt tritt freilich eine Unterscheidung ein, die für Baumgartens Theorie geradezu fundamental ist: Vollkommenheit ist nicht Schönheit: Schön ist die Vollkommenheit, wenn sie in der besonderen Form der ästhe­t ischen Erfahrung, als Gedicht, in Erscheinung tritt und dabei einen Reichtum an Merkmalen wiedergibt. Dadurch unterscheidet sich die poetische Rede von allen anderen Redeweisen: Die Poesie stellt eine ›polysyllogistische‹ Denkweise (ratio polysyllogistica) dar. Baumgarten unterscheidet verschiedene rhetorische Mittel, die durch Veredlung, Illustrierung, Überredung oder Rührung zu dieser mehrfachen Logik beitragen. Auf diese Vielfältigkeit der Mittel, die durchaus noch zur rhetorischen Tradition gehören, kommt es aber nicht eigentlich an, sondern vor allem und in erster Linie darauf, dass der Reichtum objektiv ist und dass es sich also nicht nur – grob gesprochen – um ein Ornament handelt, sondern dass er eben wahrheitskonstitutiven Wert besitzt – davon handelt insbesondere der § 118 der Aesthetica: Dieser führt den ästhe­t ischen Reichtum nicht nur auf die subjektiven Eigenschaften der wahrnehmenden bzw. dichtenden Person, sondern auch auf den objektiven Reichtum der Gegenstände und des Stoffes zurück. Natürlich kann man diese Konzeption darauf zurückführen, dass bei Baumgarten das Band zwischen Ontologie und Ästhe­tik noch nicht gerissen ist. Vielmehr prägt Baumgarten einen besonderen Begriff, um es zu retten: die veritas aestheticologica. Ein Zwitterbegriff, der die Problematik der Verhältnisse zwischen Poetik und Logik bzw. Meta­phy­sik zugleich ausdrückt und stillschweigend überspringt, indem er die Hypotypose gleichsam zur Regel macht. Man kann sich aber auch bemühen, den fortschrittlichen Auswirkungen dieser Konzeption nachzugehen.28

27 Met.

§ 444; Übers. G. R. wenn wir eher geneigt sind, den Unterschied zwischen Baumgarten und Kant zu betonen, muss an diesem Punkt eine Verwandtschaft notiert werden, da die beiden Bereiche der Erkenntnis und des Schönen nicht eigentlich gleichgesetzt werden können und die Kommunikation bestenfalls in dem besteht, was Baumgarten als das spezifische Erkenntnisvermögen der Ästhe­t ik, nämlich der Analogie, bezeichnet. Bei Kant ist es das Symbol – die ästhe­t ische Idee als Symbol der moralischen –, bei Baumgarten, der hier vielleicht, wenn auch auf traditioneller Grundlage, weitergeht, kommt das Verhältnis zwischen Welt- und ästhe­t ischer Erkenntnis gemäß einer Gleichung in Sachen Komplexität zustande. Dieses Moment, das die empirische Vielfalt als Vehikel der Wahrheit nicht verwirft, geht weit über den Stand der damaligen Theorie hinaus und mag sich heute noch als interessant erweisen. 28 Selbst

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In der horizontalen Auffassung Baumgartens ist die Rhetorik keineswegs nur die Propädeutik der Philosophie, sie behauptet sich auf gleicher Augenhöhe. Da aber der Rationalismus an die inventio nun höhere ontologische Ansprüche stellt als die Topik der loci communes, auf welche die antike Tradition sie reduziert hatte, hat dies zur Folge, dass diese Ansprüche entweder verpuffen müssen oder dass die weitgehend delegitimierte Operation der inventio durch einen erweiterten Erkenntnisbegriff neubegründet werden muss, dessen sinnliche Herkunft sich als entscheidend erweist. Es geht um nichts Geringeres als um ihre Verbindlichkeit. Dadurch wird die Rhetorik zu einer Repräsentationstheorie. Wie aus dem letzten Paragraphen der Meditationen hervorgeht, ist dabei für sie – wie auch für die Poetik, die überdies die Vollkommenheit in der Darstellung anstrebt – die Kunst des Ausdrucks wichtiger als für den Philosophen.29 Im Frankfurter Kollegium vom Winter 1750/1751 fordert Baumgarten einen experimentellen Gebrauch der Rhetorik – einen Gebrauch, der sich vom actum compilationis unterscheiden soll.30 Das bedeutet einen deutlichen Bruch mit der aristotelischen Tradition der Topiken, die nur dazu dienen, den Syllogismen Waffen an die Hand zu geben. Auch der § 14 der Vorlesungsnachschrift zur Aesthetica markiert den Bruch mit den Alten, die unter inventio die Erinnerung an Gedanken verstanden, die man früher schon oft gehabt hat. Also setzte sich die Behauptung der neuen Erkenntnisweise in mehreren Schritten durch: Eine erste Verschiebung bestand in der Beziehung der ästhe­t ischen Erfahrung auf die rhetorische inventio, was bereits keineswegs selbstverständlich war. Eine zweite Verschiebung in dem Aufgeben der rhetorischen Fragestellung und der Einbeziehung der inventio als ästhe­tischer Erfahrung in die Poetik, d. h. in den Entstehungsprozess des Kunstwerks. Diese beiden Verschiebungen bewirken eine »Verschaltung« verschiedener Bereiche (Rhetorik, Poetik, Psychologie, Erkenntnistheorie), wie Frauke Berndt sich ausspricht.31 Auf dieser Grundlage wurde es dann möglich, aus dem Kunstwerk, dem ›Gedicht‹ als ›sinnlich vollkommener Rede‹, die hermeneutische Grundlage einer Erkundung der Spezifität der ›Ästhe­ tik‹ als Erkenntnismodus zu machen. Was Frauke Berndt als »Verschaltung« mehrerer Bereiche synchronisch beschreibt, kann in die aufeinanderfolgenden Verschiebungen zergliedert werden, die von den Überlegungen über das Gedicht zur ›Wissenschaft des sinnlichen Denkens und Darstellens‹ geführt haben. Auch Berndt spricht übrigens gelegentlich von Verschiebungen – in erster Linie hinsichtlich der entscheidenden »Verschiebung des Begriffs ›sensitivus‹ aus der Trieb- in die Erkenntnistheorie (cognitio sensitiva)«.32 Zwar ist, wie sie zeigt, der erste Kontext, in dem der Begriff sensitivus auftaucht, rhetorisch: »In den Meditationes verwendet Baumgarten den Begriff, um in den ersten sechs Paragraphen die Rede zu definieren, bevor er das Gedicht als besondere 29 Med.

§ 117. »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 129 f. (§ 114). 31 Berndt: Poema/Gedicht, 6. 32 Vgl. ebd., 41. 30 Vgl.

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Form der Rede behandelt.« 33 Dagegen ist freilich einzuwenden, dass von vorn­ herein die Rede als ein Zusammenhang von Vorstellungen definiert wird: »§ III: Vorstellungen, die durch den niederen Teil des Erkenntnisvermögens erworben worden sind, sollen sensitiv heißen. § IV: Eine Rede, die aus sensitiven Vorstellungen besteht, sei sensitiv genannt.« 34

Also wird der Begriff von vornherein zugleich auf die Rede und auf deren Inhalt, die Vorstellungen, bezogen und er ›verschaltet‹ auf eine für das ganze Unternehmen entscheidende Weise Rhetorik und Erkenntnistheorie. Der Begriff sensitivus hat seinen Ursprung in der rationalistischen Triebtheorie. Er ist deshalb, wie Frauke Berndt völlig richtig sagt, das »Einfallstor der Rhetorik in die Psychologie bzw. in die Erkenntnistheorie«.35 Gleichfalls lässt sich zeigen, dass der Plan der Meditationes allem Anschein nach der herkömmlichen rhetorischen Gliederung folgt – was auch noch von der Aesthetica gilt. Selbst die inventio ist den überlieferten Modi gemäß gegliedert. Man darf sich aber fragen, ob die drei Modi confusus, clarus, vividus noch völlig eindeutig der elocutio zugewiesen werden können. Vielmehr subvertiert Baumgarten die traditionelle Gliederung der rhetorischen Operationen und macht die Grenzen zwischen ihnen durchlässig. Die rhetorischen Fragen entpuppen sich als erkenntnistheoretische und umgekehrt. Einen Beweis dafür sieht Berndt in dem Umstand, dass »Baumgarten die Aesthetica nach dem ersten Teil (der selbst nur vier von sechs Argumentationssorten bearbeitet) abbricht – oder besser gesagt abbrechen muß, weil er nämlich schon alles gesagt hat. Was könnte er über dispositio und elocutio noch hinzufügen, wenn er die Figurenlehre bereits in der inventio erschöpfend behandelt hat?« 36

Auf den ersten Blick scheint nicht die inventio, sondern die elocutio davon zu profitieren, sodass die Interpreten dazu neigen, auf eine »Rhetorisierung des Denkens« 37 zu schließen. Wie Berndt schreibt, »projiziert [Baumgarten] die Systemstelle der elocutio auf die Systemstelle der inventio«.38 Was aber darunter zu verstehen ist, muss in Anlehnung an Ulrich Gaier richtig erfasst werden: Wenn es nicht voreilig und unvorsichtig wäre, könnte man ja auch gleich von einer ›Ästhetisierung‹ sprechen. Damit ist aber zunächst einmal nur gemeint, dass man sich am Ende der klassischen Episteme dessen gewahr wird, dass »schon der Gedanke prinzipiell eine Form der wählbaren elocutio« ist,39 also dass Denken und Darstellen nicht mehr hierarchisch zu unterscheiden sind. Dies gerade ist Baumgartens Ausgangspunkt in den Medita33 Ebd.,

27. § 3 und § 4. 35 Berndt: Poema/Gedicht, 28. 36 Ebd., 32. 37 Ulrich Gaier: »Rhetorisierung des Denkens«, in: Stefan Metzger/Wolfgang Rapp (Hgg.): Homo inveniens. Heuristik und Anthropologie am Modell der Rhetorik, Tübingen 2003, 19 – 32 (19). 38 Berndt: Poema/Gedicht, 41. 39 Gaier: »Rhetorisierung des Denkens«, 19. 34 Med.

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tiones, die von der Vorstellung, der Darstellung der Vorstellung und dem Medium der Darstellung handeln und auf diesem Weg zu einer Theorie der ›sensitiven Erkenntnis‹ vordringen. Dem stimmt Winfried Menninghaus zu: »Darstellung in ›moderner Perspektive‹ ist nicht länger nur nachträglich schmückende Ausführung, sondern setzt selbst das Feld des Dargestellten, das sonst in der inventio gefunden und in der dispositio geordnet wurde. Die elocutio wird damit theoretisch.«40

Über das Verhältnis der rhetorischen Operationen zueinander und das Fehlen einer ausführlichen Behandlung der elocutio hat man sich viele Fragen gestellt.41 Eines scheint festzustehen: Grundsätzlich ist die elocutio umso untrennbarer von der inventio, als nur sie für die Bereicherung der sonst viel zu trockenen Erkenntnis und dadurch auch für ihre Schönheit sorgt. Stefanie Buchenau resümiert: »The aesthetic type of abundance relates to the kind of cognition through which one can conceive of more things beautifully.«42 Dadurch wird aber, wie es der § 115 der Aesthetica nahelegt, die elocutio zu einem Hilfsmittel der angemessenen (d. h. sensitiven) Wiedergabe einer sensitiven Erfahrung. Nur sie macht die Erfahrung zu einer ästhe­ tischen, wie sie im Gedicht, jener sinnlich vollkommenen Rede, ihren Ausdruck findet. Wobei schwierig zu entscheiden ist, was auf die Seite der Wiedergabe und was auf die der Erkenntnis gehört: »Das erste Besorgnis im Denken der Sachen möge allerdings der Reichtum (die Fülle, der Überfluss, die Menge, die Schätze, das Vermögen) sein, wenn er ästhe­ tisch ist, aufgrund dessen ein gegebenes Subjekt, jemand, der darüber nachdenken will, in Beziehung auf einen gegebenen Gegenstand, einen gewissen zu denkenden Stoff mehreres schön denken kann.«43

2. Ein Vergleich mit Gottsched, den man zu Unrecht selten unternimmt, weil man Baumgarten mit allen Tugenden versieht, die man Gottsched abspricht, scheint mir hilfreich. Nur fünf Jahre trennen Gottscheds Critische Dichtkunst (1730) von Baumgartens Meditationes. Bodmer, Breitinger und Gottsched verfolgen wie Baumgarten die Absicht, die inventio durch den Beitrag der Poesie und der Darstellungskünste zu erweitern, zu bereichern und dadurch neu zu begründen. Durch die rationalistischen Ansprüche, die sie an die traditionelle Poetik stellt, gehört Gottscheds 40 Winfried

Menninghaus: »Darstellung. Zur Emergenz eines neuen Paradigmas bei Friedrich Gottlieb Klopstock«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt »Darstellen«?, Frankfurt a. M. 1994, 220 f.; zit. in Berndt: Poema/Gedicht, 32. 41 Vgl. Buchenau: The Founding of Aesthetics, 131 und 139. 42 Ebd., 141. 43 Aesth. § 115.

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Critische Dichtkunst zu den Werken, welche die Grundlagen der philosophischen Ästhe­t ik geschaffen haben. Schon der Umstand, dass die »Idee des Gedichtes«,44 wie Baumgarten sie nennt, von vornherein bestimmt – man könnte fast sagen: errungen – werden muss, bevor irgendwelche normativen Vorschriften formuliert werden, drückt die Überzeugung aus, dass ein Gedicht eine besondere Art von oratio ist. Cassirer hat dies in Bezug auf Baumgarten betont: »So faßt Baumgarten freilich das Gedicht noch unter den Oberbegriff der ›Rede‹; aber er wird damit seinem ästhe­t ischen Gedanken keineswegs untreu; er unterliegt nicht wieder dem Bann der bloßen Rhetorik. Denn die nähere Bestimmung, die er von dieser ›Rede‹ gibt, wehrt sofort dieser Gefahr: ›Oratio sensitiva perfecta est poema‹ [Med. § 9]: Nur diejenige Rede, die die Macht des vollkommenen sinnlichen Ausdrucks besitzt, die eine lebendige Anschauung vor uns hinzaubert und uns ständig an ihr festhält, darf ein Gedicht heißen.«45

Auch Gottsched ist sich der Spezifität der poetischen ›Rede‹ bewusst und er begnügt sich nicht mehr damit, sie im Unterschied von Vers und Prosa zu sehen – vielmehr sind ihm die ›Versemacher‹ verhasst. Denn es geht nicht um Vers oder Prosa, sondern um Affekte und um das Verhältnis der Affekte zu den höheren geistigen Vermögen. Wenn Gottsched im XI. Hauptstück seiner Critischen Dichtkunst dem Dichter einen Sonderstatus zuerkennt, betont er, dass dieser nichtsdestotrotz eben so denkt, »als andere Leute, die einen gesunden Verstand und ihre fünf Sinne haben«.46 Auf den ersten Blick scheint Gottscheds Dichtkunst das Paradebeispiel zu sein für die rationalistische Neubegründung der Theorie des Geschmacks. Sein unnachgiebiger rationalistischer Anspruch hält die Autorität der überlieferten Vorbilder für ungenügend. Der Geschmack muss sich dem Gericht der Vernunft unterziehen, dessen autorisierter Vertreter der Criticus ist, d. h. ein Gelehrter, der über die Gründe der schönen Wissenschaften Rechenschaft ablegen kann.47 Aber wie bei Baumgarten täte man Unrecht daran, nur diesen rationalistischen Anspruch wahrzunehmen und darüber die (freilich sehr disziplinierte und konsequente) Logik der kleinen Verschiebungen zu vergessen, aus welcher eine neue Ökonomie der geistigen Vermögen hervorgeht. Nicht minder entschieden als Baumgarten hat Gottsched den Geschmack als eine klare, aber nicht deutliche Wahrnehmung definiert:

44 Med.,

[Vorrede], 5. Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, 469. 46 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, in: ders.: AW, Bd. VI.1, 423; verwiesen wird auch auf die Ausgabe der Critischen Dichtkunst der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 1982 [abgekürzt: CD], 348. 47 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, Vorwort zur ersten Ausgabe Leipzig 1730, folio *5v. 45 Ernst

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»Es ist nämlich derselbe [der gute Geschmack] eine Fertigkeit, von der Schönheit eines Gedichtes, Gedankens oder Ausdrucks recht zu urtheilen, die man größtentheils nur klar empfunden, aber nach den Regeln selbst nicht geprüfet hat.«48

Gerade an dieser Stelle seiner Critischen Dichtkunst verweist Gottsched ausdrücklich auf Leibniz. In jenen Wissenschaften – so argumentiert er –, in denen man »aus deutlich erkannten Grundwahrheiten die strengesten Demonstrationen zu machen vermögend ist«,49 braucht man das Geschmacksurteil nicht. Deshalb scheint dieses nur ein Ersatz oder ein Notbehelf zu sein. Dennoch besteht die Eigenart des Geschmacksurteils darin, dass es aufgrund der einzigen sinnlichen Wahrnehmung urteilt, und aus diesem Grund neigt Gottsched dazu, ihm den Status eines voll­ berechtigten geistigen Vermögens anzuerkennen: »[…] [A]uch der Zunge [eigne ich] bloß die Fähigkeit zu empfinden zu, welche nur was Leidendes ist; da hergegen eine Kraft etwas Thätiges angezeiget hätte. Diese habe ich für den Geschmack auf behalten, in so weit er in der Seele ist: den ich also eine Kraft des Gemüthes nenne.« 50

Im letzten Augenblick entschließt er sich aber nicht zu diesem Wagnis, wiewohl er daran festhält, dass diese besondere Urteilskraft sich ganz auf die Empfindung gründet: »Ich rechne zuvörderst den Geschmack zum Verstande; weil ich ihn zu keiner anders Gemüthskraft bringen kann. Weder der Witz [51] noch die Einbildungskraft, noch das Gedächtnis, noch die Vernunft, können einigen Anspruch darauf machen. Die Sinne aber haben auch gar kein Recht dazu; man müßte denn einen sechsten Sinn, oder den Sensum communem, davon machen wollen; der aber nichts anders ist, als der Verstand. Ich sage aber, daß er ein urtheilender Verstand sey: weil diejenigen, die ihn wirklich zu Unterscheidung der Dinge anwenden, entweder äußerlich, oder doch innerlich, den Ausspruch thun: dieß sey schön, und jenes nicht. Ich setze ferner, dass sich dieses Urtheil nur auf die bloße Empfindung gründet.« 52

Gottsched macht also einen deutlichen Schritt in die Richtung eines spezifischen Vermögens, aber er zögert noch, den etablierten Rahmen der geistigen Fähigkeiten durch eine zu kühne Erweiterung zu sprengen. Gerade dieses Dilemma scheint mir Baumgarten – wenn auch genauso mühselig – überwunden zu haben, indem er jenem Erkenntnismodus, der ganz aus den sinnlichen Wahrnehmungen hervorgeht, ohne sich auf sie zu reduzieren, und der deshalb die Dinge wie undeutlich auch immer lebendig erfasst, einen Taufnamen gab, der ihm zur Existenz verhalf: cognitio sensitiva. 48 Gottsched:

Versuch einer Critischen Dichtkunst, AW, Bd. VI.1, 176; CD, 125.

49 Ebd.,

AW, Bd. VI.1, 174; CD, 121. 50 Ebd., AW, Bd. VI.1, 170; CD, 119. 51

Hier schlagen wir vor, »Witz« mit ingenium zu übersetzen. Versuch einer Critischen Dichtkunst, AW, Bd. VI.1, 174 f.; CD, 123 f.

52 Gottsched:



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Zu den Hindernissen, die der Anerkennung eines solchen Erkenntnisvermögens im Wege standen, zählte vor allem das Misstrauen gegen den ungezügelten Reichtum und gegen die Exzesse der Einbildungskraft, die sich zu phantastischen Bildern hinreißen lässt: Diese ist in Gottscheds Augen das Schandmal schlechter Dichter, die »nur den Beyfall des Pöbels suchen«.53 Bei der Verurteilung dieser ausartenden Vorstellungskraft stellt man freilich ein eigenartiges Schwanken fest: Die ungebändigte Phantasie wird als »eine gar zu hitzige Einbildungskraft« bezeichnet, was die Vermutung nahelegt, dass die Einbildungskraft willkommen ist, wenn sie »durch eine gesunde Vernunft gemäßiget wird«.54 Zwar ist es zunächst nur die reproduktive Einbildungskraft, die zu den erforderlichen Eigenschaften des Dichters gehört, neben dem Scharfsinn (acumen), der bei Leibniz und Baumgarten die Fähigkeit ist, die Verschiedenheit der Dinge wahrzunehmen, und neben dem Witz (ingenium), der ihre Identität erfasst.55 Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass Einbildungskraft und memoria nicht deckungsgleich sind: Sie folgen aufeinander und ergänzen sich. Hier beginnen die leisen Verschiebungen, die das ganze Gebäude der Schulphilosophie innerlich verändern. Tritt sie nämlich zunächst als Aktualisierung des Gedächtnisses ein – »Die Einbildungskraft nämlich bringet, bey den gegenwärtigen Empfindungen sehr leicht wiederum die Begriffe hervor, die wir sonst schon gehabt, wenn sie nur die geringste Ähnlichkeit damit haben« 56 –,

so besitzt die Einbildungskraft aber auch die Fähigkeit des Scharfsinns, zahlreiche Eigenschaften intuitiv zu verbinden und auf neue Zusammenhänge zu übertragen. Sie kann sogar als facultas fingendi, wie Wolff sie genannt hat, Dinge zum Vorschein bringen, die wir vorher noch nie gesehen haben. Dadurch unterscheidet sie sich erst wirklich von der rhetorischen memoria. Freilich ist diese Öffnung dennoch nicht revolutionär: Gottsched folgt noch ganz der Architektonik der Gemütskräfte, die Wolff systematisiert hat, und unterscheidet wie dieser zwischen facultas fingendi und memoria. Selbst wenn die Einbildungskraft dabei eigentlich produktiv wird, hat man es doch lediglich mit einer modernisierten Auffassung der taxis zu tun, denn ihre produktive Tätigkeit beschränkt sich schließlich darauf, den Stoff der Erkenntnis analytisch zu sichten und neu zusammenzusetzen: »Die Erfahrung lehret uns aber ferner, daß unsere Einbildungskraft sich nicht bloß mit vergangenen Dingen beschäfftiget; sondern sich auch auf andere Vorstellungen erstrecket, die man niemals empfunden hat. Denn sie setzet zuweilen aus vorhin bekannten Theilen etwas neues zusammen: es mag nun diese Verbindung einen 53 Vgl. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, § 12, AW, Bd. VI.1, 153; CD, 103, sowie Weltweisheit, Theoretischer Teil, § 894, AW, Bd. V.1, 520. 54 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, § 12, AW, Bd. VI.1, 153; CD, 103. 55 Vgl. ebd., Kap. II, § 11, AW, Bd. VI.1, 152; CD, 102. 56 Ebd., § 12, AW, Bd. VI.1, 153; CD, 103.

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zulänglichen Grund haben, oder nicht. Z. E. Man bildet sich einen Menschen mit Bockfüßen; eine Sanduhr mit Flügeln; den Riß zu einem neuen Gebäude; oder das Bildniß einer vollkommenen schönen Liebesgöttin ein.« 57

Nicht anders verhält es sich bei Baumgarten, bei dem die facultas fingendi nur im Absondern und Kombinieren von Einbildungen (imaginationes, phantasmata) besteht: »Ihre kombinatorische Leistung, neue Einheiten aus Einbildungssegmenten zu konstituieren, macht sie dem Witz vergleichbar.« 58 Durch Analyse und Reorga­ nisation schafft die facultas fingendi in der Fabel noch nicht gesehene Welten.59 Sie transzendiert das empirisch Gegebene durch figmenta heterocosmica (auch fictiones heterocosmicae genannt), die eine der Dichtung eigene Welt (mundus poetarum) entwerfen, indem sie, wie Baumgarten in der Kollegnachschrift schreibt, »in eine ganz andere Reihe der Dinge [führen], die nicht in dieser Welt geschehen sind«.60 Alles in allem ist diese ›produktive‹ Einbildungskraft ein Abkömmling des Witzes (ingenium), d. h. der Fähigkeit, geschickt zu kombinieren; sie ist immer noch nicht ein Vermögen, ex nihilo zu schaffen oder zu erfinden. Obwohl sie die Akzente etwas anders setzen und dadurch der Dichtungskraft die Fähigkeit zuerkennen, die Dinge in einem ›neuen‹ Zusammenhang zu sehen, bleiben Baumgarten und Gottsched schließlich dem aristotelischen Grundsatz verhaftet, nach dem »nihil est in phantasia, quod non ante fuerit in sensu«.61 Die vermeintliche ›Erfindungskraft‹ der Phantasie erweist sich als ein Hilfsmittel oder eine Verlängerung des ingenium und bleibt im Rahmen der Bacon’schen Modernisierung der inventio, die Wolff sich zu eigen gemacht hat, indem er mit Nachdruck darauf hinwies, dass die Logik nicht nur dazu dienen soll, schon Bekanntes zu formalisieren, sondern uns dazu verhelfen soll, neue Aspekte des Realen zu entdecken. Ihre Aufgabe besteht einerseits darin, das natürliche Urteil zu erziehen, um ihm die Gewohnheit beizubringen, richtig zu denken, andererseits soll die Kunst des Denkens, wie Wolff sie sich vorstellt, eine Kunst der inventio sein, die neue Dimensionen des Seins zu erkunden ermöglicht. Daran knüpft Baumgartens ›sensitive Erkenntnis‹ an. Sie ist und ist nicht revolutionär, denn sie besitzt nur eine relative Autonomie; allerdings verhilft ihr diese Auto­ nomie zur Legitimität eines erkenntniskonstituierenden Vermögens. Mit der Episteme des 17. Jahrhunderts verglichen – man nehme als Beispiel die Logik von Port-Royal62 oder Bossuet 63 – ist dennoch diese leichte Verschiebung Weltweisheit, § 893, AW, Bd. V.1, 520. Heinz Paetzold: Ästhe­tik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhe­tischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, Wiesbaden 1983, 31. 59 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, AW, Bd. VI.1, 203; CD, 149 f. 60 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, [§ 3]. 61 Met. § 559. 62 Logique de Port-Royal, précédée d’une notice sur les travaux philosophiques d’Antoine Arnauld et accompagnée de notes par Charles Jourdain, Paris 1872, Première partie, chap. 1, 34 f. 63 Jacques Bénigne Bossuet: Traité de la connaissance de Dieu et de soi-même, nouvelle édition précédée d’une introduction, d’une analyse développée et d’appréciations philosophiques et critiques par E. Lefranc, Paris, 1817, chap. I, 25 f. (§ 10). 57 Gottsched: 58 Vgl.



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ein gewaltiger Schritt. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass der Einbildungskraft eine Funktion zuerkannt wird, die sowohl von der memoria als auch von der phantasia verschieden ist. Sie wird von der Alternative der Wahrheit und der Einbildungen (phantasmata) freigesprochen, selbst wenn sie sich noch recht zögerlich als selbstständige Erkenntniskraft profiliert. Wenigstens – und das ist festzuhalten –: Sie reduziert sich nicht mehr auf die memoria, sondern sie steht nun dem Witz zur Seite, unterstützt ihn, führt seine Realität konstituierende Kompetenz sogar teilweise stellvertretend aus, wiewohl sie ihn nicht ganz ersetzt noch ersetzen darf. Denn es gibt ja nicht verschiedene Wirklichkeiten, sondern nur verschiedene Aspekte und Dimensionen der einen möglichen Welt. Was uns aber zunächst als eine Grenze für die Behauptung der ›Ästhe­tik‹ erschien, nämlich ihre Verwandtschaft mit dem Witz und ihre Abhängigkeit vom Erkenntnisparadigma, erweist sich damit als ein entscheidender Fortschritt. Nur auf diesem Weg, und das heißt indem sie das Gedicht als ein vollberechtigtes Stück Wirklichkeit behauptete, konnte sich die episteme esthetike¯ als ästhe­t ische Urteilskraft durchsetzen.

3. Damit wird zugleich – um den Bogen zu schließen – an die Frage angeknüpft, von der wir ausgegangen sind: Inwiefern wies Baumgarten wirklich über seine Zeit hinaus? Inwiefern kann diese entschieden ontologisch orientierte ästhe­tische Erkenntnistheorie Kants ästhe­t ische Urteilskraft vorbereitet haben? Bei Baumgarten ist die Kunst nicht mehr eigentlich die Sache der Rhetorik oder der normativen Poetik, obwohl mit deren Prämissen nicht gebrochen wird. Sie wird zugleich der Erkenntnis zugeordnet und subvertiert diese von innen her, insofern als ihre fortbestehende rhetorische Verankerung dazu führt, den Akzent auf das Wesen des Gedichts und auf die von ihm vermittelte Erkenntnis zu setzen. Dadurch wird eine neue Weise der Erkenntnisbildung behauptet. Diese schrittweise Verschiebung der Problematik hat zur Folge, dass die weiter bestehenden normativen Vorgaben der Rhetorik und der Poetik durch das Interesse an den subjektiven Vermögen, die für eine sogenannte ›sensitive Erfahrung‹ zuständig sind, ausbalanciert werden. Daraus folgt eine Ausdifferenzierung der geistigen Vermögen, die auf Leibniz-Wolff’scher Grundlage noch weiter geht als Leibniz und Wolff selbst und dazu führt, dass die Kunst selbst als Erkenntnismedium anerkannt werden muss. Über den Gedanken eines ästhe­tischen Rationalismus hinaus, der bei Wolff grundsätzlich schon vorhanden war, wird das ästhe­tische Urteilsvermögen zu einer Urteilskraft von Rechts wegen. Ihr hat Kant gerade endgültig ihr Recht widerfahren lassen. Daran ist nicht zu zweifeln. Ebenso wenig freilich an dem Preis, der bei Kant dafür gezahlt wurde: Der ganze Hintergrund der herkömmlichen rhetorisch-poetischen Fragestellung wird fast ganz verabschiedet. Nicht zuletzt das zentrale Moment des zugleich subjektiven und objektiven Reichtums, das in Baumgartens Aesthetica, wie gesehen, alles andere

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ist als ein ornamentales Überbleibsel und vielmehr als die Schaltstelle der Verschiebung erscheint. Bei Kant bleibt zunächst von diesem ontologischen Reichtum so gut wie nichts übrig, da es in erster Linie darum geht, den formalen Charakter des ästhe­tischen Urteils zu reinigen. Soweit es noch vorhanden ist, reduziert sich das Ornament auf die unendlich nichtssagende Schlängellinie als Symbol der freien Schönheit, der pulchritudo vaga. Im Gegensatz dazu besteht bei Baumgarten die Ästhe­t ik auch und sogar vor allem in der Materialität des Mediums. Das scheint mir die Lehre des letzten Paragraphen der Meditationes zu sein, der nicht bloß von der Ästhe­t ik spricht, sondern viel eher den Akzent auf deren Inhalte, die aistheta, setzt und dabei betont, dass man es nicht nur mit einer erkenntnistheoretischen Problematik zu tun hat: »Über das Darstellen dürfte daher der Teil der Ästhe­t ik umfangreicher als der Teil der Logik sein«, selbst wenn die Philosophen alle technischen stilistischen und Gattungsfragen den Rhetorikern überlassen sollen. Paradoxerweise hat Baumgarten beim zugleich vorsichtigen und gewagten Übergang von der Rhetorik zur Ästhe­t ik gerade dieses Moment der Materialität des Gedichts festgehalten, so dass das poema als Gedichtetes in der Tat auf einem dichten praktisch-diskursiven Fundament beruht, das sich vielleicht verflüchtigt hätte, wenn sich der ›Paradigmenwechsel‹ brutaler vollzogen hätte und wenn man nur die Aufwertung der subjektiven ästhe­tischen Erfahrung gegen den objektiven Sockel des überlieferten rhetorischen Bauwerks geltend gemacht hätte. Wie gegen seine Moral wird dadurch der Vorwurf bestätigt, der Kants Ästhe­t ik immer nachgesagt wird und der erst da Lüge gestraft wird, wo Kants reflektierende Urteilskraft sich wieder an den konkreten Umständen der wirklichen Revolution stößt. Mit vollem Recht erkennt also Rüdiger Campe der »phänomenalen Ästhe­ tik« Baumgartens die Bedeutung »eine[r] materiale[n] Rhetorik und Poetik« zu.64 Ebenso richtig ist Frauke Berndts These, nach welcher Baumgarten Medium und Vermögen nicht trennt. Das ist auf seinen Ausgangspunkt in der Rhetorik und Poetik zurückzuführen, wirkt sich aber paradoxerweise als die äußerste Pointe seines modernen Durchbruchs, nämlich als eine medientheoretische Wende aus. Baumgarten griff auf rhetorische Begriffe zurück, um seinem medienästhe­t ischen Interesse Rechnung zu tragen, weil ihm keine anderen Werkzeuge zur Verfügung standen. Darin darf man die Vorzeichen der Gründung einer Ästhe­t ik des Mediums sehen, die Lessing ebenfalls über einen Bruch mit der herkömmlichen Poetik vollziehen wird, indem er das Werk als das auffassen wird, wodurch die Einbildungskraft des dichterischen Genies mit der Einbildungskraft des Rezipienten kommuniziert. So weit ist man freilich bei Baumgarten noch nicht. Aber im Gegensatz zur gängigen Auffassung drückt bei ihm der ›sensitive‹ Ansatz ein Interesse an der Materialität der Darstellungstechnik aus, das man bei Kant – vor dem Schock der reflektierenden Urteilskraft mit den Revolutionsereignissen – vermisst. Es gibt 64 Rüdiger

Campe: »Bella evidentia. Begriff und Figur von Evidenz in Baumgartens Ästhe­ tik«, in: Zeitschrift für deutsche Philosophie 49 (2001), 252.

Logica inventionis und episteme¯ esthetike¯145



bei Baumgarten gegenüber der verstandesmäßigen Erkenntnis oder gar den Ideen der Vernunft einen materialen Überschuss des Mediums. An diesem Punkt sollte man sich mit der Stellung Baumgartens im Zusammenhang der in einem tiefen Umbruch begriffenen Theorien des Zeichens eingehend befassen, was im Zusammenhang dieses Beitrags nicht möglich ist.65 Kennzeichnenderweise muss Kant, um der Form der Anschauung von Vernunftideen gerecht zu werden, wenn ihm der Symbolbegriff nicht auszureichen scheint, zu einem Begriff aus der Figurenlehre greifen: der Hypotypose. Und dies vornehmlich in den geschichtsphilosophischen Reaktionen auf die Französische Revolution, d. h. wenn die Wirklichkeit die Theorie überfordert. Diese Feststellung regt zu einer gewagten These an, die nichtsdestoweniger philologische Relevanz beansprucht: Wenn das revolutionäre Moment in der Hypo­ typose stattfindet, dann war Baumgartens Theorie sogar revolutionärer als jene Kants. Baumgarten hat sich die Mühe gegeben, von den existierenden Kunst- und Kommunikationsformen auszugehen, um seinen revolutionären Keim in sie zu legen. Darin liegt auch für die zeitgenössische Kulturtheorie der Erfahrung ein nicht zu unterschätzendes Potenzial.

65 Ansätze

bei Frauke Berndt.

II. R H ETOR IK U N D POETIK

R H ETOR IK ••• Baumgartens Ästhe­t ik: Meta ­p hy­s ik und

t ec h n e ¯

Von Rüdiger Campe In der Debatte der letzten hundert Jahre stehen sich zwei Interpretationen der modernen Ästhe­t ik gegenüber. Alfred Baeumlers These von 1923 lautete, die Ästhe­ tik im 18. Jahrhunderts bedeute den Einspruch des individuellen Geschmacksurteils gegen die Rationalität der Wissenschaft und die Logik der Aussage. Darauf hat Martin Heidegger Ende der 1930er Jahre erwidert: Erst die philosophische Ästhe­t ik mache die Dichtung zur Disziplin der Kunst und ordne sie damit in den Rahmen und in das Vorgehen der neuzeitlichen Meta­phy­sik ein.1 Die beiden Interpretationen sind später im Streit um Baumgarten weitergeführt worden. Auf der einen Seite hat man in Baumgartens Ästhe­t ik eine Lehre der Aisthesis sehen wollen, die den engen Rahmen der Kunstphilosophie von vornherein in Richtung auf eine Philosophie der Sinnlichkeit hin überschreitet. Auf der anderen Seite ist die These von der Kolonisierung der Kunst durch die Rationalität von Philosophie und Wissenschaft vertreten worden, die sich mit der Aufstellung einer philosophischen Ästhe­t ik vollziehe.2 Die Argumente stehen sich unversöhnlich gegenüber und haben vieles von dem mitgeprägt, was seitdem an gegensätzlichen Folgeprojekten aus der Aesthetica entstanden ist: die Kunstphilosophien und die ihnen oppo­n ierenden Kulturtheorien des 19. Jahrhunderts; den emphatischen Begriff von Literatur und die Theorie der technischen Medien, wie sie das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Die Alternative der Interpretationen kann aber auf Baumgarten zurückgeführt werden. Zu beiden Auffassungen sind die Ansätze in seinem Werk erkennbar.3 Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhe­tik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschichte und Systematik, Bd. 1), Halle 1923; Martin Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes« (1938), in: ders.: Holzwege, 6. Auf l., Frankfurt a. M., 1980, 73 – 110, 73 f. 2 Zur Aisthesis-These s. Hans Adler: »Ästhe­t ik und Aisthesis. Die Funktion von Kunst und Literatur im 18. und 20. Jahrhundert«, in: Eijiro¯ Iwasaki (Hg.): Begegnung mit dem ›Fremden‹, Tokio 1990, 280 – 2 86; Diether Kliche: »Ästhe­tik und Aisthesis. Zur Begriffs- und Problem­ge­ schichte des Ästhetischen«, in: Weimarer Beiträge 44 (1998), 485 – 505.; Hans Adler (Hg.): Aes­thetics and Aisthesis. New Perspectives and (Re)discoveries, Oxford/New York 2002. Zur Koloni­sie­ rungsthese siehe Terry Eagleton: The Ideology of the Aesthetic, Oxford/Cambridge 1990, 13 – 30. 3 Eine Position jenseits der Alternative zwischen Baeumler und Heidegger zeichnet sich im Kapitel zu Baumgartens Ästhe­t ik am Ende von Cassirers Auf klärungsdeutung ab; s. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, 453 – 477. Der Kerngedanke ist, dass Baumgartens Formel von der gnoseologia inferior nicht eine Erkenntnis meine, die im Dunklen und 1 Alfred

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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Rüdiger Campe

Um den Nachweis dafür zu führen, muss man die Konstellation zwischen Meta­ phy­sik und techne¯ in den Mittelpunkt stellen. In den antiken und mittelalterlichen Wissensarchitekturen gehörte das Substanzdenken der episteme und, streng davon getrennt, die Lehre des Machens und bewerkstelligenden Handelns, wie sie die Rhetorik anbietet, dem Bereich der techne¯ an. In Heideggers Wortgebrauch bezeichnen dann die Technik der Moderne (im Unterschied zur traditionalen techne¯ ) und die Kunst der Ästhe­tik (anders als die Dichtung) den Moment, in dem die techne¯ (z. B. der Rhetorik und Poetik) vom Diskurs der Meta­phy­sik erfasst werden. Diesen Moment und seine Voraussetzungen bei Baumgarten zu bestimmen, ist nicht nur historisch interessant. Die Analyse dieses Sachverhalts hilft auch bei der Klärung beider Deutungen und der Kritik ihrer Alternative. 1. Aufmerksamkeit und Abstraktion In einer Reihe von Paragraphen der Meta­phy­sik zur Empirischen Psychologie stellt Baumgarten Aufmerksamkeit und Abstraktion als zwei umgekehrt proportional wirkende Vermögen dar. Damit tut er einen ersten Schritt dazu, ästhe­t ische, d. h. sinnliche, Erkenntnis in ein alternatives Verhältnis zum Erkennen der Wissenschaft zu setzen. Einer der beiden wichtigen Paragraphen (§ 529) findet sich zu Beginn des Abschnitts über das untere Erkenntnisvermögen, die Sinnlichkeit; er gehört in die unmittelbare Vorbereitung zur Definition von der Ästhe­t ik als Logik des Sinn­ lichen und Wissenschaft der Künste (d. h. der artes oder technai; § 533).4 Der andere Paragraph steht im Abschnitt über das obere Erkenntnisvermögen, Verstand und Vernunft (§ 638), und ist dort auch wieder in den Eingangspartien der Erörterung zu finden. Der Paragraph zu Aufmerksamkeit und Abstraktion als Vermögen der sinnlichen Erkenntnis lautet so: »Was ich klarer als anderes vorstelle, darauf gebe ich acht [attendo]; was ich dunkler als anderes vorstelle, das lasse ich ausser acht [abstraho ab eo]. Also habe ich die Vermögen des Achtgebens und des Außerachtlassens […], aber endliche […]. […] Je mehr ich also auf eine Sache achtgebe, desto weniger kann ich auf andere achtgeben […].« 5 Verworrenen liegt, sondern eine »Erkenntnis vom ›Dunklen‹, vom ›Undeutlichen‹« (456). Cassirer entwickelt seine Deutung der Ästhe­t ik aus der Spannung und dem gegenseitigen Durchdringen von thematischem Gegenstand (ars) und Form des thematisierenden Gedankens (scientia). Darin liegt die Bedeutung von Baumgartents Ästhe­t ik für Cassirers »›Phänomenologie des philosophischen Geistes‹« (IX ). 4 Die Zitate aus Baumgartens Meta ­phy­sik folgen Alexander Baumgarten: Metaphysica/Meta­ phy­sik, Hist.-krit. Ausgabe, übers. und hg. von Günther Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011; die Ästhe­tik ist zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anm. und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007. 5 Met. § 529.

Baumgartens Ästhetik: Metaphysik und techne¯151



Im entsprechenden Paragraphen zur Psychologie des Verstandesvermögens argumentiert Baumgarten dagegen so: »Wenn die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand nachläßt, während ich auf mehrere vergesellschaftete Empfindungen anderer Art achtgebe, werde ich ZERSTREUT. […] Wenn ein zerstreutes Gemüt von mehreren Vorstellungen anderer Art abstrahiert, wodurch die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand gesteigert wird, ist das die Sammlung des Gemüts.« 6

Das Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Abstraktion wirft ein Licht darauf, wie Baumgarten den Unterschied und die Beziehung zwischen Sinnlichkeit ( facultas cognoscitiva inferior) und Verstand (intellectus) und damit im weiteren Sinne zwischen ästhe­tischem und wissenschaftlichem Erkennen in der Psychologie verstanden wissen will. Aufmerksames Achtgeben-auf und abstrahierendes Absehen-von-etwas unterhalten ihr Umkehrverhältnis in beiden Bereichen. Aber sie setzen es unterschiedlich ins Werk. Vereinfachend kann man sagen, dass in der Sinnlichkeit die Aufmerksamkeit im engeren Sinne die Führung innehat.7 Sie ist der Aspekt, von dem her das Zusammenspiel in Betracht kommt: Im Bereich der sinnlichen Erkenntnisse, die unterhalb der Grenzlinie des Klaren und Deutlichen bleiben, lenkt die Aufmerksamkeit die Kraft des Vorstellens (vis repraesentativa) auf diejenigen Teile einer Gesamtwahrnehmung, die klarer sind als die anderen.8 Die Abstraktion erscheint dabei als eine bloß komplementäre Folgehandlung: Weil die Vorstellungskräfte teilbar, aber endlich sind, hat die Konzentration der Aufmerksamkeit auf den einen Teil einer Wahrnehmung notwendigerweise den Abzug der Kräfte vom anderen Teil zur Konsequenz. Offenbar liegt eine kluge oder sich selbst verstärkende Steuerung zu Grunde. Wenn ein Teil dunkler vorgestellt wird als der andere, dann zieht die Seele ihre Kräfte nämlich vom dunkleren ab, um ihren Einsatz im klareren Teil weiter zu verstärken. Das sinnliche Erkennen will soviel Ertrag an Klarheit wie möglich und verzichtet darüber auf das jeweils Dunklere. Baumgarten übersetzt dabei das lateinische »quod aliis obscurius, ABSTRAHO AB EO « selbst mit »das lasse ich aus der Acht, das werfe ich in Gedanken weg, das verdunkle ich mir, das entziehe ich meinen Gedanken«.9 Aufmerksamkeit, kann man folgern, ist aller Zerstreuung Anfang.

6

Ebd., § 638.

7 Baumgarten

verwendet Aufmerksamkeit und Abstraktion einerseits als Gegenbegriffe. Manchmal spricht er aber auch von Aufmerksamkeit, wenn er ohne Bezug auf den Gegensatz die an- oder abspannende Ausübung des Vorstellungsvermögens überhaupt meint. 8 Zum Verständnis des Handlungscharakters, der im Begriff der Aufmerksamkeit wie auch anderer Begriffe der Vermögenstheorie für Baumgarten liegt, muss man auf Leibniz’ Definition der Seele als einer Konfiguration von Kraft und Vorstellung (vis repraesentativa) zurückgehen; s.  Met. § 513; Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hg. von Carl Immanuel Gebhardt (1875 – 1890), Hildesheim 1960 f., Bd. 4, § 7, 609 f. 9 Met. § 529, Anm. b.

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Rüdiger Campe

Denselben Vorgang betrachtet Baumgarten aus der entgegengesetzten Perspektive, d. h. aus der Sichtweise der Abstraktion, wenn er im Abschnitt über den Verstand auf das Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Abstraktion zurückkommt. Die Aufmerksamkeit erscheint hier als eine möglicherweise vom Verbrauch und vom Nachlassen bedrohte Kraftausübung. Distractio, »Zerstreuung«, ist die Folge. In dieser für die Psychologie des Verstandes bedeutsamen Lage wird Abstraktion zum leitenden Aspekt. Abstraktion, die sich der Zerstreuung auf haltend in den Weg stellt, bezeichnet Baumgarten als »animi collectio« oder in seiner eigenen Verdeutschung als »Sammlung des Gemüthes«.10 Mit der Aufgabe, der Zerstreuung entgegenzusteuern, hat die Abstraktion einen neuen und eigenen Sinn im Seelengeschehen erhalten. Als Sammlung des Gemüts verstanden, wird aus dem bloßen Wegwerfen in Gedanken nun im Bereich des Verstandes der Ausgangspunkt und Garant eines eigentlich wissenschaftlichen Erkennens und Wissens. Abstraktion als Grundlage der Sammlung, die der Zerstreuung entgegenwirkt, sorgt dafür, die Kräfte des Vorstellens auf die ausgewählten Ideen versammelt zu halten und ein Abgleiten ins Dunkle zu verhindern.11 Die Überlegungen zur Psychologie von Aufmerksamkeitssteigerung (im Bereich der Sinnlichkeit) und Kampf gegen die Zerstreuung (im Bereich des Verstandes) betreffen besondere Fälle von Wahrnehmungen. Klarere und dunklere Vorstellungen treten hier in Gemeinschaft und Mischung auf. Dass Baumgarten diese Fälle jeweils zu Anfang der Abschnitte über Sinnlichkeit und Verstand erörtert, zeigt aber auch, dass sie durchaus Modellcharakter haben. An diesen Fällen zeigt sich nämlich, wie die Differenz und die Kooperation von sinnlichem und verstandesmäßig wissenschaftlichem Erkennen in Baumgartens Philosophie im Allgemeinen angelegt ist. Das Modell der umgekehrten Proportion, die dann jeweils unter der leitenden Perspektive einer der beiden Vermögen gesehen werden kann, setzt weder Baeumler noch Heidegger einfach ins Recht, es schließt aber auch keine der beiden Deutungen aus. Hinweise auf einen weiteren Schritt in der Ausarbeitung des Verhältnisses zwischen sinnlichem und verstandesmäßigem Erkennen findet man im Abschnitt über die facultas cognoscitiva inferior kurz nach dem erörterten Paragraphen zu Aufmerksameit und Abstraktion und unmittelbar vor der Einführung der Ästhe­t ik als Wissenschaft des sinnlichen Erkennens und Darstellens. Das Thema ist diesmal Gewissheit, certitudo (§ 531); und dieses Thema verweist nun aus der Psychologie heraus auf die Ontologie und darin auf die Theorie der Wahrheit (§ 93). Hier geht es nicht mehr um das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand im Rahmen der Psychologie, sondern um die sinnliche Gewissheit und die Mittel ihrer Bewerkstelligung einerseits und um die Gewissheit als Merkmal des seinsmäßig Wahren 10

§ 638. schematischen Systementwurf der Sciagraphia sieht man deutlich, dass attentio und ab­ stractio bei Baumgarten als die beiden grundlegenden Weisen, die sinnlichen Vermögen auszuüben, gedacht sind. Sie kommen in der Sciagraphia darum gleich nach der Definition der Ästhe­ tik und noch vor der Behandlung der Sinne; Sciagraphia § 26. 11 Im

Baumgartens Ästhetik: Metaphysik und techne¯153



in der allgemeinen Prinzipienlehre andererseits. Beim Thema der Gewissheit geht es, mit anderen Worten, um das Verhältnis der artes oder technai zu Meta­phy­sik und Onto­logie. Gewissheit und Ungewissheit sind Arten des vorstellenden Denkens und in dieser Eigenschaft bezeichnen sie zunächst Vergrößerungen oder Verkleinerungen des Gedachten. Denn die Sache selbst und ihre Wahrheit oder Unwahrheit stellen eigene ideelle Komplexe dar: »Das Bewusstein der Wahrheit ist Gewissheit (subjektiv betrachtet, § 93). Sinnliche Gewissheit ist Überredung [persuasio], intellektuelle ist Überzeugung [convictio]. Wer eine Sache und ihre Wahrheit denkt, denkt unter sonst gleichen Umständen mehr als einer, der nur die Sache denkt.«12

Für jeden Leser zur Zeit Baumgartens ist klar, dass die Unterscheidung zwischen persuasio und convictio aus der Rhetorik stammt. Sie umreißt das Gebiet der Rhetorik in der kürzest möglichen, aber auch in erschöpfender Weise. Im zweiten Buch der Ästhe­tik, in dem sich Baumgarten mit rhetorischer Figuration auseinandersetzt, wird diese innere Dichotomie der rhetorischen Mittel, d. h. der techne¯ der Rede, tatsächlich die entscheidende Rolle spielen.13 Welche es sein wird, deutet Baumgarten an dieser Stelle der Meta­phy­sik an: »Eine Vorstellung, welche die Gewissheit einer anderen zur Nebenfolge hat, und ihre Kraft ist entweder eine überredende oder eine überzeugende. Sichere Verständlichkeit [certa perspicuitas] ist Evidenz.«14

Erst hier ist eigentlich von technischen Mitteln im Sinne der Rhetorik die Rede. Sie sind vorstellungstheoretisch rekonstruiert als die Rollen, die Gedanken spielen, indem sie den Seelenzustand des Überredet- oder den des Überzeugtseins herbeiführen. Dadurch dass sie die Rollen des Überzeugens oder des Überredens im Denken und Reden spielen, üben diese Vorstellungen eine Kraft aus. Genau so hatte Baumgarten vorher – bevor er auf die Theorie der Gewissheit gekommen war – beweisenden, erläuternden, erhellenden und aufschließenden Gedanken jeweils eine bestimmte logische Kraft des Vorstellens zugesprochen.15 Mit der Evidenz kommt Baumgarten dann wieder auf einen einheitlichen Begriff zurück: So wie Gewissheit die Einheit von Überzeugtsein und Überredetsein im Bewusstsein der Wahrheit ist, so kommt offenbar auch der Evidenz bei den Mitteln der Gewissheitserzeugung eine Art von Einheit zu. Allerdings ist diese Einheit eher eine Neutralität oder Unbestimmtheit. Certa perspicuitas, die Gewissheit erzielende 12 Met.

§ 531. §§ 730 – 8 07: argumenta illustrantia (für die kognitiven Figuren der Überzeugung) und §§ 829 – 9 04: peruasio aesthetica; vgl. Näheres dazu in meinem Aufsatz »›Bella Evidentia‹. Der Begriff und die Figur der Evidenz in Baumgartens Ästhe­t ik«, in: Rüdiger Campe/Anselm Haver­ kamp/Christoph Menke: Baumgarten-Studien, Berlin 2015, 49 – 71, dort: 66 – 70. 14 Met. § 531. 15 Vgl. ebd. 13 Aesth.

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Transparenz im Denken und Reden markiert eine Einheit im Gebrauch der Mittel, die jenseits der aus der Rhetorik vertrauten, technischen, Scheidung von persuasio und convictio liegt.16 Auch dieser Befund begegnet später in der Figurenrhetorik der Ästhe­tik wieder. Während Baumgarten dort sehr genau zwischen Figuren der Überredung und Überzeugung unterscheidet, sieht er in der Evidenz doch die ihnen beiden gemeinsame Qualität des Figurengebrauchs in der Rede überhaupt.17 Man kann sagen, dass diese evidenziale Gemeinsamkeit sowohl jenseits der Rhetorik und damit auch jenseits der für die Rhetorik charakteristischen Technizität von Mitteln liegt. Sie zeigt den Einsatzpunkt der Ästhe­tik als den Moment der Überschreitung der Rhetorik in die Ästhe­t ik an. Die Evidenz bringt also die strukturelle Dualität im Bewusstein der Gewissheit auf der Ebene der Mittel zu einer Art von Einheit. In ihrer Steigerungsform spielt der Gegensatz von Sinnlichkeit und Intellekt keine Rolle mehr. Das ist die entscheidende Markierung der Evidenz. Denn die rhetorisch-technische Zweiheit der Gewissheit im Bewusstsein der Wahrheit ist das Kennzeichen ihrer empirisch psychologischen, d. h. subjektiven Natur. Der Paragraph 531, in dem Baumgarten von ihr spricht, weist ausdrücklich zurück auf einen Paragraphen über objektive Gewissheit, der im Teil über die Ontologie zu finden ist. Dort heißt es: »Objektive Gewissheit (vgl. § 531) ist die Begreiflichkeit der Wahrheit im Ding [apperceptibilitas veritatis in ente]. Nun ist die Wahrheit eines jeden Dinges klar erkennbar (§§ 90, 818). Also ist jedes Ding objektiv gewiß.«19

Objektiv gewiss ist das Sein der Dinge im Wahren; im Bewusstsein ist subjektive (empirisch pyschologische) Gewissheit nach der Art der Rhetorik modelliert, d. h. in persuasio und convictio geteilt. Die Einheit, die auch dort schon im zusammenfassenden Begriff der Gewissheit und dann im ästhe­t ischen Terminus der Evidenz angedeutet war, weist aus der Empirischen Psychologie heraus auf die Ontologie zurück.20 16 In dieser Darstellung ist die vermittelnde Rolle der (rhetorischen) Poetik zum Zweck der Vereinfachung übersprungen: Evidentia oder Vor-Augen-Stellen wird seit der Renaissancepoetik oftmals als rhetorische Füllung der poetologischen Nachahmung genannt. Zwischen der Rhetorik und der Ästhe­t ik steht bei Baumgarten die Poetik als eine vermittelnde Instanz, in der er schon eine Einheit der rhetorischen Leistungen annimmt, sie aber immer noch als eine Art rhetorischer techne¯ versteht. 17 Met. § 531; Aesth. §§ 847 – 854. Kant hat sich in seinem Handexemplar der Meta ­phy­sik zwischen § 529 und § 530 notiert, dass es hier um den Unterschied zwischen Subjektivem und Objektivem gehe (Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysics, transl. and ed. by Courtney D. Fugate and John Hymes, New Dehli/New York/Sydney 2013, 203). 18 Baumgarten verweist an dieser Stelle auf den Satz des Widerspruchs. 19 Met. § 93. 20 Aus erkenntnistheoretischer Sicht – mit der Frage nach der Möglichkeit einer Erkenntnis der Wirklichkeit der Welt – s. zu diesen Paragraphen Alexander Aichele: »Wahrheit – Gewissheit – Wirklichkeit. Die systematische Ausrichtung von A. G. Baumgartens Philosophie«, in: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Auf klärung, 20), hg. von Aleander Aichele und Dagmar Mirbach, Hamburg 2008, 13 – 36, hier: 25 – 27.



Baumgartens Ästhetik: Metaphysik und techne¯155

Man versteht nun, was es heißt, dass die Definition der Ästhe­tik als Logik der Sinnlichkeit und Wissenschaft der Künste (der artes oder technai; § 533) kurz nach dem Paragraphen über persuasio, convictio und evidentia folgt: Die Einheit der Ästhe­ tik – so kann man verstehen – geht genau um ein wichtiges Stück über das hinaus, was die herkömmliche Rhetorik leisten wollte. Dieses Stück ist, dass die Ästhetik die subjektive Gewissheit der rhetorischen Verfahren nun an derjenigen Einheit ausrichtet, wie sie die Ontologie als objektive Gewissheit fordern kann. Von der Ontologie zur Psychologie (oder zur Lehre vom Bewusstsein der Denkvorgänge) führt, andersherum gesagt, die Auf lösung des Einen in die Zweiheit. Objektive Gewissheit des Seins ist ein und dieselbe; und weil sie immer nur eine ist, ist die ontologische Gewissheit objektiv. Subjektive Gewissheit im Bewusstsein ist dagegen zweierlei; und indem sie zweigeteilt ist, ist sie subjektiv. Die Lage nimmt sich also komplex aus, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Umformung der traditionellen Rhetorik und des in ihr mitgegebenen Begriffs der techne¯ ansieht: Die Rhetorik ist in ihrer technischen Natur das Modell des Bewusstseins des Wahren, obwohl das Bewusstsein sicher nicht auf Rhetorik zu redu­ zieren ist. Andererseits kann man nur in der zur Ästhe­tik entwickelten Rhetorik den Vorschein einer Einheit der beiden Stämme des Bewusstseins (wie Kant sagen wird), d. h. von Sinnlichkeit und Verstand, finden. Diese ästhe­t ische Rhetorik wird dann die Wissenschaft der Künste, der artes und technai, sein. Die Ästhe­t ik wird bei Baumgarten damit zum Bauelement des philosophischen Systems. Aber sie vermittelt nicht wie später bei Kant zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der Freiheit, sondern sie modelliert das Verhältnis zwischen dem objektiven Diskurs der Ontologie und der Subjektivität des Bewusstseins in der Empirischen Psychologie. Die Ästhe­t ik tut das zweifach, d. h. durch ein zwei­ faches Verhältnis von Meta­phy­sik und techne¯ : Nach dem Modell der rhetorisch-technischen Zweiteilung von Überreden und Überzeugen überführt sie den Diskurs über das Sein in den Diskurs über das Bewusstsein; und auf das Leitbild der Evidenz hin formt sie die technischen Bestandteile des ästhe­tischen, sinnlichen Machens und Erkennens in eine Zweck- und Wesensbestimmung um. Die Ästhe­t ik rechtfertigt damit die Erwartung Baeumlers auf die Erkundung eines streng individuellen Urteils. Denn die Zweiheit von überredenden und überzeugenden Gedanken zeugt von der Immanenz der Sphäre einer techne¯ , die immer nur Gegenstand von ingenium und iudicium in rhetorisch-poetologischer Tradition sein kann. Die Evidenz des Transparenten kann dabei nur als angenommene Leitvorstellung dienen. Von hier aus gesehen ist Ästhe­t ik eine neue und eigene Wissensform vom Subjektiven und von der Sinnlichkeit. Andererseits nährt die Stellung der Ästhe­tik in Baumgartens Meta­phy­sik aber nachhaltig den Verdacht Heideggers, wonach disziplinäre Ästhe­t ik nichts anderes als eine Technik des Sinnlichen ist. Damit ist gemeint, dass die techne¯ der Rhetorik in ihrer unauflöslichen Zweiheit doch grundlegend auf die Einheit einer Evidenz bezogen ist, die schon auf die metaphysische Theorie des Wahren als des Gewissen zugreift. Wenn die technischen Formen des Machens und bewerkstelligenden Handelns einmal der Einheit im Namen der metaphysi-

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schen Objektivität verpflichtet sind, kann man sie im Sinne Heideggers als Technik bezeichnen. Die Ästhe­tik, wie Baumgarten sie im Rahmen seiner Meta­phy­sik entwickelt, legt je nach Akzentuierung der einschlägigen Stellen beides nahe – die Baeumler’sche Deutung und die Heideggers. Damit ist der Widerspruch zwischen beiden Deutungen auf ihre Voraussetzung und zuletzt auch hinter Erwartung und Verdacht zurückgeführt. Dieser These soll hier in zwei Schritten nachgegangen werden. Die beiden Schritte richten sich auf die Ästhe­t ik aus der größtmöglichen Entfernung voneinander, die in Baumgartens Werk denkbar ist: erstens Begreiflichkeit oder apperceptibilitas, die Selbstauslegung des Seienden im Rahmen der geschaffenen Welt, und zweitens die Ästhe­t ik als Wissenschaft von einer sinnlichen Erkenntnis, die neben den schönen Künsten auch das Experiment der Naturforschung mit umfasst. Die Beziehung von Meta­phy­sik und techne¯ wird damit jeweils von einer der beiden Seiten her thematisch. Apperceptibilitas beleuchtet den Zusammenhang von Meta­phy­sik und techne¯ von der Ontologie aus. Unter dem Titel der ästhe­tischen Experimentalkultur sieht man auf den Zusammenhang vom Problem der techne¯ aus. In einem abschließenden letzten Schritt, in dem man zur Frage von Aufmerksamkeit und Abstraktion zurückkehrt, geht es dann noch einmal um Rhetorik und Psychologie. 2. Apperceptibilitas Begreiflichkeit oder Auffassbarkeit-als-etwas (apperceptibilitas) ist ein für Baumgartens Meta­phy­sik bezeichnender, allerdings auch ein vereinzelt auftretender Begriff. Baumgarten zeigt mit ihm die strukturelle Möglichkeit für das an, was man in einer modernen Ausdrucksweise den Sinn der im Welthorizont begegnenden Dinge nennen könnte. Umgekehrt müsste man in einer solchen Diktion dann auch sagen, dass, indem apperceptibilitas die Gesamtheit der Dinge als Inbegriff eines Orts von Auffassbarkeit und Verstehbarkeit anbietet, diese Möglichkeit des auffassenden Vorstellens mit zur Begründung dessen gehört, was unter einem modernen Begriff von Welt verstanden wird.21 Baumgartens Konzeption nach ist im Paragraphen 21

Der moderne Begriff der Welt ist seit Husserl und Heidegger der Uexkuellsche Begriff der Umwelt lebender Systeme. Baumgartens Weltbegriff ist dagegen im Grundsatz die kosmologische Zusammenordnung von Teilen zu einem stimmigen Ganzen. Allerdings – und dem geht die Argumentation hier nach – bringt Baumgarten in das, was er den nexus universalis oder kurz das universum nennt (Met. § 357), durch die darauf bezogene apperceptibilitas den Gedanken eines diesen Zusammenhang aufschließenden Auffassens ein (die objektive Wahrheit ist apperceptibilitas entis [»Begreiflichkeit der Wahrheit im Ding«; Met. § 93] und der ›allgemeine Zusammenhang‹ oder nexus universalis besteht zwischen Dingen in ihrer Einzelheit [Met. § 48]). Damit ist ein Ansatz für den modernen Weltbegriff gegeben. Vgl. in diesem Zusammenhang Hans Adler: »Horizont und Idylle. Aspekte einer Genealogie von Aisthesis und Noesis«, in: Hans Adler/ Lynn L. Wolf (Hgg.): Aisthesis und Noesis. Zwei Erkenntnisformen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegen­ wart, München 2013, 25 – 42.



Baumgartens Ästhetik: Metaphysik und techne¯157

über die objektive Gewissheit die Auffassbarkeit auf die Wahrheit der Dinge und die Entwicklung ihrer Eigenschaften bezogen (veritas entis), die ihnen entweder zukommen oder nicht (d. h. die die Realität ausmachen oder nicht zur Realität gehören). In der apperceptibilitas erschließt sich letztlich die Ganzheit der Eigenschaften und Folgebestimmungen, der Verknüpfungen und Beziehungen des Seienden (nexus universalis, § 48). Die Auffassbarkeit holt im Erkennen der Dinge und ihrer Bestimmungen die metaphysische Bedingung von objektiver (nach Baumgartens Wort: transzendentaler) Wahrheit ein, ›Ordnung von Mehrerem in Einem‹ (ordo plurium in uno) zu sein. Als ›objektive‹ oder ›transzendentale‹ Wahrheit steht apperceptibilitas damit ein für die Möglichkeit einer Konvergenz zwischen der Realität der Dinge mitsamt ihren Bestimmungen und den allgemeinen Prinzipien der Erkenntnis des Wahren. Bei Leibniz hatte das von Descartes herkommende Wort apperceptio die Bedeutung erhalten, wonach etwas vom Selbst des Wahrnehmenden verschieden und doch seinem Verstehen und Erkennen in besonderer Weise zugewandt ist. In der apperceptio wird für das auffassende Bewusstsein die eigene perceptio mit zum Gegenstand im Zusammenhang ihres Auffassens der Dinge. Nun fällt nach Baumgarten die Einheit der objektiven Gewissheit des Seienden im Bewusstsein, d. h. in der Apperzeption, im Vollzug der vorstellenden Auffassung in die rhetorikmodellierte Zweiheit von Überredung und Überzeugung auseinander. Apperceptibilitas ist also die (objektive) Einheit als Möglichkeit der (subjektiven) Zweiheit der verschiedenen Formen der Apperzeption in Sinnlichkeit und Verstand. In der Auffassbarkeit ist das eine oder das andere, Überreden oder Überzeugen in der Form von sinn­ lichem und intellektuellem Vorstellen möglich. Als Möglichkeit, die sich in unter­ schiedlichen Formen realisieren kann, ist apperceptibilias ihrerseits aber eins und mit sich identisch. Was bedeutet es, einen solchen Begriff der Möglichkeit des Auffassens, der Auffassbarkeit, anzusetzen? Man kann zwei Richtungen nennen, in die diese Frage in Baumgartens Meta­phy­sik führen kann. Die eine ist die Untersuchung der Einheit alles möglichen Auffassens, Perzipierens und Apperzipierens von Dingen; die andere ist die Bereitstellung einer solchen Einheit als einer bestimmten und aus Nichts geschaffenen Einheit des Seienden. Zum ersten: Die Aufgabe besteht für Baumgarten im Einklang mit der traditio­ nellen Meta­phy­sik darin, die Möglichkeit der Korrespondenz zwischen der onto­ logischen Wahrheit des Einen im Vielen und der Auffassung der einzelnen Dinge mit ihren inneren und gegenseitigen Verflechtungen im nexus universalis aufzuzeigen. Im Zeichen der apperceptibilitas steht diese Entsprechung genauer in Frage zwischen der Art und Weise, in der Vorstellungen zu überzeugen oder zu über­ reden vermögen, auf der einen Seite und dem ordo plurium in uno, der Ordnung des Vielen im Einen, auf der anderen. Baumgarten sagt zur Frage der Korrespondenz im Allgemeinen: »Folglich kann die metaphysische Wahrheit als Übereinstimmung des Dinges mit den allgemeinen Prinzipien definiert werden« (d. h. mit den Prinzipien, nach denen einzelnes Seiendes in seinen Eigenschaften und Affek-

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tionen jeweils bestimmt ist).22 Auf dieser allgemeinen Entsprechung zwischen der Einheit des Vielen und den Prinzipien, nach denen das einzelne Seiende bestimmt ist, ruht die von der apperceptibilitas geforderte Konvergenz im engeren Sinne auf. Ihr zufolge soll in der Verfassung der Dinge im nexus universalis die objektive Möglichkeit angelegt sein, dass Dinge zugleich auch subjektiv, d. h. sinnlich oder intellektuell, als Vorstellungen von Dingen mitsamt der Vorstellung ihrer Wahrheit im Bewusstsein aufgefasst werden können. Die Entsprechung findet in diesem Fall auf einer zweiten Ebene statt. Sie steht in Frage nicht zwischen einer im Vorhinein existierenden Ordnung der Dinge und gegebenen Auffassungsweisen, sondern zwischen der Möglichkeit, dass Mannigfaltiges zur Einheit kommt, und der Realisierung von Prinzipien, die sich im sinnlichen Wahrnehmen und den Operationen des Verstandes vollzieht. Im Abschnitt zur Empirischen Psychologie hatte die evidentia oder certa perspicuitas den Fluchtpunkt einer problematischen Einheit der verschiedenen, zwischen Sinnlichkeit und Verstand geteilten Kunstübungen des Überredens und Überzeugens bezeichnet und blieb damit im Bereich der rhetorisch-technisch modellierten Bewerkstelligung von Gewissheit, d. h. im Bereich subjektiver Gewissheit. Dagegen steht apperceptibilitas für die metaphysisch objektive Einheit von ontologischer Ordnung und subjektiver Vorstellung. Certitudo wird in der Spannung zwischen objektiver und subjektiver Gewissheit zum Thema, bei dem die Korrespondenz zwischen der Ontologie und der Theorie der Erkenntnis zur Erörterung steht. Die einander korrespondierenden Bestimmungen sind durch die Möglichkeitsform der Auffassbarkeit auf der einen Seite und die rhetorisch-technische, überredende wie überzeugende evidentia auf der anderen gegeben. So sehr von beiden Seiten her die Konvergenz zwischen objektiver und subjektiver Gewissheit vorangetrieben ist, bleibt der letzte Abstand zwischen Meta­phy­sik und techne¯ unberührt. So endet die Eröffnung der Möglichkeit, des Auffassbaren, in der Ordnung der Dinge nicht in den Gewissheiten, wie wir sie erkennen und bewerkstelligen: Apperceptibilitas heißt, dass die Perzeptionen nicht den Strukturen der einen bestehenden Welt entsprechen, sondern nur der Weise, wie Welten überhaupt zur Einheit geordnet werden. Die in Baumgartens Ästhe­t ik so wichtige Fiktionsthematik hat hier ihren Ort. Sie hat dabei nichts mit einem freien Spiel der Einbildungskraft zu tun. Vielmehr geht die objektive Auffassbarkeit der Dinge im nexus universalis sofort und nur auf die Konvergenz zweiter Ordnung zwischen der Einheit des Vielen und den Prinzipien von Perzeption und Erkenntnis überhaupt hinaus. Die technai von Überzeugen und Überreden sind bei Baumgarten Modelle der subjektiven Gewissheit und ihrer Bewerkstelligung. Sie haben keinen unmittelbaren Zusammenhang damit, wie es zur Ordnung der Dinge, die wir vorfinden, gekommen ist. Sie haben keinen Bezug zur Schöpfung der Welt. Die Mittel zum Erzielen der Gewissheit in Sinnlichkeit und Verstand sind in ihrer Gespaltenheit strikt anderer Art als das Herstellen des einen und bestimmten nexus universalis der geschaffenen Welt. Wenn die Ästhe­ 22 Met.

§ 92.

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tik mit der certa perspicuitas der Evidenz zuletzt eine Einheit von Überredung und Überzeugung ankündigt, dann zeigt sich hier aber immerhin die Spur einer anderen, neuen Art von technischem Tun und Bewerkstelligen, eine Technologie, die an die objektive Einheit des Vielen heranreicht. Die Theorie von der Korrespondenz zwischen Auffassbarkeit und Evidenz ermöglicht von daher auch ein zweites Verständnis der Baumgarten’schen Meta­phy­ sik. Dieser Deutung zufolge ist der nexus universalis und seine Perzeption als das Werk der göttlichen Schöpfung zu interpretieren. Damit kommt man zu der anderen Argumentationslinie, die man von der Ontologie aus in Baumgartens Meta­ phy­sik verfolgen kann. Es ist nicht umsonst, dass die Meta­phy­sik mit einem Abschnitt über die drei opera­tiones des christlichen Schöpfergottes schließt: mit der Erschaffung der Dinge, der Vorhersehung und der Offenbarung (§§ 926 – 1000). Um die Bedeutung dieses Schlusses im gegebenen Zusammenhang genauer zu sehen, hilft es, auf eine frühe Überlegung von Hans Blumenberg zurückzugreifen. Nach dem Verständnis Blumenbergs sind Rahmenordnungen für den Welthorizont – ›Wirklichkeiten‹, wie Blumenberg sagt – durch eine zu Grunde liegende Konfiguration von physis und techne¯ (bzw. von natura und ars) bestimmt.23 Die antike – griechische – Konfiguration fasst demzufolge techne¯ nach Maßgabe der physis auf: Techne¯ ist die Verlängerung und Perfektion der Natur und ihrer Formprozesse. Damit ist techne¯ der Natur zwar entgegengesetzt, ihre Möglichkeiten sind aber an den Vorgaben der physis orientiert. Das Umgekehrte ist Blumenberg zufolge in der christlichen Meta­phy­sik der Fall. Wirklichkeit beruht hier auf der Vorstellung vom Kosmos als dem Werk einer Schöpfung und damit auf einer zuletzt technischen Konstruktion durch einen Werkmeister. Sieht man aber die Welt durch einen Schöpfungsakt bestimmt, dann wird, diesem Gedanken zufolge, die natura ihrem Wesen nach das Werk der ars, der Technik. Das Verhältnis zwischen physis und techne¯ im griechischen Denken kehrt sich im christlichen und dann neuzeitlichen Verhältnis schöpfungstheologischer ars und natura um. Baumgartens nachdrückliche Betonung der personalen Schöpfung am Ende der Meta­phy­sik kann man von dieser These Blumenbergs aus verstehen. Der Gedanke der Emanation, insistiert Baumgarten zum Beispiel, wäre verfehlt. Denn »durch eine derartige Schöpfung würde die Welt […] nicht aus dem Nichts erschaffen [actuaretur]«.24 Die Aktualisierung, die Baumgarten meint, ist also nicht als Übergang oder auch Übersprung aus der Möglichkeit, die Gottes Wesen ist, in die Form des Kosmos zu verstehen. Sie erfordert stattdessen einen personal 23 Hans

Blumenberg: »Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem«, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2001, 253 – 265; ders.: »Technik und Wahrheit«, in: Proceedings of the XI. International Congress of Philosophy, Amsterdam 1953, 113 – 120. Vgl. Rüdiger Campe: »Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher. Blumenbergs systematische Eröffnung«, in: Anselm Haverkamp/Dirk Mende (Hgg.): Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie, Frankfurt a. M. 2009, 283 – 315, dort: 299 – 307. 24 Met. § 927.

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verantworteten und grundlegend technischen Akt nach dem Modell von Ursache und Wirkung: »Die Wirkursache verwirklicht die Wirkung [Causa efficiens actuat effectum] […]. Gott ist die Wirkursache dieses Universums.« 25 Jedenfalls wenn man so scharf akzentuiert wie Blumenberg, kann man sagen, dass die Einheit im Vielen, die metaphysische Wahrheit, am Ende der Meta­phy­sik nicht nur als die (in Baumgartens Sinne ›transzendentale‹) Gesamheit der Bestimmungen des Seienden und nicht nur als die Realität des Möglichen verstanden wird, sondern zugleich auch als Ergebnis eines Akts des technischen Machens. Dieser Zusammenfall von objektiver Ordnung und herstellendem Akt, von Rea­ lität der Bestimmungen des Seienden und Schöpfungswerk des personalen Gottes ist der Inbegriff der Technik in einem modernen, von der techne¯ der Rhetorik und der alten artes klar unterschiedenen Sinne. Damit scheint die zweite Linie der Überlegung zuletzt doch auf eine Heidegger’sche Diagnose zuzulaufen: Baumgartens Begriff der objektiven Wahrheit verbündet sich nach dieser Leseweise mit dem Bild einer technischen Moderne, in der die Auffassbarkeit des Seienden und die sinnlich-intellektuelle Evidenz, geschaffene Natur und ästhe­tisches Erkennen gleicher Art wären. So könnte man Baumgarten in einem durchgreifenden Sinne allerdings nur dann verstehen, wenn sich die Ästhe­t ik, die ja von der rhetorischen techne¯ ausgeht, auch ihrerseits als eine Art von moderner Technik erweisen ließe. 3. Ästhe­tik als Experimentalkultur Es hat den Charakter der Gegenprobe auf die Eigenart von Baumgartens Ästhe­ tik, wenn man sie nun von der Seite der ästhe­tischen Übungen her in den Blick nimmt. Dabei ist zuerst und vor allem an die Kapitel der Ästhe­tik zu denken, in denen Baumgarten die praktische Ausbildung von Körper und Geist in der Tradition der quintilianischen Institutio oratoria behandelt. Mit dieser Sicht auf Baumgartens Werk macht man die Beziehung von Meta­phy­sik und techne¯ von der techne¯ her zum Thema. Es geht um technai im hergebrachten und genauer gesagt in einem physisch-psychologischen Sinn: Das ingenium stiftet die Anlagen zu den körper­ lichen, sinnlichen und intellektuellen Kräften der Kunstausübung, ob in Rhetorik und Dichtung oder in Musik und Malerei; und in der spielerischen oder der disziplinierend angeleiteten Übung, exercitatio, schließt sich daran die techne¯ an. Die Einübung körperlicher und geistiger Fertigkeiten ist das klassische Beispiel naturergänzender techne¯ . In Deutungen der Aesthetica haben die exerictationes aestheticae in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit gefunden.26 Man kann das gut verstehen. Denn in einer Ästhe­ § 926. Dazu Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, 459. W. Groß: »Felix aestheticus und Animal symbolicum«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001), 275 – 298; Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhe­tischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, 25 – 45. 25 Ebd.,

26 Steffen

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tik, der es um die psychologische Interpretation der Rhetorik und die rhetorische Interpretation der Psychologie geht, nehmen ästhe­t ische Wiederholungspraktiken, wie sie Quintilian besonders gründlich ausgearbeitet hatte, eine neue Bedeutung an. Bis zu Quintilian hatten die Übungen des Lesens, Schreibens und Aufführens den Charakter eines Vor- oder Nachspiels des sprachbezogenen Regelwerks der Rhetorik. Die Übungen bildeten einerseits das Vorspiel der Erziehung, und andererseits ging es bei der actio um die Realisierung der Rede. Schon in Quintilians Institutio – also Lehr- und Trainingswerk – der Rede nehmen diese beiden Außenseiten der Rhetorik dagegen eine dominierende Rolle ein. Sie überführen den Unterricht in die Einübung einer Lebensform, deren bevorzugte Stätte die Rednerschule und dessen Ziel das Leben des gebildeten Bürgers ist.27 Gegenstand der institutio wird das physische und intellektuelle Leben des Einzelnen. Diese Linie hat Baumgarten weitergeführt und geradezu zur Urszene der Ästhe­t ik werden lassen. Entziehen sich nämlich verworrene Vorstellungen der analytischen Beobachtung und Besprechung – das ist nach Christoph Menkes Befund die negative Grund­bedingung der modernen Ästhe­tik nach Descartes28 –, so liegt in den Wiederholungspraktiken der Übung die Faktizität des Ästhetischen zu Tage. Das unverrechenbare ästhe­tische Urteil kommt in der Wiederholung der Übung zur Gegebenheit, wenn auch nicht für die Theorie, so doch in praktischer Hinsicht. Im Text von Baumgartens Meta­phy­sik hat die Übung im Zusammenhang der sinnlichen Erkenntnis eine ganz eng umgrenzte Aufgabe. Für das Vermögen von Scharfsinn und Witz, die uns befähigen, das Ähnliche und das Unähnliche zu erkennen, braucht es, sagt Baumgarten, die »häufige Wiederholung gleichartiger […] Handlungen«.29 Das exercitium macht aus dem Vermögen ( facultas) eine Fertigkeit (habitus). Dass gerade in der Übung, Ähnliches und Unähnliches aufzufinden, der Ausgangspunkt für die ästhe­tischen Übungen überhaupt liegt, hat seinen Grund wohl in einer weiteren Besonderheit dieses Vermögens. Die Fähigkeit, Ähnliches und Unähnliches zu erkennen, gibt es in einer sinnlichen und einer intellektuellen Spielart; und die durch Übung zu erwerbende Fertigkeit hat ihren Sinn wohl gerade in der Fertigkeit, Ähnliches und Unähnliches im Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand habituell aufzufinden. Von dort aus liegt dann nahe, was die später auf die Meta­phy­sik folgende Ästhe­tik von der Übung sagt, wo sie zu einem ganz eigenen Thema und zu einer der Grundlagen der neuen Disziplin des philosophischen Denkens wird. Die »häufigere Wiederholung gleichartiger Handlungen« wird hier in verallgemeinerter Weise als Einübung in die »Übereinstimmung des Geistes und der Gemütsart [ingenii ac indolis] […] im Hinblick auf ein gegebenes Thema« bestimmt.30 Die in der Ästhe­tik grundlegende Übung ist also eine umfassende physisch-psychologische, sinnlich-intellektuelle Einstimmung. Es gibt die Otto Seel: Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens, Stuttgart 1977. Kraft, 11 – 24. 29 Met. § 577. 30 Aesth. § 47. 27 Vgl.

28 Menke:

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Sphäre des Ästhetischen, weil und soweit es solche ästhe­t ischen Übungen gibt. In ihrer teils disziplinierend erziehenden, teils ausübend anwendenden Art stecken die Übungen ein Feld des Machens und Handelns ab, in dem Vorgriff und Vorschrift, Selbstbeobachtung und Probehandeln in einem kontinuierlichen Verhältnis zueinander stehen. Die praktische Wiederholbarkeit im Physisch-Psychologischen tritt in die Leerstelle ein, die die verworrene und dunkle Vorstellung im Bereich der theoretischen Analyse bedeutet. Die wiederholbaren Handlungen lassen sich in einer Art Selbstgegebenheit betreiben und aus dem Betreiben heraus beobachten, wo die Analyse das Dunkle und Verworrene diskursiv nicht erreichen kann.31 Die Faktizitität der ein- und ausübenden Praxis, die in den exercitationes aestheticae liegt, kann man anthropologisch auslegen. Damit bezieht man die Übungen auf eine ihnen vorausgehende Grundlage. Man verliert dabei aber auch die charakteristische Eigenart der Übungen, die in ihrer Selbstgegebenheit liegt. Die Übungen lassen sich aber auch im Sinne der Eigengesetzlichkeit einer regelhaften – und zwar Regeln sowohl hervorbringenden wie befolgenden – Praxis verstehen. Damit ist dann der Charakter des zweckgeleiteten Wiederholungshandelns gewahrt, von dem Baumgarten spricht.32 Allerdings kann und muss auch diese Auslegung ergänzt und geschärft werden, indem man eine weitere Spielart der ästhe­tischen Übung bei Baumgarten mit hinzunimmt. Sie führt aus dem üblicherweise ästhe­ tisch Genannten heraus, gibt aber dem Gedanken einer Faktizität des technisch bewerkstelligenden Handelns erst seinen Ursprungssinn, der ihm aus der antiken Wissensarchitektur heraus zukommt. In dieser Thematik berührt sich der locus classicus der rhetorischen techne¯ mit der Technik, wie sie sich als neue Erscheinung im 18. Jahrhundert abzuzeichnen beginnt. Die »kleine Einleitung in die Geschichte«, die Baumgarten offenbar in seinem Ästhe­tikkolleg angekündigt hat, weist nur auf Vertreter der Kunst im engeren Sinn: »Die ganze Geschichte der Maler, Bildhauer, Musikverständigen, Dichter, Redner wird hierher gehören, denn alle diese verschiedenen Teile haben ihre allgemeinen Regeln in der Ästhe­t ik.« 33 Auch im Text der Ästhe­tik, wo dieser Hinweis fehlt, verweist Baumgarten auf die Anlagen des ästhe­t isch Begabten ( felix aestheticus) durchweg mit Beispielen aus der schönen Kunst, zumeist der Dichtung.34 Die Spur der ästhe­t ischen Übungen im engeren Sinne findet man dort, wo er im Anschluss an improvisierte Übungen und Kinderspiele wieder über die physischpsychologischen Einübungspraktiken der Redner, Maler und Musiker spricht.35 31 Darin kann man ein Beispiel für Cassirers Deutung sehen, wonach Baumgarten sinnliche Erkenntnis als Erkenntnis vom Sinnlichen gemeint habe; vgl. Anm. 3. 32 Christoph Menke: »Die Disziplin der Ästhe­t ik ist die Ästhe­t ik der Disziplin. Baumgarten in der Perspektive Foucaults«, in: Campe/Haverkamp/Menke (Hgg.): Baumgarten-Studien, 233 – 247. 33 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, § 1, in: Texte zur Grundlegung der Ästhe­tik, Lat./Dt., übers. und hg. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, 79 – 83, hier: 81. 34 Aesth. §§ 78 – 103. 35 Ebd., §§ 52 – 58.



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Aus der Ästhe­tik verschwunden ist der Anteil dessen, was Baumgarten ähnlich wie in der Sciagraphia encyclopaediae philosophicae in seinen Philosophischen Briefen nach der Lehre »derer Empfindungs-Gesetze« den zweiten Teil der »Ästhetische[n] Empirik, oder Kunst seine Erfahrung zu verbessern« nennt: die »Lehre von der Erfahrung, die nicht sowohl die Vorteile in denen Erfahrungen, Beobachtungen und Versuchen selbst anzuweisen, als vielmehr anzuzeigen hat, wie aus ihnen […] deutliche Begriffe, Erklärungen und bestimmte Anschauungs-Urteile […] zu ziehen sein.« 36

Heute würde man von Experimentalkultur sprechen. Baumgarten nennt dafür in den Philosophischen Brieffen von Aleotheophilus (1741) die folgenden Werke zur einführenden Lektüre: Die jüngste Veröffentlichung, die er erwähnt, ist Pieter von Musschenbroecks Tentamina experimentorum naturalium, die der Arbeit des Physikers an der Akademie von Florenz entstammte und 1731 zusammen mit seiner Abhandlung Über die Methode, Experimente in der Physik anzustellen veröffentlicht wurde. Dann hebt er lobend Robert Boyles Schriften aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts über die Vorbereitung, Durchführung und Beschreibung von Experimenten hervor. Er verweist auf Buch I aus Malebranches De la vérité und auf Buch V aus Bacons De augmentis scientiis.37 So ungewohnt diese kleine Leseliste zur Experimentalkultur aus dem 17. und 18. Jahrhundert im Zusammenhang der Ästhe­t ik erscheint, noch mehr erstaunt das Folgende: Ästhe­t ik, fährt Baumgarten fort, solle »die Hülfs-Mittel, wodurch die Sinnen erhöht und erweitert werden könnten, anweisen und vor demjenigen warnen, was sie vor der Zeit stumpf und ungeschickter machen möchte«.38 Weiter heißt es: »Hingegen wäre hier die Stelle von denen Waffen der Sinnen oder denen Werkzeugen zu sprechen, durch welche wir klar zu empfinden in Stand gesetzt werden, was uns sonst nur dunkel geblieben wäre. Man rechnet dahin mit Recht nicht nur 36 Alexander Gottlieb Baumgarten: »Philosophischer Briefe zweites Schreiben«, in: Texte zur Grundlegung der Ästhe­tik, 67 – 72, hier: 70. Hinweise auf die »ästhe­t ische Empirik« als eine Kunst der Erfahrung finden sich ohne ausdrückliche Erwähnung der ›Bebachtungen und Versuche‹ auch in der postum veröffentlichten Philosophia generalis (Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophia generalis, Halle 1770, Nachdruck Hildesheim 1968, § 147) und in der Meta­phy­sik (Met., »Der Sinn«, §§ 534 – 556, s. bes. § 544). Daraus geht übereinstimmend hervor, dass die Kunst der sinnlichen Erfahrung zusammen mit der allgemeinen Lehre von attentio und abstractio in die Grundlagenkapitel der Ästhe­t ik gehört. Die deutlichsten Angaben macht die ebenfalls postum veröffentliche Sciagraphia im Paragraphen über die Ästhe­tik, Sciagraphia § 26: »In sensitive cognoscendo docebit artem I) attendendi […] II. abstrahendi […] III. sentiendi, potissimum expe­r i­ mentandi […] ubi 1) doctrina de armis sensuum et instrumentis […].« 37 Robert Boyle: »Certain Physiological Essays« (1669), in: Michael Hunter/Edward B. Davis (Hgg.): The Works of Robert Boyle, Bd. 2, London/Brookfield: 1999 f., 35 – 82; Pieter van Musschenbroek: Tentamina experimentorum naturalium, Leiden 1731. 38 Baumgarten: »Philosophischer Briefe zweites Schreiben«, in: Texte zur Grundlegung der Ästhe­tik, 72. Man erkennt wieder deutlich die enge Beziehung zwischen der Lehre von attentio und abstractio und der ›ästhe­t ischen Empirik‹.

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die Vergößerungs- und Fern-Gläser, künstlige Ohren und Sprach-Röhre, sondern auch den ganzen Verrat der Barometers, Thermometers, Hygrometers, Manometers, Pyro­meters usw. die die versuchende Physik braucht, aber daß sie gut seien und recht gebraucht werden, billig schon voraus setzt.« 39

Die technai im Sinne der Rhetorik – und das heißt, die technai in der Tradition der antiken Unterscheidung zwischen ars und scientia – nimmt hier offenbar die moderne Technik des 18. Jahrhunderts mit in Gebrauch und wird im Zuge des Experiments von ihr in Anspruch genommen. Man erkennt eine bisher nicht gesehene Pointe der Baumgarten’schen Begründung der Ästhe­tik: Nicht nur erweitert die Philosophie nach Descartes ihr Gegenstandsgebiet über die klaren und deutlichen Vorstellungen hinaus zu den verworrenen und sogar den dunklen, indem sie die alte Rhetorik und Poetik als eine Logik der Sinne neu interpretiert. Sondern im Gegenzug schließt die Rhetorik vom Moment der Übungen ausgehend von der alten Bedeutung der technai auf zu einem modernen Technikgebrauch, der dem Erkenntnisgewinn im Experiment dient. In Baumgartens Ästhe­tik findet man dann allerdings nichts mehr von dieser Einbettung der rhetorisch-künstlerischen Übungen in die weiteren der Erfahrungslehre und der Experimentalkultur. Aber nicht nur der Hinweis besonders in Baumgartens Sciagraphia zeigt, dass es sich nicht um einen Zusatz handelt, den Baumgarten zum popularwissenschaftlichen Zweck der Philosophischen Brieffe schnell hinzuerfindet. Das lässt sich auch aus Georg Friedrich Meiers Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften (1748 – 1750) schließen. Wie immer man das Verhältnis von Meiers Buch zu Baumgartens Ästhe­t ikvorlesung und späterer Veröffentlichung einschätzt: Die ausführlichen Bemerkungen über Beobachtung und Experiment zeigen, dass das Thema des experimentalen Technikgebrauchs zum Unternehmen der Baumgarten’schen Ästhe­t ik von Beginn an und integral dazu gehört.40 Baumgarten hat es vielmehr für die spätere Ausarbeitung der Ästhe­tik gestrichen. Meier stellt die einschlägigen Paragraphen noch betont an das Ende des Abschnitts »Von den Sinnen«: »Ehe ich die Untersuchung der Sinne verlasse, muß ich noch eine Materie abhandeln, die hieher gehört. Man theilt nemlich die Erfahrungen ein, in Beobachtun39 Ebd. 40 Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Nachdruck der 2. Auf l. Halle 1754 – 1759, Hildesheim/New York 1976, »Von den Sinnen«: Bd. 2, 147 – 256. Die Anordnung folgt ganz Baumgartens Meta­phy­sik und Sciagraphia (und stimmt nicht mit der Ästhe­tik überein): »Von den Sinnen« folgt auf die Abschnitte »Von der Aufmerksamkeit« und »Von dem Vermögen zu abstrahieren« in den Grundlagenkapiteln zum »Sinnlichen Erkenntisvermögen«. – Ähnlich wie Baumgarten und Meier hatte schon J. B. von Rohr die Idee einer »Versuch-Kunst« aus Wolffs Verständnis des Experiments entwickelt. Allerdings versteht von Rohr das Experiment ganz aristotelisch als imitatio naturae, also als techne¯ , ohne in den Bereich von Technik zu geraten ( Julius Bernhard von Rohr: Versuch einer erleichterten und zum Gebrauch des menschlichen Lebens eingerichteten Vernunftlehre, Leipzig 1736, darin: Kap. 9, »Von der Versuch-Kunst«, 181– 203). Ich danke Reto Rössler für den Hinweis.

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gen und Experimente. Die Beobachtungen (observationes) sind Erfahrungen, die man von ohngefehr bekommt, und die man gleichsam nur dem bloßen Glücke zu verdanken hat. Da wir sie auch nicht vorhersehen: so können wir sie auch nicht vermuthen; und da sie nicht in unserer Gewalt stehen, so können wir auch nicht solche Vorbereitungen in unserm Zustande machen, durch welche wir die Natur so zu reden so zwingen könten, um eine Veränderung hervorzubringen, die wir hernach erfahren.«41

Meier folgt mit diesen Worten der von Christan Wolff her bekannten Unterteilung der Erfahrung in Beobachtung und Experiment.42 Unter dieser Maßgabe kündigt er an, »die Regeln zu untersuchen, die man beobachten muß, wenn man überhaupt, und auf eine ästhe­t ische Art, Beobachtungen und Experimente machen will«.43 Wenn man unterstellt, dass Meiers Formulierungen dem Ansatz Baumgartens auch hier verpflichtet sind, stellt sich die Frage: Auf welche der beiden Seiten – Beobachtung oder Experiment – gehören die ästhe­t ischen Übungen Baumgartens, oder trifft die Alternative auf sie nicht zu? Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, wie man die Beziehung der Ästhe­t ik zu techne¯ und Technik beurteilt.44 Die Erfahrung, die »man von ohngefehr bekommt«, erfordert ein Regime im Sinne der rhetorischen techne¯ , um Beobachtung möglich zu machen; das Experiment macht dagegen die eingesetzten Instrumente zum Teil eines Dispositivs der Technik, »um eine Veränderung hervorzubringen, die wir hernach erfahren«. Wenn Baumgarten in den Philosophischen Brieffen die Experimentalmethoden ohne Einschränkung unter die ästhe­tischen Übungen zählt, könnte man die zweite Antwort für zutreffend halten. Weil er die Experimentalkultur in der Ästhe­tik dann aber ganz fortlässt, scheint wieder die erste Antwort richtig. Vertraut man Meier in seinen Bemerkungen über Beobachtung und Experiment, liegt eine dritte Antwort nahe. Nachdem Meier der programmatischen Trennung zwischen Beobachtung und Experiment bei Wolff gefolgt ist, scheint er sich dann doch auf keine der beiden Seiten festzulegen. Das schlägt sich sichtbar nieder in einem Satz, in dem die Schwierigkeit, Beobachtung und Experiment voneinander zu trennen, deutlich Anfangsgründe, Bd. 2, 213 f. Formulierung lautet: »Observatio est experientia, quae versatur circa facta naturae sine nostra opera contingentia. Experimentum est experientia, quae versatur circa facta naturae, quae nonnisi interveniente opera nostra contingunt.« (Christian Wolff: Psychologia empirica, in: Gesammelte Werke, hg. von Jean Ecole, II. Abteilung, Bd. 5, Hildesheim/New York 1969, § 456. 43 Meier: Anfangsgründe, Bd. 2, 215. 44 Von Technik kann man hier sicher nur im Ansatz sprechen. Es geht um Instrumente, nicht Maschinen. Aber die von Wolff herkommende Unterscheidung zwischen Beobachtung und Experiment markiert einen scharfen Schnitt zwischen dem noch vortechnisch und dem erst technisch Möglichen innerhalb der Erfahrung. Von daher geraten seine Nachfolger ins Gebiet des Technischen. Instrumentengestütztes Experiment und Maschinenkunst sind im übrigen zwar in Sache und Anwendungsgebiet, nicht aber schon konzeptuell scharf getrennt; vgl. Christian Wolff: Allerhand Nützliche Versuche, Erster Theil, 2. Aufl., Halle 1727, und Jacob Leupold, Theatrum Machinarum, Leipzig 1724. 41 Meier: 42 Wolffs

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wird: »Die Beobachtungen können, mitten im Experimente, gemacht werden.«45 Damit meint Meier, dass Experimente, so sehr sie baconisch die Natur zu sprechen zwingen, auch das vor Augen bringen können, was »nicht in unserer Gewalt« steht und wozu wir keine »Vorbereitungen in unserm Zustande machen« können, um den vorher angelegten Natureffekt »hernach zu erfahren«. Es gibt also eine Verschränkung zwischen Beobachtung und Experiment. ›Nicht in unserer Gewalt‹ ist dabei vielleicht ein verstecktes Rhetorikzitat, wie man es jedenfalls bei Baumgarten häufig findet. Bei Quintilian bezieht sich die Wendung »neque enim sunt […] in nostra potestate« auf die Affekte, die der Redner sich zuerst selbst einprägen muss, um sie dann bei anderen erregen zu können.46 Mit dem Zugeständnis, dass Beobachtungen auch ›mitten im Experimente‹ zu machen seien, ist in der Tat genau nachgebildet, wie Quintilian zufolge die Erregung des Affekts, der nicht in unserer Gewalt steht, durch Selbstaffektion möglich sein soll. Entscheidend ist eine reflexive Einrichtung: Das technische Moment der Rhetorik bei Quintilian, und hier nun der Beobachtung im Experiment, besteht darin, dass man sich vorbereitet und dann selbstbeobachtend der Situation aussetzt, in der die Natur an einem ihr Werk tun kann. So lässt sich, den Anklang an Quintilian vorausgesetzt, die Konfiguration von Experiment und Beobachtung als verallgemeinerte Anwendung der rhetorischen Selbsterregung verstehen. Die zweiseitige Konzession, wonach Beobachtungen auch im Experiment zu machen sind und auch Experimente zu Beobachtungen führen, wird dann zum gegenseitigen Bedingungsverhältnis: Jedes Beobachten des Unerwarteten setzt eine Art Experiment voraus, in dem sich der Beobachter dem Unerwarteten aussetzt; und jede Erfahrung im Experiment ist ›unerwartet‹, wenn sie überhaupt Ergebnis einer Beobachtung sein soll. Eine solche Pointe der Gedankenführung traut man Baumgarten eher zu als Meier. In jedem Fall ergibt sie geradezu ein Modell dafür, wie die Technik der experimentellen Zurüstung von der techne¯ der Beobachtung unterbrochen wird, obwohl sich doch die unvorhersehbare Beobachtung andererseits dem Experiment und seiner technischen Anordnung verdankt. Von der Gegebenheit der physischpsychologischen Übung aus – und wie im Kleinformat einer ganz detaillierten Problemstellung – ist damit ein Spiegelbild dessen erreicht, was die Konstellation von (Schöpfungs-)Technik und technai (von Perzeptionen) in der Struktur der apperceptibilitas und der durch sie erschlossenen Welt ausmacht. In der Tat macht es dann guten Sinn, mit Meier und wahrscheinlich mit Baumgarten von einer Ästhe­ tik der Erfahrung in Beobachtung und Experiment zu sprechen.

45 Ebd. 46 Quintilian: Institutio oratoriae, VI. 2, 28 f.: »Das erste ist also, dass bei uns selbst die Regungen stark sind, die bei dem Richter stark sein sollen, und wir uns selbst ergreifen lassen, ehe wir Ergriffenheit zu erregen versuchen. Aber wie ist es möglich, sich ergreifen zu lassen? Die Gemüts­bewegungen stehen doch nicht in unserer Gewalt [neque enim sunt motus in nostra pot­e state]. Auch hiervon will ich zu sprechen versuchen.« (Quintilian: Ausbildung des Redners, übers. und hg. von Helmut Rahn, 2. Auf l., Darmstadt 1988, Bd. 1, 708 f.)



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4. Aufmerksamkeit und ästhe­tische Figur Die ›Beobachtung mitten im Experiment‹, von der Georg Friedrich Meier spricht, ist eine aufschlussreiche Formel. Sie hilft, die Anlage der ästhe­t ischen Übung nach Baumgartens erstem Entwurf im Grundsatz zu charakterisieren. Mit der Einbeziehung der Technik, die das Experiment in Planung und Durchführung ist, und der technischen Geräte, die der Experimentator zur Anwendung bringt, nimmt die techne¯ der Rhetorik eine erweiterte und sogar neue Bedeutung an. Sie erstreckt sich bis zur Technik im modernen Sinne. In der Technik wird im Vorhinein die Möglichkeit von ›Veränderungen‹ in einer Weise angeordnet, so dass sie ›hernach‹, wie Meier sagt, ›erfahren werden können‹. Wenn man auf diese technische Seite der ästhe­t ischen Übung sieht, kann man von ihr als der menschenmöglichen Entsprechung zu einem von der apperceptibilitas erschlossenen Universum der Dinge sprechen, das zugleich das Werk des göttlichen Werkmeisters ist. Das Machen des bewerkstelligenden Handelns und die Ontologie kämen in einem Begriff von Technik zusammen, der über die naturergänzenden technai hinausgeht. Die Beobachtung ist dagegen, folgt man Meiers Bestimmung, ein Moment von techne¯ im herkömmlichen Sinne. Zwar ist auch die Beobachtung eine Fertigkeit durch Übung im Sinne Baumgartens, d. h. das Ergebnis einer ›häufigeren Wiederholung von Handlungen im Hinblick auf ein gegebenes Anliegen‹. Aber das ist artistisch im alten Sinne: die Steigerung und Ergänzung des Vermögens (natura) zur Kunst (ars). ›Beobachtung mitten im Experiment‹ heißt also zunächst, dass die ästhe­tische Übung in ihrem ursprünglichen Entwurf beides, techne¯ und Technik gewesen ist. Man kann den Worlaut von Meiers Überlegung so verstehen, dass in der ästhe­t ischen Übung die Artistik der Beobachtung und die Technik des Experiments in gegenseitiger Bedingung und Rückführung miteinander verschränkt sind. Das Experiment nimmt die Möglichkeiten dessen voraus, was durch Beobachtung erfahren werden kann; aber die Beobachtung ist die Erfahrung dessen, was sich unvorhergesehen ereignet. Der Anklang der Meier’schen Formulierung an Quin­t ilians Regel der Selbsterregung – die reflexive Figur, die reaktives Naturvermögen einem aktiv angeordneten Experiment aussetzt – kann als Muster einer derartigen Verschränkung gelten. Das ist allerdings vermutende Rekonstruktion. Denn Meier führt den Gedanken nicht systematisch aus, und Baumgarten entfernt die experimentale Komponente aus den ästhe­t ischen Übungen gerade in der Ästhe­tik, wo er die Bedeutung der Übung für die neue Wissenschaft von den Künsten erst wirklich zur Geltung bringt. Ohne Zweifel liegt darin eine Entscheidung, die für die Geschichte der Ästhe­tik grundlegend geworden ist. Aus einer Wissenschaft der Künste ist die der schönen Kunst allein geworden. Damit ist Baeumlers Deutung der Ästhe­ tikgeschichte verständlich, die mit ihrer Betonung des individuellen Urteils die Tradition der antiken Rhetorik und Poetik gegen die Rationalität der modernen Wissenschaft setzt. Es ist gerade dadurch aber auch Heideggers Verdacht plausibel, wonach im Geheimen die Ästhe­t ik selbst schon immer nichts anderes als eine Technik der Sinne gewesen ist.

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Baumgarten hat also das Experiment und damit die Frage von Technik und techne¯ aus dem Text der Ästhe­tik ausgelassen. Über diesen Befund ist nicht hinauszukommen für die Fassung, die für die Tradition der philosophischen Ästhe­tik bestimmend geworden ist. Allerdings kehrt das Ausgeschlossene an einer von der Sache her ganz versteckten, innerhalb der Ästhe­tik aber prominenten Stelle wieder. Das Niveau der Beziehung zwischen Meta­phy­sik und techne¯ erreicht man damit nicht wieder. Aber man kommt immerhin zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen, zum Verhältnis von Aufmerksamkeit und Abstraktion und damit von Sinnlichkeit und Verstand zurück. In den Philosophischen Brieffen hatte Baumgarten die ›Kunst der Aufmerksamkeit‹ mit der ihr entsprechenden ›Kunst der Abstraktion‹ den ›Anfang‹ der Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis, also der Ästhe­t ik, genannt. Dieser Anfang war zwar nicht ausdrücklich als Übung bezeichnet, aber gerade so beschrieben worden: als Wiederholen gleichartiger Handlungen, die auf ein bestimmtes Thema bezogen sind. Die »Notwendigkeit« der »Kunst der Aufmerksamkeit«, formulierte Baumgarten hier, »wird uns von der ersten Jugend an durch ein oft wiederholtes: beschäftige dich hiermit! Bedenke, warum du hier bist! Merk auf! eingeschärft. […] Da wir darauf merken, was wir uns klärer, als andere Dinge, vorstellen und uns des entschlagen, davon abstrahieren, das wir uns dunkeler, als andere Dinge, vorstellen, so sieht man wie genau die Kunst der Aufmerksamkeit mit der Kunst der Abstraktion verbunden sein müsse […].«47

Aufmerksamkeit und Abstraktion waren Inbegriff dessen, was durch Wiederholung im Hinblick auf ein Thema zur Fertigkeit und zur Kunst wird. Alle ästhe­tische Übung war in dieser Konzeption immer auch und zuerst die von attentio und abstractio. In der Ästhe­tik lässt Baumgarten aber nicht nur Beobachtung und Experiment als Spielarten der ästhe­tischen Übung fallen, sondern auch von Aufmerksamkeit und Abstraktion ist nicht mehr ausdrücklich die Rede. Die Übung der Ästhe­tik ist stattdessen und nur noch durch das Ziel definiert, den inneren Sinn und die geistigen Anlagen auf ein bestimmtes Thema auszurichten und den Übenden auf das gegebene Thema einzustimmen. Die Übung erhält einen reflexiven Charakter. Was sich in ihr einspielt, ist die Übereinstimmung (consensus) der Seelenkräfte mit dem Thema, auf das sie die Aufmerksamkeit richten. Die leicht zu überlesende Stelle, an der die attentio in der Ästhe­tik noch einmal wichtig wird, hat auf andere, aber die Ästhe­t ik der schönen Kunst nachhaltig prägende Weise mit der Reflexion zu tun. Es handelt sich um die Bestimmung der ästhe­tischen Figur im zweiten Band (§ 734). Baumgarten entwickelt hier und im folgenden Paragraphen den Vergleich (comparatio) und die Verähnlichung (assimiliatio) als theoretische Grundlagen der Figur. Figur heißt nach Baumgarten jedes materiale Verfahren einer Kunst, im Falle der für ihn zentralen Sprachkunst: jedes 47 Baumgarten:

Texte zur Grundlegung der Ästhe­tik, 69 f.

Baumgartens Ästhetik: Metaphysik und techne¯169



das Spiel der Vorstellungen betreffende Verfahren der Sprachgestaltung, Figuren der Überredung wie der Überzeugung, Figuren im engeren Sinne der Tradition oder Tropen. Die Metapher ist ohne Zweifel ihr Modell. Jeder Figur liegt danach der Vergleich zwischen zwei Vorstellungen zu Grunde, und die assimilatio ist die Operation, das Ähnliche, Gleiche, Gleichartige und das Zusammenstimmende aufzufinden und die verglichenen Glieder mit dem Vergleichspunkt ins Verhältnis zu setzen.48 Das Neue gegenüber der rhetorischen und poetologischen Tradition besteht darin, dass Baumgarten den Vergleich als substitutio und gleichzeitig als coniunctio versteht. Der Vergleich ersetzt nicht nur wie in der herkömmlichen Figurenlehre die eine Vorstellung durch die andere, sondern, um das tun zu können, verbindet er beide auch miteinander. Rhetorisches Verfahren und gedank­ licher Vorgang sind in eins gesetzt. Diese integrale Leistung des Vergleichens bzw. Verähnlichens nennt Baumgarten »attendere vivide«, die Aufmerksamkeit lebhaft auf etwas richten.49 Dabei verweist er auf den Paragraphen der Meta­phy­sik, der im Abschnitt über den Verstand in der empirischen Psychologie auf die Erklärung des Zusammenspiels von Aufmerksamkeit und Abstraktion folgt: »Die Aufmerksamkeit, die nacheinander auf die Teile eines Ganzen gerichtet wird, ist die REFLEXION. Die nach der Reflexion auf die Vorstellung eines Ganzen gerichtete Aufmerksamkeit ist die Vergleichung. Ich reflektiere, ich vergleiche. Also habe ich das Vermögen zu reflektieren und zu vergleichen […], das durch die Kraft der Seele, das Universum gemäß der Stelle meines Leibes vorzustellen, verwirklicht wird.« 50

Die ästhe­t ische Figur, die auf dem Vergleich beruht, ist die sinnliche (vivide) Entsprechung zu der Art von Aufmerksamkeit, die Reflexion und Vergleichung im Bereich des Verstandes sind. In der Figur, heißt das, werden die Glieder des Vergleichs und dann ihr Verhältnis zum Ganzen, das der Grund ihrer Vergleichbarkeit ist, vor- und dargestellt. Die reflektierend vergleichende Aufmerksamkeit richtet sich vor dem Hintergrund eines Gesamtkomplexes auf einzelne Dinge (das ist der Anteil der Reflexion) und danach 51 auch auf das Ganze selbst, als dessen Teile die Dinge in der Entwicklung ihrer Bestimmung, d. h. in ihrer Realität als ähnlich oder unähnlich erscheinen (das ist der Anteil der Vergleichung). Bei reflektierender Vergleichung gibt es offenbar keinen Unterschied zwischen Aufmerksamkeit und 48 Aesth.

§§ 734 f. § 734: »Una perceptionum connexarum et coniunctarum, s. sociarum alteram potest declarare, imo etiam illustrare […], si simul cum hac attendatur vivide, M. § 516, i. e. comparetur, M. § 626.« Die ›Lebhaftigkeit‹ verweist dabei auf die sinnliche ausgelegte Form des eigentlich kognitiven Vermögens der Vergleichung. 50 Met. § 626. 51 Die Vergleich erfolgt zwar »nach« der Reflexion (»Attentio ad totam perceptionem post reflexionem est Comparatio«; ebd.). Aber in dieser zeitlichen Abfolge bilden Reflexion und Vergleichung doch ein zusammengehörendes Vermögen des Verstandes. Vgl. Baeumler: Irrationalitätsproblem, 139 f. mit vergleichenden Hinweisen auf Wolff und auf Kant. 49 Aesth.

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Abstraktion mehr. Dieser Unterschied besteht ja zwischen der Hinsicht auf etwas in seiner jeweiligen Gegebenheit einerseits und der Ausscheidung von Teilen aus einem Ganzen andererseits. Die Aufmerksamkeit des reflektierenden Vergleichs ist dagegen die Ausübung des Vermögens, die Dinge in ihrer Einzelheit und dabei auch das Ganze, als dessen Teile sie im Verhältnis stehen, aufzufassen. Die­jenige Aufmerksamkeit, deren der Verstand in der Verbindung von Reflexion und Vergleichung fähig ist, ist im bewerkstelligenden sinnlichen Erkennen der ästhe­t ischen Figuren schon am Werk. Man sieht, wie die Figur im Überspringen des Abstands zwischen Sinnlichkeit und Intellekt, Aufmerksamkeit (im engeren Sinne) und Abstraktion am jeweils Einzelnen festhalten und gleichzeitig Rücksicht auf das Ganze nehmen kann, in dem die Dinge als Teile zusammen stehen. Die Figur der kunstimmanenten Ästhe­t ik kann darum am Ende als Modell für die ›Beobachtung mitten im Experiment‹ gelten.

Zur ästhe­t ischen Übung Improvisiertes und Vorbewusstes bei A. G. Baumgarten Von Christiane Frey »Übung, Übung, Übung!«, exklamiert Nietzsche1 – und wer kennt es nicht, das sprichwörtliche »usus facit magistrum«.2 Zum übenden Subjekt, zum homo repetitivus erklärt neuerdings Sloterdijk den sich selbst übertreffenden Menschen, und nicht zuletzt Foucault sieht in der Übung eine maßgebliche Technik des Selbst.3 Über die aktuellen und mitunter auch laxeren Rekurse auf die Übung mag in Vergessenheit geraten sein, welche Funktion ihr lange zukam: In der Tradition der Rhetorik gehört die Übung, griech. àskesis oder melete¯ und lat. exercitatio oder usus, zum Fundament einer jeden Form des Lernens und so auch des Erlernens der Rede­kunst. Benötigt der gute Redner auf der einen Seite ein natürliches Talent, also das, was in der Rhetorik als physis bzw. natura oder ingenium bezeichnet wird, so bedarf er auf der anderen Seite auch der doctrina, der techne¯ bzw. der ars. Zwischen diesen beiden Polen, zwischen natura und ars, steht in mittlerer Position die exercitatio: »[F]acultas orandi consummatur natura, arte, exercitatione«, heißt es im dritten Buch von Quintilians Institutio.4 Die Übung, die Praxis der Wiederholung, macht aus der ersten Anlage eine Gewohnheit, aus der Natur eine Kultur – und damit zugleich eine zweite Natur. Die Übung steht mithin nicht nur zwischen natura und ars, ingenium und doctrina, sondern soll auch zwischen diesen beiden Enden des Lernens vermitteln. Zumeist gilt die Übung deshalb auch als jenes Bindeglied, das den Hiatus von Anlage und Kunst, von ingenium und doctrina, überwinden soll. Dabei kann es freilich nur zu paradoxen Selbstverhältnissen kommen: Wer sein natürliches Talent regelmäßig anwendet, wird es sich endlich aneignen; wer (sich) übt, übertrifft sich selbst.5 Friedrich Nietzsche: Morgenröthe, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1971, 30. 2 Vgl. Proverbia sententiaeque Latinitatis Medii Aevi, hg. von Hans Walther, Bd. V, Göttingen 1967, 502 – 504. Zu den Quellen gehören u. a. Ovid: Ars amatoria II, 676; Cicero: Pro Rabirio Postumo 4, 9; Plinius: Epistulae I, 20, 12. 3 Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009, beispw. 24; bei Foucault geht es allenthalben um die Übung, hier sei stellvertretend nur genannt Michel Foucault: »Technologien des Selbst«, in: Luther H. Martin/Huck Gutman/Patrick H. Hutton (Hgg.): Technologien des Selbst, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1993, 24 – 62. 4 »Die Redegabe erfüllt sich im Zusammenwirken von Natur, Kunst und Übung«, wie Rahn übersetzt in Marcus Fabius Quintilianus: Institutio oratoria/Die Erziehung zum Redner, hg. und übers. von Helmut Rahn, 2 Bde., Darmstadt 1972, Bd. 1, 300 (III.5, 1). Hervorhebungen im Original. 5 Einen umfassenden Überblick zur Geschichte rhetorischen Übung gibt Manfred Kraus: »Exercitatio«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, 1

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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Wir sind es nun gewohnt, wenn es um die Geschichte des Endes der Rhetorik oder der Transformation der Rhetorik im europäischen 18. Jahrhundert geht, von diesem Dreierschema – natura oder ingenium – exercitatio – ars oder doctrina – nur zwei ihrer Begriffe zu fokussieren und in ihrem Verhältnis zu beobachten.6 So gilt der Literar- und Rhetorikgeschichte gemeinhin, dass sich im Laufe des 18. Jahrhunderts »die schönen Künste aus der Herrschaft« einer regelgeleiteten Rhetorik emanzipiert haben und »zu dem Organ« werden, in dem sich das so originelle wie individuelle Subjekt Ausdruck verschaffe. An die Stelle der ars ist die Einbildungskraft, die Begeisterung, das Originalgenie getreten.7 Die exercitatio spielt in diesen Geschichten vom Übergang der Rhetorik zur Ästhe­t ik, wenn man das so aufzieht, kaum eine Rolle. Aus der rhetorischen Trias scheint sich dieses eigentümliche dritte Moment der Übung verabschiedet zu haben. Was im Folgenden interessiert, hat entsprechend mit der Frage zu tun, was eigentlich in dieser Transformationsgeschichte der Rhetorik aus dem genannten dritten Glied, aus der Übung, geworden ist. Dass sie zumindest bei Baumgarten noch eine wesentliche Rolle spielt, zeigt die Tatsache, dass er sie – ganz im Sinne der rhetorischen Trias – nach der Naturanlage als die zweite Grundlage seiner Aesthetica, dessen erster hier relevanter Teil 1750 erscheint, ausführlich abhandelt. Welche Funktion die Übung allerdings bei und nach Baumgarten genauer erfüllt und welche ›ästhe­t ische‹ Umdeutung sich hier abzeichnet, muss sich erst noch erweisen.8 Die folgenden Ausführungen sollen erste Gedanken zum Thema entwerSp. 71 – 123. Vgl. außerdem Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1990, 25 – 32 (bes. § 6, 1092 – 1150) sowie weiterführend Frank Hieronymus: Melete¯ . Uebung, Lernen und angrenzende Begriffe, Basel 1970 und, vor allem zu Quintilian, Ian H. Henderson: »Quintilian und die Progymnasmata«, in: Antike und Abendland 37 (1991), 82 – 99. Vgl. zur späteren Entwicklung auch, wenngleich eher am Rande, Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas, Tübingen 2001, 247 – 253. 6 Weder von einem einfachen ›Ende der Rhetorik‹ noch von ihrer Kontinuität, sondern von ihrem langsamen Verschwinden im 18. Jahrhundert sollte die Rede sein, meint Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2004. Die ›Übung‹ ist allerdings auch in dieser Arbeit kein Gegenstand des Interesses. 7 Beispielhaft wurde hier zitiert aus dem noch immer gerne als einschlägig angeführten Artikel von Joachim Ritter: »Ästhe­t ik, ästhe­t isch«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel/Darmstadt 1971, Sp. 555 – 580. 8 Trotz einiger Auseinandersetzungen mit der Übung in der rezenten Forschung steht eine genauere Untersuchung ihrer Funktion und ihres Stellenwertes bei Baumgarten und möglicher Fortschreibungen im 18. Jahrhundert noch aus. Als für diesen Beitrag relevant haben sich erwiesen Gabriel S. Trop: »Aesthetic Askesis: Aesthetics as a Technology of the Self in the Philosophy of Alexander Baumgarten«, in: Das achtzehnte Jahrhundert 37/1 (2013), 56 – 73; Christoph Menke: »Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhe­t ischer Existenz«, in: Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, hg. von Axel Honneth und Martin Saar, Frankfurt a. M. 2003, 283 – 299; ders.: Kraft. Ein Grundbegriff ästhe­tischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, zur ›Übung‹ 25 – 45; ders.: »Die Disziplin der Ästhe­t ik ist die Ästhe­t ik der Disziplin. Baumgarten in der Perspektive Foucaults«, in: Baumgarten-Studien. Zur Genealogie der Ästhe­tik, hg. von ­Christoph Menke/Rüdiger Campe/Anselm Haverkamp, Berlin 2014, 233 – 248 sowie Frauke



Zur ästhe­t ischen Übung173

fen. Sie tun das mit besonderem Fokus auf Baumgartens Begriff der Übung als Improvisation. 1. Baumgartens improvisierte Übung »Zum Charakter des glücklichen Ästhe­t ikers wird II) [neben dem ingenium] die Ein­übung und die ÄSTHETISCHE ÜBUNG [ἄσκησις et EXERCITATIO AESTHE­­T ICA] erfordert«, leitet Baumgarten den dritten Abschnitt seiner Aesthetica ein.9 Gemeint ist auch bei Baumgarten »die häufigere Wiederholung gleichartiger Handlungen«.10 Dabei geht es nicht um die Erlernung einer bestimmten Fähigkeit, sondern allgemeiner – und etwas abstrakter – um ein Einüben einer »Übereinstimmung innerhalb des Geistes« sowie und vor allem eines »consensus« von »Geis[t] […] und der Gemütsart [ingenii ac indolis]« (wie in §§ 28 – 46 behandelt).11 Sie erfordere die wiederholte Konzentration auf »nur eine Sache, damit die Fertigkeit, schön zu denken, allmählich erworben« werde.12 Keineswegs zielt die »ästhe­t ische Übung« dabei auf das Einüben bestimmter Fähigkeiten, wie etwa der Rede­fertigkeit oder eines guten Schreibstils.13 Vielmehr soll am Ende die schöne oder ästhe­t ische Denkart erworben werden, die sowohl mit der Fähigkeit, ein Singuläres mannigfaltig und extensiv, d. h. poetisch denken zu können, als auch mit der Bildung einer tugendhaften Gemütsart zusammenhängt. Wie nun, lässt sich fragen, kann etwas so Allgemeines und Ungreif bares wie die »Übereinstimmung des Geistes und der Gemütsart« oder »das schöne Denken« überhaupt geübt werden? Fasst auch die antike Rhetorik unter die exercitatio zunächst Übungen bestimmter Teilfertigkeiten, also die Isolierung einzelner Techniken zum Zwecke ihrer späteren Zusammenführung in der Performanz, so zielt Baumgarten offenbar auf eine übergeordnete und zugleich ethische Fähigkeit.14 Berndt: Poema/Gedicht. Die Epistemische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin/Boston 2011, 108 – 114 sowie 120 – 123, allerdings geht es bei Trop hauptsächlich um Selbsttechniken, während Berndt zwar auf die Übung als ästhe­tische Praxis eingeht, sich dem Thema allerdings eher am Rande widmet. Nicht mehr berücksichtigt werden konnte der das Thema behandelnde Beitrag von Rüdiger Campe in diesem Band.  9 Aesth. § 47. Hier und im folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anm. und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007. 10 Ebd. 11 Ebd. §§ 47 – 50. 12 Ebd. 13 Anders in der Tradition der Rhetorik. Ausführlich geht bereits Quintilian in seiner Institutio oratoria (X, 5) auf Sinn und Zweck verschiedener Übungen ein, die der Lernende unternehmen kann, um etwa Wortschatz, Ausdrücksfülle oder Wortgewandtheit zu verbessern, eine Form der Anleitung, die sich bis ins 18. Jahrhundert fortsetzt. 14 Zu verschiedenen Übungsformen und d. h. durchaus auch isolierten Übungen – allerdings immer in ihrer Rückbindung an eine ethische Selbstransformation – in der Antike ausführlich Christian Moser: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne, Tübingen 2006, 195 – 254.

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Die Frage stellt sich allerdings nicht nur angesichts dieses so allgemeinen Vermögens, sondern auch – und umso mehr – angesichts des Umstands, dass es Baumgarten in seinen Ausführungen zur Übung zunächst um eine bestimmte Art der Übung oder Vorübung geht, nämlich die Improvisation. Diese begreift Baumgarten als Übung »aus dem Stegreif […], die noch ohne die Lenkung durch die gelehrte Kunst, aus welcher der Übende seine Kraft schöpfen mag, begonnen« werde.15 Er unterscheidet sie von einer zweiten Art der Übung, nämlich der nach Regeln, bei der »zu der angeborenen und der erworbenen natürlichen Ästhe­tik […] noch die gelehrte Kunst hinzugekommen sein wird«. Durch die Regeln werden die Übungen »noch verbessert« und gewinnen an Sicherheit (»correctiora ac certiora«).16 Diese Unterscheidung deckt sich mit Baumgartens Einteilung gleich zu Beginn seiner Aesthetica in eine Aesthetica naturalis und eine Aesthetica artificialis. Handelt es sich bei der Aesthetica naturalis um jenen »nur durch den Gebrauch, ohne dogmatische Lehre beförderten Grad der Verfassung der unteren Erkenntnisvermögen«, so ist die Aesthetica articifialis erst jene Ästhe­tik, für die sich Baumgarten einsetzt, nämlich die Ästhe­t ik als scientia.17 Angesichts der Tatsache, dass es vor allem um eine Institutionalisierung der Ästhe­t ik als Wissenschaft geht, mag man sich nun darüber wundern, dass Baumgarten in seinem Abschnitt zur »ästhe­tischen Übung« der exercitatio im Sinne der Improvisation tatsächlich sechs vergleichsweise ausführliche Paragraphen (§§ 52 – 57) widmet, sich bei der Erläuterung der ästhe­t ischen Übung im Sinn der aesthetica arti­ ficialis jedoch wesentlich kürzer fasst (genau genommen ist lediglich § 58 allein mit der gelehrten Übung befasst). Will Baumgarten damit gleich eingangs hervorheben, dass letztlich – zumal, wenn es um die Wahl des richtigen Studiums geht – das ingenium doch wichtiger sei als die doctrina? Oder sollte dem Leser der Aesthetica umgekehrt klar sein, dass es sich bei dieser Schrift ohnehin um eine Anleitung zur ästhe­t ischen Übung im Sinne der ars erudita handelt, sich weitere Ausführungen an dieser Stelle mithin erübrigen? Auch wenn sich für beide Erklärungen Argumente finden ließen, bin ich der Auffassung, dass Baumgartens vergleichsweise extensiven Ausführungen zur Übung im Sinne der ›Improvisation‹ eine andere, kardinalere Bedeutung zukommt. Um also die gestellte Frage noch einmal aufzugreifen und zu ergänzen: Was ist eine Übung, die erstens keine Teilfertigkeit übt, sondern die ganze Verrichtung, die geschult werden soll; und die zweitens ohne Anleitung durch die doctrina vorgenommen wird? Baumgartens sechs Paragraphen zur Übung der Improvisation lohnen eine genaue Lektüre. Mit Verweis etwa auf das »ungeschliffene saturnische Versmaß« verbindet Baumgarten die Improvisation mit verschiedenen Formen des Natürlichen. Zu ihr ge15 Aesth. 16 Ebd. 17 Ebd.

§ 47.



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hören »alle Besonderheiten der schönen Erkenntnis der menschlichen Gattung vor der Erfindung der gelehrten Künste« und »die ersten Funken jedweder schönen Natur, die jeder Kunst vorausgehen, wie z. B. wenn Ovid von sich erzählt ›[w]as auch immer er zu sagen unternehmen wird, wird von selber zum Vers‹«.18 Die ›Improvisation‹ bezeichnet mithin den Umgang mit einem nahezu unwillkürlichen Handeln, also eine Form der Übung, die einem naiven Tun vor jeder Instruktion gleichkommt. Baumgarten nennt sie an anderer Stelle auch die Übung »aus eigenem Antrieb« (automátos, wie Baumgarten griech. anführt).19 In § 54 bezieht sich Baumgarten dann, um seine Übung der Improvisation zu veranschaulichen, auf ein Beispiel von Leibniz, der »die Musik eine Übung in der Rechenkunst« genannt habe. Baumgarten wird den 1734 veröffentlichten Briefwechsel zwischen Leibniz und Goldbach, in dem Leibniz sich zu dieser Art der Übung äußert, gekannt haben. Leibniz zufolge gehen die wohllautenden Intervalle aus Vielfachen der Primzahlen 2, 3 und 5 hervor, verhalten sich also wie 1 : 2, 2 : 3, 3 : 5 oder auch 5 : 8 (im Unterschied zu den dissonanten Intervallen, die sich wie 8 : 9 etc. verhalten) und erfreuen und üben die Seele deshalb nicht nur akustisch, sondern nolens volens auch arithmetisch. Leibniz erklärt das in seinem Brief an Goldbach vom 17. April 1712 wie folgt: »Musica est exercitium arithemticae occultum nescientis se numerare animi. Multa enim facit in perceptionibus confusis seu insensibilibus, quae distincta apperceptione notare nequit.« – »Die Musik ist eine verborgene arithmetische Übung einer Seele, die nicht weiß, dass sie zählt. Denn vieles tut sie in verworrenen und unmerklichen Vorstellungen, was sie mit klarer Vorstellung nicht bemerken kann.« 20

Ohne sich dessen bewusst zu sein, nimmt die Seele mithin wahr, dass sie nicht nur Töne hört, sondern auch Intervalle, die mathematischen Gesetzen folgen. Dass sie dies wahrnimmt, ohne sich darüber Rechenschaft abgeben zu können, liegt an den vielen petites perceptions, die eine Art vorbewusstes Wissen zur Verfügung stellen. Dieses Wissen muss sich nicht in distinkte Apperzeptionen, also bewusste Wahrnehmungen, überführen lassen, um doch bereits das entsprechende Vermögen – hier das arithmetische – zu beanspruchen. Es wird gleichsam in Schwingung gebracht, ganz unabhängig davon, ob die Seele das Gesetz der Intervalle auch apperzipiert. In diesem Sinne fährt Leibniz fort: »Errant enim, qui nihil in anima fieri putant, cuius ipsa non scit conscia. Anima igitur etsi se numerare non sentiat, sentit tamen huius numerationis insensibilis effectum, seu voluptatem in consonantiis, molestiam in dissonantiis, inde resultantem.« – »Denn es irren diejenigen, die meinen, in der Seele könne nichts geschehen, dessen sie sich nicht selbst bewusst sei. So empfindet die Seele die Wirkung dieser 18 Aesth.

§ 52 (Hervorhebungen Chr. Fr.) Ebd., § 57. 20 Leibnitii Epistolae ad Diversos, hg. von Christian Kortholtus, Leipzig 1734, Epistel CLIV, 239 – 242, hier 239, vgl. auch Leibniz: »Epistola 2 ad Goldbachium«, in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Opera Omnia, hg. von Louis Dutens, Bd. 3, Genf 1768, 437. Übersetzung Chr. Fr. 19

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unmerklichen Zählung, auch wenn sie nicht empfindet, dass sie rechnet, ent­weder als ein daraus hervorgehendes Wohlbe­hagen bei den Konsonanzen oder als ein Miss­ be­hagen bei den Dissonanzen.« 21

Baumgarten kommentiert offenbar eben diese Briefstelle, wenn er meint, bei der Musik als Übung in der Rechenkunst werde ein mathematisches Vermögen »der nicht bewußt zählenden Seele« 22 in Kraft gesetzt. Und genau diese Art der vorbewussten Übung, wie sie Leibniz am Beispiel der Musik erläutert hatte, überträgt nun Baumgarten auf die Ästhe­t ik oder das schöne Denken in allgemeiner Hinsicht. Als Übung ohne distinktes Wissen erfolge sie auch beim ›schönen Denken‹ auf unmerkliche Weise: »durch die angeborene, erste Fähigkeit der Nachahmung« beim Kind, »das sich noch nicht bewußt ist, daß es denkt, und noch viel weniger, daß es schön denkt«, werde bereits das ästhe­t ische Vermögen trainiert.23 Wenn also ein Ungelernter seinem ingenium nachgeht, ohne sich der Regeln bewusst zu sein, sei er bereits in einer ästhe­t ischen exercitatio begriffen. Das von Baumgarten angeführte Leibniz-Beispiel ist dabei umso aufschlussreicher, als unmittelbar deutlich wird, wie schwierig ein Überführen von unbewusstem Rechnen durch Musik in tatsächliche Arithmetik nur sein kann. Leibniz selbst meint offenbar, wie der weitere Brieftext verdeutlicht, dass das Wohlgefallen an der Konsonanz sich aus so vielen unmerklichen Perzeptionen zusammensetzt, dass ein gleichzeitiges Umschalten auf mathematische Formeln gar nicht möglich ist – es sei denn, unter Verlust wiederum des musikalischen Genusses. So lässt sich entweder die Musik mit ihrem Nebeneffekt der ›arithmetischen Übung‹ genießen, oder das Zählen der Intervalle vollziehen. Anders gesagt vermag die Musik die zählenden Vermögen der Seele nur dann anzuregen und in diesem Sinne zu üben, wenn sie unbewusst bleiben. Dem ungenauen Wissen, das gleichzeitig klar und verworren ist, kommt mithin eine Bedeutung eigener Art zu, auch, wenn es sich nicht in bestimmtes Wissen überführen lässt. Wie aber verhält es sich in dieser Hinsicht mit Baumgartens ästhe­t ischer Übung der Improvisation? Man kann annehmen, dass Baumgarten sich auch auf die Tradition der imitatio als Übung oder auch jener Form der progymnasmata bezieht, die das Reden- und Argumentieren-Können zunächst über das Vorführen und Nachahmen von exempla einübt. Dafür spricht Baumgartens Anmerkung, dass ein Kind besonders dann seine natürlichen Anlagen üben wird, wenn es »durch ein günstiges Geschick […] in die Hände eines Künstlers fällt«. Diese Anmerkung weiß Baumgarten durch einen Passus aus Horaz’ Episteln zu veranschaulichen, in dem es heißt: »Er ›lenkt sein Ohr schon jetzt fort von anstößigen Reden, bildet schon bald sein Gemüt mit freundlicher Vorschrift.

21 Ebd.

Übersetzung Chr. Fr. § 54.

22 Aesth. 23 Ebd.



Zur ästhe­t ischen Übung177

Rühmliche Taten erzählt er den heranwachsenden Jahren, stellt edle Beispiele vor Augen […]‹«.24

Wie auch in den progymnasmata üblich, scheint es also zunächst um ein nachahmendes Lernen an Beispielen zu gehen. Vorgeführtes wird nachgeahmt, ohne dass der Neuling oder das unbedarfte Kind weiß, was es genau tut und lernt. Bemerkenswert ist allerdings der Kontext, aus dem der zitierte Passus aus Horaz’ Episteln stammt. So geht es Horaz nämlich an dieser Stelle nicht nur um ein Lob der Dichtererziehung durch Beispiele, sondern auch um die »insania« einer Kultur, in der zwar in allen Berufen nur der Gelernte seiner Profession nachgeht, auch der Ungebildeste allerdings Gedichte schreibe, ob er nun etwas von der Dichtkunst verstehe oder nicht.25 Gerade das ungelernte Dichten wird mithin auch abgewertet: Wer nicht weiß, was er tut, könne sich zwar als Dichter bezeichnen, verstehe allerdings von seinem Handwerk nichts – so zumindest die mitgelieferte Botschaft. Versteht man Baumgartens Referenz entsprechend, so lässt sich ihr entnehmen: dass eine ausschließlich ungelernte Übung im ästhe­tischen Denken noch lange keinen aestheticus ausmacht. Will man nun Baumgartens Horaz-Referenz diese Bedeutung nicht beimessen, so muss allerdings ein weiterer naheliegender Bezug auf die Antike zu denken geben. Um die improvisierten Übungen zu bezeichnen, gibt Baumgarten auch den griechischen Ausdruck autoschediásmata an.26 Damit mag Baumgarten markieren wollen, dass er sich unmittelbar auf die Rhetorik bezieht. Der sonst in der Rhetorik gebräuchliche Begriff der Improvisation unterscheidet sich allerdings maßgeblich von Baumgartens Verwendung des Ausdrucks. Im Unterschied zu Baumgarten meint die ›Improvisation‹ in der rhetorischen Tradition nämlich keineswegs die natürliche Übung eines ungeschulten Zöglings, sondern vor allem die öffentliche Rede ex tempore. Dieser Art der Rede widmet Quintilian das letzte Kapitel seines zehnten Buchs der Institutio oratoria – und er behandelt sie nachdrücklich als den Höhepunkt des rhetorischen Studiums. »Maximus vero studiorum fructus est«, erklärt er, und führt aus, dass die improvisierte Rede der reiche Ertrag des langen und steinigen Studiums der Rhetorik sei.27 Um eine Rede ex tempore halten zu können, müsse man sich die unterschiedlichsten Fähigkeiten in vollem Ausmaß angeeignet haben. Dazu gehöre, dass man sich einen »Vorrat gepflegtester Sprache« erworben und einverleibt habe und nicht auf höre, sich gewissenhaft im Aufsatzschreiben und anderen Fertigkeiten zu üben.28 Wer davon ablasse, sich zu üben, verliere bald die Fähigkeit, spontan reden zu können. Weil nun allerdings ein so großes Maß an 24 So

zitiert bei Baumgarten, ebd. »Epistles«, in: Horace: Satires, Epistles, and Ars Poetica, übers. von Henry Rushton Fairclough, London 1932, 407 (II.1. 119). 26 Aesth. § 57. 27 Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners, hg. und übers. von Helmut Rahn, zweiter Teil: Buch VII -XII, Darmstadt 1975, 529. 28 Ebd., 531. 25 Horaz:

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Können zu einer gelungenen improvisierten Rede gehöre und keine Theorie alles mit einmal mal umfassen könne, was hier vonnöten sei, greifen viele auf das zurück, was die Griechen die »álogos tribé« nennen – und was Franz Loretto als »irrationale Übung« übersetzt.29 An dieser Stelle gibt nun Quintilian zu bedenken, dass darin »auch jene Tricks der Jongleure und Gaukler« bestünden, »dass man den Eindruck hat, die in die Luft geworfenen Gegenstände kämen von selbst wieder in die Hand«. Eine solche Fertigkeit sei nur dann »sinnvoll«, wenn ihr die »theoretische Ausbildung« (ars) vorausgegangen sei, damit sich auch das, was an und für sich keinen vernünftigen Grund hat oder zu haben scheint (»quod in se rationem non habet«) im Rahmen eines methodischen Systems bewege und sich »in ratione versetur«.30 So sehr Quintilian also konzediert, dass es bei dem Kunststück der improvisierten Rede allem Anschein nach nicht mit rechten Dingen zugeht, sie also scheinbar aus mehr als nur Theorie und Übung besteht, so wenig ist er bereit, irgendeine Form der Übung anzuerkennen, die sich unabhängig von der doctrina abspielen würde. Was manchen wie ein miraculum erscheint, wird in Wahrheit durch viel Arbeit und Übung und immer in Vereinbarung mit der doctrina erreicht. Natura und ars, ingenium und doctrina werden mithin bei Quintilian gerade in der Improvisation durch die exercitatio so erfolgreich in Einklang gebracht, dass die höchste ars wie das natürlichste ingenium erscheint. Die Improvisation bedeutet folglich bei Quintilian nahezu das Gegenteil dessen, was Baumgarten ihr zuschreibt. Bei Quintilian das Ergebnis mühseliger Übung und genauer Theoriekenntnis, wird die Improvisation bei Baumgarten zu einem natürlichen Tun eines Geistes, der seiner Veranlagung zum Schönen unwillkürlich nachgeht. Was bei Quintilian entsprechend den Abschluss der rhetorischen Ausbildung darstellt, rückt bei Baumgarten an den Anfang. Aus der höchsten Könnerschaft, aus jenem Moment, in dem ingenium, doctrina und exercitatio in eins fallen, wird bei Baumgarten das erste ästhe­t ische Lallen eines unwissenden Kindes. Diese konsequente Umdeutung der rhetorischen ›Improvisation‹, wie sie Baumgarten vornimmt, ist so aufschluss- wie folgenreich. Natürlich: Baumgarten meint keineswegs, dass diese erste ungelehrte Art der Übung unabdingbar, geschweige denn, der doctrina oder ars in irgendeiner Form überlegen sei. Wie er im Gegenteil darlegt, um noch einmal daran zu erinnern, komme die ästhe­tische Übung erst dann zur Vollendung, wenn sie durch die ›Regeln der Kunst‹ verbessert werde. Dennoch kann gelten, dass Baumgarten nicht nur allgemein der Übung mehr zutraut, als das etwa Wolff und Gottsched oder Fabricius und Hallbauer das tun, sondern dass der Übung durch den umgedeuteten Begriff der Improvisation eine neue – bei Baumgarten noch nicht vollzogene, aber doch angedeutete – Eigenständigkeit zukommt. Das zeigt sich auch, um das nur kurz zu erwähnen, in Meiers Anfangsgründe[n] ­aller zitiert nach Marcus Fabius Quintilianus: Institutio oratoria X/Lehrbuch der Redekunst, 10. Buch, hg. und übers. von Franz Loretto, Stuttgart 1995, 121. Rahn übersetzt mit »Routine«, Quintilinaus, Ausbildung (wie Anm. 23), 533. 30 Ebd. 29 Hier



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schönen Wissenschaften (1748), der Baumgartens Übungen aus dem Stegreif als Übungen »ohne die Theorie […] zu verstehen« oder als »Naturalisiren« bezeichnet.31 Anders als Baumgarten geht Meier so weit zu betonen, dass die »Kunst jederzeit später« erfolge »als die Ausübung derselben«: »Ehe noch Aristoteles Dichtkunst in der Welt war, da war schon eine Ilias. Die Regeln der Kunst werden jederzeit erst, aus dem Naturalisiren der grösten Meister in derselben, erfunden.« 32

Während bei Meier die natürliche Übung schlicht mit der natura in eins zu fallen droht, so hatte Baumgarten ihr einen Status eigener Art zugeschrieben: Die natürliche Übung ist weder nur Natur, noch, wie bei Quintilian, vollendete Kunst. Vielmehr zeigt sich bei Baumgarten, wie aus einer willkürlichen Wiederholung oder Nachahmung tatsächlich eine bewusst betriebene Übung werden kann. Begreift man diesen entscheidenden Schritt, den Baumgarten in seiner Aesthetica vollzieht, tatsächlich als eine Aufwertung der natürlichen oder improvisierten Übung, insofern sie erst bei Baumgarten zu einem Tun zwischen Natur und Kunst wird, so zeigt sich allerdings auch, dass Baumgarten einmal mehr von Leibniz abweicht. Bleibt nämlich bei Leibniz die Übung in gewisser Hinsicht immer vorbewusst und gerade nicht verlustlos übersetzbar in Apperzeption, so lässt sich bei Baumgarten die natürliche und vorbewusste Übung gerade mittels einer Ästhe­t ik, die als scientia betrieben wird, in doctrina überführen. Dass nun gegen Ende des Jahrhunderts die Übung wieder zu einem unhintergehbar vorbegrifflichen Wissen werden kann, soll sich nun in einem kurzen abschließenden Ausblick auf Kant zeigen. Dass die Übung allerdings mit der Kantischen Umdeutung eben jene Funktion, die Baumgarten ihr attestiert hatte, wieder verliert, wird sich dabei ebenfalls erweisen. 2. Kants Übung In der Kritik der reinen Vernunft, im Rahmen der transzendentalen Analytik, kommt Kant auf die Urteilskraft und auf ihr Verhältnis zur Regel zu sprechen. Dort heißt es, pointiert, die »Urtheilskraft« sei ein Vermögen, welches nicht gelernt, »sondern nur geübt sein will«.33 Eine kognitive Fakultät also, das Vermögen immerhin des Urteilens, für das es keine Regel geben soll und das deshalb nur geübt werden kann? Kant erläutert:

Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Bd. 1, Halle 1748, 531. 533. 33 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 2. Auf l. 1787, in: Kant’s Gesammelte Schriften, hg. von der Akademie der Wissenschaften, Bd. III, Berlin 1904, 131. Hervorhebung Chr. Fr. 31 Georg

32 Ebd.,

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Christiane Frey

»Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urtheilskraft das Vermögen, unter Regeln zu subsumiren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht.« 34

Nun kann für eben dieses Vermögen, das unter Regeln subsumiert, selbst nicht noch einmal eine Regel angegeben werden. Denn wollte etwa die Logik »allgemein zeigen, wie man […] unterscheiden sollte, ob etwas [unter der Regel] stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen«.35 Um also die Subsumtion vornehmen zu können, kann man sich nicht wiederum an eine Regel halten wollen: es ergäbe sich ein regressus infinitus. Und so weist sich die Urteilskraft genau dadurch aus, dass sie dieses jeweilige Unterordnen zu leisten vermag, ohne dabei einer Vorgabe zu bedürfen, wofür Kant seine prägnante Formel findet: »[S]o zeigt sich, dass zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln f ähig, Urtheilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will.« 36

Mit anderen Worten: Wenn die Urteilskraft entscheidet, ob ein Besonderes unter eine Regel fällt oder nicht, hält sie sich dabei durchaus nicht an allgemeine Lehrsätze, sondern eben an etwas, das sich gar nicht weiter bestimmen lässt – und genau darum nur geübt werden kann. Kant führt nun an dieser Stelle, um sein Argument zu verdeutlichen, mehrere Beispiele bestimmter Talente an, zu denen die Urteilskraft unabdingbar ist. Zu diesen Beispielen gehört auch das, was Kant ›Mutterwitz‹ nennt: »Daher ist diese [die Urteilskraft] auch das Spezifische des so genannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann; denn, ob diese gleich einem eingeschränkten Verstande Regeln vollauf, von fremder Einsicht entlehnt, darreichen und gleichsam einpfropfen kann: so muß doch das Vermögen, sich ihrer richtig zu bedienen, dem Lehrlinge selbst angehören […].« 37

Ähnliches gelte für den Arzt, den Richter oder den Staatskundigen. In all diesen Berufen und den dazugehörigen Tätigkeiten bedarf es der Urteilskraft, und bei allen gelte: Wem die Fähigkeit mangelt zu entscheiden, »ob ein Fall in concreto« unter ein Allgemeines gehöre oder nicht, dem fehlt es entweder an Begabung, oder er »ist nicht genug durch Beispiele« zu dieser Fähigkeit, so Kant wörtlich, »abgerichtet worden«.38 Keine Lehre und keine Erklärung kann ersetzen, was nur von Natur gegeben und durch Wiederholung trainiert werden kann. Denn wer sich etwa daran gewöhnen würde, immer Regeln zu folgen, dem würde entgehen, dass die 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd.,

Hervorhebung Chr. Fr. 132.



Zur ästhe­t ischen Übung181

einzelnen Fälle »nur selten die Bedingung der Regel adäquat erfüllen«.39 Umso entscheidender ist die Übung an Beispielen, denn nur so lässt sich gleichzeitig lernen, dass es immer einen Hiatus zwischen Besonderem und Allgemeinem gibt und wie sich eben mit diesem Hiatus umgehen lässt. »So sind Beispiele der Gängel­wagen der Urtheilskraft«, kann denn Kant auch behaupten.40 Gemeint ist die Tatsache, dass sich die Urteilskraft an Beispielen zu üben habe, ja dass die sich Urteilskraft überhaupt nur dann bilden und schärfen kann, wenn sie es mit Einzelfällen zu tun hat. So hängt sie von einer Größe ab, die sie nicht verallgemeinern kann, und von einer Tätigkeit, die sich durch keine Lehre ersetzen lässt. Der pejorative Ausdruck »Gängelwagen« deutet darauf hin, dass Kant diese Abhängigkeit von einem Moment, das sich seinerseits nicht mehr formalisieren lässt, durchaus nicht behagt. Zu Kants Übungsbegriff – zumal mit Blick auf seine anthropologischen Schriften – wäre natürlich wesentlich mehr zu sagen. Mir kommt es hier nur auf einen Punkt an: Dass die Übung sich bei Kant – so wenig ihm das behagen mag – aus einem jeden Dienstverhältnis der Regel gegenüber befreit. Sie leistet etwas, was der Regel entgeht. Wo von Fall zu Fall entschieden werden muss, bedarf es der Übung, die eine Form des Wissens zur Verfügung stellt, die sich nicht in Doktrin überführen lässt. Die Übung übermittelt ein Wissen oder Können, das irreduzibel bleibt und doch – im Spiel wie im Leben, um es mit Wittgenstein zu sagen, – entscheidend zum Gelingen beiträgt. Der bemerkenswerte Stellenwert, den Baumgarten der Übung einräumt, kann durchaus in eine Linie mit der Erkundung einer solchen Wissensform gestellt werden: Sie knüpft an Leibniz an und findet sich bei Kant wieder. Die ungeschulte Übung, der Baumgarten den größeren Teil seiner Ausführungen zur Übung widmet, steht offenbar noch nicht im Dienst der doctrina – ohne deshalb wertlos zu sein. Sie fällt aber auch nicht einfach mit der Natur in eins. Vielmehr zeigt sie sich auch bei Baumgarten als ein Moment, das weder Regel noch bloß Natur ist. Dass Baumgarten der doctrina allerdings zutraut, das durch Übung unbewusst Gelernte zu verfestigen, so dass nicht die Übung selbst, sondern das hinzukommende gelehrte Wissen den Ästhe­t iker allererst zum felix aestheticus macht, zeigt einmal mehr, dass seine aesthetica vor allem eine scientia ist und sein soll. Und doch sollte diese Tatsache nicht darüber hinwegtäuschen, dass Baumgarten der improvisierten Übung eine wesentliche und durch keine andere Tätigkeit ersetzbare Funktion zuschreibt.

39 Ebd. 40 Ebd.

POETIK ••• Die Kunst der A nalogie A. G. Baumgartens literarische Epistemologie Von Frauke Berndt Alexander Gottlieb Baumgarten ist Philosoph – und er kann nur deshalb Philosoph sein, weil er 1735 in den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus als Literaturtheoretiker avant la lettre angetreten ist. Wenn Friedrich Schlegel ein halbes Jahrhundert später die eigene Poetik als Erster dann in programmatischer Absicht auch ausdrücklich Theorie nennen wird,1 dann bietet er diesen Begriff nicht nur gegen die poetologische Tradition auf, sondern wertet mit ihm die Lite­ratur als epistemisches Medium auf und um. Ohne dieses Medium wäre auch Baumgartens Philosophie buchstäblich undenkbar gewesen. Allein der Umweg über die Beobachtung und Beschreibung des literarischen Textes (poema) ermöglicht es Baumgarten, die Gesetze der Logik in diejenigen der Ästhe­t ik zu übersetzen. Der Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis (scientia cognitionis sensitivae) dient der literarische Text als Beispiel für eben diese, obwohl Baumgarten in § 73 der Aesthetica (1750/1758) noch selbstbewusst fordert: »Es ist daher eine aus gemeinen Gründen gewonnene Einsicht in die Wahrheit der wichtigeren Regeln notwendig, die dann die Erfahrung bestätigen und erhellen mag, so wie diese vielleicht auch das erste Hilfsmittel gewesen ist, jene Wahrheit zu finden. Es bedürfen daher die besonderen Künste, wenn man wahre von unechten Regeln abzusondern beabsichtigt, eines entfernten Grundsatzes, aus dem sie ihre besonderen Regeln einsehen können mögen, und daher bedarf dessen auch die ästhe­t ische Kunst, damit nicht allein auf eben derselben unzuverlässigen Erwartungen ähnlicher Fälle die Grundlagen für ihre Überführung in die Form einer Wissenschaft gelegt werden.« 2

Doch der Diskursivitätsbegründung der modernen Ästhe­tik fehlen schlicht und ergreifend apriorische Begriffe, was zur Folge hat, dass die Wissensordnung des 18. Jahrhunderts völlig aus dem Gleichgewicht gerät. Beobachtung und BeschreiVgl. Friedrich Schlegel: »Gespräch über die Poesie«, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler, Bd. 2, hg. und eingeleitet von Hans Eichner, München [u. a.] 1967, 284 – 351, hier 337. 2 Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anm. und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007. 1

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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bung des literarischen Textes kommen in dieser epistemologischen Krise dort »zum Einsatz […], wo Wissen fehlt bzw. zu komplex ist«, wie es Willer, Ruchatz und Pethes in ihrer Epistemologie des Exemplarischen auf den Punkt gebracht haben, »was sich auch so deuten lässt, dass es einzig für diese Lücke bzw. Komplexität«3 einsteht. Doch bei Baumgarten verhalten sich literarischer Text und philosophische Disziplin keineswegs wie Besonderes zu Allgemeinem. Für die wichtigeren Regeln (regulae graviores) der Ästhe­t ik ist der literarische Text weder Ausgangsbeispiel noch Belegbeispiel. Baumgarten verwendet das Beispiel nämlich nicht vor einem dialektischen, sondern vor einem rhetorischen Hintergrund.4 Er stellt eine Analogie zwischen literarischem Text und sinnlicher Erkenntnis her, aufgrund deren beide einander in einem epistemologischen Balanceakt nun wechselseitig erhellen.5 Dem Philosophen bereitet seine eigene Methode indes sichtliches Unbehagen, obwohl sich das analogische Verfahren während der 25-jährigen Arbeit an der neuen Position in der Wissensordnung als epistemologischer Königsweg erweisen wird. Vor diesem Hintergrund werde ich im Folgenden erstens die rhetorische Epistemologie des Beispiels rekonstruieren, zweitens Baumgartens literarische Epistemologie in den Meditationes skizzieren und drittens erläutern, aus welchem Grund, an welcher Stelle und auf welche Art und Weise Baumgarten in seiner Aesthetica selbst Beispiele verwendet. 1. Zwischen Besonderem und Besonderem Ut poema cognitio sensitiva – das ist die große, unerhörte Analogie, die es Baumgarten erlaubt, sich zwischen literarischem Text und sinnlicher Erkenntnis hin und her zu bewegen, ja elegant zwischen Erkenntnis und Darstellung zu balancieren. In § 533 aller sieben von ihm zwischen 1739 und 1757 besorgten Ausgaben der Meta­ physica überspielt die Konjunktion ›& (et)‹ diesen epistemologischen Balanceakt zwischen philosophischer Erkenntnis- und rhetorischer Darstellungstheorie, den Baumgarten am Ursprung der »Wissenschaft von allem, was sinnlich ist«,6 analogisch bewältigt und damit die Ambiguität des Projekts unwiderruflich festschreibt:7 »Die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung ist die ästhetik«.8 Stefan Willer/Jens Ruchatz/Nicolas Pethes (Hgg.): »Zur Systematik des Beispiels«, in: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2007, 7 – 59, hier: 8. 4 Willer/Ruchatz/Pethes schlagen folgende Systematisierung vor: Rhetorisches Beispiel – Belegbeispiel – Ausgangsbeispiel – Normatives Beispiel. Vgl. »Zur Systematik des Beispiels«, 9. 5 Die ästhe­ t ische Idee der Balance in der Moderne verfolgt Eckart Goebel u. a. in: ders.: Charis und Charisma. Grazie und Gewalt von Winckelmann bis Heidegger, Berlin 2006 sowie in weiteren Studien zu Mörike und Canetti. 6 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 66. 7 Vgl. Frauke Berndt: Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin/Boston 2011, 12 – 19. 8 Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica/Meta­ phy­sik, Hist.-krit. Ausgabe, übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011; Kursivierung F. B. 3



Die Kunst der Analogie185

Dieser Analogie geht freilich die diskursivitätsbegründende Analogie im Projekt der Ästhe­tik voraus – die Analogie zwischen Logik und Ästhe­tik, die der Philosoph sowohl in der Metaphysica als auch im ersten Paragraphen der Aesthetica ganz selbstbewusst ausstellt: Die Ästhe­t ik sei die Kunst des der Vernunft analogen Denkens (ars analogi rationis), so dass das Projekt der Ästhe­tik auf eine der logischen Erkenntnis analoge Epistemologie der sinnlichen Erkenntnis abzielt. Denn Noeta und Aistheta müssen einander doch ähnlich sein! Sind sie aber eben nicht, wie Baumgarten schmerzlich bemerkt haben muss. Deshalb ersetzt Baumgarten in einem gewaltigen epistemologischen Sprung die erste Analogie zwischen Logik und Ästhe­tik durch jene zweite – die Analogie zwischen Erkenntnis und Darstellung, die er in den Medi­tationes herstellt. Zwar verwendet Baumgarten für die großen Unbekannten der neuen Wissenschaft dieselben Perfektionskategorien wie in der Logik (ubertas, magnitudo, veritas, claritas, certitudo, vita cognitionis). Doch Struktur und Funktionen der sinnlichen Erkenntnis kann er einzig und allein am literarischen Text beobachten und beschreiben, weil sie in dessen wahrnehmbaren Formen in Erscheinung treten – und zwar im Gegensatz zu allen anderen Künsten zwar nicht der Logik analog, aber doch wenigstens ›irgendwie‹ logisch, nämlich sprachlogisch. In der Baumgarten-Forschung ist dieser propädeutische Einsatz der Hallenser Magisterarbeit für das Projekt der Ästhe­t ik ebenso bekannt wie anerkannt. Diese Beziehung gilt als gleichermaßen unproblematisch wie uninteressant – und das letztere aufgrund des ersteren: Erkenntnis und Darstellung sind einander ähnlich – und zwar im Hinblick auf ein ›Mittleres‹, d. h. ihre rhetorischen Verfahren, die eben sowohl Erkenntnis- als auch Darstellungsverfahren sind. Tatsächlich wird das Beispiel in diesem Sinn seit der Antike »primär als Funktions- und nicht als Gattungsbegriff« 9 bestimmt. In der Tradition logisch-dialektischer Beweisführung hat es die drei Funktionen der »Induktionsbasis, Begriffseinführung und Begriffsrealisierung«.10 So leistet es nicht nur in der Geschichtsschreibung,11 sondern wie bei Baumgarten auch in der Philosophie gute Dienste als rhetorisches Mittel der Veranschaulichung. Dabei gilt das Interesse am Beispiel weniger dem Zeichen als vielmehr dem Bezeichneten bzw. der Beziehung zwischen beiden. Am rhetorischen Ursprung nimmt sich diese Beziehung indes spannungsreicher aus als es das exemplarische Dienstleistungsprogramm zunächst vermuten ließe. Obwohl Aristoteles das rhetorische Beispiel – die enge Beziehung zwischen Dia 9 Bernd Engler/Kurt Müller: Einleitung: »Das Exemplum und seine Funktionalisierungen«, in: Exempla. Studien zur Bedeutung und Funktion exemplarischen Erzählens, hg. von dens., Berlin 1995, 9 – 2 0, hier 10. 10 Gottfried Gabriel: »Logik und Rhetorik der Beispiele«, in: Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, hg. von Lutz Danneberg und Jürg Niederhauser, Tübingen 1988, 241 – 262, hier 244. 11 Vgl. Reinhart Koselleck: »Historia Magistra Vitae. Über die Auf lösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte«, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, hg. von dems., Frankfurt a. M. 1989, 38 – 66, hier 39 f.; umfassend dazu: Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im »Poli­ craticus« Johanns von Salisbury, Hildesheim/Zürich/New York 1988.

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lektik und Rhetorik voraussetzend – als Induktionsbeweis (ἐπαγωγή ) bestimmt, ist es doch etwas ›ganz anderes‹ als ein Beweis,12 weil nicht begriffliche Strukturen, sondern die Ähnlichkeit sein epistemologisches Fundament bilden: »Dass das Beispiel eine Induktion sei und über welche Art von Dingen es eine Induktion sei,13 ist bereits gesagt worden. Es verhält sich aber weder wie ein Teil zum Ganzen noch wie ein Ganzes zum Teil noch wie ein Ganzes zum Ganzen, sondern wie ein Teil zum Teil, wie Ähnliches zu Ähnlichem: wenn beides unter dieselbe Gattung f ällt, wenn aber das eine | bekannter ist als das andere, dann ist es ein Beispiel.«14

Mit der Ähnlichkeit verlässt Aristoteles freilich ontologisch gesicherten Boden und überantwortet das Beispiel dem Gemeinsinn: Ähnlich ist das, was für ähnlich gehalten wird, bzw. das, was als ähnlich gilt – und zwar unabhängig davon, ob Gattungsgesetze diese Ähnlichkeit zulassen oder nicht: »Ein Bei spiel, Paradeigma, ist es, wenn gezeigt wird, daß dem mittleren Begriff der obere zukommt, und zwar durch ein dem dritten (unteren) Ähnliches«.15 Es ist genau dieses rhetorische Verfahren der Analogie (ἀναλογία),16 die das Beispiel in die Nähe zur Metapher rückt, wo­ rauf vor allem Anselm Haverkamp aufmerksam gemacht hat; er spannt hierfür den Bogen von Aristoteles bis Thomas S. Kuhn und Hans Blumenberg.17 Aristoteles selbst bestimmt die Analogiemetapher als eigenen Typus. Deshalb zählt die antike Rhetorik das Beispiel sowohl zu den Vergleichsargumenten an der Systemstelle der Inventio (Findungslehre) als »zuweilen auch zum Schmuck der Rede«18 an der Systemstelle der Elocutio (Darstellungslehre). Denn in der Metapher reguliert – grob gesprochen – die Ähnlichkeit den Bezug zwischen Substituens und Substitutum. Die Einsicht, dass die Metapher dadurch eigentlich beide Elemente in einer zweistelligen Figur abbildet, dass sie also nicht paradigmatisch, sondern syntagmatisch verfährt, geht auf das theoretische Konto Baumgartens, der alle Tropen kurzer12 Zum

rhetorischen Beispiel vgl. Willer/Ruchatz/Pethes: »Zur Systematik des Beispiels«, 10 – 2 0; außerdem Josef Klein: »Beispiel«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 1430 – 1435. 13 Vgl. Arist.: Rhet. 1356b, zitiert nach: ders.: Rhetorik (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, hg. von Hellmut Flashar, Bd. 4, übers. und erläutert von Christof Rapp, Berlin 2002). 14 Aristoteles: Rhet. 1357b. 15 Aristoteles: An. pr. 68b. Zitiert nach: ders.: Lehre vom Schluß oder Erste Analytik, übers. und mit Anm. versehen von Eugen Rolfes, eingeleitet von Hans Günter Zekl, Hamburg 1992, 141 f. 16 Vgl. Christof Rapp: »Ähnlichkeit, Analogie und Homonymie bei Aristoteles«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 46 (1992), 526 – 544. 17 Vgl. Anselm Haverkamp: »Paradigma Metapher, Metapher Paradigma«, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, München 1987, 230 – 245; ich nenne hier nur diesen Aufsatz, obwohl Haverkamp der Metapherntheoretiker der Gegenwart ist; 2015 im Erscheinen begriffen u. a.: Marginales zur Metapher. Poetik nach Aristoteles (Berlin). 18 Quintilian: Inst. or. 8, 5, 10. Hier und im Folgenden zitiert nach: Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. und übers. von Helmut Rahn, 2 Bde., 3. Auf l., Darmstadt 1995, Bd. 2, 207.



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hand als kryptische Figuren ( figurae crypticae) bezeichnet.19 Räumlich denkt aber auch Quintilian – Baumgartens Gewährsmann im zweiten Teil der Aesthetica, in der er dessen Figurenlehre bearbeitet 20 – Ähnlichkeit (similitudo/παραβολή ), wenn er das rhetorische Verfahren des Beispiels als »Nebeneinanderstellung von Ähnlichem [adpositio similium]« beschreibt.21 Diese Ähnlichkeit kann »entweder ähnlich, unanähnlich oder entgegengesetzt [similia, dissimilia, contraria]« sein.22 Daraus folgt: Analogie ist also ein Verfahren, Ähnlichkeit eine Eigenschaft. Dass Quintilian die Nähe von Vergleich/Gleichnis (similitudo), Allegorie (allegoria) und Metapher (translatio) betont,23 führt geradewegs zu demjenigen Begriff, der im Hinblick auf Baumgartens literarische Epistemologie zentral ist – zum Begriff collatio, von lat.: conferre, dt.: zusammentragen, zusammenstellen. Quintilian wiederum übernimmt ihn von Cicero: conlatio ist bei ihm derjenige Redegegenstand, der durch Vergleichung (res ex similitudine) gewonnen wird;24 ich übersetze conlatio bzw. collatio gemäß ihres rhetorischen Verfahrens als Analogiefigur. Damit rückt collatio zum Oberbegriff aller rhetorischen Figuren auf, die analogisch verfahren. In diesem Sinn versteht bereits Johann Heinrich Zedler in seinem Universal-Lexicon collatio als Übersetzung des griechischen Symbols (σύμβολον) und bezeichnet mit dem Begriffspaar alle »[r]hetorischen Figuren, welche in Sachen bestehen, und zwar besonders dererjenigen, nach welchen man etwas amplificirt«;25 auch Jacques Derrida spricht von »symbolischen oder analogen Figuren«.26 Solche symbolischen Figuren (σύμβολα /collationes) umfassen sowohl die Figuren der Detaillierung (ampli­ ficatio) als auch die Figuren der Vergegenwärtigung (ὑποτύπωσις). Mit dem Begriff des Symbols kommt am Beispiel nun freilich etwas anderes als seine Relationalität in den Blick – nämlich die semiotische Qualität des Beispiels selbst. Dessen Sprachlichkeit ist in der Rhetorik ohnehin vorausgesetzt. Mit ihr geht eine Erkenntnisfunktion einher, die Gabriel an die »anschaulich-konkretisie19

Vgl. Anselm Haverkamp: »Wie die Morgenröte zwischen Nacht und Tag. Alexander Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschaften in Frankfurt an der Oder«, in: DV js 76 (2002), 3 – 26, hier 16; ders.: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt a. M. 2002, 13 f., pass.; ders.: »›Wie die Morgenröthe‹. Baumgartens Innovation«, in: Baumgarten-Studien. Zur Genealogie der Ästhe­tik, hg. von Rüdiger Campe, Anselm Haverkamp und Christoph Menke, Köln 2014, 15 – 47, hier 34 f. 20 Vgl. Anselm Haverkamp: »Wie die Morgenröthe zwischen Tag und Nacht«, 17. 21 Quintilian: Inst. or. 5, 11, 1. Zitiert nach: ders.: Ausbildung, Bd. 1, 597. 22 Quintilian: Inst. or. 5, 11, 5. Zitiert nach: ders.: Ausbildung, Bd. 1, 599. 23 Vgl. Quintilian: Inst. or. 8, 6, 49, pass. Vgl. Willer/Ruchatz/Pethes: »Zur Systematik des Beispiels«, 16. Dass Quintilian die Nähe von Beispiel und Metapher habe abwehren wollen, kann ich so nicht sehen. 24 Vgl. Cicero: De inv. 1, 49; Quintilian: Inst. or. 5. 11, 23. 25 Art. »Σύμβολή , Symbole«, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 41, Halle 1744, 638. 26 Jacques Derrida: »Weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text«, in: ders.: Randgänge der Philosophie, übers. von Gerhard Ahrens, hg. von Peter Engelmann, Wien 1988, 208 – 231, hier 210.

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rende Funktion (in der Rede)« bindet.27 Anschaulichkeit (evidentia) ist daher die Leistung des Beispiels, und es erbringt die Funktion des Vor-Augen-Stellens einzig und allein aufgrund seiner phänomenalen Individualität: Es ist das Besondere, das Konkrete, das Individuelle, das ein Beispiel zum Beispiel macht (schon allein deshalb liegt natürlich die Metapher in greif barer Nähe). Doch nicht von ungefähr besteht Quintilian mehr auf der Nachbarschaft von Allegorie und Beispiel als von Metapher und Beispiel. Denn die Anschaulichkeit des Beispiels liegt weniger darin begründet, dass es für einen Gegenstand steht; die sprachanalytische Philophie spricht vom einem singulären Terminus, Quintilian verwendet den Begriff des Bildes (εἰκών).28 Anschaulichkeit gewinnt das Beispiel »als minimale narrative Einheit«,29 wie ausgerechnet im pragmatischen Horizont der Geschichtsschreibung offen zutage tritt. Diese rhetorische Epistemologie des Exemplarischen bildet den Hintergrund für Baumgartens literarische Epistemologie, die gewissermaßen einen Re-Entry innerhalb der Rhetorik vollzieht: Einerseits dient ihm der literarische Text als Beispiel der sinnlichen Erkenntnis, andererseits dient ihm die rhetorische Figur des Beispiels (exemplum), auf die Baumgarten in den Meditationes aufmerksam wird, als Beispiel des literarischen Textes (poema). Baumgarten isoliert das Beispiel also buchstäblich – lat.: eximere, dt.: herausnehmen, absondern, aussondern – aus dem Katalog der symbolischen Figuren. Dergestalt ausgestellt fungiert es als Micro­double sinnlicher Erkenntnis, so dass die Beziehung zwischen sinnlicher Erkenntnis, literarischem Text und rhetorischer Figur des Beispiels einen doppelten Syllogismus bildet: Die rhetorische Figur des Beispiels ist Beispiel des literarischen Textes, der wiederum Beispiel der sinnlichen Erkenntnis ist. Tertium beider Analogien sind die rhetorischen Verfahren, die Baumgarten ›sinnlich‹ nennt: Oberbegriff: Ästhe­t ik (aesthetica)

| Literarischer Text (poema)

Mittelbegriff:          »Sinnlichkeit« Unterbegriff: Literarischer Text (poema) | Beispiel (exemplum)

Weil Baumgartens Analogie in der rhetorischen Epistemologie des Beispiels verankert ist, weil er also eben gerade nicht vom Beispiel auf die wichtigeren Gesetze (regulae graviores) der sinnlichen Erkenntnis schließt, oder umgekehrt: für diese Gesetze ein Beispiel wählt, führt der Weg vom Projekt der Ästhe­t ik direkt in die moderne Epistemologie des Exemplarischen. Während Immanuel Kant und mit ihm der gesamte philosophische Idealismus des 19. Jahrhunderts Exemplarizität ablehnt, ja ablehnen muss, steigt das Beispiel Anfang des 20. Jahrhunderts »zur eigentlich 27 Gabriel:

»Logik und Rhetorik der Beispiele«, 241. Quintilian: Inst. or. 5, 11, 24. 29 Karlheinz Stierle: »Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte«, in: Geschichte – Ereignis und Erzählung, hg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel, München 1973, 347 – 375, hier 358. 28 Vgl.



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erkenntnisstiftenden Instanz« auf.30 Insbesondere Ludwig Wittgenstein hat eine »Methode des Beispiels« entwickelt,31 in der Beispiele Begriffen weder vorausgehen noch sie nachträglich veranschaulichen. Sie sind ein unhintergehbares epistemisches Medium, das an die Stelle von Induktion oder Deduktion Analogiebildungen setzt. Das epistemologisch Spektakuläre des rhetorischen Beispiels besteht darin, dass es weder vom Besonderen zum Allgemeinen noch das Allgemeine durch ein Besonderes veranschaulicht, sondern vielmehr die Balance zwischen einem Besonderen und einem anderen Besonderen hält. Im Hinblick auf Baumgartens literarische Epistemologie folgt daraus, dass sich Erkenntnis zu Darstellung eben gerade nicht wie Allgemeines zu Besonderem verhält: Beide rangieren – philosophisch betrachtet eine Katastrophe – auf der gleichen Stufe des Besonderen, Konkreten, Individuellen. »Problematisch wird angesichts dessen die Explizierbarkeit von Regeln«, bemerkt Stefan Willer völlig zu recht: »Sie erscheinen geradezu als von den Beispielen hervorgebrachtes Simulacrum«.32 Genau auf diesen unerhörten Punkt weist Giorgio Agamben hin, für den Beispiel und Regularität einander in figuraler Abbildung geradezu ausschließen:33 »Was das Exempel zeigt, ist seine Zugehörigkeit zu einer Klasse, aber genau darum f ällt es im selben Moment, da es diese zu Schau stellt, als exemplarischer Fall aus ihr heraus […]. Wenn man nun fragt, ob die Regel auf das Beispiel angewandt wird, so ist die Antwort nicht einfach, denn man wendet die Regel nur auf das Beispiel als Normalfall an, und eben nicht als Beispiel. Das Beispiel ist aus dem Normalfall nicht deshalb ausgeschlossen, weil es nicht dazugehört, sondern weil es seine Zugehörigkeit zur Schau stellt. Es ist tatsächlich parádeigma im etymologischen Wortsinn, das, was ›sich daneben zeigt‹; eine Klasse kann alles beinhalten, nur nicht das eigene Paradigma.« 34

Wenn dem so ist, wenn dem Beispiel seine Verankerung im Allgemeinen fehlt, weil es zwischen Besonderem und Besonderem balanciert, dann ist Alexander Gelleys Dekonstruktion von Exemplarizität folgerichtig, »example cannot assume a whole on which it draws. Rather, it is oriented to the recovery of a lost whole or the discovery of a new one«.35 Im Hinblick auf den Philosophen Baumgarten kann man sich einer verkehrten Zeitrechnung deshalb kaum entziehen: Einerseits gehört er in sei30 Gabriel:

»Logik und Rhetorik der Beispiele«, 242. Vgl. u. a. Luiz Antônio Marcuschi: Die Methode des Beispiels. Untersuchung über die methodische Funktion des Beispiels in der Philosophie, insbesondere bei Ludwig Wittgenstein, Erlangen 1976. 32 Stefan Willer: »Was ist ein Beispiel? Versuch über das Exemplarische«, in: Originalkopie. Praktiken des Sekundären, hg. von Gisela Fehrmann, Erika Linz, Eckhard Schumacher und Brigitte Weingart, Köln 2004, 51 – 65, hier 54. 33 Agamben vergleicht Beispiel und Ausnahmezustand, um Gemeinsamkeiten, vor allem aber Unterschiede zu analysieren. 34 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. von Hubert Thüring, Frankfurt a. M. 2002, 32. 35 Alexander Gelley: »Introduction«, in: Unruly Examples. On the Rhetoric of Exemplarity, hg. von dems., Stanford 1995, 1 – 24, hier 3. 31

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ner Rhetorik der Analogie noch ganz dem vormodernen »age of exemplarity« an,36 andererseits überspringt er die Anfänge der Moderne, so dass man im Nachdenken über Baumgarten immer wieder und geradewegs in der Postmoderne landet. 2. Ähnliches mit Ähnlichem, Verwandtes mit Verwandtem Vor dem Hintergrund der rhetorischen Epistemologie des Exemplarischen ist das Beispiel also – erstens – eine symbolische Figur (σύμβολον/collatio). Ihre Leistung besteht – zweitens – in ihrer Anschaulichkeit (evidentia). Dabei balanciert die Analogie – drittens – die Beziehung zwischen dem Beispiel als Zeichen und demjenigen aus, was es bezeichnet. In der Form des Beispiels tritt die Struktur der sinnlichen Erkenntnis nun freilich dergestalt in Erscheinung, dass Baumgarten sie in ihren Funktionen punktgenau analysieren kann. In den Meditationes spielt er seine literarische Epistemologie deshalb gewissermaßen über die Bande des Beispiels, das dadurch paradigmatischen Status für das Projekt der Ästhe­tik gewinnt. Deshalb ist es in der Magisterarbeit diejenige rhetorische Figur, der Baumgarten die meiste Aufmerksamkeit zollt. Auf das Beispiel kommt er in den Paragraphen 19 – 36 (explizit in den Paragraphen 21 f.) zu sprechen, in systematischer Hinsicht steht es allerdings im Mittelpunkt des gesamten ersten Teils, der die Paragraphen 12 – 64 umfasst und in dem der Gegenstand des literarischen Textes bestimmt wird. Den epistemologischen Rahmen bildet Baumgartens metaphysische Erweiterung der Rede (oratio), die allein sie zum literarischen Text (poema) macht. Denn wie die Rede (oratio), so ist auch der literarische Text eine Verknüpfung sinnlicher Vorstellungen (repraesentationes sensitivae), von denen es in § 521 der Metaphysica heißt: »Eine nicht deutliche Vorstellung heißt sinnliche vorstellung. Also stellt die Kraft meiner Seele durch das untere Vermögen sinnliche Wahrnehmung vor«. In diesem Sinn grenzt Baumgarten in § 4 der Meditationes daher zunächst die diskursive von der nicht diskursiven, d. h. der sinnlichen Rede (oratio sensitiva) ab: »Eine rede, die aus sensitiven Vorstellungen besteht, sei sensitiv genannt«.37 Zum literarischen Text wird sie dadurch, dass er in § 9 die vollkommene sinnliche Rede von der eben nur sinnlichen und nicht vollkommenen Rede unterscheidet: »Oratio sensitiva perfecta est Poema«. Diese metaphysische Eigenschaft attribuiert Baumgarten mit dem Begriff poeticus/a/um; erst in der Aesthetica spricht er in diesem Zusammenhang von Schönheit (pulcritudo). Es ist bekannt, dass Baumgarten für die so attribuierte sinnliche Erkenntnis den Modellbegriff sensitivus/a/um gegenüber sensualis/is/e bevorzugt, weil er mit seiner Hilfe die Erkenntnisfunktionen der Sinnlichkeit analysieren kann – und zwar 36 John D. Lyons: Exemplum. The Rhetoric of Example in Early Modern France and Italy, Prince­ ton 1989, 12. 37 Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus/Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, übers. und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983.



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genau als Darstellungsfunktionen des literarischen Textes. Sensitivus ergo poeticus: Diese Analogie bildet den Generalbass für das Funktions- und Leistungsprofil des literarischen Textes, das er in den Paragraphen der Meditationes dekliniert; und vor dem Hintergrund, dass Baumgarten den literarischen Text als Beispiel sinnlicher Erkenntnis beobachtet, gilt umgekehrt: poeticus ergo sensitivus. Beispiel dieser Poetizität ist die rhetorische Figur des Beispiels. Dabei unterscheidet Baumgarten kategorisch zwischen Epistemologie und Pragmatik des Exemplarischen, indem er letztere in die Anmerkung zu § 22 auslagert. Dort bemängelt er im Hinblick auf die Causa Dei [asserta per iustitiam eius] (1719), in der Gottfried Wilhelm Leibniz auf die Evidenz normativer Beispiele setzt, die Beliebigkeit ebenso wie die Unerschöpflichkeit des kulturellen Schatzes: »Das sieht der berühmte Leibniz in jenem hervorragenden Buch, in welchem er es unternimmt, die Sache Gottes zu rechtfertigen, wenn er sagt: ›Als das letzte Ziel der Dichtung darf bezeichnet werden die Klugheit und die Tugend durch Beispiele‹ (Theodicée II, 148). Wenn wir ein Beispiel eines Beispiels suchen, dann finden wir uns beinahe – wie Tantalus – in einen solchen Überfluß versetzt, unsicher, woher wir gerade schöpfen sollen. Laßt uns ans Meer des unglücklichen Naso eilen: Die weniger bestimmte Vorstellung: ›Oft, wenn ein Gott uns zusetzt, bringt ein anderer Gott Hilfe,‹ (Ovid, Tristien I, 2. Vers 4) war kaum dem Munde entwichen, der feucht ist vom salzigen Naß der Tränen und des Meeres, siehe da! plötzlich folgt ein zehnfacher Strom von Beispielen, 6 Verse beanspruchend: ›Mulciber ergreift gegen Troja, Achill für Troja Partei‹ usw. (Ovid, Tristien I, 2. Vers 5).«

Eigentlich aber interessiert sich Baumgarten nicht für das Normative des Beispiels, sondern für das Sinnliche am Beispiel, das es unabhängig von seinen moralischen Dienstleistungen ausmacht. Wenn das Beispiel aus den Fußnoten in die Paragraphen wandert, dann aus dem Grund, dass Baumgarten an den wahrnehmbaren Formen des Beispiels die Struktur der sinnlichen Erkenntnis analysieren kann. Ihren Nukleus bildet die sinnliche Vorstellung, die drei Funktionen hat: Komplexität (confusus), Anschaulichkeit (clarus) und Aktivität (vivus). In den Beispielparagraphen der Meditationes offenbart sich die philosophische Grundlage der zunächst psychologischen Bestimmung der sinnlichen Erkenntnis. Denn mit der sinnlichen Vorstellung geht es Baumgarten um Individualbegriffe (singuläre Termini), d. h. Begriffe, die die individuellen Merkmale eines Gegenstandes bezeichnen. In § 19 hält er fest: »Individuen sind durchgängig bestimmt. Folglich sind Einzelvorstellungen besonders poetisch«. Eine solche Komplexität durch Merkmalsfülle zeichnet in § 21 das Beispiel aus: »ein beispiel ist die Vorstellung von etwas stärker Bestimmtem, die zur Erklärung einer Vorstellung von weniger Bestimmtem beigebracht wird«. Als Beispiele

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können deshalb sowohl Einbildungen von Gegenständen gleicher oder verschiedener Art und Gattung (phantasmata)38 – insbesondere dann, wenn sie räumliche und zeitliche Koordinaten haben – dienen als auch Namen, auf die in der Exempelliteratur so vertraut wird. In § 89 definiert Baumgarten Namen in diesem Sinn als Individualbegriffe: »Eigennamen sind Namen, die Individuen bezeichnen. Da Individuen besonders poetisch sind, so sind auch Eigennamen poetisch«. Für den philosophischen Individualbegriff führt er in § 23 nun eine poetologische Alternative ein, die das Phänomen der Merkmalsfülle auf den begrifflichen Punkt der Komplexität (conceptus complexus) bringt: »Da der zusammengesetzte Begriff mehr als der einfache vorstellt, so sind die zusammengesetzten verworrenen Begriffe extensiv klarer als die einfachen«. In den Meditationes findet genau an dieser Stelle ein epistemologisch einschlägiger Querverweis statt. Denn in § 79 verweist Baumgarten auf § 23 zurück, nachdem er die symbolischen Figuren (σύμβολα /collationes) als individuelle, also komplexe Begriffe bestimmt hat. Baumgartens eigene Terminologie ist dabei alles andere als einheitlich. Hier spricht er von Wörtern mit uneigentlicher Bedeutung (voces impropriae); Heinz Paetzold ergänzt in Klammern ›bildlich‹: »Eine uneigentliche (bildliche) Bedeutung finden wir in einem uneigentlichen Wort. Da aber die uneigentlichen Ausdrücke meistens die eigentlichen Bezeichnungen für eine sensitive Vorstellung sind, so sind die Figuren poetisch: 1. Weil die Vorstellung, die durch figürliche Umschreibung hinzutritt, sensitiv und damit poetisch ist, § 10, 11. 2. Weil sie, d. h. die poetischen Figuren, zusammengesetzte verworrene Vorstellungen verschaffen, § 23.«

Die epistemologische Achse zwischen § 23 und § 79 verbindet also das Beispiel im Besonderen mit den symbolischen Figuren im Allgemeinen, die ich oben bereits als Analogiefiguren eingeführt habe. In § 72 erfindet Baumgarten für diese Figuren die so genannte ›lichtvolle Methode‹ (methodus lucida): Sie verknüpft, sei es figural im engeren Sinn oder tropisch im weiteren, Ähnliches mit Ähnlichem und Verwandtes mit Verwandtem – »ut simile cum simili et cognatum cum cognato« – zu einer zeitlich-räumlichen Struktur, die Baumgarten in § 39 ›Zusammensetzung/ Zusammenstellung‹ (compositum) nennt, wo Quintilian collatio, Cicero conlatio gesagt und dasselbe gemeint haben. Das Moment der Verknüpfung hebt er bereits in der Definition des literarischen Textes besonders hervor. Dieser besteht nämlich außer aus sinnlichen Vorstellungen sowie deren materialen Realisierungen durch geschriebene oder gesprochene Wörter (voces) eben zusätzlich noch aus einem eigens markierten Operator der Verknüpfung (con/nexus):39 »Die Verknüpfung der poetischen Vorstellungen muß zur sensitiven Erkenntnis beitragen […], folglich muß sie poetisch sein«, notiert er in § 55. Das beste Beispiel für solche Verknüpfungen qua Analogie findet Baumgarten in der ersten Ode des Horaz, an der er in der 38 Vgl. 39 Vgl.

Med. §§ 28 – 35. Berndt: Poema/Gedicht, 34 – 41.



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Anmerkung zu § 20 vorführt, wie Allgemeinbegriffe – universalia – durch Individualbegriffe – individua – ersetzt worden sind: »Warum steht in ihr ›Ahnen‹ für Vorfahren, ›olympischer Staub‹ für Staub der Spiele, ›Palme‹ für Preis, ›lybische Plätze‹ für fruchtbare Gebiete, ›attalische Verhältnisse‹ für Überfluß[,] ›cyprischer Balken‹ für Handelsschiff, ›myrtenartiges Meer‹ für gef ährliches Meer, ›der mit den ikarische[n] Fluten ringende Afrikus‹ für Wind, ›alter Massiker‹ für edler Wein, ›marsischer Eber‹ für mörderisches Tier usw., wenn es nicht verdienstvoll wäre, an die Stelle von weiteren Begriffen engere zu setzen?«

An diesem Beispiel für das Beispiel wird gleichzeitig auch deutlich, dass zu den Merkmalen, die mit einem Individualbegriff bezeichnet werden, nicht nur die Eigenschaften eines Gegenstandes, sondern auch dessen Enzyklopädie gehören, worauf Baumgarten in der Anmerkung zu § 19 am Beispiel des Homerischen Schiffskatalogs aufmerksam macht: »Weit entfernt, daß unsere Dichterlinge diese Feinheit eines Gedichtes beachten. Vielmehr rümpfen sie über Homer die Nase, wenn er in der Ilias sagt: ›Die Führer und Herrscher und Lenker der Schiffe will ich jetzt aufzählen und die Schiffe selbst‹ [2. Gesang, Vers 493]. Im 7. Gesang der Ilias schildert er alle, die versuchten, dem Hektor in den Weg zu treten; im Hymnus auf Apoll zählt er die meisten heiligen Orte auf, in denen der Gott gebietet. In Vergils Aeneis wird der dasselbe genug und noch mehr beobachten können, der das Ende des 7. Buches und die folgenden Bücher studiert. Man mag auch Ovids Aufstellung der Hunde hinzufügen, die ihre Herren zerfleischen, in den Metamorphosen.«

In den narrativierten Beispielen wie Gleichnissen oder Vergleichen, die Baumgarten in § 36 beobachtet, erhöht sich diese Merkmalsfülle sogar noch: »gleichnisse [Similia] nennt man dinge, die unter denselben höheren Begriff fallen. Folglich gehören Gleichnisse derselben Art oder derselben Gattung an. Daher ist es besonders poetisch, mit einer vorzustellenden Einbildung zugleich ähnliche vorzustellen«.

Später wird Baumgarten im 43. und 44. Abschnitt ›Veranschaulichende Argumente‹ (argumenta illustrantia) der Aesthetica dann den so genannten ›Vergleich im weiteren Sinn‹ (comparatio latius dicta) als ›figura princeps illustrantium‹ ins Zentrum der Ästhe­tik rücken. Von der Logik dieser Figur hängen dort alle figuralen und tropischen Verfahren ab.40 Denn in der Zweistelligkeit des Vergleichs tritt das in Erscheinung, was den Individualbegriff auch dann auszeichnet, wenn er an der Oberfläche bloß punktuell auftaucht, z. B. verdichtet in einem Wort oder Namen. Nicht nur die Metapher ist in diesem Sinn eine kryptische Figur ( figura cryptica),41 sondern auch jeden anderen Individualbegriff muss man sich in Anlehnung an 40 Vgl. Aesth. §§ 730 – 741: »Argumenta illustrantia«, §§ 742 – 762: »Comparatio maioris et minoris«. 41 Siehe Anm. 16.

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Quintilian als solch einen verkürzten Vergleich (brevior similitudo) vorstellen; Victor Goldschmid schlägt die Übersetzung »paradigme abrégé« vor,42 welche die »Allianz von Beispiel und Metapher« bestätigt.43 Die Analogie wechselt dabei noch einmal die Systemstelle: Sie regelt nun nicht mehr (nur) die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, sondern fungiert als Operator der Verknüpfung innerhalb der mindestens zweistelligen Struktur, die ich oben als Microdouble der sinnlichen Erkenntnis bezeichnet habe. Wie alle anderen symbolischen Figuren auch ist das Beispiel daher eine Figur der Balance. In ihr werden die Merkmale eines Gegenstandes zu eben jenem Zusammengesetzten/Zusammengestellten (compositum) verknüpft, das dem Bewusstsein sowohl – simultan – in einer räumlichen Anschauungsform als auch – sukzessiv – in einer zeitlichen Anschauungsform gegeben ist: Ich schaue auf die Figur, kann mich aber auch wahrnehmend von einem Element zum nächsten (und zurück) bewegen. Eine solche symbolische Figur kann sowohl narrativ entfaltet als auch kryptisch verdichtet in Erscheinung treten. In § 22 der Meditationes folgt daraus, dass die in ihrer Merkmalsfülle hochverdichteten Beispiele die besseren sind: »Verworren vorgestellte Beispiele sind extensiv klarere Vorstellungen als diejenigen, denen sie zur Erklärung beigegeben werden […], daher poetischer […], und unter den Beispielen sind wiederum die Einzelbeispiele die besten«.

Dieser Unterschied zwischen intensiver und extensiver Klarheit (claritas) einer Repräsentation ist daher auch, was in § 16 die ästhe­t ische Anschaulichkeit gegenüber logischer so kategorisch unterscheidet: »Wenn in der Vorstellung A mehr vorgestellt wird als in B, C, D usw., dennoch alle verworren sind, so wird A extensiv klarer als die übrigen sein«. Als opake Gespinste zeichnen sich Individualbegriffe nicht durch logische Klarheit aus, sondern aufgrund ihrer Merkmalsfülle und Verdichtungshöhe durch ästhe­t ische Unklarheit. Indem also Baumgarten am Beispiel des Beispiels die Poetizität des literarischen Textes beobachtet und dabei das rhetorische Verfahren der symbolischen Figuren beschreibt, erhellt er Struktur und Funktionen der sinnlichen Erkenntnis. Darüber hinaus kommt mit dem Beispiel am literarischen Text die Sache selbst in den Blick – nicht die Sache des Bezeichneten, sondern die phänomenale Individualität des Zeichens. Baumgartens literarische Epistemologie basiert auf der Affirmation genau dieser Individualität.44 In seinem epistemologischen Balanceakt zwischen Erkenntnis und Darstellung verdoppelt der Philosoph – dieser Einsicht wird man sich kaum entziehen können – nichts anderes als das Prinzip der symbolischen Figuren: Die ›Wissenschaft von allem, was sinnlich ist‹, ist also selbst sinnliche Wissenschaft: Kunst der Analogie.

Goldschmidt: Le paradigme dans la dialectique platonicienne, Paris 1947, 104 f. »Zur Systematik des Beispiels«, 19. 44 Martin Seel: Ästhe­tik des Erscheinens, München 2000, 56. 42 Victor

43 Willer/Ruchatz/Pethes:



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3. Verschiebung und Verdichtung Obwohl Baumgarten den literarischen Text als vollkommene sinnliche Rede (oratio sensitiva perfecta) bestimmt, scheint er sich um deren Wahrheit nicht weiter zu kümmern. Während er in den Meditationes zwar die symbolische Erkenntnis analysiert, verschiebt er ihre metaphysische Bewertung nämlich in die Aesthetica. Im berühmten § 14 heißt es dementsprechend, dass das Ziel der Ästhe­t ik die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis ist: »Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis«.45 Campe zeigt nun sorgfältig, wie Baumgarten die Weichen für eine grundsätzliche Neubewertung jener Evidenz stellt,46 von der in gut rationalistischer Tradition die Wahrheit jeder Erkenntnis abhängt. In § 531 seiner Meta­ physica definiert er Evidenz in ganz klassischer Art und Weise noch als Gewissheit der Erkenntnis und qualifiziert sie mittels der sechs Perfektionskategorien: »Je klarer, je lebhafter, je deutlicher und je gewisser eine Erkenntnis ist, desto größer ist sie. […] Sichere Verständlichkeit ist evidenz«. Tatsächlich ist es ausgerechnet der Begriff der Lebhaftigkeit (vividitas – vividus/a/um), der für die sinnliche Evidenz wichtig war und wichtig sein wird. Denn er ist das Bindeglied zwischen den Meditationes und der Aesthetica, in der Baumgarten bei der Evidenz zwischen visueller Anschaulichkeit und affektiver Lebendigkeit unterscheidet. In den propädeutischen Schriften zeichnet sich diese Differenzierung bereits ab, wenn Baumgarten in § 669 der Metaphysica die Klarheit der sinnlichen Erkenntnis sowohl durch Lebhaftigkeit als auch durch Deutlichkeit kennzeichnet: »Je ausgedehnter, je edler, je wahrer, je klarer, folglich lebhafter [vividior] oder deutlicher [distinctior], je gewisser, je feuriger also Erkenntnis ist, desto größer ist sie«. Während die Deutlichkeit in der Aesthetica weiterhin dem visuellen Paradigma verpflichtet bleibt, gehört die Lebhaftigkeit ins affektive Paradigma; Baumgarten verwendet für sie in der Aesthetica den Begriff der Lebendigkeit (vita – vivus/a/um). Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, noch einmal auf die Struktur der sinnlichen Erkenntnis zurückzukommen, deren erste Funktion Baumgarten in Analogie zum Beispiel als Komplexität (complexus), deren zweite er als Anschaulichkeit (clarus) bestimmt hat. Denn Lebendigkeit (viv[id]us) ist die dritte Funktion, auf die Baumgarten qua Analogie am Beispiel aufmerksam wird. Unmittelbar im Anschluss an die Beispielparagraphen schaltet Baumgarten folgerichtig in § 25 der Meditationes vom Paradigma visueller Evidenz auf dasjenige affektiver Evidenz um: »Da Affekte merklichere Stufen der Unlust und der Lust sind, so werden ihre Empfindungen demjenigen, der sich etwas vorstellt, als in verworrener Weise Gutes und Schlechtes gegeben. Sie bestimmen also die poetischen Vorstellungen […]. Daher ist es poetisch, Affekte zu erregen«; 45

Der Paragraph zeichnet sich durch eine enorme Ambiguität aus, die ich hier vernachlässige. Vgl. Rüdiger Campe: »Epoche der Evidenz. Knoten zu einem terminologischen Netzwerk zwischen Descartes und Kant«, in: ›Intellektuelle Anschauung‹. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, hg. von Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer, Bielefeld 2006, 25 – 43. 46

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sie erhöhen die extensive Klarheit und sind umso evidenter, je stärker sie sind.47 Beispiele stehen weniger vor Augen, als dass sie uns bewegen. Diese rezeptionsseitige Bewegung hat in § 7 ihre strukturelle Entsprechung in der generativen Aktivität der sinnlichen Repräsentation selbst, deren Teile – aktiv – zur Erkenntnis sensitiver Vorstellungen streben: »Oratio sensitiva perfecta est cuius varia tendunt ad cognitionem repraesentationum sensitivarum, § 5«. Dass Baumgarten in den Affekt­ paragraphen nicht den Begriff sensitivus, sondern sensualis verwendet, markiert m. E. genau die epistemologische Grenze von Struktur und Wirkung. Weil es ihm aber auch mit dem Affekt um eine sinnliche Erkenntnis- und d. h. Darstellungsfunktion geht, betont Baumgarten ausdrücklich, dass der literarische Text keine Sprache der Affekte spreche. Mit dieser Kritik an Johann Georg Walchs Definition im Philosophischen Lexicon von 1726 rückt Baumgarten in § 114 von einer ›Wissenschaft von der Sprache der Gemütsbewegungen‹ im engeren Sinn ab. Im Gegensatz zu narrationsförmigen Emotionen setzt Baumgarten Affekt mit Intensität gleich und implementiert sie der sinnlichen Erkenntnis.48 Diese wirkungsästhe­t ische Intensität der sinnlichen Erkenntnis, die in pragmatischer Hinsicht auch die Überzeugungskraft des Beispiels begründet, ist das Pass-Stück zu ihrer strukturellen Extensivität. In diesem Sinn hat Baumgarten in § 531 der Metaphysica die lebhafteste Vorstellung (repraesentatio vividissima) auf der einen Seite mit der extensiv klaren kurzgeschlossen: »Eine extensiv klarere Vorstellung ist lebhaft«. Auf der anderen Seite betont er in § 112 der Meditationes ihre Komplexität: »lebhaft nennen wir das, bei dem man gehalten ist, mehrere Bestandteile entweder gleichzeitig oder aufeinanderfolgend in der Wahrnehmung aufzufassen«. Damit bilden Komplexität (confusus), Anschaulichkeit (clarus) und Aktivität (viv[id]us) eine funktionale Einheit. Über die Wahrheit des literarischen Textes verliert Baumgarten in den Meditationes indes kein einziges Wort. Sobald er jedoch in der Aesthetica die Wahrheit der sinnlichen Erkenntnis erörtert, passiert etwas epistemologisch Spannendes: Bereits in den bisher noch gar nicht beachteten Fiktionsparagraphen rückt die Ähnlichkeit in das Zentrum des Interesses.49 Der 31. Abschnitt ›Poetische Erdichtungen‹ ( fi ctio­nes poeticae) fordert, dass die neue poetische Welt als ›analoge Fiktion‹ (analogica fictio) nicht nur der ›wirklichen‹ Welt, sondern auch anderen poetischen Welten ähnlich ist. Gleichzeitig erhält der literarische Text als solcher in § 519 den epistemologischen Status eines ›einzelnen Beispiels‹ (exemplum singulare), weil er die allgemeine Wahrheit (veritas generalis) schön darstellt: quod nemo adhuc ante nos ex parte venustius pinxerit. Baumgarten beobachtet jetzt nicht mehr nur den literarischen Text als Beispiel für die sinnliche Erkenntnis und beschreibt das Beispiel als Beispiel seiner Poetizi47

Vgl. ebd., §§ 26 f. Brian Massumi: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation, Durham/London 2002, 24 – 33. 49 Vgl. Frauke Berndt: »Mundus poetarum. A. G. Baumgartens Fiktionstheorie«, in: Komplexität und Einfachheit. DFG -Symposion, hg. von Albrecht Koschorke, Stuttgart/Weimar (im Erscheinen). 48 Vgl.



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tät. Sondern er setzt in seiner Argumentation nun ganz pragmatisch selbst Beispiele ein, weil ihn die so genannte ästhetikologische Wahrheit (veritas aestheticologica) der sinnlichen Erkenntnis an die Grenze der Wissensordnung führt.50 Die Balance zwischen Erkenntnis und Darstellung gerät an diesem Punkt aus dem Gleichgewicht, an dem die Analogie versagt. Diese Wahrheit lässt sich offenbar nicht philosophisch reflektieren, sondern nur literarisch darstellen. In den Wahrheitsparagraphen der Aesthetica holt Baumgarten das Problem der Analogie gleich zweifach ein: Mit dem Attribut ›aestheticologicus‹ erinnert er noch einmal an die erste diskursivitätsbegründende Analogie (ars analogi rationis), die er mit Hilfe der zweiten Analogie zwischen Erkenntnis und Darstellung epistemologisch überspringt. Doch auch diese Analogie hilft ihm bei folgendem philosophischen Problem nicht weiter: Das, was ästhetikologische Wahrheit heißt, hat zwar auch ›irgendwie‹ logische Anteile, die man rhetorisch auf Begriffe bringen könnte. Doch schließt sie neben formaler Vollkommenheit auch materiale Vollkommenheit ein, weil sie an der ästhe­t ischen Wahrheit (veritas aesthetica) teilhat. Im Hinblick auf die Sprachlichkeit, die Baumgarten in § 560 für die sinnliche Erkenntnis voraussetzt, tritt neben die Sprachlogik nun die schiere Materialität des Zeichens. Genau deshalb ist sie gegenüber jeder logischen Wahrheit im emphatischen Sinn eigenständig: »Ich meine in der Tat, daß es den Philosophen nunmehr in höchstem Maße offenkundig sein kann, daß in der Vorstellung und in der logischen Wahrheit nur mit einem Verlust an vieler und großer materialer Vollkommenheit zurechtzubringen war, was auch immer ihnen an formaler Vollkommenheit innewohnt«.

Dieser Materialität entspricht die Abwertung der Abstraktion, die mit der ästhe­ tischen Wahrheit einhergeht. Positiv lässt sich diese neue Wahrheit freilich nicht auf den Begriff bringen. Stattdessen greift Baumgarten im in der Tat zentralen § 560 zu einem Vergleich und wechselt mit ihm vom Indikativ in den Konjunktiv: »Ebenso brächtest du aus einem Marmor von unregelmäßiger Form keine Marmorkugel heraus, wenn nicht durch wenigstens soviel Einbuße an Material, in welchem Maße sie der höhere Wert der Rundheit verlangen wird«.

Der unbehauene Marmorblock hat keine Form, der ein geometrischer Begriff entspricht. In seiner Bruchstückhaftigkeit erweist er sich nichts desto trotz als schöner, also vollkommener, also wahrer als die Kugel. Am unbehauenen Stein möchte Baumgarten nichts abrunden oder in Form bringen, auch wenn die dabei entstehende Erhabenheit der Erscheinung das menschliche Fassungsvermögen übersteigt. Wenn man bedenkt, dass es mit dem Marmorblock um die ästhetikologische Wahrheit der affektiven Evidenz geht, dann wird klar, dass dieses Beispiel die Bewegung als etwas Überwältigendes inszeniert, auf alle Fälle aber als etwas, was in § 564 50 Die folgenden Paragraphen diskutiere ich ebenfalls in: Frauke Berndt: »Ex marmore. Evidenz des Ungeformten bei J. J. Winckelmann und A. G. Baumgarten«, in: Präsenz und Evidenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts, hg. von Birgit Neumann, Göttingen 2015, 75 – 98.

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gleich eine ganze Reihe weiterer Vergleiche auf den Plan ruft, so sehr fehlen für sie die Begriffe – »silva, Chao et materia«: »[…] vor allem aber an den einzelnen Gegenständen, welche die höchste materiale Vollkommenheit der ästhetikologischen Wahrheit darbieten, an den Individuen und den allerbestimmtesten Gegenständen erfreut sich der ästhe­tische Horizont als an seinem Wald, seinem Chaos, seinem Stoff, aus dem er die ästhe­tische Wahrheit zu einer wenn nicht gänzlich vollkommenen, so doch schönen Form so herausmeißelt, daß während der Ausarbeitung so wenig wie möglich an material vollkommener Wahrheit verlorengeht und beim Ausfeilen um des Geschmackvollen willen abgerieben wird.«

Mit den Vergleichen schlägt Baumgarten gleichzeitig den Bogen zu denjenigen philosophischen Begriffen zurück, die er für die Bestimmung des Beispiels verwendet hat – zu den einzelnen und bestimmtesten Gegenständen (exhibentes singulares et determinatissimi) sowie zu den Individualbegriffen (individua). Nur ihnen kommt diese ausgezeichnete, so überaus modern anmutende Wahrheit nämlich zu. Wenn Baumgarten den ästhe­t ischen Anteil der ästhetikologischen Wahrheit darstellen will, dann verändert sich die Rolle, die das Beispiel in seiner literarischen Epistemologie spielt. In den Meditationes ist das Beispiel Beispiel der Poetizität des literarischen Textes. Gegenstand von Beobachtung und Beschreibung sind zwar einzelne Beispiele, wie z. B. die oben erwähnte erste Ode des Horaz oder der Schiffskatalog im 2. Gesang der Homerischen Ilias, aber diese Beispiele sind gewissermaßen selbst nur Beispiele des Beispiels, das Beispiel der Poetizität, die wiederum Beispiel der sinnlichen Erkenntnis ist. In der Aesthetica behandelt Baumgarten daher Beispiele einerseits in § 443, weil das Analogon der Vernunft (analogon rationis) der ästhe­t ischen Wahrheit nur sinnlich habhaft werden kann, d. h. »entweder offenbar und ausdrücklich oder verborgen in den ausgelassenen Angaben von Enthymemata oder in Beispielen, in denen diese abgesonderten Dinge gleichsam im Unabgesonderten begriffen werden mögen«. Andererseits verwendet er sie selbst – wohl oder übel – am neuralgischen Punkt der ästhe­t ischen Wahrheit – und zwar gleich in Serie: Marmorblock, Wald, Chaos und Stoff kommen tatsächlich nicht nur dort ›zum Einsatz, wo Wissen fehlt bzw. zu komplex ist‹, sondern wo Wissen überhaupt keine propositionale Form mehr hat. Die Entdeckung der neuen, ästhe­t ischen, eben nicht analogen Wahrheit treibt Baumgarten dazu, aus dem begrifflichen in den poetischen Modus zu wechseln. In diesem Augenblick wird der Philosoph zum Dichter. Das Beispiel veranschaulicht daher die ästhe­tische Wahrheit nicht. Vielmehr entwickelt der Marmorblock eine metonymische »Verschiebungsdynamik«, die Baumgarten in einer Serie von Metonymien verdichtet: ›silva, Chao et materia‹. Als »Grenzverschiebungstropos« 51 leistet die Metonymie dabei genau das, was die philosophische Begriffsarbeit nicht zu leisten im Stande ist. Was zunächst eine BaWolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Frankfurt a. M./Basel 1995, 234. 51



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lance zwischen Erkenntnis und Darstellung ist, wird nun zu einer Balance innerhalb der Darstellung. Metonymisch verschiebt Baumgarten die Grenze von vormodernem und modernem Wissen, von Begrifflichem und Unbegrifflichem, genau um das Stück, das nötig ist, damit sich in der Wissensordnung des 18. Jahrhunderts ein neues Gleichgewicht einstellt, und er verdichtet die ästhe­tische Wahrheit, für die ihm die Begriffe fehlen, in einer Serie von Bildern (εἰκώνες). Damit kassiert er gleichzeitig – und ich würde sagen: unwiderruflich – die Ähnlichkeit aus der literarischen Epistemologie des Exemplarischen. Der ästhe­tischen Wahrheit sind Marmorblock, Wald, Chaos und Stoff weder ähnlich noch unähnlich noch entgegengesetzt. Baumgarten grundiert seine Analogie weder ontologisch noch verankert er sie ethisch im Archiv des Für-ähnlich-Gehaltenen. Im poetischen Modus erlangen die Beispiele Autonomie. Marmorblock, Wald, Chaos und Stoff sind nun keine Analogien der ästhe­tischen Wahrheit, weil sie eine semantische Beziehung zwischen Besonderem und Besonderem herstellen, sondern weil sie die Unbegrifflichkeit der ästhe­tischen Wahrheit in ihrer Formlosigkeit strukturanalog verkörpern. Das Beispiel ist damit das Relais, an dem die Episteme der Repräsentation auf die Episteme der Präsenz umschaltet. Mit dieser strukturellen Ikonizität kollabiert die Kunst der Analogie nicht in einem logischen Paradox, das keine Unterscheidung zwischen Verkörperndem und Verkörperten zulässt. Baumgartens Analogie driftet metonymisch in Richtung auf den nie zu erreichenden Fluchtpunkt der ästhe­tischen Wahrheit zu, den § 14 der Aesthetica in Aussicht stellt: Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis.

O n i ro c r i t ic a und

m u n dus fa bu losus

Traum und Erfindung Von Andrea Allerkamp Als satirisch-kritischer Gattung wird dem Traum in der Literatur der Auf klärung eine theoretische und praktische Schlüsselbedeutung zugeschrieben, wenn es darum geht, das wechselseitige commercium mentis et corporis zu erkunden und in anthro­pologische Zusammenhänge zu überführen. Wissensgeschichtlich betrachtet ist der Traum das zentrale Herzstück einer »Gleichursprünglichkeit der beiden gleichermaßen neuen wie ›leibnahen‹ Wissenschaften Ästhe­tik und Anthropologie«.1 Das manifestiert sich nicht erst in der Spätauf klärung, sondern schon in der »besonderen Halleschen Konstellation«.2 Die dort entstehenden, stark integrativen und quer zu heutigen Disziplinen stehenden Debatten lassen sich um 1740 im Gravita­ tions­feld von Theologie, Medizin und Philosophie verorten. Zum einen erlaubt die Einbindung der Medizin einen Rückgriff auf Empirie, Experiment und Beobachtung. Zum anderen führt die anthropologische Öffnung zu einer Neubewertung der Sinnlichkeit, wie es exemplarisch in der Ästhe­t ik Baumgartens und der Affektenlehre Georg Friedrich Meiers geschieht.3 Anders als Johann Gottlieb Krüger, der sich als philosophischer Arzt mit fiktionalen Traumschilderungen profiliert,4 interessiert sich Baumgarten jedoch nicht für subjektive Traum-Notate. Sowohl Baumgartens Metaphysica als auch seine Aesthetica schließen an Christian Wolffs Psychologia empirica an, die als Erfahrungsseelenlehre die psychologia rationalis durch Beobachtung und Erfahrung bestätigen soll. Seit Descartes’ Meditationes sucht das philosophische Traumargument mit seinen feinen erkenntnistheoretischen Unterscheidungen von Traum und Wirklichkeit, Fiktion und Tatsachen, Dichtung und historia die andere Welt des Traums begrifflich und methodisch einzuholen, um diese aus dem logischen Denken auszugrenzen. Baumgartens schönes Denken geht über Wolff hinaus, indem er das ästhe­t ische Begehren einer neuen Verbindlichkeit gegenüber dem Zukünftigen öffnet und es so in den besonderen Doppelansatz von Erkennen und Darstellen bzw. Ausdrücken einlässt. Diese Öffnung und Einlassung, das möchte ich im Folgenden zeigen, ist mit einer eigenwilligen Inanspruchnahme der Mantik verbunden. Baumgartens 1 Carsten

Zelle: »Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhe­tik und Anthropologie seit 1750«, in: »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, hg. von Carsten Zelle, Tübingen 2001, 5 – 24, hier: 10. 2 Zelle: »Sinnlichkeit und Therapie«, 11. 3 Ebd. 4 Vgl. Hans-Walter Schmidt-Hannisa: »Johann Gottlieb Krügers geträumte Anthropologie«, in: »Vernünftige Ärzte«, 156 – 172.

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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früher medientheoretischer Versuch, die prognostisch-sinnlichen Erkenntnisvermögen mittels der Mantik als einer differenzierten Zeichenkunde zu schärfen und auszubilden, erfordert ein gezieltes Aufsuchen von Topoi, Affekten und Wissensordnungen der frühauf klärerischen Traumlehren, die im Rahmen von Baumgartens ästhetikologischer Wahrheit umgedeutet werden. 1. Die Erfindung des Traums Was erfindet sich im Traum? Wie kommen dort alle unverbundenen Dinge zusammen: Alltagsreste, Verdrängtes, Erlebtes, Wünsche, Ängste, Wissen, Mythen? Und wie artikulieren sich die Übergänge zwischen Licht und Dunkel, Wachen und Schlaf ? Das sind Fragen, die sich im Umfeld von Baumgartens grenzerweiternder Ästhe­tik immer wieder stellen. Im Dunkel des Traumes wird etwas hell. Denn die andere Welt des Traums, die Baumgarten ›Heterokosmos‹ nennt, hält eine ästhe­ tische – also eine sowohl philosophische als auch psychologische und anthropo­ logische – Potentialität bereit, die das Neue, Offene, Variable zum Ausdruck bringt und es so erlaubt, mit gewöhnlichen Ordnungen zu brechen. Wenn die potentia (als potentiales Offenhalten des Mannigfaltigen) die actualitas (als aktuale Verwirk­ lichung des Mannigfaltigen) ermöglicht – und zwar in Gestalt einer geschaffenen Welt,5 und das heißt zugleich in den »Werke[n] der Dichtkunst, welche aus einer grösseren Menge von Teilvorstellungen zusammengefügt sind«,6 so entspricht das Zusammentreffen von potentiellem Traum und aktualem Erwachen genau jener schöpferischen Schnittstelle, an der sich der – kritische – Umschlag zwischen Offenhalten und Verwirklichung vollziehen kann. Dichtung entführt von den »Dingen in dieser Welt« in eine »heterokosmische« Welt.7 Die Unvollständigkeit einer historisch beglaubigten bekannten Welt der Tatsachen, die eine verkürzte »Welt, ja eine Täuschung des rationalen Weltverständnisses darstellt«,8 wird ergänzt durch die Kunst, die zum einen »die Kenntnis, sich mit den bequemsten Zeichen auf die beste Art auszudrücken«,9 und zum anderen das Wissen um den »Inbegriff der Regeln, wie eine Sache einzurichten ist«,10 erfordert. Die Verwirklichung des Dichtungsvermögens beansprucht ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit und Erkenntnisfähigkeit:  5

Vgl. den Beitrag von Rüdiger Campe in diesem Band. Vgl. Robert Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller, Würzburg 1892, 31.  7 Aesth. § 585. Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­ tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007.  8 Hans Rudolf Schweizer: Ästhe­ tik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, Basel/Stuttgart 1973, 76.  9 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 109 (§ 64). 10 Ebd., 109 (§ 68).  6

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»Indem ich Einbildungen verbinde und TRENNE, d. h. indem ich nur auf einen Teil einer Vorstellung achte, DICHTE ICH. Also habe ich das Dichtungsvermögen, DICHTERISCHES VERMÖGEN. Da Verbindung die Vorstellung von Mehreren als Einem ist, folglich durch das Vermögen, die Übereinstimmungen der Dinge zu erkennen, verwirklicht wird, wird das Dichtungsvermögen durch die Kraft der Seele, das Universum vorzustellen, verwirklicht.«11

Um den Überschuss – die capacitas infinita – ästhe­tischer Wahrnehmungsprozesse in den Blick zu bekommen,12 will Baumgartens Aesthetica sowohl für das singuläre Ereignis in seiner Besonderheit und Einmaligkeit als auch für die kritische theoretische Reflexion Raum lassen.13 Ersteres wäre undenkbar ohne die Rehabilitation eines in sich eingeschlossenen, einmaligen Träumens, letztere setzt ein in der antiken Traumkritik, der onirocritica. Als sakrale Auslegekunst wirft die Mantik eine zentrale Frage auf: Welche Rolle spielt der singuläre Traum für die Selbstbegründung von menschlichen Erkenntnissen? Der Traum taucht den Träumer in eine geschlossene, idiosynkratische Welt, die das Private, mit niemandem Geteilte, darstellt. Schon bei Heraklit wird dies deutlich: »Herakleitos sagt, daß die Wachenden ein und dieselbe gemeinsame Welt [éna kai koinòn kosmon ] haben, während von den Schlafenden ein jeder sich zu seiner eigenen [Welt, eis ídion ] abwende [apostréphesthai ].«14

Die Unterscheidung zwischen dem lichtvollem Tag und der dunklen Nacht der Träume ist grundlegend. Zwei Welten stehen sich gegenüber: auf der einen Seite der Wachzustand als »eine Welt des Zugänglichen, Lichterfüllten, die Welt also des Öffentlichen, des Gemeinsamen und des Logos«:15 koinon kosmos. Auf der anderen die eigene Welt des Schlafenden, die Welt der Träume, idion kosmos. Heraklit macht auf den Selbstbezug des Schlafenden aufmerksam. Der Traum erscheint als Abwendung von der einen, im Wachsein teilbaren Welt. Doch das Wort kosmos wirkt in Verbindung mit dem idios weiter: Wenn der Träumer sich im Schlafen von der gemeinsamen Welt/Ordnung wegwendet, so hat dies nicht unbedingt eine Abwendung ins Leere zur Folge. Vielmehr geht es um ein Hinwenden in eine eigene Welt, ein Zuwenden zu einem anderen, eigenen Kosmos: »Es stehen (gültige) WelMet. § 589. Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica/Metaphysik, Hist.-krit. Ausgabe, hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. 12 Zur capacitas infinita als Prozess des schrittweisen Lernens und zur disciplina aesthetica als Ausrichtung auf das Methodische, vgl. Steffen W. Groß: Cognitio sensitiva. Ein Versuch über die Ästhe­tik als Lehre von der Erkenntnis des Menschen, Würzburg 2011, 216. 13 Steffen W. Groß: Felix aestheticus. Die Ästhe­tik als Lehre vom Menschen, Würzburg 2001, 178. 14 Die Fragmente der Vorsokratiker, Griech./Dt., übers. von Hermann Diels, hg. von Walther Kranz, Bd. 1, Hildesheim 2004, DK 22 B 89. 15 Hartmut Böhme: »Vergangenheit und Zukunft im Traum. Zur Traumhermeneutik bei Artemidor von Daldis und Ludwig Binswanger«, in: Zeitschrift für Germanistik, F 1 (2008), 11 – 30, hier: 11. 11

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ten nebeneinander.«16 Nicht die Trennung in zwei Welten beunruhigt den Logos, sondern im Gegenteil die Nachbarschaft und Durchlässigkeit der Grenzen von der einen zur anderen Welt, ihre Kontingenz. Diese Beunruhigung fängt Baumgartens Logik auf, indem sie das Wissen um eine fremde Existenz nicht etwa als etwas Beunruhigendes ausklammert, sondern es in Hinblick auf die sinnliche Erkenntnis erweitert, indem er dieser eine bis dato ungeahnte Eigenständigkeit zugesteht. Die ästhe­t ische Erkenntnis ist die »vollständige Erkenntnis eines aktualen Zustands der kontingenten Welt durch einen endlichen, mithin selbst kontingenten Geist«.17 Wenn sich zwischen Schlaf und Wachen ein spannungsgeladener Zeitraum des Dazwischen öffnet, so scheint gerade dieser Moment des Übergangs, wie er sich im konkreten körperlichen Prozess des Erwachens ereignet, für Baumgartens Aesthe­ tica entscheidend zu sein. Der berühmte Satz »Ex nocte per auroram meridies – Aus der Nacht führt die Morgenröte zum Mittag« (Aesth. § 7) gewinnt in diesem Zusammenhang noch einmal an anthropologischem Grund. In ihrer Verbindung mit dem aristotelischen Begriffspaar potentia und actualitas erhält die anthropologische Grundierung der Ästhe­t ik eine zusätzliche Dimension. 2. Die andere Welt: Mundus fabulosus Das wird exemplarisch deutlich in dem Abschnitt über die ästhe­tische Begeisterung, der das otium comparativum thematisiert. Die Beschwörung der Muße im Gegensatz zur Arbeit wiederholt hier das antike Lob des Lebenskünstlers und überträgt sie auf den felix aestheticus. Die Suche nach dem gelingenden Leben ist verbunden mit einer Aufforderung zum untätigen Leben, zur Muße für Körper und Geist. »Die Muße, vergleichungsweise genommen. Wenn der Geist, befreit von Sorgen, die Last der Arbeiten und der Beschäftigungen ablegt, steht er, wenn er aufs Gerate­ wohl in lieblichen Alleen umherstreift, in der Einsamkeit heiter dem göttlichen Anhauch offen. Vielleicht ist dies das sich Ergötzen im Helikon, das Träumen im Parnaß. O süße und ehrbare Muße, beinahe schöner als jede Beschäftigung! O Meer!

O Strand! O wahrer und geheimer Musentempel! Wie viele Dinge gibt es zu finden, wie viele aufzusagen!«18 Der Paragraph über die Muße macht die Probe aufs Exempel, indem er sich auf die Seite der Nacht stellt: »O Meer! O Strand! O wahrer und geheimer Musentempel!« zitiert Baumgarten Plinius’ Epistulae (Ep. 1,9,6). Mit der Aufzählung von Meer, Strand und Musentempel sind gleich drei Orte der Natur und Kultur aufgerufen, die für Unendlichkeit, Kontemplation und Poesie stehen. Meer und Strand sind Orte der Schöpfung, Orte zwischen Gedächtnisarbeit und genialer Erfindung. Aus Petra Gehring: Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung, Frankfurt a. M. 2008, 255. 17 Vgl. den Beitrag von Alexander Aichele in diesem Band. 18 Aesth. § 84. 16

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dem Fundus der westeuropäischen Literatur gibt es für diese Zusammenkunft von memoria und inventio zahlreiche Beispiele, zu den prominentesten zählen vielleicht Hölderlins Andenken oder Paul Valérys Eupalinos ou l’architecte. Sowohl in Hölderlins Gedicht als auch in Valérys sokratischem Dialog meint man den staunenden Ausruf wiederzuerkennen, den Baumgarten mit Plinius zitiert: »quam multa invenitis, quam multa dictatis!« – »Wie viele Dinge gibt es zu finden, wie viele aufzusagen!« Die Nennung des Musentempels – mouseíon – birgt ein ganzes Arsenal von mythologischen Elementen aus den mantisch-medizinischen Traumlehren der Antike. Am Anfang aller Dichtung steht die Anrufung der Musen, zu finden im Gefolge des Apollon, dem »Gott der Ärzte, der Zukunft und der Anführer der Musen«.19 So lauten die Attribute in der Kollegnachschrift, wo Apollon zum Kronzeugen für die melancholische Dichtung aufgerufen wird.20 Der Musentempel erinnert darüber hinaus an einen zweiten Gott der Heilkunst: an Asklepios, der als Sohn des Apollon gilt. In seinen Heiligtümern fand die Praxis der Inkubation statt, die Provokation der Träume durch den ritualisierten Schlaf, welcher für den Empfang von gottgesandten Traumbildern besonders geeignet machen sollte.21 Helikon und Parnass (die Sitze der Musen), Meer, Strand, Musentempel – das schöpferische Potential von Sehnsuchtsorten der kreativen Untätigkeit ist eng mit der heterokosmischen Welt der Träume und der Kunst ihrer Auslegung, der Traumkritik, verbunden. Wie aber ist es um die konkreten Spuren dieser Traumkritik in der Aesthetica bestellt? Wird dort nicht ausdrücklich vor den »Träumen von Fieberkranken« als »Quelle der häßlichen Dunkelheit« gewarnt: »Laß dir nicht – um nur die vierte Quelle der häßlicheren Dunkelheit zu verschließen – träumen, 1) etwas ästhe­tisch Falsches, und auch nicht, Träume von Fieberkranken mit schönen Gedanken auszuschmücken. Davon hält einen nämlich nicht allein die Liebe zum Wahren, sondern auch das Bestreben nach Faßlichkeit fern, weil einem solchen in absoluter Weise Dunklen immer das wahre ästhe­t ische Licht fehlen wird. 2) Selbst in den Erdichtungen der poetischen Welt sollst du nicht in einer Utopie heimisch sein wollen […].« 22

Der über die »Träume von Fieberkranken« angedeutete, im Abschnitt über die »ästhe­t ische Falschheit« 23 schließlich explizit zitierte Anfang von Horaz’ Ars poetica beschwört die Gebilde des Traums als groteske Phantasmagorie zwischen Tier und Mensch, in der trügerischen Mischung aus Verführung und Hässlichkeit, »Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken erdichtet«.24 Horaz’ Träume werden in der 19

»Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 117 (§ 82). Berndt: Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin/ Boston 2011 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Auf klärung, 43), 113. 21 Gehring: Traum und Wirklichkeit, 21. 22 Aesth. § 647. 23 Aesth. § 446. 24 Vgl. Aesth. § 446: »Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes / fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so 20 Frauke

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Aesthetica gleich zweimal im Abschnitt über die falsitas aesthetica aufgenommen. Sie bilden eine Art Prüfstein. Die trügerischen Träume dienen als Grundlage für die logische Bestimmung des ästhe­tisch Falschen im Hinblick auf die subjektive Wahrheit. Doch gibt es eine ästhe­t ische Falschheit? Rudolf Schweizer bemängelt zu Recht die »Unangemessenheit des Begriffs«: »[Baumgarten] setzt die Über­t ragung logischer und ethischer Massstäbe auf die ästhe­tische Sphäre voraus und widerspricht damit der oft betonten Eigengesetzlichkeit der sinnlichen Erkenntnis.« 25 Erst nach diesem »Bedürfnis nach formallogischer Vollständigkeit« 26 greife Baumgarten im zweiten Teil der Aesthetica auf die alte Lichtmetaphysik zurück, um seine Stufenleiter wachsender Helligkeit und Durchsichtigkeit zugrunde zu legen. So im Abschnitt über die »ästhe­tische Falschheit«, wo Baumgarten zunächst Ciceros De inventio (Über die Auffindung des Stoffes) beipflichtet. Dort wird der Satz »Falsch ist die [Beweisführung], in welcher offenkundig eine Lüge steckt« mit Beispielen diskutiert, die alle zeigen sollen, dass eine Beweisführung »überhaupt als Ganzes falsch ist«,27 wenn in ihr selbst ein Fehler steckt. Interessanterweise zitiert Baumgarten an dieser Stelle aber nicht das vielleicht zu erwartende erste Buch von Ciceros De divinatione, wo die »große Frage« diskutiert wird, »auf welche Weise die Seher oder die Träumenden sehen, was bis dahin noch nirgendwo existiert hat«.28 In kritischer Abgrenzung zu Ciceros kategorischer Topik, deren Kenntnis immerhin empfohlen wird,29 will die Aesthetica Falschheit ja gerade nicht als eine logisch ableitbare, sondern als eine eigenständige ästhe­t ische und somit subjektivsinnliche begreifen.30 Das erklärt, warum der erfinderische Traum, dessen wir uns kaum bewusst werden, wie alle anderen ästhe­t ischen Möglichkeiten ernst genomdaß / als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende Weib: / Könntet ihr da wohl, zum Schauen geladen, euch das Lachen verbeißen, Freunde? / Glaubt mir Pisonen, solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, / in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken / erdichtet, so daß nicht Fuß nicht Kopf derselben / Gestalt zugehören.« 25 Schweizer: Ästhe­tik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, 49. 26 Ebd. 27 Marcus Tullius Cicero: Über die Auffindung des Stoffes. Über die beste Gattung von Rednern/ De inventione. De optimo genere oratorum. Lat./Dt., hg. und übers. von Theodor Nüßlein, Düsseldorf/Zürich 1998, 137 (I, 90). 28 Marcus Tullius Cicero: Orakelkunst und Vorhersage, übers. und hg. von Rainer Nickel, Mannheim 2011, 92 (I, 117). 29 Aesth. § 130: »Die TOPIK oder TOPOLOGIE , die definiert wird als Kunst oder Lehre, Argumente zu finden. Indem Cicero ihr den Titel der Kunst des Findens gegeben hat, wie ja auch Aristoteles sie vielen überliefert hat, haben sie dieselbe gleichsam mit ihrer Autorität unerschütterlich gemacht. Wenn man einstweilen angeben soll, was die Topik ist, so ist zu sagen, daß sie nicht so sehr eine Heuristik ist als die Kunst, sich die Prädikate eines bestimmten Gegenstands gemäß einer bestimmten Ordnung von mit dem Gegenstand verbundenen Begriffen in Erinnerung zu rufen.« 30 Aesth. § 445: »Die ÄSTHETISCHE FALSCHHEIT ist die subjektive Falschheit und die Nichtübereinstimmung der Gedanken mit der Wahrheit der zu denkenden Dinge, insofern sie sinnlich wahrgenommen werden kann.«

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men werden muss,31 auch wenn Baumgarten um Abgrenzungen wie diese nicht herum kommt: »Die Regel des Dichtungsvermögens lautet: Teile von Einbildungen werden als ein Ganzes wahrgenommen. Die hieraus entstandenen Vorstellungen heißen Erdichtungen (Fiktionen), insofern sie falsch sind, Chimären oder leere Einbildungen.«32

Die singuläre, idiotische Eigenständigkeit des Traums als Gegenwelt ist schon im Heraklit-Fragment von der gemeinsamen Wach-Welt abgetrennt, wirkt aber zugleich auf diese zurück. Es ist daher nur konsequent, wenn Horaz’ Ars poetica zitiert wird. Die Nennung von antikem Musentempel, somnium und mundus fabulosus 33 weist auf das »Kompossibilitätsdenken von möglichen Welten«,34 das schon in der Empirischen Psychologie der Metaphysica unter dem Titel facultas fingendi (Dichtungsvermögen) innerhalb der nuancierten Stufenfolge der Erkenntnisvermögen verhandelt wird. Eine der zentralen Stellen über das ästhe­t ische Licht entwickelt im zweiten Teil der Aesthetica die Vorstellung einer entspannten Aufmerksamkeit, die das schöne Denken überhaupt erst ermöglicht. Diese absichtslose Form der ästhe­t ischen Wahrnehmung erlaubt es Baumgarten zufolge, auf »indirektem Wege, wenn nicht gerade wenige Teile des Themas in sinnlichem Licht erstrahlen« zu lassen. 35 Das entspannte Schauen und Hören wird hier bis an die Grenze zum Schlaf zu einer wahrnehmungstheoretischen Möglichkeit ausgedehnt, die den Zugang zu den schönen Gegenständen gerade deshalb erlaubt, weil es quasi nebenbei geschieht. Das »Gemenge von verschiedenen Beschäftigungen«, das Baumgarten mit Tacitus- und Plinius-Zitaten belegt,36 exemplifiziert die notwendige Zerstreuung, die gerade denen zuteil wird, »die nur nachlässig zuhören und achtgeben«.37 In direkter Adressierung empfiehlt die Aesthetica ihrem Leser dies als Alternative zur Verblendung durch absolutes Licht: »Deshalb wird jedes ästhe­tische Licht, das du auf direktem Wege in den Sachen beabsichtigen magst, die sinnliche Faßlichkeit der Sachen sein, die Ausdehnung der Klarheit durch die Vielheit der Merkmale, und dieses Licht ist absolut, im Verhältnis

betrachtet aber ist es das Schimmernde und der Glanz der lebhaften Gedanken und des Stoffes.« 38

Ästhe­tik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, 94. § 590. 33 Vgl. Aesth. § 455. 34 Egbert Witte: Logik ohne Dornen. Die Rezeption von A. G. Baumgartens Ästhe­ tik im Spannungsfeld von logischem Begriff und ästhe­tischer Anschauung, Hildesheim/Zürich/New York 2000, 92. 35 Aesth. § 617. 36 Ebd., § 618. 37 Ebd., § 614. 38 Ebd., § 618, Hervorhebung A. A. 31 Schweizer: 32 Met.

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Baumgartens Hinweis auf Quintilian, der »zu Recht zwischen der Faßlichkeit der Worte […] und der Faßlichkeit der Dinge« unterscheidet, dient zudem als rhetorische Einfallsstelle, um die ganze Skala des mehr oder weniger entspannten Hörens und Sehens auszufalten und zu würdigen. Wie Hans Rudolf Schweizer gezeigt hat, fällt Baumgarten jedoch »in seiner Wiederaufnahme des Kampfes gegen die Vorherrschaft der Logik« immer wieder in die Schulphilosophie zurück,39 was wiederum erklärt, warum die Zustände von Schlaf und Traum ausschließlich in ihrer philosophischen Betrachtung des Traums und seiner objektiven Bedeutung zusammen gedacht werden. Das philosophische Traumargument wirkt also untergründig weiter. Doch in der philosophischen Erfindung des Traums verschließt sich das Wissen der Mantik als erkenntnistheoretisches Problem. In der antiken Orakelkunst erschien der Traum nicht etwa als verdrehte Sprache des Wahnsinns, sondern als zwar unvernünftige, aber durchaus logische und damit deutungswürdige Sprache. Auch die aufgeklärte Kritik verweist im Anschluss an Descartes fast rituell auf die Bedeutung übersinnlicher Träume, so wie bei Wolff und Baumgarten. In der Meta­ physica wird dementsprechend eine fein differenzierte Typologie von subjektiven und objektiven Träumen aufgestellt: »Wenn ich im Schlaf klar imaginiere, träume ich. Die Einbildungen eines Träumenden sind Träume, subjektiv verstanden, und zwar entweder wahre oder täuschende Träume, entweder durch die Natur der Seele gemäß verwirklichte natürliche Träume oder solche, die der Seele nicht natürlich sind, die außerhalb ihrer Natur liegen. Wenn letztere nicht von der Gesamtnatur verwirklicht werden, werden es übernatürliche Träume sein.«40

Die aristotelische Klassifizierung in natürliche und allegorische Träume charakterisiert bei Baumgarten den Träumenden je nach Bewusstseinszustand als Nachtwandler, Phantasten oder Verrückten, der mehr oder weniger unfähig ist, zwischen Einbildungen und Empfindungen zu unterscheiden.41 Gerade aus diesem Grund einer Nähe zum Wahn hat der Traum als Gegenstand seit der Antike an philosophischer Dignität verloren. Denn er lässt sich nicht in Begriffen der Vernunft vermessen, entzieht sich der logischen Beschreibbarkeit, widersteht rationalen Ordnungsgefügen. In den weiten Untiefen des Traumgeschehens regieren Willkür und Unverständlichkeit, was eine Art Zerrbild der kosmologischen Ordnungen 39 Schweizer: Ästhe­tik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, 63 f. Vgl. auch Aesth. § 448 f.: »Es mag gewisse ästhetikologisch falsche Dinge geben, sogar auch in dem genannten Sinne einer Lüge, die gleichwohl erst dann ästhe­tisch falsch sein werden, wenn sie für das Analogon der Vernunft selbst als Lügen erscheinen. Anstelle eines Beispiels sei eine gelehrte Streitigkeit über die Wahrheit selbst angeführt. Es mögen unter sich dogmatische Philosophen auf der einen, akademische und skeptische Philosophen auf der anderen Seite auf scharfsinnige Weise über das […] Wahre und Falsche herumstreiten, über dessen Gesetz und Kennzeichen […]. Zu beiden mag das Analogon der Vernunft ein wenig erstaunt emporblicken, gleichsam wie ein schweigender Zuschauer, wenn es nicht bisweilen dem gewandten Geist der Skeptiker Beifall spendet. […]« 40 Met. § 593. 41 Ebd., § 594.



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hervorbringt. Exemplarisch zeigt dies ein christlicher Topos, den sowohl Wolff als auch Baumgarten in ihrer Auseinandersetzung mit der Traumkritik bemühen. In Christian Wolffs Ontologia wird der mundus fabulosus, das Schlaraffenland, zum Topos für die Erkenntnis, dass es sich um ein nur träumbares, nicht existierendes Ding handelt, was auff ällig genug wie eine zwingende Notwendigkeit für das philosophische Denken verordnet wird.42 In jener anderen oder neuen Welt geschieht alles ohne erkennbaren Grund, es herrscht und entscheidet die subjektive Willkür. Der mundus fabulosus verhält sich zur wahren Welt so wie der objektiv verstandene Traum. Seine »entgegengesetzte Verwirrung« stellt eine »Anhäufung von Träumen« dar, so auch Baumgarten in der Metaphysica.43 In dem betreffenden Paragraphen ist für beide lateinische Termini eine eigene Übersetzung hinzugefügt: somnium obiective sumptum wird in der Metaphysica zu »ein Traum, das geträumte« und mundus fabulosus zu »das Land der Wünsche«. Sowohl der somnium obiective sumptum als auch der mundus fabulosus sind für Baumgarten im Anschluss an Wolff non-entia, »Undinge«, »und wenn sie Dinge zu sein scheinen, sind es entia ficta, fiktive Dinge«.44 Mundus fabulosus non est mundus, lautet der kategorische Verweis: »Eine Märchenwelt ist keine Welt.«45 Doch so entschlossen diese Abgrenzung auch klingen mag, sie schafft auch Durchlässigkeiten. Das Schlaraffenland, seit dem Luthertum ein geläufiger Topos für die erdichtete Welt, ist dem Bestehenden nicht bloß als etwas Nichtexistierendes entgegengesetzt. Denn gerade aufgrund ihrer Fabelhaftigkeit drängt die fabelhafte Welt des guten Lebens auf Verwirklichung. Populäre Phantasien über das Schlaraffenland sehen das irdische Paradies mit Schlemmern und Faulpelzen bevölkert. Im mundus fabulosus leben die ›Schlaraufen‹, die schläfrigen Menschen, was in Adelungs Wörterbuch so beschrieben wird: ­»[E] in erdichtetes Land, dessen Einwohner ihr Leben in der wollüstigsten und trägesten Muße zubringen«. Dies meint in weiterer Bedeutung auch die Person, »welche in einem hohen Grade das Gegentheil von demjenigen ist und thut, was andere vernünftige Menschen sind und tun«.46 Von der Barockliteratur bis zum 42 Christian Wolff: Erste Philosophie oder Ontologie: nach wissenschaftlicher Methode behandelt, in der die Prinzipien der gesamten menschlichen Erkenntnis enthalten sind, übers. und hg. von Dirk Effertz, Lat./Dt., Hamburg 2005, §§ 1–78; 185 f. (§ 77): »Die Fabelwelt, von der ich hier spreche, ist eine geistlose Erdichtung, die bei uns für die absurdeste der Altweiberfabeln gehalten wird und in unserer Muttersprache ›das Schlaraffenland‹ genannt wird. […] Diese alberne Fabel der Menge verdient die Aufmerksamkeit des Philosophen, wenn vom Prinzip des zureichenden Grundes die Rede ist, damit er dessen Bedeutung und Wirksamkeit einsieht, die aus dem Gegensatz völlig offenkundig wird. […] Es wird weiter unten klar werden, daß, wenn dieselben Prinzipien gesetzt werden, die Wahrheit der Sachen gesetzt wird, daß aber, wenn sie aber aufgehoben werden, die Wahrheit zum Traum wird; folglich muß derjenige, der den Unterschied zwischen Wahrheit und Traum zugesteht, das Widerspruchsprinzip im allgemeinen und das Prinzip des zureichenden Grundes ohne jede Einschränkung zugestehen.« 43 Met. § 91. 44 Ebd., § 120. 45 Ebd., § 359. 46 Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundarten, Bd. 4, Leipzig 1780, Sp. 119.

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gesamten 18. Jahrhundert ist der Traum »seinem philosophischen Begriffe nach das Erscheinen einer bloß imaginierten, nicht-reellen Wirklichkeit im Bewußtsein«.47 Bereits das Heraklit-Fragment weist auf die Probleme hin, die mit einer solchen Grenzziehung der Vernunft verbunden sind: Der willkürliche Aspekt der im Schlafen auftretenden eigenen Welt führt den kontinuierlichen, bis in die Wach-Welt hineinreichenden Traum weiter. Die Hypothese des philosophischen Traumarguments – Täuschung und Irrtum auf der Ebene der Sinneserkenntnis – liefert daher auch die Grundlage für das, was Baumgarten »ästhe­t ische Falschheit« nennt: »Es sei, was du anmutig zu denken unternimmst, ein Traum im objektiven Sinne, in dessen Innerem und unter dessen Oberfläche sich schon ein absoluter Widerspruch verbirgt, der ihn früher oder später zerstören wird.«48

Der Traum ist wie ein »Zauberer, der mit gekonnten Taschenspielertricks seinen Zuschauern allerhand vorzugaukeln sucht«.49 Ästhetisch wird das Problem des widersprüchlichen Trugbilds mit einer weiteren Differenzierung aufgefangen: durch die Ausgrenzung von utopischen Erdichtungen: »Sie sind absolut unmöglich.« 50 Derjenige, der schön denken will, dürfe sich nicht in den Gängen der anderen Welt verlieren, lautet schon die Warnung in den Meditationes. Denn wer dort länger verweile, produziere »in seinen Gedanken auch eine ästhe­tische heterokosmische Falschheit«.51 Vermeiden kann das Risiko nur, wer gewisse Schranken nicht überschreitet. Der Traum oder mundus fabulosus, »unter dessen Oberfläche sich schon ein absoluter Widerspruch verbirgt«, dürfe seine innere Unmöglichkeit dem Analogon der Vernunft nicht zu offenkundig machen. Seine Gesamtkomposition müsse vielmehr verborgen bleiben, sonst drohe »die ganze Kunst des Werks, das doch auf schöne Weise gefallen will, gleichsam wie Spinnweben« 52 zerstört zu werden. Erst die Grenze zur anderen Welt ermöglicht und verwehrt zugleich den Zugang zu dem »Land, wo ich manche Wunder sah«,53 so eine Zeile aus dem altfranzösischen Gedicht Fabliau vom Land Coquaigne. Das »Land der Wünsche« riskiert eine Vermischung von Gattungen, von Horaz’ Ars poetica als gefährliche Vision der wider­ natürlichen Paarung in Aussicht gestellt: Franz Bader: Die Ursprünge der Transzendentalphilosophie bei Descartes. Genese und Systematik der Methodenreflexion, Bd. II.1, Bonn 1983, 120. 48 Aesth. § 455. 49 Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 67. 50 Med. § 52. Hier und im Folgenden zit. nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus / Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, Lat./Dt., übers. und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983. 51 Aesth. § 475. 52 Ebd., § 455. 53 Vgl. Dieter Richter: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie, Frankfurt a. M. 1989, 131: »Der schickte mich dann in ein Land, Wo ich manche Wunder sah. […] Das Land heißt Coquaigne. Je mehr man dort schläft, um so mehr verdient man: Wer bis Mittag schläft, bekommt dafür fünfeinhalb Sous.« 47

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»Glaubt mir, Pisonen, solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken, erdichtet, so daß nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören. ›Und doch hatten Maler und Dichter seit je gleiche Freiheit, zu wagen, was sie nur wollen.‹ Ich weiß das, und diese Gunst erbitte ich selbst und gewähre sie andren, aber nicht so, daß sich Grimm mit Sanftmut verbindet, nicht so, daß Schlangen mit Vögeln sich paaren und Lämmer mit Tigern.« 54

Horaz tritt bei Baumgarten im Gewand eines Wolffianers auf, dient als Kronzeuge für die abnorme, nicht existierende, unartige Traumnatur. Wie der objektiv betrachtete Traum – »ein Traum, das [G]eträumte« – widerstreiten, so Wolff in der Ontologie, utopische Erdichtungen erstens dem kausalen Prinzip der Möglichkeit einer zusammenhängenden Welt und zweitens dem Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs. Indem sie in phantasierte andere Welten entführen, erweitern sie freilich auch den Horizont der Welterfahrung. Wann aber gefährdet die phantastische Erfahrung der anderen Welt die ästhe­tische Erkenntnis, die sich im Spannungsmoment zwischen Traum und Kritik ereignen soll? Neben die utopischen Erdichtungen müssten, so Baumgarten, die poetischen treten, die fremdartige Vorstellungsreihen in vertraute mischen. In der verkehrten Welt des Schlaraffenlands scheint jedoch genau das Gegenteil der Fall zu sein. »Ein solcher Traum oder solche eine fabelhafte Welt [Somnium eiusmodi, vel mundus fabulosus] mögen hingegen entweder 1) Dinge hinstellen, die selbst dem Analogon der Vernunft widersprechen, sich gegenseitig auf heben und ungereimt sind, oder sie mögen 2) in den Augen deiner Betrachter schon oft das schwarze Theta der Vernunft und des Verstandes eingebrannt bekommen haben, so daß du sicher sein kannst, daß sie urteilen werden, daß auch jetzt alles, was du denkst, gegen jede Vernunft ist. Solche Träume und solche fabelhaften Welten [mundi eiusmodi fabulosi ] sollen aufgrund ihrer auch ästhe­tischen Falschheit des Feldes der anmutigen Überlegungen verwiesen werden.« 55

Carlo Ginzburg versteht die Imagination von den schwer zu überwindenden Schranken zur anderen Welt als bewusste Camouflage, die dazu dient, den subversiven Sinn der Wünsche durch possenhafte Ironisierung zu schützen.56 Wenn die Aesthetica mit einer Wertung der fabelhaften Welt äußerst subtil umgeht, so würdigt das zugleich »die ›latente Logik‹ baumgartenscher Sinnlichkeit«.57 Denn die Aufwertung des Traums als Gegenwelt produziert eine merkwürdige Ambivalenz bzw. Unentschiedenheit des Urteils. Einerseits wird die Latenz des mundus Quintus Horatius Flaccus (Horaz): Ars poetica/Die Dichtkunst, übers. und mit einem Nachwort hg. von Eckart Schäfer, Stuttgart 2005, 5, Z. 8 f. 55 Aesth. § 456. 56 Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer: Die Welt eines Müllers um 1600, übers. von Karl F. Hauber, Frankfurt a. M. 1979, 123. 57 Anselm Haverkamp: »›Wie die Morgenröthe‹. Baumgartens Innovation«, in: BaumgartenStudien. Zur Genealogie der Ästhe­tik, hg. von Rüdiger Campe, Anslem Haverkamp und Christoph Menke, Berlin 2014, 15 – 47, hier: 28. 54

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fabulosus als Potentialität zur ästhe­t ischen Notwendigkeit erklärt, andererseits aber wird sie im Moment ihrer Aktualisierung – im anempfohlenen Akt des aufmerksamen Lesens oder Betrachtens – in ihre Schranken zurück verwiesen. Sowohl der Verborgenheit der »inneren Unmöglichkeit« 58 der fabelhaften Welt als auch den urteilenden Erkenntnisvermögen – Vernunft und Verstand –, die beim Betrachter aussetzen können, sind gewisse, am Kriterium der Angemessenheit orientierte Grenzen gesetzt. Denn wenn es um »gewisse Falschheiten« geht, die »so klein sind, daß eine Behutsamkeit ihnen gegenüber unter dem ästhe­tischen Horizont liegt«,59 so wird »[d]ieser Traum, diese fabelhafte Welt […] durch das ästhe­tische Tribunal nicht vernichtet«.60 Mit einem Beispiel aus Vergils Aeneis referiert Baumgarten unausgesprochen auf den Moment des Ich-weiß-nicht-was in der ästhe­t ischen Wahrnehmung. Vergils Zeilen, die mit »Nacht war’s, und es genossen des milden Schlafs die müden Leiber, es ruhten die Lande […]« 61 einsetzen, seien in ihrer Vagheit auf der Hut vor der aufmerksamen Wachsamkeit des Lesers. Denn dieser möge schließlich dem Dichter vorhalten, »die Gattungen der Tiere zu bestimmten, hinsichtlich derer er verstanden sein will«.62 Die Potentialität der Dunkelheit ermöglicht es, mit existierenden Dingen der Natur – beispielhaft werden genannt: wilde Tiere, kranke Menschen oder »irgendeine Nachtigall« 63 – eine Ausnahme zu machen und sie dichterisch in schweigende Nacht und milden Schlaf zu tauchen. An der Schwelle zwischen Traum und Wachen verliert auch das Urteil des Lesers an Schärfe – die »geschmackvolleren Gedanken« 64 versprechen vielmehr einen Gewinn an Sinn und Sinnlichkeit. Zwischen ästhe­tisch Wahrem und Falschem gibt es daher graduelle Übergängigkeiten, die dem erkennenden Urteil in doppelter Hinsicht einen lustvollen Zeit-Aufschub gewähren und ihm Entlastung versprechen: »Die Vernunft muß die Falschheit auch nicht sogleich überzeugend einsehen, sonst bleibt der Gedanke auch nicht ästhe­tisch wahr. Beide, sowohl die Sinnlichkeit als die Vernunft, müssen das ästhe­t isch Wahre nicht gleich bei dem ersten Anblick für absurd erklären.« 65

Es mag kaum erstaunen, dass dieses Plädoyer für ein moralisch und metaphysisch überdeterminiertes »Land der Wünsche« nicht gerade auf Zustimmung bei den Zeitgenossen hoffen durfte. »Baumgarten: der Mann war scharfsinnig (im Kleinen), aber nicht weitsichtig (im Großen). Ein Cyclop von Meta­phy­siker, dem das eine Auge, namlich Critic, fehlt«, lautet der Vorwurf. Baumgartens »Abrisse von 58 Aesth.

§ 455. Ebd., § 454. 60 Ebd., § 455. Hervorhebung A. A. 61 Ebd. 62 Ebd., § 454. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 221 (§ 453). Hervorhebungen A. A. 59

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Wissenschaften« zeigten, so Kant, dass er »ein guter analyst, aber nicht architektonischer Philosoph« 66 sei. Man mag dagegen einwenden, dass »das ganz unmetaphysische Denken« 67 Baumgartens ja gerade das – metaphorisch-metonymische, onirische – Wissen der Literatur, die um ihre eigenen Grenzverletzungen zwischen Traum und Wachen weiß, zu würdigen versteht. Er tut dies jedoch noch im Zeichen einer alteuropäischen Generalisierungstendenz, die vor dem Zwang steht, »kommunikative Kontingenzen und selektive Überschüsse abzusenken«.68 An den Platz der alten Erklärungsmodelle ist auch bei Baumgarten noch keine neue Ordnung oder Traumdeutung getreten. Die Würdigung des Traums als individuelle Vorstellungswelt oder ästhe­tischer Freiraum ist noch nicht gänzlich eingetreten. Als generalisierter Heterokosmos spiegelt der erfundene Traum vielmehr die ästhe­ tischen Überschüsse einer sich selbst befragenden, kritischen Vernunft, die auf klärerisch um sich selbst kreist: »Mit Descartes bricht über die Träume endgültig die Nacht herein.« 69 3. Stupor, erste aller Leidenschaften Dass Kritik ein Erwachen mitten im Licht erfordert, ist für Descartes – in der Nachfolge Montaignes – eine unumgängliche, wenn auch beschwerliche Voraussetzung. Aus diesem Grund beginnt und endet der Gang durch die Zweifel am Anfang aller Philosophie. Wenn im Traum nicht nur ganz gewöhnliche Umstände, sondern auch ganz gewöhnliche Gedankengänge auftauchen, so löst das die Leidenschaft aus, die für Descartes die »erste aller Leidenschaften ist«:70nämlich stupor, Betroffenheit, was auch admiratio, Verwunderung, einschließt. Die admiratio mache, so Descartes in den Passions de l’âme, auf ein Objekt aufmerksam, das »neu und sehr verschieden [ist] von allem, was wir vorher kannten«.71 Sie gibt aber zugleich auch den Impuls für das Erkennen, »weil sie uns zum Erwerb der Wissenschaft befähigt«.72 Als neutraler Affekt ist die admiratio »als interesselose Erkenntnisvoraussetzung gedacht«,73 der jede somatische Energie abgesprochen ist. Auch der seltsame und ungewöhnliche Umstand, dass zwischen Wach- und Traumwelt nicht unterschieden werden kann, erweckt stupor.

66 Immanuel

Kant: Refl. 5081, in: AA , Bd. XVIII, 81 f. Berndt: Poema/Gedicht, 113. 68 Ingo Stöckmann: »Traumleiber. Zur Evolution des Menschenwissens im 17. und 18. Jahrhundert. Mit einer Vorbemerkung zur literarischen Anthropologie«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 26/2 (2001), 1–55, hier: 28. 69 Stefan Niessen: Traum und Realität: Ihre neuzeitliche Trennung, Darmstadt 1993, 197. 70 René Descartes: Die Leidenschaften der Seele, hg. und übers. von Klaus Hammacher, Hamburg 1996, 95 (Artikel 53). 71 Ebd. 72 Ebd., 119 (Artikel 76). 73 Stöckmann: »Traumleiber«, 24. 67 Frauke

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»Wenn ich aufmerksamer daran denke, sehe ich so unverhohlen, daß der Wachzustand niemals aufgrund sicherer Anzeichen vom Traum unterschieden werden kann, daß ich erstaune; und dieses Erstaunen bestärkt mich fast sogar noch in meiner Meinung, zu träumen [stupor mihi opinionem somni confirmet].« 74

Descartes’ Traumargument öffnet zweierlei Perspektiven: Zum einen geht es um eine methodologische Fiktion. Zum anderen um einen Findungsprozess. Gesucht wird das Kriterium, mit dem die Grenzziehung zur wahren Welt vorgenommen werden kann. Wie lassen sich Wachen und Traum unterscheiden? Während die Verwunderung den Verstand auf den merkwürdigen Umstand aufmerksam macht und zur Erkenntnis auffordert, stellt das Erstaunen, stupor, einen Exzess der admiratio und somit eine Gewalt dar, die Descartes’ in Passions de l’âme in ihrer ›vollen Kraft‹ zu beschreiben sucht. Das Erstaunen bewirke, dass der Körper unbeweglich wie eine Statue erstarre, was die Erkenntnis behindere.75 Verwunderung und Erstaunen stellen insofern zwar verschiedene Erkenntnis-Modi dar, sie sind aber auch miteinander verbunden. Die Verwunderung spielt sich auf der Ebene der Affekte ab, das Erstaunen auf jener der rationalen Erkenntnis. Bleibt man zu lange im Zustand der Verwunderung, könnte man glauben, man träumt: »Age ergo somniemus. / Meinetwegen, dann träumen wir also«76 heißt es lakonisch in den Meditationes de prima philosophia. Wenn im Traum das Bewusstsein und das Denkvermögen wach sind, was Aristoteles geltend macht und erst Hume mit der Suspendierung des Bewusstseins im Traum revidiert, so beurteilt Descartes die Gedankengänge jenseits der Grenze zur Wach-Welt zwar als eindrucksvoll, aber auch als primitiv. Das Verweilen bei den »Erscheinungen im Schlaf«77 zeige, so Descartes’ Logik, dass der Traum einer rationalen Überprüfung nicht standhalten könne. Hieraus ergibt sich ein fast empirisches Kriterium – das der Zeit-Dauer: »Wenn ich zu lange staune, träume ich.« 78 Am Ende der ersten Meditation steht die Entdeckung einer zeitlichen Begrenztheit. Die vereinzelten Ereignisse der Träume lassen sich im Bewusstsein nicht aneinander reihen. Erst im Wachzustand entsteht die Fähigkeit, das Erlebte lückenlos zu verknüpfen.79 Descartes: Meditationes de prima philosophia, hg. und übers. von Christian Wohlers, Hamburg 2008, 37 (I, 19, 22). 75 Descartes: Die Leidenschaften der Seele, 115 (Artikel 73): »Das bewirkt, daß der ganze Körper unbeweglich wie eine Statue bleibt und daß man von dem Gegenstand nur den ersten Eindruck wahrnimmt, der sich darbietet, ohne darauf von ihm eine genauere Erkenntnis zu erhalten. Das nennt man gewöhnlich erstaunt sein.« Vgl. auch ebd., 119 (Artikel 76): »Aber es kommt allzu oft vor, daß man sich zu sehr wundert und daß man staunt, wenn man Dinge bemerkt, die kaum oder gar nicht verdienen, betrachtet zu werden, nicht jedoch, daß man sich zu wenig über etwas wundert. Ja, so etwas kann sogar schließlich den Gebrauch der Vernunft auf heben oder pervertieren.« 76 Descartes: Meditationes de prima philosophia, 37 (I, 19, 23). 77 Ebd. 78 Sonia Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum. Christian Wolffs Antwort auf die Herausforderung durch den Cartesianischen Zweifel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 48. 79 Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum, 54. 74 René

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In der Nachfolge von Descartes’ strengem Ausschlussverfahren wird sich der Traum von einem nicht-denkbaren oder leeren Raum eines Nichtwissens hin zu einem kosmologisch gefüllten Gegenraum wandeln. Der neuzeitliche, objektiv betrachtete Traum (somnium objective sumptum) ist kein negierter, leerer Raum mehr, sondern ein verworrener, chaotischer, widersprüchlicher: Es fehlen ihm zwei grundlegende Prinzipien der Erkenntnis: das vom zureichenden Grund und das des Widerspruchs.80 Der Traum, das führt Wolff mit der differentia specifica ein, unterscheidet sich von der trennscharfen Differenzierungsarbeit der Kritik durch Inkohärenz: »lauter Unordnung«.81 Im chaotischen Traum regiert demnach das Unzusammenhängende, Ununterscheidbare, Unordentliche: In veritate ordo est, in somnio confusio.82 Wolff wirft Descartes vor, er habe zwar den Unterschied zwischen Wahrheit und Traum gesucht, ihn aber nicht gefunden.83 Die transzendentale Traumlehre ermögliche es dagegen, das Kriterium zur Unterscheidung zu finden. Wenn im Traum die beiden höchsten Prinzipien der Erkenntnis keine Rolle spielen, so sei das schließlich der indirekte Beweis für die Wahrheit der kosmologischen Ordnung. In der Deutschen Meta­phy­sik erklärt Wolff, »daß die Wahrheit von dem Traume durch die Ordnung unterschieden sey«.84 Eine solche Einmauerung des Traums in kategorische Grundsätze konnte nicht ohne Folgen bleiben für die Betrachtung des koinon kosmos, der gemeinsamen Welt. Wenn in der Welt, die wir bewohnen, alle Dinge, die nebeneinander sind oder aufeinander folgen, miteinander verknüpft sind, so wird die Wach-Welt im Spiegel des erfinderischen Traums zu einer Ordnung schaffenden Maschine.85 Alle Veränderungen, die sich in dieser Welt ereignen, können aus dieser Perspektive von nun an durch Gesetze der Bewegung erklärt werden. Auch Kants Polemik in der vorkritischen Geisterseherschrift setzt an jener metaphysischen Gelenkstelle der anderen Perspektive an, wenn er im Gegenzug die Meta­ phy­siker als Träumer und Geisterseher deklariert. Während der Traum Märchen 80 Aesth.

§ 455. Vgl. auch Peter-André Alt: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München 2002, 136: »seine Bedeutung läßt sich nicht mehr nur über den Akt der Negation, vielmehr auch positiv festlegen«. 81 Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [= Deutsche Meta­phy­sik, EA 1720], in: Christian Wolff: Gesammelte Werke, hg. von Jean École [u. a.], Hildesheim/Zürich/New York 1962 ff., Bd. I,2, 76 (§ 143). 82 Wolff: Deutsche Meta­phy­sik, 74 (§ 142). 83 Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum, 127. 84 Wolff: Deutsche Meta­phy­sik, 72 (§ 142). 85 Vgl. Christian Wolff: Cosmologia generalis, methodo scientifica pertractata, Frankfurt/Leipzig 1737, 68 (§  75): »Mechanice de rebus in mundo adspectabili existentibus philosophatur, qui mutationes, quae ipsis accidunt, ex eorum structuris, texturis & mixtionibus, seu ex modo compositionis secundum regu­las motus intelligibili modo explicat.« Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum, 146: »Es geschieht also in der Welt nichts ohne unzureichenden Grund und nichts Widersprüchliches. Diese Ordnung in der Welt, die ihre transzendentale Wahrheit ausmacht, erkennt man durch die mechanische Erklärung der Phänomene, indem man das ›ens compositorum‹, ›Welt‹ als eine Maschine betrachtet. Dies bedeutet, daß die Veränderungen, die sich in der Welt ereignen, durch die Gesetze der Bewegung, d. h. durch die Gesetze der Mechanik, zu erklären sind.«

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erzähle, »die ein Vernünftiger Bedenken trägt mit Geduld anzuhören«, sei »allein […] die Philosophie, welche wir voranschickten, eben so wohl ein Märchen aus dem Schlaraffenlande der Meta­phy­sik«.86 In Absetzung zu Kants kategorischer Kritik an Wolff knüpft Baumgartens Aesthe­­ tica auf ihre Weise an Descartes’ admiratio an. In der Kollegnachschrift ist die Fähigkeit zur Begeisterung Voraussetzung für das Gelingen der Zusammenarbeit von symbolischer und intuitiver Erkenntnis, der cognitio sensitiva: »Was mich bewegen soll, muß Begierden in mir hervorbringen.« 87 Das verlangt nach einer Orientierung in der Zeit. Der poeta vates könne »nicht Begierden erregen, wann der Gegenstand derselben nicht zukünftig« 88 sei. Dazu aber benötige es Ruhepausen des Körpers – hervorgerufen etwa durch die Meditation nach der Jagd oder das Versemachen auf der Reise oder im Wirtshause. Die Begeisterung wachse noch, wenn der Körper in die Lage versetzt würde, in die Zukunft zu sehen: so wie beim Sterbenden oder auch im gesunden und heiteren Körper, der beim Vorhersagen nicht einschlafe. Diesem Zustand der Unaufmerksamkeit, der Zerstreutheit, ja des Halbschlafs und der Dämmerung, traut die später entfaltete Lichtmetaphysik der Aesthetica noch mehr zu, wenn sie – wie oben gezeigt – das nachlässige Zuhören oder Achtgeben, die Ablenkung und gänzliche Zerstreuung als ästhe­tische Tätigkeit aufwertet.89 Dank der graduellen Stufenfolge der intellektuellen und sensitiven Vorstellungen müssen keine absoluten Wahrheits-Ansprüche mehr befriedigt werden. Wenn ästhe­tische Wahrheit Licht ist, »das leuchtet, aber auch zum Leuchten gebracht werden muß«,90 so hat es die ästhe­t ische Tätigkeit – die gleichermaßen Produktion und Rezeption umfasst – im Anschluss an Leibniz’ und Wolffs Unterscheidungen der Erkenntnisgrade stets mit einer Mischung von Licht und Dunkelheit zu tun. Im Vertrauen auf die Deutlichkeit der Dinge entschärft sich bei Baumgarten die erkenntnistheoretische Nah-Einstellung auf die ratio, die »Offenheit des ästhe­tischen Horizonts [wird] nicht [mehr] durch die allzu starre Ausrichtung auf rational fassbare Gehalte gestört«.91 Gestützt auf Leibniz’ Unterscheidung der Erkenntnisvermögen und geleitet von Wolffs Gliederung der Psychologie entdeckt Baumgarten eine Lücke im philosophischen System, die von der Logik nicht abgedeckt wird. Als repraesentatio non-distincta ist die cognitio sensitiva zum einen in der Gestalt der extensiv-klaren Vorstellungen von Interesse, zum anderen wird mit ihr aber auch »eine Grundlage für das Denken von und in Zusammenhängen und wechselnden Bezügen« 92 gelegt. 86 Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch die Träume der Meta­phy­sik, in: ders.: Werkausgabe in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1987, Bd. II, 968. Vgl. auch Andrea Allerkamp: »›Spekulation aus lauter Luft‹ - Kants Polemik wider die schlafende Vernunft«, in: Cahiers d’Études Germaniques. Diables et Spectres. Croyances et Jeux littéraires 62 (2012), hg. von Françoise Knopper und Wolfgang Fink, 179 – 194. 87 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 87 (§ 31). 88 Ebd., 89 (§ 36). 89 Aesth. § 615. 90 Schweizer: Ästhe­tik als philosophische sinnliche Erkenntnis, 81. 91 Ebd., 80. 92 Groß: Cognitio Sensitiva, 192.

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Schon in der Metaphysica schafft Baumgarten eine neue Ausgangslage für das Gesetz des ästhe­t ischen Begehrungsvermögens. Der lex appetitus – nach der altbekannten ›Regel des Willens‹, »daß wir nichts wollen, als was wir vor gut halten, und nichts nicht wollen, als was wir vor böse ansehen« 93 – ist nicht mehr wie bei Wolff eingeengt als Begehren des Guten oder Vollkommenen, sondern einer neuen Verbindlichkeit gegenüber dem geöffnet, was in Zukunft eintreten kann.94 Zwei Vermögen, welche die Mantik auszeichnen, sind dafür ausschlaggebend: praevisio und praesagitio: »Die Veranlagung des Vorhersehens und die Veranlagung, etwas zu erwarten.«95 Schon die Empirische Psychologie der Metaphysica widmet der Erläuterung dieser beiden Vermögen eigene Teilabschnitte. Die Mantik wird dort sowohl unter der praevisio als auch unter der praesagitio zu einem »Teil der Ästhe­tik« 96 deklariert: »Sinnliche Vorahnungen sind Gegenstand der ästhe­t ischen Mantik.« 97 Die Onirocritica ermöglicht es, empirisch vorzugehen, d. h. Vergleiche anzustellen und Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Fällen auszumachen: »Der Inbegriff der Regeln für die Erwartung aufgrund der Vorhersehungen der Traumbilder ist die Kunst der Traumdeutung.« 98 Baumgartens Auffächerung aller Disziplinen, die sich im Rahmen der neu zu gründenden Ästhe­tik mit dem ›Bezeichnungsvermögen‹ befassen sollen, beginnt mit der ›ästhe­t ischen Zeichenkunde‹ als einer Dachwissenschaft, die sowohl heuristisch als auch hermeneutisch vorgeht: »Die Wissenschaft der sinnlichen mit Zeichen befaßten Erkenntnis und des entsprechenden Vortrags ist die Ästhetische Zeichenkunde, und zwar die erfindende ebenso wie die deutende.« 99

Für das ästhe­tische Begehren gilt es darüber hinaus noch eine dritte Bedingung geltend zu machen. Der schöne Gegenstand soll gefallen. Denn ohne Gefallen würde bloß zeichenhaft und nicht anschauend erkannt: »Eine Vorstellung, die mehr und lebhaftere Merkmale als andere deutliche Vorstellungen enthält, wird extensiv deutlicher sein«.100 Die zeichenvermittelte, anschauungslose Erkenntnis bleibt dagegen tot, sie vermag nicht aus der Gleichgültigkeit zu reißen: »In dem, was mir gleichgültig ist, erkenne ich anschauend entweder überhaupt keine Vollkommenheit oder Unvollkommenheit, und es ist mir gänzlich Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken, 308 (§ 506). Met. § 655: »Ich bemühe mich, dasjenige hervorzubringen, von dem ich vorhersehe, daß es gefallen wird und erwarte, daß es durch meine Anstrengung zukünftig existieren wird.«  95 Aesth. § 36.  96 Met. § 604.  97 Ebd., § 610.  98 Ebd., § 623. Vgl. auch ebd., § 626: »Die Aufmerksamkeit, die nacheinander auf die Teile der Vorstellung eines Ganzen gerichtet wird, ist die REFLEXION. Die nach der Reflexion gerichtete Vorstellung eines Ganzen gerichtete Aufmerksamkeit ist die VERGLEICHUNG . Ich reflektiere, ich vergleiche.«  99 Ebd., § 622. 100 Ebd., § 634.  93

 94 Vgl.

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gleichgültig«.101 Baumgartens Polemik gegen die tote Buchstabengelehrsamkeit holt somit über das Traumargument auch das pietistische Ideal »handlungsprägender Erweckung aus religiös-moralischer Gleichgültigkeit«102 philosophisch ein. Nicht allein das fehlende Leben bedroht die intuitive Erkenntnis und schlägt sie mit Ignoranz, auch das Zuviel an Imagination ist riskant. Die sinnliche Erkenntnis aber, so die Folgerung, nimmt freilich sofort wahr, »wann wider einige Arten der Einheit gefehlt wird«.103 Dem schönen Geist wird in der Kollegnachschrift als Gegengift zu diesem Bruch mit den aristotelischen Prinzipien empfohlen, die »Umstände [zu] sehen« und eine Person »nicht zu gleicher Zeit in Paris und London sehen [zu] lassen«.104 Wenn »Verwunderung« Seltenheit erfordert, »wobei Nichtwissen ausgeschlossen ist«, so würdigen die Meditationes diese erste aller Leidenschaften ausdrücklich als poetisches Vermögen: »Da Wunder Einzelhandlungen sind, werden ihre Vorstellungen besonders poetisch.«105 Die Onirocritica, die antike Traumlehre, spielt bei dieser Gratwanderung zwischen erkenntnistheoretischem Mangel und ästhe­tischem Überschuss eine herausragende Rolle. Dass eine solche Gratwanderung am Übergang zwischen Schlaf und Wachen, Traum und Wirklichkeit neue Ambivalenzen und Spannungen schafft, machen die Wissens(ver)ordnungen in der vermutlich schon 1742 entstandenen Philosophia generalis mehr als deutlich. 4. Überforderung durch Mantik In der postum herausgegebenen Philosophia generalis greift Baumgarten mit großer Emphase das Unternehmen eines allumfassenden Systems von Wissenschaft auf, eindrucksvoll dokumentiert durch den Willen zu klaren Einteilungen und scharfen thematischen Trennungen. Nach dem Modell von Aristoteles’ organon soll eine Theorie der Sinnlichkeit ausgearbeitet werden.106 Die »organische Philosophie« als »Wissenschaft der Verbesserung der Erkenntnis«107 beschäftigt »sich mit der sinn­ lichen Erkenntnis, als Ästhe­t ik«. Für dieses Projekt legt Baumgarten in der Philosophia generalis eine skizzenhafte Abbreviatur in bis zu achtfacher Unterteilung vor: »Die ›Auf klärung‹, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen 101

Ebd., § 345. Baumgarten, 86. 103 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 225 (§ 468). 104 Ebd. (§ 469). 105 Alle Zitate: Med. § 49. 106 Zu Baumgartens Erweiterung von Aristoteles zu einer eigenständigen Theorie der Sinnlichkeit, vgl. Dagmar Mirbach, »Einführung«, in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Bd. 1, XXXVI. 107 Alexander Gottlieb Baumgarten: »Philosophischer Briefe zweites Schreiben«, in: ders.: Texte zur Grundlegung der Ästhe­tik, Lat./Dt., übers. und hg. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, 67 – 72, hier: 69. 102 Schwaiger:

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erfunden«,108 so Michel Foucault in Überwachen und Strafen. Baumgartens Projekt, die Mantik neben der Geschichte und der empirischen Psychologie in die drei­ fache Zeitlichkeit von Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart einzulassen, zeigt diese Verknüpfung von Auf klärung und Disziplinarmacht exemplarisch. Erst in der Aesthetica erfährt das augenscheinliche Aufgehen der drei zeitlichen Gesichtspunkte in den Ressorts der Wissenschaften eine Korrektur. Das Ästhetische wird hier als schöne, empirische und mantische Denkungsart von der disziplinären Aufgabenverteilung der drei Auslegungskünste entkoppelt und als eigenständig deklariert. In der Philosophia generalis bleibt es zunächst bei der Ankündigung von immer feineren Grenzziehungen zwischen erstens der Kunst »der Erdichtung oder als philosophische Mythologie«, zweitens der Kunst »der Beurteilung oder als ästhe­t ische Kritik« und drittens der »Kunst der Voraussicht und der Vorahnung als Mantik«.109 Der Mantik kommt die Aufgabe zu, den ersten Bedeutungsbaustein für den Begriff des Zeichens zu setzen,110 was die Aesthetica ausdrücklich von der »logischen und vernunftgemäßen Vorsehung, mit welcher ein Staatsmann z. B. den zukünftigen Zustand seines Staates gleichsam wie von einer höheren Warte aus ermißt«,111 unterscheidet. Unter dem Stichwort der ›mantischen Zeichenkunde‹ (ars characteristica) wird ein ungewöhnlich weites Spektrum entfaltet, die Ciceros De divinatione in nichts nachsteht: Orakel, Astrologie, Onirocritica, Los, Elementen-Lehre, Wahrzeichen – all das untersteht der kosmologischen Deutung eines Zukünftigen.112 Jeder nur denkbare Gegenstandsbereich verlangt in diesem System nach einer Zuweisung auf einen festen Platz mit eigenem Namen. Und jeder dieser Spezialkunden gibt Anlass zu weiteren Projektierungen bzw. Gegenstandsbereichen: zum Beispiel die capnomantia (Kunst des Vorhersagen aus dem Rauch), tephramantia (aus der Asche), pegomantia (aus den Quellen), onichomantia (aus den Nägeln an Fingern und Zehen) oder auch die psychagogia seu sciamantia (aus dem Schattenreich der Verstorbenen).113 Trägt ein Gegenstand bereits einen Namen, so wird er übernommen. Fehlt ihm ein solcher, so wird ihm eine meist dem Griechischen entlehnte Bezeichnung verliehen. Baumgarten gründet damit eine Vielzahl bislang noch unbekannter, ja skurriler Disziplinen.114 Die überdeterminierte Häufung von wissensgeschichtlichen Schnittmengen erinnert an die komplexen empirischen Verfahren Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1976, 285. Gottlieb Baumgarten: Philosophia generalis, Halle/Magdeburg 1770, 52 – 69. Auszüge mit dt. Übersetzung in: ders.: Texte zur Grundlegung der Ästhe­tik, 73. (§ 147 I). 110 Vgl. Mirbach: »Einführung«, in: Baumgarten: Ästhe­tik, Bd. 1, LVII. 111 Aesth. § 583. 112 Vgl. dazu auch den Beitrag von Constanze Peres in diesem Band. 113 Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhe­tik, 74 f. 114 Baumgarten: Metaphysica/Meta ­phy­sik, Hist.-krit. Ausgabe, übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, XLVI. Im Vorwort zur Meta­phy­sik bemerken die Herausgeber: »Diese fast als Distinktionswut zu bezeichnende Liebe zu klassifizierenden Einteilungen setzt sich in seinen übrigen Werken fort und nimmt in der Philosophia generalis geradezu skurrile Züge an.« 108 Michel

109 Alexander

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antiker Traumwissenschaft. Auch Artemidor de Daldis’ Traumbuch, dessen deutsche Übersetzung von Walter Hermann Ryff 1753 in einer letzten Auf lage erscheint, geht wie Baumgartens Philosophia generalis klassifizierend und nicht kasuistisch vor. Bei Artemidor ist dies auf die Überzeugung zurückzuführen, dass man den Sinn von Träumen nicht theoretisch reduzieren kann. Sein Traumbuch zeigt: Will man alle geträumten Details – wie Körperteile, Körpervollzüge, körpernahe Objekte, kulturelle Semantiken oder soziale Merkmale – auf all ihre Bedeutungsvarianten und Vergleichsmöglichkeiten hin analysieren, so muss man zu dem Schluss kommen, dass schließlich alles bedeutsam und bezüglich ist. Es sind aber gerade jene immer feineren Verästelungen an zukünftigem Wissen, die den Traumdeuter schlicht überfordern. Aufgrund von Überdeterminierung hebelt sich die Naturgeschichte des Traums quasi von selbst aus. Die verschiedenen Motivgruppen treten in immer absonderlichere Reihungen ein. Es entstehen solche Wucherungen, dass dem antiken Traumbuch am Ende nichts anderes übrig bleibt als abzubrechen. Die Crux aller naturgeschichtlichen Tableaus ist es, zu einem Fluss ohne Ufer zu werden. Enzyklopädische Anstrengungen versprechen Ordnung, verursachen schließlich Chaos. Unter der Hand verwandelt sich das Vorhaben, ein Weltbuch des Traums zu schreiben, in ein wüstes Sammelsurium von Traumfragmenten, eine gewaltige Halde von geringfügigen Zeichen, deren Ähnlichkeiten unendliche Verweisungsbezüge schaffen. Denkt man diese zahlreichen Korrespondenzen von der Meta­phy­sik bis zur unvollendeten Aesthetica weiter, so liefert Artemidors Traumbuch auch eine treffende Architektonik für Baumgartens Werke. Der Kollaps der Klassifikationen hängt mit dem Gegenstand, der Mantik, eng zusammen. Wenn Mantik die Kunst ist, die Zeichen zu verstehen und zu deuten, so schließt das sowohl die »Fähigkeit, Zeichen und Bezeichnetes miteinander zu verbinden« als auch die »Kunst der Bezeichnung« (ars signandi) selbst mit ein.115 Die Mantik hat rezeptive als auch produktive Bedeutung, sie ist insofern auf jeder Stufe der Steigerung und Differenzierung fähig und auch bedürftig. Dieser Dynamik von Intuition und Ausdruck entsprechend entwickelt Baumgarten ein vergleichbares System. Wenn die große Herausforderung der Ästhe­tik darin besteht, Denken und Darstellen in ein Verhältnis von wechselseitiger Transparenz und Transitivität zu bringen, so Frauke Berndt, dann erfordert das Disziplinierung gegen die »nicht natürliche, sondern künstliche Auslegung der Träume«.116 Denn darin sind »recht viele Lügen von Weissagungen und Prophezeiungen und auch viele Erklärungen wahrer Dinge, in denen vieles dunkel und rätselhaft ist«,117 auszumachen. Die Mantik als Kunst des Bezeichneten und der Bezeichnung muss schließlich doch in den Dienst eines metaphysischen Prinzips gestellt werden. Baumgarten macht indes nicht explizit, ob sich die Aufteilung in zwei Welten – die der rational verifizierbaren Tatsachen und die heterokosmische der dichterischen Texte zur Grundlegung der Ästhe­tik, XIX . Poema/Gedicht, 31. 117 Aesth. § 638. 115 Baumgarten: 116 Berndt:

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Erfindung – so aufeinander beziehen lassen wie die logische und ästhe­tische Erkenntnis auf das transzendentale Wahrheitsprinzip. Wenn »Zeichen und Zeichenketten so lange um verwandte Elemente angereichert werden, bis unvollständige und dunkle Bedeutungen vollständig und deutlich werden«,118 so scheint dies schon eine implizite Antwort zu sein auf die schwer wiegenden Probleme einer aufgeklärten Kritik, die in ihren erkenntnistheoretischen Differenzierungen bis an eigene Grenzen vorgestoßen ist. Peter-André Alt nennt dies die »Selbstblockierung der Theorie«.119 In der Nachfolge von Descartes erscheint der Sieg der Vernunft über alle sinnlichen Regungen, Triebe und Leidenschaften nicht mehr als erstrebenswert. Wenn das 18. Jahrhundert in den Affekten keine bloße Hemmung, sondern einen »Impuls für alles seelische Geschehen«120 sieht, wie Ernst Cassirer schreibt, so ist der metaphysische Traum der Prüfstein, an dem diese Hemmung kritisch ausagiert werden kann.

118

Stöckmann: »Traumleiber«, 25. Der Schlaf der Vernunft, 138. 120 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 2007, 110. 119 Alt:

Nuancen des F i r m a m e n ts Versuchsanordnungen ›extensiver Klarheit‹ zwischen Alexander Gottlieb Baumgarten und Barthold Heinrich Brockes Von Andrea Krauß Alexander Gottlieb Baumgarten und Barthold Heinrich Brockes – das Junktim zwischen dem Begründer der Ästhe­tik und dem Autor der neunbändigen Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott versteht sich nicht von selbst, und dafür lassen sich Gründe anführen. Während Baumgartens Einfluss etwa auf die Hallenser Anakreontik nach 1740 belegt ist,1 erscheinen die zwischen 1721 und 1748 veröffentlichten Bände des Irdischen Vergnügens in Gott gewissermaßen zu früh. Bis zum Jahr 1735, der Publikation von Baumgartens wegweisender Erstschrift über das Gedicht,2 liegt ein großer Teil des Irdischen Vergnügens in Gott bereits vor. Will man den Zeitpfeil drehen und umgekehrt Baumgarten Kenntnis und Lektüre des seinerzeit sehr populären Brockes zurechnen, mögen philologische Bedenken Einhalt gebieten: Solche Kenntnis und Lektüre ist nicht überliefert, bekannt ist hingegen, dass Baumgarten in sämtlichen seiner Schriften die antiken Autoren – Homer, Vergil und Ovid –, nicht jedoch die zeitgenössischen zitiert. Baumgarten, das wird im Spielraum seiner Referenzen kenntlich, hatte anders als etwa Gottsched, Bodmer und Breitinger keine aktuelle Dichtungsreform im Blick, sondern die Begründung einer philosophischen Disziplin des Sinnlichen, insofern dieses Sinnliche als Erkenntnis bestimmt werden kann. Indessen deuten sich abseits direkter Einflüsse mittelbare Affiliationen an – Argu­mentationsgänge, die es erlauben, Brockes über Dritte mit Baumgarten zu verknüpfen und so nicht zunächst persönliche Beziehungen, sondern eine »akute Position in der Wissensordnung« 3 nachzuzeichnen. In diesem Umweg über Dritte und einem Prozess mehrfachen Übersetzens ergeben sich Verbindungslinien, die Brockes im Schnittpunkt zwischen Baumgartens Theorie des Gedichts und zeitge1 Vgl.

Theodor Verweyen: »Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko? Zur ästhetik-theo­ retischen Grundlegung und funktionsgeschichtlichen Rechtfertigung der deutschen Anakrenontik«, in: GRM 25 (1975), 276 – 3 06, sowie Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5.2: Frühaufklärung, Tübingen 1991, 189. 2 Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus/ Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, Lat./Dt., übers. und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983. Im Folgenden wird dt. nach dieser Ausgabe zitiert. 3 Frauke Berndt: Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin/ Boston 2011, 2. Während Berndt Baumgarten und Klopstock in Beziehung setzt und den Zeitraum 1730 bis 1770 in den Blick nimmt, verschiebt vorliegende Studie zur Paarung BrockesBaumgarten das Zeitfenster in Richtung 1720 – 1750.

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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nössischen Dichtungslehren (Breitinger, Bodmer) ansiedeln. Baumgartens Begriff der ›extensiven Klarheit‹ dient in diesem Zusammenhang als konzeptionelles Bindeglied, von dem her und auf das hin Brockes Gedicht Das Firmament gelesen wird. Fluchtpunkt der Lektüre ist die in Baumgartens Begriff der ›extensiven Klarheit‹ gefasste Epistemologie des Gedichts, die sich in Auseinandersetzung mit Brockes auf spezifische Weise perspektivieren lässt. 1. Baumgarten – Meier – Breitinger: Beschreiben I In seiner 1746 erschienenen Vertheidigung der Baumgartischen Erklärung eines Gedichts wendet sich Georg Friedrich Meier gegen die Kritik des Gottschedianers Quistorp, der Baumgartens Dissertation als Plädoyer für »lauter dunck[le] und verwirrt[e] Vorstellungen«,4 gemeine Sinnlichkeit und die Erregung der Leidenschaften (fehl-) interpretierte. Zur Stärkung seiner Replik beruft sich Meier auf die »berühmtesten Kunstrichter« Breitinger und Bodmer, deren Theorie der Dichtkunst mit derjenigen Baumgartens »der Hauptsache nach übereinstimmen«.5 Als Beleg zitiert Meier zwei Passagen aus Breitingers Critischer Dichtkunst (1740), die sich vor dem Hintergrund der traditionsreichen ut pictura poiesis-Formel mit der Wirkung von Poesie befassen. Analog zur bildenden Kunst gelinge es der malenden Dichtung, eine »Kraft« zu realisieren, die, so Breitinger, »eben so lebhafte, Hertz und Sinnen rührende, Bilder in die Phantasie der Menschen einpräget, als dieienigen sind, so die Kunst des Malers, dem sinnlichen Auge, und dadurch dem Gemüthe vorlegt«.6

In der zweiten von Meier zitierten Passage verbindet sich Breitingers Vorstellungspoetik mit Verfahren der Beschreibung. Breitinger zufolge unterscheiden sich poetische »Schildereyen« von den »eigentlich so genannten Beschreibungen«. Poeti­sche Schildereyen vergegenwärtigen eine Sache nachdrücklich, indem sie der Einbildungskraft »sinnliche Vorstellungen der Umstände« dieser Sache präsentieren und dabei diejenigen »kleinesten und absonderlichsten« Umstände bzw. Merkmale auswählen und »mit einander verbinden«, die nicht zum Wesen der vorgestellten Sache gehören. Die »eigentlich so genannten Beschreibungen« hingegen sprechen die Unterscheidungsfunktion des Verstandes an und verkürzen die Vorstellung des Phänomens auf jene Eigenschaften, die »sie mit andern von ihrer Art gemein hat«.7 Die Gegenstellung der Beschreibungsverfahren ist scharf markiert und wird von Breitinger auf unterschiedliche Disziplinen verteilt: Der malend schildernde Georg Friedrich Meier: Vertheidigung der Baumgartischen Erklärung eines Gedichts, wider das 5 Stück des 1 Bandes des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Halle 1746, 27. 5 Ebd., 22. 6 Alle Zitate ebd. 7 Alle Zitate ebd., 23 f. 4



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Dichter trifft, so heißt es, auf den »philosophischen Verfasser«, 8 dessen »eigentlich so genannt[e] Beschreibun[g]« tatsächlich begriffliche Analyse, in den Worten des tonangebenen Rationalismus (Wolff ): eine logische Erklärung ist. Die beiden unterschiedlichen Schreibarten verfahren demnach wie folgt: Das Moment der Vernetzung akzidentieller Umstände bzw. Merkmale bestimmt die poetische Beschreibung; diese evoziert sinnliche Vorstellungen und vergegenwärtigt die Dinge in der Vielfalt ihrer »absonderli[ch]en«, das heißt eigentümlich-individuellen Erscheinung. Philosophie hingegen verkürzt diese Fülle und ihren Zusammenhang auf solche logisch abstrahierbaren Merkmale, die klassifizierbare Gemeinsamkeiten stiften und auf diese Weise zur fortgesetzten Unterscheidung im Sinne analytischer Differenzierung vorstoßen. 2. Breitinger – Brockes: Beschreiben II Folgen wir Meiers Genealogie, der Baumgarten mit Breitinger verteidigt, so führt uns der mit Baumgarten imprägnierte Breitinger zu Brockes. Denn Brockes, sein Irdisches Vergnügen in Gott, spielt in Breitingers poetologischen Schriften aus dem Jahr 1740 eine gewichtige Rolle, und er spielt diese Rolle nicht zuletzt am Ort unterschiedlicher Formen des Beschreibens.9 Brockes, so schreibt Breitinger in seiner Critischen Dichtkunst, ist ein schätzenswerter Autor. »In Ansehung der Materie der Nachahmung« hat er »die Geheimnisse der Natur, und hiemit die Minen des verwundersamen Neuen« auf eine Weise erschlossen, die sich vom epigonalen Barock »unserer heutigen Meister-Sänger« vielversprechend abhebt.10 Im Rückgriff auf Dubos’ sensualistische Ästhe­t ik lobt Breitinger die Brockes’sche Darstellungskunst auch im Einzelnen: Eindrucksvoll seien der Wohlklang und die »musicalische Schönheit«11 seiner Wortwahl, glücklich gewählt die »Beywörter« oder Epitheta, mit denen Brockes seiner poetischen Schilderey nachdrückliche »Kraft« verleiht und lebhaft oszillierende Ideen zuträgt;12 auch Oxymora, in denen gegen alle logische Stringenz eine »Verbindung zweyer gantz widrig-scheinender Begriffe«13 zur Geltung kommt, finden Anerkennung, gelingt es ihnen doch, »einer Vorstellung ein recht wunderbares Ansehen mitzutheilen«;14 Zuspruch findet ferner Brockes’ Metaphorik, die als verkürztes Gleichnis die »Neuheit«15 einer dann Aufmerk 8

Alle Zitate ebd., 23. Vgl. auch Heinz Drügh: Ästhe­tik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte (1700  – 2000), Tübingen 2006, 32 – 34. 10 Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst, worinnen die poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aus den berühmtesten Alten und Neuern erläutert wird, mit einer Vorrede eingeführet von Johann Jacob Bodemer, Bd. I, Zürich 1740, 115 f. 11 Ebd., Bd. II, 25. 12 Ebd., 265. 13 Ebd., 275. 14 Ebd., 274. 15 Ebd., 334.  9

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samkeit erregenden Vorstellung zu evozieren vermag. Beiwörter und Metaphern zeichnet überdies eine interessante Gemeinsamkeit aus: »Beywörter« – Wörter also, die einem anderen Wort, das den Hauptbegriff der Vorstellung enthält, hinzugefügt werden und so den komplexen Raum seiner Umstände bilden –, »Beywörter« sind wie Metaphern »kleine Beschreibungen«.16 Diese unterscheidet Breitinger von »[a]usführliche[n] Beschreibungen«, die wiederum kleine Beschreibungen in sich enthalten. Ausführliche Beschreibungen vergegenwärtigen eine Sache, indem sie eine »künstliche Verbindung der merkwürdigsten und absonderlichsten Umstände und Kennzeichen« dieser Sache »in einem ordentlichen Zusammenhang« präsentieren.17 Sie leisten somit, so sagte dies ja Breitinger in Meiers Vertheidigung, was die poetische Malerei leisten muss, um nicht philosophische Abstraktion zu sein: Sie verbinden Eigentümlich-Absonderliches zum individuellen Eindruck einer Sache. Problematisch ist, dass ausführliche Beschreibungen dieses Verbinden tendenziell übertreiben und darin maß- und richtungslos werden. Breitinger beeilt sich deshalb, die Grenzen ausführlichen Beschreibens hinsichtlich der Dichtkunst abzustecken. Damit die innere Einheit einer Dichtung nicht im fortlaufenden Syntagma ausführlicher Beschreibungen verloren gehe; damit der »Lauf der Erzehlung« nicht über die Maßen »unterbrochen« und die »Aufmercksamkeit des Lesers« nicht »auf tausend fremde Bilder abgeführet« werde, muss sich der Dichter auf kleine Beschreibungen beschränken und darf er nicht »alle vorkommenden Gegenstände mit einer mahlerischen Sorgfalt ausbilde[n]«.18 Breitingers Sorge gilt hier ersichtlich dem »geordneten Zusammenhang«, den ausführliches Beschreiben zwar herstellt, aber offenbar so, dass zusammengesetzte Beschreibungssequenzen die gedankliche Kohärenz der Erzählung und Aufmerksamkeit des Lesers zerstreuen. Von hier aus gerät der Lobpreis Brockes’ unter Druck. Entscheidender Mangel seiner Dichtung sei nämlich, so moniert Breitinger in seiner ebenfalls 1740 erscheinenden Critischen Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse, eine Schilderungskunst, die genau jene »mahlerisch[e] Sorgfalt« an den Tag legt, um möglichst viele »vorkommende« Phänomene ins Visier zu nehmen. Brockes, so Breitinger, bemühe sich mit der »größten Sorgfalt eines Naturforschers […], auch die kleinsten Umstände einer Sache aufzusuchen«, anstatt die »wichtigsten Umstände« von den überflüssigen zu unterscheiden.19 Was für Breitinger in Meiers Vertheidigung trennscharfe Bedingung von Dichtung war – »sinnliche Vorstellungen der Umstände« zu präsentieren und dabei diejenigen »kleinesten und absonderlichsten« Umstände auszuwählen, die nicht zum Wesen der vorgestellten Sache gehören – wird im Falle Brockes ambivalent. Weil seine Naturgedichte dieses poetische Prinzip zu weit treiben, weil sie jedes absonderliche Detail einer Sache in allen seinen Bestimmungen beschreiben, ohne noch eine erkennbare Auswahl zu 16 Ebd.,

285.

17 Ebd. 18

Ebd., 285 f. Johann Jacob Breitinger: Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse, Zürich 1740, 432. 19



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treffen, verschiebt sich Brockes’ Stellung dorthin, wo die Aufzeichnung des tatsächlich Gegebenen und empirisch Kontingenten seinen Ort hat. Wir erfahren, so lautet Breitingers Bilanz, dass »Hr. Brockes in seinen Beschreibungen mehr ein Historicus als ein Poet ist«.20 Das zunächst erteilte »Lob« wird entsprechend »in seine Schrancken gefasset« 21 bzw. präzisiert und kategorial umgeordnet: Vollends überzeugen kann das Irdische Vergnügen in Gott als »reiche Sammlung mancherley Beschreibungen und Schildereyen der Wercke und Wunder GOttes in der Natur«, überzeugen kann es hinsichtlich seines »erbauliche[n] Inhalt[s]« und »gottselige[n] Zweck[s]«.22 Erbaulich-lehrhaft ist dieser Zweck in seinem Anspruch, alle Gegenstände der Natur aus »allen möglichen Gesichts-Puncten zu besehen«. Malende Poesie wandelt sich dergestalt zum poetischen Gottesdienst: Dieser sucht die »unendliche Macht und Weißheit des Schöpfers der Natur in der Mannigfaltigkeit seiner Wercke jedermann zur Verwunderung deutlich vor Augen zu legen: Und nach diesem Zweck muß auch die Kunst dieses poetischen Natur-Lehrers […] beurtheilet werden«.23

In diesem Moment haben sich die Kriterien des Urteils verschoben. Weil deutlich geworden ist, dass Brockes’ exzessives Beschreiben den »geordneten Zusammenhang« im »Lauf der Erzehlung« unübersehbar gefährdet und so die »Haupt-Absicht des Poeten« 24 verdunkelt, lässt sich Brockes nur retten, wenn die Fehler in seiner Darstellung zugunsten des erbaulichen Zweckes relativiert werden. Maßlos ampli­ fiziertes Beschreiben ist dann kein Mangel mehr, sondern zwingend erforderlich, um ein religiöses Programm didaktisch zu vermitteln. Gerettet ist Brockes damit nur bedingt. Gerettet jedenfalls nicht für ein gerade von Breitinger gefördertes Dichtungskonzept, das der poetischen Malerei zunehmend eigenständige Spielräume des ›Ergötzens‹ und solche möglichen Welten zugesteht, die in Spannung treten zu traditionalen erbaulichen Zwecksetzungen und metaphysischen Rahmungen. Brockes naturbeschreibender Gottesdienst erscheint in diesem Kontext als überlebtes Phänomen. In der Formel des göttlich inspirierten »poetischen Natur-Lehrers« bringt sich diese Kritik auf den Punkt. Danach hat der maßlos sorgfältige Brockes in erster Linie ein Ziel: Er verbindet in seinen Gedichten deskriptive Naturforschung mit dem Lobpreis Gottes und realisiert damit die um 1700 prominenten Bestrebungen der Physikotheologie, jene auf klärerische Denkform, die naturwissenschaftliche Erkenntnisformen im Gefolge der new science mit den Dogmen der religiösen Offenbarungswahrheit zu vermitteln sucht:25 Die Physikotheologie, so Peter-André Alt bündig, geht davon aus, dass 20 Ebd. 21 Ebd.,

427. 428. 23 Ebd., 432 f. 24 Breitinger: Critische Dichtkunst, Bd. II, 285. 25 Zur ideologischen Vermittlungstätigkeit der Physikotheologie vgl. Kemper: Deutsche Lyrik, 47 – 52. 22 Ebd.,

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»die Gesetze der Natur, die die new science empirisch untersucht, Zeichen für die Weisheit und Güte eines allmächtigen Schöpfers sind. Die wissenschaftliche Erforschung von mechanischen Naturprinzipien, die das 17. Jahrhundert noch als Eingriff in die providentielle Macht des Schöpfers betrachtet hatte, ist für die Physikotheologie legitim, sofern die szientifischen Erkenntnisse an ein theistisches Gottesverständnis gebunden bleiben.« 26

Aus dieser Perspektive ist es dem Fortschritt der Naturwissenschaften zu danken, dass die zweckmäßige Einrichtung der Welt bis ins kleinste Detail dargelegt und so die Existenz Gottes mit systematischer Beweiskraft erleuchtet werden kann. Denkt man an Meiers Vertheidung Baumgartens zurück und an die dort zitierte Unterscheidung zwischen poetischen »Schildereyen« und »eigentlich so genannten Beschreibungen«,27 zwischen Dichtung und Philosophie, so lässt sich festhalten, dass Brockes Verfahren ›naturbeschreibender Forschung‹ Zuordnungsprobleme aufwirft. Das Irdische Vergnügen in Gott gehört ersichtlich nicht auf die Seite philosophischer Analyse, denn es abstrahiert und klassifiziert nicht, sondern liefert im ausführlichen Beschreiben eine Überfülle von miteinander verbundenen »kleinesten und absonderlichsten« Merkmalen. Damit qualifiziert sich Brockes für die poetische Malerei und passt doch nicht in deren Formate. Seine Beschreibungskunst supplementiert vielmehr die Seite der poetischen Schilderey um eine deformierende Facette. Deren disruptives Potential verdankt sich dem Einfluss einer empirisch verfahrenden Naturforschung, die alle möglichen Gegenstände aus »allen möglichen Gesichts-Puncten« betrachtet und so eine Merkmals-Sammlung betreibt, die nur addiert, nicht jedoch begrenzt werden kann. Beschreibung nach Brockes zielt ins Uferlose und tut dies »einmal horizontal, im Aufsuchen immer neuer, immer ent­ legener Gegenstände der Beschreibung, zum anderen vertikal, im Aufspüren immer neuer, immer subtilerer Nüancen und Qualitäten an jedem einzelnen Objekt«.28 3. Bodmer – Baumgarten – Brockes: Sinnliches Erkenntnisvermögen Breitingers Kritik an Brockes lässt sich weiträumiger kontextualisieren, und zwar mit Blick auf eine bestimmte Einschätzung der sinnlichen (unteren) Erkenntnisvermögen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen den unmittelbaren Eindrücken der Sinnesorgane, die einen gegenwärtigen Gegenstand wahrnehmen, und andererseits der Einbildungskraft, der, mit Wolff gesprochen, die Aufgabe zukommt, »Vorstellungen solcher Dinge« hervorzubringen, »die nicht

26 Peter-André Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1995, 472. 27 Meier: Vertheidigung, 23. 28 Hans Christoph Buch: Ut pictura poiesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács, München 1971, 79.



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zugegen sind«,29 dies aber zu einem früheren Zeitpunkt waren. Bodmer, auch er ein Kronzeuge in Meiers Vertheidigung Baumgartens, bringt diese Unterscheidung auf den Punkt und nutzt sie zu einer Argumentation, in der die Einbildungskraft gegen die sinnliche Wahrnehmung ausgespielt und zur treibenden Kraft der Dichtkunst erhoben wird. Entscheidender Mangel der Sinne ist nämlich ihre Abhängigkeit von der Präsenz der wahrgenommenen Objekte. Menschliche Erkenntnis, die gemäß sensualistischer Vorgaben ohne Sinneseindrücke nicht auskommt, wäre demnach auf die Anwesenheit der zu erkennenden Phänomene beschränkt und würde enden, sobald die Empfindung des Gegenstandes verlöscht. Die göttliche Bestimmung des vom tierischen Sinnenwesen unterschiedenen Menschen ist indessen eine andere, und so verdankt dieser dem Schöpfer eine höhere »Kraft«, die uns erlaubt, »Empfindungen, die sie [die Seele] einmahl von den Sinnen empfangen hat, auch in der Abwesenheit […] der Gegenstände nach eigenem Belieben« wieder herzustellen.30 Erst diese Einbildungskraft garantiert den ungehinderten »Fortgang in der Erkenntnis der Dinge« 31 auch dann, wenn diese Dinge aus dem Blick geschwunden sind. In einem weitergehenden Schritt radikalisiert Bodmer die außerordentliche Stellung der Einbildungkraft, indem er sie aus dem reproduzierenden Bezug zu den gegenwartsverhafteten Sinnen herauslöst und als eigenständiges Vermögen zur Erdichtung abwesender, aber möglicher Welten auffasst: »Aber diese Einbildungskraft ist nicht nur die Schatzmeisterinn der Seele, bey welcher die Sinnen ihre gesammelten Bilder in sichere Verwahrung legen, wo sie dieselben zu ihrem Gebrauch abfodern kann; sondern sie besitzet daneben auch ein eigenes Gebiethe, welches sich unendlich weiter erstrecket, als die Herrschaft der Sinnen. Diese sind in dem Umfange der gegenwärtigen sichtbaren Welt eingeschlossen, sie sind alleine mit der Beschauung würcklicher Dinge beschäftigt […]. Alleine, da diese gegenwärtige Welt nicht nothwendig so ist, wie sie jetzo eingerichtet ist, daß sie nicht anderst könnte eingerichtet seyn […], so sind eben so viele andre Welten möglich, als vielmahl die Beschaffenheit, und Ordnung des gegenwärtigen Zusammenhanges kan geändert werden. Nun stehen alle diese unzehligen möglichen Welt=Systemata unter der Bothmässigkeit der Einbildungskraft.« 32

Vor diesem Hintergrund gewinnt Breitingers Kritik an Brockes zusätzliche Nuan­ cierungen. Der Naturforscher Brockes, so wäre mit Bodmer zu sagen, haftet an den Sinnen. Diese verschaffen zwar Zugang zu den historischen Realien der Welt, nicht jedoch zu jenen möglichen Welten, die dem an Änderungspotentialen interessierten Bodmer allererst bedeutsam erscheinen. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, 5. Auf l., Franckfurt/Leipzig 1733, 130 (§ 235). 30 Johann Jacob Bodmer: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter, Zürich 1741, 10. 31 Ebd., 11. 32 Ebd., 13. 29 Christian

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Diese Umgewichtung im Verhältnis der Sinne zur produktiven (poetischen) Einbildungskraft lässt sich auf Baumgarten beziehen und spezifisch präzisieren. Baumgarten entfaltet wie Bodmer die Grundzüge seiner Emprischen Psychologie auf der Basis der Wolff’schen Prämissen. Auch hier obliegt es der Einbildungskraft, schon »Empfundenes« neuerlich hervorzubringen. Sie präsentiert somit »Vorstellungen von Dingen […], die früher gegenwärtig waren«, im Moment der Einbildung aber abwesend sind.33 Anders als bei Bodmer bleibt allerdings die Einbildungskraft auf die einst gegenwärtigen Empfindungen der Sinne bezogen: »[N] ichts«, so schreibt Baumgarten, »ist in der Einbildung, was nicht vorher in den Sinnen war«.34 Die imaginierende Einbildungskraft ist demnach zunächst reproduktiv, produktiv wird sie erst als Voraussetzung des von Baumgarten gesondert diskutierten Dichtungsvermögens. Dieses schöpferische Dichtungsvermögen, das sich der Einbildungskraft gleichsam aufpropft, verbindet und trennt Einbildungen, kombiniert diese frei und bildet so zwar keine neuen Einzelvorstellungen, wohl aber einen neuen Zusammenhang, eine neue, so noch nicht dagewesene Einheit in der Vielheit.35 Die Rolle der von Bodmer diskredierten Sinne ist in Baumgartens Anordnung komplizierter, ähnelt aber im Ergebnis Bodmers Abwendung vom Nachvollzug der sinnlich gegebenen Welt. Im Fahrwasser Lockes unterscheidet Baumgarten sinnliche Empfindungen abhängig davon, ob sie im Durchgang der Sinnesorgane auf Vorstellungen äußerer Objekte bezogen sind oder innere Vorgänge der Seele verwirklicht. Nicht der äußere, den Objekten körperlich zugewandte Sinn, sondern die innere Empfindung als Selbstbeobachtung seelischer Bewegungen spielt Baumgarten zufolge die entscheidene Rolle für das Moment schöpferischer Poiesis. So fordert er für den schönen Geist des Künstlers zwar »scharfe Sinne«, grenzt diese aber ausdrücklich von den äußeren, durch die »Werkzeuge« der Sinnesorgane vermittelten Empfindungen ab. Im Unterschied zu diesen äußeren Empfindungen, die einer »maschinenmäßigen Bewegung« und den unmittelbaren Reaktionen eines Hundes ähneln, verwirklicht der innere Sinn ein »inneres Bewußtsein«, das den derart Empfindenden nicht körperlich affiziert, sondern selbstbewusst erschließen lässt, »was in ihm vorgeht«. Äußere Sinne, die sich der materiellen Flagranz der dinglichen Welt rezeptiv überlassen – Baumgarten wählt hier das Beispiel von »Leute[n]«, die in »große Zerstreuungen z. B. an den Hof geraten«, sich in sinn­ lichen Sensationen verlieren und auf diese Weise den inneren Sinn durch die äußeren verderben 36 –, liefern bestenfalls den »allerersten Grundstoff« des Empfindens. Für die künstlerische Disposition hingegen hat der innere Sinn Vorrang. In ihm empfindet sich die Seele selbst, gewinnt sie Zugang zu den »Veränderungen und 33 Met.

§ 558. Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica/Meta­phy­sik, Hist.-krit. Ausgabe, übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. 34 Ebd., § 559. S. dazu auch Med. § 28. 35 Vgl. Baumgarten: Met. §§ 589 – 594. 36 Alle Zitate aus der »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 86 f. (§ 29).



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Wirkungen ihrer übrigen Vermögen« und kann diese »lenken«.37 Lenken aber muss der innere Sinn seine »übrigen Vermögen«, damit Dichtung überhaupt entsteht. Dies geschieht im Zusammenwirken nicht nur der schon genannten Vermögen – der gegenwartsbezogenen Sinne mit der reproduzierenden Einbildungskraft und dem Neues kombinierenden Dichtungsvermögen. Hinzukommen müssen darüber hinaus Feinsinnigkeit als Vermögen, Übereinstimmung und Verschiedenheit sinnlicher Vorstellungen wahrzunehmen; Gedächtnis als Fähigkeit, Vorstellungen wiederzuerkennen; das auf zukünftige Vorstellungen gerichtete Vorhersehungs- und Erwartungsvermögen; das die Einheit zwischen Zeichen und bezeichneter Sache prüfende Bezeichnungsvermögen; schließlich das Urteilsvermögen, dem die Aufgabe zukommt, über Vollkommenheit oder Unvollkommenheit des künstlerischen Objekts zu befinden.38 Erweist sich aber bei Baumgarten zunächst der innere Sinn als grundlegende Bedingung von Dichtung – einer Dichtung, die sich mit Ursula Franke gesprochen »im Rückgang in das Innere der eigenen Seele« 39 hervorbringt –, so erscheint eine Verbindung zwischen Baumgarten und Brockes weniger plausibel denn je. Brockes, nach Breitinger ein Poet der äußeren Sinne, fiele mit seinem ausschweifenden, der Naturbetrachtung gewidmeten Beschreiben gewissermaßen auf die Seite der Zerstreuungen, dorthin also, wo das »äußere Gefühl […] das innere [verdirbt]«.40 Andererseits liefert Baumgartens Theorie sinnlicher Erkenntnis ja nicht nur eine dem inneren Sinn verpflichtete Produktionsästhetik, in deren Rahmen seine Poetik des Gedichts – die frühe Gedichtschrift als Spezialfall einer Untersuchung aller schönen Künste – zu verorten wäre. In seinen Philosophischen Brieffen erörtert er über diese Wissenschaft des Schönen hinaus auch den Plan einer »Aesthetische[n] Erfahrungs Kunst«,41 die der Erforschung der äußeren Sinne und ihrer Funktion für die empirische Naturerkenntnis gewidmet sein sollte. Ausgerechnet die für Dichtung diskreditierten Werkzeuge der Sinne – die Sinnesorgane, aber auch technischen Instrumente, mit deren Hilfe diese körperlichen Sinne geschärft werden können – spielen in dieser ästhe­t ischen Erfahrungskunst eine eminente Rolle. So müsste die neue Wissenschaft etwa »die Hülffs-Mittel, wodurch die Sinnen erhöht und erweitert werden könnten, anweisen«. In diesem Zusammenhang wäre »von denen Waffen der Sinnen oder denen Werckzeugen zu sprechen, durch welche wir klar zu empfinden in Stand gesetzt werden, was uns sonst nur dunckel geblieben wäre. Man rechnet dahin mit Recht nicht nur Vergrößerungs und Fern-Gläser 37 Aesth. § 30. Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anm. und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007. 38 Vgl. Met. §§ 572 – 623. 39 Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhe­tik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972, 71. 40 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 87 (§ 29). 41 Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Brieffe von Aletheophilus, Frankfurt/Leipzig 1741, 8.

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[…], sondern auch den ganzen Vorrath der Barometers, Thermometers […], Pyrometers u.s.w. die die versuchende Physik braucht, aber daß sie guth seyen und recht gebraucht werden, billig schon voraus setzt.«42

Nun referieren zahlreiche Gedichte von Brockes auf die experimentelle Naturforschung, etwa die Optik Newtons, oder sie exponieren ein Interesse an den instru­ mentellen Waffen der Sinne, insbesondere an Fernglas und Mikroskop. Qualifizierte sich damit Brockes für Baumgartens ästhe­tische Erfahrungskunst und die Erforschung der äußeren Sinne, so fehlte ihm zum Dichten erneut Entscheidendes. Wie schon explizit bei Breitinger geriete auch aus Baumgartens Perspektive das Irdische Vergnügen in Gott ins Zwielicht einer sinnlichen Aktivität, die den Rang der in erster Linie innerlich mobilisierten Dichtung schwerlich beanspruchen kann. Andererseits bleibt im bedingten Lob Breitingers, seinen Hinweisen auf Brockes’ sprachlichen Wohlklang, vielschichtig oszillierende ›Beywörter‹ und Metaphern die Anerkennung für sinnliche Nuancierungen wirksam: Brockes Gedichte bestechen, so ließe sich mit Wolfgang Preisendanz sagen, durch ihre »exemplarische Demonstration einer die sinnliche Dimension forcierenden Naturanschauung«.43 Von hier aus ergibt sich eine Verbindung zu Baumgarten einmal mehr mittelbar. Mit ihrer eigentümlichen (naturforschenden) Ausarbeitung der »sinnliche[n] Dimension« reibt sich vielleicht Brockes Naturbeschreibung an Baumgartens innerem Sinn der dichterischen Disposition, sie modelliert aber und intensiviert durchaus Artikulationsmodi sinnlicher Wahrnehmung. Sie präsentiert »›Ästhetisches‹« – so noch einmal Preisendanz, der hier als einer der ganz wenigen eine Verbindung Brockes-Baumgarten überhaupt erwägt – »im ursprünglichen Sinn der Aisthesis, wie er denn auch Baumgartens folgenreicher Inauguration des Begriffs Aesthetica im Hinblick auf die Dichotomie von sinnlicher Erfahrung und vernünftiger Erkenntnis zugrundeliegt«.44

Brockes’ Naturgedichte, so wäre danach zu überlegen, präsentieren Aisthesis im basalen Sinne einer allgemeinen Erforschung der »sinnliche[n] Dimension« – von deren Medien, Strukturen und Verfahren. Wo diese ›materiale‹ Aisthesis Baumgartens Begriff ›Aesthetica‹ zugrundeliegt, liegt sie auch deren Aus- und Eingrenzungen voraus – bestimmt sich Aisthesis im weiten Sinne einer jegliche sinnliche Aktivität umfassenden Wissenschaft und noch diesseits der Unterscheidung zwischen Gedichtpoetik und technisch-ästhe­t ischer Erfahrungskunst.45 42 Ebd. 43 Wolfgang

Preisendanz: »Naturwissenschaft als Provokation der Poesie: das Beispiel ­Brockes«, in: Frühaufklärung, hg. von Sebastian Neumeister, München 1994, 488. 44 Ebd. 45 Auch von Brockes her aktualisiert sich dann eine Perspektive, die Baumgartens Umschrift der zeitgenössischen Wissensordnung im Kontext einer frühen Fundierung der Kulturwissenschaften liest. Vgl. Anselm Haverkamp: »Wie die Morgenröte zwischen Nacht und Tag. Alexander Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschaft in Frankfurt an der Oder«, in: DV js 76 (2002), 3 – 26.



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4. Baumgarten: Extensive Klarheit Den Begriff ›Aesthetica‹ gebraucht Baumgarten erstmals in seiner 1735 veröffentlichten Gedichtschrift Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, gut zehn Jahre nachdem der erste Band des Irdischen Vergnügens in Gott erschienen war, gut zehn Jahre bevor der letzte den Leser erreicht. Folgt man Preisendanz’ knappem Hinweis auf Baumgarten und will man darüber hinausgehend die »sinnliche Dimension« in Brockes’ Darstellungskunst mit der von Baumgarten neu verhandelten Dignität der unteren Erkenntnisvermögen konkret ins Verhältnis setzen, so bietet sich Baumgartens Begriff der ›extensiven Klarheit‹ an, ist doch dieser Begriff explizit als Schnittstelle zwischen Erkenntnistheorie und poetischer Darstellung konzipiert. Das Gedicht,46 Baumgartens Definition zufolge eine »vollkommene sensitive Rede«,47 präsentiert sinnliche (sensitive) Vorstellungen in einem vollkommenen Zusammenhang. Vollkommen ist dieser Zusammenhang, so definieren dies zeitgenössische Philosophie (Leibniz) wie ontologische Schönheitslehren, weil er sinnliche Vorstellungen als geordnete Einheit des Mannigfaltigen bzw. Übereinstimmung des Vielen zu einem Ganzen präsentiert. Was bedeutet in diesem Zusammenhang ›Vorstellung‹? Eine Vorstellung enthält Einheiten von Merkmalen, mit deren Hilfe es gelingt, den Gegenstand der Vorstellung zu bestimmen. Sinnliche Vorstellungen im Besonderen bestimmen ihren Gegenstand auf eine Weise, die Baumgarten im Gefolge von Descartes und Leibniz klar-verworren nennt. Das heißt: Sinnliche Vorstellungen mobilisieren solche Merkmale, die zum (klaren) Wiedererkennen des andernfalls unkenntlich (dunkel) bleibenden Gegenstandes hinreichen – sie erfassen diesen Gegenstand als Ganzen, indem sie ihn von anderen (ähnlichen) unterscheiden. Darüber hinausgehende Gegenstandsbestimmungen bleiben im Falle der sinnlichen Vorstellung verworren. Das erkennende Subjekt ist hier anders als im Falle der vom Verstand gebildeten klar-deutlichen Vorstellungen nicht in der Lage, die Einzelmerkmale des vorgestellten Gegenstandes weiter zu analysieren, ihn im Zuge dessen »als zugehörig zu einer bestimmten Art oder Gattung zu erkennen«48 und im Sinne der wesentlichen Kennzeichen einer Nominaldefinition begrifflich-distinkt (deutlich) zu erschließen. Baumgartens Konzept der extensiven Klarheit präzisiert diese Unterscheidung mit Blick auf das Gedicht. Extensiv klare (sinnliche) Vorstellungen gewinnen dabei nicht nur eine besondere poetische Dignität, sie vollziehen darüber hinaus eine spezifische Form der Erkenntnis, die – obwohl anders geartet als die logisch-­ begriffliche Analyse des Verstandes – von eigentümlicher Qualität und darin ge46

Zur wissensgeschichtlichen Situierung von Baumgartens Theorie des Gedichts vgl. Berndt: Poema/Gedicht, bes. 1 – 11, sowie Stefanie Buchenau: »Die Sprache der Sinnlichkeit. Baumgartens poetische Begründung der Ästhe­tik in den Meditationes philosophicae«, in: Aufklärung 20 (2008), 151 – 173. 47 Med. § 7. 48 Mirbach: »Einführung«, in: Baumgarten: Ästhe­tik, Bd. 1, XXXIII.

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rade relevant ist. In § 16 seiner Gedichtschrift tritt extensive Klarheit an die Seite deutlicher Erkenntnis und qualifiziert sich damit zur eigenständigen Form des Denkens: »Wenn in der Vorstellung A mehr vorgestellt wird als in B, C, D usw., dennoch alle verworren sind, so wird A extensiv klarer als die übrigen sein.   Diese Einschränkung mußte hinzugefügt werden, damit man diese Grade an Klarheit von den genügend erkannten unterscheidet, welche durch die Deutlichkeit der Merkmale zur Vertiefung der Erkenntnis hinführen, und welche eine Vorstellung intensiv klarer als eine andere machen.«49

Erkenntnisprozesse können demnach Klarheit steigern, indem sie analytisch (intensiv) in die Tiefe gehen – dann zergliedern sie den vorgestellten Gegenstand in seine Einzelmerkmale und verkürzen diese auf begriffliche (abstrakte) Distinktio­ nen; oder sie können Klarheit steigern, indem sie eine Vorstellung »mit neuen Merkmalen anreicher[n]«, die Anzahl der Merkmale auf diese Weise extensiv erhöhen, ohne allerdings die Vorstellung »im ganzen in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen« und definitorisch zu verdeutlichen.50 In den §§ 17, 18 und 19 seiner Gedichtschrift führt Baumgarten die erkenntnistheoretische Dimension extensiver Klarheit weiter aus: »§ XVII. In extensiv sehr klaren Vorstellungen wird mehr sensitiv vorgestellt als in weniger klaren […]. Folglich tragen sie mehr zur Vollkommenheit des Gedichtes bei […]. Daher sind extensiv klarere Vorstellungen äußerst poetisch […]. § XVIII. Je mehr die Dinge bestimmt werden, desto mehr umfassen die Vorstellungen von ihnen. Je mehr indessen in einer verworrenen Vorstellung angehäuft wird, desto extensiv klarer […] und desto poetischer […] wird sie. Folglich ist es poetisch, in einem Gedicht die vorzustellenden Dinge so viel wie möglich zu bestimmen […]. § XIX. Individuen sind durchgängig bestimmt. Folglich sind Einzelvorstellungen besonders poetisch […].«

Extensive Klarheit kulminiert in der Vermehrung verworrener Vorstellungen. Gleichzeitig verknüpft Baumgarten diesen gesteigerten Reichtum sinnlicher Bestimmungen mit der im Gedicht zur Einheit gebrachten Mannigfaltigkeit (Vollkommenheit). Je größer die mannigfaltig-geordnete Fülle sinnlicher Vorstellungen, umso vollkommener und poetischer ist das Gedicht. § 19 erschließt dann extensive Klarheit in ihrer erkenntnistheoretischen Qualität: Mit Wolff definiert Baumgarten das Individuum als durchgängig bestimmtes Phänomen. Gemäß dieser Logik präsentieren sich Individuen, das heißt Einzeldinge, Personen und Ereignisse, »als ›qualitativ Singularisches‹, in der größtmöglichen Fülle« ihrer Merkmale, die sie als Einzeldinge in ihrer »je besonderen Diesheit […] ausmachen«.51 Im Un49 Med.

§ 16. »Einleitung«, in: Baumgarten: Meditationes, XX. 51 Mirbach: »Einführung«, in: Baumgarten: Ästhe­tik, Bd. 1, XLIII. 50 Paetzold:



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terschied zur logischen Erkenntnis, die vom Individuum ausgehend klassenbildend verfährt, indem sie die Fülle der Merkmale auf die Gemeinsamkeiten einer Art oder Gattung verkürzt, das heißt abstrahiert, konzentriert sich die sinnliche Erkenntnis des Gedichts auf »die möglichst reichhaltige Menge von Merkmalen«, in der sich »das Eigentümliche und nicht Vergleichbare« eines individuellen Gegenstandes konkretisiert.52 Danach offeriert das Gedicht Einzelvorstellungen, in denen sich das Individuell-Singuläre verwirklicht, und koordiniert diese Einzelvorstellungen zur komplexen vorbegrifflich-sensitiven Struktur. Wie dies im einzelnen Gedicht aussehen könnte, wie dessen Form die Erkenntnisleistung extensiver Klarheit sprachlich erzeugt, präzisiert Baumgarten im weiteren Verlauf seiner Argumentation unter inventorischen, kompositorischen und rhetorisch-sprachlichen Gesichtspunkten. Ausschlaggebend ist dabei die Assoziationsdynamik koexistierender sinnlicher Vorstellungen, in der sich die umfassende Bestimmung des Gegenstandes, seine mannigfaltig facettierte Individualität, zur Geltung bringt. Diese extensive Fülle verwirklicht sich im Gedicht in Gestalt solcher Formen, die vielsinnige Kennzeichen komplex verschalten und miteinander oszillieren lassen, anstatt sie begrifflich (deutlich) voneinander zu separieren. So erzeugen etwa Aufzählungen, Beschreibungen und Beispiele einen Zugewinn an extensiver Klarheit, weil sie auf der Ebene poetischer Gedanken (inventio) nicht die abstrakte Definition, sondern individuelle, konkret situierte Fälle anbieten. Auch Vorstellungen, die sich mit anderen Vorstellungen als in »Raum und Zeit Mitwirkliche[s]«,53 als das korrespondierende Vergangene oder zukünftig zu Erwartende verknüpfen, bilden im Verbund eine komplexe Gesamtvorstellung. Auf der Ebene der Worttechnik (elocutio) konzentriert sich Baumgarten auf Wort- und Gedankenfiguren, Tropen, Metrum und Reim. In jedem der von Baumgarten diskutierten sprachlichen Verfahren zählt die Vermehrung sensitiv verdichteter (statt distinkter) Merkmale im Wege komplexer Merkmalsverknüpfung. Dies geschieht je spezifisch in figuralen Hinzufügungen, beim Gebrauch von Metaphern, Synekdochen, Allegorien und Epitheta oder schließlich im mannigfaltigen (explizit hörbaren) Zusammenspiel des Klangmaterials sowie der Rhythmisierung. Bemerkenswert ist in diesem Kontext eine Bemerkung Baumgartens über die Tropen: »Eine uneigentliche (bildliche) Bedeutung finden wir in einem uneigentlichen Wort. Da aber die uneigentlichen Ausdrücke meistens die eigentliche Bezeichnung für eine sensitive Vorstellung sind, so sind die Figuren poetisch: 1. Weil die Vorstellung, die durch figürliche Umschreibung hinzutritt, sensitiv und damit poetisch ist […]. 2. Weil sie, d. h. die poetischen Figuren, zusammengesetzte verworrene Vorstellungen verschaffen […].« 54 52 Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie, Ästhe­tik, Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990, 44. 53 Med. § 32. 54 Ebd., § 74.

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Die unter 1 und 2 genannten Erläuterungen – der Hinweis auf hinzutretende Umschreibung und zusammengesetzte Vorstellungen – unterstreichen einmal mehr die vielsagende Komplexität poetischer (hier: tropologischer) Sinnbildungen. Bemerkenswert ist indessen die hier aus der Sicht extensiver Klarheit vollzogene »Neuinterpretation« 55 der rhetorischen Figurenlehre: Wenn »uneigentlich[e] Ausdrücke« angesichts sensitiver Vorstellungen die »eigentliche[n]« sind, dann wären in diesem Fall Metaphern keine Metaphern, sondern Katachresen. Anders als Metaphern, die (gemäß der hier waltenden ›Substitutionstheorie‹) schon zur Verfügung stehende ›eigentliche‹ Begriffe ersetzen, überträgt die Katachrese einen Ausdruck vom einen zum anderen Ort, wenn kein eigentliches Wort vorhanden ist, wenn also im eigentlichen (denotierenden) Sprechen ein Mangel besteht. Nicht nur gerät von hier aus die distinkte Unterscheidung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sprachgebrauch in Bewegung. Es zeigt sich darüber hinaus eine für die Katachrese eigentümliche Subjektproblematik, die dem Umstand geschuldet ist, dass die kata­ chrestische Kompensation eines sprachlichen Mangels als von dieser mangelhaften Sprache notwendig erzwungene, tendenziell unbemerkte Übertragung aufgefasst werden kann.56 Aus der Sicht extensiver Klarheit erweist sich somit die rhetorische Figurenlehre nicht mehr als kalkulierte (ersetzbare) Worttechnik, sondern grundlegendes (und unmerklich gebrauchtes) Material auf dem Weg zur Erfahrung des ganzen Menschen im Vollzug seiner komplexen Erkenntnisformen. Mit Blick auf Brockes, im Rückblick genauer auf die von Breitinger erwähnten Spezifika seiner Gedichte, erscheinen insbesondere Baumgartens Anmerkungen zu Beschreibungen und Epitheta von Interesse. Beschreibungen befördern Baumgarten zufolge extensive Klarheit, weil sie »Aufzählungen verschiedener beliebiger Bestandteile in etwas Vorgestelltem« 57 präsentieren, einen Gegenstand in miteinander verbundene Kennzeichen zerlegen und so die Menge der Bestandteile eines Gegenstandes bzw. die Mannigfaltigkeit seiner Kennzeichen vor Augen stellen. Auch Ephitheta, die von Breitinger an Brockes gelobten ›Beywörter‹, steigern extensive Klarheit, weil sie ihrem Substantiv eine ›zusammengesetzte Vorstellung‹ zutragen. Gleichzeitig wird am Epitheton ein Problem kenntlich, das schon das Beschreiben – Breitingers Kritik an Brockes hat dies explizit herausgestellt – fundamental bedroht. Epitheta können mit Baumgarten gesprochen »weitschweifi[g]« sein, und dann bezeichnen sie solche Vorstellungen, die »sehr wenig mit dem Thema verbunden« sind.58 Solche Epitheta, ihren Extemfall bilden ›überflüssige‹ Tautologien, sind unbedingt zu vermeiden, weil sie mit Baumgarten gesprochen: den thematisch organisierten Zusammenhang des Gedichts in seiner strukturierten (vollkommenen) Einheit des Mannigfaltigen gefährden. Baumgartens Plädoyer für das Thema lässt sich mit Breitingers Sorge um den ›geordneten Zusammenhang‹ in Brockes’ »Einleitung«, in: Baumgarten: Meditationes, XXXII. Vgl. Patricia Parker: »Metapher und Katachrese«, in: Die paradoxe Metapher, hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 1998, 312 – 331. 57 Med. § 54. 58 Ebd., § 87. 55 Paetzold: 56



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naturbeschreibenden Gedichten engführen. Während indes Breitinger diese gef ährdete Ordnung durch die Einheit des erbaulich-lehrhaften Zwecks neutralisiert und de-poetisiert, bezieht sich das Thema bei Baumgarten zunächst auf die formale Struktur des Gedichts und ist Anlass, die Bildungsgesetze dieser Struktur genauer zu bestimmen: »Dasjenige, dessen Vorstellung den zureichenden Grund der anderen in einer Rede vorkommenden Vorstellungen enthält, den seinen aber nicht in anderen hat, ist das Thema.« 59

Das Thema gewährleistet mit andern Worten die Verknüpfung mannigfaltiger poetischer Vorstellungen zu einem von innen her organisierten Ganzen. Dabei ist das Thema nicht Teilelement neben anderen im Gedicht vorkommenden Vorstellungen oder Konsequenz einer ihm vorausgehenden Grundlegung. Als zureichender Grund, wonach mit Baumgartens (an Leibniz und Wolff geschulter) Ontologie gesprochen »zu erkennen ist, warum etwas ist«,60 bildet das Thema vielmehr die bewirkende Bedingung, von der sämtliche, das Gedicht im Ganzen konstituierende Vorstellungen als deren Folge abhängen. Eine lückenlose Verknüpfung ist dabei besonders poetisch, garantiert sie doch eine »Ordnung« 61 des Gedichts, in der das Mannigfaltige zur vollkommenen Einheit gebracht ist, in der alle Erscheinungen von einem Thema determiniert werden und somit weder mehrere konkurrierende (und dann nicht miteinander verknüpfte) Themen auftauchen noch eine »ungebändigt[e] Zügellosigkeit« der Einbildungskraft, die solche Vorstellungen mobilisiert, »›die nicht mit dem Hauptsatz (Thema) zusammenstimm[en] und passend an ihm häng[en]‹«.62 Baumgarten nennt das Kompositionsverfahren der nach Grund und Folge organisierten Ordnung im Gedicht die »lichtvolle Methode«.63 Er mobilisiert damit die »tradiert[e] Wahrheitsmetaphorik des Lichts«,64 in dessen Schein anschauliche Gewissheit, das evidente ›Hervorleuchten‹ der im Gedicht verhandelten Sache dann zustande kommt, wenn das Thema in konsistenter Schrittfolge entfaltet, wenn sinnliche Vorstellungen »nach und nach extensiv klarer und klarer« 65 entwickelt werden. Wichtig zur kontinuierlichen Entfaltung von Ordnung ist die in diesen Prozess chrono-logisch eingetragene Richtung; die Richtung, wenn man so sagen will, einer Art poetischen Argumentation: »[D]ie vorangehenden Vorstellungen« dürfen das Thema nicht klarer vorstellen als die »nachfolgenden«; anders gesagt: Die »späteren Vorstellungen [müssen] das Thema klarer wiedergeben als die früheren«.66 59

Ebd., § 66. § 14. 61 Med. § 69. 62 Ebd., § 68. Baumgarten zitiert hier die Ars Poetica von Horaz. 63 Ebd., § 70. 64 Rüdiger Campe: »Bella evidentia. Begriff und Figur von Evidenz in Baumgartens Ästhe­ tik«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49/2 (2001), 245. 65 Med. § 71. 66 Ebd. 60 Met.

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Das heißt zunächst, dass im Fortgang des Gedichts nicht klare (wiedererkennbare) Vorstellungen von dunklen (ganz diffusen, unzugänglichen) abgelöst werden dürfen, weil dies die schrittweise Erhellung des Themas zum Stillstand brächte. Das heißt weiter, dass sich klar-wiedererkennbare Vorstellungen sukzessive vermehren müssen, indem je andere, voneinander differierende (mannigfaltige) Merkmale so aufeinander folgen, dass sie aufs gleiche Thema als ihren bedingenden Grund bezogen dieses Thema nach und nach ausfalten und verdichten. Die inhärente Spannung dieser lichtvollen Methode offenbart sich im paradoxen Charakter des Gebots: Danach liegt das Thema dem Gedicht als Gegebenes voraus und kann doch zugleich vom Verlauf des Gedichtes verunklärt werden. Das nach Grund und Folge zu entfaltende Thema und mit ihm die Ordnung des Vorgegebenen könnte sich also im Durchgang des Gedichts der Erkennbarkeit entziehen. Beiläufig erwähnt Baumgarten, welche weiteren Referenzen hier im Spiel sind: »Übrigens kann man die dieser Regel analoge Regel der Ordnung angeben, nach welcher die Dinge in der Welt einander folgen, um den Ruhm des Schöpfers zu offenbaren, das höchste und letzte Thema eines gewaltigen Gedichtes, wenn man so sprechen darf.« 67

Die fiktive Welt des Gedichts teilt mit der von Gott geschaffenen wirklichen Welt das Verknüpfungsprinzip des zureichenden Grundes. Sie teilt damit die metaphysische Grundauffassung größtmöglicher Harmonie im perfekten Zusammenhang der – mit Leibniz gesprochen: besten aller möglichen Welten. Dem Gedicht kommt in dieser Engführung die Aufgabe zu – und damit fiele sein Thema mit dem höchsten Thema des Schöpfers zusammen –, die vollkommene Weltordnung Gottes in der eigenen fiktiven Welt anschaulich zu machen. Das Thema des Gedichts wäre somit metaphysisch abgesichert, der Prozess des Dichtens in seinen Dienst gestellt. Weitere strukturelle Maßgaben ergeben sich folgerichtig. So können »weniger verbundene Vorstellungen aus einem Gedicht verschwinden«, weil sie als überflüssige Zutat den »Grad der poetischen Vollkommenheit beinträchtig[en]«.68 So ist es »ratsam […], in einem Gedicht manches wegzulassen«, etwa dann, wenn dessen Thema den Verzweigungen kontingenter Ereignisse gewidmet ist: »Denn wollte jemand den ganzen Zusammenhang eines historischen Themas erzählen, dann müßte er einen außerordentlich großen Teil der Welt, um nicht zu sagen, die ganze Geschichte aller Zeitalter überblicken.« 69

Ein historisches Thema, dessen Vorstellung dem »Gesetz der Wahrnehmung und Erinnerung«,70 d. h. den unüberschaubaren Vorkommnissen der erfahrbaren Welt folgt, birgt bereits in seinen Anfangsbedingungen das Formen sprengende Potential 67 Ebd. 68

Ebd., § 75. Ebd., § 76. 70 Ebd., § 72. 69



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unendlicher Verknüpfungen und gefährdet dergestalt die zu erzielende vollkommene Einheit des Gedichts. An dieser Stelle lässt sich erneut Brockes ins Spiel bringen, der »in seinen Beschreibungen«, so noch einmal Breitinger, »mehr ein Historicus als ein Poet ist«,71 der das tatsächlich Vorkommende und Wahrnehmbare erforscht und dabei den Gefährdungen struktureller Deformation offenbar nicht entkommt. Führt dies im Falle Breitingers zur Verabschiedung von Brockes als Dichter, einem Urteil, das mit Blick auf Brockes’ Image und generell hinsichtlich beschreibender Literatur Schule gemacht hat,72 so wäre zu überlegen, ob nicht der von Baumgarten vorgeschlagene Begriff der extensiven Klarheit – gerade weil er nicht dem bündigen literaturreformatorischen Urteil zuarbeitet, sondern zunächst die ›Technik‹ des Gedichts epistemologisch erschließt – größere Flexibilität für eine Brockes-Lektüre vorhält. Baumgarten führt diesen Begriff ein, um die spezifische Erkenntnisleistung sinnlicher Vorstellungen anhand ihres Paradefalls ›Gedicht‹ als vollkommene sensitive Rede zu bestimmen. Diese eigentümliche Erkenntnis, die dank ihrer voroder unbegrifflichen Repräsentationen und komplexen Vernetzungspotentiale nur den unteren Erkenntnisvermögen offen steht, ist die Erkenntnis des zur Einheit gebrachten Mannigfaltigen als Erkenntnis des konkreten, vielfältig und singulär bestimmten Individuums. Das Medium zur Erzeugung sinnlicher Vorstellungen ist im Gedicht die rhetorische Figurenlehre, die, aus der Sicht extensiver Klarheit reinterpretiert, zur fundierenden Materialität menschlicher Erkenntnisvermögens aufrückt. Vor dem Hintergrund von Breitingers Brockes-Kommentaren und mit Blick auf die von Baumgarten erörterten sprachlichen Verfahren sind es in diesem Zusammenhang vor allem Beschreibungen und Epitheta, von denen her eine Brücke zu Brockes und der Lektüre des Irdischen Vergnügens in Gott geschlagen werden kann. Dabei sollen die im Verlauf meiner Argumentation aufgebrachten Zweifel am Verbund Baumgarten-Brockes – sie entzündeten sich an Baumgartens Priorisierung des inneren Sinns für die künstlerische Disposition bei gleichzeitiger Auslagerung der für Brockes wichtigen äußeren Sinne in eine ästhe­tische Erfahrungskunst, die einmal mehr der Naturforschung zugeschlagen wird; sie entzündeten sich ferner an einer Konzeption des Themas, die den ausschweifenden Potentialen rhetorischer Form- und Sinnbildungen (Brockes’ defigurierenden Beschreibungen) Einhalt gebietet –, sollen genau diese Zweifel den Gang der Lektüre kritisch begleiten.

Critische Abhandlung, 432. Drügh: Ästhe­tik der Beschreibung, 34 – 36.

71 Breitinger: 72 Vgl.

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5. Brockes: Das Firmament Vollständig lautet der Titel von Brockes’ Opus magnum Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, und Vollständigkeit wird darin gerade zum Problem. So verknüpft die nachgestellte Spezifikation der Gedichte Naturforschung 73 mit Erbauung (bzw. »Sitten-Lehre« 74) und annonciert dergestalt die physikotheologische Orientierung des gesamten Projekts. Dieses versucht – denn gemäß physikotheologisher Prämissen ist »jedes Werk der Natur […], weil es zu Gottes Schöpfung gehört, wert, in all seinen Teilen und Stadien beschrieben zu werden« – die Welt der Erscheinungen in ihrer makro- wie mikrokosmischen »Vollständigkeit« zu erschließen.75 Ausgezogen zwischen Sandkorn und Weltall widmen sich die über nahezu drei Jahrzehnte entstandenen Bände des Irdischen Vergnügens in Gott einer umfassenden »Bestandsaufnahme«, die wie im Falle »andere[r] enzyklopädische[r] Unternehmungen der Zeit […] unabschließbar [bleibt]«. Entsprechend »mündete« die Unternehmung »in die nicht enden wollende Abfolge der Bücher: Neun Bände umfasst das Projekt, dessen Ende erst vom Lebensende des Autors bestimmt wird.«76 Breitingers Verdikt über Brockes als weitschweifigen ›Historicus‹ und Naturforscher, aber auch Baumgartens allgemeine Empfehlung, im Interesse der überschaubaren poetischen Struktur nicht »den ganzen Zusammenhang eines historischen Themas«77 und alle damit verbundenen Vorkommnisse zu präsentieren, finden in Brockes’ grenzenloser Opulenz ihren Anhalt. Aus dieser poetologischen Perspektive muss Vollständigkeit Vollkommenheit gefährden, wird sie die nach Grund und Folge geordnete Einheit des Mannigfaltigen maßlos dehnen. Die im größeren Bogen des Irdischen Vergnügens in Gott augenfällige Entgrenzung wiederholt sich im kleineren des einzelnen Gedichts; und sie bestimmt auf 73

Der Hinweis »Physicalisch« in seinem Bezug auf die Physik bezeichnet »im 18. Jahrhundert die Naturwissenschaften überhaupt, sie umschließt als Physica generalis die allgemeine Naturlehre wie die Physik in unserem verengerten Sinn, als Geographia physica gilt die natürliche Erd­ beschreibung, als Physica specialis die drei Erdreiche (Mineralogie, Botanik, Zoologie) sowie Chemie und Physiologie, und zu oberst steht die Astronomia physica. Diesem umfassenden Begriff von Physik liegt im 18. Jahrhundert die Dichotomie von physikalischer und moralischer Welt zugrunde«, Preisendanz: Naturwissenschaft als Provokation, 473. 74 In der ersten Auf lage (von insgesamt 7) des 1. Bandes lautet der zweite Teil des Titels: »[…] bestehend in verschiedenen aus der Natur und Sitten-Lehre hergenommenen Gedichten«. Der vorliegende Aufsatz bezieht sich auf die zuletzt erschienene und gegenüber der ersten stark erweiterten Ausgabe des Jahres 1744, die als Druckvorlage auch der seit kurzem neu vorliegenden Werkausgabe von Bd. 1 des Irdischen Vergnügens in Gott vorliegt. Vgl. Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Erster und zweiter Teil, hg. und kommentiert von Jürgen Rathje, Göttingen 2013. 75 Günter Peters: Die Kunst der Natur. Ästhetische Reflexion in Blumengedichten von Brockes, Goethe und Gautier, München 1993, 150. 76 Barbara Hunfeld: Der Blick ins All. Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Brockes, Jean Paul, Goethe und Stifter, Tübingen 2004, 50. 77 Med. § 76.



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besondere Weise den Anfang des Projekts, der mit einem viel zitierten Gedicht und dem Blick ins Unendliche einsetzt: »Das Firmament.

Sir. XLIII, 1. Man siehet seine Herrlichkeit an der mächtigen grossen Höhe, an dem hellen Firmament, an dem schönen Himmel.

Als jüngst mein Auge sich in die Sapphirne Tieffe, Die weder Grund, noch Strand, noch Ziel, noch End’ umschrenckt, Ins unerforschte Meer des holen Luft-Raums, senckt’, Und mein verschlungner Blick bald hie- bald dahin lieffe, Doch immer tieffer sanck; entsatze sich mein Geist, Es schwindelte mein Aug’, es stockte meine Seele Ob der unendlichen, unmäßig-tieffen Höle, Die, wohl mit Recht, ein Bild der Ewigkeiten heisst, So nur aus Gott allein, ohn’ End’ und Anfang, stammen. Es schlug des Abgrunds Raum, wie eine dicke Fluht Des Boden-losen Meers auf sinckend Eisen thut, In einem Augenblick, auf meinen Geist zusammen. Die ungeheure Gruft voll unsichtbaren Lichts, Voll lichter Dunckelheit, ohn’ Anfang, ohne Schrancken, Verschlang so gar die Welt, begrub selbst die Gedancken; Mein gantzes Wesen ward ein Staub, ein Punct, ein Nichts, Und ich verlor mich selbst. Dieß schlug mich plötzlich nieder; Verzweiflung drohete der gantz verwirrten Brust: Allein, o heylsams Nichts! glückseliger Verlust! Allgegenwärt’ger Gott, in Dir fand ich mich wieder.« 78

Zunächst fällt auf, dass hier ein Dichter der äußeren Sinne, der vornehmlich das Sehen zelebriert, indem er das Gesehene aus »allen möglichen Gesichts-Puncten«79 beschreibt, das Sehen auf bestimmte Weise ins Leere laufen lässt. Es ist ein Sehen gerade nicht des Gegenständlichen, sondern eines, das in konturlose Tiefe sinkt und dort »verschlung[en]« wird. Diese Wahrnehmung des endlosen Raums – der annoncierte Kontext des »[U]nerforschte[n]« bringt sie in die Nähe des ›kopernikanischen Schocks‹ 80 – scheint Fernrohr und astronomisches Wissen auch ohne Irdisches Vergnügen in Gott, 9. Critische Abhandlung, 432. 80 Preisendanz: Naturwissenschaft als Provokation, 471 f.: »Welche Umwälzungen und welche Expansionen auf die Nenner Kopernikanische Wende und New Science gebracht sind, bedarf hier keiner näheren Erläuterung. Sie zeitigen bekanntlich zwei entgegengesetzte Wirkungen: auf der einen Seite bedeutete die Destruktion des geozentrischen Weltbildes […] zugleich die 78 Brockes:

79 Breitinger:

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explizite Erwähnung 81 inkorporiert zu haben, anders wäre das Firmament nicht zum unermesslichen Raum geweitet. Offensichtlich gewinnt das Gedicht aus dem haltlosen Driften des Blicks eine Situation des bedrohlich Erhabenen, die noch nicht ins subjektive Vermögen erhabener Vernunft, sondern die unendliche Größe Gottes mündet und diese Größe als ›Bild‹ repräsentiert. Bemerkenswert erscheint die Proportion der textuellen Anlage: Am Ende erst (und lediglich vorbereitet durch einen knappen Hinweis auf das Bild göttlicher Ewigkeiten), in den letzten beiden Versen, liefert das Gedicht den physikotheologischen »Sprung« 82 als diskursiven Übertritt zwischen Naturbetrachtung und Lobpreis Gottes. Hier transformiert sich der im heliozentrischen Zeitalter erfahrene Orientierungs-»Verlust« eines zum winzigen »Staub«, »Punct« oder »Nichts« depotenzierten Menschen in das Glück des durch die allgegenwärtige Omni­potenz Gottes wieder aufgerichteten ›Ich‹. Als ob diese Wendung fragil sein könnte und die Wucht der bodenlosen Erschütterung nicht ganz balancierte, sekundiert das christliche Eingangsmotto, mit dem sich die letzten beiden Verse zur theologischen Rahmung der erhabenen Sinn(en)krise schließen. Man könnte überlegen, inwieweit auch der gerahmte Binnenteil einem theologischen Desiderat entgegenkommt, indem er nämlich den ins Endlose sinkenden Blick der – aus ortho­ doxer Sicht – bekämpften Naturforschung »mit der christlichen Vorrangstellung der Selbsteinkehr, der Sorge um das Seelenheit« 83 vermittelt. Das Sinken ins noch zu erforschende Weltall transformierte sich so gesehen in die kontemplative Versenkung ins erschütterte menschliche ›Ich‹. Indessen gilt diese Selbsteinkehr weniger der religiösen Ich-Erkundung als einer bestimmten sinnlichen Wahrnehmung, einer hin- und herbewegten Er-fahrung in buchstäblicher Bedeutung: Was die betrachtende Instanz mit ihrem Auge erfährt, ist eine Sehbewegung, die aus der Negation einer (durch tradierte Weltbilder) »umschrenckt[en]« Sicht hervorgeht. Dass diese Erfahrung schwindeln lässt, betont die Nähe zum Physischen: Erfahren wird die Weite der Sinnlichkeit selbst, eine reine Empfänglichkeit für Eindrücke, die außerhalb jeder Rahmung (durch die herkömmliche aristotelisch-ptolemäische Sphärenbegrenzung) nicht in Erkenntnis, sondern das Nichts des Erkennenden umschlägt. Die Schwellensituation, die dieses kosmologische Dezentrierung des Menschen, eine schockierende Kränkung des menschlichen Selbstverständnisses […]. Auf der anderen Seite resultierte insbesondere aus dem heliozentrischen Schock und aus der Legitimation des rigorosen Erkenntnisverlangens durch die Kette der großen astronomischen und physikalischen Entdeckungen ein Hochgefühl im Bewußtsein der Souveränität der menschlichen Vernunft und Erkenntniskraft.« Vgl. ferner Kemper: Deutsche Lyrik, 52 – 61, sowie Walter Erhart: »Verbotene Bilder? Das Erhabene, das Schöne und die moderne Literature«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), 85 f. 81 Optische Instrumente, das Fernrohr und Mikroskop, sowie der Verweis auf die zeitgenössischen new sciences (Newton) spielen in zahlreichen Gedichten Brockes’ eine Rolle und werden dort ausdrücklich benannt. 82 Uwe-Karsten Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung. Poesie als Sprache der Versöhnung. Alter Universalismus und neues Weltbild, Stuttgart 1974, 143. 83 Preisendanz: Naturwissenschaft als Provokation, 473.



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Gedicht zu gestalten sucht, ist der epistemische Übergang nicht zu vermittelnder Weltbilder; die einhergehende Beunruhigung materialisiert sich im Modus einer Sinnlichkeit, die keine Unterscheidungen bildet. Nur konsequent spielt dieser Raum suspendierter Gegenständlichkeit mit dem (nach Descartes – Leibniz – Wolff ) etablierten Vokabular des jeglicher Erkenntnis entzogenen Dunklen und trägt die Zeichen des Unergründlichen: »Tieffe«, »Abgrund«, »Höle«, »Gruft« bergen das flimmernde Oxymoron »lichter Dunckelheit«, als harrten sie kommender Auf klärung. Dass dieses »Geist« und »Gedancken« entsetzende Sehen gegenläufig zum programmatischen Phänotext nicht nur bedrohlich sein könnte, legt schon der Umstand nahe, dass es so augenfällig gedehnt, ins Extensive geweitet wird. Von hier aus ergeben sich Anschlüsse an Baumgarten und eine Beobachtung, die sich der Frage des Epistemologischen widmet: Am Ort suspendierter Erkenntnis und aus der rein prozessierenden Sinnlichkeit heraus entfaltet sich die Szene rhetorischer Detaillierung, erscheinen mit Vergleich und Metapher jene Tropen, die Baumgarten den Techniken extensiver Klarheit zurechnet. Diese Szene erfüllt den »unerforscht[en]« Raum mit einer anderen Art von Forschung, erschließt das Unerforschte im Reigen mannigfaltig differenzierter Merkmale und miteinander verbundener Übertragungen. Ein Farbattribut im Edelsteinformat bahnt Verdichtungen zwischen Himmel und Meer, in dem sich – als Tertium – die Tiefe des Alls spiegelt. Auf blickendes Versenken ist mit gleicher Geste tiefes Sinken. Abgrund, Gruft und Höhle, die zur Hölle klanglich aufschließt, reichern die Topographie semantisch an. Körperlich-technisches (implizit teleskopisches) Sehen interferiert ununterscheidbar mit rhetorischer Technik: Wenn sich das Auge »Ins unerforschte Meer des holen Luft-Raums, senckt’, / Und mein verschlungner Blick bald hiebald dahin lieffe«, so verschlingt sich der Blick, während er das Unerforschte sinnlich abzutasten sucht, in die Materialität der hier sich bildenden poetischen Szene, mäandert dieser Blick durch das Firmament und springt er zugleich »bald hie- bald dahin« durchs syntaktisch-metaphorische Gefüge aus »Meer« und »Luft-Rau[m]«. Martina Wagner-Egelhaaf hat solche Interferenzen zwischen (technisch bewehrter) Naturbeobachtung und literarischer Medialität/Technik in verschiedenen Gedichten Brockes’ herausgearbeitet und dabei auf die Rolle der Rhetorik als Instrument geschärfter Wahrnehmung hingewiesen. Im Schnittpunkt der perspicuitas, die sich in Brockes Gedichten sowohl an wissenschaftliches Durchleuchten wie rhetorischintellektuelle Verständlichkeit anschließen lässt, werden diese Gedichte zum »rhetorischen Perspektiv«,84 das die Aufmerksamkeit auf den Gegenstand der Natur wie zugleich auf dessen technisch-medial konstruierte Wahrnehmung lenkt. Was aber nimmt Brockes Firmament, dieses poetische Fernrohr, genau in den Blick? Und wie gestaltet sich dieser Blick, wenn man ihn mit Baumgartens Episte­ mologie des Gedichts engführt? Erlitten und sinnlich ausgestaltet wird im Firma84 Martina

Wagner-Egelhaaf: »Gott und die Welt im Perspektiv des Poeten. Zur Medialität der literarischen Wahrnehmung am Beispiel Barthold Hinrich Brockes’«, in: DV js 71 (1997), 202.

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ment der Moment des Schreckens, der zwar in der physikotheologischen Schlusswendung relativiert wird, im Vollzug seiner extensiv klaren Ausgestaltung aber auch eine affektiv-sinnliche, in sich eigenständige Bedeutung gewinnt. Welche (mit Baumgarten gefragt:) epistemologische Dimension diese Brockes’sche Version extensiver Klarheit eröffnen könnte, lässt sich mit Blick auf den in Meyers Vertheidigung angeführten Bodmer eruieren, der 1741 die erste überlieferte Diskussion des Firmaments vorlegt. An diesem wie anderen astrotheologischen Gedichten Brockes’ lobt Bodmer die Gestaltung einer bestimmten sinnlichen Erfahrung. Grund für das Entsetzen angesichts des grenzenlosen Alls sei die »Ersteckung und Unterdrückung der Fähigkeit, womit sowohl das Auge des Cörpers als des Geistes siehet, indem es von seinem Gegenstande über sein Maaß angefüllet wird, so daß es darinnen untergeht und versinket. Dadurch wird zugleich alle Würcksamkeit des Gemüthes zu Boden geschlagen und eine Zeitlang gedämpfet, welches aber nicht nur ohne Beschwerde geschieht, sondern vielmehr ein großes Vergnügen nach sich zieht, wenn man sich bald hernach wieder findet.« 85

Die hier beschriebene Vorstellung eines »lustvolle[n] Nacheinander[s] von Hemmung und Ausströmen menschlichen Selbstgefühls« 86 verdankt sich einer Neuinter­ pretation des Schrecklich-Erhabenen, das in eine ambivalente Mischkategorie transformiert wird. Schon die durch unmäßige Größe erzwungene »Unterbrechung der würcksamen Kräfte des Geistes« ist dann nicht mehr nur entsetzlich, sondern von »Ergetzen begleitet«, weil genau diese Unterbrechung die gewöhn­liche »Bewegung und Geschäftigkeit« des Menschen suspendiert und den alltäglichen Lebensregungen »etwas seltsames und neues« zuträgt. Das »Ergetzen« steigert sich, wenn darauf hin die »Wiederkunft seiner würcksamen Kräfte« eine »Betrachtung« veranlasst, die »ihm vergewissert[,] daß er in diesem unermeßlichen Gantzen beständig im Wesen ist, und wenn er vornehmlich den Grund und Ursprung, warum alles ist, und in welchem alles dieses ungemessene Gantze enthalten ist, bey sich ermißt«.87 Aus Bodmers Perspektive wird das poetische Artefakt eigenständig und bedeutsam in Hinsicht seiner ästhe­t ischen Wirkung. Die Dialektik von Einschränkung und Erhebung ist dann nicht mehr nur umgrenzt von der physikotheologischen Rahmung, das neu errichtete Subjekt findet sich vielmehr wieder in seinen Vermögen, nicht mehr nur durch Gott hindurch. Damit liegt dieses Gedicht im Horizont einer vor allem im englischen Sprachraum seit dem 17. Jahrhundert neu bewerteten Affekterregung und langsam entwickelten »Umwertung des Schreckens« weg von einer moralischen Kategorie der Abschreckung, hin »zu einem positiven ästhe­t ischen Wert«.88 Jacob Bodmer: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter. Mit einer Vorrede von Johann Jacob Breitinger, Zürich 1741, 228 f. 86 Carsten Zelle: »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhe­tik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987, 236. 87 Alle Zitate: Bodmer: Critische Betrachtungen, 230. 88 Carsten Zelle: »Das Erhabene in der deutschen Frühauf klärung. Zum Einfluß der engli85 Johann



Nuancen des Firmaments245

Epistemologische Effekte zeitigt diese ästhe­t ische Umwertung, weil sie die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen der Beobachtung lenkt, auf einen Betrachter, an dem sich mit der »sinnenvermittelten Selbstgewissheit« zugleich die »erkenntnistheoretischen Leistungen der Sinne und die subjektive Spontaneität der Wahrnehmungsaktivierung und -steuerung« ausprägen. Interessant an Brockes Firmament ist nun aber, dass die damit angebahnte »Selbstoffenbarung eines autonomen, neuzeitlichen Ich« 89 ausgerechnet mit einer Lücke im Wissen verklammert ist. Denn das Fernrohr des Gedichts richtet sein Augenmerk ja auf den Schwellenraum der Erkenntnis, dorthin, wo distinkt-unterschiedenes Wissen (noch) nicht ist, aus den ungeklärten Interferenzen »lichter Dunckelheit« aber vielleicht hervortreten könnte. Die antithetische Topik ist hier aufschlussreich. Sie balanciert nicht nur – gut physikotheologisch – irdische Dunkelheit mit dem Licht Gottes (dem »hellen Fimament« aus dem Eingangsmotto), sondern gilt mit gleicher Insistenz dem fragwürdigen, paradox undurchdringlichen Raum selbst. Oxymora, so lobte dies Breitinger an Brockes, erzeugen eine »Verbindung zweyer gantz widrig-scheinender Begriffe«90 und können so »einer Vorstellung ein recht wunderbares Ansehen mit[t]heilen«.91 Die damit erzielte Mannigfaltigkeit mag begrifflicher Stringenz widersprechen, der epistemologischen Konfiguration extensiver Klarheit im Medium ihrer schillernden ›Beywörter‹ arbeitet sie hingegen ›bereichernd‹ zu. Nun sind logische Widersprüche auch bei Breitinger nicht per se zugelassen, sondern auf solche Fälle begrenzt, in denen sich »in der Natur der Sache, die beschrieben wird, genug Grund dazu finde«.92 Grund genug für einen logischen Widerspruch liefert aber wohl ein Raum, dessen epistemische Grundlosigkeit notorisch ist; der Erkenntnisprobleme aufwirft, die im Firmament mit den Mitteln extensiver Klarheit exponiert werden. Danach könnte man sagen: Brockes Gedicht performiert extensive Klarheit nicht allein in Richtung einer anderen, von logisch-wissenschaftlicher Erkenntnis unterschiedenen und doch zugleich eigenständigen Erkenntnisform (Baumgarten), es verklammert zudem extensive Klarheit mit einer im wissenschaftlichen Wissen inhärierenden konstitutiven Lücke. Diese Lücke – sie wird kenntlich aus der Perspektive der schnell voranschreitenden new sciences – entsteht am Übergang der Episteme, dort, wo das Wissen und seine Erkenntnis ihre Geschichtlichkeit erfahren. Das im Firmament nicht explizit genannte Fernrohr wirkt dann nicht nur mittelbar als Fernrohr der Rhetorik. Es wirkt darüber hinaus als eine Art mediale Verkörperung des Zeit­lichen und markiert die prinzipielle Unabschließbarkeit jeglichen Wissens: Das Fernrohr, so lässt sich 1735 im Zedler nachlesen, erschließt »weit entfernt[e] Sachen« und macht diese »klar und deutlich«. Gleichzeitig ist es schen Physikotheologie auf Barthold Heinrich Brockes’ ›Irdisches Vergnügen in Gott‹«, in: arcadia 25/3 (1990), 227. 89 Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche, München 2008, 34 f. 90 Breitinger: Critische Dichtkunst, Bd. II, 275. 91 Ebd., 274. 92 Ebd., 276.

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ein Instrument anhaltender Veränderung, »wodurch denen Weltweisen die Augen der Gestallt sind eröffnet worden, daß sich der Himmel bei ihnen in eine gantz andere Gestallt, wie sie ihn sich sonst eingebildet haben, verwandelt«.93 Mit dem Fernrohr eröffnen sich demnach neue Gegenstände des Wissens und erweisen sich zugleich tradierte Weltbilder als historische; auf klärender Wissensfortschritt mobilisiert mit anderen Worten eine Reflexion auf die sich wandelnden Bedingungen des Forschens. Ausgehend von der im Firmament spezifisch akzentuierten Epistemologie extensiver Klarheit eröffnen sich weitere Beobachtungen. Zwar entfaltet sich das Gedicht vor dem Hintergrund des neuen naturwissenschaftlichen Wissens – eine objektivierende Beschreibung des Gegebenen, die als poetische Naturforschung nur dem Augensinn verpflichtet wäre (Breitinger), ist es darum aber nicht. Der äußere Sinn des Sehens, der mäandernde Blick, verschränkt sich vielmehr gleichursprünglich mit dem inneren, jener Empfindung, die Aufschluss gibt darüber, was im solchermaßen Sehenden vorgeht. Deutlicher: Wenn Baumgarten im unmittelbaren Sichtfeld des äußeren Sinns lediglich den »allerersten Grundstoff« 94 des Empfindens ausmacht und dieses innere Empfinden zur primären ästhe­t ischen Disposition erklärt, so scheint das Firmament genau ein solches Zusammenspiel von äußerem und innerem Sinn auf bestimmte Weise zu verwirklichen. Brockes, so könnte man sagen, trägt jene »große[n] Zerstreuungen«,95 die Baumgarten zufolge der äußere Sinn (den inneren verderbend) produziert, in das Gedicht ein und macht gerade solche Zerstreuungen zum Ausgangspunkt innerer Bewusstseinsregungen. Genauer: In der Reflexion auf den äußeren Sinn entzündet sich der innere und empfindet sich die Seele selbst, gewinnt sie Zugang zu den der poetischen Tätigkeit unverzichtbaren »Veränderungen und Wirkungen ihrer übrigen Vermögen«.96 Unter diesen »übrigen Vermögen« – dem gegenwartsbezogenen Sinn, der Einbildungskraft, dem Dichtungsvermögen, der Feinsinnigkeit, dem Gedächtnis, Vorhersehungs-, Erwartungs- und Bezeichnungsvermögen – mobilisiert das Firmament mehrere. So fällt auf, dass das Gedicht mit der Zeitangabe »jüngst« einsetzt, die dramatisch in Szene gesetzten Sinneswahrnehmungen somit als reproduzierte, durch die Einbildungskraft und das Gedächtnis wiederholte Vorstellungen markiert sind. Feinsinnigkeit agiert dort, wo Metaphern- und paradoxe ›Beywort‹-Bildung Prinzipien der ›Übereinstimmung und Verschiedenheit‹ mobilisieren; Dichtungsvermögen kommt dann zur Geltung, wenn die solcherart gestalteten Einbildungen auf bestimmte Weise verbunden und zur neuartigen Einheit in der Vielheit kombiniert werden.

93 Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Halle/Leipzig 1732 – 54, Bd. IX , Sp. 591 (Stichwort: »Fern-Glaß«). 94 Aesth. § 30. 95 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 86 f. (§ 29). 96 Aesth. § 30.



Nuancen des Firmaments247

Wenn aber nicht der äußere Sinn allein, sondern dieser im Verbund mit dem inneren und beide im konstruktiven Modus der Nachträglichkeit die Struktur des Firmaments bestimmen, so ist es auch nicht zunächst poetische Naturforschung/Beschreibung (Breitinger), die im Meer der Phänomene versinkt, sondern eine Reflexion des Sehens als in epistemischen Schwellenräumen Versinkendes, die das Eingangsgedicht des Irdischen Vergnügens in Gott antreibt. Diese spezifische, vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisformen und ihrer schnell wechselnden Zeithorizonte entwickelte Epistemologie materialisiert sich in einer bestimmten ›verfahrensübergreifenden‹ Darstellung. Brockes Firmament lässt das körperliche (äußere) Sehen, den inneren Sinn und mit ihm weitere sinnliche Erkenntnisvermögen (Einbildungskraft, Gedächtnis, Feinsinnigkeit, Dichtungsvermögen), aber auch das Wissen der new science (Astronomie) und ihrer Instrumente (Fernrohr) zusammenwirken – all jene Instanzen also, die Baumgarten in seine weiter gefasste, auch eine »Aesthetische Erfahrungs Kunst« 97 einschließende Konzeption der Ästhe­tik integrieren wollte. Vielleicht könnte man sagen, Brockes Firmament, indem es das wissenschaftliche Bezugssystem der Ästhe­t ik ganz im Sinne Baumgartens ›interdisziplinär‹ weitet, entwickle das Gedicht zu einer Art poetischem »Experimentalsystem«,98 in der sinnliche Wahrnehmung, der Status des betrachtenden Subjekts, Konstitutionsbedingungen von Wissen wie metaphysische Gewissheiten wechselseitig zur Diskussion stehen. Solcherart entgrenzt und mannigfaltig situiert mag sich die für Baumgarten so wichtige Frage nach der Vollkommenheit des Gedichts aufdrängen, nach dessen ›Thema‹ als der durch Grund und Folge geordneten Einheit der im Gedicht verknüpften Vorstellungen. Was aber wäre im Firmament das Thema, was die bewirkende Bedingung, die diese Einheit herstellt und von der diese Einheit abhängt? Folgen wir Breitinger, der Brockes entropische Beschreibungskunst im erbaulichreligiösen Zweck auf hebt, so wäre Brockes ›Haupt-Absicht‹ als ›Haupt-Zweck‹ seiner Dichtung die physikotheologische Feier der göttlichen Schöpfung. Im Firmament, so könnte man entsprechend sagen, materialisierte sich dieses Anliegen in der plakativ gerahmten Form des Gedichts, die der Tradition des barocken Emblems strukturell nahesteht: Inscriptio, pictura, subscriptio verteilen sich im Schriftbild auf das vorangestellte Motto aus dem Buche Sirach, den sinnlich-veranschaulichenden Mittelteil, der im Gedicht ausdrücklich als »Bild« der göttlichen Ewigkeit bestimmt wird, und die Auf lösung des Sinn(en)-Rätsels (»Verzweiflung drohete der gantz verwirrten Brust«) durch das Gotteslob nach dem Doppelpunkt. Zitiert damit das Firmament ein barockes Erbe, so weist es sich darin zugleich als komplexes, in sich gespanntes Schwellenphänomen aus: Es eröffnet vor dem Hintergrund epistemischer Umbrüche einen grenzenlosen, unerforschten Raum und schließt diese Entgrenzung im physikotheologischen Rahmen wieder ein; im Sinne 97 Philos.

Brieffe, 8. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsystem und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt a. M. 2001. 98 Vgl.

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dieser Rahmung wählt es mit dem barocken Emblem ein religiös codiertes Format, dessen Hochzeit andererseits im Schwinden begriffen ist, und es wählt dieses geschlossene Format, um das formlos ausufernde Großprojekt: Irdisches Vergnügen in Gott zu eröffnen. Nun wurde deutlich, dass gerade das Firmament nicht die Phänomene der natürlichen Dingwelt, sondern im Verlust von unterscheidenden Grenzen den Entzug jeglicher Gegenständlichkeit in Szene setzt. Ausgerechnet das Eingangsgedicht des Irdischen Vergnügens in Gott widersetzt sich also dem »einheitlichen Schema« zahlreicher darin versammelter physikotheologischer Gedichte: »Standort bzw. jeweilige Situation des Betrachters – Entfaltung des Wahrnehmens vom ersten Anblick zum ›forschenden‹ Gewahren – Abheben auf die Valenz des Gewahrten als Beweis der Macht und Weisheit des Schöpfers.« 99

Barbara Hunfeld schlägt zur Erklärung dieser bemerkenswert unstimmigen Expo­ sition Folgendes vor: »Als Eröffnungsgedicht der Brockesschen Weltinventur ist das ›Firmament‹ zunächst als deren Vorbedingung verstehbar, indem es den Zustand des Chaos zeigt, bevor das Irdische Vergnügen die Empirie ordnet: Die Welt bliebe unverständlich, machte die Physikotheologie sie nicht als Artikulation Gottes lesbar.«100

Das Firmament wäre dann aber nicht Exempel physikotheologischer Diskursintegration, sondern Schauplatz sowohl ihrer diffusen Vorgeschichte wie strategischen Interventionen: In diesem Schwellenraum nunmehr der Physikotheologie verknüpft sich das Skandalon entzogener Erkenntnis mit der Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen der Physikotheologie als diskursvermittelnden Verfahrens. Die im Firmament entworfene Antwort ist bemerkenswert: Im spannungsreichen Gefüge des Gedichts, das eine ungegenständlich-erhabene Naturerfahrung als Artikulation Gottes zu ›verbildlichen‹ sucht, erweist sich gerade dieses Repräsentationsverhältnis als spezifisch konstruierte Ordnung. Nur darum, so Hunfeld, »kann« das Ich in »den sicheren Hafen der Gottesgewissheit einlaufen«, weil diese Einkehr »vorab diskursiv vermittelt« ist. Man muss zunächst im Buch der biblischen Offenbarung (Sirach) gelesen haben, um im Buch der Natur Gottes zweite Offenbarung zu erkennen. Im Falle des Firmaments kompliziert sich indes die Lage auf dramatisch in Szene gesetzte Weise. Wo das biblische Zitat Gottes sichtbare »Herrlichkeit« in der »Höhe«, am »hellen Firmament« und »schönen Himmel« in Aussicht stellt (und so nicht zuletzt die Erkundung des Alls theologisch legitimiert), forscht entsprechend das biblisch instruierte Auge, findet aber direkt gegenläufig Tiefe, Dunkelheit, maßloses Entsetzen, das unbegrenzt Amorphe. »Die Leere des Alls«, so wieder Hunfeld,

 99

Beide Zitate: Preisendanz: Naturwissenschaft als Provokation, 481. Der Blick ins All, 64.

100 Hunfeld:



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»wird durch das Sirach-Zitat überschrieben. Schrift als Vergegenwärtigung des Abwesenden repräsentiert hier, woran es dem All mangelt: metaphysische Fülle. So gewährleistet die Überschrift jene Orientierung des Betrachters (wie des Lesers), die innerhalb des Gedichts durch die Naturerfahrung verlorengeht. […] Damit der leere Abgrund dennoch als Ausdruck göttlicher Fülle verstanden werden kann, muss die Naturerfahrung von religiösen Diskurstraditionen flankiert werden: Sie zitieren den Urtext, den das All allein offenkundig nicht abbildet«.101

Hunfelds Beobachtung lässt sich aus der Sicht ›extensiver Klarheit‹ weiter präzisieren. Die physikotheologische Evidenz »göttlicher Fülle« erweist sich im Firmament als diskursiver Effekt, insofern dieser Effekt zugleich Produkt rhetorischer Verfahren ist: Das grenzenlose All – diese »unmäßig-tieff[e] Höle«, die »wohl mit Recht, ein Bild der Ewigkeiten heisst, So nur aus Gott allein, ohn’ End’ und Anfang, stammen« – trifft sich mit Gott im Wege der Übertragung, auf der Basis der Metapher als ›Sprung‹-Trope: Zwar bedeutet tiefste »Höle«/Hölle nicht größte Höhe/ Gott, zwischen beiden übersetzt aber die im ›Maßlosen‹ (als Drittes) metaphorisch vermittelte Differenz bzw. das sinnliche Erkenntnisvermögen der Feinsinnigkeit, die gemäß der Baumgarten’schen Definition Übereinstimmung und Verschiedenheit festzustellen vermag. Dieser Feinsinnigkeit ist zu (ver)danken, dass der physikotheologische Vermittlungsakt im Firmament gelingt; ein Vermittlungsakt, dessen zwingende Schlussregel (wonach in allen Dingen der Welt Gottes Artikulation am Werk ist) ausgerechnet dort ihr größtes Potential entfaltet, wo der Ertrag irdischer Naturstudien das Wirken göttlicher Weisheit/Vernunft/Schönheit nicht sinnfällig verdoppelt. Im konstruktiven Feinsinn der Sprungtrope zeigt sich dann, dass diese göttliche Evidenz auf spezifische Weise erzeugt, dass sie im Durchgang rhetorischer Verfahren hergestellt wird. Das Sirach-Zitat als vorausgesetzter Prätext liegt auf gleicher Linie: Wo sich physikotheologische Positionen vom orthodoxen biblischen Schriftglauben absetzen und die Evidenz der göttlichen Wahrheit unmittelbar in der Natur zu entdecken meinen, rückt die strukturelle Ordnung des Firmaments die diskursiven Prämissen (Buch Sirach) und rhetorischen Produktionsprinzipien (den physikotheologischen/metaphorischen Sprung) dieser unmittelbaren Anschauung in den Blick. Ausgerechnet die emblematische Form des Gedichts gewinnt in diesem Zusammenhang einen repräsentationskritischen Zug, macht sie doch in ihrer Zusammenstellung unterschiedlicher diskursiver Strategien (Bibelzitat, widersprüchlicher Schauplatz, rhetorische Vermittlung) das ordnungsstiftende Prinzip der physikotheologischen Versöhnung durchsichtig; durchsichtig im Wege einer perspicuitas, die der Genese von Evidenz auf der Spur ist. Für Baumgartens Konzeption des ›Themas‹ ergeben sich von hier aus interes­ sante Beobachtungen. Versteht man die physikotheologisch vorausgesetzte Existenz Gottes als zugrundeliegendes Thema des Firmaments (i. e. Gott als zureichenden Grund, der zu erklären vermag »warum etwas ist«) im Sinne von Baumgartens Vorschlag, wonach »das höchste und letzte Thema eines gewaltigen Gedichtes« 101 Alle

Zitate ebd., 68 f.

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eine Ordnung stiftete, die jener Ordnung analog wäre, »nach welcher die Dinge in der Welt einander folgen, um den Ruhm des Schöpfers zu offenbaren«,102 dann exponiert das Firmament die inhärente Spannung der lichtvollen Methode, die sich in der Gedichtschrift lediglich angedeutet hatte: Das Firmament setzt im Modus seiner rhetorisch-diskursiven Verfahren in Szene, dass das Thema dem Gedicht als Gegebenes vorausliegt und zugleich im Verlauf des Gedichtes produziert wird. Das nach Grund und Folge zu entfaltende Thema (die Allmacht Gottes) und mit ihm die Ordnung des Vorgegebenen sieht sich an rhetorische Operationen verwiesen; das ontologische Prinzip des zureichenden Grundes, das zentriert ist in meta­ physisch gesicherter Evidenz – jener physikotheologischen Gewissheit eines aus der Natur hervorleuchtenden Gottes –, durchläuft seine ›technische‹ Herstellung im Gedicht. Vor diesem Hintergrund lassen sich Baumgartens Überlegungen zur ›extensiven Klarheit‹ spezifisch akzentuieren. Wenn der Reichtum ›extensiv klarer‹ Vorstellungen das Gedicht konstituiert, indem es den vollkommenen Zusammenhang dieser Vorstellungen präsentiert; wenn ferner das nach Grund und Folge ›lichtvoll‹ organisierte Thema diese Einheit des Vielen in anschaulich-evidente Form bringt und schließlich Gottes grundlegende Allmacht die Struktur dieses sinnfällig-gewissen Themas fundiert, dann wäre das Firmament Schauplatz einer Auseinandersetzung, in der sich die Ordnung sinnfälligen Erkennens an der techne¯ seiner Verfahren ausrichtet. Damit inszeniert das Firmament einen Zusammenhang, den Baumgartens eng am literarischen Material entwickelte Gedichtschrift (noch) als »freundschaftlich[e] Ehegemeinschaft«103 bestimmt, der in den nachfolgenden Ausarbeitungen der Meta­phy­sik ( EA 1739) und Ästhe­t ik (1750/1758) aber zunehmend unter Spannung gerät: den Zusammenhang von »Erkenntnistheorie und Medientheorie«, von sinnlicher Erkenntnis und sinnlicher Darstellung.104 Wenn Baumgartens jahrzehntelanger Entwurf einer Ästhe­tik als Austragungsort dieser Spannung gelesen werden kann, einer Spannung, in der die konstitutive Rolle des (rhetorischen) Mediums für das sinnliche Denken gleichermaßen exponiert wie geschwächt bzw. »in den Dienst eines philosophischen ›Prinzips‹«105 gestellt wird, so situierte sich das Eröffnungsgedicht Firmament in der frühen Randzone dieser gespannten Bewegung: Es beobachtet sinnliche Wahrnehmung hinsichtlich einer »Medialität der Erkenntnis«.106 Diese Medialität, und darin erweitert Brockes das Repertoire ihrer Mittel, artikuliert sich im Modus rhetorischer techne¯ und der (in Brockes materialer Aisthesis mitgedachten) Instrumententechnik der Naturforschung. Brockes Einschluss dieser von Baumgarten nur angedeuteten »Aesthe102 Med.

§ 71. [Vorrede], 5. 104 Vgl. Berndt: Poema/Gedicht, 12 – 19, Zitat: 13, sowie Rüdiger Campe: »Der Effekt der Form. Baumgartens Ästhe­t ik am Rande der Meta­phy­sik«, in: Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, hg. von Eva Horn, Bettine Menke und Christoph Menke, München 2006, 17–34. 105 Berndt: Poema/Gedicht, 16. 106 Ebd., 13. 103 Med.,



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tischen Erfahrungs-Kunst«107 in den medialen Horizont des Gedichts stärkt den verfahrenstechnischen Aspekt sinnlicher Erkenntnis, indem er sich ein Spezifikum der empirischen Naturwissenschaften zunutze macht: Eine anschauliche Evidenz, die sich in »kunsthaften und technischen Verfahren erst besiegelt«.108

107 Philos.

Brieffe, 8. Bella evidentia, 245.

108 Campe:

III. ETHIK U N D NAT U R R ECHT

Zwischen Laxismus und R igorismus Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Ethik nach Alexander Gottlieb Baumgarten Von Clemens Schwaiger 1. Bio-bibliographische Einführung: Baumgartens Wirken als philosophischer Ethiker Sowohl in Baumgartens akademischer Lehre wie in seiner schriftstellerischen Arbeit nimmt die Beschäftigung mit ethischen Grundfragen einen herausragenden Platz ein. Seine 1740 veröffentlichte Ethica philosophica, die seinen kometenhaften Aufstieg an der Hallenser Fridericiana krönte, erlebte als geschätztes Lehrbuch im 18. Jahrhundert beachtliche drei Auf lagen. Übertroffen lediglich von der Metaphysica mit sieben zeitgenössischen Auf lagen war sie damit seine zweiterfolgreichste Publikation überhaupt. Kein Geringerer als Immanuel Kant legte das Werk zusammen mit den 1760 erschienenen Initia philosophiae practicae primae über Jahrzehnte hinweg den eigenen Vorlesungen zur praktischen Philosophie zugrunde. Somit drückte Baumgartens Ethikentwurf, wenngleich vielfach nur als Ausgangspunkt oder Gegenposition, Kants epochaler Begründung einer neuen, kritischen Moralphilosophie durchgehend seinen Stempel auf. Zusätzlich verstärkt wurde Baumgartens Wirkung als philosophischer Ethiker durch Georg Friedrich Meiers Auf bereitung der beiden genannten Werke für ein deutschsprachiges Publikum, nämlich die fünf bändige Philosophische Sittenlehre (1753 – 1761) und die einbändige Allgemeine practische Weltweisheit (1764). Diese Popularisierungen lassen sich heute ihrerseits als aufschlussreiche Interpretationshilfen zu Baumgartens oft arg lakonischen Originalschriften nutzen. Das Feld der Moralbegründung war früh auch schon ein bevorzugtes, indes von heftigen Kontroversen überschattetes Arbeitsgebiet von Alexander Gottliebs ältestem Bruder Siegmund Jacob Baumgarten. Bekanntlich wurde unter dessen maßgeblicher Anleitung und Unterrichtung der um acht Jahre jüngere Bruder schrittweise in die akademische Welt eingeführt.1 Angesichts der engen, geradezu symbiotischen Verwobenheit der Bildungsschicksale beider Brüder dürfte die stürmische Entwicklung des Älteren zum tonangebenden Moraltheologen seiner Zeit im Denken des Jüngeren tiefe Spuren eingegraben haben.2 Im Frühjahr 1732 hält Vgl. Georg Friedrich Meier: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, Halle 1763; neu hg. von Dagmar Mirbach in: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Auf klärung, 20), hg. von Alexander Aichele und Dagmar Mirbach, Hamburg 2008, 351 – 373, 358 [15]: »Sein Vater hatte ihn, durch seinen letzten Willen, an seinen ältesten Bruder als an seinen andern Vater […] gewiesen. Sein Bruder regierte demnach sein ganzes Studieren«. 2 Eine nachhaltige Einwirkung von Siegmund Jacobs Theologischer Moral auf Alexander Gott1

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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Siegmund Jacob als Neuling an der Hallenser Theologischen Fakultät erstmals ein moraltheologisches Kolleg, dessen »Prolegomena« und Literaturverzeichnis uns noch überliefert sind.3 Das in der Folge daraus erwachsene, seit Anfang 1736 bogenweise herausgegebene Lehrwerk Unterricht vom rechtmäßigen Verhalten eines Christen oder Theologische Moral gerät wegen seines angeblichen Wolffianismus sogleich unter den Beschuss der pietistischen Fakultätskollegen. In dem sich anschließenden Prüfverfahren, das bis an den Berliner Königshof Kreise zieht, kann sich der ältere Baumgarten erfolgreich des Verdachtes der Heterodoxie erwehren. Mit dem Ausgang dieses Kräftemessens vollzieht sich geschichtlich gesehen die entscheidende Trendumkehr in der ›Causa Wolffiana‹.4 Während sich jedoch Siegmund Jacob, der philosophischen Streitereien überdrüssig, bald auf den theologischen Binnenraum beschränkte,5 hielt Alexander Gottlieb weiterhin an der Frontlinie von pietistischer Tradition und auf klärerischer Ethik stand. Da damals die metaphysischen und ethischen Schriften Wolffs als Kompendien noch offiziell verboten waren, sah er sich gezwungen, in diesen zentralen Fächern den Studenten rasch eigene Ausarbeitungen des Lehrstoffes zur Verfügung zu stellen. Ein handschriftliches Kurzskript scheint schon bei seinem allerersten Ethikkolleg im Sommersemester 1738 unter seinen Hörern kursiert zu haben.6 Bereits im Wintersemester zuvor benutzte er daneben für einen philosophischen Einführungskurs Johann Christoph Gottscheds Lehrbuch Erste Gründe der gesamten Weltweisheit (1733 f.), dessen praktischer Teil mit einer allgemeinen Sittenlehre eröffnet wird. Mit dieser Richtungswahl löste Baumgarten in Halle einen regelrechten Ansturm auf das philosophische ABC des Wolffianismus aus.7 liebs Ethica philosophica vermutet auch Alessandro Nannini: »Da Baumgarten a Baumgarten. Siegmund Jacob Baumgarten e la fondazione dell’estetica moderna«, in: Premio Nuova Estetica, a cura di Luigi Russo (= Aesthetica Preprint Supplementa, Bd. XXVIII), Palermo 2013, 67 – 9 0, hier: 78. 3 Vgl. Siegmund Jacob Baumgarten: Ausführlicher Vortrag der Theologischen Moral, hg. von Joachim Christoph Bertram, Halle 1767, 44 – 51 und 53 – 58. 4 Vgl. Martin Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus, Göttingen 1974, 41 – 50; Simon William Grote: Moral Philosophy and the Origins of Modern Aesthetic Theory in Scotland and Germany, Diss. Univ. of California, Berkeley 2010, 223 – 229. 5 Vgl. Art. »Siegmund Jacob Baumgarten«, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Suppl.-Bd. III, Leipzig 1752 (Nachdruck: Graz 1964), Sp. 264 – 270, hier: 266. 6 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica/Meta ­phy­sik, Hist.-krit. Ausgabe, übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, XXI; Grote: Moral Philosophy and the Origins of Modern Aesthetic Theory, 241, Anm. 149. – Das Fehlen eines geeigneten Handbuches der Ethik beklagt Baumgarten ausdrücklich in De ordine in audiendis philosophicis per triennium academicum, Halle 1738, § 23. 7 Vgl. Brief von Johann Friedrich Graefe an Gottsched vom 23. Oktober 1737, in: Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel, Bd. IV, Berlin/New York 2010, 495; für eine genauere philosophiegeschichtliche Verortung s. neuerdings Frank Grunert: »Anleitung zur Moral – mit und ohne Wolff. Zur praktischen Philosophie von Johann Christoph Gottsched«, in: Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft, hg. von Eric Achermann, Berlin 2014, 61 – 8 0.



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Aufgrund dieser hier nur knapp umrissenen Vor- und Entstehungsgeschichte von Baumgartens Ethica philosophica sollte immerhin so viel klar geworden sein: Dem frühreifen Opus des damals erst Mitte-Zwanzigjährigen kommt eine – in der Forschung bislang kaum gewürdigte – Schlüsselrolle für die Abnabelung von seiner pietistischen Herkunft und für seine Ausbildung zu einem eigenständigen Wolffianer zu. Um Baumgartens Selbstverständnis als Moralphilosoph näher auf die Spur zu kommen, sollen im Folgenden die programmatischen »Prolegomena« zu diesem Werk (§§ 1 – 10) gründlicher (bspw. auch unter Berücksichtigung der jeweiligen Auf lagenvarianten) analysiert werden.8 Wie sich dabei zeigen wird, weist insbesondere die dort zu findende Aufzählung verschiedener defizitärer Ethiktypen ein hohes Maß an Originalität auf, was mit der zeitgleichen Erfindung der Ästhe­ tik zusammenhängen dürfte. Auf indirektem Wege skizziert Baumgarten mit seiner Kritik an diversen Fehlformen, was philosophische Ethik grundsätzlich leisten kann und soll – dies vor allem gegenüber ihrer radikalen Infragestellung von Seiten mancher Moraltheologen. Es ist ein interpretatorischer Glücksfall, dass sich die relativ knappen Eingangsparagraphen der Ethica philosophica durch eine aus dem Folgejahr 1741 stammende Dissertation De vi et efficacia ethices philosophicae eingehender entfalten und schärfer profilieren lassen. Diese unter Baumgartens Vorsitz an der Frankfurter Via­d rina abgehaltene Disputation, die Armin Emmel dankenswerterweise ins Deutsche übersetzt und über Internet verfügbar gemacht hat,9 liefert erklärtermaßen eine Art Kommentar zum Eröffnungsabschnitt des Kompendiums.10 Aufgrund einiger sonst nirgendwo auftauchender Literaturangaben ist diese Universitätsschrift Über die Kraft und Wirksamkeit der philosophischen Ethik zudem für die (noch wenig erforschte) Quellengeschichte von Baumgartens Ethik besonders ergiebig.

Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ethica philosophica, Halle, 3. Auf l., 1763 (2. Auf l. 1751; EA 1740). Die Erstauflage wird verwendet nach dem online verfügbaren Exemplar der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt (Signatur: Pa 730), die Zweit- und Dritt­ auf lage nach dem Wiederabdruck in: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (und Nachfolgern) [im Folgenden: AA], Bd. XXVII, 2.1, Berlin 1975, 733 – 1028. – Eine von Moses Mendelssohn stammende Übersetzung der §§ 1 – 25 findet sich in: ders.: Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd. VI.2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 237 – 241. Als Vorlage für die deutsche Wiedergabe diente hier allem Anschein nach die erste Auf lage von 1740. 9 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten (Praeses)/Samuel Wilhelm Spalding (Auctor): De vi et efficacia ethices philosophicae, nach dem Druck von Martin Hübner, Frankfurt/Oder 1741, als Datei hg. von Armin Emmel, Version 1, Stand Juli 2003 (http://www.ruhr-uni-bochum.de/ aesth/Emmel/Spalding.pdf ). 10 Vgl. Scriptis quae moderator conflictus academici disputavit, praefatus rationes acroasium suarum viadrinarum reddit Alexander Gottlieb Baumgarten, Halle 1743, § 16. 8

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2. Baumgartens Definition philosophischer Ethik Zu Beginn der Ethica philosophica wie zu Beginn dieser Dissertation, wo der Auftakt des Kompendiums kommentiert wird, bestimmt Baumgarten das Wesen philosophischer Ethik in zwei elementaren Schritten: Zunächst definiert er den Begriff ›Ethik‹ ganz allgemein, sodann erläutert er ihren spezifisch philosophischen Charakter. Ethik sei die Wissenschaft von den inneren Verpflichtungen des Menschen im natürlichen Zustand; philosophisch sei sie, sofern sie ohne Glauben erkannt werden könne.11 Deutlichere Konturen gewinnt diese im Einzelnen interpreta­ tions­bedürftige Begriffsbestimmung, wenn man sie damit vergleicht, wie Baumgarten in anderen Schriften den Oberbegriff der praktischen Philosophie definiert und unterteilt. Unter praktischer Philosophie sei die Wissenschaft von den Verpflichtungen des Menschen zu verstehen, sofern diese ohne Glauben erkennbar sind.12 Insoweit es sich dabei um äußere, erzwingbare Verpflichtungen im natürlichen Zustand handelt, sind sie Gegenstand des (Natur-)Rechts im strengen Sinne, das als ein ius cogens die Befolgung seiner Normen notfalls mit Zwang durchsetzen kann. Demgegenüber stehen der Ethik keine äußeren Zwangsmittel zur Verfügung; daher muss sie ganz auf die intrinsische Motivation des Handelnden bauen.13 Mit dieser Unterscheidung von äußerlich einforderbaren, rechtlichen Pflichten und lediglich innerlich bindenden, ethischen Pflichten übernimmt Baumgarten der Sache nach die erstmals von Christian Thomasius markant ausgebildete Unterscheidung von Recht und Moral, die ihm wohl durch den Jenaer Naturrechtler Heinrich Köhler übermittelt und nahegebracht worden sein dürfte.14 Neben den äußeren und inneren Verpflichtungen im Naturzustand gibt es schließlich drittens noch Verpflichtungen im sozialen Stand, die sich erst aus bestimmten Formen von wirtschaftlicher oder bürgerlicher Vergemeinschaftung ergeben und Gegenstand von Ökonomik und Politik sind.15 Vgl. Baumgarten: Ethica philosophica (1. Auf l.), § 1: »Ethica est scientia obligationum hominis internarum in statu naturali«; § 2: »Ethica philosophica est ethica, quatenus sine fide cognosci potest«; ders.: De vi et efficacia, § 1; s. a. schon ders.: De ordine in audiendis philosophicis, § 17: »Ethicam […] scientiam dico de internis nostris obligationibus in statu naturali«. 12 Vgl. ders.: Initia philosophiae practicae primae, Halle 1760, § 1 (wiederabgedruckt in: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, Bd. XIX , Berlin/Leipzig 1934: »philosophia […] practica est scientia obligationum hominis sine fide cognoscendarum«); ders.: Ius naturae, Halle 1763, § 2. 13 Vgl. ders.: De vi et efficacia, § 1; ders.: Initia, § 65 (AA XIX , 33); ders.: Ius naturae, § 1; ders.: Sciagraphia encyclopaediae philosophicae, hg. von Johann Christian Förster, Halle 1769, § 165. 14 Vgl. Heinrich Köhler: Iuris naturalis eiusque cumprimis cogentis methodo systematica propositi Exercitationes VII, Jena, 3. Auf l., 1738 ( EA 1729); Nachdruck: Hildesheim/Zürich/New York 2004, Dissertatio prolusoria, §§ 2 f.; zum Einfluss Köhlers auf Baumgarten s. auch Alexander Aichele: »Sive vox naturae sive vox rationis sive vox Dei? Die metaphysische Begründung des Naturrechtsprinzips bei Heinrich Köhler, mit einer abschließenden Bemerkung zu Alexander Gottlieb Baumgarten«, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), 115 – 135; Merio Scattola: »Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens und das Problem des Prinzips«, in: Aichele/ Mirbach (Hgg.): Alexander Gottlieb Baumgarten, 239 – 265. 15 Vgl. Baumgarten: De vi et efficacia, § 1; ders.: Acroasis logica in Christianum L. B. de Wolff, 11



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Die vom Recht der Natur und des Sozialen abgegrenzte Ethik erhält nun ihre philosophische Qualität dadurch, dass sie gänzlich ohne Glauben auskommt, d. h. sich für ihre Erkenntnisse weder auf Zeugnisse anderer noch auf fremde Autoritäten stützt. Insofern sie den Glauben nicht als Erkenntnisquelle zulässt, unterscheidet sie sich signifikant von der Moraltheologie. Die Unabhängigkeit philosophischer Beweise von Glaubensprämissen bedeutet indessen nicht, dass Glaubensüberzeugungen von vornherein jeglicher Wert hinsichtlich ethischer Wahrheiten abgesprochen würde. Doch können sie die philosophische Argumentation weder tragen noch ersetzen, sondern allenfalls illustrativen oder subsidiären Charakter haben.16 Dass sich das Philosophieren unabhängig von jeglichem Glauben (sine fide) zu vollziehen hat, macht Baumgarten zufolge überhaupt entscheidend dessen Wesen aus. Philosophie definiert er daher auf eine für ihn durchaus charakteristische, von Wolff abweichende Art als »Wissenschaft von den Beschaffenheiten der Dinge, die ohne Glauben erkannt werden können«.17 Im zeitgenössischen Kontext betrachtet, stellt sich Baumgartens Auffassung philosophischer Ethik bei näherem Zusehen als über weite Strecken originell heraus. Sowohl inner- wie außerwolffianisch kennt sie überraschenderweise keine unmittelbaren Entsprechungen. Die Rede von einer Wissenschaft glaubensunabhängig erkennbarer Verpflichtungen ist damals keineswegs so geläufig, wie man das aus der Rückschau vielleicht erwarten möchte. Weitaus verbreiteter sind demgegenüber Konzeptionen philosophischer Ethik als Glückseligkeits- bzw. Tugendlehre.18 Christian Wolff, der im Gegensatz zu Baumgarten – zumindest in seiner deutschen Werkreihe – Naturrecht und Ethik nicht systematisch trennt, gelangt zu einem deutlich umfassenderen Begriffsverständnis. Er begreift die Ethik oder die Moralphilosophie – beide Begriffe sind für ihn offenbar gleichbedeutend – als »Wis-

Halle 1761; Nachdruck: Hildesheim/Zürich/New York 1983, § 7; ders.: Sciagraphia, §§ 186 – 227; ders.: Philosophia generalis, hg. von Johann Christian Förster, Halle 1770; Nachdruck: Hildesheim 1968, § 149. 16 Vgl. ders.: De vi et efficacia, § 2; ders.: Initia, § 2 (AA XIX , 9). 17 Vgl. etwa ders.: Acr. log., § 1: »Philosophia est scientia qualitatum in rebus sine fide cognoscendarum«; für weitere Belegstellen und Begriffsanalysen sei verwiesen auf Clemens Schwaiger: »Philosophie und Glaube bei Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten«, in: Michael Albrecht (Hg.): Die Natürliche Theologie bei Christian Wolff (Auf klärung, 23), Hamburg 2011, 213 – 227, bes. 217 – 222; die Kluft zur Wolff ’schen Auffassung der ›Weltweisheit‹ unterstreicht besonders Alexander Aichele: »Allzuständigkeit oder Beschränkung? Alexander Gottlieb Baumgartens Kritik an Christian Wolffs Begriff der Philosophie«, in: Studia Leibnitiana 42 (2010), 162 – 185. 18 Vgl. exemplarisch etwa Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Praktischer Theil, Leipzig, 7. Auf l., 1762 ( EA 1734); Nachdruck: Hildesheim/Zürich/New York 1983, § 1 und § 8. – Wie wenig selbstverständlich Baumgartens verpflichtungszentrierte Auffassung der ›philosophischen Sittenlehre‹ seinerzeit gewesen ist, belegt Georg Friedrich Meiers diesbezügliche Anmerkung, »daß viele andere Schriftsteller, welche diese Wissenschaft abgehandelt haben, dieselbe anders erklären« (ders.: Philosophische Sittenlehre, Bd. 1, Halle, 2. Auf l., 1762 [EA 1753]; Nachdruck: Hildesheim/Zürich/New York 2007, § 5).

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senschaft von der Leitung der freien Handlungen im Naturzustand«.19 Da­gegen lehnt Baumgarten den Terminus ›Morallehre‹ (disciplina moralis) als glattes Synonym zu Ethik ausdrücklich ab. Das Moralische sei all das, was näher mit unserer Freiheit verbunden sei; davon handelten aber auch alle übrigen praktischen Disziplinen, so dass dieses Attribut gerade keine spezifische Differenz zum Ausdruck bringe.20 Aus dem hier vorgenommenen Vergleich deutscher Schulphilosophen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ergibt sich das einigermaßen verblüffende Resultat: Baumgarten ist der erste prominente Autor, der den Begriff der Verpflichtung (­obligatio) zum Wesenskern philosophischer Ethik erhebt.21 Mit dieser Zuspitzung auf eine Verpflichtungstheorie dürfte er dem späteren Kant’schen Durchbruch zu einer dezidierten Sollensethik entscheidend vorgearbeitet haben.22 Obwohl Baumgarten den Obligationsbegriff im Einleitungsteil seiner Ethica philosophica bereits ständig gebraucht, erfährt er in diesem Werk allerdings noch keine systematische Klärung. Dies geschieht aber dann ausführlichst in seiner zweiten ethischen Hauptschrift, den Initia philosophiae practicae primae – ist dieses Werk doch ganz um den Schlüsselbegriff der Verbindlichkeit herum zentriert.

19 Vgl. Christian Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere. Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen, Hist.-krit. Ausgabe, übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, § 64: »Ethicam definimus per scientiam dirigendi actiones liberas in statu naturali«; ders.: Philosophia moralis sive ethica, Bd. 1, Halle 1750; Nachdruck: Hildesheim/New York 1970, § 1: »Philosophia moralis, sive ethica est scientia practica, docens modum, quo homo libere actiones suas ad legem naturae componere potest«; als von Wolff maßgeblich beeinflusste Vorstufe vgl. ferner schon Ludwig Philipp Thümmig: Institutiones philosophiae Wolfianae, Bd. 2, Frankfurt a. M./Leipzig 1726; Nachdruck: Hildesheim/Zürich/ New York 1982, »Institutiones philosophiae moralis seu ethicae«, § 1: »Philosophiae moralis sive ethica est scientia affectiva practica, acquirendi habitum actiones liberas quascunque legi naturali convenienter determinandi.« 20 Vgl. Baumgarten: De vi et efficacia, § 1; zum weiten Begriff des ›Moralischen‹ s. auch ders.: Met. § 723. – Konsequenterweise meidet Baumgarten denn auch auff ällig die Bezeichnung philosophia moralis; wo er die Benennung ausnahmsweise doch einmal verwendet, ist das lediglich als Reminiszenz an den verbreiteten Sprachgebrauch zu verstehen (vgl. Eth. § 2 [AA XXVII, 873 Z. 8]: Klammerzusatz erst in der 3. Auf l.!). – Eine ganz ähnliche Kritik als zu weit gefasst erf ährt auch der Begriff ›Tugendlehre‹ (doctrina virtutum). Da in anderen Teilbereichen der praktischen Philosophie ebenfalls Tugenden gelehrt würden, sei er nicht einfach mit dem Disziplinentitel Ethik identisch (ders.: De vi et efficacia, § 1). 21 Dagegen kommt auch Siegmund Jacob Baumgarten bei seiner allgemeinen Begriffsklärung, bevor er das Proprium der Moraltheologie bestimmt, noch ganz ohne den Verpflichtungsgedanken aus: »Die Moral ist […] die Lehre von Einrichtung des Verhaltens der Menschen; wird auch die Sittenlehre genant« (ders.: Unterricht von dem rechtmäßigen Verhalten eines Christen, oder Theologische Moral, Halle, 5. Auf l., 1756 [EA 1738]; Nachdruck: Hildesheim/Zürich/New York 2012, § 1). 22 Vgl. dazu auch Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Porträt. Studien zur Meta­phy­sik und Ethik von Kants Leitautor, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 39 – 41 (»Baumgarten als Gründungsvater einer imperativischen Verpflichtungsethik«).



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3. Baumgartens Typologie von Fehlformen philosophischer Ethik Nachdem in den ersten beiden Paragraphen der Ethica philosophica geklärt worden ist, worin das Proprium philosophischer Ethik besteht, unterstreicht Baumgarten in § 3 den möglichen Nutzen des Faches für die übrigen praktischen Disziplinen und benennt dessen Zielsetzung und Erfolgskriterien. Indem philosophische Ethik die Gewissheit unserer sittlichen Verpflichtungen sichert, soll sie die Ausübung all unserer Pflichten erleichtern. Je wahrer, klarer, gewisser und feuriger ihre Erkenntnis sei und je mehr Beweggründe sie zu desto mehreren inneren Verbindlichkeiten lehre, umso vollkommener sei sie.23 An diesen hohen Maßstäben gemessen werden sodann in den folgenden Paragraphen insgesamt vier unterschiedliche Spielarten von Ethik jeweils als unzureichend zurückgewiesen: erstens eine laxe, zweitens eine schmeichelnde, drittens eine finster-mürrische und viertens – gleichsam als negative Krönung – eine trügerische Sittenlehre. Eine gute, richtige Ethik sollte zwar streng, aber nicht rigoristisch sein. Aus mehreren Gründen ist anzunehmen, dass diese – in der Forschung bisher nur selten näher untersuchte – Typologie von Anti-Modellen philosophischer Ethik 24 in ihrer Gesamtheit eine genuine Schöpfung Alexander Gottlieb Baumgartens sein dürfte. Zwar finden sich vereinzelte Ansätze dazu schon in der Moraltheologie von Siegmund Jacob Baumgarten, doch ist die wiederholte Hervorhebung sinnlicher Beweggründe auffällig und die verwendete Terminologie ungewöhnlich.25 Eine laxe Ethik demonstriert im Gegensatz zu einer rigiden Ethik nur wenige Beweggründe zu nur wenigen scheinbar beschwerlichen Handlungen. Da für Baumgarten die Vollkommenheit der Moral gerade darin besteht, eine hohe innere Motivation zur Überwindung entgegenstehender Schwierigkeiten aufzubauen, muss eine allzu nachgiebige Sittenlehre als unvollkommen gelten. Meier vergleicht solche ›Polsterprediger‹ – wie er sie in seiner Philosophischen Sittenlehre spöttisch bezeichnet – mit Eltern, die ihre Kinder verziehen und verzärteln, indem 23 Vgl. Baumgarten: Eth. § 3 (AA XXVII, 873); ders.: De vi et efficacia, §§ 31 – 33. – Laut Meier verfolgt die philosophische Sittenlehre keine geringere Absicht als den ganzen Menschen mit Verstand und Herz von Grund auf zu bessern und ihn zu einem wahrhaft tugendhaften Menschen zu machen, was sich freilich nicht erzwingen lasse (vgl. ders.: Philosophische Sittenlehre, Bd. 1, § 11). 24 Allerdings findet sie in jüngster Zeit im Rahmen entwicklungsgeschichtlicher Studien zur Kant’schen Moraltheorie stärker Beachtung; vgl. etwa Oliver Thorndike: »›Ethica Deceptrix‹: The Significance of Baumgarten’s Notion of a Chimerical Ethics for the Development of Kant’s Moral Philosophy«, in: Recht und Frieden in der Philosophie Kants. Akten des X. Internationalen KantKongresses, Bd. 3, hg. von Valerio Rohden, Ricardo R. Terra, Guido A. de Almeida und Margit Ruffing, Berlin/New York 2008, 451 – 4 61; Corey W. Dyck: »Chimerical Ethics and Flattering Moralists: Baumgarten’s Influence on Kant’s Moral Theory in the ›Observations‹ and ›Remarks‹«, in: Kant’s ›Observations‹ and ›Remarks‹. A Critical Guide, ed. by Susan Meld Shell and Richard Velkley, Cambridge 2012, 38 – 56, bes. 39 – 43. 25 Vgl. Onomasticon philosophicum latinoteutonicum et teutonicolatinum, hg. von Ken Aso, Masao Kurosaki, Tanehisa Otabe und Shiro Yamauchi, Tokio 1989, 123, wo Baumgarten durchgehend als Erstbeleg für die in §§ 4 – 7 verwendeten attributiven Wortverbindungen mit ethica aufscheint.

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sie ihnen in der Erziehung keinerlei Grenzen setzen. Siegmund Jacob Baumgarten nennt als Anhänger eines ethischen Laxismus in konfessioneller Polemik die Jesuiten, die sich durch eine gelindere Sittenlehre beliebt zu machen gesucht hätten.26 Mit einer lockeren Ethik zwar verwandt, aber nicht einfach zu verwechseln ist eine sogenannte ›schmeichelnde Sittenlehre‹, die durch sinnlich angenehme Beweggründe zu sinnlich angenehmen Handlungen verbindet. Auf eine solche Art moralisieren Meier zufolge unter seinen Zeitgenossen die Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine, da sie durch eine erotisch aufgeladene Bilderwelt die Sinne reizten und die Einbildungskraft erhitzten. Von den klassischen Philosophenschulen hätten dagegen die Epikureer die allerschmeichelhafteste Moral gepredigt. Zwar sei es an sich kein Fehler, sich darum zu bemühen, Pflichten und Handlungsmotive auf eine sinnlich angenehme Art vorzustellen. Aber wer in der Moral nur die Sinnlichkeit bezaubere und berausche, greife sichtlich zu kurz, wenn er darüber die vernünftigen Antriebe vernachlässige.27 Das gerade Gegenteil zu einer schmeichelnden Ethik ist eine düstere, mürrische Sittenlehre, die nur durch sinnlich unangenehme Beweggründe zu sinnlich unangenehmen Handlungen zu verpflichten sucht. Hier kommt es erneut zu einer einseitigen Fixierung auf die Sinnlichkeit, nur diesmal mit umgekehrten Vorzeichen: Es wird lediglich mit handfesten Strafen gedroht, um die Menschen auf den rauen Pfad der Tugend zu zwingen, ohne mit positiven Anreizen zur Schönheit des Guten einzuladen und anzulocken. Als antike Vertreter einer derartig menschenfeindlichen Ethik führt Meier Cato und die Stoiker an, die eine völlige Ausrottung der Leidenschaften gefordert hätten. Aber wohl stärker im Blick sind moderne Moralapostel, die man in pietistischen Kreisen vermuten darf. Diese würden die paulinische Formel von der ›Kreuzigung des Fleisches‹ so übel verstehen, dass sie alle sinnlichen Belustigungen für Sünde hielten.28 Hier werde – so Baumgarten an einer vielzitierten Stelle zu Beginn der Ästhe­t ik-Nachschrift – der Kardinalfehler begangen, die ›Unterdrückung des Sündlichen‹ mit der gänzlichen ›Ausrottung des Sinnlichen‹ zu verwechseln.29 Vgl. zur ethica laxa Baumgarten: Eth. § 4 (AA XXVII, 873); Meier: Philosophische Sittenlehre, Bd. 1, § 19; Siegmund Jacob Baumgarten: Ausführlicher Vortrag der Theologischen Moral, »Vorläufige Einleitung«, § 10. 27 Vgl. zur ethica blandiens Baumgarten: Eth. § 5 (AA XXVII, 873); Meier: Philosophische Sittenlehre, Bd. 1, § 21 und § 23. 28 Vgl. zur ethica morosa Baumgarten: Eth. § 6 (AA XXVII , 874); Meier: Philosophische Sittenlehre, Bd. 1, § 22; s. auch ebd., § 9. – Das Eindringen des stoischen Apathie-Ideals in den christlichen Lehrbegriff und die damit verbundenen Tendenzen einer »Unterdrückung aller cörperlichen Dinge« aufgrund der angeblichen »Sündlichkeit aller Leidenschaft« kritisiert auch schon Siegmund Jacob Baumgarten als »das ausschweifende Verfahren einiger eifrigen Moralisten, so die Sittenlehre zu hoch gespannet haben« (Ausführlicher Vortrag der Theologischen Moral, »Vorläufige Einleitung«, §§ 8 f., Zitate 29 bzw. 28. 29 Vgl. Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhe­tik Baumgartens, Diss. Münster, Borna-Leipzig 1907; Nachdruck: 26



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Diejenige Missgestalt von Sittenlehre, auf die die ganze Auf listung verfehlter Moraltypen letzten Endes zusteuert, ist die täuschende oder chimärische Ethik. Nicht nur steht sie betont am Schluss, sondern ihr ist auch der umfangreichste Paragraph der »Prolegomena« gewidmet. Eine solche unrichtige, schwindelnde Sittenlehre lehrt irrige Verbindlichkeiten. Entweder gibt sie Bewegungsgründe an, die in Wirklichkeit keine sind, oder sie will dem Menschen Verbindlichkeiten auferlegen, die er gar nicht hat.30 Im weiteren Verlauf der Ethica philosophica nennt Baumgarten eine ganze Reihe von Beispielen für eine solche falsche Ethik. Dazu zählen etwa Anweisungen zu einer radikalen Weltabwendung, wenn man sich schon zu Lebzeiten möglichst vollständig vom Körper lösen und einen sogenannten ›philosophischen Tod‹ sterben will; des Weiteren, wenn man seinem äußeren Zustand und den materiellen Gütern gegenüber am liebsten völlig gleichgültig sein möchte.31 Baumgartens eigentümliche Konzeption einer täuschend-chimärischen Ethik dürfte maßgeblich von seinem Naturrechtslehrer Heinrich Köhler angestoßen worden sein. Denn dieser unterscheidet – und das ist gegenüber Wolff neu – ausdrücklich zwischen wahren, richtigen und irrigen, unechten Verpflichtungen. Baumgarten aber greift diese Redeweise von einer obligatio falsa (erronea, spuria) auf und legt sie, wie gesehen, der Idee einer unrichtigen, auf erschwindelten Pflichten beruhenden Sittenlehre zugrunde.32 Ferner übernimmt Baumgarten wortwörtlich den bei Köhler prominent werdenden, zumal in der praktischen Philosophie zur Anwendung gelangenden Chimärenbegriff, wenn er laut der Metaphysica darunter unmögliche und deshalb falsche Erdichtungen oder Fiktionen versteht.33 Kurzum: Ann Arbor (Michigan)/London 1982, § 12; s. ferner zur gesamten Problemkonstellation den forschungsgeschichtlich wegweisenden Aufsatz von Theodor Verweyen: »Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko. Zur ästhetik-theoretischen Grundlegung und funktionsgeschichtlichen Rechtfertigung der deutschen Anakreontik«, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, N. F. 25 (1975), 276 – 306, bes. 294 f. 30 Vgl. zur ethica deceptrix bzw. chimaerica Baumgarten: Eth. § 7 (AA XXVII, 874). In der Dissertation De vi et efficacia ethices philosophicae ist sie der einzige fehlgeleitete Ethiktyp der Viererliste, der – und dann gleich mehrfach – namentlich genannt wird (§ 36 und § 38). Meier hält die falsche, ungesunde, irrige oder betrügerische Sittenlehre für den allergrößten Fehler eines Moralisten überhaupt (Philosophische Sittenlehre, Bd. 1, § 24). 31 Vgl. Eth. § 262 (AA XXVII, 943); § 276 (AA XXVII, 948); weitere Exempel sind die Empfehlung, Glück durch völliges Nichtstun erlangen zu wollen (§ 267 [AA XXVII, 944]), oder der Irrglaube, bei echter Gelehrsamkeit käme es nicht gleichermaßen auf die Breite wie auf die Tiefe des Wissens an (§ 415 [AA XXVII, 993]). 32 Vgl. Köhler: Iuris naturalis eiusque […] Exercitationes VII , § 304: »Dantur […] motiva vera, dantur erronea seu falsa […]. Hinc nostra obligatio vel vera seu recta vel erronea est«; Baumgarten: Initia § 27 (AA XIX , 16) zählt weiter ausdifferenzierend insgesamt vier verschiedene Entstehungsgründe einer obligatio falsa auf. Die begriffliche Unterscheidung zwischen ›wahrer‹ und ›falscher Verbindlichkeit‹ übernimmt auch Georg Friedrich Meier: Allgemeine practische Weltweisheit, Halle 1764; Nachdruck: Hildesheim/Zürich/New York 2006, § 71. 33 Vgl. Heinrich Köhler: Specimen exercitationis academicae de indole fictionum heuristicarum, moralium praecipue et mathematicarum, Jena 1724 (2. Auf l. u. d. T. Dissertatio de indole fictionum heuristicarum moralium praecipue et mathematicarum. Oder: Von der Erfindungs-Kunst in moralischen und mathematischen Dingen, Jena 1738), § 12: »Fictiones impossibiles adeoque falsae, chimaerae vocan-

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Bei Köhler begegnet zwar noch nicht direkt der Begriff einer ›chimärischen Ethik‹, aber dieser ist mit der Idee falscher Verpflichtungen und moralischer Chimären schon weitgehend vorgebildet. 4. Das Spannungsverhältnis von philosophischer Ethik und theologischer Moral Für die Zurückweisung falscher, irriger Verpflichtungen und damit für die Ablehnung trügerischer Moralen beruft sich Baumgarten (wie vor ihm schon Köhler) auf den alten, verbreiteten Rechtsgrundsatz, dass man zu Unmöglichem nicht verpflichtet sein könne (impossibilium nulla est obligatio). Uns können nicht Dinge obliegen, die innerlich oder schlechterdings unmöglich sind.34 Damit dieses unmittelbar einleuchtende Grundprinzip aber nicht als billige Ausrede oder bequemer Freibrief missbraucht wird, bedarf es indes einer philosophisch-anthropologischen Reflexion darüber, was menschliche Natur ihrer wesentlichen Einrichtung nach überhaupt leisten kann und was nicht. Baumgarten hat sich in diesem Zusammenhang offenbar mit radikalen Anfragen damaliger Moraltheologen auseinanderzusetzen, die den Menschen jegliche Kraft zum Guten absprechen möchten. Aufgrund einer bestimmten Auffassung von der erbsünd­ lichen Verderbtheit des Menschen wollen sie das sittlich gute Handeln allein der Einwirkung göttlicher Gnade zuschreiben. Dieses dogmatische Vorurteil, unsere korrupte menschliche Natur könne von sich aus nichts wahrhaft Gutes leisten, weist Baumgarten jedoch mit Entschiedenheit zurück. Der Mensch sei in Wirklichkeit nicht so verdorben, wie er unter einem misanthropischen Mikroskop erscheinen müsse, wodurch man nämlich das Schlechte in ihm vergrößere und das Gute in ihm ausblende.35 tur«; ders.: Iuris naturalis eiusque […] Exercitationes VII, § 40; Baumgarten: Met. § 590: »Fictiones (figmenta) […] falsae chimaerae dicuntur«. 34 Vgl. Baumgarten: Eth. § 7 (AA XXVII , 874 Z. 11 – 12): »Non obligamur ad intrinsecus impossibilia«; ebd., § 8 (AA XXVII, 874 Z. 21); ders.: Initia, § 11 (AA XIX , 12); ders.: Ius naturae, § 11; Köhler: Iuris naturalis eiusque […] Exercitationes VII, § 306 und § 488. – Eingehend diskutiert wird die Tragweite des traditionellen Axioms ultra posse nemo obligatur gleichermaßen schon von Siegmund Jacob Baumgarten (Ausführlicher Vortrag der Theologischen Moral, »Vorläufige Einleitung«, § 1; Unterricht von dem rechtmäßigen Verhalten eines Christen, § 98). 35 Vgl. Baumgarten: De vi et efficacia, § 26 und § 30; ähnlich auch Meier: Philosophische Sittenlehre, Bd. 1, § 4. – Welche zeitgenössischen Autoren Baumgarten bei seinem nachdrücklichen Einspruch konkret vor Augen hat, ist aufgrund fehlender Namensnennung nur schwer auszumachen. Eine auf dem Mutterboden des Hallenser Pietismus erwachsene Moraltheologie, die auf einer radikalen Entgegensetzung von ›Stand der Natur‹ und ›Stand der Gnaden‹ beruht, vertritt damals etwa Johann Jacob Rambach. Dieser heute weitgehend vergessene und allenfalls noch für seine Hermeneutik bekannte Autor kontrastiert scharf die durch den Sündenfall verdorbene und zerstörte Natur einerseits und die durch die Wiedergeburt wiederhergestellte und geheiligte Kreatur andererseits (Christliche Sittenlehre, Halberstadt/Leipzig, 2. Auf l., 1738 [EA 1736], § 29). Sowohl als Moralphilosoph wie als Moraltheologe ungemein wirkungsmächtig war Anfang des 18. Jahrhunderts ferner Johann Franz Budde, der einen tiefen Graben zwischen



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Mit seiner Abwehr eines anthropologischen Pessimismus setzt sich Baumgarten freilich dem Vorwurf des Pelagianismus aus, also dem seinerzeit gern erhobenen Einwand, dass man der menschlichen Natur zuviel zutraue und der göttlichen Gnade zuwenig übriglasse. Feinheiten der theologiegeschichtlich komplexen Fragestellung nach dem Verhältnis von Natur und Gnade können an dieser Stelle auf sich beruhen bleiben. Hier interessiert lediglich, mit welcher Strategie Baumgarten sich dagegen verteidigt. Nicht nur weist er die Beschuldigung des Pelagianismus als unbegründet zurück, sondern beansprucht darüber hinaus sogar, taugliche Waffen gegen den pelagianischen Irrtum bereitzustellen.36 Er wehrt sich dagegen, als ethischer Minimalist verschrien zu werden. Die philosophische Ethik könne auch manche Handlungen vorschreiben, die der verderbten menschlichen Natur zu schwer seien.37 Indem er einerseits gegenüber einer laxen, schmeichlerischen Ethik auf die Strenge sittlicher Forderungen besteht, ohne dabei andererseits einer rigoristisch harten oder chimärisch schroffen Moral das Wort zu reden, glaubt Baumgarten insgesamt einen gesunden, gangbaren Mittelweg betreten zu haben. Diese vermittelnde Position sollte – so sein ausdrücklicher Anspruch und seine abschließende Folgerung – eine grundsätzliche Vereinbarkeit von philosophischer Ethik und christlicher Ethik ermöglichen. Vermeintliche Gegensätze zwischen Vernunftmoral und Glaubensmoral seien bloße Scheinwidersprüche, die sich bei Lichte besehen auflösen ließen.38 Zusammenfassend darf festgehalten werden: Die »Prolegomena« zur Ethica philo­ sophica verfolgen – ähnlich übrigens wie die zehn Jahre später erschienenen, in der Forschungsliteratur weit stärker beachteten »Prolegomena« zur Aesthetica – eine unverkennbar apologetische Zielsetzung: Gegenüber mancherlei religiös motivierten beiden Disziplinen aufreißt: »In philosophia […] homo solis naturae, corruptae utique, & infinitum in modum depravatae, viribus instructis; in theologia autem homo coelesti lumine collustratus, & divini Spiritus adiutus gratia, tantum adgreditur opus« (Elementa philosophiae practicae, Halle, 3. Auf l., 1707 [EA 1697]; Nachdruck in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Hildesheim/ Zürich/New York 2004, § 28). 36 Vgl. Baumgarten: De vi et efficacia, § 40. – Für wie gewichtig Baumgarten die Entkräftung des damals häufig als Totschlagwaffe eingesetzten Pelagianismusverdachts ansah, lässt sich daran ablesen, dass er bereits in der Vorrede zur ersten Auf lage seines Ethikkompendiums relativ ausführlich darauf zu sprechen kommt (Eth., »Praefatio« [AA XXVII, 738]); dazu s. auch Grote: Moral Philosophy and the Origins of Modern Aesthetic Theory, 237 – 241. – Auch in der unter vom Vorsitz von Georg Friedrich Meier abgehaltenen Dissertation Meditationes philosophicae morales de virtutis philosophicae cum christiana convenientia et disconvenientia, Halle 1750, § 17 wird der berühmtberüchtigte pelagianische Irrtum expressis verbis bekämpft. 37 Vgl. Baumgarten: Eth. § 7 (AA XXVII, 874); Meier: Philosophische Sittenlehre, Bd. 1, § 26. 38 Vgl. Baumgarten: Eth. § 8 (AA XXVII, 874); Meier: Philosophische Sittenlehre, Bd. 1, § 27. – Bereits Siegmund Jacob Baumgarten besteht nachdrücklich darauf, dass philosophische und theologische Moral einander nicht zu widersprechen bräuchten. Die christliche Sittenlehre sei die allernatürlichste, die nur erdacht werden könne, weil sie der menschlichen Natur mit ihren Mängeln und Unvollkommenheiten am gemäßesten sei (Ausführlicher Vortrag der Theologischen Moral, »Vorläufige Einleitung«, § 6).

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Vorbehalten sollen Nutzen und Notwendigkeit einer philosophischen Ethik gerade auch für das Studium der Moraltheologie einsichtig gemacht werden. Während gewisse pietistische Kreise den Eindruck erweckten, dass sich die Sittenlehre einzig auf die Heilige Schrift zu stützen habe und das Feld des Moralischen quasi exklusiv für sich reklamierten,39 sucht Baumgarten gegenüber solch überzogenen Ansprüchen den nötigen Freiraum für eine philosophische Ethik zu sichern. Wenn Philosophie per definitionem eine Wissenschaft ist, die ohne Glauben (sine fide) auszukommen hat, ist damit möglichen Einsprüchen und dogmatischen Verdikten von Seiten einer religiösen Glaubensgemeinschaft von vornherein ein Riegel vorgeschoben. Baumgartens selbstbewusstes Eintreten für die Autonomie philosophischen Denkens wäre aber sicherlich missverstanden, wenn man daraus eine prinzipiell glaubens- und autoritätsfeindliche Haltung seinerseits ableiten wollte. Die strikte Selbstbegrenzung der Philosophie auf das, was mit dem bloßen Licht der natürlichen Vernunft erkennbar ist, lässt gewissermaßen als Kehrseite der Medaille ein weites Feld für Einsichten, die von woandersher gewonnen werden. Für einen religiösen Menschen wird es Glaubensgewissheiten geben, die sich allein im Licht einer göttlichen Offenbarung vollauf erschließen. Baumgartens zeitweilige Lehrtätigkeit als Theologe im Nebenberuf und nicht zuletzt die erhaltenen Zeugnisse über sein Sterben als gläubiger Christ legen nahe, dass eine solche Offenheit für den Offenbarungsgedanken bei ihm selbst bis an sein Lebensende bestanden hat. 5. Die Steigerung der Wirksamkeit philosophischer Ethik als Baumgartens Grundanliegen In der Konzeption einer glaubensunabhängigen Philosophie steckt also durchaus eine gehörige Portion philosophischer Selbstbescheidung. Trotzdem beschränkt sich Baumgarten nicht darauf, lediglich defensiv die Unverzichtbarkeit philosophischer Ethik gegenüber ihrer skeptischen Bezweiflung durch pietistische Moraltheologen zu verteidigen. Vielmehr vertritt er offensiv ihren nicht zu unterschätzenden Nutzen bei der praktischen Umsetzung sittlicher Einsicht. Wie überhaupt jeder Erkenntnis kommt selbstverständlich auch philosophischen Aussagen eine mehr oder weniger große handlungsleitende Kraft und Wirksamkeit zu. Bei seinem Bemühen, philosophisch gewonnene Einsichten möglichst kraftvoll wirksam werden zu lassen, nimmt Baumgarten – so gilt es nunmehr im Schlusskapitel zu zeigen – in produktiver Aneignung das pietistische Grundanliegen einer Verlebendigung der Erkenntnis auf. Dieser Prozess einer philosophischen Anverwandlung ursprünglich 39

Vgl. für die kulturelle Atmosphäre in Halle um 1740 außerordentlich erhellend Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung, Tübingen 1989, 97 – 100 [u. ö.]; einen orientierenden Überblick zum Verhältnis von pietistischer Moral und philosophischer Ethik unter Thomasius und Wolff bietet ferner Walter Sparn: »Philosophie«, in: Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2004, 227 – 263, hier 242 – 249.



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religiös geprägter Vorstellungen lässt sich anhand der Dissertation De vi et efficacia ethices philosophicae exemplarisch verfolgen. In dieser schulmäßigen Schrift aus Baumgartens Frankfurter Anfangsjahren wird nach den (oben schon erörterten) Eingangsreflexionen über den Begriff einer philosophischen Ethik in der ersten Hälfte zunächst von der Kraft und Wirksamkeit der Erkenntnis im Allgemeinen gehandelt, sodann in der zweiten Hälfte speziell von der Wirkkraft philosophischer Ethik. Dies geschieht in systematisch abgerundeter Form, was weder in den beiden Ethiklehrbüchern noch in den übrigen Werken Baumgartens ein vergleichbar ausführliches Gegenstück hat. Die Bedeutung des ersten Teils der Dissertation liegt darin, dass hier das (nicht zuletzt für die Ästhe­t ik) eminent wichtige semantische Feld von Kraft, Wirksamkeit, Leben und Lebhaftigkeit der Erkenntnis in seiner Gesamtheit abgeschritten und vermessen wird.40 Dabei nimmt Baumgarten einige Begriffsklärungen und -verfeinerungen vor, die in der Zweitauflage der Metaphysica bemerkenswerterweise zu einer erheblichen Überarbeitung der entsprechenden Paragraphen führen. Damit ist diese akademische Abhandlung übrigens ein Musterbeispiel dafür, dass Schuldisputationen im 18. Jahrhundert keineswegs immer rein zu Übungszwecken für die beteiligten Studenten abgefasst wurden, sondern manchmal auch den Erkenntnisprozess des präsidierenden Hochschullehrers beträchtlich voranbringen konnten. Für unsere Dissertation eigentümlich ist die Tatsache, dass der ursprünglich in der Physik und näherhin in der Kinetik beheimatete Begriff der ›bewegenden Kraft‹ (vis motrix) auf den Bereich der Erkenntnis übertragen und psychologisch vielfältig ausbuchstabiert wird. Die sogenannte vis cognitionis wird sogleich baumgartentypisch unterschieden in eine vis sensitiva und eine vis rationalis. Ihr Gegenteil wird Trägheit der Erkenntnis (inertia cognitionis) genannt. Ferner ist von der Stärke oder Schwäche der Erkenntnis die Rede (robur bzw. imbecillitas cognitionis), schließlich von einer lebendigen oder toten Erkenntnis (cognitio viva bzw. mortua – im expliziten Anschluss an die physikalische Unterscheidung von vis viva und vis mortua).41 Die relative Unüblichkeit der Redeweise von der ›bewegenden Kraft der Erkenntnis‹ und der damit verbundenen Metaphern lässt sich daran ablesen, dass Baumgarten in diesem Zusammenhang ausdrücklich gegen den Einwand eines Gebrauchs unpassender Ausdrücke Stellung bezieht. Er rechtfertigt seine termino40 Selbst in der ansonsten anregenden und gründlichen Untersuchung von Caroline TorraMattenklott über den Begriff der lebendigen Erkenntnis in Baumgartens Ästhe­t ik (Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002, 139 – 2 08) bleibt die Dissertation De vi et efficacia ethices philososophicae leider unberücksichtigt, so dass die im folgenden skizzierten Wandlungen und Weiterentwicklungen in Baumgartens Konzeption der vita cognitionis um 1740 nicht erfasst werden. 41 Vgl. Baumgarten: De vi et efficacia, §§ 3 – 10. – Für die Unterteilung der vis motrix in eine vis viva und eine vis mortua verweist Baumgarten auf das Werk des bereits vor seiner Zeit an der Viadrina lehrenden Naturphilosophen Jacob Hermann: Phoronomia, sive de viribus et motibus corporum solidorum et fluidorum, Amsterdam 1716, §§ 7 – 9.

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logischen Neuerungen mit dem Argument, das fachpsychologische Vokabular sei bislang selbst in den wortreichsten Sprachen noch unterentwickelt.42 Die Erkenntnispsychologie der Metaphysica wird dann seit der zweiten Auf lage von 1743 hauptsächlich um die folgenden, aus der Kraftlehre erborgten Differenzierungen bereichert: Eine Erkenntnis heißt bewegend oder wirksam, sofern sie Triebfedern des Gemüts enthält, dagegen träge oder unfruchtbar, sofern das nicht der Fall ist. Letztere bleibt eitle Spekulation, mag sie auch sonst hinreichend vollkommen sein.43 Eine Erkenntnis von größerer Wirksamkeit oder Kraft ist stärker, eine von geringerer Wirksamkeit, Kraftlosigkeit geheißen, ist schwächer.44 Doch ist es eine Kernthese unserer Dissertation, die dann 1743 in die revidierte Neuausgabe der Metaphysica übernommen wird, dass keine menschliche Erkenntnis gänzlich unfruchtbar ist. Jede Erkenntnis hat irgendeine Kraft und Wirksamkeit, mag der von ihr ausgehende Antrieb noch so klein und unscheinbar sein.45 Selbst eine vermeintlich ›ohnmächtige Erkenntnis‹ kann unter Umständen wieder zum Leben erweckt werden und in der Folge eine unvermutete Wirksamkeit entfalten. Während damals manche Theologen der philosophischen Ethik aufgrund des Fehlens göttlicher Gnadenwirkung gerne pauschal eine solche Ohnmacht unterstellten, dreht Baumgarten den Spieß um und hält der geoffenbarten Religion vor, dass auch sie keineswegs vor der Gefahr gefeit ist, ohnmächtig und für das moralische Handeln folgenlos zu bleiben.46 Eine Neubestimmung und Präzisierung erfährt Anfang der 1740er Jahre schließlich auch das in der zeitgenössischen Philosophie und Theologie schon vielgebrauchte Begriffspaar ›lebendige‹ vs. ›tote Erkenntnis‹ (cognitio viva bzw. mortua). Eine Erkenntnis nennt Baumgarten jetzt nur mehr dann lebendig, wenn sie eine wirkende Begierde oder Abneigung hervorruft, die zum Handeln zureicht. Hingegen heißt eine Erkenntnis tot, wenn sie nur eine unwirksame Begierde oder Abneigung erzeugt, die zum Handeln unzureichend ist.47 Aufschlussreich ist das Baumgarten: De vi et efficacia, § 3, Anm. c. ders.: Met. § 669: »Cognitio, quatenus elateres animi continet, movens […], quatenus minus, iners […], et haec ceteroquin satis perfecta […] speculatio […] dicitur«, 354 (Zusatz ab der 2. Auf l. unter offenkundigem Rückgriff auf De vi et efficacia, §§ 3 f.). 44 Vgl. ders.: Met. § 515: »cognitio […] maioris efficaciae, s. roboris, est fortior, minoris, quae imbecillitas, debilior« (Ergänzung ab der 2. Auf l., sichtlich zurückgehend auf De vi et efficacia, § 7). 45 Vgl. ders.: Met. § 515: »Nulla cognitio est totaliter sterilis« (Dieser Schlüsselsatz fehlt noch in der Erstauflage von 1739); ders.: De vi et efficacia, § 18: »Nulla cognitio humana omnino iners et sterilis«; ebd., § 16; ders.: Philosophische Brieffe von Aletheophilus, Frankfurt/Leipzig 1741, 9. Schrei­ben, 22: »Nichts ist gänzlig unfruchtbar« [im Original fettgedruckt]. – Zur Begründung verweist Baumgarten auf das ontologische Axiom, dass nichts ohne Folge sei und daher nichts völlig steril, müßig und unfruchtbar sein könne (Met. § 23 [ebenfalls gegenüber der 1. Auf l. auf signifikante Weise erweitert]). 46 Vgl. ders.: De vi et efficacia, § 12. 47 Vgl. ders.: Met. § 671: »Cognitio movens appetitiones aversationesve efficientes […] est viva ([…] sufficiens ad agendum). Cognitio […] appetitionum aversationumve inefficientium est mortua ([…] insufficiens ad agendum […])«; ders.: De vi et efficacia, § 10. Damit ersetzt Baumgarten, sich selbst stillschweigend verbessernd, die ungenauere, allzu weit gefasste Definition der Erstauf lage 42 Vgl.

43 Vgl.



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hierfür zur Veranschaulichung verwendete Beispiel. Lebendige Kraft hat eine Erkenntnis dann und nur dann, wenn Menschen bei all ihrem Tun die Besserung des Lebenswandels anstreben und sich dazu durchringen.48 Offenkundig spielt Baumgarten mit der Formel von der vitae melioratio hier auf die pietistische Forderung nach Sinnesänderung und Wiedergeburt an, die sich im täglichen Leben durch konkrete Taten auszuweisen hat. Die enger gefasste Definition der ›lebendigen Erkenntnis‹ (cognitio viva) erlaubt es zu guter Letzt auch, jene trennschärfer von der bloß ›lebhaften Erkenntnis‹ (cog­ nitio vivida) abzugrenzen. Trotz der Wortähnlichkeit möchte Baumgarten diese beiden Erkenntnistypen keinesfalls miteinander verwechselt wissen. Lebhafte, d. h. aufgrund der Menge der Merkmale extensiv klarere Vorstellungen können nichtsdestotrotz träge bleiben und müssen noch keineswegs zum Handeln zureichen.49 Nachdem im ersten Teil der Frankfurter Dissertation von 1741 die soeben dargestellten Begriffsklärungen vorgenommen worden sind, geht es im zweiten Teil vornehmlich um die Frage, auf welche Weise philosophische Ethik an Stärke möglichst gewinnen kann. Ihre Erkenntnis sei umso kraftvoller und wirksamer, je wahrer, klarer und gewisser sie werde.50 Baumgarten ist erklärtermaßen der Überzeugung, dass philosophische Ethik häufig eine lebendige und zureichende Kraft hat, die ceteris paribus größer sei als die einer nicht-philosophischen Moral, da sie die sittlichen Verpflichtungen durch ihre wissenschaftliche Behandlungsart umfassend verdeutliche.51 Allerdings fängt die philosophische Ethik keineswegs einfach bei Null an; vielmehr ruht sie ganz auf dem Unterbau einer sogenannten natürlichen Ethik (ethica naturalis) auf. Der philosophische Ethiker sollte sich nicht vermessen, etwas völlig Neues und gänzlich Unbekanntes sagen zu wollen, sondern hat sich lediglich als Ausleger der Moralnatur des Menschen zu verstehen, die die eigentliche Lehrmeisterin ist.52 Baumgarten sieht hier dasselbe Weiterführungsverhältnis gegeben wie zwischen einer sogenannten ›natürlichen Logik‹ und einer kunstgerechten Logik. Wie der Schulwitz an den Mutterwitz anknüpfen sollte, um eine Steigerung der Erkenntnis zu bewirken, so hat philosophische Ethik auf einer schon vorhandenen, oft bereits sehr lebendigen natürlichen Kenntnis des Moralischen aufzubauen der Metaphysica, § 669: »Cognitio quatenus elateres animi continet, viva quatenus minus mortua dicitur«. 48 Vgl. ders.: De vi et efficacia, § 10. 49 Vgl. ebd., § 13; ders.: Met. § 531: Die Definition der perceptio vivida als extensive clarior bleibt als solche zwar in allen Auf lagen unverändert, doch wird der fragliche Paragraph später gegenüber der Erstfassung erheblich erweitert. 50 Vgl. ders.: De vi et efficacia, § 36 und §§ 31 – 33. 51 Vgl. ebd., § 28 und § 18. 52 Vgl. ebd., § 36. – Die natürliche Erkenntnis des Ethischen untergliedert sich ihrerseits noch einmal in eine ethica connata naturalis (§ 19) und eine ethica naturalis acquisita (§ 24), je nachdem ob die Erkenntnis von Gut und Böse gleichsam angeboren ist oder erst durch eine gute Erziehung erworben wurde.

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und diese weiter zu stärken.53 Insofern praktische Philosophie ihrem Wesen nach auf Ausübung zielt, darf sie nicht bloß gelehrter Überbau sein. Daher bilden das Leben und die bewegende Kraft der Erkenntnis ihren wichtigsten Vorzug, hingegen sind Trägheit und unfruchtbare Spekulation ihr gravierendster Defekt.54 Dass ethisches Wissen nicht bloß wahr und gewiss, sondern als praktische Einstellung in erster Linie wirksam und lebendig sein müsse, hat vor Baumgarten schon der Jenaer Moraltheologe Johann Franz Budde eindringlich betont. Dieser dem Pietismus sehr gewogene, einflussreiche Denker verknüpft die Forderung, dass Moraltheologie als praxisbezogene Wissenschaft keine tote, unwirksame Erkenntnis bleiben dürfe, frappierenderweise aufs engste mit dem griechischen Terminus aisthêsis. Budde versteht darunter eine geistliche Erfahrung, die namentlich die Theologen auszeichnen müsse, nämlich eine Art inneres Empfinden göttlicher Dinge.55 Siegmund Jacob Baumgarten hat diesen Konnex von cognitio efficax et viva und spirituell gedeuteter aisthêsis sogleich in die »Prolegomena« seines ersten moraltheologischen Kollegs von 1732 übernommen und damit wohl an seinen jüngeren Bruder weitervermittelt.56 Wie jüngst Simon Grote in einer bahnbrechenden Studie zu den pietistischen Wurzeln von Baumgartens Ästhe­t ik eingehend herausgearbeitet hat, war der Begriff der aisthêsis im pietistisch geprägten Milieu Halles schon um 1700 richtig prominent.57 Als Baumgarten in seiner Habilitationsschrift 1735 die Ästhe­tik als philosophische Disziplin dieses Namens aus der Taufe hebt, greift er also auf einen in seinem Umfeld längst geläufigen theologischen Schlüsselterminus zurück. Seine Erfindung der Ästhe­t ik als Instrument zur Kultivierung lebendiger Erkenntnis bedeutet indes eine konsequente Enttheologisierung dieses pietistischen Erbes. Was bisher der Moraltheologie vorbehalten war, wird jetzt für die philosophische Ethik reklamiert: die Gewinnung lebendiger, handlungswirksamer sittlicher Wahrheit durch systematisch geschärfte Sinnesleistung.

53 Vgl. ebd., § 29; zur Unterscheidung von logica artificialis und logica naturalis s. auch ders.: Acr. log. §§ 9 – 13. 54 Vgl. ders.: Initia, §§ 4 f. (AA XIX , 10); so auch Meier: Philosophische Sittenlehre, Bd. 1, § 18; ders.: Allgemeine practische Weltweisheit, § 18. 55 Vgl. Johann Franz Budde: Institutiones theologiae moralis variis observationibus illustratae, Leipzig, 2. Auf l., 1727 ( EA 1711), Nachdruck in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Hildesheim/ Zürich/New York 2007, §§ 8 f.; ders.: Institutiones theologiae dogmaticae variis observationibus illu­s­ tratae, Leipzig 1723, Nachdruck in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 7.1, Hildesheim/Zürich/New York 1999, Buch I, Kap. 1, § 43. – Budde beruft sich für seine übertragene Begriffsverwendung von aisthêsis, die sich biblisch vor allem auf die Paulusstelle Phil 1,9 stützt, auf den von ihm hochgeschätzten Philologen Salomon Glassius: Philologia sacra, Leipzig 1705, Sp. 1809. 56 Vgl. Siegmund Jacob Baumgarten: Ausführlicher Vortrag der Theologischen Moral, »Auszug des Aufsatzes von 1732«, § 4. 57 Vgl. Grote: Moral Philosophy and the Origins of Modern Aesthetic Theory, 114 – 127; dt. auszugsweise auch in: ders.: »Pietistische ›Aisthesis‹ und moralische Erziehung bei Alexander Gottlieb Baumgarten«, in: Aichele/Mirbach (Hgg.): Alexander Gottlieb Baumgarten, 175 – 198, hier 180 – 187.

Baumgartens Position zur Transitivität der K ausalrelation im Kontext allgemeiner Zurechnungsfragen in R echt und Ethik Von Jan C. Joerden 1. In seinem Werk Metaphysica verwendet Baumgarten im Rahmen einer Untersuchung zu den Ursachen die Formulierung »Causa causae […] est etiam causa causati«, übersetzt: »Die Ursache der […] Ursache ist auch die Ursache des Verursachten.«1 Dabei ist hervorzuheben, dass dieser wie ein Merkvers oder ein Stabreim ausgestaltete Satz nicht im Rahmen einer Abhandlung Baumgartens zur Ethik auftaucht, sondern eben in seiner Meta­phy­sik. Doch ein näherer Blick auf den Satz macht deutlich, dass gerade für die Ethik besonderes Interesse an ihm besteht, weil er eine wichtige Feststellung über die Eigenschaft der Relation ›Ursache von‹ zum Ausdruck bringt, die jeder Zuschreibung von ethischer oder auch rechtlicher Verantwortung zugrunde liegt. Dabei ändert dies allerdings nichts an dem ursprünglichen Status des Satzes als eines solchen der Meta­phy­sik, und zwar schon deshalb, weil diese den Hintergrund und die Basis jeder Zurechnung von Verantwortlichkeit für ein Ereignis bildet. Dass Baumgarten den Satz so selbstverständlich einführt und verwendet, deutet darauf hin, dass er als Argumentationstopos bereits eine längere Tradition hat, die es lohnt, etwas näher in Augenschein zu nehmen. Das folgende Bild mag dazu dienen, die Aufgabe des obigen Satzes etwas anschaulicher zu machen. Stellen wir uns eine Reihe von Dominosteinen so hintereinander aufgebaut vor, dass das Umstürzen des ersten Steines ein Fallen des nachfolgenden Steines bewirkt usw., bis schließlich der vorletzte Dominostein den letzten Dominostein in der Reihe zum Umfallen bringt. Nehmen wir nun zur Dramatisierung des Geschehens noch an, dass der letzte Dominostein den Zünder einer Bombe auslöst, durch deren Explosion ein Mensch getötet wird, so ist der Zusammenhang des Geschehens mit Recht und Ethik offenkundig. Denn hier geht es nun u. a. um die Frage, wer für den Tod des Bombenopfers verantwortlich gemacht werden kann. Die spontane Antwort darauf lautet: Der Verursacher natürlich. Aber, wer ist der Verursacher der Explosion? Sieht man einmal von den Vorgängen der Bombenexplosion im Einzelnen ab, so ist der Verursacher des Todes des Bombenopfers zunächst einmal der letzte umgefallene Dominostein. Mit dieser Feststellung würden wir uns allerdings nicht zufrieden geben. So war das Schlagwort vom ›Verursacherprinzip‹ jedenfalls nicht gemeint. Vielmehr 1 Met. § 317. Hier und im Folgenden zitiert und übers. nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica/Meta­phy­sik, Hist.-krit. Ausgabe, übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011.

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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würde man die Kette der Ursachen zeitlich weiter zurückverfolgen; von dem zeitlich letzten umfallenden Dominostein zunächst zu dem vorletzten Dominostein, dann zu dem vorvorletzten und so weiter, auf der Suche nach einem Verantwortlichen für den Tod des Bombenopfers. Dass wir nicht bei einem der umgefallenen Dominosteine in diesem Regress stehen bleiben, sondern weitersuchen nach demjenigen, der den ersten Stein umgeworfen hat, liegt darin begründet, dass wir sinnvollerweise nicht die Natur (in Gestalt eines Dominosteines) für ein solches Ereignis haftbar machen können, sondern allenfalls einen Menschen, von dem man zumindest unter bestimmten Voraussetzungen sagen kann, er habe aus freiem Antrieb gehandelt und sei nicht seinerseits nur ein zum Umfallen gebrachter Dominostein.2 Einen solchen freien Anfang einer Ursachenkette bezeichnet man herkömmlich als causa libera,3 also als ›freie Ursache‹, um diese Art von Ursachen von einer bloßen Naturursache (causa non libera; causa naturalis) zu unterscheiden. Was teilt uns nun in diesem Zusammenhang die Formel causa causae est etiam causa causati mit? Sie macht deutlich, dass sich die Verantwortlichkeit für ein Ereignis (wie hier den Tod des Bombenopfers) jedenfalls nicht im Regress entlang der Ursachenkette gewissermaßen verdünnt. Denn selbst ein (zeitlich) weit vor dem schädigenden Ereignis liegender Vorgang in der betreffenden Ursachenkette ist eine Ursache des Ereignisses. Sogar die noch so weit entfernte Ursache ist grundsätzlich nicht weniger verantwortlich für den Tod des Bombenopfers als die diesem Ereignis am nächsten gelegene Ursache. Auch der erste Dominostein in der Ursachenkette ist daher genauso Ursache für den wesentlich später eintretenden Erfolg wie der letzte vor der Bombenexplosion umfallende Dominostein. Ausführlicher besagt die Formel mithin: Auch die weit entfernte Ursache einer Ursache ist eine Ursache des Erfolges. Heute würde man diese Eigenschaft der Kausalrelation als Transitivität bezeichnen;4 oder formelmäßig: Wenn A die Ursache von B und B die Ursache von C ist, dann ist A auch die Ursache von C. Christian Wolff hat diese Eigenschaft der Kausalrelation mit folgendem Beispiel illustriert, das er mit der besagten Formel einleitet: »Causa causae est etiam causa causati […] Ita in exemplum, quo saepe usi fuimus in hac doctrina, causa accensionis pulveris pyrii est homo, qui bombardam oneratam & directam solvit. Pulvis pyrius accensus vi sua elastica globum ex bombarda expellit determinata quadam celeritate & secundum directionem bombardae atque adeo causa est explosionis globi. Est igitur & is qui bombardam oneravit, direxit & solvit causa explosionis globi. Hinc & in communi sermone globum explodere dicitur, qui 2

Diese Voraussetzung von Freiheit wird man bei jeder sinnvollen Zuschreibung von Verantwortlichkeit machen müssen; vgl. dazu noch näher im Folgenden. 3 Vgl. etwa Immanuel Kant: Meta ­phy­sik der Sitten (1797), AA , Bd. 6, Berlin 1907/14, 227; vgl. auch noch unten bei Anm. 19. 4 Näher dazu Jan C. Joerden: Logik im Recht. Grundlagen und Anwendungsbeispiele, 2. Auf l., Heidelberg 2010, 245 – 251 m. w. N.



Baumgartens Position zur Transitivität der Kausalrelation

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bombardam oneratam & directam solvit. Similiter globus ex bombarda explosus est causa vulneris corpori humano inflicti, in quod impingit. Ergo etiam vulneris hujus causa is, qui globum ex bombarda solvit. Quamobrem communis quoque usus loquendi fert, quod is dicatur globo ex bombarda exploso alterum vulnerasse.« – »Die Ursache der Ursache ist auch die Ursache des Verursachten […] Ebenso ist es in einem Beispiel, das wir schon oft in dieser Lehre verwendet haben: Die Ursache für die Entzündung des Schießpulvers ist der Mensch, der das geladene und ausgerichtete Geschütz auslöst. Das entzündete Schießpulver schleudert die Kugel mit Hilfe seiner elastischen Kraft aus dem Geschütz, und zwar mit einer bestimmten Geschwindigkeit und gemäß der Ausrichtung des Geschützes, und es ist daher die Ursache für das Herausfliegen der Kugel. Es ist daher der, der das Geschütz geladen, ausgerichtet und ausgelöst hat, die Ursache für das Herausfliegen der Kugel. Und daher wird von dem, der das geladene und ausgerichtete Geschütz ausgelöst hat, in der Alltagssprache gesagt, dass er die Kugel zum Herausfliegen gebracht habe. Gleichfalls ist die aus dem Geschütz herausfliegende Kugel die Ursache der Verwundung des verletzten Menschen, den sie trifft. Daher ist auch derjenige die Ursache für diese Verwundung, der die Kugel zum Herausfliegen aus dem Geschütz gebracht hat, und folglich auch der, der das Geschütz geladen, ausgerichtet und ausgelöst hat. Aus diesem Grund gibt es den allgemeinen Sprachgebrauch, dass von jenem gesagt wird, er habe durch das Abschießen einer Kugel aus einem Geschütz einen anderen verwundet.« 5

Es ist übrigens keineswegs immer so, dass wir einen solchen Regress in der ›Ahnenreihe‹ eines Ereignisses – vor allem dann, wenn es ein erfreuliches Ereignis ist – gleichsam ohne wertmäßige Abstufungen vornehmen. So etwa im Rahmen von Verwandtschaftsbeziehungen: Wir gehen zurück von der Mutter bzw. dem Vater zu den Großeltern, dann zu den Urgroßeltern, dann zu den Ur-Ur-Großeltern usw. Obwohl hier jenseits der Stufe der Großeltern auch die schon von der Ur-sache her bekannte Vorsilbe ›Ur‹ verwendet wird, zeigt man doch mit der Addition einer weiteren Vorsilbe ›Ur‹ an, dass jetzt eine andere Person in den Blick genommen wird als die in der Generationenfolge zeitlich nachkommende. Dies vor allem deshalb, weil wir – anders als in Ursachenketten – in Verwandtschaftsbeziehungen und ihren Bezeichnungen nicht darüber hinwegsehen können, dass es sich bei den Kettengliedern um Personen handelt. In diesem Kontext gilt der Satz causa causae est etiam causa causati (bzw. ein dementsprechender Satz für die betreffende Verwandtschaftsbeziehung) also nicht.6 Geht es jedoch um die Zuschreibung von Verantwortlichkeit, so ist ohne den Satz nicht auszukommen. Im Strafrecht lernen ihn die Studierenden schon im ersten Semester kennen, allerdings zumeist nicht in seiner einfachen lateinischen For5 Christian Wolff: Philosophia Prima sive Ontologia, Editio nova priori emendatior, Frankfurt/ Leipzig 1736, Neudruck in: Christian Wolff: Gesammelte Werke, II, Abt. 3, Darmstadt 1962, § 928; Übers. J. C. J. 6 Anders formuliert: Die Relationen ›Mutter von‹ bzw. ›Vater von‹ sind nicht transitiv, sondern intransitiv.

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mulierung, sondern gleich als eine ganze ›Theorie‹ die sog. ›Äquivalenztheorie‹.7 Sie besagt, dass alle Ursachen in einer Ursachenkette gleichermaßen, also ›äquivalent‹, zu dem Ergebnis des Ablaufs dieser Kette beigetragen haben. Damit kann grundsätzlich auch noch derjenige z. B. für den Tod eines Menschen verantwortlich gemacht werden, der eine eventuell sogar Jahre zurückliegende Ursache für dessen Tod gesetzt hat ( jedenfalls dann, wenn ex ante für ihn vorhersehbar war, dass es zu diesem Ergebnis kommen könnte; als Beispiel mag man an einen Giftmischer denken, dessen Gift nur sehr langsam und über mehrere Zwischenschritte zum Tode seines Opfers geführt hat). 2. Nun hat die Formel causa causae est etiam causa causati allerdings eine durchaus über Baumgarten und Christian Wolff noch weiter zurückreichende Traditionslinie, die auch im Hinblick auf die Entwicklung des Begriffs der Verantwortlichkeit eine wichtige Rolle gespielt hat. Die wohl erste Verwendung der Formel ist in einer Schrift von Nikolaus von Amiens (übrigens fälschlich unter dem Namen des Alanus de Insulis veröffentlicht) ungefähr im Jahre 1200 nachweisbar.8 Dort diente sie als wichtiges Teilstück eines Gottesbeweises, den man üblicherweise als kausal­ logischen (gelegentlich auch: kosmologischen) Gottesbeweis bezeichnet. Nikolaus von Amiens geht dabei aus von Axiomen wie insbesondere nulla causa est prior suo causato (»Keine Ursache ist früher als das von ihr Verursachte«), nihil est causa sui (»Nichts ist Ursache seiner selbst«) und eben dem Satz quidquid est causa causae etiam est causa causati (»Was auch immer die Ursache der Ursache ist, ist auch die Ursache des Verursachten«). Daraus und aus der These, dass man eine Ursachenkette im Regress nicht ins Unendliche verfolgen kann, schließt er – insofern ganz in der Tradition der aristotelischen Lehre vom ›unbewegten Beweger‹ –, dass es einen ersten Anfang der Welt gegeben haben muss, der seinerseits unverursacht ist und den wir »dank eines Vernunftschlusses« (wie es bei Nikolaus von Amiens heißt) als Gott bezeichnen. Bemerkenswert ist, dass Nikolaus dabei hervorhebt, wir hätten insofern allerdings kein Wissen, sondern könnten daran nur glauben.9 Dass Nikolaus von Amiens und nicht etwa Thomas von Aquin der erste gewesen ist, der die besagte Formel von der Transitivität der Kausalrelation verwendet hat, kann man wohl zum einen an der allerdings nicht völlig gesicherten zeitlichen Abetwa Karl Lackner/Kristian Kühl: Strafgesetzbuch. Kommentar, 28. Auf l., München 2014, vor § 13 Rn. 9 m. w. N. 8 Nikolaus von Amiens: De arte, seu articulis catholicae fidei, libri V, in: Bernardus Pezius: Thesaurus anecdotorum novissimus, Tom. I, Augsburg 1721 (f älschlich unter dem Namen von Alanus de Insulis veröffentlicht; dazu näher Martin Grabmann: Die Geschichte der scholastischen Methode, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1911, 425 – 4 65, 464 f.) Weitere Nachweise, auch zu möglichen Vorläufern dieser Formel, in Jan C. Joerden: Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs. Relationen und ihre Verkettungen, Berlin 1988, 16 – 25 und passim; dort auch eine nähere Darstellung der nachfolgenden Thesen von Nikolaus von Amiens. 9 Ebd.; Übers. der vorangegangenen Zitate J. C. J. 7 Vgl.



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folge ihrer Schriften, zum anderen aber auch daraus schließen, dass Thomas zwar keine Zweifel an dem Satz causa causae est causa causati auf kommen lässt, ihn aber eher als einen Argumentationstopos gegen seine eigenen Thesen vorstellt. Ihm geht es dabei darum, dass bei der Annahme einer durchgehenden Kausalkette vor jedem Ereignis in der Welt, also auch vor der Begehung einer Sünde, unklar wird, wer eigentlich überhaupt noch für eine Sünde verantwortlich gemacht werden kann, wenn nicht – und das ist der Clou an dieser Betrachtung – letztlich nur Gott als die zeitlich erste Ursache einer jeden Ursachenkette. In den Worten des Thomas: »3. Praeterea, quidquid est causa causae, est causa effectus. Sed Deus est causa liberi arbitrii, quod est causa peccati. Ergo Deus est causa peccati.« – »3. Außerdem, was auch immer die Ursache der Ursache ist, ist auch die Ursache des Effektes. Aber Gott ist die Ursache der freien Entscheidung, die die Ursache der Verfehlung ist. Daher ist Gott die Ursache der Verfehlung.«10

Aber Thomas will diese Argumentation nicht gelten lassen und versucht zu zeigen, dass es durchaus möglich ist, den Menschen für seine Sünden verantwortlich zu machen, wenn man sein Verhalten als frei (und zwar auch frei von Gottes Einwirkung) postuliert: »Ad tertium dicendum quod effectus causae mediae procedens ab ea secundum quod subditur ordini causae primae, reducitur etiam in causam primam. Sed si procedat a causa media secundum quod exit ordinem causae primae, non reducitur in causam primam: sicut si minister faciat aliquid contra mandatum domini, hoc non reducitur in dominum sicut in causam. Et similiter peccatum quod liberum arbitrium committit contra praeceptum Dei, non reducitur in Deum sicut in causam. […] Unde patet quod in arbitrio voluntatis positum est omne peccatum.« – »Zum dritten Einwand ist zu sagen, dass der Effekt der mittleren Ursache aus dieser hervorgeht, und wenn er ferner der Ordnung der ersten Ursache unterworfen ist, ist er damit auch auf die erste Ursache zurückzuführen. Aber wenn er so aus der mittleren Ursache hervorgeht, dass er heraustritt aus der Ordnung der ersten Ursache, dann ist er nicht auf die erste Ursache zurückzuführen. Ebenso ist es, wenn ein Diener etwas gegen den Befehl seines Herrn tut; dies ist nicht auf den Herrn wie auf eine Ursache zurückzuführen. Und ganz entsprechend ist die Verfehlung, die aus freier Willensentscheidung gegen die Vorschriften Gottes begangen wird, nicht auf Gott als deren Ursache zurückzuführen. […] Danach ist klar, dass die gesamte Verfehlung in der Willensentscheidung liegt.«11

Somit ist nach Thomas alle Verantwortlichkeit auf die freie Entscheidung des Menschen zurückzuführen.12 10 Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Prima Secundae, Bibliotheca de Autores Christianos, 3. Auf l., Madrid 1962, Quaestio 79, Art. 1, obj. 3; Übers. J. C. J. 11 Ebd., ad. 3; Übers. J. C. J. 12 Näher zu Problemen der Argumentation des Thomas s. Joerden: Strukturen, 22 – 2 5.

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3. Diese Position des Thomas findet sich zumindest indirekt auch in derjenigen Passage von Baumgartens Meta­phy­sik wieder, in der er den causa-causae-Satz erwähnt: »In concausis subordinatis aut in causa propiori idem dependebit a causa ulteriori, a quo causatum propioris pendet, aut aliud quid […]. Si prius, concausae subordinantur essentialiter, si posterius, accidentaliter. […] Causa causae essentialiter sibi subordinatae est etiam causa causati […].« – »Bei einander untergeordneten Mitursachen hängt entweder dasjenige in der näheren Ursache von der entfernteren ab, wovon das Verursachte der näheren Ursache abhängt, oder etwas anderes […]. Im ersten Fall sind die Mitursachen einander wesentlich untergeordnet, im zweiten Fall akzidentell . […] Die Ursache einer ihr wesentlich untergeordneten Ursache ist auch die Ursache des Verursachten […].«13

An dieser Stelle geht es Baumgarten offenkundig um Mit-Ursachen, von denen er zunächst feststellt, dass sie einander untergeordnet sein können. Diese Unterordnung kann nun eine wesentliche sein oder eine lediglich zufällige. Nur dann aber, wenn die Unterordnung wesentlich ist, soll der Satz gelten, dass eine solche wesentlich übergeordnete Ursache auch die Ursache alles desjenigen ist, was die untergeordnete Ursache verursacht. Auf das Problem des Thomas mit der Zurechnung von Verantwortlichkeit bezogen dürfte dies Folgendes bedeuten: Die Entscheidung des Menschen zur Begehung einer Verfehlung ist dem Willen Gottes als oberster Ursache gerade nicht wesentlich untergeordnet, weil sie ( jetzt wieder in den Worten des Thomas:) »heraus­t ritt aus der Ordnung der ersten Ursache«.14 Sie ist ihr allenfalls zufälligerweise untergeordnet, so dass der Satz causa causae est etiam causa causati nicht zur Anwendung kommt. Denn Baumarten beschränkt dessen Gültigkeit – wie gesagt – auf die Fälle der w ­ esentlich untergeordneten Ursachen. Es muss hier offen bleiben, ob die Argumentation von Thomas zu dem Problem einer Verantwortungszuschreibung unter der Annahme Gottes als erster Ursache allen Geschehens, deren Widerhall wir offenbar hier bei Baumgarten finden, wirklich überzeugend ist.15 Entscheidend für die weitere geistesgeschichtliche Entwicklung ist vielmehr die Rückführung der Verantwortlichmachung eines Menschen auf seine freie Entscheidung zur Sünde.

13 Met.

§§ 316 f. (alle Hervorhebungen im Original). Vgl. Anm. 11. 15 Vgl. Anm. 12. 14



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4. Die Lehre von der Verantwortlichkeit einer Person für ihre Taten macht dabei etwas, das in der Denkweise des sogenannten Münchhausen-Trilemmas als ›Abbruch des Verfahrens‹ zu kennzeichnen wäre. Hans Albert hat bekanntlich gezeigt, dass der Versuch einer Begründung eines ( jeden beliebigen) Satzes zu drei intellektuell wenig erfreulichen Alternativen führt.16 Entweder ist (1) die Begründung zirkulär, weil sie eine These zur Begründung verwendet, die ihrerseits schon als begründungsbedürftig aufgefallen ist; oder (2) die Begründung verläuft in der Unendlichkeit, weil sie in einen infiniten Regress gerät, oder (3) die Begründung wird an einer Stelle der Argumentationskette mehr oder weniger willkürlich abgebrochen – der sogenannte Abbruch des Verfahrens. Ähnlich verhält es sich bei dem Unternehmen des Verantwortlichmachens im Zusammenhang der Kausalgesetze: Entweder man muss eine sich selbst verursachende Ursache postulieren (die schon von Nikolaus von Amiens verworfene, später von Spinoza, allerdings nur für Gott, wieder aufgegriffene17 These von der causa sui); dieses Vorgehen erscheint indes zirkulär. Oder man muss sich auf einen infi­n i­ten Regress einlassen, der aber praktisch unmöglich ist – selbst die naturwissenschaftliche Urknall-Theorie lässt ja offen, was vor dem Urknall war und wie er verursacht wurde – und jedenfalls nicht zu einer Begründung von Verantwortlichkeit des Einzelnen führt. Oder man bricht das Verfahren des Regresses entlang einer Ursachenkette an einer bestimmten Stelle ab. Genau dies ist die ›Lösung‹, die mit der Annahme einer freien Ursache, durch die der Mensch seine Tat begeht, impliziert wird. Nach der Scholastik in der Zeit der Auf klärung wird diese ›freie Ursache‹ (bzw. causa libera) zum Kern einer entsprechenden Imputations- bzw. Zurechnungslehre. Kant formuliert dies in seiner Meta­phy­sik der Sitten so: »Zu rech nu n g (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Ur t hei l, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann T h at ( factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird; welches, wenn es zugleich die recht­ lichen Folgen aus dieser That bei sich führt, eine rechtskräftige (imputatio iudiciaria s. valida), sonst aber nur eine beu r t hei lende Zurechnung (imputatio diiudicatoria) sein würde.«18

Damit ist nun das Fundament gelegt für eine moderne Zurechnungslehre, die allerdings dazu aufgefordert ist, den ›Abbruch des Verfahrens‹ im Regress entlang der Ursachenkette, den Hans Albert als den noch am ehesten akzeptablen Ausweg aus dem Münchhausen-Trilemma ansieht, so zu präzisieren, dass er nicht völlig willVgl. Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft, 4. Auf l., Tübingen 1980, 11 – 15, hier: 13. de Spinoza: Opera, Bd. 2: Ethica. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. von Carl Gebhardt, Heidelberg 1925, Pars Prima, Def. I. 18 Kant: Meta ­phy­sik der Sitten, 227. 16

17 Benedict

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kürlich erscheint. Das heißt, man muss möglichst genau angeben können, wann eine Ursache als ›frei‹ zu gelten hat und wann dies nicht (mehr) der Fall ist. Im Strafrecht erfolgt dies durch die Annahme, dass jedenfalls Handlungen einer über 14 Jahre alten Person grundsätzlich als frei gelten können (vgl. § 19 StGB), es sei denn, diese Person wurde durch erheblichen Zwang oder durch Täuschung zu der Handlung veranlasst oder sie kennt die Sach- oder Rechtslage des Falles nicht. Auf die juristischen Einzelheiten kann hier nicht näher eingegangen werden; entscheidend ist, dass der Satz causa causae est causa causati dazu zwingt, die Voraussetzungen für die Zurechnung einer Handlung zu einer Person, also die Zuschreibung von Verantwortlichkeit und damit für den Abbruch des Regresses im Kausalkonnex, offenzulegen.19 5. Aber der Verwendungsbereich der causa causae-Formel geht noch weiter. Denn es gibt Fälle, in denen jemand eigentlich nicht frei ist, wenn er rechts- oder moralwidrig handelt, er aber selbst dafür verantwortlich ist, dass er sich in diesem Zustand der Unfreiheit befindet. Im Strafrecht werden Konstellationen wie diese regelmäßig mit dem Ausdruck actio libera in causa (in ihrer Ursache freie Handlung) gekennzeichnet,20 was durch folgenden typischen Fall verdeutlicht werden mag: Jemand betrinkt sich bis zum Zustand der Unzurechnungsfähigkeit und begeht dann in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat, z. B. einen Mord, den er schon im nüchternen Zustand geplant hat. Eigentlich ist der Mörder hier bei der Begehung des Mordes unfrei, denn er ist im Zustand der Volltrunkenheit unzurechnungsfähig und daher nach § 20 StGB entschuldigt. Damit ist er dem Grundsatz nach straflos, weil er das Unrecht seines Tuns zu diesem Zeitpunkt nicht mehr einsehen konnte. Seine Handlung ist daher eine an sich betrachtet unfreie Handlung, eine actio non libera in se. Gleichwohl wird der Mörder mit dieser Ausrede nicht gehört, weil er sich in Kenntnis seiner eigenen Mordpläne durch sein vorsätzliches Betrinken selbst in die Lage der Unzurechnungsfähigkeit gebracht hat. Die an sich unfreie Handlung ist daher letztlich eine in ihrer Ursache freie Handlung, eine sogenannte actio libera in causa. Kant zieht in der Nachschrift seiner Vorlesung über Moralphilosophie, wie sie von Vigilantius aufgezeichnet wurde, zur Begründung dieses Ergebnisses wiederum die causa causae-Formel heran: »Die consectaria facti libera sive moralia, so nämlich aus der Freiheit des Handelnden entspringen, sind allein imputabel, das oppositum sind alle eventus inevitabiles, und in delictis die delicta fortunae, von denen man nicht die Ursache ist oder sie nicht einsieht, oder die man nicht in seiner Gewalt hat: Näher Joerden: Strukturen, 30 – 35 m. w. N. Joachim Hruschka: Strafrecht nach logisch-analytischer Methode. Systematisch entwickelte Fälle mit Lösungen zum Allgemeinen Teil, 2. Auf l., Berlin 1987, insbes. 343 – 350. 19

20 Vgl.



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  nämlich 1) sie gehen über die Kräfte eines Menschen, oder 2) der Mensch hat sie nicht vorhersehen können, oder 3) sie doch nicht hindern können, 4) oder es war ihm moralisch nicht erlaubt, oder er nicht befugt, sie zu hindern; von allen diesen Umständen gilt die Regel: ultra posse nemo obligatur, und sie sind nicht imputabel. Jedoch ist diese Impotenz zu handeln oder eine Handlung zu unterlassen, die hier als absolut angenommen wird, nur dann nicht imputabel, insofern der Handelnde nicht causa libera dieser Impotenz ist, oder sie nur durch eine Bedingung entstand, die in ihm lag. Causa causati est causa causae.   Mit der Vorsicht hätte er z. B. den Erfolg einsehen können, – die nächste Ursache war zwar zuf ällig, aber die entfernte lag in ihm.« 21

Die Quintessenz dieser Passage ist, dass es keinen Grund gibt, bei einer unfreien Ursache (z. B. aufgrund von trunkenheitsbedingter Unzurechnungsfähigkeit) im Regress entlang der Ursachenkette anzuhalten. Denn man ist dann ja noch nicht auf eine causa libera gestoßen. Diese ist erst beim Erreichen derjenigen Handlung, die in die Unzurechnungsfähigkeit geführt hat, eben bei dem Betrinken, gefunden – und der, der diese causa libera hervorgebracht hat, kann verantwortlich gemacht werden für das, was aus ihr hervorgegangen ist. Sofern daher Dr. Jekyll wusste, dass er als Mr. Hyde Verbrechen begehen würde, wenn er den von ihm gebrauten Trunk zu sich nahm, ist er für dessen Verbrechen ebenso verantwortlich, als hätte er sie als Dr. Jekyll begangen, wenn man einmal annimmt, dass er als Mr. Hyde stets unzurechnungsfähig war. 6. Von diesen Überlegungen ausgehend ist es auch kein dramatischer konstruktiver Schritt mehr, eine Person unter bestimmten Bedingungen für das Verhalten einer anderen Person verantwortlich zu machen, zumindest dann, wenn jemand eine andere Person und deren Handeln für seine Zwecke instrumentalisiert. Ein typisches Beispiel für eine solche Fallkonstellation wäre etwa: Der Kleingartenbesitzer K gibt seinem leichtgläubigen Freund F eine scharf geladene Pistole in die Hand mit dem Hinweis: ›Hier hast Du eine Wasserpistole, spritz doch mal zum Spaß den Nachbarn N nass!‹ F tut, wie ihm geheißen wurde; Nachbar N bricht tödlich getroffen zusammen. Hier ist die Abgabe des Schusses durch F keine causa libera des Todes von N, weil F gar keine Kenntnis der relevanten Sachlage hat. Denn F weiß nicht, dass er beim Abdrücken der vermeintlichen Wasserpistole einen tödlichen Schuss abgibt. Man mag ihn unter bestimmten, hier nicht weiter zu erläuternden Umständen wegen 21 Immanuel Kant: Vorlesung über Moralphilosophie, Nachschrift des Vigilantius, AA , Bd. 27, 2, 1, 563. – Wenn in der hier zitierten Passage die causa-causae-Formel in einer abgekürzten und gleichsam merkwürdig umgekehrten Fassung verwendet wird (»Causa causati est causa causae«), so sollte man diese Fassung in der Übersetzung wie folgt lesen, damit ihr ursprünglicher Sinn erhalten bleibt: »Eine Ursache des Verursachten ist auch die Ursache der Ursache«.

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einer fahrlässigen Tötung des N verantwortlich machen, aber jedenfalls nicht wegen einer vorsätzlichen Tötung. Doch zeitlich vor dem (zumindest partiell) unfreien Verhalten des F findet sich eine causa libera in dem Handeln des K, der den F zu seinem verhängnisvollen Tun verleitet hat. K kannte nämlich alle relevanten Umstände des Sachverhalts, insbesondere wusste er (im Unterschied zu F), dass es sich um eine scharf geladene Waffe handelt und dass das von ihm angeregte Verhalten des F zum Tod des N führen würde. Er hatte den ahnungslosen F kraft seines überlegenen Tatwissens wie ein ›Werkzeug‹ in der Hand – und die Verwendung eines Werkzeugs hindert natürlich nicht den für die Zuschreibung von Verantwortlichkeit relevanten Rückgriff auf denjenigen, der das Werkzeug verwendet. Oder in den Worten des Naturrechtslehrers Andreas S. Biechling, der seine Formulierung wieder ausdrücklich in den Kontext des causa causae-Satzes stellt: »Quod quis per alium facit, per se fecisse putandum est.« – »Was jemand durch einen anderen tut, ist als von ihm getan anzusehen.« 22 Juristen bezeichnen Fallkonstellationen wie diese heute als ›mittelbare Täterschaft‹, bei der – wie § 25 I 2. Alt. StGB dies ausdrückt – jemand eine Tat ›durch einen anderen‹ begeht. Eine Tatbegehung ohne Einschaltung eines anderen als eines menschlichen ›Werkzeugs‹ wird demgegenüber naheliegender Weise als ›unmittelbare Täterschaft‹ bezeichnet. Diese Regelung der beiden Arten von Täterschaft findet sich allerdings erst seit 1975 im deutschen Strafgesetzbuch – entwickelt wurde ihr Grundgedanke aber schon wesentlich früher, und zwar unter anderem aus der Formel causa causae est etiam causa causati. 7. In der Geschichte der Ethik findet sich schließlich noch eine weitere Verwendungsmöglichkeit für diese Formel. So schlägt Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlagen der Moral vor, die causa-causae-Formel zur Begründung des Notwehrrechts einzusetzen. Er schreibt dazu: »[…] causa causae est causa effectus; welches (Princip) hier besagt, daß von dem, was ich thun muß, um die Verletzung eines Andern von mir abzuwehren, er selbst die Ursache ist, und nicht ich; also ich mich allen Beeinträchtigungen von seiner Seite widersetzen kann, ohne ihm Unrecht zu thun. Es ist gleichsam ein moralisches Reperkussionsgesetz.« 23

Dieses ›moralische Reperkussionsgesetz‹ (man kann vielleicht übersetzen: ›moralisches Gesetz, zurückschlagen zu dürfen‹), wie Schopenhauer es nennt, stellt folgenden Zusammenhang her: Wer einen anderen (rechtswidrig) angreift, benutzt im Andreas Simson Biechling: Notitia Terminorum Philosophicorum ad Jurisprudentiam iuxta usum hodiernum accomodata, Jena 1714, 85, § LXVII (II ); Übers. J. C. J. 23 Arthur Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlagen der Moral, in: ders.: Werke in zehn Bänden (= Zürcher Ausgabe), Bd. 6, Zürich 1977, 257 f. 22



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Grunde den Angegriffenen wie ein Werkzeug, indem er ihn durch seinen Angriff unter Abwehrzwang setzt. Wenn der Angegriffene sich darauf hin verteidigt und den Angreifer dabei verletzt, hat eigentlich nicht der unfreie Angegriffene diese Tat ausgeführt, sondern der ihn zur Abwehr zwingende Angreifer selbst. Damit stellt sich die Abwehrhandlung des Angegriffenen gleichsam als eine Handlung der Selbstverletzung des Angreifers dar – causa causae est etiam causa causati. Schopenhauer vernachlässigt dabei allerdings, dass – abgesehen von der Frage der Zurechnung von Verantwortlichkeit bei der Notwehr – die Situation auch noch von der Frage überlagert wird, ob der Angreifer so handeln durfte oder nicht; denn für ein Notwehrrecht ist stets die Rechtswidrigkeit des Angriffs erforderlich. Dies zeigt sich deutlich, wenn man den klassischen Notwehrfall so erweitert, dass der Angreifer sich nunmehr seinerseits gegen den rechtmäßigen Verteidigungsschlag des Angegriffenen zur Wehr setzt und diesen (erneut) schlägt. Eine Anwendung des Satzes causa causae est causa causati würde es nahelegen, dass der Angreifer nunmehr den Zwang, den der Angegriffene durch seine Verteidigungshandlung auf ihn ausübt, an eben den Verteidiger zu Recht zurückgibt. Dies kann indes nicht richtig sein, weil der Verteidiger ja gerade rechtmäßig handelt und die Abwehr seiner Verteidigung durch den ursprünglichen Angreifer nur ihrerseits rechtswidrig sein kann und der Angreifer daher auch dafür verantwortlich zu machen ist. Strafrechtlich verantwortlich ist man eben auch nur dann, wenn einem als der causa libera einerseits die verbotene Handlung als eigene Handlung zugerechnet werden kann, die Handlung aber andererseits auch verboten ist. Dieser letztere Aspekt wird in der Argumentation von Schopenhauer indes vernachlässigt. Das ändert allerdings nichts daran, dass die causa-causae-Formel auch in diesem Kontext eine wichtige Rolle spielt.24

Nachweise zur Verwendung der causa causae-Formel im Kontext allgemeiner ­Zurech ­nungsfragen in Joerden: Strukturen, passim. 24 Weitere

Der Atheist und das Naturrecht Erkenntnis und Verbindlichkeit des Naturrechts bei Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier Von Dominik Recknagel Im Gedenken an Merio Scattola († 2015)

Der Gedanke eines atheistischen Naturrechts ist in der Zeit Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers nicht neu. Ganz im Gegenteil: Die These eines hypothetischen Atheismus hat in der Mitte des 18. Jahrhunderts schon ­einige folgenreiche Debatten hinter sich. 1. Das atheistische Argument in der Naturrechtsdebatte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit Insgesamt wird von einer Säkularisierungstendenz der neuzeitlichen Naturrechtslehre ausgegangen.1 In einem bemerkenswerten Gegensatz dazu steht die Behandlung der Rechtsstellung des Atheisten in dieser Debatte, da – wie Dieter Hüning feststellt – »die meisten Naturrechtstheoretiker des 17. und frühen 18. Jahrhunderts von der Straf barkeit des Atheismus ausgingen«.2 Und diese statuierte Straf barkeit hatte weniger einen heilsgeschichtlich-theologischen als vielmehr einen pragmatisch-politischen Grund. »Der Glaube an Gott bzw. an die göttliche Gerechtigkeit und Strafgerichtsbarkeit erschien ihnen als unverzichtbare Voraussetzung für die Begründung der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes. Man sieht sogleich, daß nach dieser Voraussetzung der göttliche Wille das Prinzip allen möglichen Rechts und aller möglichen Verbindlichkeit darstellt und der Atheismus aus diesem Grunde mit der Auf hebung der Moralität insgesamt identifiziert wird«.3 1 Vgl. Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim 1971, 62 – 70; Knud Haakonssen: »Hugo Grotius and the History of Political Thought«, in: Political Theory 13 (1985), 239 – 265, 247 – 253; Dieter Hüning: »Die Grenzen der Toleranz und die Rechtsstellung der Atheisten. Der Streit um die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes in der neuzeitlichen Naturrechtslehre«, in: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800, hg. von Lutz Danneberg, Sandra Pott, Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt (Säkularisierung in den Wissenschaften seit der frühen Neuzeit, 2), Berlin/New York 2002, 219 – 273, 219 – 222. 2 Hüning: »Die Grenzen der Toleranz«, 219. 3 Ebd., 220 f.

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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Und dies hat auch entscheidende Auswirkungen auf die Eignung bzw. Nichteignung des Einzelnen als Staatsbürger. Der Atheist, und genau dieser Vorwurf wird uns bei Baumgarten und Meier wieder begegnen, gilt als Leugner Gottes zugleich als Leugner der göttlichen vernünftigen Weltordnung und damit als der Moral und Zurechnung lediger Mensch. In der Untersuchung des Atheismusphänomens in der Frühen Neuzeit hat sich in der Forschung ein relativ stabiler Kanon des atheistischen Denkens etabliert. Hier jedoch gilt es zu beachten, dass Atheismus sowohl in einem weiteren als auch in einem engeren Sinne betrachtet wird. Man unterscheidet danach,4 ob eine breitere Strömung der Abweichungen von einer bestimmten Gottesauffassung der kirchlich-christ­lichen Orthodoxie wie etwa deistische, pantheistische oder skeptizistische oder ganz allgemein als Freidenkerei bezeichnete Tendenzen schon als Atheismus bezeichnet werden, wie das etwa für Thomas Hobbes, Benedict Spinoza, Christian Wolff und andere diskutiert worden ist, oder ob ein im engeren Sinne zu bezeichnender Atheismus, nämlich die – so eine Definition von Winfried Schröder – »argu­mentativ gestützte, philosophische These, dass ein Welturheber bzw. eine transzendente Weltursache nicht existiert«,5 angenommen wird. Winfried Schröder plädiert in seinen weitreichenden intensiven Untersuchungen dieses Phäno­mens der Frühen Neuzeit klar für den engeren Begriff des Atheismus, dessen nachweisliches Auftreten erst mit den allseits bekannten einschlägigen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts einsetzte. Hier haben neben dem »ersten überhaupt als Person fassbaren Atheisten, Matthias Knutzen« auch der Abbé Meslier und der Baron Holbach ihren Platz.6 Für den genannten Atheismus im weiteren Sinne jedoch lehnt Schröder diese Bezeichnung rundweg ab, da hier »sehr häufig anderes geboten« werde, weil man »sich in Wahrheit mit Freidenkern unterschiedlicher Radikalität und Couleur« befasse.7 In Anbetracht der hier zu verhandelnden Vorläufer-Autoren und Bezugstexte von Baumgarten und Meier mit besonderer Berücksichtigung des theoretischen Verhältnisses von Gottes Wirkungen und den Inhalten bzw. der Gültigkeit des Naturrechts kann es kaum um einen Atheismusbegriff im soeben genannten engeren Sinne gehen. Vielmehr zielt ein hier noch näher zu explizierender hypothetischer Atheismus allein auf die Frage, ob etwa der Wille oder aber die Vernunft Gottes die Inhalte und die Verbindlichkeit des Naturrechts bedingen, verändern, etwa nur im Nachgang bestätigen oder aber ganz unberücksichtigt lassen. Nur in einem solchen speziellen Sinne kann in diesem Zusammenhang von Atheismus die Hans-Walter Schütte: Art. »Atheismus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel 1971, Sp. 595–599, 595. 5 Winfried Schröder: »Philosophischer Standpunkt oder antiklerikale Kampfansage? Zur Typologie des frühen Atheismus«, in: Les Lumières et leur combat. La critique de la religion et des Églises à l‘époque des Lumières (= Der Kampf der Aufklärung. Kirchenkritik und Religionskritik zur Aufklärungszeit), publ. par Jean Mondot, Berlin 2004, 15 – 2 8, hier: 15. 6 Ebd., 15 f. 7 Ebd., 15. 4



Der Atheist und das Naturrecht285

Rede sein. Es geht um den Einfluss Gottes auf die Inhalte und die Gültigkeit des Naturrechts, nicht aber um die Existenz Gottes selbst. Insoweit erhält der Vorwurf des Atheismus gegenüber den zu nennenden Autoren zugleich die Form einer Anklage und trägt den meist begründeten Geruch der denunzierenden Absicht des Vorwerfenden mit sich. Andererseits enthält die Frage nach der Erkenntnis und der Gültigkeit des Naturrechts beim Atheisten aus der Position des Theisten heraus, wie wir es hier bei Baumgarten und Meier gewiss annehmen können, eine merkwürdige Ambivalenz. So hat schon das immer wieder in der naturrechtlichen Tradition herangezogene paulinische Diktum aus dem Römerbrief  2 ,12 – 15 – nämlich, dass auch die, die das Gesetz Gottes nicht kennen, verloren gehen, wenn sie Unrecht tun, und dass den Völkern, denen das Gesetz Gottes nicht direkt gegeben, es ihnen doch ins Herz geschrieben sei, wie es sich an der Stimme ihres Gewissens zeige und es ihr Verhalten beweise – einen deutlichen Beleg für die Allgemeingültigkeit des gottgegebenen Naturrechts unabhängig von der Glaubensverfassung abgegeben. Der christliche Rechtstheoretiker begab sich aus diesem Bewusstsein heraus schon immer in die Position des Wissenden, der zwar abweichende Glaubensvielfalt, Sektierertum oder sogar die Verleugnung einer göttlichen Gewalt durch Unbelehrbare zur Kenntnis nehmen müsse, aber doch gewiss selbst die Wahrheit kenne. Aus dieser oft, etwa weithin in der spanischen Spätscholastik aufzufindenden paternalistischen Position heraus ist die Frage nach der Gültigkeit des Naturrechts für den Atheisten so gesehen völlig überflüssig. Selbstverständlich gilt es, so möchte man sagen, für alle Menschen. Der Christ und neben ihm auch der Anhänger einer anderen monotheistischen Religion sehen sich hier zwar deutlich im Vorteil, da sie in Gott den Gesetzgeber und damit die Quelle der Regeln und die Ursache der Verbindlichkeit erkennen. Alle anderen jedoch sind trotz ihrer Unwissenheit bezüglich der Regeln und Verbindlichkeiten bzw. eines nur durch Gefühl oder Gewissen gelenkten Verhaltens genauso zur Treue verpflichtet. Fragt man also nach der Gültigkeit des Naturrechts für den Atheisten, hat man entweder die Straf barkeit eigens des Atheismus als solchem im Auge, weil der Atheismus selbst ein Verstoß gegen das Naturrecht darstelle, oder aber begibt sich auf den steinigen und eigentlich unerlaubten Weg in Richtung der fälschlichen Meinung des Atheisten mit der hypothetischen Frage, was über den Inhalt und die Gültigkeit des Naturrechts zu sagen wäre, wenn der Atheist in seiner Gottesleugnung Recht hätte. Denn nur dann könnten Zweifel an der allgemeinen Verbindlichkeit des Naturrechts auf kommen. Die hier zu entfaltende Atheismusdebatte muss also von einem niedrigeren und dennoch bedeutsamen Konfliktniveau ausgehen, wie das schon eingangs formuliert wurde. Mit der Frage der Gültigkeit des Naturrechts für Atheisten geraten wir vielmehr in die Debatte um den philosophischen Dauerbrenner der gegensätzlichen Theorien von Rationalismus und Voluntarismus in der Ergründung von Inhalt und Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes. Denn während sich die voluntaristische Seite immer wieder den Vorwurf gefallen lassen musste, in der Be-

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gründung des Naturrechts im Willen Gottes immer auch einer willkürlichen und unergründlichen Gesetzgebung und der daraus resultierenden Orientierungslosigkeit des diesem Gesetz unterworfenen Menschen das Wort zu reden, so hatte die rationalistische Seite mit ihrer Behauptung von aus der Natur der Sache bzw. aus der Natur des Menschen resultierenden und selbst durch Gott nicht zu ändernden naturrechtlichen Regeln des menschlichen Zusammenlebens dafür gesorgt, dass ihre Vertreter mindestens der Leugnung der Allmacht Gottes, aber auch allgemein des gefährlichen Atheismus verdächtigt wurden. Im Zusammenhang des Naturrechts hatte Hugo Grotius den hypothetischen Atheismus in der Form seiner berühmten Formulierung des etiamsi daremus non esse deum für die Neuzeit bekannt gemacht.8 Noch Christian Wolff bezog sich namentlich auf Grotius, als er die Gültigkeit des Naturrechts auch für eine hypothetische Nichtexistenz des Gesetzgebers Gott behauptete. Doch Grotius war nicht der erste, bei dem diese Hypothese zu finden ist. So ist vielfach nachgewiesen worden,9 dass sich Grotius auf eine Formulierung des Augustiner-Eremiten Gregor von Rimini – wahrscheinlich vermittelt über eine entsprechende zitierende Formulierung bei Francisco Suárez10 – bezog. Gregor hatte in seinem in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts entstandenen Sentenzenkommentar in der, so Isabelle Mandrella, Identifizierung von »göttliche[r] Vernunft als rectissima ratio mit der rechten Vernunft«11 zwar die augustinische Sündendefinition insoweit bestätigt, als ein Verstoß gegen das ewige Gesetz zugleich auch ein Verstoß gegen die rechte Vernunft bedeutet. Er entwickelte allerdings das Argument Hugo Grotius: De iure belli ac pacis libri tres, in quibus ius naturae et gentium item iuris publici praecipua explicantur, curavit B. J. A. de Kanter-van Hettinga Tromp, Editionis anni 1939, quae Lugduni Batavorum in aedibus E. J. Brill emissa est, exemplar photomechanice iteratum, Annotationes novas addiderunt R. Feenstra et C. E. Persenaire, adiuvante E. Arps-de Wilde, Aalen 1993, 10 (Prol. 11). Vgl. James St. Leger: The ›Etiamsi daremus‹ of Hugo Grotius. A Study in the Origins of International Law, Rom 1962; Michael Bertram Crowe: »The ›Impious Hypothesis‹: A paradox in Hugo Grotius?«, in: Tijdschrift voor Filosofie 38 (1976), 379 – 410; Bernd Ludwig: »Auf dem Wege zu einer säkularen Moralwissenschaft. Von Hugo Grotius’ De Jure Belli ac Pacis zu Thomas Hobbes’ Leviathan«, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), 3 – 31, 6 – 16.  9 Vgl. Isabelle Mandrella: »Die Autarkie des mittelalterlichen Naturrechts als Vernunftrecht: Gregor von Rimini und das etiamsi Deus non daretur-Argument«, in: »Herbst des Mittelalters«? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts (Miscellanea Mediaevalia, 31), hg. von Jan A. Aertsen und Martin Pickavé, Berlin/New York 2004, 265 – 276, 265 f.; Rainer Specht: »Materialien zum Naturrechtsbegriff der Scholastik«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), 86 – 113, 101; ders.: »Spanisches Naturrecht – Klassik und Gegenwart«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 41 (1987), 169 – 182, 174 f. 10 Francisco Suárez: Commentaria ac disputationes in Primam Secundae D. Thomae, De legibus seu legislatore Deo [libros I-V], in: R. P. Francisci Suarez e Societate Jesu Opera Omnia. Editio nova a Carolo Berton, Tomus V, Paris 1856, 104 f. (II,6,3). Vgl. zur Übereinstimmung der Formulierung des Etiamsi daremus bei Suárez und Grotius Leger: The ›Etiamsi daremus‹, 122; Crowe: »The ›Impious Hypothesis‹«, 389 – 396. 11 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Isabelle Mandrella: »Einleitung«, in: Gregor von Rimini, Moralisches Handeln und rechte Vernunft, übers. und eingeleitet von ders., Freiburg i. Br. 2010, 9 – 50, 32 f. (Zitat 32).  8



Der Atheist und das Naturrecht287

in der für unseren Gesichtspunkt entscheidenden Weise weiter, indem er der recta ratio den begründungstheoretischen Vorzug gegenüber der sachlich und inhaltlich gleichen ratio divina hinsichtlich der Bestimmung der Sünde gab. Für Gregor ist die rechte Vernunft für die Erkenntnis der in sich guten und schlechten Handlungen zuständig. Ein Zuwiderhandeln – und damit kommt die entscheidende Formulierung in die Debatte – ist selbst dann Sünde, wenn es, was unmöglich ist, wie Gregor wiederholt betont, Gott nicht gäbe. Im Übrigen setzt Gregor das Argument in wahrhaft scholastischer Konsequenz fort, indem er auch in gleicher Weise für eine mögliche Abwesenheit der recta ratio die Sünde postuliert: »Und wenn es ganz und gar keine rechte Vernunft gäbe, würde immer noch sündigen, wer gegen das handelt, was eine rechte Vernunft – wenn es sie gäbe – als zu tun diktierte.«12 Diese als atheistisch bezeichnete Argumentation in der Begründung des Natur­ rechts ist indes nur die halbe Wahrheit. Bei Gregor letztlich durch seinen Verweis auf das höchste Gut der Gottesliebe als oberstes Prinzip des moralisch guten Verhaltens bereits angelegt, aber bei Francisco Suárez mit einer eigenen begrifflichen These belegt, geht es nicht um eine den Einfluss Gottes leugnende Begründung. In dem Versuch, den problematischen Gegensatz von rationalistischer und volun­taristischer Naturrechtsbegründung aufzulösen, eröffnet Suárez einen Mittelweg, die von ihm so genannte via media, indem er das Naturrecht nun auf beide Herleitungen stützt. Dabei kommt der Vernunft die Rolle zu, die intrinsische besondere moralische Qualität einer Handlung zu erkennen, dem Willen Gottes dagegen, eine entsprechende Handlung verbindlich zu machen.13 Das Entscheidende für das Naturrecht ist dabei, dass beide Aufgaben gleichermaßen notwendig zusammenspielen müssen. Das heißt, einer hier tatsächlich postulierten unveränderlichen moralischen Qualität einer Handlung korrespondiert Gottes Verpflichtung zum Tun bzw. Unterlassen eben dieser Handlung. Ein Atheismusvorwurf für diese Konstruktion des Naturrechts kann nur entstehen, wenn man den jeweiligen Vertreter auf die erste der beiden notwendig beschriebenen Zutaten des Naturrechts, die Vernunfterkenntnis der intrinsischen moralischen Qualität, reduziert. Und eben dieses, so die hier vertretene These, ist im Zusammenhang des Naturrechts seit dem berühmten Grotiusdiktum geschehen. Entgegen einer allgemein immer wieder vertretenen Ansicht, dass Grotius dem Lager des extremen Rationalismus zuzurechnen sei, was aus einer fehlerhaften Interpretation der etiamsi daremus-Stelle resultiert, wird hier behauptet, dass sich Grotius sehr wohl im Fahrwasser der suárezschen via media bewegt, wenn er der gerade beschriebenen Aufgabenteilung folgt. Das geht sowohl aus der zusammenGregor von Rimini: Moralisches Handeln und rechte Vernunft, 98 f. (q. 1, art. 2, prima conclusio): »Et si nulla penitus esset ratio recta, adhuc, si quis ageret contra illud quod agendum esse dictaret ratio aliqua recta, si aliqua esset, peccaret.« 13 Suárez: Commentaria […] De legibus, 105 ( II,6,5). Vgl. zur Genese der via media bei Suárez Dominik Recknagel: »Der Begriff des Naturgesetzes zwischen Rationalismus und Voluntarismus und die via media bei Francisco Suárez«, in: Das Gesetz – The Law – La Loi (Miscellanea Mediae­ ­valia, 38), hg. von Andreas Speer und Guy Guldentops, Berlin/Boston 2014, 509 – 524. 12

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hängenden Argumentation von Prolegomena 11 und 12 als auch aus der Definition des Naturrechts im ersten Buch von De iure belli ac pacis klar hervor. Das natürliche Recht wird hier beschrieben als ein Gebot der Vernunft, das zweierlei anzeigt, nämlich zum einen die moralische Gut- oder Schlechtheit einer bestimmten Handlung und zum anderen das damit korrespondierende göttliche Ge- oder Verbot.14 Das Naturrecht fußt demnach notwendig auf beiden Grundlagen, der intrinsischen moralischen Qualität von Handlungen ebenso wie auf dem Befehl Gottes. Beide Grundlagen zu erfassen, die Inhalte wie auch den Grund der Verbindlichkeit zu erkennen, obliegt gleichermaßen der menschlichen Vernunft. Dieses Modell der Lösung des Konflikts zwischen voluntaristischer und rationalistischer Konzeption – und hier folge ich, ohne weitere Nachweise anzugeben, Bernd Ludwig – »wird über Grotius, Pufendorf, Leibniz und Locke bis hin zu Christian Wolff bei allen Differenzen im Detail die Standardlösung der Natur­ gesetzfrage bleiben: Das der Natur (oder der Sache) gemäß Gute (und als solches für die menschliche Vernunft erkennbare) wird erst durch den göttlichen Willen zum (für die Menschen) Verbindlichen«.15 Für Christian Wolff als Bezugspunkt und Vorgänger von Baumgarten und Meier sei hier in aller Kürze ein Beleg für diese These angezeigt. Gerade Wolff hatte als Ergebnis seiner »Rede über die praktische Philosophie der Chinesen«,16 in der er zu zeigen beabsichtigte, dass Konfuzius ohne die Kenntnis Gottes die wichtigen ethischen Wahrheiten erkannt hätte, den Vorwurf des Atheismus zu spüren bekommen, der ihn schließlich das Lehrverbot an der Universität Halle und den Verweis aus Brandenburg-Preußen unter Androhung der Todesstrafe einbrachte.17 In seiner Ausführlichen Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er in deutscher Sprache heraus gegeben (1726) heißt es bezüglich eines Begriffs vom Recht der Natur zunächst: »[…] daß der Grund, warum eine Handlung gut, oder böse ist, in der Natur und dem Wesen des Menschen zu finden sey« und später »[…] daß in der Natur des Menschen und der Beschaffenheit der freyen Handlungen eine Verbindlichkeit gegründet sey, welche ich die natürliche nenne, und die auch derjenige erkennen muß, welcher entweder GOtt nicht erkennet, was er für ein Wesen ist, oder wohl gar leugnet, daß ein GOtt sey. Ob ich nun aber gleich mit Grotio und unsern Theologis behauptet, daß auch in hypothesi impossibili athei, oder, bey der unmöglichen Bedingung, daß kein GOtt seyn solle, ein Gesetze der Natur eingeräumet werden müsse, um diejenigen ihrer Thorheit zu überzeugen, welchen die Atheisterey deswegen anstehet, weil sie alsdenn ihrer Meynung nach leben möchDe iure belli ac pacis, 34 (I, 1, 10, 1). Vgl. Ludwig: »Auf dem Wege«, 7 – 9. »Auf dem Wege«, 13 (Hervorhebungen im Original). 16 Christian Wolff: Oratio de Sinarum philosophia practica. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, übers., eingeleitet und hg. von Michael Albrecht, Hamburg 1985. 17 Vgl. zu den Hintergründen der Ausweisung Wolffs Bruno Bianco: »Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff«, in: Halle. Aufklärung und Pietismus (Zentren der Auf klärung, 1), hg. von Norbert Hinske, Heidelberg 1989, 111 – 155. 14 Grotius:

15 Ludwig:



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ten, wie sie wolten; so bin ich doch weiter hinauf gestiegen und habe gezeiget, daß der Urheber dieser natürlichen Verbindlichkeit GOtt sey und daß er über dieses den Menschen noch auf andere Weise verbindet seine Handlungen dergestalt zu dirigiren, damit sie zu seiner, ja des gantzen menschlichen Geschlechtes und der gantzen Welt Vollkommenheit gereichen. In soweit uns nun GOtt verbindet, haben wir ihn als den Gesetzgeber des natürlichen Rechtes anzusehen.«18

Wiederum haben wir es bei Wolff mit der zweiteiligen Aufgabe des Erkennens intrinsisch guter bzw. schlechter Handlungen und deren Verbindlichkeit zu tun. Die Innovation bei Wolff besteht nun in dem Begriff einer natürlichen Verbindlichkeit, die unmittelbar aus der erkannten Gut- bzw. Schlechtheit der Handlung folgt, damit also auch für Atheisten als direkt einsehbar gilt, letztlich aber doch Gottes Willen und Befehl wiedergibt. Der Hintergrund der Argumentation scheint auf eine Wandlung in der Behandlung des Atheismusproblems hinzuweisen. Während bei Gregor von Rimini und noch bei Hugo Grotius der Atheismus gleichsam nur eine theoretische Hilfsvariable in einer Argumentation zugunsten eines moralischen Handlungsobjektivismus darstellt, wird dieser nun in einer Wendung hin zum subjektiven Erkenntnisstand des Atheisten selbst als eine pragmatische Strategie von Toren vorgestellt, die sich mittels der widervernünftigen Leugnung des Gesetzgebers zugleich vom Gesetz befreit wähnen. Auch diese Toren seien trotz ihrer Leugnung Gottes allein durch vernünftige Erkenntnis in der Lage, ihre natürliche Verpflichtung zu begreifen, ohne dabei wie Wolff zu wissen, dass Gott Urheber genau dieser Verpflichtung sei. 2. Das atheistische Argument bei Baumgarten und Meier Mit diesem Gedanken kommen wir nun endlich zur Naturrechtserkenntnis und -verbindlichkeit bei Baumgarten und Meier. Alexander Gottlieb Baumgarten hat sich zum Naturrecht in seinem postum veröffentlichten Werk Ius naturae, aber auch in seinen Initia philosophiae practicae primae acroamatice geäußert, wichtige Anmerkungen zum Problem des Atheismus finden sich zudem im Abschnitt zur Natürlichen Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er in deutscher Sprache heraus gegeben (Christian Wolff: Gesammelte Werke, Abt. 1: Deutsche Schriften, Bd. 9), hg. von Hans Werner Arndt, Hildesheim 1996 (Nachdruck der Ausgabe Frankfurt a. M. 1733), 392, 395 f. (§ 137). Vgl. Hüning: »Die Grenzen der Toleranz«, 233 – 235, 262 f.; ders.: »Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie«, in: Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen, hg. von Oliver-Pierre Rudolph und Jean-François Goubet, Tübingen 2004, 143 – 167; Franz Hespe: »Der Grund der Verpflichtung in Christian Wolffs Naturrecht«, in: Wolffiana 2. Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle/Saale), 4. – 8. April 2004, Bd. 3 (Christian Wolff: Gesammelte Werke, Abt. 3: Materialien und Dokumente, Bd. 103), hg. von Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph, Heidelberg 2007, 273 – 291. Hespe ignoriert freilich die nachträglichen Einflechtungen der Rolle Gottes in die Verbindlichkeitsproblematik durch Wolff, wie dies Hüning konstatiert (Hüning: »Christian Wolffs Begriff«, 152 – 156). 18 Christian

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Theologie in seiner Metaphysica.19 Eine umfassende und eindrückliche Analyse des Baumgarten’schen Naturrechts hat schon Merio Scattola in seinem Beitrag »Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens und das Problem des Prinzips« 20 unternommen, so dass hier ohne Umschweife auf das spezielle Problem des Atheismus innerhalb seiner Lehre eingegangen werden kann. Der Ort der Atheismusdiskussion im Naturrechtsentwurf findet sich, wie sollte es anders sein, dort, wo Baumgarten auf die menschliche Erkenntnis der Inhalte und Verbindlichkeiten des Naturrechts zu sprechen kommt. Insbesondere im postum erschienen Ius naturae – einer Sammlung von Marginalien und Anmerkungen zu Heinrich Köhlers Exercitationes iuris naturalis (1729), und, wie es Alexander Aichele in seiner Untersuchung des Naturrechtsprinzips bei Heinrich Köhler formuliert hat, einem »recht lakonischen Kommentar« 21 Köhlers – finden wir entsprechende Bemerkungen. Baumgarten, der während seines Studiums an der Universität Halle die dort eigentlich verbotene Wolff ’sche Philosophie, wenn auch nicht vom des Landes verwiesenen Wolff selbst kennenlernte, reiste eigens mehrfach ins nahe Jena, um dort Vorlesungen des Wolff-Schülers Heinrich Köhler zu besuchen. Später, selbst außerordentlicher Professor in Halle, legte er seinen eigenen Vorlesungen die Exercitationes iuris naturalis von Köhler zugrunde.22 Heinrich Köhler hatte in der zweiten Übung seiner Exercitationes, und Baumgarten folgte ihm darin, eine zweifache Methode vorgestellt, die Grundsätze des Naturrechts zu ermitteln. Die erste Methode, die ›empirische‹ Methode genannt, leitet dabei »die Wahrheiten des natürlichen Rechts« 23 allein aus der menschlichen Natur ab. Diese Methode, so Köhler, stehe jedem vernünftigen Menschen zur Verfügung, erscheine leichter und eher zu bewältigen und sei schließlich für jene, die in Unkenntnis der höchsten Gottheit nach Rechtssätzen suchten, die Möglichkeit, Gottlieb Baumgarten: Ius naturae, Halle 1763; ders.: Initia philosophiae practicae primae acroamatice, Halle 1760; ders.: Metaphysica, EA Halle 1739. 20 Merio Scattola: »Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens und das Problem des Prinzips«, in: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Auf klärung, 20), hg. von Aleander Aichele und Dagmar Mirbach, Hamburg 2008, 239 –  265. 21 Alexander Aichele: »Sive vox naturae sive vox rationis sive vox Dei? Die metaphysische Begründung des Naturrechtsprinzips bei Heinrich Köhler, mit einer abschließenden Bemerkung zu Alexander Gottlieb Baumgarten«, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), 115 – 135, hier: 134. 22 Das kündigt Baumgarten für seine Naturrechtsvorlesungen in den Sommersemestern 1738 und 1739 an. Vgl. Vorlesungsverzeichnisse Universität Halle 1738 und 1739, in: Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, UB 3885c, 2°. Darin [1729 – 1768]: Catalogus Lectionum […] in Academia Fridericiana, Halae Magdeb. Prelo Hendeliano [u. a.]. Vgl. Dominik Recknagel: »Wolffs Naturrechtslehre und ihre unmittelbare Wirkung«, in: ›Vernunft, du weißt allein, was meine Pflichten sind!‹. Naturrechtslehre in Halle. Katalog zur Ausstellung im Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Halle (Saale), 10. Oktober 2013 bis 6. Januar 2014, hg. von Dominik Recknagel und Sabine Wöller, Halle/Saale 2014, 34 – 47, 39 f. 23 Heinrich Köhler: Exercitationes juris naturalis, eiusque cumprimis externi, methodo systematica propositi, Jena 1729, 73 – 76 (§§ 286 – 299). Vgl. Aichele: »Sive vox naturae«, 125 – 131. 19 Alexander



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zumindest die ersten Stufen der Gerechtigkeit zu erkennen, wenn auch nicht zur Gewissheit dieser Grundsätze aufzusteigen.24 Die andere Methode, die ›metaphysische‹ betitelt, »geht aus dem Aufstieg der Vernunft zu Gott und aus der Beziehung der Natur der Dinge zu ihrem Urheber hervor«.25 Erst hier sei es dem Menschen möglich, so Köhler, »in den Ursprung der allerhöchsten Gesetze ein[zu]dringen und zugleich [zu] erkennen, daß die Achtung des Naturrechts mit der Verherrlichung der göttlichen Glorie durch ein unauf lösliches Band verknüpft ist«.26 In den beiden von Köhler vorgestellten Methoden spiegeln sich wiederum die beiden Erkenntnisgänge zum Inhalt und zur Verbindlichkeit des Naturrechts der Vorläufer seit Gregor von Rimini und Grotius wider. Einem Erkennen der Grundsätze, das im Zweifel, in Unkenntnis oder sogar unter Leugnung Gottes, also auch dem Atheisten, möglich ist, steht die Erkenntnis des Ursprungs und Gesetzgebers gegenüber, die erst durch die vernünftige Überlegung und die mittels natürlicher Theologie gewonnene Einsicht in Gottes Existenz und Funktion gewonnen wird. Klar erkennbar ist dabei die Hierarchisierung der beiden Methoden hinsichtlich der zu erreichenden Vollständigkeit an Gesetzes- und Verbindlichkeitserkenntnis. Nur die zweite Methode versetzt in die Lage, naturrechtliche Prinzipien gewiss und vollständig zu erfassen. Beiden Methoden aber ist gemeinsam, dass sie sich allein auf die menschliche Vernunft, und zwar dieselbe menschliche Vernunft, als Mittel der Erkenntnis stützen. Damit ist auch auf eine Inkonsequenz hingewiesen, die das Atheismusproblem angesichts der im Rahmen der Meta­phy­sik ins Feld geführten Vernunfterkenntnis Gottes ohne Glauben – »scientia de deo, quatenus sine fide cognosci potest« 27 – als Ausgangspunkt der natürlichen Theologie stets begleitet, nämlich die merkwürdige Unterstellung, dass der Atheist nun gerade in der vernünftigen Erkenntnis Gottes fehl geht, im Erkennen naturrechtlicher Gebote aber sehr wohl von seiner Vernunft erfolgreich Gebrauch macht. Baumgarten nun führt in seiner Metaphysica den ontologischen (später auch den kosmologischen) Gottesbeweis an, indem er der höchsten Vollkommenheit Gottes in einer streng rationalen Ableitung in wenigen Paragraphen dessen Existenz notwendig zuordnet 28 bzw. Gott zur causa efficiens der Welt erklärt. Für den Atheisten hingegen hat er nur wenige dürre Worte übrig: »Der Atheist leugnet das Dasein Gottes und er irrt dabei«.29 In den Initia philosophiae practicae primae geht Baumgarten etwas genauer auf das Problem des atheistischen Naturrechts ein. Dabei geht er von dem bereits bekannten Köhlerschen Diktum aus, dass auch der Atheist, sofern man von seinem IrrExercitationes, 73 (§ 287), Übersetzung zit. nach Aichele: »Sive vox naturae«, 125. 73 f. (§ 288), Übersetzung zit. nach Aichele: »Sive vox naturae«, 127. 26 Ebd., 74 (§ 288), Übersetzung zit. nach Aichele, ebd. 27 Baumgarten, Met. § 800. 28 Ebd., §§ 803 – 811. 29 Ebd., § 999: »ATHEUS negans dei existentiam, errat«. 24 Köhler: 25 Ebd.,

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tum über die Existenz Gottes absieht und er sonst einen gesunden Verstand hat, dennoch von den Gesetzen der Natur überzeugt werden kann.30 Ungenügend ist allerdings der Erweis der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze. Dieser Erweis wird von Baumgarten bei der Identifizierung des Gesetzgebers des natürlichen Gesetzes geleistet: »Nun ist Gott der Urheber der gesamten Natur und aller wesentlichen Ereignisse darin, ferner sind die natürlichen Verbindlichkeiten als etwas Wesentliches angelegt und haben in diesem Sinne hinreichende Wirkung. Also ist Gott der Urheber der Verbindlichkeit und daher auch des Naturgesetzes. […] Verbindlichkeit, Recht und Gesetz sind göttlich, wenn sie Gott zum Urheber und Gesetzgeber haben. Also sind das Naturrecht und einzelne natürliche Gesetze und Verbindlichkeiten göttlich […]«.31

Da aber der Atheist Gott und damit den Gesetzgeber des natürlichen Gesetzes leugnet, mangelt es ihm auch am Beleg für die Verbindlichkeit der erkannten Normen, der erst mittels der natürlichen Theologie erlangt werden kann. In seinem Ius naturae nun bezieht sich Baumgarten im Zusammenhang der ersten der beiden Methoden der Naturrechtserkenntnis unmittelbar auf die Stellung des Atheisten. Er stellt sich in seinem Kommentar zu Köhlers empirischer Methode drei Fragen über das Naturrecht des Atheisten: »Zum ersten, ob es ein Naturrecht gäbe, wenn es Gott nicht gäbe? Das wird verneint. Zweitens, ob der Atheist, abgesehen von seinem Irrtum des Atheismus der gesunden Vernunft folgend, vom Naturrecht überzeugt werden kann? Das wird bejaht. Drittens, ob das Naturrecht von einem Atheisten genauso gut erkannt werden kann, wie unter Hinzuziehen der natürlichen Theologie? Das wird verneint.« 32

Man erkennt leicht die entsprechenden Eckpunkte der Atheismusdiskussion wieder. Erstens: Ein Naturrecht ohne Gott ist nicht möglich, da Gott der Gesetzgeber ist und ganz allgemein ohne Gott das Prinzip der Widerspruchsfreiheit ausgesetzt wäre. Zweitens: Der Atheist ist in der Lage, trotz seiner Gottesleugnung Naturgesetze zu erkennen, da Gott als Urheber der Natur die menschliche Natur und damit auch die des Atheisten in dieser Weise eingerichtet und mit Vernunft ausgestattet hat. Und drittens: Der Atheist ist gegenüber dem Vertreter der natürlichen Theologie klar im Nachteil, wenn es um die vollständige Erkenntnis der Inhalte und vor allem der Verbindlichkeit des Naturrechts geht, da dieses nur über die Erkenntnis Gottes als Gesetzgeber möglich ist. Initia philosophiae practicae, § 71: »Leges naturae […] concedendae sunt ab ipsis atheis theoreticis, si, abstrahendo ab ipsorum errore circa exsistentiam divinam, ceterum sanam rationem meditando sequi voluerint […]«. 31 Ebd., § 100: »Iam Deus est auctor naturae universae […] et omnium inde evenientium realium […] obligationes autem naturales sunt reale quid et positivum […] et in eadem rationem sufficientem habent […]. Ergo deus est auctor obligationem […]«. 32 Baumgarten: Ius naturae, § 6: »Ad Kohlerum, § 287«. 30 Baumgarten:



Der Atheist und das Naturrecht293

Betrachtet man mit einigem Abstand diese Konstruktion naturrechtlicher Erkenntnis im Zusammenhang mit dem erwähnten merkwürdigen Mangel des Atheisten gerade hinsichtlich der vernünftigen Erkenntnis Gottes, so liegen zwei mögliche Erklärungen für die in dieser Weise geführte Debatte um ein atheistisches Naturrecht, eine in theoretischer, die andere in praktischer Hinsicht, auf der Hand. Erstens erscheint der Atheist in seiner Beschreibung als ein zwar der Vernunft Fähiger und dennoch hinsichtlich der Existenz Gottes Fehlender, als eine nur theoretische Annahme für den eigentlichen Grund der Argumentation, nämlich mittels der Annahme des Naturrechts und seines notwendigen Gesetzgebers Gott einen wichtigen Beleg für das Schaffen Gottes in der Welt zu geben und den Atheismus als widervernünftige Verirrung zu brandmarken. Zudem wird hier Absicht unterstellt, die sich zweitens als Anklage gegenüber dem Atheisten äußert, wider seine Vernunft Gott zu leugnen. So findet sich der unter anderem bei Wolff und auch in Siegmund Jakob Baumgartens Geschichte der Religionspartheyen (1766) explizit geäußerte Vorwurf, dass der Atheist gerade deshalb die Rolle Gottes leugnet, damit für ihn die Verbindlichkeit des Naturrechts auf hört und er sich dessen ungeachtet vielmehr dem »Angenehmen und Vergnüglichen«, so Baumgarten,33 widmen kann. Letztlich also ist die Debatte um ein Naturrecht des Atheisten weitgehend im Dienste einer Widerlegung und weniger als ein Versetzen in die Perspektive desselben anzusehen. Schauen wir nun abschließend, inwieweit Georg Friedrich Meier, nach eigener Auskunft treuer Schüler und Übersetzer Baumgartens, zudem später selbst als Professor der Philosophie u. a. das Baumgarten’sche Naturrecht in seinen Vor­lesungen an der Universität Halle auslegend,34 das Problem des atheistischen Naturrechts aufgreift. Auch Meier übernimmt die von Köhler und Baumgarten her bekannten Methoden bzw. Lehrarten des Rechts der Natur, die er ebenfalls die ›empirische‹ und ›theologische‹ nennt. Bezüglich der empirischen Lehrart geht auch Meier davon aus, dass deren »Herleitung des Rechts der Natur aus solchen Beweisgründen [bestehe], deren Gewißheit gar nicht von der natürlichen Gottesgelahrheit abhanget […]«.35 Im Gegensatz zu Köhler und Baumgarten aber erklärt Meier, dass sehr wohl »völlig und richtig gewiß« das »Recht der Natur […] in der That, nach dieser 33 Siegmund Jakob Baumgarten: Geschichte der Religionspartheyen, hg. von Johann Salomon Semler, Halle 1766, 35 (§10): »[…] da bey dem geleugneten Abhängen aller zuf älligen Dinge von GOtt eine solche Willkürlichkeit des Verhaltens behauptet worden, daß alles durch blosses äusseres Vergnügen bestimmet werde, und die Verbindlichkeit des justi et honesti im Gegensatz des Angenehmen und Vergnüglichen eben um deswillen wegfalle, weil keine Verbindlichkeit weder des höchstens Wesens noch auch einmal eines Zusammenhangs der Natur stattfinde.« 34 Vgl. Dominik Recknagel: »Vorwort«, in: Georg Friedrich Meier: Das Recht der Natur (Christian Wolff: Gesammelte Werke, Abt. III: Materialien und Dokumente, Bd. 141, begründet von Jean École, hg. von Werner Schneiders und Robert Theis), Hildesheim 2014 (Nachdruck der Ausgabe Halle 1767), 1 – 31, 1 – 4. 35 Meier: Recht der Natur, 14 – 16 (§ 7), Zitat: 15. Vgl. Recknagel: »Vorwort«, 11 – 14.

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Lehrart, erwiesen werden« könne.36 Und dies deshalb, weil das Meier’sche oberste Prinzip des Naturrechts: »[B]eleidige niemanden in dem natürlichen Zustande« seinerseits »völlig erwiesen werden [kann], ohne dabey vorauszusetzen, daß ein GOtt sey«, so Meier.37 Er geht also klar über die bei Köhler und Baumgarten eingezogenen Grenzen der Erkenntnis des Naturrechts hinaus und stellt die empirische mit der theologischen Lehrart auf nahezu dieselbe Stufe. Zudem habe die empirische Methode einige Vorteile gegenüber der theologischen: Ihre Beweise seien viel kürzer und leichter durchzuführen und schließlich erreiche man damit auch die Menschen, die die Überzeugung von der natürlichen Gottesgelehrtheit nicht teilen, unter anderem also auch die Atheisten.38 Die theologische Lehrart hingegen lässt keinen Zweifel über die Quelle der Gesetze und ihrer Verbindlichkeit auf kommen. Es ist der »allerheiligste souveraine Wille« Gottes, »unseres höchsten Gesetzgebers und Oberherrns«.39 Diese Methode, so Meier, verleihe dem Recht der Natur zwar ein würdigeres und edleres Aussehen und eine göttliche Autorität, füge aber inhaltlich nichts hinzu.40 Mit dieser geänderten Ausgangslage entsteht für Meier nunmehr auch eine Spannung gegenüber Baumgarten hinsichtlich der Stellung des Atheisten. Zunächst übernimmt Meier zwar wörtlich dessen Fragen aus dem Köhlerkommentar und beantwortet sie im gleichen Sinne: Erstens, dass, wenn es Gott nicht gäbe, auch kein Naturrecht existierte, zweitens, dass der Atheist trotz seiner Gottesleugnung von der Verbindlichkeit des Naturrechts überzeugt werden könne, und drittens, dass das Naturrecht vom Atheisten weniger gut erkannt werden könne als von dem, der von der natürlichen Theologie überzeugt ist.41 Schließlich geht Meier aber über Baumgarten hinaus, indem er weiter ausführt, dass der Atheist sich sehr wohl nach den Regeln der Gerechtigkeit und Menschenliebe richten kann und es ohne Zweifel »ausser dem Spinoza noch mehrere Atheisten gegeben [hat], welche an Tugend so gar viele Christen sehr weit hinter sich zurück gelassen haben«.42 Zwar sei der Atheist nicht in ebenso hohem Grade durch die Gesetze der Natur verpflichtet wie der Christ, stellt Meier fest, da diese Gesetze, wenn sie zugleich als Gesetze Gottes betrachtet würden, eine höhere Verbindlichkeit erlangten. Dennoch folgt hier für Meier aus naturrechtlicher Argumentation ein Rechtsraum für Atheisten und Andersgläubige. Der Atheist ist nicht mehr nur der zu Widerlegende, sondern hat zumindest in naturrechtlicher Hinsicht ähnliche Erkenntnischancen wie der vormals für ihn unerreichbare natürliche Theologe. Letztlich ist es Georg Friedrich Meier, der mit seiner Naturrechtslehre zugleich auch ein Recht auf Atheismus postuliert. In seinem Katalog natürlicher Rechte des 36 Meier:

Recht der Natur, 15 (§ 7).

37 Ebd. 38

Ebd., 16 f. (§ 8). Ebd., 17 f. (§ 8). 40 Ebd. 41 Ebd., 18 – 2 2 (§ 9). 42 Ebd., 21 (§ 9). 39



Der Atheist und das Naturrecht295

Menschen im natürlichen Zustand, der unter anderem das Recht auf Leben, das Recht auf Unversehrtheit oder das Recht auf natürliche Freiheit und Gleichheit 43 aufführt, findet sich auch ein natürliches Recht des Menschen zu allen innerlichen Sünden, das heißt »Sünden, durch welche kein anderer Mensch äusserlich beleidiget wird«.44 Und obwohl, wie gesehen, für Meier feststeht, dass der Gesetzgeber des natürlichen Gesetzes Gott ist, folgt für ihn aus dem soeben genannten Recht zu allen innerlichen Sünden auch das Recht »zu der Atheisterey und zu allen Sünden wider Gott« und das Recht »zu einer falschen Religion, zum Aberglauben usw.«.45 Weil der Atheist nunmehr in der Lage ist, die Prinzipien des Naturrechts auch unter der Leugnung Gottes zu erkennen und diese Leugnung für Meier keine naturrechtlich relevante Beleidigung eines anderen Menschen ist, so »bekommt auch kein anderer Mensch, um des Gebrauchs irgends eines dieser Rechte willen, das Recht ihn zu zwingen, Gewalt wider ihn zu gebrauchen, und einen Krieg mit ihm anzufangen. Möchten doch nur alle gar zu hitzige Eife­rer wider die Irrthümer, Atheisterey, und wider alle moralische Laster dieses bedenken! Der Geist der Ueberzeugung und der herzenslenkenden Kraft ist bloß das Schwerd, welches man wider Irrthümer und innerliche Laster brauchen kan, wenn Wahrheit und Tugend befördert werden soll. Durch äusserliche Gewalt und Ungerechtigkeit können sie nicht ausgebreitet werden.«46

43

Ebd., 203 – 270 (§§ 100 – 133). 271 (§ 134). 45 Ebd., 271 f. (§ 134). 46 Ebd., 272 (§134). 44 Ebd.,

I V. HOR IZON TE U N D R ESONA NZ EN

HOR IZON TE ••• Die Viadrina und A lexander Gottlieb Baumgarten Von Reinhard Blänkner 1. Einleitung Wissenschaft hat einen Ort. Hierauf aufmerksam gemacht zu haben, ist das Verdienst des spatial turn. Neu ist diese Erkenntnis, die durch die temporalistische Wende des in der frühen Neuzeit noch ausschließlich raumbezogenen Perspektivismusdiskurses und das Objektivitätsideal des 19. Jahrhunderts verdrängt wurde,1 freilich nicht. Sie geht zurück auf den kulturwissenschaftlichen Anthropologiediskurs und die hiermit eng verknüpfte Formierung der Ästhe­tik im System des gelehrten Wissens im 18. Jahrhundert.2 Hieran hatte Alexander Gottlieb Baumgarten, der »führende Denker der deutschen Hochauf klärung« 3 und im heutigen Rückblick der wohl wirkungsgeschichtlich bedeutendste Gelehrte der alten Viadrina, prominenten Anteil. Diese intellektuelle Taxierung folgt dem in der Auf klärungsforschung, der Philosophiegeschichte und der Ästhe­tikforschung neuerwachten Interesse an Baum­ garten,4 der lange im Schatten der Philosophiehistorie stand. Das Bemühen, Baumgartens Bedeutung im Gelehrtendiskurs des 18. Jahrhunderts zu verorten, kann jedoch nicht reduziert bleiben auf die philologische Erschließung seiner Schrifhierzu Lorraine Daston / Peter Galison: Objektivität, Frankfurt a. M. 2007. Carsten Zelle: »Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhe­t ik und Anthopologie um 1750«, in: ders. (Hg.): ›Vernünftige Ärzte‹. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschen Frühaufklärung, Tübingen 2001, 5 – 24; Karl Eibl / Norbert Hinske / Lothar Kreimendahl (Hgg.): Aufklärung und Anthropologie (Auf klärung, 14), Hamburg 2002. 3 Clemens Schwaiger: Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, 50. 4 Zu neueren einschlägigen Forschung vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Auf klärung  20), hg. von Alexander Aichele und Dagmar Mirbach, Hamburg 2008; Alexander Gottlieb Baumgarten: Die Vorreden zur Meta­phy­sik, hg., übers. und kommentiert von Ursula Niggli, Frankfurt a. M. 1999; ders.; Metaphysica/Meta­phy­sik, Hist.-krit. Ausgabe, übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011; Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Porträt. Studien zur Meta­phy­sik und Ethik von Kants Leitautor, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011; Steffen W. Groß: Cognitio Sensitiva. Ein Versuch über die Ästhe­tik als Lehre von der Erkenntnis des Menschen, Würzburg 2011; Rüdiger Campe/Anselm Haverkamp/Christoph Menke: BaumgartenStudien. Zur Genealogie der Ästhe­tik, Berlin 2014. 1 Siehe 2 Vgl.

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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ten und produktive Aneignung seiner Philosophie oder Versuche, Baumgarten in einen Gipfelgratdialog mit anderen deutschen und europäischen Denkern zwischen Leibniz und Kant zu stellen. Die intellektuelle Verortung Baumgartens bedarf darüber hinaus des Blicks auf die frühneuzeitliche Universität als Institution der Gelehrsamkeit und die sozial-kulturellen Milieus, in denen er sich bewegt hat.5 Dabei ist Baumgartens akademisches Itinerar leicht überschaubar, es beschränkt sich auf die Städte Halle a. d. Saale und Frankfurt/Oder und deren Universitäten, die Fridericiana 6 und die alte Viadrina. Vor allem über Baumgartens Zeit an dieser ältesten der brandenburgisch-preußischen Universitäten ist jedoch bislang wenig bekannt. Dies resultiert nicht nur aus dem geringen Interesse, das die Baumgarten-Forschung diesem Ort der Baumgarten’schen Wissensproduktion bisher entgegengebracht hat, sondern ebenso aus dem unbefriedigenden Kenntnisstand über Frankfurt/Oder und ihrer Universität im 18. Jahrhundert.7 Maßgeblich beigetragen hat hierzu der Umstand der Verlegung der Universität nach Breslau im Jahre 1811, die nicht nur eine Marginalisierung der alten Viadrina in der Universitäts­ geschichtsschreibung zur Folge hatte. Nachhaltiger noch war das verheerende Urteil von Friedrich Paulsen, der in seiner klassischen Geschichte des gelehrten Unterrichts (1885) schrieb, dass die »brandenburgische Universität zu Frankfurt a. O., […] als frühneuzeitlichen Universität vgl. Anton Schindling: Bildung und Wissenschaft in der frühen Neuzeit. 1650 – 1800, 2. Auf l., München 1999; Marian Füssel/Martin Mulsow (Hgg.): Gelehrtenrepublik (Auf klärung, 26), Hamburg 2015. 6 Zur Halleschen Universitätsgeschichte im 18. Jahrhundert vgl. Johann Christoph Förster: Übersicht der Geschichte der Universität zu Halle in ihrem ersten Jahrhunderte. Nach der bei Carl August Kümmel in Halle 1794 erschienenen ersten Auf l., hg., bearbeitet und mit Anhängen versehen von Regina Meÿer und Günter Schenk, Halle/Saale 1998; Johann Christoph Hoff bauer: Geschichte der Universität zu Halle bis zum Jahre 1805, Halle 1805; Günter Jerouschek/Arno Sames (Hgg.): Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694 – 1806), Hanau/Halle 1994. – Mit besonderem Blick auf die Staatswissenschaften, aber hierüber auf die gesamte Universitätsgeschichte der Fridericiana hinausgreifend: Axel Rüdiger: Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahr­ hundert, Tübingen 2005; Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung I. Halle. Aufklärung und Pietismus, Heidelberg 1989. 7 Zur Universitätsgeschichte vgl. Reinhard Blänkner (Hg.): Europäische Bildungsströme. Die Viadrina im Kontext der europäischen Gelehrtenrepublik der frühen Neuzeit (1506 – 1811), Schöneiche bei Berlin 2008; Irina Modrow: Wonach in Frankfurt »jeder, der nur wollte, gute Studien machen konnte.« Eine kleine Geschichte der Viadrina anläßlich ihres 500. Jubiläums, Schöneiche bei Berlin 2006; Günter Mühlpfordt: Die Oderuniversität Frankfurt (1506 – 1811), Frankfurt/Oder 1981; Die Oder-Universität Frankfurt. Beiträge zu ihrer Geschichte. Im Auftrag des Bezirkskomitees Frankfurt (Oder) der Historiker-Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik und des Rates der Stadt Frankfurt (Oder), hg. von Günther Haase und Joachim Winkler, Weimar 1983; Ulrich Knefelkamp (Hg.): Universität und Stadt. Ringvorlesung zum 500. Jubiläum der Europa-Universität Vadrina Frankfurt (Oder), Schöneiche bei Berlin 2007. Aus der älteren Literatur unentbehrlich: Carl Renatus Hausen: Geschichte der Universität und der Stadt Frankfurt an der Oder, seit ihrer Stiftung und Erbauung, bis zum Schluß des achtzehnten Jahrhunderts, größtenteils nach Urkunden und Archiv-Nachrichten bearbeitet, Frankfurt/Oder 1800. 5 Zur



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jenseits der Grenzen der Civilisation gelegen, wohl von Anfang an nur die dürftigen Umrisse einer Universität darstellte«.8 Wir wissen heute, dass dieses Urteil auf gänzlicher Unkenntnis beruhte. Hinzuzufügen ist jedoch, dass es ohne Zweifel auch durch das Interesse motiviert war, die Geschichte der im Kontext der Verlegung der alten Viadrina von Frankfurt nach Breslau gegründeten Berliner Universität in Umkehrung in hellem Licht darzustellen. Inzwischen ist der vermeintliche Glanz der Berliner Universitätsgründung selbst als ›Humboldt-Mythos‹ destruiert worden.9 Mit dem Auf brechen der Korrespondenz zwischen dem negativen Bild der alten Viadrina und dem HumboldtMythos der Berliner Universität wird auch die Möglichkeit für einen anderen Blick auf die alte Viadrina freigelegt, an der Baumgarten von 1740 bis zu seinem Tode 1762 gelehrt hat.10 2. Die alte Viadrina Am 26. April 1506 öffnete die Universität in Frankfurt ihre Tore. Und weil diese Stadt an der Oder gelegen ist, erhielt ihre Universität schon bald den Beinamen Via­drina, den sie jedoch während ihrer gut dreihundertjährigen Dauer nie als amtliche Bezeichnung führte. Die Universitas Francofurtensis war die erste Gründung ­einer Universität im Kurfürstentum Brandenburg, drei weitere in Königsberg (1544) im säkularisierten Herzogtum Preußen, in Duisburg (1655) im Herzogtum Kleve und die im Herzogtum Magdeburg gelegene Universität in Halle (1694) folgten ihr nach, so dass das alte Brandenburg-Preußen bis zu seinem Ende im Jahre 1806 vier über die verschiedenen geographischen Regionen seines Territoriums verteilte Landesuniversitäten besaß. Hinzu kam nach der Eroberung Schlesiens durch Friedrich II. das 1702 gegründete Jesuitenkolleg, die Universitas Leopoldina in Breslau. Ihre im Spätmittelalter handelspolitisch günstige Lage hatte Frankfurt, das zur Zeit der Gründung der Universität zu den »bedeutendsten Zwischenhandelsstäd-

Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, Leipzig 1885, 141.  9 Siehe hierzu Sylvia Paletschek: »Verbreitete sich ein ›Humboldt’sches Modell‹ an den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert?«, in: Mitchell G. Ash (Hg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universität, Wien 1999, 75 – 104; Rüdiger vom Bruch (Hg.): Zur Gründung der Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, München 2010; ders.: »Krise und Transformation der europäischen Gelehrten­repu­ blik um 1800«, in: Blänkner (Hg.): Europäische Bildungsströme, 343 – 358. 10 Die nachfolgenden Ausführungen schließen an frühere ausführliche Darlegungen an, s. Reinhard Blänkner: »Die alte Viadrina – Brandenburgische Landesuniversität in der europä­ ischen Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit«, in: ders. (Hg.): Europäische Bildungsströme, 9 – 4 4; ders.: »The Viadrina University (1506 – 1811)«, in: Commemorative Book for the 200th Anniversary of the Establishment of the State University in Wrocław, ed. by Jan Harasimowicz, vol. II: Universitas litterarum Wratislaviensis 1811 – 1945, Wrocław 2013, 45 – 61.  8

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ten im Hinterland der Hanse«11 zählte, den Rang des ökonomischen Zentrums in der Mark Brandenburg verschafft, noch vor der kurfürstlichen Residenzstadt Berlin-Cölln, deren Aufstieg erst im ausgehenden 17. Jahrhundert begann. Diese ökonomisch-politische Bedeutung Frankfurts war ausschlaggebend für die Entscheidung, die erste brandenburgische Universität an diesem Ort als bonarum artium mercatura, wie Konrad Wimpina, ihr erster Rektor schrieb, zu errichten.12 Verschiedene Motive kamen bei dieser Entscheidung zusammen. Zunächst das Interesse der Frankfurter Bürgerschaft, von der im Jahre 1493 die Initiative zur Gründung einer Universität ausging, den wirtschaftlichen Rang ihrer Stadt hierdurch zu festigen und zugleich kulturell zu steigern. Sodann der Versuch der Hohenzollern, ihre politische Landesherrschaft des Kurfürstentums Brandenburg, mit der sie erst wenige Jahrzehnte zuvor (1415/1417) belehnt worden waren, durch die Stiftung gelehrter Einrichtungen, nicht zuletzt in Konkurrenz zum Wettinischen Kurfürstentum Sachsen und seiner Universitätsgründung in Wittenberg, auch kulturell aufzuwerten. Und schließlich das generelle Motiv der spätmittelalterlich-früh­modernen Territorialstaaten, den steigenden Bedarf eines qualifizierten »Verwaltungsstabes« (Max Weber) durch die Ausbildung an eigenen Landesuniversitäten abzudecken. Historisch fügt diese Interessenkonstellation sich in das allgemeine Muster der zweiten Welle der Universitätsgründungen ein, die vor allem durch das Zusammenwirken von Landesherrschaft und Humanismus geprägt war. Wie die vorangegangenen mittelalterlichen Universitätsgründungen, bezog jedoch auch die Frankfurter Universität ihre Legitimation noch immer aus päpstlicher und kaiserlicher Privilegierung, die in den Jahren 1498 und 1500 erfolgte. Auch in der organisatorischen Struktur der Gelehrsamkeit folgte die Viadrina mit der Einrichtung der vier Fakultäten – Theologie, Jurisprudenz, Medizin und artes liberales – der mittelalterlich-scholastischen Tradition.13 Diese organisatorische Struktur behielt die Viadrina bis zum Ende ihrer Frankfurter Zeit im Jahre 1811 bei. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass sich, wie an den übrigen frühneuzeitlichen Universitäten, während dieser Zeit unter dem Dach der organisatorischen Kontinuität vor allem durch den Aufstieg der Jurisprudenz zur Leitwissenschaft anstelle der Theologie die relative Bedeutung der Fakultäten untereinander erheblich verschob. Darüber hinaus lösten mehrfache und tiefgreifende Umbrüche im frühneuzeitlichen Wissensbestand Neu- und Umstrukturie11 Manfred Staube: »Die Stellung Frankfurts im Wirtschaftsleben zur Zeit der Gründung der Universität«, in: Die Oder-Universität Frankfurt, 73 – 89, hier: 74. 12 Siehe hierzu Martin Kintzinger: »Ein Markt der Wissenschaften. Die Anf änge der Universität Frankfurt an der Oder«, in: Förderverein zur Erforschung der Geschichte der Viadrina e. V., Jahresbericht 1 (1998), 6 – 29, hier: 20. 13 Siehe hierzu Rainer A. Müller: Geschichte der Universität. Von der mittelalterlichen Universitas zur deutschen Hochschule, München 1990, 18 f., 45 – 51; Wolfgang E. J. Weber: Geschichte der europäischen Universität, Stuttgart 2002, 35 – 63; Modrow: Wonach in Frankfurt »jeder, der nur wollte, gute Studien machen konnte«, 6 – 13.



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rungen der gesamten gelehrten Wissensordnung aus, die allerdings erst in der Krise um 1800 zum Auf bruch der traditionellen Fakultätsstruktur und zur Reform der Universitäten führten.14 Durch die Verlegung der Viadrina nach Breslau ist es zu dieser Reform der Frankfurter Universität jedoch nicht mehr gekommen. Mit der Gründung der Frankfurter Universität erhielt der Humanismus im Kurfürstentum Brandenburg institutionellen Einzug. Rasch erwarb sich die Viadrina hohes Ansehen unter den Universitäten des Heiligen Römischen Reiches. Schon im ersten Jahr wies die Matrikel 933 Eintragungen von Studenten auf, eine Zahl, die alle früheren Universitätsgründungen im Reich übertraf.15 Bereits gut zehn Jahre später versiegte dieser Neugründungselan jedoch, als die Viadrina sich zum Hort der katholischen Gegenreformation formierte und damit in theologische und konfessionspolitische Konkurrenz zur protestantischen Universität in Wittenberg geriet.16 Der massive Attraktionsverlust der Universität wurde erst seit den 1540er Jahren gewendet, nachdem der Brandenburgische Kurfürst Joachim II. zum Luthertum konvertiert war und eine grundlegende Reform der Universität einleitete. Signal und Symbol dieser lutherischen Neurorientierung der Viadrina war die Berufung von Georg Sabinus, eines Schülers und Schwiegersohns des Wittenberger Reformators Philipp Melanchthon, zum Professor für Poesie und Beredsamkeit. Allerdings verließ Sabinus bereits nach sechs Jahren die Viadrina, um 1544 das Amt des ersten Rektors der neugegründeten Universität in Königsberg zu übernehmen. Konfessionspolitisch trat die Viadrina in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf die Seite des orthodoxen Luthertums. Gemessen an den Studentenzahlen zählten die Jahrzehnte um die Wende zum 17. Jahrhundert zu den erfolgreichsten in der Geschichte der Viadrina. Während die durchschnittliche Frequenz der Immatrikulationen an den Universitäten vor dem Dreißigjährigen Krieg bei 400 lag, war die Immatrikulationsziffer an der Via­ drina deutlich höher (466) und führte diese in die Reihe der drei am meisten besuchten Universitäten im Heiligen Römischen Reich.17 Die Jahrzehnte um 1600 markieren den Zenit der Viadrina.18 Siehe hierzu Weber: Geschichte der europäischen Universität, 106 – 153; Notker Hammerstein: Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, München 2003, 17 – 2 3; Schindling: Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit, 49 – 62. 15 Vgl. Margarete Kühn: »Die Universität Frankfurt a. d. Oder und der Humanismus in der Mark Brandenburg«, in: Willmuth Avenhövel (Hg.): Berlin und die Antike, Berlin 1979, 17 – 22; Michael Höhle: »Zwischen Scholastik, Humanismus und Reformation. Die Anf änge der Universität Frankfurt (Oder)«, in: Ortstermine. Stationen Brandenburg-Preußens auf dem Weg in die moderne Welt, hg. vom Museumsverband des Landes Brandenburg, Berlin 2001, U7-U16, hier: U9, Anm. 15. 16 Siehe hierzu Michael Höhle: »Universitäten im Widerstreit: Frankfurt (Oder) und Wittenberg«, in: Blänkner (Hg.): Europäische Bildungsströme, 61 – 78. 17 Modrow: Wonach in Frankfurt »jeder, der nur wollte, gute Studien machen konnte«, 18. 18 Vgl. Heinrich Stümbke/Gerd Heinrich: »Frankfurt/O.«, in: Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, Bd. 10: Berlin und Brandenburg, hg. von Gerd Heinrich, Stuttgart 1985, 177 – 185, hier: 182. 14

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Einen schweren Einbruch erlitt die Universität wenig später während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, als Frankfurt über mehr als zwanzig Jahre Schauplatz von Besatzungen, Plünderungen und Zerstörungen durch kaiserliche und schwedische Truppen und zudem durch mehrere Pestwellen heimgesucht wurde, die im Jahre 1625 sogar die vorübergehende Verlegung der Universität in das westlich von Frankfurt gelegene Fürstenwalde erzwang. Nach Ende des Krieges war die Bevölkerung der vormals blühenden Handelsstadt von 12.000 Einwohnern auf 2.366 Einwohner dezimiert. Unter diesen äußeren Umständen konnte auch die Viadrina kein Ort der bonarum artium mercatura sein. Der Wiederauf bau der Universität setzte, wie in der Stadt Frankfurt und in der Mark Brandenburg, erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges unter Friedrich Wilhelm, dem ›Großen Kurfürsten‹, ein. Die »neue wissenschaftliche Ära an der Viadrina«,19 die nun begann, gründete jedoch nicht allein in ihrem materiellen Retablissement, sondern in der intellektuellen Neuausrichtung aus dem Geist des Calvinismus. Den Grundstein hierfür hatte Kurfürst Johann Sigismund im Jahre 1613 mit seiner Konversion vom Luthertum zum Calvinismus gelegt, die, von religiösen Motiven abgesehen, nicht nur weitreichende Folgen für die dynastische Politik der Hohenzollern hatte, sondern auch das intellektuelle Profil der Viadrina über mehr als ein Jahrhundert prägte. Dabei ist zunächst hervorzuheben, dass der Übertritt des Hohenzollernschen Herrscherhauses zum Calvinismus keineswegs, wie siebzig Jahre zuvor, eine konfessionspolitische Umwandlung der Universität, nun vom Luthertum zum Calvinismus, auslöste. Eine solche Umwandlung war, auch wäre sie seitens des Kurfürsten gewollt gewesen, gegen die lutherische Professorenschaft nicht durchsetzbar. Stattdessen wurde die Viadrina ein Ort der – zunächst politisch erzwungenen – konfessionspolitischen Neutralisierung, an dem noch während der Epoche der konfessionellen Bürgerkriege und ihrer langen Endphase des Dreißigjährigen Krieges protestantisch-konfessionelle Koexistenz praktiziert und damit religiöser Toleranz der Weg bereitet wurde. Die Konversion der Hohenzollern zum Calvinismus hatte jedoch nicht nur theologische und religiöse Folgen. Sie wurde politisch begleitet durch die Hinwendung zu den Niederlanden, der politischen Vormacht des Calvinismus und der sich formierenden ersten europäischen Hegemonialmacht des 17. Jahrhunderts, die zum Zentrum ökonomischer und technischer Innovationen sowie neuer geistiger Strömungen wurde. Im Kurfürstentum Brandenburg fanden diese mehrfachen Innovationsschübe der »Niederländischen Bewegung« (G. Oestreich) zur Modernisierung der hohenzollernschen Monarchie, des Landesausbaues und der späthumanistischen Gelehrsamkeit rasch Eingang. Die Viadrina wurde zu einem der wichtigsten Rezeptionsorte des von Justus Lipsius geprägten Neustoizismus, und auch die von Hugo Grotius initiierte Neubegründung des Natur- und Völkerrechts fand hier, namentlich durch Johann Brunnemann (1608 – 1672), Samuel Stryk (1640 – 1710), 19 Modrow:

Wonach in Frankfurt »jeder, der nur wollte, gute Studien machen konnte«, 36.



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Johann Christoph Becmann (1641 – 1717) und Heinrich (von) Cocceji (1644 – 1719), breite Resonanz und Wirkung.20 Äußeren Höhepunkt für das hohe Ansehen, das die Viadrina um 1700 in der europäischen Gelehrtenrepublik genoss, markiert das prunkvolle Jubiläum, das anlässlich ihrer 200-Jahr-Feier am 26. April 1706 in Anwesenheit des preußischen Königs und Kronprinzen zelebriert wurde und auch Resonanz u. a. in Oxford und Amsterdam auslöste. Überblickt man ihre gut dreihundertjährige Geschichte, so wird man die Zeit um 1700, symbolisch gipfelnd in der zweihundertsten Säkularfeier im Jahre 1706, als zweite große Zeit der alten Viadrina bezeichnen können.21 Wenn die Jahrzehnte des ausgehenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts mit gutem Grund als ein Höhepunkt in der Geschichte der alten Viadrina gelten können, so bedeutet dies nicht, dass das sich anschließende 18. Jahrhundert eine Zeit des kontinuierlichen Niedergangs war, die zwangsläufig in die Auf lösung und schließlich Verlegung der Universität nach Breslau mündete. Eine solche pauschale Niedergangsthese verstellt den Blick auf die sich verändernden wissenschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die Folgen für den spezifischen Ort der Via­ drina im Koordinatensystem der Universitätslandschaft in Preußen und im Alten Reich hatten. Dies gilt zu allererst für die Gründungen der Reformuniversitäten in Halle (1694) und später in Göttingen (1737), die mit innovativen Lehr- und Forschungsprofilen zu den beiden modernsten Universitäten im Alten Reich aufstiegen und damit nicht nur die Viadrina, sondern auch alle übrigen Universitäten in den Schatten stellten. Nimmt man dies zum Bewertungsmaßstab, so konnte die Via­ drina im Vergleich zu Rinteln, Helmstedt, Rostock, Greifswald, Kiel und anderen ihre Position als eine führende Universität in Norddeutschland behaupten.22 Und mit Blick auf ihre 19 Professoren nahm sie, im Gesamtvergleich der 39 Universitäten des Alten Reiches in der Mitte des 18. Jahrhunderts, einen mittleren Rang ein, während an der Spitze Göttingen mit 41 Professoren stand.23 Doch nicht nur im Alten Reich, sondern auch innerhalb der brandenburg-preußischen Universitäts- und Bildungslandschaft verschob sich der Ort der Viadrina. Mit der Gründung der Universität in Halle, der Fridericiana, erwuchs ihr eine Konkurrenz, der sie schon nach wenigen Jahrzehnten unterlegen war. Dabei konnte die Fridericiana in ihrer Anfangsphase durch Berufungen junger Gelehrter, die, wie Christian Thomasius, in Frankfurt studiert hatten, oder dem bereits arrivierten 20 Siehe hierzu Gerhard Oestreich: »Politischer Neustoizismus und Niederländische Bewegung in Europa und besonders in Brandenburg-Preußen«, in: ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969 (zuerst 1965), 101 – 156; Hans Thieme (Hg.): Humanismus und Naturrecht in Berlin-Brandenburg-Preussen, Berlin 1979. 21 Siehe hierzu auch Notker Hammerstein: »Die Viadrina in der sich wandelnden Universitätslandschaft um und nach 1700«, in: Blänkner (Hg.): Europäische Bildungsströme, 153 – 167. 22 Vgl. Alexander von Brünneck: »Die Juristische Fakultät der Viadrina in Frankfurt (Oder) 1506 – 1811«, in: Blänkner (Hg.): Europäische Bildungsströme, 293 – 323, hier: 321; Hammerstein: »Die Viadrina in der sich wandelnden Universitätslandschaft«, 164 und 167. Vgl. allgemein auch Schindling: Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit, 24 – 30 und 37 – 4 4. 23 Vgl. Müller: Geschichte der Universität, 60.

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Johann Gottlieb Heineccius, einem Juristen von europäischem Format,24 auf dem hohen wissenschaftlichen Niveau der Viadrina auf bauen. Umgekehrt konnte die Viadrina jedoch auch von den Reformimpulsen der Halleschen Universität profitieren. Zwar stand sie an Attraktivität hinter dieser zurück, doch gelang es ihr, neben bereits renommierten Gelehrten wie dem freilich hier nur kurzzeitig und ohne Fortune in den Jahren 1737/1739 lehrenden, später hochangesehenen Reichspublizisten Johann Jacob Moser (1701 – 1785)25 oder dem Strafrechtler Samuel Friedrich Böhmer (1704 – 1772), dem »hervorragendste[n] Dogmatiker des 18. Jahrhunderts«,26 auch junge angehende Gelehrte abzuwerben, die die von Halle ausstrahlenden innovativen Wissenschaftsbewegungen nach Frankfurt brachten. Vor allem in der juristischen, artistischen und medizinischen Fakultät gab es einen regen Austausch zwischen den Universitäten in Halle und Frankfurt.27 Neben der Universität in Halle veränderte auch die Gründung der »Sozietät der Wissenschaften« in Berlin (1700),28 deren erster Präsident Gottfried Wilhelm Leibniz war, die Struktur der brandenburgisch-preußischen Bildungslandschaft. Zwar trat die Berliner Sozietät als Akademie nicht in ein Konkurrenzverhältnis zu den brandenburgisch-preußischen Universitäten als Lehranstalten, doch gingen von ihr intellektuelle Impulse und die Entstehung kommunikativer Gelehrtennetzwerke aus, die langfristig auch die Position der Viadrina tangierten. Als vormals »wichtigste der brandenburg-preußischen Universitäten« 29 vermochte die Viadrina diese Position im Gefüge des sich verdichtenden brandenburg-preußischen Gesamtstaates und seiner sich ausdifferenzierenden Universitätslandschaft nicht zu halten. In der Rangfolge nahm sie nach Halle die Rolle einer nunmehr preußischen Landesuniversität ein, deren Hauptaufgabe in der Ausbildung von Funktionsträgern und Gelehrten für den preußischen Gesamtstaat lag. 24 Siehe

hierzu Roland Wittmann: »Johann Gottlieb Heineccius – ein Repräsentant der europäischen Wissenschaftstradition an der Viadrina«, in: Förderverein zur Erforschung der Geschichte der Viadrina e. V., Jahresbericht 5 (2005/2006), 77 – 84; Patricia Wardemann: Johann Gottlieb Heineccius – Leben und Werk, Frankfurt a. M. 2007. 25 Siehe hierzu Reinhard Rürup: Johann Jacob Moser. Pietismus und Reform, Wiesbaden 1965; Andreas Gestrich/Rainer Lächele (Hgg.): Johann Jacob Moser. Politiker, Pietist, Publizist, Karlsruhe 2002. 26 Siehe hierzu Uwe Scheffler: »Die Viadrina-Professoren Johann Jakob Moser (1701 – 1785) und Johann Samuel Friedrich von Böhmer (1704 – 1772) – gleichberühmt, aber grundverschieden«, in: Förderverein zur Erforschung der Geschichte der Viadrina e.V., Jahresbericht 2 (1999), 6 – 27; von Brünneck: »Die Juristische Fakultät der Viadrina«, Zitat: 318 nach Eberhard Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auf l., Göttingen 1995, 166. 27 Vgl. Hammerstein: »Die Viadrina in der sich wandelnden Universitätslandschaft«, 162 – 166. 28 Leonhard Stroux: »Die Gründung der Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften durch Gottfried Wilhelm Leibniz und Daniel Ernst Jablonski«, in: Joachim Baalcke/Werner Korthaase (Hgg.): Daniel Ernst Jablonski. Religion, Wissenschaft und Politik um 1700, Berlin 2008; Katrin Joos: Gelehrsamkeit und Machtanspruch um 1700. Die Gründung der Berliner Akademie der Wissenschaften im Spannungsfeld dynastischer, städtischer und wissenschaftlicher Interessen, Köln 2012. 29 Michael Stolleis: Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, München 1988, 245 (ebenso 331).



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Dies gilt für die theologische und medizinische, vor allem aber für die juristische Fakultät, in der – in Frankfurt ebenso wie in Halle – das ältere Naturrecht aus seiner dogmatischen Form zu einem gleichsam »preußischen Naturrecht« (E. Hellmuth) institutionalisiert und zur allgemeinen Grundlage der Juristenausbildung wurde. Nach einer Schwächeperiode zwischen 1720 bis 1750 ist hier unter den Professoren besonders Joachim Georg Darjes (1714 – 1791) zu nennen, der im Jahr 1763, nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, als Nachfolger des ein Jahr zuvor verstorbenen Baumgarten an die Viadrina berufen wurde.30 Darjes, der in der juristischen ebenso wie in der artistischen Fakultät wirkte und darüber hinaus erster Präsident der 1766 gegründeten Frankfurter »Gelehrte(n) Gesellschaft der Künste und Wissenschaften« wurde,31 gehörte zu den bedeutendsten Gelehrten in der Geschichte der alten Viadrina. Das von ihm mitgeprägte, auf die Verhältnisse Preußens praktisch angewandte Naturrecht war die Grundlage für die Erarbeitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (1794), an der die Juristen der Viadrina maßgeblichen Anteil hatten.32 Zur Ausbildung der angehenden preußischen Beamten trug schließlich auch die artistische Fakultät bei, an die die 1727 gleichzeitig in Halle und Frankfurt gegründeten Professuren für Kameralwissenschaften angeschlossen waren. An der Via­d rina verblassten diese allerdings bereits nach einer ersten Auf baudekade, nachdem Justus Christoph Dithmar (1678 – 1737), ihr erster Lehrstuhlinhaber, verstorben war und danach die Professur für mehr als zwei Jahrzehnte vakant blieb.33 Als herausragender Gelehrter unter den Professoren der artistischen Fakultät ist – zeitlich und wirkungsgeschichtlich – vor Darjes insbesondere Alexander Gottlieb Baumgarten zu nennen. Überblickt man die – noch nicht hinreichend erforschte – Geschichte der Viadrina im 18. Jahrhundert, so kann von einem generellen Niedergang keineswegs gesprochen werden, wohl aber von einer Funktions- und Rangverschiebung innerhalb des brandenburgisch-preußischen Gesamtstaates sowie des Alten Reiches. 30 Siehe hierzu Eckhart Hellmuth: »Das Naturrecht des Joachim Georg Darjes als ›institutio­ nal language‹«, in: Blänkner (Hg.): Europäische Bildungsströme, 179 – 194; ders.: Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zu preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1985; Hans Martin Sieg: Staatsdienst, Staatsdenken und Dienstgesinnung in Brandenburg-Preußen (1713 – 1806), Berlin 2003. 31 Siehe hierzu Brigitte Meier: »Die ›Gelehrte Gesellschaft der Künste und Wissenschaften‹ in Frankfurt an der Oder (1766 – 1811) – ›Modeerscheinung‹ oder wissenschaftliches Netzwerk?«, in: Blänkner (Hg.): Europäische Bildungsströme, 225 – 253. 32 Zur Struktur und vorläufigen Bilanz der Juristischen Fakultät der Viadrina vgl. von Brünneck: »Die Juristische Fakultät der Viadrina«. 33 Siehe hierzu Marcus Sandl: »Die Viadrina und der Aufstieg der ökonomischen Wissenschaften im Zeitalter der Auf klärung«, in: Blänkner (Hg.): Europäische Bildungsströme, 195 – 222; Karl-Heinrich Kauf hold: »Finanzwesen und Kameralwissenschaften in Brandenburg-Preussen im späten 17. und im 18. Jahrhundert«, in: Förderverein zur Erforschung der Geschichte der Viadrina e. V., Jahresbericht 3 (2002), 75 – 83. Zu Dithmars kameralwissenschaftlichem Konzept s. a. Rüdiger: Staatslehre und Staatsbildung, 217 ff.

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Absinkendes wissenschaftliches Niveau, wie etwa in den Kameralwissenschaften oder in der Jurisprudenz, konnte durch innovative Leistungen an anderen Stellen, namentlich durch Baumgarten, kompensiert werden. Aufs Ganze gesehen gehörte die Viadrina am Ende des 18. Jahrhunderts zwar nicht mehr wie noch um 1600 oder um 1700 zur Spitzengruppe der deutschen Universitäten, aber noch immer konnte hier, wie Samuel Maroth, ein Viadrina-Absolvent und Kommilitone der beiden Humboldt-Brüder ausgangs des 18. Jahrhunderts schrieb, »jeder, der nur wollte, gute Studien machen […]«.34 Häufig ist die Bedeutung der alten Viadrina über ihre geographische Lage am Schnittpunkt zwischen West und Ost, gleichsam als Brückenuniversität beschrieben worden. Allerdings wird hierbei nicht immer hinreichend klar, was ›West‹ und ›Ost‹ zu verschiedenen Zeiten geopolitisch bedeuten. Um den kulturellen Ort der alten Viadrina zu bestimmen, ist es daher weiterführender, auf die Herkunfts­ milieus ihrer Professoren und Studenten sowie auf politischen und intellektuellen Strömungen zu schauen, in welche die Frankfurter Universität eingebettet war. Auffälligste Konstante über den gesamten, gut dreihundertjährigen Zeitraum ihres Bestehens sind hierbei die Herkunftsmilieus der Studenten. Der Haupteinzugsbereich der Viadrina lag in den mittleren und östlichen Regionen Brandenburg-Preußens, also der Umgebung Frankfurts und der Mark Brandenburg, der Neumark sowie Hinterpommerns.35 Attraktiv war die Viadrina darüber hinaus für Studenten aus Polen-Litauen, dem Baltikum, Ungarn und insbesondere aus Schlesien. Ein Blick auf das Herkunftsprofil der Frankfurter Studenten verdeutlicht, dass die Viadrina keineswegs, wie in der Universitätsgeschichtsschreibung zum Teil bis heute behauptet wird, lediglich eine preußische Landesuniversität war. Sie besaß stattdessen Ausstrahlungskraft auch bis in die ost- und südostmitteleuropäischen Regionen. Ihre überregionale Bedeutung zeigt sich auch beim Blick auf das Herkunftsprofil der Professoren sowie auf die intellektuellen Ströme und akademischen Netzwerke, in welche die Viadrina eingebunden war. Dies gilt zunächst für den Calvinismus als konfessionelle Bewegung und darüber hinaus für die hiermit verbundene ›Niederländische Bewegung‹ des 17. Jahrhunderts, deren politische, ökonomische und militärische Impulse nachhaltige Wirkungen in BrandenburgPreußen und auch an der Viadrina hinterließen.36 In diesem Sinne hat bereits Otto Hintze, der bedeutendste deutsche Historiker der Kaiserreichs und der Weimarer

Alexander von Humboldt. Eine wissenschaftliche Biographie, bearbeitet und hg. von Karl Bruhns, Bd. 1, Leipzig 1872, 52. 35 S. hierzu Christof Römer: Herkunft der Studenten der Universität Frankfurt/O. 1506 – 1810, Berlin/New York 1980, 1 f. 36 Vgl. hierzu Thieme (Hg.): Humanismus und Naturrecht in Brandenburg-Preußen; Gerhard Oestreich: »Calvinismus, Neustoizismus und Preußentum«, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands 5 (1957), 157 – 181; ders.: »Politischer Neustoizismus und Niederländische Bewegung«; Hammerstein: »Die Viadrina in der sich wandelnden Universitätslandschaft«. 34 Vgl.



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Republik, vom Calvinismus als der »Brücke« gesprochen, »über welche die westeuropäische Staatsräson ihren Einzug in Brandenburg gehalten hat«.37 Zu einem ›Amsterdam des Ostens‹, wie der Hallenser Historiker Günter Mühlpfordt gemeint hat, ist Frankfurt allerdings niemals geworden. Dieses Argument übersieht die durch die atlantische Achsenverschiebung ausgelösten gravierenden geopolitischen Veränderungen in der frühen Neuzeit, in deren Folge Frankfurt aus der Position eines ehedem blühenden interregionalen Handelszentrums auf die eines »Zentrum[s] des Binnenhandels« 38 um 1800 zurückfiel. Dieser geopolitische Strukturwandel hatte auch Folgen für die Viadrina, die den Bedeutungsschwund der Stadt trotz einzelner herausragender Gelehrter wie Baumgarten oder Darjes intellektuell nicht zu kompensieren vermochte und daher ihre west-östliche europäische Brückenfunktion im Laufe des 18. Jahrhunderts einbüßte. Das Herkunftsund akademische Migrationsprofil der Professoren reduzierte sich zunehmend auf den mitteldeutschen Raum. Vor diesem Hintergrund der vor allem im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sich verstärkenden Provinzialisierung der Frankfurter Universität ist auch ihre Krise um 1800 zu sehen, die allerdings keineswegs gradlinig auf deren Auf lösung oder Verlegung nach Breslau hinauslief. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass es der Viadrina trotz vereinzelter Ansätze nicht gelungen ist, den Anschluss an jene drei Reformströmungen zu finden, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts an Einfluss gewannen und die die politisch-soziale Transformation von der altständischen zur neuständischen Gesellschaft reflektierten 39 – die Reform der Kameralwissenschaften aus dem Geist der Nationalökonomie, wie sie, abgesehen von Göttingen, an den Universitäten in Halle und Königsberg, aber auch in Breslau durch Christian Garve, der an der Viadrina studiert hatte, diskutiert und umgesetzt wurde;40 sodann die Reform der Rechtswissenschaften aus dem Geist des ›jüngeren‹ Naturrechts;41 und schließlich die Reform des akademischen Studiums und der Wissensordnungen aus dem Geist des Neuhumanismus, die der Philosophie die Funktion einer neuen Leitdisziplin zuwies.

37 Otto

Hintze: »Kalvinismus und Staatsräson in Brandenburg zu Beginn des 17. Jahrhunderts«, in: ders.: Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, hg. und eingeleitet von Gerhard Oestreich, Göttingen 1967 (zuerst 1931), 255 – 312, hier: 311. Zu Hintze s. jetzt Wolfgang Neugebauer: Otto Hintze. Denkräume und Sozial­ welten eines Historikers in der Globalisierung 1861 – 1940, Paderborn 2015. 38 Rolf Straubel: Frankfurt (Oder) und Potsdam am Ende des Alten Reiches. Studien zur städtischen Wirtschafts- und Sozialstruktur, Potsdam 1995, 45. 39 Siehe hierzu ausführlich Blänkner: »Die alte Viadrina«, 34 – 4 4. 40 Zur Reform der Kameralwissenschaften in Preußen ausgangs des 18. Jahrhunderts, insbesondere in Halle, s. Rüdiger: Staatslehre und Staatsbildung, 277 – 3 08; Blänkner: »Die alte Via­ drina«, 30 f. 41 Siehe hierzu wegweisend Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976; ders. (Hg.): Naturrecht im 19. Jahrhundert, Goldbach 1997.

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Der verpasste Anschluss an diese Reformbewegungen war der wissenschaftliche Hauptaspekt für die Krise, in welche die Viadrina um 1800 geriet. Gleichwohl war der Entschluss der preußischen Regierung, die Viadrina nicht zu einer neuständischen Universität zu reformieren und den Universitätsstandort Frankfurt zugunsten von Berlin und Breslau aufzugeben, weniger wissenschaftlich als vornehmlich politisch motiviert. Auslöser hierfür war die Neuordnung des Bildungs- und Universitätssystems nach dem Zusammenbruch des alten Preußen infolge der militärischen Niederlage gegen Napoleon im Jahre 1806. Auf diesen komplexen und spannungsreichen Vorgang der Neustrukturierung der preußischen Universitäts- und Bildungslandschaft, der einer Gesamtdarstellung noch immer harrt, ist an dieser Stelle nicht näher einzugehen. Der Hinweis muss genügen, dass in ihm wissenschaftliche, wissenschaftspolitische, politische und partiell individuelle Interessen, namentlich von Friedrich Schleiermacher und Theodor Schmalz, dem späteren ersten Rektor der Berliner Universität, zusammenflossen, um am Ende die Frankfurter Universität und das Breslauer Jesuitenkolleg durch Kabinettsorder vom 24. April 1811 zu einer Institution in Breslau zu vereinen, die nun auch offiziell den Namen Universitas Viadrina erhielt, den sie in Frankfurt nie besessen hatte. Die Kabinettsorder folgte damit einem vorausgegangenen Bericht, in dem es abschließend heißt: »Beyde Universitäten, Frankfurth und Breslau, vereinigt würden das erwünschte Ganze darstellen, das jetzt in keiner der beyden vorhanden ist.«42 3. Alexander Gottlieb Baumgarten Zum Zeitpunkt, als Baumgarten von Halle an die Viadrina nach Frankfurt/ Oder wechselte, hatte diese, wie dargelegt, ihren Zenit bereits überschritten. Sie stand im Schatten der Fridericiana, deren Glanz aus der Gründungszeit allerdings ebenfalls verblich und die unter Konkurrenzdruck der 1737 neu gegründeten, mit einem innovativen Lehr- und Forschungsprogramm rasch zur führenden Universität im Alten Reich aufsteigenden Georgia Augusta in Göttingen geriet. Über den intellektuellen Zustand der Frankfurter Universität zu dieser Zeit bestehen in der Baumgartenforschung diametral entgegengesetzte Auffassungen. Tatsächlich war sie weder »herunterkommen«43 oder gar »ihrem völligen Verfall nahe«,44 noch war sie, wie vormals, »eine Hochschule von wahrhaft europäischem 42 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem I HA Rep. 76 Va Sekt. 4 Tit. 4 Nr 2 Vol. II, zitiert nach Irina Modrow: »›Beyde Universitäten, Frankfurth und Breslau, vereinigt würden das erwünschte Ganze darstellen‹. Ende und Neuanfang der Viadrina«, in: Ortstermine, U57-U64, hier: U60. Zu den konkurrierenden Interessenlagen s. Blänkner: »Die alte Viadrina«, 20 – 34. 43 Niggli: Alexander Gottlieb Baumgarten, »Einleitung«, XXXV. 44 Rürup: Johann Jacob Moser, 66. S. ebenso Conrad Bornhak: »Johann Jakob Moser als Professor in Frankfurt a. O.«, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N. F., 11 (1898), 29 – 39, hier: 29 f.



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Rang«.45 Wohl aber bedurfte sie, neben einer strukturellen Reform, nach der Versetzung des Juristen Heineccius nach Halle (1733) und dem Tod zunächst des ebenfalls renommierten, noch jungen Juristen Christian Gottfried Hoffmann (1735) sowie des innovativen Kameralisten Dithmar (1737) vor allem einer personnellen Erneuerung.46 Mit der Organisation dieser Aufgabe wurde der bereits erwähnte Reichspublizist Johann Jakob Moser betraut, der 1736 das neu geschaffene Amt eines Direktors der Universität antrat, aber aufgrund unglücklicher Amtsführung bereits drei Jahre später die Viadrina wieder verlassen musste.47 Auf Widerstand der Frankfurter Professorenschaft stieß vor allem seine programmatische Antrittsrede,48 die immerhin einen Schub zu Neuberufungen nicht nur in der artistischen Fakultät auslöste. Hier war Baumgarten zunächst nicht die erste Wahl. Erst nachdem Christian Wolff den Ruf nach Frankfurt abgelehnt hatte,49 um nach Halle, an den Ort also, von dem er 1723 auf pietistischen Druck hin vertrieben worden war, zurückzukehren, kam Baumgarten ins Berufungsspiel. In Halle ließ man den Privatdozenten nicht zuletzt wegen seiner großen Lehrerfolge nur ungern ziehen, aber für den fünfundzwanzigjährigen Baumgarten war der Ruf auf eine Professur für ›Weltweisheit und schöne Wissenschaften‹ an der Viadrina der entscheidende Karriereschritt. Der Ruf an ihn erging noch von König Friedrich Wilhelm I. – dem ›Soldatenkönig‹ –, der Antritt seiner Professur im Jahre 1740 erfolgte bereits unter Friedrich II., später ›der Große‹ genannt, dem er in seiner Antrittsrede ein lateinisches ›heroisches Gedicht‹ widmete.50 In der Antrittsrede selbst – Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall auf Academien – zitiert Baumgarten aus seiner königlichen Bestallung, in der ihm »befohlen« worden sei, »nichts erwinden zu lassen, damit diese Universität in Flor und Aufnahme gebracht, und berühmt gemacht werden möge« 51 und formuliert hierin zugleich die hohen Maßstäbe, an denen seine zukünftige Lehre – und wohl auch die sei45 Groß: Cognitia Sensitiva, 108. Eine ähnliche, jedoch überzogen positive Beurteilung bei Günter Mühlpfordt: »Alexander Gottlieb Baumgarten und die Europawirkung der Frankfurter Auf klärer«, in: Krysztof Wojciechowski (Hg.): Die wissenschaftlichen Größen der Viadrina, Frankfurt/Oder 1991, 115 – 134. 46 Vgl. Hausen: Geschichte der Universität und Stadt Frankfurt an der Oder, 21. 47 Siehe hierzu Rürup: Johann Jacob Moser, 65 – 78; Bornhak: »Johann Jakob Moser«. 48 Johann Jacob Moser: Freie, aber wohlgemeinte und auf die Erfahrung gegründete Gedanken: Wie Universitäten, besonders in der Juridischen Fakultät, sowohl in einen guten Ruf und Aufnahme zu bringen und darin zu erhalten, als auch recht nützlich und brauchbar zu machen möchten?, Frankfurt/Oder 1736. Siehe hierzu ausführlich Rürup: Johann Jacob Moser, 68 – 77. 49 Siehe hierzu Andrea Lehmann: Können und Kennen. Reformen der Brandenburgisch-preußischen Berufungspolitik in der Frühen Neuzeit, Marburg 2014, 277 – 2 82. 50 In deutscher Übersetzung u. d. T: Allerunterthänigster Glückwunsch bey dem erfreulichen Antritt der erfreulichen Regierung des Allerdurchlauchtigsten und Grossmächtigsten Königs und Herrn, Friedrich, König von Preussen […], Berlin 1740. 51 Alexander Gottlieb Baumgarten: Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall auf Academien (2. Auf l. 1741), in: Aichele/Mirbach (Hgg.): Alexander Gottlieb Baumgarten, 283 – 304.

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ner neuen Professorenkollegen an der Viadrina – sich zu orientieren habe.52 Georg Friedrich Meier, Baumgartens Schüler und Freund in Halle sowie Popularisator seines Werks, schrieb in seinem biographischen Nachruf, der preußische König habe Baumgarten nach Frankfurt berufen, um der hiesigen Universität wieder aufzuhelfen »und ihr gleichsam eine neue Munterkeit ein[zu]flössen«.53 Im Rückblick auf seine von Krankheiten immer wieder unterbochene zweiundzwanzigjährige Lehrtätigkeit an der Viadrina bleibt zu resümieren, dass Baumgarten herausragenden Anteil an der Erneuerung der Frankfurter Universität hatte. Er selbst war hier, und durch die ausgebreitete überregionale Schülerzahl hinaus, eine »gefeierte Koryphäe«.54 In Erinnerung an seine Studienzeit in Halle schrieb der spätere lutherisch-­ orthodoxe Theologe Friedrich Eberhard Boysen (1720 – 1800) über Baumgarten: »So beredt, so hinreißend beredt war der Vortrag dieses unvergleichlichen Lehrers, der weit über Wolfen hervorragte, dass man alles ins Gedächtnis und in den Verstand faßte und fassen musste, wenn er auf dem Katheder redete.« 55

Und ähnlich berichtete 1799 rückblickend Friedrich Nicolai, dessen seit 1765 in Berlin erschienene Allgemeine Deutsche Bibliothek zu einem zentralen Integrationsmedium der deutschen Auf klärung wurde,56 über seine Eindrücke der Vorlesungen Baumgartens, die er während seiner Buchhändlerlehre in Frankfurt/Oder in den Jahren 1749 – 1751 und ohne Abitur nur vor »verschloßnen Türen« lauschend, vornehmlich durch Erzählungen von Studenten und Lektüre der Vorlesungsmitschriften erhielt: »Damals lehrte zu Frankfurt Alexander Gottlieb Baumgarten die Philosophie, und hieß ein weltberühmter Mann. Ich beneidete die Studenten welche das Glueck hatten ihn zu hoeren, und wenn ich konnte schlich ich mich vor die verschloßne Tuer um einige Worte aufzufangen, denn ich hatte etwas aus Gottscheds Anfangsgruenden der Weltweisheit noch in Berlin gelesen, und war dadurch aufmerksam geworden auf die spekulative Philosophie, zumal, da man damals alle Philosophie nach mathematischer Methode trieb. Baumgarten hatte einen deutlichen und angenehmen Vortrag. Ich habe nachher den Vortrag vieler Professoren gehoert, aber keinen gefunden, welcher Baumgarten an die Seite gesetzt werden […].« 57 52 Siehe hierzu ausführlich Groß: Cognitio Sensitiva, 117 – 131 und Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten, 30. 53 Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, beschrieben von Georg Friedrich Meier, Halle 1763, in: Aichele/Mirbach (Hgg.): Alexander Gottlieb Baumgarten, 353 – 373, hier: 359. 54 Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten, 30. 55 Friedrich Eberhard Boysen: Eigene Lebensbeschreibung, T. 1, Quedlingburg 1795, 148; vgl. Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten, 30, Anm. 45. 56 Ute Schneider: Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik, Wiesbaden 1995, 47 – 52. 57 Friedrich Nicolai: Ueber meine gelehrte Bildung, ueber meine Kenntnisse der kritischen Philosophie und meine Schriften dieselbe betreffend, und ueber die Herren Kant, J. B. Eberhard, und Fichte, Berlin/



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»Die Geschichte eines Gelehrten ist die Geschichte seiner Schriften und seiner Arbeiten.« 58 Wenige Gelehrte (nicht nur) des 18. Jahrhunderts werden in dieser Bemerkung von Thomas Abbt (1738 – 1766), Baumgartens Kollege und Freund und selbst einer der bedeutenden, aber nur kurzzeitig im Jahre 1760 an der Via­ drina lehrenden Professoren,59 treffender charakterisiert als Baumgarten, dessen überliefertes Bild nur in Konturen erkennbar ist. Über seine privaten und häuslichen Lebensumstände in Frankfurt/Oder geben die biographischen Würdigungen von Georg Friedrich Meier und Thomas Abbt einige Auskünfte.60 Doch schon der Wohnort an der Wirkungsstätte, wo Baumgarten seine Ästhe­t ik geschrieben und als Wissenschaft begründet hat, ist nicht zweifelsfrei geklärt.61 Über seine Einbindung in das akademische Leben an der Viadrina, deren Rektor er in den Jahren 1742 und 1753 war, und in die über die Universität hinausreichende Öffentlichkeit der aufgeklärten Gelehrtenrepublik, an der er mit seinen nur kurzzeitig erschienenen Philosophischen Brieffen von Aletheophilus (1741) partizipierte, gibt es nur spärliche Überlieferungen. Nicht einmal ein Porträt von ihm ist erhalten geblieben. So tritt Baumgartens Persönlichkeit hinter seinem Werk zurück. Von Meier, dem Popularisator seines Werks, und Abbt ging die zeitgenössische Rezeption seiner Schriften aus,62 die bislang vor allem mit Blick auf die großen Geister wie Herder, Kant oder Johann August Eberhard verfolgt wurde. Nicht weniger Aufmerksamkeit verdient jedoch der bisher kaum untersuchte Einfluss Baumgartens auf die Ebene unterhalb dieses intellektuellen Höhenkamms. Einen originellen Versuch, die »epistemische Konfiguration der Literatur um 1750« zu erhellen, hat Frauke Berndt anhand eines systematischen Vergleichs der anthropologisch begründeten Dichtungskonzepte Baumgartens und Friedrich Gottlieb Klopstocks unternommen.63 Beide werden hier in Hinsicht auf die theoretisch-ästhe­tische (Baumgarten) und die praktisch-poetische (Klopstock) Funktion der Literatur als symbolische Form der Welterschließung in Beziehung Stettin 1799, 26 f. S. hierzu und zur zeitgenössischen Aufnahme von Baumgartens Vorlesungen: Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten, 29 – 32 und Groß: Cognitio Sensitiva, 117 ff. 58 Thomas Abbt: Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens, Halle 1765, wieder in: ders.: Vermischte Werke, Bd. 2, Berlin/Stettin 1782 (Neudruck Hildesheim/New York 1978), 213 – 244, hier: 226. 59 Eine Würdigung von Abbts Wirken an der Viadrina steht bislang aus. Als biographische Skizze s. Hans Erich Bödeker: »Thomas Abbt: Patriot, Bürger und bürgerliches Bewußtsein«, in: Rudolf Vierhaus (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, 221 – 253. 60 Siehe auch die hierauf basierende biographische Skizze von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica/Meta­phy­sik, Hist.-krit. Ausgabe, übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlik und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, IX – XXX . 61 Siehe hierzu Ralf-Rüdiger Targiel: »Ordinarius mit 25 Jahren«, in: Märkische Oderzeitung vom 17. Juni 2014, 14. 62 Siehe hierzu, vor allem kritisch zu Meier: Groß: Cognitio Sensitiva, 131 – 158. 63 Frauke Berndt: Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin/ Boston 2011.

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gesetzt. Der Frage, in welcher realen Beziehung beide miteinander standen, geht Berndt nicht näher nach. Doch könnte die Konstituierung einer elliptischen Figuration mit ihren Brennpunkten durch Baumgarten und Klopstock gleichsam ein Anstoss sein, um das ästhe­t isch-literarische Feld in der Mitte des 18. Jahrhunderts näher zu vermessen und damit den Blick auf die Verbindungen Baumgartens zur aufgeklärten Anakreontik und Popularphilosophie zu öffnen.64 Theodor Verweyen und Gunther Witting sind dieser Spur detailliert anhand des Hallenser Anakreontikerkreises um Johann Peter Uz, Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Paul Jakob Rudnick nachgegangen.65 Doch ist diese geistig-literarische Strömung nicht auf den Hallenser Dichterkreis beschränkt. Ihr Kommunikations­ netz, zu dem auch Anna Louisa Karsch und Karl Wilhelm Ramler gehörten, reichte bis nach Frankfurt/Oder, wo einer ihrer prominensten Dichter, Ewald Christian von Kleist, seinen in der Schlacht bei Kunersdorf erlittenen Verwundungen 1759 erlag und auf dessen Grabhügel ihm zwanzig Jahre später ein patriotisches Denkmal errichtet wurde.66 Baumgarten, der die Wirren des Siebenjährigen Krieges in Frankfurt bei Verlust eines Großteils seines Vermögens überlebt und an Kleists Begräbnis teilgenommen haben dürfte, stand in Kontakt mit diesem Kreis, der eng verflochten war mit der Berliner Auf klärung um Friedrich Nicolai, Johann Georg Sulzer, Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing.67 Es wäre lohnend, diese kommunikativen Verbindungen deutlicher freizulegen. Dabei wäre nicht nur nach Baumgartens Einbindung in die preußisch-patriotische Vaterlandsdichtung zu fragen, an der Gleim, Abbt, Louisa Karsch und Kleist maßgeblichen Anteil hatten.68 Aus der Sicht einer regionalen Kulturgeschichte wäre darüber hinaus nach den Verbindungen zur Bukolik, Anakreontik und der Idee der Ästhetisierung der Landschaft zu fragen, die im märkischen Adel dieser Zeit, etwa beim Grafen Friedrich Ludwig Karl Finck von Finckenstein und seinen Musenhöfen in Madlitz und Ziebingen, auf denen im frühen 19. Jahrhundert u. a. Ludwig Tieck etliche Jahre verbrachte, unübersehbar sind.69 Schließlich wäre dem 64 Siehe hierzu Manfred Beetz/Hans-Joachim Kertscher (Hgg.): Anakreontische Aufkärung, Tübingen 2011; Doris Bachmann-Medick: Die ästhe­tische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhe­tik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1989. 65 Theodor Verweyen/Gunther Witting: »Zur Rezeption Baumgartens bei Uz, Gleim und Rudnick«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), 496 – 514. 66 Siehe hierzu Lothar Jordan (Hg.): Ewald von Kleist. Zum 250. Todestag, Würzburg 2010; Ingrid Patitz: Ewald von Kleists letzte Tage und sein Grabdenkmal in Frankfurt an der Oder, Frankfurter Buntbücher 11, Frankfurt/Oder 1994. 67 Vgl. hierzu Rainer Falk/Alexander Košenina (Hgg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung, Hannover 2008; Ursula Goldenbaum/Alexander Košenina (Hgg.): Berliner Aufklärung, Bd. 4, Hannover 2011; Stefanie Stockhorst/Knut Kiesant/Hans-Gert Roloff (Hgg.): Friedrich Nicolai (1733 – 1811), Berlin 2011. 68 Siehe hierzu Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000, 145 – 2 80. 69 Siehe hierzu Melanie Gräfin Finckenstein/Clemens Alexander Wimmer/Georg Graf Wallwitz: So ist die Anmut gestaltet. Graf Friedrich Ludwig Karl Finck von Finckenstein und sein Madlitz, Mitteilungen der Pückler Gesellschaft, N. F., Heft 13, Berlin 1998; Günter de Bruyn: Die Fin-



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Nachhall der Baumgarten’schen Philosophie an der Viadrina nachzugehen. Aus den Erinnerungen des späteren brandenburgischen Superintendenten Wilhelm Gabriel Wegener an seine Frankfurter Studienzeit Mitte der 1780er Jahre, in denen er auch Kontakt zu den zur gleichen Zeit hier studierenden Brüdern Humboldt hatte,70 ist bekannt, dass der seit 1774 an der Viadrina lehrende Philosoph und Theologe Gotthelf Samuel Steinbart (1738 – 1809), der in Halle bei Baumgartens Bruder Siegmund Jacob studiert hatte und später »zu den bedeutenden Sozialethikern des ausgehenden 18. Jahrhunderts [gehörte]«,71 seine Meta­phy­sik-Vorlesungen nach Baumgartens Kompendium las, »welches«, so Wegener, »ein Muster der Deutlichkeit ist«.72 Dieser Hinweis ist nicht zuletzt darum von Bedeutung, als noch zu Steinbarts Lehrzeiten mit Karl Wilhelm Ferdinand Solger ein junger Gelehrter mit der Absicht an die Viadrina kam, diese aus dem Geist einer neuhumanistisch begründeten, kritisch sich von Baumgarten abgrenzenden Ästhe­t ik zu erneuern, und sich hiermit rasch ein hohes Ansehen in der Spätphase der Frankfurter Viadrina erwarb.73 Kontinuitäten, Abbrüche und Neuansätze in der Ästhe­tik zwischen Baumgarten und dem spekulativen Idealismus, die in der speziellen Baumgartenforschung im Unterschied zur allgemeinen Ästhe­tikforschung 74 bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden haben, ließen sich so auch institutionengeschichtlich gleichsam vor Ort untersuchen. ckensteins. Eine Familie im Dienste Preußens, Berlin 1999, 60 – 103. Zur Landschaftsästhetik des 18. Jahr­hunderts vgl. Hans von Trotha: Angenehme Empfindungen. Medien einer populären Wirkungsästhetik im 18. Jahrhundert vom Landschaftsgarten bis zum Schauerroman, München 1999. Zu den Musenhöfen in der Mark Brandenburg um 1800 vgl. Reinhard Blänkner/Wolfgang de Bruyn (Hgg.): Salons und Musenhöfe. Neuständische Geselligkeit in Berlin und in der Mark Brandenburg um 1800, Hannover 2010. 70 Siehe hierzu Kurt-R. Biermann: »Die Gebrüder Humboldt an der Universität Frankfurt (Oder)«, in: Die Oder-Universität in Frankfurt, 267 – 273. 71 Modrow: Wonach in Frankfurt »jeder, der nur wollte, gute Studien machen konnte«, 61. 72 Peter Hermann: »Leben und Werk des brandenburgischen Superintendenten Wilhelm Gabriel Wegener (1767 – 1837) im Spiegel seiner Autobiographie«, in: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 7, Köln/Weimar/Wien 2008, 399 – 533, insbes. 446 – 4 60, Zitat: 449. 73 Siehe Hermann Fricke: K. W. F. Solger. Ein brandenburgisches Gelehrtenleben an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Berlin 1972; Anselm Haverkamp: »Solgers Ironie. Der idealische Jüngling und die Misere der Universitäten«, in: Blänkner (Hg.): Europäische Bildungsströme, 255 – 270; Blänkner: »Die alte Viadrina«, 32 – 34. 74 Zu Solgers Kritik an Baumgarten vgl. Friedhelm Decher: Die Ästhe­ tik K. W. F. Solgers, Heidelberg 1994, 57 – 70; Paul Schulte: Solgers Schönheitslehre im Zusammenhang des Deutschen Idealismus. Kant, Schiller, W. v. Humboldt, Schelling, Solger, Schleiermacher, Hegel, Kassel 2001, 143 – 192; Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhe­tik. Philosophie, Psychologie und ästhe­tische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung, Tübingen 2009, 94. Anne Baillot: Genèse et réception de la pensée esthétique de K. W. F. Solger entre 1800 et 1830, Paris 2013. Siehe auch Alessandro Costazza: »Die Vergöttlichung der ästhe­t ischen Erkenntnis: von Baumgarten bis zum Frühidealismus«, in: Albert Meier/Alessandro Costazza/Gérard Laudin (Hgg.): Kunstreligion. Ein ästhe­ tisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung, Bd. 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800, Berlin/New York 2011, 73 – 8 8.

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Im universitätsgeschichtlichen Rückblick markiert die Ästhe­tik, in ihren unterschiedlichen Begründungen bei Baumgarten und Solger, ein prominentes Feld der alten Viadrina im letzten halben Jahrhundert ihres Bestehens in Frankfurt/ Oder. Das neuerliche Interesse an der Ästhe­tik und der Rückgriff auf Baumgarten – sowie weiterführend auf Solger – ist dabei nicht nur von allgemeinem wissenschaftsgeschichtlichem Wert. Für die wiedergegründete neue Viadrina ist die Ästhe­tiktradition ein symbolisches Kapital.75 Als wissenschaftliche Weise der Welterschließung ist die Ästhe­t ik Kern der Kulturwissenschaften und zugleich ein Pharmakon, um dieser »neue Munterkeit einzuflössen« 76 bei der dauernden Aufgabe ihrer Vergewisserung und Erneuerung.

75 Siehe hierzu Anselm Haverkamp: »Wie die Morgenröte zwischen Tag und Nacht. Alexan­ der Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschafen in Frankfurt an der Oder«, in: DV js 76 (2002), 3 – 26 (redigierte Fassung in: Campe/Haverkamp/Menke: BaumgartenStudien, 15 – 47; ders.: »Solgers Ironie«. 76 Siehe Anm. 53.

A le.theophilus Baumgarten/ Wenn die M agd in den Brunnen fällt Von Dagmar Mirbach und Andrea Allerkamp Vorwort Im Jahre 1741 gab Baumgarten unter dem Pseudonym ›Aletheophilus‹ eine in Briefform gehaltene philosophische Wochenschrift heraus mit dem Titel: Philosophische Brieffe von Aletheophilus. Insgesamt wurden 26 Stück (eine unbetitelte Vorrede an den Leser, 33 Schreiben, ein ›Beschluß‹) an insgesamt 21 Orten (mit den Namen der Buchhändler aufgelistet am Schluss der Vorrede und am Schluss des 7. Schreibens) in Nord- und Mitteldeutschland ausgegeben. Die Philosophischen Brieffe erschienen bereits im gleichen Jahr 1741 gesammelt als Quartband in Frankfurt und Leipzig, der Druck umfasst insgesamt 108 Seiten (zuzüglich 6 unpaginierte Seiten Vorrede).1 Als eines der wenigen und als das umfangreichste Zeugnis Alexan­ der Gottlieb Baumgartens in deutscher Sprache 2 sind die Philosophischen Brieffe »kostbar«,3 und sowohl aufgrund ihres werkgeschichtlichen Stellenwerts als auch aufgrund ihrer engen Verzahnung von Erkenntnis- und Darstellungsform ein einzigartiges Dokument für die Baumgarten-Forschung. Dies ist Anlass genug für unseren Beitrag, der editionsphilologische und hermeneutische Aspekte gleichermaßen berücksichtigen will und damit einen doppelten Einstieg in die Lektüre der Philosophischen Brieffe ermöglichen soll. Der erste Teil von Dagmar Mirbach skizziert die wissensgeschichtlichen Zusammenhänge und deren editorische Voraussetzungen. Ein Überblick über die gesamte Korrespondenz zeigt Baumgartens (pseudonym getarnte) Selbstzuschreibung seiner eigenen Gottlieb Baumgarten: Philosophische Brieffe / von / Aletheophilus. / Frankfurth und Leipzig, / 1741. Online verfügbar in der digitalen Bibliothek der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle/Saale (2012): http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv: 3:1 – 335505. – Ein gedruckt nicht vorfindliches Stück der Philosophischen Brieffe hat Dieter Kliche als Abschrift aus dem Nachlass von Werner Krauss veröffentlicht: Dieter Kliche: »›Ich glaube selbst Engel können nicht ohne Sinnlichkeit sein‹. Über einen Fund aus der Frühgeschichte der Ästhe­t ik im Werner-Krauss-Archiv, in: Wolfgang Klein/Ernst Müller (Hgg.): Genuß und Egoismus. Zur Kritik ihrer geschichtlichen Verknüpfung, Berlin 2002, 54 – 65, vgl. Ernst Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004, 49, Anm. 145. 2 Neben den Philosophischen Brieffen sind deutsche Schriften von A. G. Baumgarten nur die Antrittsvorlesung in Frankfurt/Oder, Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall (vgl. Anm. 4), außerdem die Gedanken über die Reden Jesu und einige Briefautographen (vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Die Vorreden zur Meta­phy­sik, hg., übers. und kommentiert von Ursula Niggli, Frank­f urt a. M. 1998, 219). 3 So Hans Rudolf Schweizer in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhe­tik, Lat./Dt., übers. und hg. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983. In diese Textsammlung wurde der »Philosophische[n] Briefe zweites Schreiben« aufgenommen (ebd., 67 – 72). 1 Alexander

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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Dagmar Mirbach und Andrea Allerkamp

Verortung innerhalb des akademischen und popularwissenschaftlichen Feldes. Drei Aspekte stehen zur Debatte: 1) Die Konturierung der Stellung Baumgartens zu Leibniz und zum ›Wolffianismus‹ und die weitere Erhellung seiner Position hinsichtlich der in den in den Brieffen abgehandelten metaphysischen, erkenntnistheo­ retischen, gesellschaftspolitischen und religionskritischen Fragestellungen, 2) die Dokumentation von Baumgartens auf dem Grundgedanken seiner Ästhe­t ik beruhenden, in seiner Antrittsvorlesung an der Viadrina in Frankfurt/Oder 17404 formulierten und im Unternehmen der Wochenschrift tatsächlich umgesetzten Forderung, dass philosophische Inhalte auch ästhe­t isch, in einem ›lebhaftem Vortrag‹, der »das wissenschaftlich Erkannte dem Fassungsvermögen jedes beliebigen Menschen anpaßt«,5 vermittelbar sein sollen, und 3) die Darlegung der mit der Forderung nach Lebhaftigkeit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden, ganz offensichtlichen persönlichen Intention Baumgartens, nicht nur als akademischer Gelehrter, sondern ergänzend dazu auch als popularwissenschaftlicher Schriftsteller im Kontext des Literatur- und Bildungswesens seiner Zeit wirksam zu sein. Der zweite Teil von Andrea Allerkamp konzentriert sich in Anlehnung an Hans Blumenbergs Metaphorologie auf drei besondere, aufeinander folgende Briefe, in denen die Wahrheits-Metapher des Brunnens verhandelt wird. Deutlich wird die Wechselwirkung von Erkenntnisform und Darstellungsmodus, die für Baumgarten so zentral ist. Die Gattung des Briefes entpuppt sich als Chance für die ästhe­t ische Vermittlung zwischen Literatur und Philosophie. Das Potential einzelner Figuren und Metaphern – wie etwa Liebe, Jagd, Landschaft, Brunnen, Quelle, Narziss – bietet dafür ein reichhaltiges Experimentierfeld. Denn die wechselseitige Erhellung von Erkenntnis und Darstellung stellt hohe Anforderungen, ruft nach einer sowohl epistemologischen als auch poetologischen Umsetzung der Theorie in die Praxis. Die Form des Briefes erweist sich letztendlich als idealtypisch für die Zwitterstellung der Ästhe­t ik, die ihren Gegenstand zur Verhandlung stellt, indem sie (philo­ sophisch) über ihn spricht und ihn zugleich (literarisch) in Szene setzt. Vertieft wird diese doppelte Positionierung in dreierlei Hinsicht: 1) Das filigrane Gerüst der Brief-Adressierungen zeigt, dass ›Theorie‹ ein rezeptionsästhe­t isches Phänomen ist, 2) die märchenhaften Elemente der Brunnen-Fabel ermöglichen einen subtilen Umgang mit einer für die Ästhe­t ik voraussetzungsreichen Quellenlage, 3) das Ende der drei Briefe diskutiert die Praxis von Geschmack und ästhe­tischer Urteilskraft und damit die theoretische Kernfrage der ästhe­t ischen Erkenntnis. [Alexander Gottlieb Baumgarten:] Alexander Gottlieb Baumgartens, Ordentl. Lehrers der Philo­ sophie zu Frankfurth, Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall auf Academien, Wonebst er zu Antritts-Rede und ersten Franckfurthischen Lese-Stunden eingeladen. Zweyte vermehrte Auf l., Halle im Magdeburgischen, In Verlegung Carl Hermann Hemmerde, 1741. Es wird hier folgende Publikation der Antrittsrede zugrunde gelegt: Hg., eingeleitet und mit Anm. versehen von Alexander Aichele, in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Auf klärung, 20), hg. von Alexander Aichele und Dagmar Mirbach, Hamburg 2008, 271 – 304. 5 Aesth. § 3. Hier und im Folgenden zugrunde gelegt: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­ tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anm. und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg: Meiner 2007. 4



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A le.theophilus Baumgarten 6 (Dagmar Mirbach) 1. Die philosophischen Themen der Briefe Baumgartens Philosophische Brieffe lesen sich wie ein kunstvolles kaleidoskopisches Rundpanorama – im Zentrum ein hinter dem Pseudonym mehr oder weniger wohlverborgener, gleichsam schalkhaft Versteck spielender, knapp 27-jähriger Alexander Gottlieb Baumgarten zum Zeitpunkt seines Neubeginns an der Viadrina in Frankfurt/Oder: In der wissenschaftlichen Welt der Zeit durch seine Metaphysica ( EA 1739) bereits namhaft, wenn nicht berühmt, Autor auch der Ethica philosophica ( EA 1740), geschätzter und beliebter Dozent, der erstmals auch über die neue Disziplin der ›Ästhe­t ik‹ lehrt, im privaten Leben jung verheiratet. Im Panorama – bunt aneinanderschließend, lebhaft und doch einer unsichtbaren Ordnung folgend – Streiflichter aus der Tiefe seines philosophischen, intellektuellen und persönlichen Universums. Es sollen hier nur stichwortartig einige wenige der sichtbaren Szenen dieses Panoramas festgehalten werden. Das 1. Schreiben der Philosophischen Brieffe enthält – dezidiert an den Anfang gesetzt – das Bekenntnis des Herausgebers zum ›Wolffianismus‹. Ausführlich berichtet Aletheophilus von seiner ersten Bekanntschaft mit sogenannten ›Wolffiananern‹ oder ›Leibnizens Anhängern‹, die unter dem Ruf standen, »deutsche Spinos[sic!]is­ ten« zu sein,7 und von seinem ausführlichen Studium von Leibniz, Wolff – »nach seiner eigenen Anleitung« 8 – Reusch und Bilfinger.9 Abschließend erklärt Aletheophilus, dass, wenn man unter einem ›Wolffianer‹ jemanden verstehen wolle, der »bey Herr Wolffen mehr Wahrheit, Deutlichkeit, Grund und Brauchbarkeit« als bei anderen neueren Philosophen findet und daher mehr aus »seinem Systema« als aus anderen Gebrauch machen würde,10 er sich gern einen solchen nennen lassen würde. Die grundsätzliche Stellungnahme des Verfassers für Leibniz wie auch für Wolff, sein Resumeé des Hallenser Kampfes gegen Wolff und des Siegeszugs folgenden Ausführungen liegen meine frühen Recherchen zu den Philosophischen Brieffen seit 2005 zugrunde. Sie können nicht als abgeschlossen gelten, auch mögen in der Baumgarten-Forschung unterdessen Erkenntnisse zu den Brieffen hinzugekommen sein, die hier nicht berücksichtigt sind. Eine historisch-kritische, kommentierte Ausgabe der Brieffe, die sich der Aufgabe der umfangreichen und diffizilen genaueren Nachforschung ihrer unzähligen direkten und indirekten Verweise und Anspielungen annehmen würde, steht nach wie vor aus.  7 Philos. Brieffe, 1.  8 Ebd., 3.  9 Zu Baumgartens Studium von Wolff sowie den ›Wolffianern‹ Bilfinger, Reusch vgl. die wegweisende und immer noch einschlägige Monographie von Mario Casula: La metafisica di A. G. Baumgarten, Milano 1973. Vgl. auch unten, bei Anm. 30. 10 Philos. Brieffe, 4.  6 Den

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seiner Philosophie, die Karikierung der philosophischen Unwissenheit von deren Gegnern ist im 1. Schreiben der Philosophischen Brieffe zentral platziert. Die Diskussion und Erläuterung einiger wichtiger Grundthesen aus der Leibniz’schen und Wolff ’schen Meta­phy­sik und Erkenntnistheorie bildet einen ›roten Faden‹ durch die ganze Wochenschrift. Im 9. Schreiben behandelt Aletheophilus den Satz vom zureichenden Grund und das principium identitatis indiscernibilium, im 23. Schreiben die Frage der Abhängigkeit aller Dinge von Gott (bezüglich Vernunft- und Tatsachenwahrheiten), im 25. Schreiben das Thema des allgemeinen connexus, im 26. Schreiben die Frage, ob den Tieren ein Verstand zuzusprechen ist und im 26. Schreiben schließlich das Problem der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Zahlreiche, stets nachgewiesene Zitate (vornehmlich aus den Acta eruditorum) zeigen insbesondere die tiefe und umfangreiche Leibniz-Kenntnis des Verfassers. Zur Auseinandersetzung mit Wolff sind u. a. das 8. und 22. Schreiben zum Verfahren der ›philosophischen Analyse‹ zu zählen, ebenso das vorgeblich von einem Herrn namens ›Paragrapharius de Monstro‹ eingegangene 16. Schreiben mit einer (selbst-)ironischen Darstellung der mathematisch-geometrischen Methode. Besonders erwähnenswert ist auch das 3. Schreiben der Philosophischen Brieffe. Hier erläutert Aletheophilus in einer Gegenüberstellung von Pflichten im Glauben und in der Erkenntnis die acht Vollkommenheiten der Philosophie als der Wissenschaft »von denen Beschaffenheiten derer Dinge […], die ohne Glauben erkannt werden können«.11 Diese Vollkommenheiten bestehen: »I.) In ihrer Weite, daß sie sehr viele Beschaffenheiten vieler Dinge bestimme. II.) In ihrem Adel, daß sie sich mit denen wichtigsten und ansehnligsten Vorwürffen beschäfftige. III.) In ihrer Richtigkeit, daß sie von Irrthümern, groben und betrügligen Begriffen, Vor- und unbestimmten Urtheilen, unrichtigen und Schein-Beweisen so rein, als möglig sey. IIII.) In ihrer Klarheit, die sich in der Lebhafftigkeit ihrer einfachen, in der Deutligkeit, Vollständigkeit und Tiefe ihrer zusammen gesetzten Vorstellungen äußere. V.) In der Gewißheit, ausführligen und vollständigen Uberzeugung der Wahrheit, die sie gewehre. VI.) In dem Leben ihrer Erkenntniß, nach welchem sie dem Willen hinlängliche Bewegungs-Gründe vorlege zu thun, was gut, zu laßen, was böse ist. VII.) In der Menge ihrer Erkenntniß-Gründe. VIII.) In der Unumstoßligkeit derselben.«12

Die ersten sechs der genannten Vollkommenheiten entsprechen genau den Kriterien der Erkenntnis, die Baumgarten bereits in der Empirischen Psychologie seiner Metaphysica aufgestellt hatte und die später als Kriterien der Vollkommenheit der 11 Ebd., 12 Ebd.,

11. 12.



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sinnlichen Erkenntnis die Gliederung der Aesthetica (1750/1758) bestimmen werden: ubertas (Reichtum), magnitudo (Größe), veritas (Wahrheit), claritas (Klarheit), certitudo (Gewissheit) resp. persuasio (›Überredung‹ i. S. v. sinnlicher Überzeugung) und vita (Leben, Lebendigkeit). Die auf die zitierte Auf listung folgende Bemerkung, dass es letztlich »G ot t […] wohl allein seyn und bleiben [wird], der die meisten, nemlich alle, [f ] olg­lich auch die vortreffligsten Beschaffenheiten derer Dinge, die er [n]iemand [zu] glauben nöthig hat, auf das unfehlbarste, in gröster Deutligkeit und Gewißheit, aufs lebendigste, aus allen nur mögligen, folglich auch denen [a]ngezweiffeltesten Gründen einsiehet«,13

dass der Mensch aber, solange er sich nicht in Hybris über die grundsätzliche Eingeschränktheit seiner Erkenntnisvermögen hinwegzusetzen sucht, in der Philosophie nie zu weit gehen kann, schließt den Brief ab. Es gibt sicherlich kein weiteres Zeugnis, in dem Baumgarten – hier als Aletheophilus – mit solcher Verve und so dezidiert seine erkenntnistheoretische Überzeugung vertritt, die sein gesamtes philosophisches Schaffen motiviert und die – nach ersten grundsätzlichen Aus­sagen bereits in den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus ( EA 1735) –, von der Gliederung bis in die einzelne Argumentationsstruktur, von seiner Metaphysica bis zur Aesthetica dokumentiert ist. Neben metaphysischen, erkenntnistheoretischen und methodischen Fragen werden in den Philosophischen Brieffen auch gesellschaftspolitische und religionskritische Themen aufgegriffen. Aletheophilus zeigt sich – als Untertan und ›Wolffia­ner‹ – augenscheinlich als Verehrer Friedrichs II., indem er im 12. Brief einen Auszug einer deutschen Übersetzung des Antimachiavell (im 33. Schreiben ergänzt durch eine Auf listung sämtlicher Ausgaben und Übersetzungen des Werks) beilegt. Ein Brief mit gesellschafts- und religionspolitischem Inhalt ist das 28. Schreiben mit einer Verteidigung der Herrnhuter gegen den Vorwurf der religiösen Schwärmerei. Mystiker, die Aletheophilus tatsächlich für religiöse Schwärmer hält – Christoph Kotter, Nikolaus Drabiz, Christine Poniatovsky – werden im 15. Schreiben abgehandelt, mit einer ironischen Darstellung des wirtschaftlichen Erfolgs der Bücher ihrer Prophezeiungen. Natürlich sind Baumgarten-Forschung philosophische Voraussetzungen und ›Gewährsmänner‹ im Großen und Ganzen bekannt, ebenso die Ziele und der Umfang seines Erkenntnisinteresses. Entscheidend ist aber, dass er sich in den Philosophischen Brieffen, unter dem Pseudonym ›Aletheophilus‹ sowie in Form (wohl zumindest zu einem Teil) fingierter eingegangener Schreiben an den Herausgeber, noch offener, freier – und aus der durch diese Fiktion gewonnenen Distanz auch in einer anderen Art der Reflexion – als etwa in den ›Vorreden‹ seiner streng wissenschaftlichen Werke explizit dazu äußert. Ebenso wichtig ist, dass er es in deutscher Sprache tun und dabei sämtliche Stilmittel – von der Briefform bis zur Iro13 Ebd.

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nie – einsetzen kann. Insofern stellen die Philosophischen Brieffe einen ›anderen‹ als den sonst ›bekannten‹ Baumgarten vor, der den Baumgarten der systematischen, lateinischen Werke jedoch notwendig ergänzt. 2. Der ästhe­tische Aspekt der Briefe: Die Verbindung von ›Wahrheitstreue‹ und ›lebhaftem Vortrag‹ In seiner Antrittsvorlesung in Frankfurt/Oder von 174014 fordert Baumgarten von einem akademischen Vortrag 1) die Wahrheitstreue (§ 5),15 die bindende Verpflichtung gegenüber den Grundlagen der rationalen philosophischen Meta­phy­sik und Logik, und 2) die Klarheit: Ein Vortrag muss nicht nur deutlich und verständlich, sondern auch lebhaft sein (§ 6).16 Ziel der Ästhe­t ik Baumgartens ist die Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis als eigenes, den rationalen Fähigkeiten notwendig an die Seite zu stellendes Vermögen, deren Vollkommenheit eben in der ihr zugesprochenen vita (ihrem Leben, ihrer Lebhaftigkeit) gipfelt. Nur im Zusammenwirken von Verstandeserkenntnis und sinnlicher Erkenntnis ist dem Menschen ein zwar eingeschränkt bleibender, aber bestmöglicher Blick auf die metaphysische Wahrheit möglich.17 Die Erfüllung beider in der Antrittsvorlesung aufgestellten Forderungen, die der Wahrheitstreue – die sich auch in dem Pseudonym ›Aletheophilus‹ verbirgt18 – und die der Verständlichkeit und Lebhaftigkeit des Vortrags, sowie das Zusammenwirken beider Erkenntnisvermögen, des sinnlichen wie des rationalen, wird in Baumgartens Projekt der Philosophischen Brieffe vorbildlich verwirklicht. Die explizit genannten philosophischen Inhalte der Wochenschrift wurden bereits kurz umrissen. Zur ästhe­t ischen Darreichungsform der Briefe seien nun einige wenige Punkte angeführt. Baumgarten hält sich mit der Form seiner Philosophischen Brieffe genau an Vorbil­ der der englischen und deutschen moralischen Wochenschriften des vorangegangenen 18.  Jahrhunderts.19 Der Herausgeber publiziert unter einem Pseudonym, erzählt einen eigenen (fiktiven) Lebenslauf, von weiten Reisen und zahlreichen Bekanntschaften, er erhält (vermutlich meist) scheinbar Schreiben von Lesern, auf deren Fragen er Antwort geben muss. Im 20. Schreiben werden Addisons Spectator Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall, s. Anm. 4. Gedancken vom vernünfftigen Beyfall, 290 f. 16 Vgl. ebd., 291 – 293. 17 Vgl. Dagmar Mirbach: »Einführung«, in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­t ik, Bd. 1, XV– LXXX , hier v. a. XLIV– LII. 18 Man lese hier: ›Alethe-[o]-philus‹, enthaltend griech. ἀλήϑεια : ›Freund der Wahrheit‹. Zum weiteren Bedeutungsspektrum von ›Aletheophilus‹ vgl. diesen Beitrag weiter unten. 19 Vgl. als neuere online-Publikation zum Thema mit umfangreichen bibliographischen Angaben zu Quellen und Forschungsliteratur: Klaus-Dieter Ertler: »Moralische Wochenschriften«, http://ieg-ego.eu/de/threads/modelle-und-stereotypen/anglophilie/klaus-dieter-ertler-mora lische-wochenschriften (download 28.09.15). 14

15 Vgl.



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(1711 – 1714) und Gottscheds Vernünfftige Tadlerinnen (1725 –17 27) explizit genannt. In der Herausgabe einer philosophischen Wochenschrift als »Brief-Wechsel eines gantzen Volks munterer Köpfe«, in der sich »die schönsten Sachen von der Welt mit der angenehmsten Art abhandeln« lassen,20 findet Baumgarten zwar kein neues, aber doch ein probates und vielversprechendes Mittel zur Verbreitung philosophischer Erkenntnis auch in der nicht akademisch gebildeten – und weiblichen – Gesellschaft. In diesem Zusammenhang sind das 20. und 21. Schreiben besonders aufschlussreich, in denen Aletheophilus im Austausch mit einer seiner begeisterten ›Leserinnen‹ das Unternehmen seiner Philosophischen Brieffe diskutiert. In ›Charlotte Juliane von Lichtfeld‹, Vertreterin des schönen Geschlechts, gebildet, doch als ›Frauenzimmer‹ eher mit einem stärkeren sinnlichen, als mit einem rationalen Erkenntnisvermögen begabt, findet Aletheophilus, den sich von Lichtfeld als ›finsteren‹, ›tiefsinnigen‹ und ›faltenreichen‹ Meta­phy­siker vorstellt, von dem nun auch bekannt wird, dass er in ›Finsterwalde‹ lebt, sein genaues Pendant – in den Briefen unterstrichen durch die ›Entdeckung‹ eines engen, ›geschwisterlichen‹ Verwandtschaftsverhältnisses.21 Auf den u. a. von Charlotte Juliane von Lichtfeld geäußerten Vorwurf, er schreibe zu dunkel, reagiert Aletheophilus unverzüglich, indem er fortan Schreiben mit streng philosophischer Thematik und Briefe (vermeintlich) leichteren, ›verständlicheren‹ Inhalts abwechselt. Im 10., 13. und 14. Schreiben erzählt er die Fabel vom Brunnen der Wahrheit,22 im 30. Brief werden von einem sogenannten ›Musophilus‹ 23 eingeschickte Hochzeitsgedichte wiedergegeben – die formal an den Briefwechsel zwischen Aletheophilus und von Lichtfeld anknüpfen und inhaltlich wiederum die notwendige Verbindung von rationaler und sinnlicher Erkenntnis thematisieren –, und im 31. Brief erfolgt sogar eine Verteidigung der Gewohnheit des ›Gesundheit-Trinkens‹. Wo immer möglich, werden anschauliche Beispiele, Erzählungen, fiktive, namentlich genannte Personen, Verse aus der alten und neuen Dichtung (mit Übersetzung) und Zitate eingeflochten. Auch damit entspricht die Schreibart der Philo­ sophischen Brieffe ganz der in der Antrittsvorlesung gestellten Forderung nach Lebhaftigkeit. 20 Philos.

Brieffe, 55. auch das von Baumgarten in der Vorrede zur 1. Auf lage der Metaphysica gebrauchte Bild, dass aus einem ›dürren‹, aber festgefügten ›Gerippe‹ der systematisch abgehandelten Meta­ phy­sik durch die mitwirkende Vorstellung des Lesers schließlich eine lebendige, schöne Frau – vielleicht ein Anklang an Boethius, Consolatio philosophiae – ensteht (Baumgarten: Die Vorreden zur Meta­phy­sik, 5). 22 Vgl. dazu die folgenden Ausführungen von Andrea Allerkamp. 23 ›Musophilus‹ ist eines der Pseudonyme von Johann Georg Gressel (auch: ›Philomuso‹ und ›Celander‹, 1675 – 1771, Leibarzt von August dem Starken und Karl XII. von Schweden). Seine Verliebte-Galante / Sinn-Vermischte und Grabgedichte waren in Hamburg und Leipzig 1716 erschienen, sein Musophili Vergnügter Poetischer Zeitvertreib, Bestehend aus Satyrisch- Glückwünschungs­G alant- Sinn- Vermischt- und Geistlichen Gedichten, Nebst einer kurzten doch deutlichen Unterweisung zur reinen Poesie in Dresden und Leipzig 1717 (vgl. Georg Wittkowski: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig [1909], München 1994, 294 f.). 21 Vgl.

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Die Ästhe­t ik als wissenschaftliche Disziplin und Teil der organischen Philosophie wird bereits im 2. Schreiben der Brieffe thematisiert. Spezifischer poetologischen Inhalts ist dann das 11. Schreiben mit dem Titel »Was ein Gedicht sey«. Im Zusammenhang mit Baumgartens Aesthetica, insbesondere für den Abschnitt über den impetus aestheticus (die ›ästhe­t ische Begeisterung‹)24 ist von besonderer Bedeutung weiterhin das 29. Schreiben, das sich mit dem Begriff des πάϑος innerhalb der stoischen Philosophie beschäftigt. Die Philosophischen Brieffe sind somit auch in spezifisch ästhe­t ischer Hinsicht ein einzigartiges Dokument, weil Baumgarten in ihnen, inhaltlich und formal, mit den dem Genre der Wochenschrift zur Verfügung stehenden literarischen Mitteln, den Grundgedanken seiner Erkenntnistheorie und Ästhe­tik praktisch umsetzt. Die Bedeutung der Briefe im Zusammenhang von Baumgartens Werk kann damit – wozu dieser Beitrag nicht zuletzt einen Anstoß geben soll – erst in einer zugleich philosophisch und literaturwissenschaftlich orientierten Untersuchung erschlossen werden. 3. Ale.Theophilus Baumgarten als popularwissenschaftlicher Schriftsteller und seine mögliche Beziehung zur Gesellschaft der Alethophilen Zwar veröffentlicht Baumgarten seine Philosophischen Brieffe als ›Aletheophilus‹, der sich wiederum scheinbar alle Mühe gibt, seine wahre Identität zu verbergen, doch es gehört zum ›Spiel‹ mit den Mitteln der Wochenschrift, dass der aufmerksame Leser – wie ›Curiosus Heurika‹ (sic!), ›Verfasser‹ des 6. Schreibens – anhand zahlreicher versteckter Hinweise erkennen kann, um wen es sich bei dem Verfasser der Texte wirklich handelt. Baumgarten legt es geradezu darauf an, als eigentlicher Autor der Briefe erkannt zu werden. Seine Forderung, die ›Wahrheitstreue‹ und den ›lebhaften Vortrag‹, rationale und sinnliche Erkenntnis – und deren Darstellung – miteinander zu verknüpfen, soll erkennbar auch in eigener ›Personalunion‹ erfüllt werden. Es ist insbesondere aus den Nekrologen 25 bekannt, dass Baumgarten in der akademischen Lehre ein sehr lebhafter, sogar unterhaltsamer Vortragender war. Doch nur – abgesehen von der von Bernhard Poppe edierten anonymen Vorlesungsnachschrift, bei der es nicht ganz sicher sein kann, ob sie aus Baumgartens persönlichem Unterricht hervorgegangen ist 26 – in der erhaltenen Antritts­-

24 Vgl.

Baumgarten: Ästhe­t ik, Bd. 2, Anm. zu § 78, 947 f. Vgl. Thomas Abbt: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben und Character, 1763, mit Änderungen durch den Verfasser in: ders.: Vermischte Schriften, Halle 1771 – 8 0, Bd. 4, 215 – 244; Johann Christian Förster: Charaktere dreyer berühmter Weltweiser der neueren Zeit, nämlich Leibnitzens, Wolffs und Baumgartens, 2. Auf l. Halle 1765; Georg Friedrich Meier: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben und Schriften, Halle 1763, neu hg. von Dagmar Mirbach in: Aichele/Mirbach (Hgg.): Alexan­der Gottlieb Baumgarten, 351 – 373. 26 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik« (vgl. Literaturnachweis in diesem Band). 25



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vor­lesung an der Viadrina von 1740 27 und eben sehr viel umfangreicher und vielschichtiger in den Philosophischen Brieffen liegt ein authentisches Zeugnis vor, wie sich Baumgarten über die Inhalte und Ziele seines Philosophierens in deutscher Sprache geäußert hat. Auch eingedenk der bestehenden Differenz zwischen mündlichem Vortrag und schriftlich oder literarisch umgesetzter Rede sind diese Zeugnisse als Ergänzung zu seinen lateinischen Schriften für ein umfassenderes, vollständigeres ›Bild‹ von Baumgarten in der Forschung unentbehrlich. Für Baumgarten selbst war es – vielleicht auch aus einem ganz persönlichen Motiv, da er gerade geheiratet hatte – offenbar von Bedeutung, sich neben – bzw. zugleich mit – seiner Rolle als streng systematisch vorgehender Gelehrter an der Viadrina außerdem als Schriftsteller zu betätigen, als der er seine philosophischen Einsichten in einer ›populären‹, allgemeinverständlichen Weise auch nichtakademischen Gesellschaftsschichten vermitteln konnte. Von den Hinweisen, die er seinem Publikum selbst gibt, dass es sich bei Aletheophilus, dem Herausgeber der Wochenschrift, um niemand anderen handeln kann als um den u. a. schon durch seine Metaphysica und Ethica philosophica bekannten Philosophieprofessor Alexander Gotlieb Baumgarten an der Viadrina, sollen hier nur die auffälligsten genannt werden. Zunächst zum Pseudonym ›Aletheophilus‹. Ausmachen lassen sich zumindest drei Lesarten und Bedeutungen: 1) ›Aletheophilus‹ kann zunächst als ›Alethe-[o]philus‹ (unter Aussparung des »o«) auf Griechisch ἀλήϑεια und ϕίλος (latinisiert: philus) zurückgeführt und als ›Wahrheits-Freund‹ gelesen werden (dies wird bestätigt in der Zueignung an den Leser und im 20. Schreiben der Brieffe).28 2) Gelesen als ›Ale-theophilus‹ ist ›[T]eophilus‹ allein die latinisierte griechische Bezeichnung für einen ›Freund Gottes‹, oder ›Gottesfreund‹. Es ist klar, dass Baumgarten bewusst mit beiden Lesarten spielt. Am spannendsten – und ausgeklügeltsten – ist jedoch eine weitere Lesart: 3) Liest man ›Ale-theophilus‹ (oder ›Ale.Theophilus‹), so enthält das Pseudonym sowohl abgekürzt den ersten Vornamen ›Alexander‹ als auch, in der latinisierten Form der griechischen Bedeutung ›Freund Gottes‹ (im Gen. subj. und obj.), den zweiten Vornamen ›Gottlieb‹ des eigentlichen Autors der Philosophischen Brieffe: Alexander Gottlieb – Baumgarten. Weiterhin gibt es inhaltliche Anspielungen auf Baumgarten durch Aletheophilus: Anzuführen ist hier zuerst die Nennung der Schriften Bilfingers und Reuschs im 1. Schreiben, anhand derer Aletheophilus zuerst die Leibniz-Wolff’sche Philosophie studiert haben will. Der Hinweis bezieht sich auf die »Vorrede« zur ersten Auf lage der Metaphysica von 1739, in der Baumgarten explizit angibt, auf 27 Gedancken

vom vernünfftigen Beyfall, s. Anm. 4. der Zueignung berichtet Aletheophilus von der 5000 Jahre alten Geschichte seiner Vorfahren und führt dort u. a. aus: »Schon vor Deukaleon ist unser Hauß unter dem Nahmen Bne Haemeth bekannt gewesen«, Philos. Brieffe, [I] (Hervorhebung im Orig.), wobei der Name ›Bne Haemeth‹ nichts anderes ist als die Transkription der hebräischen Constructus-Verbindung mit der Bedeutung ›Sohn der Wahrheit‹ (und sich vom latinisierten philus eine phonetische Verbindung zu lat. filius [Sohn] herstellen lässt). – Im 20. Schreiben heißt es in den Worten Charlotte Juliane von Lichtfelds: »[…] die Ausbreitung der Warheit, derer Freund Ihr seyd«, ebd. 55. 28 In

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welche Quelle sich seine Erkenntnisse berufen: Sie waren maßgeblich durch »hochberühmt[e] Reformatoren hierzulande« befördert worden, »[nämlich] durch das von Leibniz, Wolff, Bilfinger und Reusch«.29 Ebenfalls in dieser »Vorrede« zur Metaphysica findet sich die – wenngleich möglicherweise auch allgemeiner verbreitete – Metapher vom Quell oder Brunnen der Wahrheit,30 die Aletheophilus im 10., 13. und 14. Brief zu einer ganzen Fabelerzählung ausweitet. Im 2. Schreiben gibt Aletheophilus den ›Schattenriß‹ der organischen Philosophie, eingeschlossen die Wissenschaft der Ästhe­tik, wieder, die ihm ein guter Bekannter zugesandt hätte. Bereits Hans Rudolf Schweizer stellte in seiner Edition dieses Schreiben fest, dass »[d]ieser ›Schattenriß‹ […] mit einem Entwurf Baumgartens identisch« ist, »der die Stellung der Ästhe­t ik innerhalb des Systems der philosophischen Wissenschaften bestimmt« und als solcher erst postum »von J. Chr. Förster 1769 aus dem Nachlaß Baumgartens herausgegeben worden ist«:31 Mit der Sciagraphia encyclopaediae philosophicae. Zwar sind zwei postum edierte Entwürfe Baumgartens zum System der Philosophie aus dem Nachlass erhalten – neben der Sciagraphia auch die ebenfalls von Förster 1770 herausgegebene Philosophia generalis – doch ohne die Frage klären zu müssen, ob sich Aletheophilus – was die Bezeichnung ›Schattenriß‹ allerdings mehr als nahelegt – hier auf einen Entwurf der Sciagraphia oder der Philosophia generalis bezieht, so geht doch aus den Zeugnissen Försters und Pütters hervor,32 dass zumindest einer oder beide dieser Entwürfe Baumgarten bei seinen Vorlesungen schon vor 1741 vorgelegen haben. Wenn Aletheophilus daher im 2. Schreiben die »vermuthlich nachgeschriebene[n] Blätter«33 zum ›Schattenriß‹ der organischen Philosophie mit ausführlicher Berücksichtigung der Ästhe­t ik wiedergibt, kann zumindest für Baumgartens akademische Kollegen und Zuhörer kaum ein Zweifel bestehen, wem dieser ›Schattenriß‹ zuzuschreiben sein muss. Im 21. Schreiben stellt Aletheophilus fest, dass es sich bei dem jungen Gelehrten, mit dem Charlotte Juliane von Lichtfeld befreundet – möglicherweise verlobt – ist (20. Schreiben), um seinen jüngeren Bruder handelt. In einem Postscriptum benennt er den Bruder namentlich als Theodor und fügt hinzu, dass er ihm, Aletheophilus, zum Verwechseln ähnlich sehe. Ursula Niggli meint dazu: »Ein Bruder [Baumgartens] dieses Namens ist nicht bekannt«, und stellt zutreffend fest: »Gottlieb ist Theophil«, schließt aber dann: »›Theodor‹ gleicht zum Verwechseln dem zweiten Vornamen [›Theophil‹] unseres Philosophen […]!« Sie hält »[d]aher […] diese Briefstelle für einen mit rokokohafter Grazie vorgetragenen Scherz!« 34 – Will man zwar keine ›zum Verwechseln‹ vorhandene Ähnlichkeit, aber vielleicht eine Vergleichbarkeit der beiden Namen zugestehen, so wird hier doch der entscheidende Hinweis in ›Theodor‹ übersehen. Dieser liegt viel weniger in einer VerDie Vorreden zur Meta­phy­sik, 7. 9. 31 Hans Rudolf Schweizer in: Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhe­tik, XV. 32 Vgl. Baumgarten: Die Vorreden zur Meta­phy­sik, 116, 223. 33 Philos. Brieffe, 6. 34 Baumgarten: Die Vorreden zur Meta­phy­sik, LXXVII, Anm. 92. 29 Baumgarten: 30 Ebd.,



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gleichbarkeit mit ›Theophil‹, sondern in der Bedeutung von ›Theodor‹ selbst: Aus dem Griechischen übersetzt heißt dieser Name soviel wie ›Gottesgeschenk‹. Dies entspricht der Bedeutung des hebräischen Namens ›Nathanael‹ (›Gott hat gegeben‹), dem tatsächlichen Namen des jüngeren Bruders von Alexander Gottlieb Baumgarten. Griechisch ›Theodor‹ und hebräisch ›Nathanael‹ können als bedeutungsgleich aufgefasst werden. Die Nennung von ›Theodor‹ kann von den Lesern der Philosophischen Brieffe daher vielleicht als rokokohafter Scherz, viel eher aber als Hinweis auf den jüngeren Bruder des tatsächlichen Herausgebers der Brieffe, nämlich auf Nathanael Baumgarten (gest. 1763), aufgefasst werden. In diesem Zusammenhang erscheint eine weitere Stelle interessant: Im 11. Schrei­ ben zitiert Aletheophilus eine Strophe aus dem von Nathanael Baumgarten verfassten Stück Der sterbende Sokrates, Berlin 1741. Als Nachweis des Namens des Autors fügt er den Zeilen allerdings nur »Baumgarten« hinzu.35 Damit wird von Aletheophilus in den Philosophischen Brieffen zumindest an einer Stelle – ›getarnt‹ und ›nur‹ als Familienname (der den Zeitgenossen aber schon durch den berühmten älteren Bruder Siegmund Jacob sowie durch Alexander Gottlieb selbst wohlbekannt war) – auch der Name dessen genannt, der sich hinter dem Pseudonym des Herausgebers eigentlich verbirgt. Es kann bisher nur vermutet werden – und ist einer eingehenden Untersuchung würdig – dass Baumgarten im Zusammenhang der Herausgabe seiner Philosophischen Brieffe von Aletheophilus mit der gelehrten Gesellschaft der Alethophilen (Societas Alethophilorum) in Beziehung gestanden haben könnte.36 Die Gesellschaft der Alethophilen wurde 1736 in Berlin von Graf Ernst Christoph von Manteuffel, ehemaliger königlich polnischer Staatsminister und Ratgeber am Dresdner Hof, gegründet. Von Manteuffel war überzeugter Anhänger Wolffs, mit ihm sowie mit Gottsched führte er über Jahre eine umfangreiche Korrespondenz. Nach Theodor Wilhelm Danzel 37 hatte die Gesellschaft der Alethophilen neben von Manteuffel zwei weitere führende Mitglieder: den Buchhändler Haude und den ›Wolffianer‹ und Hofprediger Johann Gustav Reinbeck. Versammlungsort des ›Kerns‹ der Gesellschaft war das Tabakskollegium bei Buchhändler Haude in Berlin, weitere Filialgesellschaften wurden u. a. in Weißenfels, Leipzig und Stettin gegründet. Bei einem Aufenthalt in Leipzig 1738 ernannte von Manteuffel auch Gottsched und seine Frau zu Alethophilen. Ziel der Gesellschaft war nach Danzel nicht unmittelbar die Verbreitung der Wolff’schen Philosophie, doch durchaus in deren Sinne oder in deren Gefolgschaft die Ausbreitung der ›Wahrheit‹ im Sinne einer rationalistischen Geistesfreiheit, sowohl gerichtet gegen eine Wolff-feind­ 35 Philos.

Brieffe, 32. Vgl. Ursula Niggli in: Baumgarten: Die Vorreden zur Meta­phy­sik, XXXIX–XLI; vgl. Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion, 49, Anm. 145. 37 Vgl. Theodor Wilhelm Danzel: Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel zusammengestellt und erläutert von Th. W. Danzel […]. Nebst einem Anhange: Daniel Wilhelm Trillers Anmerkungen zu Klopstocks Gelehrtenrepublik, Leipzig 1848, 35 – 37. 36

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liche, anti-intellektuelle christliche Orthodoxie wie auch gegen die philosophische ›Freigeisterei‹ an der Preussischen Akademie der Wissenschaften.38 Am 28. Mai 1738 teilt Wolff von Manteuffel brieflich seinen Plan mit, er wolle eine »Philosophie des Dames« schreiben, habe derzeit in Marburg dafür aber keine Zeit. Nachfolgend drängt von Manteuffel Wolff mehrfach, den Plan umzusetzen, und bietet sich selbst als Übersetzer dieser Philosophie ins Französische an.39 Zur Verwirklichung des Plans ist es allerdings nie gekommen. Baumgartens »Publikation von 1741« – die Philosophischen Brieffe – beweise, Ursula Niggli, »daß er den […] Bestrebungen Manteuffels zumindest innerlich nahe stand«.40 Und tatsächlich verwirklicht Baumgarten mit seiner Wochenschrift immerhin die Idee, die von Manteuffel drei Jahre zuvor Wolff gedrängt hatte umzusetzen.41 Allerdings gibt es weder in den Nekrologen noch in den zeitgenössischen Zeugnissen zur Gesellschaft der Alethophilen42 einen Hinweis darauf, dass Baumgarten Mitglied der Gesellschaft gewesen sein könnte. Auch aus den Arbeiten von Heinrich Wuttke und Theodor Wilhelm Danzel geht nichts Entsprechendes hervor. Den von Ostertag herausgegebenen Briefen zwischen Wolff und von Manteuffel zum Projekt der ›Philosophie des Dames‹ ist zu entnehmen, dass für dieses ebenfalls die Form eines Briefwechsels, nach ihrem Plan mit einer fingierten Leserin Wolffs, vorgesehen war. Ein Hinweis auf eine Wiederaufnahme der Idee durch Zeitgenössische Zeugnisse zur Societas Alethophilorum, zu der von ihnen geprägten Medaille mit dem Brustbild Minervas, auf deren Helm janusköpfig die Portraits Leibniz’ und Wolffs prangen, sowie zu ihrem sogenannten ›Hexalogon‹, einem Regelkatalog mit der Verpflichtung zur Wahrheitstreue, sind zu finden in: [ Johann David Köhler:] Johann David Köhlers, P. P. Im Jahr 1740. wöchentlich herausgegebener Historischer Münz-Belustigung Zwölffter Theil, Darinnen allerhand merkwürdige und rare Thaler, Ducaten, Schaustücken und andere sonderbare Gold- und Silber-Münzen von mancherley alter, zusammen LXIV. Stücke, Accurat in Kupffer gestochen, beschrieben, und aus der Historie umständlich erkläret werden. Nebst der zehnten Fortsetzung, des Entwurffs von einer vollständigen Thaler-Collection in der Vorrede, Bd. XII, Nürnberg 1740, 47. Stück, 369 – 376; 49. Stück, 385 – 392; 52. Stück, 409 – 416; 3. Supplementsbogen zum 47. 49. und 52. Stück, 434 – 4 40; sowie in: [ Johann Christian Kundmann:] Academiae et Scholae Germaniae, praecipuè Ducatussilesiae, cum Bibliothecis, in Nummis. Oder: Die Hohen und Niedern Schulen Teutschlandes, insonderheit Des Hertzogthums Schlesiens, Mit ihren Bücher-Vorräthen, in Müntzen. Wie auch andere ehemals und jetzo woleingerichtete Schulen dieses Hertzogthums. Denen ein Anhang alter rarer goldener Müntzen, so bey Grundgrabung des Hospital-Gebäudes zu Jauer Anno 1726 gefunden worden, beygefüget: Dem Druck nebst nöthigen Kupffern überlassen von D. Johann Christian Kundmann, Medico Vratislav. Der Kayserlichen Reichs-Academ. Nat. Curios. Mitgliede, Breslau 1741, 769, 779, 769 (Pag. fehlerhaft). 39 Vgl. Heinrich Ostertag: Der philosophische Gehalt des Wolff-Manteuffelschen Briefwechsels, Leipzig 1910, Nachdruck: Christian Wolff: Gesammelte Werke, hg. von Jean École [u. a.], III. Abt., Bd. 14, Hildesheim/New York 1980, mit Wiedergabe der entsprechenden Briefe von Wolff und von Manteuffel, vgl. dort 15 – 38; vgl. [Christian Wolff ]: Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung, hg. mit einer Abhandlung über Wolff von Heinrich Wuttke, Leipzig 1841, 38 f. 40 Baumgarten: Die Vorreden zur Meta­phy­sik, XL . 41 Immerhin kann es die Tatsache, dass Baumgartens Wochenschrift als ›Philosophische Briefe‹ tituliert ist, nahelegen, dass die Brieffe dem Wolff ’schen Projekt der ›Philosophie des Dames‹ zumindest ebenso nahestanden wie etwa den berühmten Wochenschriften der beiden Gottscheds. 42 Köhler 1740, Kundmann 1741, vgl. Anm. 38. 38



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Baumgarten findet sich allerdings nicht, auch keine Erwähnung Baumgartens im Zusammenhang der Gesellschaft der Alethophilen. Immerhin gibt es Hinweise auf eine Korrespondenz Baumgartens sowohl mit Wolff als auch mit von Manteuffel. In den Philosophischen Brieffen selbst gibt es nur wenige, vage Anhaltspunkte für eine mögliche Mitgliedschaft oder Verbindung Baumgartens zu den Alethophilen. Neben einigen inhaltlich vielleicht in diese Richtung interpretierbaren Stellen sind nur zwei mögliche Indizien zu nennen. Einer der insgesamt 21 öffentlichen Ausgabeorte der Philosophischen Brieffe, die von Aletheophilus am Schluss der Vorrede und im Anhang des 7. Schreibens genannt werden, ist die Buchhandlung Haude in Berlin. Auch wenn Baumgarten nicht in näherer Verbindung zur Societas Alethophilorum gestanden hat, so ist doch zumindest anzunehmen, dass sein Projekt der Wochenschrift und das Unternehmen der Gesellschaft sich nicht völlig widersprochen haben können oder auf gegenseitige Ablehnung gestoßen wären. Jedenfalls erscheint es zumindest beachtenswert, dass einer der Ausgabeorte der Brieffe des Aletheophilus just der Sitz der Gesellschaft der Alethophilen und die Buchhandlung eines ihrer führenden Mitglieder war. An mindestens zwei Stellen in den Philosophischen Brieffen wird Aletheophilus von seinen angeblichen Korrespondenten als ›Alethophilus‹ angesprochen: Im 4. Schrei­ ben: »Herr Alethophilus«43 und im 6. Schreiben: »Mein guter Alethophile«.44 Auch die, wie gezeigt wurde, in den Briefen zentrale Figur der Charlotte Juliane von Lichtfeld bezeichnet sich im 20. Schreiben als »Alethophilisch«45 genug, um mit einer möglichen Kritik an ihren Forderungen an Aletheophilus’ Schreibart umgehen zu können. Die Frage erscheint berechtigt, ob es sich bei diesen ›Versprechern‹ nur um bloße Druckfehler oder um Zufall, oder aber um weitere versteckte Hinweise gemäß den ›Spielregeln‹ der pseudonym herausgegebenen Wochenschrift handelt.46 Für die Bedeutung der Philosophischen Brieffe innerhalb von Baumgartens Werk ist die Frage, ob diese Publikation in Zusammenhang mit der von Manteuffel’schen Gesellschaft stand, weniger relevant. Interessant wäre sie für Baumgartens Biographie, für eine weitere Erforschung seiner schwierigen – zugleich pietistisch und von der kritischen Philosophie geprägten – Position in der vielschichtigen, von philosophischer und theologischer Seite, an den Akademien und in den gebildeten Kreisen geführten Debatte um die Leibniz-Wolff’sche Philosophie in der Gelehrtenrepublik seiner Zeit.47 43 Philos.

Brieffe, 13. 16. 45 Ebd., 56. 46 Es liegt dabei auf der Hand, dass Baumgarten auch das Changieren des ihm in seiner Bedeutung zweifelsohne besonders wichtigen ›Ale-theophilus‹ (›Gottesfreund‹) und ›Aletho-philus‹ (das dem ›Alethe-[o]-philus‹ als ›Wahrheitsfreund‹ entspricht) bewusst einsetzen konnte und dies auch getan hat – auch unabhängig von einem möglichen Bezug zu den sich selbst so genannt habenden ›Alethophilen‹. 47 Weiteren Aufschluss könnte der Briefwechsel zwischen Manteuffel und Wolff von 1738 bis 1748 (C. E. Com. de Manteuffel et Chr. de Wolff Ep. Mutuae) geben, der in 3 Foliobänden (Nr. 1274) in der Sondersammlung der Universitätsbibliothek Leipzig erhalten ist. 44 Ebd.,

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Doch unabhängig von der Frage, ob ›Aletheophilus‹ oder ›Ale.Theophilus‹ Baumgarten ein ›Alethophile‹ war, stellen die Philosophischen Brieffe nicht nur ein in der Tat ›kostbares‹ Zeugnis für die Baumgarten-Forschung dar, sondern an prominenter Stelle auch ein wertvolles Dokument für die Erforschung der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts an der Schnittstelle von akademischer Lehre und popularwissenschaftlicher Publizistik.

Wenn die Magd in den Brunnen fällt (Andrea Allerkamp) 1. Adressierungen Schon Kant ärgert sich bekanntlich über den Gemeinspruch »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«.48 Dass Theorie und Praxis jeweils zwei Seiten haben, die sich leicht gegeneinander ausspielen lassen, zeigen auch die Philosophischen Brieffe. Der Gegenstand, den sie zur Verhandlung stellen, wird befragt als Bestandteil einer sich konstituierenden Wissensordnung, deren Schauplätze und Dramatisierungen nicht verdeckt, sondern als Theorie und in der (Schreib-)Praxis sichtbar gemacht werden. Diese Sichtbarkeit findet in der Briefgattung eine geeignete Bühne. Der Brief ist ein Zwitterwesen, ein hybrides Mischwesen aus münd­ licher und schriftlicher Rede. Indem er schon abgeschickt und noch nicht empfangen ist, öffnet sich ein zeitlicher Zwischenraum, ein Moment im Aufschub: »Du hast meine bisherigen Briefe, nach Deinem Bericht, nicht alle verstanden«, wendet sich der Schreiber gleich im ersten der drei ›Brunnenbriefe‹ (10., 13. und 14. Schrei­ ben von Aletheophilus) an seinen »wertheste[n] Freund«, um die Sendung coram publico einer nachträglichen Bilanz zu unterziehen und kritisch zu kommentieren: »[Die Briefe] sind zu schwer, zu gelehrt. Bisher habe ich großentheils an Gelehrte geschrieben.«49 Baumgartens Forderung nach lebendiger Veranschaulichung findet im Brief zu einer Entsprechung mit neuem Potential. Zum einen ermöglicht die intime Adressierung Introspektion, also Reflexion über die Innerlichkeit als Nähe und Ferne des Menschen zu sich selbst und zu den Dingen.50 In den Philosophischen Brieffen kann diese Reflexion gar die Form eines Gebets annehmen: »Vergib mir

48

Immanuel Kant: »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«, in: ders.: Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. XI, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, 127 – 172. 49 Philos. Brieffe, 37. 50 Vgl. dazu Hans Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt a. M. 1987, 55: »– und was dem Menschen nah oder fern ist, kann man als eine die Epochen tragende Entscheidung auffassen.«



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daher, daß ich einige ihrer Kunst-Wörter behalten habe«.51 Zum anderen schafft die iterative Gangart immer wieder Unterbrechungen, Pausen und Diskontinuitäten, welche die augenscheinliche Nähe zum Leser aufstören, auf Umwege lenken oder gar zunichtemacht. Der Brief geht mit einer Hingabe an den Anderen einher. Das erfordert Vorsichtsmaßnahmen vor feindlichen Übergriffen: »Wer mit Jägern redet, hütet sich gern für dem Waide-Messer«.52 Der Wechsel der Töne zwischen Mahnrede, Selbstentblößung, Zensurvorsorge und Verschlüsselung gewinnt in einer kunstvoll vernetzten Korrespondenz an Komplexität. Die Philosophischen Brieffe kleiden sich in das schöne Gewand einer Herzensschrift, sind Bekenntnis, Einverständnis und Abwehr zugleich. Die Dynamik ihrer wechselnden Adressierungen erlaubt es, komplexe Sachverhalte durch sinnliche Wahrheitsgehalte erfahrbar zu machen. Das birgt das Versprechen in sich, die tote Gelehrsamkeit der Buchstaben zu überwinden und im Sinne des felix aestheticus sagen zu können: »Vielleicht bin ich dismahl glücklicher Dir verständig zu seyn«.53 Die Kunst, das Verständnis des Lesers zu gewinnen, lernt Aletheophilus über Cicero von Demokrit,54 auf letzteren geht auch die Ausgestaltung der erhellenden Brunnen-Fabel in den Philosophischen Brieffen zurück. Dass sich die Adressierung eines erkenntnistheoretischen Grundgedankens in Richtungswechseln und Perspektiveinstellungen zwischen einem Gegenstand und seiner Kritik vollzieht – also »in der Einstellung des theoros, des Zuschauers der Welt und der Dinge« 55 –, zeigt die subtile Ausgestaltung der Brunnen-Fabel, die in der Philosophiegeschichte vor und nach Baumgarten eine lange Umlauf bahn hinter sich hat. Doch zunächst zu dem Ausschnitt aus dem Aletheophilus, der zur Verhandlung steht: Drei Briefe erzählen hier von einem Reisenden, welcher die Last des väterlichen Erbes abgeschüttelt hat, um stattdessen »mit allem Ernst« ein anderes Ziel anzuvisieren: »der suchte seine liebe Mutter, die Wahrheit«. Getrieben von »Durst und Neugierde« scheut sich der Wahrheitssucher nicht, in Gegenden zu gelangen, die den Anschein machen, als ob »noch nie ein Mensch durch sie hindurch gedrungen« sei.56 Bevor die Briefe in den eigentlichen Plot eindringen, muss sich ihr Schreiber positionieren. Wie in der späteren Aesthetica gilt es, methodisch versiert zu sein, um die polemische Energie vorweggenommener Einwände, Kritik und Ergänzungen produktiv zu nutzen. Der Weg durch die Verzweigungen des Briefwechsels und seiner nachgeholten und vorweggenommenen Winke wirkt 51

Philos. Brieffe, 37.

52 Ebd. 53 Ebd.

Aesth. § 644: »Aus diesem Grund vielleicht ist Heraklit überaus dunkel und ist es Demokrit am wenigsten. Jener hat sich mit seinen Sinnsprüchen den Namen ›der Dunkle‹ verdient; die wohlgefügte und zierliche Rede von diesem gewann dagegen mit ihrer Kunst sowohl das Verständnis des Lesers und derer, die sein Geltung ermaßen, als auch mit ihrer deutlichen Aus­ malung die Wahlstimme Ciceros, ja sogar der weniger philosophischen Leser.« 55 Blumenberg: Lachen der Thrakerin, Vorbemerkung. 56 Alle Zitate Philos. Brieffe, 37. 54 Vgl.

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nur auf den ersten Blick verwirrend und ablenkend. Welche Aufmerksamkeit die kleinen Schritte, Volten und Drehungen in der Aletheophilus-Korrespondenz im Einzelnen erfordern, wird deutlich, wenn man die Konstruktion betrachtet, die ihr zugrunde liegt. Schon die unterschiedlichen Gruß- und Schlussformeln der unmittelbar aufeinander folgenden Briefe weisen auf ein filigranes Gebilde von internen und externen Verweisen. Der erste Brunnen-Brief (10. Schreiben) eröffnet die reflexive Narration und beruft sich auf die Singularität eines einzelnen Lesers: »Werthester Freund!«.57 Im 13. und 14. Brief – die Zwischenglieder 11. und 12. fehlen – wird diese Anrede unter Berücksichtigung von paraphrasierten Leserbriefen variiert. Es kommen kritische Reaktionen und Antworten zur Sprache: »Sie berichten mir, wie durch den ganzen Kram der Gelehrsamkeit, insbesonderheit der Philosophie, die Wahrheit mehr verdunkelt, als erfunden werde und rathen mir also, sie nicht weiter in durchlöcherten Brunnen zu suchen, die doch kein Wasser geben.« 58

Das ist vielleicht auch Hinweis auf das Entspringen der Quellen im eigenen Werkzusammenhang. Denn über die Aletheophilus-Briefe hinaus ist die Brunnen-Fabel in einen größeren Rahmen von Bezügen und Anspielungen eingesponnen. Auch in der ersten Vorrede zur Metaphysica steht das sprudelnde ›Quellwasser‹ für die Lebendigkeit des Wissens ein: »Quae scaturigo tam limpida, quae non aliquos volvat in fundo scrupulos? / Welches Quellwasser ist so rein, dass es nicht irgendwelche spitzen kleinen Steine auf seinem Grund mitwälzt?« 59 lautet dort die rhetorische Frage, in der die doppelte Bedeutung des Wortes scrupulos – spitzes Steinchen und Bedenklichkeit, Skrupel – mit anklingt. Der Umgang mit Quellen ist steinig, es werde willentlich Missbrauch getrieben, wie der Autor zu bedenken gibt. Die Menschen würden »ihre Quellen, aus denen sie hauptsächlich ihre Gerinnsel ableiten, nicht nur verbergen und für andere so viel wie möglich verstopfen, sondern dieselben auch trüben«.60 Schon an dieser strategisch fundamentalen Stelle unterstreicht eine Captatio benevolentiae die Notwendigkeit der solitären Adressierung. Sie bleibt konjunktivisch in Aussicht gestellt: Quem enim potius, quam te, […] tibi paene dixerim soli « – »Wen denn eher als Dich spräche ich an […] – fast möchte ich sagen für D ich allein «.61 In der äußerst intimen Ansprache hallt die Selbstautorisierung der augustinischen Gottesanrufung nach.62 Die Aletheophilus-Briefe belassen es jedoch nicht bei einer religiösen Berufung auf Introspektion. Die Apostrophierung zieht 57 Ebd. 58 Philos.

Brieffe, 38. Die Vorreden zur Meta­phy­sik, 9 und Anm. zu scrupulos, 92. 60 Ebd., 9. 61 Ebd., 2 f. 62 Vgl. Augustinus: Bekenntnisse, übers. von Joseph Bernhart, München 1987, Bd. I, 1, 12 f.: »Quaeram te, domine, invocas te et invocem te credens in te« – »Ich will Dich suchen, Herr, mit meinen Rufen, und ich will Dich rufen, indem ich an Dich glaube.« 59 Baumgarten:



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weitere Kreise, zwischen Fachpublikum bis zur Öffentlichkeit. Dementsprechend mündet der letzte der drei Brunnen-Briefe in einer Pluralisierung, die sich allmählich vorbereitet. Die Anrede »Werthester Freund!« gewinnt im 13. Brief mit »Mein Herr!« 63 an Distanz, was im 14. Brief zugunsten einer Pluralisierung zugleich weiter geführt und wieder zurück genommen wird: »Geschätzte Freunde!«.64 Den ersten und letzten Freundes-Brief verabschiedet die Schlussformel »Lebe(t) wohl!«,65 der mittlere Brief dagegen bricht plötzlich ab mit einem unvollendeten »Ich bin u.s.w.« 66 und leitet damit unmittelbar zum andern Pfeiler der Brückenkonstruktion, dem dritten Brunnen-Brief, über. 2. Quellenkunde Im ersten Brunnen-Brief offeriert der Briefschreiber seinem Leserfreund eine entschiedene Kritik an den Gelehrten. Deren Irrtum bestehe darin, einen Alleinvertretungsanspruch auf die zusammenfließenden Quellen der Erkenntnis zu erheben. Doch damit unterschätzten sie, dass »ein ieder aufgeweckter Kopf stark genug [ist]«, um sich nicht einfach »mit einer Hand voll gemeinen Waßers« zu begnügen. Der Briefeschreiber erklärt darauf hin, dass im Brunnen der Wahrheit »3 HauptQuellen« zusammenfließen.67 Sie müssten in Grad an Tiefe und Konsistenz unterschieden werden: »Die oberste heißt die Gemeine / weil ihr Waßer oben aufschwimmt und auch mit der bloßen Hand geschöpft werden kann, daher zum Gebrauch des gemeinen Lebens von denen, die sich nunmehr um den Brunnen angebaut, pflegt genutzt zu werden. Etwas mehr hinunter ist die Grund / und endlig die Größen-Quelle.« 68

Jener gestuften Quellen-Abfolge entspricht die Topographie des Bodens, der zum Brunnen hin immer ertragreicher wird. Am Fuße des Berges sind die Wege dorthin zunächst steil, »mit denen gefärligsten Abgründen umgeben«, die Erde ist »dürr und erstorben«. Dann wird es immer »fruchtbarer«, was eine »natürliche Verwirrung derer häufig blühenden und Frucht tragenden Kräuter, Blumen, Sträuche, Stauden und Bäume« erzeugt. Endlich entdeckt sich die »Spitze des Berges«, die umfangreicher ist, als es von weitem den Anschein hatte. Es zeigen sich Spuren von menschlichen Fußstapfen, erst übermenschlich groß, dann kleiner und »zugleich ein ganzer Vorrath von abgenützten Flöten, Stäben und anderm Schäfer-Geräte, daß die vor ihm hergereiste Gäste sonder Zweifel zurück gelaßen hatten«. Nach diesen Anklängen an idyllisch-erotische Schäfer-Dichtungen fasst der Briefeschrei63 Philos.

Brieffe, 38. 40. 65 Ebd., 38 und 40. 66 Ebd., 40. 67 Philos. Brieffe, 38. 68 Ebd. 64 Ebd.,

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ber in Berufung auf die Gelehrten drei Stadien der Kultivierung zusammen: »die erste die historische, die andre die philosophische, die dritte die mathematische«.69 Unschwer lässt sich in dieser systematischen Abstufung von Quellentypen, Bodenbeschaffenheiten und Graden der Erkenntnis das »beträchtlig[e]« väterliche Erbe wieder erkennen, das zu Anfang der Reise gegen die mütterliche Wahrheitsliebe über Bord geworfen wurde. 1739, in der ersten Vorrede zur Metaphysica, beruft sich Baumgarten explizit auf seine erkenntnistheoretischen Quellen »Leibniz, Wolff, Bilfinger und Reusch«.70 Die Philosophischen Brieffe lassen diesen ideengeschicht­ lichen Horizont in das Tableau einer bedeutungsträchtigen Landschaft ein, die der Brunnenwanderer in seinem Hürdenlauf zur – ästhe­t ischen – Wahrheit durchqueren muss. Am Ziel seiner Reise angelangt, muss er schließlich einsehen, dass schon andere vor ihm da waren: »Indem er zur Quelle kam, sahe er an ihrem Ufer, wo es etwas sandig war, Dreiecke, Vierecke, und dergleichen Sachen gezeichnet, die ihm mehr, als zu deutlig, wiesen, er seye nicht der erste unter denen Sterblichen, der diesen Brunnen entdeckt.« 71

Die märchenhaften Elemente – die Brunnen-Fabel beginnt mit »Es war einmahl ein Mann unter unsern Vorfahren […]«72 –, entpuppen sich als Auseinandersetzung mit wissensgeschichtlichen Voraussetzungen, denen nicht zu entkommen ist. Leibniz’ Lehre von den verschiedenen Graden der Erkenntnis ist in das Brunnenbild sehr genau eingegangen. Denn die geometrischen Formen am Ufer des Brunnens sind so beziehungsreich, dass sie gleich alle drei Quellen der Erkenntnis ansprechen: Die historische Erkenntnis wird in dem Moment aktiviert, in dem der Brunnensucher einsieht, »er seye nicht der erste unter denen Sterbligen, der diesen Brunnen entdekt«.73 Die philosophische oder in Leibniz’ Begriffen ›adäquate‹ Erkenntnis könnte dem Anblick der gezeichneten Formen am Ufer des Brunnens entsprechen und ein Hinweis sein auf die »Realddefinition resp. [die] Idee eines Gegenstands, welche die Widerspruchsfreiheit aller seiner Merkmale enthält«.74 Die mathematische Erkenntnis schließlich kommt dieser Form der adäquaten Erkenntnis über das »Wissen von den Zahlen«75 nahe. Der auf die geometrischen Formen gelenkte Blick erscheint schließlich wie ein kompakter Verweis auf Leibniz’ symbolische Erkenntnis, welche die menschliche Erkenntnisfähigkeit auszeichnet. In den Philosophischen Brieffen gibt das verdichtete Traum- oder Seher-Bild über die verschiedenen Erkenntnisvermögen Anlass zu einem Vorstoß in eine andere Richtung. Der Wahrheitssucher fällt nicht etwa in den Brunnen, weil er sich in den Sternenhimmel verguckt, sondern er kostet das Wasser der Quelle. 69 Alle

Zitate ebd., 37 f. Die Vorreden zur Meta­phy­sik, 7. 71 Philos. Brieffe, 38. 72 Ebd., 37. 73 Ebd., 38. 74 Mirbach: »Einführung«, in: Baumgarten: Ästhe­tik, Bd. 1, XXXIV. 75 Ebd. 70 Baumgarten:



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»Er war durstig, und trank. So gleich durchdringet ihn eine neue Lebens-Kraft bis aufs innerste. Seine Augen werden heiter, und sehen die Warheit in der erhellten Tiefe mit solchem Glantz, daß man erzehlet, er habe sich darauf die Augen geblendet, um nach ihr nichts anders zu sehen. Ich halte das letzte für eine Fabel.« 76

Die Selbstblendung erinnert an Demokrit, sein Brunnengleichnis findet auch Eingang in die Aesthetica, wo die Betonung auf der Schwierigkeit liegt, »die tief verborgene Wahrheit aus ihrem Versteck herauszuführen«: »Erinnert ihr euch nicht daran, daß für Demokrit die Wahrheit auf dem Grunde liegt, von wo sie nur schwer heraufgezogen werden kann?«77 Bei Hans Blumenberg heißt es über den Repräsentanten der Atomistik, »er habe nicht zurückgeschreckt vor der Behauptung, die Schärfe des Geistes würde durch das Schauen der Augen nur behindert«.78 Blumenberg sieht in dieser Konzentration auf die Unendlichkeit die Vorbereitung einer Theorie, für die »die Erde in der Mitte der Welt nicht mehr der bevorzugte Schauplatz sein würde«.79 Der Nachsatz des Aletheophilus, der die Selbstblendung für eine Fabel hält, unterbricht jedoch das momentane Glück der Wahrheitsfindung und warnt davor, sich in einer erdichteten Gegenwelt zu verlieren. Statt weitere Wunderdinge über den Brunnen zu erzählen, stehe seine Unergründlichkeit zur Debatte. Der Bezüge, Verweise und Quellen ist kein Ende gesetzt. So könnte man an Boethius’ Consolatio philosophiae erinnern – Protreptikos oder Schrift, die zur Philo­ sophie ermuntert. Im ersten Buch erscheint dort dem klagenden Gefangenen eine ehrwürdige Frauengestalt, die der Schicksale der zu Tode verurteilten Philosophen Sokrates und Seneca gedenkt. Der Auftritt der allegorischen Gestalt hat eine zurechtweisende Funktion. Er dient der Vertreibung der Dichtermusen und leistet damit der Herrschaft der Philosophie Vorschub, die, unter Ausschluss der Literatur, den Wahrheitsbegriff für sich allein in Anspruch nehmen will. Wenn Aletheophilus dagegen betont, dass er die Brunnen-Erzählung für eine Fabel hält, so schmälert das nicht etwa die »neue Lebens-Kraft«, die den Reisenden im Moment der Durstlöschung »bis aufs innerste« erfüllt. Die Heiterkeit der Augen, der Glanz aus der »erhellten Tiefe«, die Selbstblendung – all das spricht im Gegenteil für einen intensiven Moment der ästhe­t ischen Wahrheitsfindung. Auf den Einwand der Wissenschaft, die »Sinnliches, Einbildungen, Märchen, die Wirrnisse der Leidenschaften usw.« für »unwürdig« und »unter ihrem Horizont« liegend erachtet,80 antwortet die Aesthetica mit einer flammenden Rede auf die ›Theorie der freien Künste‹: »Bei den unteren Vermögen ist eine Herrschaft, keine Tyrannei erforderlich.« 81 Das sind deutliche, nicht nur gegen die Verbannung der Dichtung gerichtete Worte. Die anthropologische Wende ist mit einem ethischem Appell verbunden: »Ein Philosoph 76 Philos.

Brieffe, 38. Zitate (im ersten zitiert Baumgarten Claudianus 8, 512) Aesth. § 479. 78 Blumenberg: Lachen, 42. 79 Ebd. 80 Aesth. § 6. 81 Ebd., § 12. 77 Beide

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ist ein Mensch unter Menschen, und er tut nicht gut daran, wenn er glaubt, ein so großer Teil der menschlichen Erkenntnis sei ungehörig für ihn.« 82 An die Quelle Demokrits und ihre Vermehrung erinnert der nächste Aletheophilus-Brief (13. Schreiben): Nach Demokrit »mehrten sich die Brunnen, Gäste der Warheit ungemein. Zugleich aber wurden die bis dahin fürende[n] Wege fast järlig gefärliger«. Als Gründe für die Gefahrenzunahme werden genannt: die zunehmend ausgetretenen Pfade, die wuchernde Vegetation und die »Unordnung des Waldes« sowie die Herausbildung eines toten Meeres des Irrtums, dessen giftige Dämpfe schließlich noch bis zur letzten Grundquelle ziehen. Die Versuche, das Gelände übersichtlich zu halten und »den Weg zum Brunnen der Wahrheit und seinen Gebrauch sichrer und bequemer zu machen«,83 seien auf Maßnahmen der Gelehrsamkeit zurückzuführen, wobei Aletheophilus seinem Briefempfänger empfiehlt, diesem Unternehmen gegenüber (selbst)kritisch zu bleiben.84 Nach diesem Appell an die Urteilskraft kann der dritte Brunnen-Brief Leserhinweise aufgreifen, die den Geschmack ins Spiel bringen. Eine »weiter[e] […] Erzehlung von dem Brunnen der Wahrheit« ist vonnöten.85 Den Auftakt bildet das lateinische Sprichwort De gustibus non est disputandum: »Ein ieder hat seinen Geschmack / so trifft es bei dem Waßer, das aus diesen Quellen fliest, ganz besonders ein. Nicht nur alle Brunnen-Gäste, sondern auch die ganze Welt ist darin einig, wenn ein ieder von sich redet, es schmecke ihm ungemein süß und angenehm.« 86

Der einzigartige Geschmack und das einhellige Urteil verlieren sich in dem Moment, da das Wasser an andere weiter gereicht wird. Indem sich die Quelle gemein macht, verliert sie an Reinheit. An der Weiterleitung hätten sich vor allem die Gelehrten versucht. Sie suchten nicht nur die Wege zum Brunnen auszubessern, sondern auch das Wasser der Wahrheit zu versüßen, es schmackhafter zu machen. Das Stichwort Geschmack bringt eine zentrale Begründungsfigur der Ästhe­t ik ins Spiel. In der Metaphysica unterscheidet Baumgarten den »GESCHMACK IN WEITERER BEDEUTUNG (Geschmack, Gaumen, Nase)« als sinnliches Beurteilungsvermögen von der Kritik als Kunst des Beurteilens.87 Als »Kunst, sinnlich zu urteilen«,88 präfiguriert der Geschmackssinn, der zugleich physiologisch und psychologisch 82

Ebd., § 6. Zitate Philos. Brieffe, 39. 84 Ebd., 40: »Mein Herr denken selbst, ob sie schlecht hin zu tadeln, ob nicht die Absicht wenigstens unverbeßerlig, und ob der, der ihren glückligen Erfolg ganz leugnet, nicht etwas zu nahe an die Seite des todten Meeres gerathen sey.« 85 Ebd. 86 Ebd. (Hervorhebung im Orig.) 87 Vgl. Met. § 607: »Iudicium sensitivum est GUSTUS SiGNIFICATU LATIORI (sapor, palatum, nasus). CRITICA LATISSIME DICTA est ars diiudicandi.« (Hier zugrundegelegte Ausgabe: Alexan­ der Gottlieb Baumgarten: Metaphysica/Meta­phy­sik, Hist.-krit. Ausgabe, übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011). 88 Ebd. 83 Alle



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ist, das doppelte Wissen der Ästhe­tik, vermittelt zwischen Theorie und Praxis, Verstand und Sinnlichkeit, Wahrnehmung und Erkenntnis. Die Idee der Reinheit der Quelle als Wasser der Wahrheit, die sich durch eine künstliche Zutat wie den kolonialen Rohstoff Zucker zu trüben droht, wirft für Baumgarten die so zentrale Frage nach der ästhe­tischen Wahrheit auf. Der Geschmack lässt nicht (mit)teilen. Das »trifft […] bei dem Waßer, das aus diesen Quellen fliest, ganz besonders ein«. 3. »Brunnentiefe und Himmelshöhe« 89 Viele Wege führen zur Quelle: Mit einer »Sammlung astronoetischer Glossen«90 rea­g ierte Hans Blumenberg Ende der 1950er Jahre auf den ersten ›falschen‹ Kometen, der den Startschuss der sowjetischen Raumfahrt und in der westlichen Welt den sogenannten Sputnik-Schock auslöste. Blumenbergs Versuch, eine ›Urgeschichte der Theorie‹ zu erzählen, nimmt ihren Ausgangspunkt in Äsops Fabel von einem Astronomen, der bei seiner nächtlichen Himmelsschau in die Zisterne stürzt und von einem Passanten auf seine Selbstvergessenheit aufmerksam gemacht wird: »Bist du also so einer, daß du sehen willst, was am Himmel ist, aber übersiehst, was auf Erden ist?« 91 Im Theaetät überträgt Platon diese Fabel auf Thales von Milet: »Der namenlose gewesene Astronom wird zum Begründer der Philosophie, der ebenso anonyme Zeuge seines Sturzes zur Thrakerin im Haussklavenbestand der Bürger von Milet. Die Figuren der Konfrontation haben an Bestimmtheit und an Hintergrund gewonnen: ›So erzählt man sich von Thales, er sei, während er sich mit dem Himmelgewölbe beschäftigte und nach oben blickte, in einen Brunnen gefallen. Darüber habe ihn eine witzige und hübsche thrakische Dienstmagd ausgelacht und gesagt, er wolle da mit aller Leidenschaft die Dinge am Himmel zu wissen bekommen, während ihm doch schon das, was ihm vor der Nase und den Füßen läge, verborgen bleibe.« 92

Mit dem Lachen der Thrakerin, die Thales dafür verspottet, dass er wohl am Himmel Bescheid weiß, nicht aber auf Erden, erfindet Platon ein Meisterwerk an Lebendigkeit, dem es gelingt, der Konfrontation von Theorie und Lebenswelt Ausdruck zu verleihen. Der platonische Sokrates, der in der Todeszelle zum ersten Mal zum Autor wird, äsopische Fabeln in Verse setzt und zum »Plural der Brunnen und Stürze« 93 greift, ist mit einem gebildeten Publikum konfrontiert:

89 Blumenberg:

Lachen der Thrakerin, Vorbemerkung.

90 Ebd. 91 Fabulae

Aesopicae collectae, Leipzig 1875, 75, zit. nach Blumenberg: Lachen der Thrakerin, 13. Lachen der Thrakerin, 13 f.; Zitat aus Plato: Theaetet 174a-b, übers. von Martin Heidegger: Die Frage nach dem Ding, Tübingen 1962, 2. 93 Blumenberg: Lachen der Thrakerin, 21. 92 Blumenberg:

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»So wird er zum Gelächter ( gelota) nicht mehr bei Thrakerinnen oder anderen Ungebildeten – denn die bemerken davon nichts –, wohl aber bei all denen, die zu ganz anderem als zu Sklaven erzogen worden sind.« 94

Die Thales-Anekdote wandert in Blumenbergs Lachen der Thrakerin von Sokrates zu Cicero über Aristoteles, Aristophanes und Tertullian, Augustinus, die Moralisten Montaigne, La Fontaine, Voltaire, die Gründergeneration der Neuzeit: Galilei, Bacon, Descartes, bis zur historischen Kritik der Enzyklopädisten wie Bayle oder Zedler und zum Jahrhundert der Auf klärung von Kant bis Nietzsche. Blumenberg endet mit der Meta­phy­sik-Kritik Heideggers, in der »viel vom Lachen der Magd und wenig vom Stürzen des Philosophen die Rede ist«.95 Die Szene liefert den Stoff für eine große Erzählung, in der sich der Fokus von der Theorie auf den Zuschauer beziehungsweise auf die »Zuschauerin des Zuschauers« 96 und von der Geschichte des Denkens in einzelne Lebenssituationen der Denker verschoben hat:97 »Das Rencontre zwischen dem Protophilosophen und der thrakischen Magd war nicht, sondern wurde die nachhaltigste Vorprägung aller Spannungen und Unverständnisse zwischen Lebenswelt und Theorie«.98

Im ›Rückblick auf die Ursprünge‹ wird eine einzelne Quelle mit vielen Verzweigungen sichtbar. Ihr entspringt etwas in Form einer Urgeschichte der Theorie, welche die Urgeschichte nicht ersetzen, sondern nur daran erinnern kann, »was uns entgangen ist«.99 Gerade die Vielzahl der Quellen, ihre Unreinheit und Trübung, sorgt für die abgründige Tiefe einer sich selbst begreifenden Geschichte, die nicht aufgehört hat, über ihren eigenen Gegenstand zu staunen: »Anstelle des Unwißbaren kann sie [die Urgeschichte der Theorie] wenigstens anbieten, was die Seltsamkeit, dass es so etwas wie ›Theorie‹ gibt, ihren Mangel an Selbstverständlichkeit, lebendig hält.«100

Was hat das mit Baumgarten und den Philosophischen Brieffen zu tun? Blumenbergs hoher Anspruch an eine Kulturkritik, die das Potential ihrer eigenen Urszenen nicht nur sichtbar macht und vorführt, sondern sich in deren geschichtsbildender Energie wiedererkennt und erneuert, wirft Licht auf Baumgartens Begriff der  94

Ebd., 20. 149.  96 Ebd.  97 Vgl. Hannelore Schlaffer: »Ein Grund mehr zur Sorge. Hans Blumenbergs jüngste Veröffentlichungen«, in: Merkur 470 (1988), 328 – 332. Schlaffer wirft Blumenberg vor, er lasse mit seinen imaginären Anekdoten lauter Gespenster auftreten. Der Vorwurf lautet nicht nur, Blumenberg vernachlässige die philologische Sorgfalt und gehe unsauber mit seinen Quellen um. Sein Spiel mit den Anekdoten sei eine nachträgliche Demütigung der Figuren, sich selbst kennenzulernen (nach einem Zitat von F. Schirrmacher). Dieses Urteil ignoriert die Ironie, die der Reflexion über die Ursprungslosigkeit geschuldet ist.  98 Blumenberg: Lachen der Thrakerin, 11.  99 Ebd. 100 Ebd., Vorbemerkung.  95 Ebd.,



Ale.theophilus Baumgarten/Wenn die Magd in den Brunnen f ällt 339

ästhe­t ischen Wahrheit. Erkennbar wird deren Schwellenfunktion. Bei Baumgarten, so könnte die Brunnen-Fabel weiter erzählt werden, ist es nicht mehr der Philosoph, sondern die Magd, die in den Brunnen fällt. Das aber wird erst im Zusammenfluss verschiedenster Quellen von Demokrit über Boethius bis zu Baumgarten deutlich. Zum einen liefert Aletheophilus’ ›direkter‹ Gang zu Demokrit einen vorsokratischen Beleg dafür, was dort philosophisch in den Brunnen gefallen ist: nämlich erst einmal ›nur‹ die Wahrheit und noch nicht der Philosoph.101 Die ästhe­tische Wahrheit ist in einem tiefen Schacht oder Brunnen verborgen. Als gewöhnliche Sinneswahrnehmung wird sie für dunkel gehalten. Vordringen in das Geheimnis des tiefen Brunnens kann nur derjenige, der die geschärfte, gleichsam mathematische Erkenntnis dank der geometrischen Formen am Ufer nicht übergeht, sondern sie in seinem Fall in die Tiefe des Brunnens mitnimmt. Baumgartens Aletheophilus wirft die Frage nach der in den Brunnen gefallenen ästhe­t ischen Wahrheit auf und verbindet sie mit der Frage nach dem unteilbaren Geschmack. Wie lässt sich das Wasser der Wahrheit weiterleiten, ohne dass es bitter und ekelerregend wird? Die Selbstblendung des Philosophen, die Durchwanderung der Unendlichkeit, wie es bei Cicero über Demokrit heißt,102 erscheint nicht mehr glaubwürdig. Als Briefe­ schreiber ist der Philosoph auf sein (gelehrtes und freundschaftliches) Publikum angewiesen. An die Stelle der jungen thrakischen Magd, die im Vorübergehen die Weltfremdheit der Theorie erfasst und verspottet, ist in den Philosophischen Brieffen der lebenszugewandte Empfänger des Briefes gerückt. Ihm fällt die Aufgabe zu, der Exzentrizität des Theoretikers vorzubeugen, sich ein eigenes Urteil über den Brunnensturz zu bilden und die Selbstvergessenheit des Wahrheitssuchers auf seine Weise – vielleicht mit einem Lachen – zu kommentieren. Zwischen der Blindheit des Philosophen und der Bildungsarbeit der Gelehrten steht die Figur eines Absenders namens Aletheophilus. Seine Fabel »diesseits der Fabel«103 erzählt die Begründungsgeschichte der Ästhe­t ik, die sich in actu an ihren Quellen neu (er)finden muss. Es ist die Geschichte einer erkenntnistheoretisch fundierten Lehre, die weder vor dem Plural der Brunnen und Stürze noch vor der Kritik eines aufgeklärten Publikums zurückschrecken möchte. Am Ende der drei Brunnen-Briefe verabschiedet sich Aletheophilus als felix ­aestheticus, der vom Wasser des Brunnens gekostet hat und sein Urteil mit anderen teilen will: »Wenn ich manchmal, in dem ich diese Briefe schreibe, einen Gesund101 Vgl.

ebd., 97. Tusculanae Disputationes, V 114: »Während andere oft nicht einmal das sehen, was vor ihren Füßen liegt, durchwanderte jener die ganze Unendlichkeit, ohne irgendeiner Grenze anzuhalten.« Zitiert nach Blumenberg: Lachen der Thrakerin, 2. Baumgarten bescheinigt Cicero eine schlechte Zurückweisung des Atomisten, vgl. Aesth. § 192: »Es werden auch öfter Dinge für Lappalien gehalten, die keine sind, […] und vielleicht gehört hierhin – richtig verstanden – die Meinung des Demokrit, die Cicero, indem er sie in schlechter Weise zurückweist, nicht gerade recht und billig zu den großen Lappalien rechnet, wenn er sagt, daß nichts überheblicher sei als die Gattung der Naturforscher.« 103 Blumenberg: Lachen der Thrakerin, 93. 102 Cicero:

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Dagmar Mirbach und Andrea Allerkamp

heits-Trunk darreichen kan, der vielen, wo nicht den meisten, schmeckt, so will [ich] mich glücklig schätzen. Lebet wohl!«104 Die Brief-Adressierungen ermöglichen Positionierungen zwischen äußerster Intimität und gelehrter Pluralität. Insofern sind sie ein fester Bestandteil der Subjektivierungspraktiken des felix aestheticus. Denn ein schöner Verstand und eine schöne Vernunft »sind dadurch ausgezeichnet, daß sie einen Gegenstand deutlich (nach seiner wissenschaftlichen Definition) erfassen, diese Deutlichkeit aber durch lebhafte sinnliche Vorstellungen zu ›unterfüttern‹ vermögen, wodurch ein größerer Zusammenhang der Vorstellung und somit eine ›der Ausdehnung nach‹ deutlichere Erkenntnis entsteht«.105

Der felix aestheticus vermag für seinen Geschmack, also die geglückte Wahl seines Gegenstands, nicht nur einzustehen, er kann diese ästhe­tische Wahrheit darüber hinaus auch mitteilen – und zwar in Form einer anspielungsreichen Fabel, die er als solche erkennt, indem er sie als Gattungswesen auszeichnet. Wenn Subjektivierung, wie Christoph Menke gezeigt hat,106 das zentrale Kraftzentrum der Ästhe­t ik bildet, so erweist sich die Briefrede als ein äußerst produktives Genre, weil es deren relationale Aspekte rezeptionsästhe­t isch in Szene zu setzen vermag. Aus dieser Perspektive erscheint das doppelte Unternehmen der Ästhe­t ik, zwischen Literatur und Philosophie zu vermitteln, als eine unendliche Aufgabe, die – analog zur Unabgeschlossenheit der intimen Briefrede, die sich an alle richtet – im Schnittfeld von Theorie und Praxis sich immer wieder neu (be)gründet.

104 Philos.

Brieffe, 40. »Anmerkungen der Herausgeberin«, in: Baumgarten: Ästhe­tik, Bd. 2, 935.

105 Mirbach: 106 Ebd.

R ESONA NZ EN ••• Graciáns

g usto

Zu einer Vorgeschichte der Aesthetica Von Pablo Valdivia Orozco 1. Baumgartens Ästhe­t ik im Lichte der frühneuzeitlichen Geschmacksdebatte zu lesen, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Die Baumgartenforschung verdankt Alfred Baeumler eine gleich in mehrfacher Hinsicht problematische Aussage: Ihm zufolge hat Baumgarten »für das Geschmacksproblem im engeren Sinne nicht viel Interesse bezeigt«.1 Wie sehr diese These schon auf der Sachebene zumindest streitbar ist, hat bereits Ursula Franke mit Bezug auf Baumgartens Meta­phy­sik angedeutet: Franke geht davon aus, dass Baumgarten ein mit dem Verstand nicht zu verrechnendes Erkenntnisvermögen am Geschmack ausmacht.2 Trifft dies zu, dann wäre ein Interesse Baumgartens an der Geschmacksfrage nur schwerlich zu verneinen. Tatsächlich findet sie sich allerorten, wenn man die in der Aesthetica vielfach auftauchende Wendung der elegantia als Geschmack deutet und sich dabei nicht nur auf die Begriffe sapor und gustus beschränkt. Doch in Baeumlers Zitat verrät sich mehr als ein Sachproblem. Ebenso zeigt sich, wie eine nationalistische Perspektive, die Baumgartens Denken im Kontext eines »deutschen Geisteslebens« 3 einspannt, den Blick für wichtige Bezüge verstellt. Die von ihm aberkannte Kategorie des Geschmacks nämlich verlangt es, Baumgartens Projekt in einem weiteren europäischen Kontext zu verorten, ist doch die Bestimmung des Geschmacks als Evidenz für ein vom Verstand zu unterscheidendes Erkenntnisvermögen keine originäre Leistung Baumgartens und auch nicht in seinem unmittelbaren Umfeld begründet. Neben den im engeren Sinne philologisch-theo­retischen Fragen, die auf die erkenntnistheoretische Dimension der Geschmacksdebatte zielen, stellen sich auch rezeptionshistorische Fragen. In diesen wiederum zeigt sich eine alles andere als evidente epochale und diskursive Alfred Baeumler: Das lrrationalitätsproblem in der Ästhe­tik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Darmstadt 1967, 87. 2 Vgl. hierzu: Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhe­tik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972, 101: »Durch die Begründung der Wahrheit der Kunst aus der Sinnlichkeit als einer vom Verstand unabhängigen Instanz löst Baumgarten den Geschmack vom Verstand.« 3 Baeumler: Das lrrationalitätsproblem, VII. 1

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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Pablo Valdivia Orozco

Verortung von Baumgartens Projekt an: Welcher Diskussionsstand um den Geschmacksbegriff ist für Baumgarten als relevant zu erachten? Die Kategorie des Geschmacks erlaubt es, einerseits einen Spannungsbogen zur europäischen Renaissance zu schlagen und andererseits die barocke bzw. philosophisch-systematische Absetzung von dieser nachzuzeichnen. In diesem Sinne lässt sich mithilfe der Geschmacksdebatte etwas konkreter darlegen, wie die Aesthetica sich in eine europäische Tradition einschreibt und sie zugleich verändert. Da diese doppelte Bewegung von Tradition und Veränderung nicht explizit zutage liegt, ist eine systematische Perspektive angebracht. So ist die Geschmacksproblematik weniger hinsichtlich dessen zu befragen, was und wie über den Geschmack gedacht wurde, sondern auf ihre theoretische Relevanz hin: Inwiefern überführt die Aesthetica die im Geschmack zusammentreffenden poetologischen, rhetorischen, moralischen und erkenntnistheoretischen Aspekte in eine eigene, das überlieferte disziplinäre Gefüge nachhaltig verändernde Systematik? Diese Frage impliziert die These, dass der Reifegrad und die Komplexität der Geschmacks­ debatte in Baumgartens Epoche eine disziplintheoretische Explikation verlangt und gerade deshalb nicht mehr explizit als Geschmacksdebatte geführt wird, sondern wesentlich grundsätzlicher als Theorie sinnlicher Erkenntnis. Auch wenn natürlich Baeumlers Behauptung nicht für die gesamte Baumgartenforschung steht, ist die Rolle des Geschmacks für die Aesthetica allenfalls angedeutet worden. Sicher trifft zu, dass – wie auch Frauke Berndt 4 feststellt – Baumgarten die französische Geschmacksdebatte wahrnimmt und zugleich über sie hinausgeht. Baumgarten selbst unterstreicht dies gleich zu Beginn seiner Kollegsschrift.5 Doch damit ist lediglich eine bestimmte Fassung der Geschmacksdebatte erfasst und der Kontext Baumgartens auf jenes Umfeld beschränkt, das schon Bernhard Poppe vor gut 100 Jahren bestimmt hat: »Außer den antiken, den französischen und englischen Schriftstellern haben auch die deutschen Schriften ästhe­tischen Inhalts einen großen Einfluß auf Baumgarten ausgeübt.« 6 Wenn aber jene französischen und englischen Schriftsteller wie Shaftesbury oder Boileau sich mitunter prominent des Geschmacks annehmen, dann ist damit auf einen weiteren Kontext verwiesen, namentlich auf den spanischen Jesuitenpater Baltasar Gracián, der wiederum intensiv Texte der italienischen Renaissancetheorie rezipiert und verarbeitet hat. Gracián ist für Baumgarten somit nicht nur, was seine direkte und nachweisliche Rezeption7 4 Vgl. hierzu: Frauke Berndt: Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin/Boston 2011, 78 f. 5 Vgl. hierzu: »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 70 f. (§ 1): »Bouhours, Coursaz in seinem traité du beau, die Gespräche der Maler, die Abhandlung vom Geschmack enthalten viel Allgemeines vom Schönen, aber sie erschöpfen es nicht. Es konnte nicht in die gegenwärtige Form einer Wissenschaft gebracht werden.« 6 Ebd., 47. 7 Das hat mir freundlicherweise Constanze Peres mit einem Hinweis auf Baumgartens Bi­ bliothek bestätigt. Von besonderem Interesse ist hier, dass Baumgarten die beiden speziell für die Geschmacksdebatte zentralen Werke in französischer Sprache besessen hat: L’homme de cour (Oráculo manual) und L’homme universel (El discreto). Ich werde nicht weiter auf die Rezeptions­

Graciáns gusto343

betrifft, von Relevanz; zugleich ist Gracián durch den Stand jener Debatte um den Geschmack zugegen, von dem Baumgarten ausgeht und der ohne Gracián sicher ein ganz anderer wäre. Nicht umsonst gelten Graciáns Schriften als eine entscheidende Wegmarke innerhalb der europäischen Geschmacksdebatte.8 Dabei geht es um mehr als Rezeptionslinien, die außerhalb der etablierten Genealogien und Kontexte der Baumgartenforschung liegen. Jenseits konkreter Rezeptionsbelege erweist Gracián sich als kongeniale theoretische Referenz, wenn es um die Frage geht, inwiefern die Geschmacksdebatte für eine Theorie sinnlicher Erkenntnis von Bedeutung sein kann. Denn sowohl Gracián als auch Baumgarten thematisieren das Verhältnis von Geschmack und Erkenntnis auf eine Weise, die auch für die Ordnung der bis dahin etablierten Disziplinen folgenreich ist. Statt einfach eine weitere Differenzierung des Geschmacksbegriffs vorzulegen, kommt in den jeweiligen Verhandlungen dieses Vermögens eine grundsätzlichere systematische Frage zum Ausdruck, deren Beantwortung eine neue Disziplin, eben jene Theorie der sinnlichen Erkenntnis, notwendig macht. Dabei wäre eine der Pointen dieser Geschichte, dass der in Baumgartens Aesthetica auszumachende Geschmacks­ begriff der Komplexität von Graciáns gusto wesentlich besser entspricht als seine für Frankreich und England so bestimmende moralistische Deutung. In Graciáns gusto nämlich ist mehr verhandelt als lediglich jene von Thomasius 1687 so genannten Grundregeln, wie »[v]ernünfftig/klug und artig zu leben« sei.9 Graciáns gusto ist in eine ebenso erkenntnistheoretische wie ästhe­tisch-praktische Reflexion eingelassen. Genau diese Doppelung ist auch für Baumgartens Projekt von Interesse.

geschichte eingehen, aber hier doch einige Eckdaten: Neben der zweifelsohne zentralen Rezep­ tions­linie, die über Thomasius verläuft, wäre noch die Übersetzung ins Lateinische von dem Frankfurter Rechtsgelehrten Adam Ebert zu erwähnen, der dem damals noch Kronprinzen Friedrich II. diese Handschrift widmet. Entgegen der Angaben von Valentin Rose enthält diese Übersetzung sämtliche Werke von Gracián bis auf die Agudeza. Rose führte die Agudeza an, verwechselt diese aber offenkundig mit dem Comulgatorio, wie ich durch einen Blick in die Handschrift bestätigen konnte. In jedem Falle ist Gracián speziell in Baumgartens Frankfurt/ Oder ein wohlbekannter Autor. 8 Vgl. hierzu und mit jeweils unterschiedlich ausfallenden Wertungen: Benedetto Croce: »I trat­t atisti italiani del concettismo e Baltasar Gracián«, in: ders.: Problemi di Estetica e contributi alla storia dell’estetica italiana, Bari 1940, 313 – 348; Klaus Heger: Baltasar Gracián: Estilo y doctrina, Zaragoza 1960; Jon M. Strolle: »Gracián and Gusto«, in: Kentucky Romance Quarterly 19 (1972), 485 – 500; Helmut C. Jacobs: Schönheit und Geschmack. Die Theorie der Künste in der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996; Ute Frackowiak: Der gute Geschmack. Studien zur Entwicklung des Geschmacksbegriffs, München 1994. 9 Vgl. hierzu: Christian Thomasius: Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen im gemeinen Leben und Wandel nachahmen solle? […] (1690), in: Deutsches Textarchiv ‹http://www.deutschestextarchiv.de/ thomasius_discours_1690/3›, dort: 0003: [1], abgerufen am 13. 09. 2015.

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2. Dass der gut 100 Jahre früher als Baumgarten schreibende Gracián der Begründer, ja der »Vater«10 der neuzeitlichen Geschmackstheorie ist, hat schon 1894 der Münchner Romanist Karl Borinski behauptet. In Baltasar Gracián und die Hoflitte­ ratur in Deutschland erklärt Borinski den spanischen Jesuiten zum eigentlichen Begründer jenes »neuen Gedankens, auf dem eine aufschlußreiche Wissenschaft, die Ästhe­tik, sich auf bauen sollte […]«,11 und richtet sich dabei explizit gegen seine »Vernachlässigung von seiten der deutschen Litteraturgeschichte«.12 Der neue Gedanke selbst besteht nach Borinski darin, den Geschmack als ästhe­t ische Kategorie etabliert zu haben. Diese sehr allgemeine Feststellung vermeidet es, die Etablierung jener »aufschlußreichen Wissenschaft« im Ausgang von Gracián als eine europäische Disziplin etwas konkreter nachzuzeichnen und belässt es bei der Andeutung, dass, wenn die Ästhe­t ik eine spätestens seit Kant sich explizit mit dem Geschmacksurteil begründende ästhe­t ischen Disziplin ist, jede Geschichte der Ästhe­t ik mit Gracián als einer der Schlüsselfiguren in der Geschmacksdebatte ansetzen müsste. Wollte man eine solche unterschiedliche Traditionen querende Rekonstruktion nachreichen, ist nicht die letztlich polemische Frage von Interesse, wer denn der wahre Begründer der neuzeitlichen Ästhe­tik sei, als vielmehr der systematische Zusammenhang, der sich Borinskis These über den Ursprung dieser Kategorie entnehmen lässt und der sich in einer vergleichenden Lektüre von Graciáns und Baumgartens Schriften paradigmatisch diskutieren lässt. Diesbezüglich liefert Borinskis Text – ob bewusst oder nicht, sei dahingestellt – interessante Hinweise: Der Geschmack, so Borinskis Lektüre von Graciáns gusto, wurde in seiner wesentlichen Qualität nicht in den Poetiken erfasst, sondern stellte eine »gesonderte Geistesfakultät«13 dar, die sich idealtypisch auf dem Markt beobachten lässt. Der Markt, fernab von »litterarischen Pronunciamentos eigenwilliger Dichter«14 und eigentlicher Sitz der menschlichen Praxis, wenn nicht des Lebens, erfordert die Gabe, ja das Glück (im doppelten Sinne) der rechten Wahl, die nur der Geschmack zu gewährleisten weiß. Diese Bestimmung ist voller Implikationen, die auch für die Aesthetica von Relevanz sind, und nicht zuletzt suggeriert sie, dass mit dem Geschmack sich auch das disziplinäre Gefüge verschiebt. Denn mit dem Geschmack Borinski: Baltasar Gracián und die Hoflitteratur, Halle 1894, 1. 39. 12 Hierzu nimmt Borinski gleich zu Beginn Bezug. Vgl. ebd., 1: »Kein Schriftsteller des viel vernachlässigten 17. Jahrhunderts ist von der Litteraturgeschichte [sic] zu größerem Nachteil bisher übersehen worden als der Vater der beiden wichtigsten Elemente der modernen Bildung, der Erkenntnis des Geschmacks und jener bewußten Praxis der Weltklugheit, die man im 17. Jahrhundert Politik nannte. Ein Art Unrecht ist diese Vernachlässigung von seiten der deutschen Litteraturgeschichte; denn sie verdankt Gracián zwei ihrer eigentümlichsten und wirkungsvollsten Geister: im 17. Jahrhundert Christian Thomasius und noch im 19. Jahrhundert Arthur Schopenhauer.« 13 Ebd., 41. 14 Ebd. 10 Karl

11 Ebd.,

Graciáns gusto345

ist eine wesentliche ästhe­tische Kategorie gerade nicht in den Poetiken erkannt worden. Als »gesonderte Geistesfakultät«, so Borinski weiter, ist das im Geschmack wirksame Urteils- und Erkenntnisvermögen im Sinne eines »iudicium commune«15 von einem im strengen Sinne logisch fundierten iudicium zu unterscheiden. Trotz seines Geheimnischarakters ist diese »gesonderte Geistesfakultät« im Sinne einer (Gesellschafts-)Lehre vielleicht nicht vollends formalisierbar, aber doch qua Übung entwicklungsfähig. Jene Lehre beschränkt sich dabei keineswegs auf den klugen Umgang, sondern gilt gar für »die Wahrheit selbst«, so dass eine ausschließlich über die ästhe­t ische Übung erfahrbare Wahrheit behauptet wird. Diese von der Logik zu unterscheidende Wissensform zielt insofern auf eine Art ästhe­t ischer Erkenntnis, als ihre Wahrheit den verständigen Umgang mit Erscheinungen meint und nicht im Sinne von Fülle oder begrifflicher Klarheit zu verstehen ist. Der Weltklugheit verbürgende Geschmack ist insofern auch von erkenntnistheoretischer Dignität. Denn es geht tatsächlich um ein sinnliches Erkennen und nicht bloß um eine praktische Fertigkeit, die abseits der Logik im strengen Sinne operiert. Diese erkenntnistheoretische Seite hat die Gracián-Rezeption immer dann vernachlässigt, wenn sie durch das äußerst populäre Handorakel motiviert den Geschmack auf die Handlungskunst beschränkt hat. Vor diesem Hintergrund ist es ein großes Verdienst Borinskis, das im Markt exemplifizierte (Urteils-)Vermögen des Geschmacks nicht nur auf den Moralisten Gracián zu beziehen, den insbesondere die wirkungsmächtige französische Rezeption des Handorakels gezeichnet hat. Jenseits dieses Handlungsparadigmas wird in Gracián ein ›Ästhe­t iker‹ sichtbar, und nur in dieser ästhe­tischen und erkenntnistheoretischen Dimension von Graciáns gusto wäre tatsächlich eine Vorgeschichte dessen auszumachen, was Baumgarten strukturanalog als Frage der sinnlichen Erkenntnis problematisiert. Baumgartens felix aestheticus jedenfalls dürfte ohne Graciáns gusto als zu kultivierender Gabe nur halb so glücklich sein. Nicht überraschend also finden sich so etwa im § 35 der Kollegschrift alle wesentlichen Aspekte wieder, die schon Borinski an Gracián ausgeführt hat: »Der schöne Geist muß eine gute natürliche Anlage zum guten Geschmack haben. Er wird zwar nicht immer deutlich wissen, warum eine Sache vollkommen ist. Allein, er wird sogleich sagen können: das ist schön. […] Dieser Geschmack ist ein Richter in den Sachen, wo der Verstand nichts entscheiden will. […] Wer eine Anlage zum guten Geschmack hat, wird immer darnach und nicht übel wählen.«16

Doch so offenkundig auch hier der Geschmack als eine Voraussetzung für eine gute Wahl und eine spezifisch sinnliche Erkenntnis des Schönen erscheint und so sehr sich in dieser Bestimmung des Geschmacks Gracián selbst (oder auch via Shaftesbury bzw. Boileau) zugegen ist: Es ist alles andere als evident, den Geschmack als 15 Ebd. 16

»Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 89 (§ 35).

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eine ästhe­tische Kategorie zu bestimmen. Insbesondere wer auf einen präzisen Geschmacksbegriff aus ist, wird schnell enttäuscht. Gracián hat den Begriff gusto in vielen unterschiedlichen Kontexten verwendet, aber keineswegs – zumindest auf den ersten Blick – systematisch als ästhe­tische Kategorie ausgearbeitet.17 Hinzu kommt, dass selbst mit einem von Gracián ausgehenden Geschmacksbegriff keine überraschende Einsicht gewonnen wäre, wenn damit lediglich die Behauptung einer sinnlichen, nicht-logischen Erkenntnisform begründet werden soll. Jener Allgemeinplatz im 17. und 18. Jahrhundert würde keine neue Perspektive auf Graciáns und Baumgartens Projekte eröffnen. Wenn also die Geschmacksfrage für die Ästhe­ tik eine Vorgeschichte darstellt, dann weniger im Sinne einer begrifflich präzisen und dann in die Ästhe­tik einfließenden Bestimmung des Geschmacks und seiner Leistungen. Das Entscheidende am Geschmack ist vielmehr, dass er ein sinnliches Erkenntnisvermögen verhandelt, dessen genauere Bestimmung eine grundsätzlichere Reflexion nach sich zieht. Genau darin sind Gracián und Baumgarten verwandte Denker und genau darin gehen sie wesentlich weiter als beispielsweise der Gracián-Leser Bouhours, der seine Anweisung, wie wohl zu denken sei, auf einen sehr engen Gegenstand beschränkt, und der nur für diesen beschränkten Bereich das ingeniöse Denken als eine Art Logik (die berühmte logique sans épines) definiert. Demgegenüber ist Graciáns zentraler ästhetiktheoretischer Begriff, das concepto, erklärtermaßen gattungsunspezifisch: »[E]s igual a la prosa y al verso«.18 Graciáns concepto verhandelt nicht nur stilistische Fragen, sondern wesentlich grundsätzlicher einen Akt des Denkens.19 Strukturanalog bezeichnet Baumgartens Begriff des Schönen Denkens eine Ästhe­t ik, die nicht nur Erscheinungen insgesamt, sondern primär die Rolles des Ästhetischen für das Denken befragt. Diese gemeinsame Sorge um das Denken zeigt sich exemplarisch an der expliziten Absetzung von der Schuldiesen Bestand hat aufmerksam gemacht: Knut Forssmann: Baltasar Gracián und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklärung, Barcelona 1977, 254 – 256. Ganz ähnlich kommentiert Strolle den Sachverhalt, vgl. hierzu: Strolle: »Gracián and gusto«, 486 f.: »Gusto is a word of ample semantic variety, which makes it a preferred tool for literary manipulation by an author such as Gracián and his prejudices for clever layerings of meaning in a conceptistic fashion. Some topics that involve gusto are represented by the following section: the place of the senses in moral epistemology […]; the relation of understanding judgement, reason, and other terms that deal with man’s discretionary abilities; appreciation and creation in art; the value of pleasure; prudence in determining models of social behavior; and the limits of freedom in moral and esthetic choice. Gracián binds all these topics to the notion of gusto that he either exploited or created.« 18 Baltasar Gracián: Agudeza y arte de ingenio (1648), in: ders.: Obras completas, ed. por Santos Alonso, Madrid 2011, 439. 19 Das hat insbesondere Serna dazu verführt, von einer konzeptistischen Philosophie bei Gracián zu sprechen. S. hierzu: Emilio Hidalgo-Serna: Das ingeniöse Denken bei Baltasar Gracián. Der ›concepto‹ und seine logische Funktion, Braunschweig 1995. Eine fundierte Kritik dieses Ansatzes formuliert Schulz-Buschhaus in seiner Rezension. Vgl. hierzu: Ulrich Schulz-Buschhaus: »Emilio Hidalgo-Serna: Das ingeniöse Denken bei Baltasar Gracián«, in: Das Rezensionswerk von Ulrich Schulte-Buschhaus. Eine Gesamtausgabe, hg. von Klaus Dieter Ertler und Werner Helmich, Tübingen 2005, 406 – 4 09. 17 Auf

Graciáns gusto347

rhetorik. Gracián und Baumgarten teilen die Überzeugung, das Wesentliche der sinnlichen Erkenntnis mit der Schulrhetorik nicht erfassen zu können.20 Inwiefern aber lässt sich jene folgenreiche Absetzung von der Schulrhetorik an der Kategorie des Geschmacks nachzeichnen? Das am Geschmack ausgemachte Vermögen ist schon deshalb für die Schulrhetorik problematisch, da in ihrem System kein eindeutiger Platz für dieses Vermögen auszumachen ist. Der Geschmack als ein umfassenderes Vermögen verkompliziert das Verhältnis von ingenium und iudicium bzw. von inventio und elocutio. Die rhetorischen Vermögen bzw. Verfahren gehen unter dem Geschmacksparadigma ein dermaßen enges und durchkreuztes Verhältnis ein, dass ihre schulrhetorische Strukturierung und Trennung nicht mehr zu überzeugen weiß. Im Zentrum steht dabei die (selbst alles andere als unrhetorische) Infragestellung der klaren Trennung von Erfindung und Urteil, von Darstellen und Verstehen, von Sinnlichkeit und Erkenntnis und von kreativen und methodischen Aspekten. Vor diesem Hintergrund markieren sowohl Graciáns gusto wie auch Baumgartens Begriff des Geschmackvollen nicht einfach die begriffliche Fortsetzung einer Tradition, sondern markieren zugleich eine Leerstelle im System der tradierten Disziplinen. Die Bedeutung des Geschmacks liegt weniger in der geschmackvollen Darstellung selbst als in der Markierung einer besonderen Denkarbeit. Wie genau setzt sich Gracián nun von der Rhetorik ab und wie begründet er diese Denkarbeit? In der 1648 in ihrer endgültigen Fassung erschienenen Agudeza y arte de ingenio bekräftigt Gracián (wie schon in der ersten Fassung von 1642) gleich im Vorwort die Unzuständigkeit der Rhetorik.21 An deren Stelle setzt Gracián in seiner Agudeza eine flammende Theorie (»teórica flamante«) zu jenem Vermögen, das als eine besondere Form sinnlicher Erkenntnis sich paradigmatisch in den conceptos anzeigt: das ingenium.22 Um dem ingenium, das Gracián zufolge in der Schulrhetorik allenfalls eine Stiefmutter vorfinden konnte, seine volle Valenz im Sinne einer Geistesgabe zu verleihen, ist dessen schulrhetorisches Verständnis zu korrigieren. Denn das ingenium benennt nicht einfach nur eine natürliche Begabung, sondern entsprechend ausgebildet auch ein Erkenntnisvermögen.23 Die in der 20 Das

jedoch hindert beide mitnichten daran, weiterhin auf das System der Rhetorik – und zwar sowohl auf begrifflicher wie auch auf konzeptioneller Ebene – Bezug zu nehmen. In Bezug auf Gracián formuliert vermutlich erstmals Curtius diese klare Absage. Vgl. hierzu: Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen 1993, 301: »Die Originalität Graciáns besteht nun aber gerade darin, daß er als erster und einziger das System der antiken Rhetorik für ungenügend erklärt und es durch eine neue Disziplin ergänzt hat, für die er systematische Geltung in Anspruch nimmt.« Curtius erkennt dabei vollkommen zutreffend, dass Gracián dabei stets von der rhetorischen Begrifflichkeit ausgeht, also nicht schlechthin die Rhetorik für ungenügend erklärt. 21 Dass Baumgarten diese Schrift nicht nachweislich gekannt hat, aber zumindest hätte kennen können, ist hier nicht weiter von Relevanz – es geht um den konzeptionellen Zusammenhang. 22 Gracián: Agudeza, 436. 23 Wenig später wird auch Vico für einen anderen als schulrhetorischen Begriff von ingenium plädieren. Dabei legt er eine Umschreibung vor, die von Gracián hier in seinen wesentlichen

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Rhetorik beschriebenen Figuren und Tropen können für jenes Vermögen allenfalls Mittel oder Schmuck, nicht jedoch die Sache selbst sein.24 Im ersten Diskurs kommt Gracián auf jene unbefriedigende Ausgangslage erneut zu sprechen und präzisiert die schulrhetorische Verkennung des ingenium: Auch wenn die Alten für die Methode bzw. die Logik den Syllogismus und für die Redekunst die Eloquenz entwickelt haben, so haben sie es versäumt, in der agudeza (der Geistesschärfe) ein besonderes Erkenntnismoment zu konstatieren. So wurde die auch mit einer Erkenntnisleistung einhergehende Darstellung zwar im Sinne einer Begabung bewundert, aber nicht weiter beobachtet, geschweige denn reflektiert oder definiert. Die Schulrhetorik ist damit implizit umschrieben als eine Lehre, die über keine eigene erkenntnistheoretische Grundlage verfügt und somit nicht über die Frage gelangt, wie und in welchem Maße Rhetorik sich zur logisch-objektiven Wahrheit verhält bzw. einem Schönheitsbegriff verpflichtet ist, der keine erkenntnistheore­ tische Relevanz hat. Dass die conceptos als ausgezeichnete Ergebnisse dieses Vermögen auf eine Wissenschaft (arte) verweisen, erfordert eine auch erkenntnistheoretische Begründung von Schönheit. Wenn nämlich das Erkennen von Schönheit selbst schon einen Erkenntnisakt darstellt, dann hat Schönheit mehr als bloße Vermittlungsarbeit zu leisten. Genau dies kommt zum Ausdruck, wenn Gracián das concepto als einen immer nur konkret sich ereignenden Verstehensakt (acto de entidimiento) definiert, der eine zwischen den Objekten bestehende Korrespondenz erkennen lässt. Als erkenntnisfördernde Darstellungen sind die conceptos deshalb weniger Kinder einer (lediglich auf Begabung verweisenden) Kunstfertigkeit (artificio) als vielmehr Kinder einer Anstrengung des Denkens (»hijos más del esfuerzo de la mente«),25 ohne deshalb mit einer im engen Sinne verstandesgemäßen Lehre (magisterio) zusammenzufallen. Ein vom concepto her entworfener Schönheitsbegriff – das concepto gibt sich nicht nur mit der Wahrheit zufrieden, sondern drängt auf Schönheit 26 – präzisiert das relationale Moment sinnlicher Erkenntnis: Als Beziehung zwischen den Objekten ist Schönheit weder eine Vorstufe propositionaler Aussagen noch lässt sie sich mit dem rhetorischen aptum bzw. mit der Funktion der Zierde verrechnen. Diesen grundsätzlich erkenntnistheoretischen Einsatz seiner Theorie zum ingenium unterstreicht Gracián in seiner daran anschließenden Systematik des Wissens. Im zweiten Diskurs definiert Gracián das verstandesgemäße Verstehen als das an erster (oder, um es mit Baumgartens Worten zu sagen: an oberster) Stelle stehende Vermögen des Menschen (»primera y principal potencia«).27 Dieses hat seine Regeln wie die Rhetorik ihre Figuren und beide sind darin einer Logik der Mittel Aspekten schon vorgezeichnet ist. Vgl. hierzu: Thomas Gilbhard: Vicos Denkbild: Studien zur ›Dipintura‹ der Scienza Nuova und der Lehre vom Ingenium, Berlin 2012. 24 Gracián: Agudeza, 436. 25 Ebd., 437. 26 Gracián: Agudeza, 442: »No se contenta el ingenio con sola la verdad, como el juizio, sino que aspira a la hermosura.« 27 Ebd.

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und Effizienz verpflichtet. Davon unterscheidet Gracián für die Lehre der conceptos eine andere, nicht auf Mittel, sondern auf Schönheit (hermosura) ausgerichtete Argumentationslogik.28 Diese der agudeza unterstellte und in den conceptos wirksame Argumentationslogik (die als eine Form des schönen Denkens sicher treffend übersetzt und umschrieben ist) spannt den Begriff der Schönheit für diese andere Logik mithilfe der Negativdefinition ein, wonach Schönheit dasjenige ist, was sich nicht in eine Logik der bloßen Mittel überführen lässt.29 Die Annahme zweier verschiedener Erkenntnisvermögen, -verfahren und ­-gegen­stände30 bedeutet für Gracián keineswegs, dass diese Erkenntnisformen einfach isoliert nebeneinanderstehen. Die agudeza, möchte sie nicht ein Vermögen außerhalb der Rationalität sein, muss das logische Erkenntnisvermögen voraussetzen und darf es nicht grundsätzlich negieren. Nur dann lässt sich für Gracián sowohl gegen eine exkludierende Trennung von Erkenntnis und Sinnlichkeit argumentieren als auch gegen ein Verständnis von Schönheit als sinnlicher Vermittlung von Wahrheitssätzen. Sofern jedoch in den conceptos eine nicht primär und exklusiv logische, sondern zugleich eine sinnlich vermittelte Erkenntnis eines immer auch konkreten Zusammenhangs befördert wird, artikuliert sich in den konzeptistischen Verfahren – zumindest in Bezug auf den Menschen – zwar nicht das erste und grundlegende, wohl aber das höchste und wertvollste aller Erkenntnisvermögen. Diese von Gracián häufig als sublim(e) bezeichnete Schönheit der conceptos ist insofern »el superlativo de todos«,31 als der Mensch nie vollends unsinnlich bzw. vollkommen unbedingt sein kann. Im concepto muss zudem schon deshalb mehr als die Einsicht ins formal Richtige sich vollziehen, da das concepto abseits der begrenzenden Absicherung der reinen Verstandesverfahren operiert und somit eine Erkenntnis ermöglicht, die potentiell auf alle für den Menschen relevanten Gegenstände zutrifft. Das concepto erweist sich als ein Ausweg aus der Enge der im strengen Sinne logischen Erkenntnis, die ja die Geistesschärfe zur uneingeschränkten Deutlichkeit (perspicacia) verpflichtet. Die kunstvoll kultivierte Geistesschärfe (agudeza de artificio)32 hingegen 28 Dass Schönheit etwas ist, was nicht in die Logik der Mittel überführt werden kann, ist eine für die Ästhe­t ik folgenreiche Bestimmung, die noch in Adornos Ästhetischer Theorie auszumachen ist. 29 Vgl. Gracián: Agudeza, 675: »Tiene también la agudeza sus argumentos; que si en los dialécticos y retóricos reyna la eficacia, en éstos la hermosura.« 30 Diese hat, zumindest andeutungsweise, schon Don Paul Abbott festgehalten, vgl. hierzu: Ders.: »Baltasar Graciáns Agudeza: The Integration of Inventio and Elocutio«, in: Western Journal of Speech Communication 50 (1986), 133 – 143, hier: 139: »Gracián is, therefore, proposing to instruct the imagination in a manner somewhat analogous to the way in which syllogizing instructs the understanding.« 31 Gracián: Agudeza, 442. 32 Diese agudeza de artificio ist nicht zu verwechseln mit dem weiter oben genannten und ohne weitere Bestimmung auftauchenden artificio, das in Bezug auf die Rhetorik ja reine Kunstfertigkeit, also eine Art savoir-faire umschrieben hat. Damit ist keineswegs unterstellt, dass in den conceptos keine Kunstfertigkeit am Werke ist, sondern lediglich betont, dass sie darauf nicht zu reduzieren sind.

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ist nicht auf diesen Bereich der Deutlichkeit beschränkt. Wie ein irrender Stern hat sie keinen festen Wohnsitz, sondern zeigt sich immer nur blitzhaft in konkreten und das meint: nie restlos deutlichen Konstellationen.33 Nicht nur ist damit ein Wahrheitsbegriff jenseits begrifflicher Klarheit entworfen, sondern auch das Problem der Unwahrheit für jene Situationen behauptet, in denen Erscheinungen auf ihre Relationen und nicht nur auf ihren Aussagecharakter hin befragt werden. Die Sprachlichkeit des concepto ist deshalb weder eine stilistische Frage noch eine medienästhe­tische Einengung, sondern möchte das in ihnen wirksame Erkennen und Denken spezifizieren.34 3. Graciáns Grundunterscheidung von agudeza de perspicacia und agudeza de artificio findet sich bei Baumgarten in entsprechender Begrifflichkeit im § 640 der Metaphysica. Dort unterscheidet Baumgarten zwischen der klaren Durchdringung (»perspicientem«) der Vernunft einerseits und jenem unteren bzw. sinnlichen Erkenntnisvermögen, das in sieben Untervermögen unterteilt wird, wobei als Vermögen im engeren Sinne vor allem drei Eigenschaften gelten: das (an Graciáns konzeptistisch entworfenen ingenio gemahnende) ingenium sensitivum, die (an Graciáns agudeza erinnernde) sinnliche Scharfsinnigkeit – das acumen sensitivum – sowie das (Graciáns gusto entsprechende) sinnliche Urteilsvermögen, das iudicium sensitivum. Das schon in diesem Paragraphen als Analogen der Vernunft bezeichnete untere Erkenntnisvermögen erfährt in der Aesthetica seine theoretische Ausarbeitung, wobei hier eine weitere bedeutsame Strukturanalogie auffällt: Auch in der Aesthetica, die sich des ingenium sensitivum annimmt, erfolgt eine Absetzung von der Schulrhetorik, und auch hier begründet sich die Absetzung im Sinne einer erkenntnistheoretischen Wende, die das Wissen der Rhetorik neu aufspannt. Im § 5 der Vorbemerkungen der Aesthetica geht Baumgarten, nachdem er zuvor die Ästhe­tik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis beschrieben und ihren Nutzen dargelegt hat, auf mögliche Einwände gegen sein Vorhaben ein. Gleich nach dem sehr globalen Vorwurf, ein zu ambitio­n iertes (weil, wie schon Graciáns Sternenmetapher es nahelegt, im Grunde nicht zu begrenzendes) Projekt zu entwerfen, lautet der erste und konkrete disziplintheo­retische Einwand, dass die Ästhe­tik »ein und dasselbe sei mit der Rhetorik und Poetik«.35 Dagegen führt Baumgarten an, dass die Ästhe­t ik sich weiter erstreckt, also umfassender ist, und dass die Frage der sinnlichen Erkenntnis und des Schönen im von Schulrhetorik und Normpoetik vorgezeichneten Rahmen allenfalls ›stiefmütterlich‹ behandelt werden kann. Demgegenüber erweist sich Gracián: Agudeza, 445: »[…] como estrella errante, no tiene casa fija.« Diesbezüglich ist von Interesse, dass die agudeza für Gracián prinzipiell auch in Handlungen vollzogen werden kann. 35 Aesth. § 5. Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007. 33 Vgl. 34

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die Weite der Ästhe­tik, eine Weite, die man auch eine Grundsätzlichkeit nennen könnte, als eine unverzichtbare Qualität jener neuen ästhe­t ischen Disziplin, um der ja nicht minder weitreichenden Frage nach der sinnlichen Erkenntnis gerecht werden zu können. Nur so vermag die Ästhe­t ik für die vielen Einzelkünste von Relevanz sein, sofern letztere, stets an ihre konkreten Gegenstände gebunden, in ihrer Enge jene Frage nicht aus sich selbst heraus beantworten können. Noch expliziter ist Baumgarten diesbezüglich in seiner Kollegsschrift, wenn er die gegenstandbezogene Reflexion (der Einzelkünste) als Kritik und die grundsätzliche Reflexion der Ästhe­t ik als Theorie bezeichnet. Hier kündigt sich ein Diskurs von Theorie an, der schon in jener flammenden Theorie Graciáns zum ingenium vorgezeichnet ist.36 Sowohl Graciáns concepto als auch Baumgartens Schönes Denken sind demnach als theoretische Grundlegung für alle expressiven und ästhe­tischen Tätigkeiten des Menschen entworfen und beschreiben dabei ein Vermögen, das wohlentwickelt dem Menschen insgesamt in seiner Lebensführung zugutekommt. Als Theorien wiederum richten sich diese Entwürfe sowohl gegen die Abwertung der Künste als rein praktischer, wie auch gegen jedwede Irrationalitätsästhetik im Sinne eines je ne sais quoi, wie auch gegen eine restlose Überführung des Sinnlichen in den Bereich der Vernunft. Theorie in diesem engen Sinne ist fortan der Bereich, in dem sich jenes andere Erkenntnisvermögen zu behaupten hat. Graciáns gusto ist hier insofern als eine Vorgeschichte der ästhe­t ischen Theorie lesbar, als dieser Theorie unter anderem aufgetragen ist, jene am Geschmack verhandelten Vermögen wie den Scharfsinn oder das sinnliche Urteilsvermögen im Rahmen einer Theorie zu integrieren und erkenntnistheoretisch zu explizieren. Die Bedeutung von Graciáns gusto liegt also weniger in der Etablierung einer ästhe­t ischen Kategorie (wie Borinski es vermutet hat) als vielmehr darin, die Geschmacksfrage auf ein Niveau gebracht zu haben, die eine theoretische Reflexion sinnlicher Erkenntnis nach sich zieht. Zumindest drei zentrale Argumentationslinien dieser theoretischen Reflexion – die Frage der Verortung, die Frage des Urteils und die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis – verweisen prominent auf die Geschmacksdebatte, sodass der Geschmack zugleich Bedingung wie auch Evidenz für den Bedarf an einer solchen Theorie ist. Die Frage nach der Verortung des Geschmacks ist zumindest in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zunächst ist damit gemeint, dass Geschmack immer auch naturgegebene Anlage ist. Es sind zahlreiche Stellen, in denen Gracián und Baumgarten den Geschmack auf eine auszubildende Anlage zurückführen.37 So unspektakulär dieser Aspekt erscheinen mag, ist er gleich in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Erstens ist damit die Unterteilung der Ästhe­t ik in eine natürliche und theoretische 36 Vgl.

hierzu: »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, 76 (§ 5): »Die Ästhe­t ik geht viel weiter als die Rhetorik und Poetik und ist also nicht mir ihr einerlei. Wenn ich eine Schrift oder ein Gemälde oder eine Musik nach Deutlichkeit beurteilen will, so muß eine Theorie da sein; diese Theorie ist aber niemals die Kritik selbst, ob ich sie gleich hernach zur Kritik anwenden kann.« 37 Vgl. hierzu etwa den § 35 der Aesthetica oder die weiter oben zitierte Stelle in der Kollegnachschrift.

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vorbereitet und dabei auch ein ganz bestimmtes Verhältnis von natürlicher Anlage und theoretischer Vollendung, von gelungener Praxis und philosophischem Wissen vorgeprägt. Zweitens ist hier ein eigener sinnlicher Ausgangspunkt der ästhe­ tischen Reflexion behauptet, der sich nicht restlos in eine formale Lehre bringen lässt, aber dennoch eine Lehre zur Folge hat. Der Geschmack nämlich ermöglicht ein Urteil und allgemeiner: eine Erkenntnisform, die zwar wahrnehmbar ist, aber nicht vollkommen zu formalisieren ist.38 Der von Baumgarten in der Meta­phy­sik so genannte »Geschmack in weiterer Bedeutung« 39 fungiert als eine Instanz, die zwar in der konkreten Sinneswahrnehmung und dem spontanen, mitunter persönlichen Urteil angelegt ist, aber genau dann darüber hinausgeht, sobald der ausgebildete Geschmack in seinem Geschmacksurteil eine ›ästhe­tische Wahrheit‹ zu verhandeln hat. Die Frage der Verortung betrifft zudem die Weitläufigkeit des Geschmacks – also etwas, das man speziell Graciáns gusto-Begriff vorgeworfen hat. Diese Weite ist nicht Zeichen eines unsystematischen Denkens, denn sie hat konzeptionellsystematische Gründe, die auch für die Weitläufigkeit der concepto-Lehre wie auch der Ästhe­t ik bestimmend sind. Gerade weil der Geschmack ein Vermögen ist, das keinen bestimmten Gegenstand privilegiert, kann er überall wirksam sein. Die ästhetiktheoretische Bedeutung dieses Aspekts liegt darin, die Frage ästhe­tischer Kategorien (wie etwa das Schöne) auf ein Erkenntnisvermögen zu beziehen und somit auf ein Urteil, das stets mehr verhandelt als eine bestimmte Qualität eines konkreten Gegenstandes. Der Geschmack wird so zur Evidenz für ein Vermögen, welches das Erkennen von Schönheit mit einer besonderen Denkleistung verbindet und so die Rede von einer ästhe­tischen Wahrheit, die über ein im engen, sprich: bloß kritischen, Sinne verstandenes ästhe­tisches Urteil hinausgeht, erst begründet. Nicht von ungefähr spricht Baumgarten in der Aesthetica im Abschnitt 27 zur ästhe­t ischen Wahrheit von einem – so in der Übersetzung von Dagmar Mirbach – ­geschmackvollen Denken (›geschmackvoll zu denken‹: eleganter cogitandis). Anders als im Falle des praktischen Wissens der Einzelkünste wird die Frage des Ästhetischen in dieser Theorie nicht in Bezug auf einen konkreten Gegenstand problematisiert, so wie auch der Geschmack sich nicht auf einen bestimmten Gegenstand beschränken lässt. Oder genauer: Am Geschmack lässt sich unmittelbar darlegen, inwiefern die Ästhe­t ik bzw. die Lehre der conceptos einen unbestimmten, weil so weitläufigen und heterogenen Bereich abzudecken hat, der allenfalls von der Minimaldefinition zusammengehalten wird, die Fähigkeit und Möglichkeit eines Urteils über Dinge zu betreffen, die zwar sinnlich, aber nicht restlos deutlich erkannt werden. Der Geschmack als richtende Urteilsinstanz, die mit Erscheinungen zu tun hat, ist somit mitnichten auf Kunstwerke beschränkt. Auch wenn der ›Geschmack im 38 Vgl. Gracián: Agudeza, 440: »Es este ser uno de aquellos que son más conocidas a bulto, y menos a precisión; déjase percibir, no definir […].« 39 Met. § 607. Hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica/Meta­phy­sik, Hist.-krit. Ausgabe, übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011.

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weiteren Sinne‹ idealiter Gegenstände der Kunst beurteilt, so wird sein Urteil nicht als Kritik spezifisch, sondern dadurch, dass es den Wert einer Sache in einer bestimmten Situation erkennt und in diesem Erkennen mehr ist als bloße situative Wertung.40 Gracián stellt in seiner Schrift El Héroe diese gleichermaßen erkenntnispraktische und -theoretische Bedeutung des Geschmackurteils heraus. Sofern der Mensch unter nie vollends deutlichen Bedingungen erkennen muss, ist der Geschmack die Instanz, die in konkreten Erkenntnissituationen die Urteilsfindung steuert.41 Der Fokus des Geschmacksurteils ist also nicht primär auf die Urteilsbegründung oder das Verfahren selbst gerichtet – juicio und ingenio werden ja als Verfahren bestätigt –, sondern auf die Erkenntnissituation. Für Gracián tariert der Geschmack das Verhältnis zwischen logischem und intuitiv-ästhe­t ischem Urteil aus, sofern ein wohlausgebildeter Geschmack in seinem Urteil den Anspruch eines zutreffenden und wahren Urteils in den Bereich der Schönheit bringt, ohne deshalb die Schönheit auf reine Veranschaulichung zu reduzieren. Das auf Schönheit zielende ingenium ist als geschmackvolles auch ein sublimes und somit einem Wahrheitsanspruch verpflichtet wie umgekehrt der gute Geschmack Anzeichen jenes ›ingenio sublime‹ ist. So notiert Gracián in El Héroe: »Ingenio sublime nunca crió gusto ratero«.42 Diese am Geschmack erfolgende Abkehr vom Urteilsgegenstand hin zu einem Urteilsvermögen bzw. einer Urteilskompetenz einerseits und die dem Geschmack zugeschriebene Vermittlungsfunktion zwischen konkreten (also: konkret-sinnlichen) und allgemeinen (also: theoretisch-logischen) Urteilsverfahren findet sich bei Baumgarten in der Diskussion des iudicium im § 606 seiner Meta­phy­sik. Dort unterscheidet er ein praktisches, theoretisches und durchdringendes Urteilsvermögen und kommentiert im Weiteren dann vor allem den als sinnliches Urteilsvermögen bezeichneten Geschmack. Wenn man nun das lediglich auf eine konkrete Situation reduzierte Urteilsvermögen mit dem praktischen und das theoretische43 mit einem 40 Hier

klingt schon deutlich Kants Bestimmung des Geschmacksurteils an, sofern es als ein besonderes ohne ein Allgemeines bestimmt wird. Es ist bekannt, dass Kant seine dritte Kritik auch die Kritik des Geschmacksurteils betiteln wollte. Vgl. hierzu: Henry E. Alison: Kant’s Theory of Taste, Cambridge 2001. 41 Vgl. hierzu Baltasar Gracián: El Héroe (1637), in: ders.: Obras completas, 77: »Es el juicio trono de la prudencia, es el ingenio esfera de la agudeza; cúya eminencia y cúya mediandía deba preferirse, es pleito ante el tribunal del gusto.« 42 Ebd., 80. Meine Übersetzung: »Niemals hat ein sublimes ingenium einen schäbigen Geschmack geboren.« 43 Hier scheint sich in Bezug zu weiter oben eine begriffliche Inkohärenz anzuzeigen. Wenn ich weiter oben den Begriff der Theorie so sehr betont habe, könnte man meinen, hier ein Gegenargument für die Annahme zu finden, wonach Ästhe­t ik in einem emphatischen Sinne Theo­ rie ist (und eben nicht einfach Kritik). Dieser Einwand relativiert sich etwas, wenn man bedenkt, dass die Pointe ja gerade darin besteht, Sinnlichkeit ernsthaft mit Erkenntnisleistung auszustatten. Vor diesem Hintergrund scheint es plausibel, die dem theoretischen Urteilsvermögen unterstellte Transferleistung (es betrifft Dinge, die nicht unmittelbar vorhanden sind) auch dem sinnlichen Erkenntnisvermögen zu unterstellen. Das beträfe insbesondere den Begriff der allgemeinen Schönheit, der ja ein höchst theoretischer und gerade nicht praktischer bzw. konkreter

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geistigen Urteil gleichsetzt, das auf keine konkrete Situa­t ion angewiesen ist, dann bleibt ein störrischer Rest: Welchem Vermögen ist das durchdringende Urteil zuzuordnen? Ich meine, dass dieses Urteil das Geschmacksurteil ist und zwar nicht das Geschmacksurteil im praktisch-konkreten oder subjektiven Sinne, sondern das theoretisch relevante Geschmacksurteil, sofern es einen »Geschmack in weiterer Bedeutung«44 verbürgt. Dass im durchdringenden Urteil notwendigerweise ein zumindest teilweise sinnliches Urteil vorliegen muss, unterstreicht die Tatsache, wonach das durchdringende Urteil erfolgen kann, obwohl die Dinge nur dunkel wahrgenommen sind, und das meint in Baumgartens Begrifflichkeit: außerhalb des Bereichs der streng logischen Vernunft, die ja das unverzichtbare Primat der vollkommenen Klarheit voraussetzt und deshalb für jenes Konkrete, das zugleich mehr impliziert als das bloß Konkrete, nur eingeschränkt brauchbar ist. Was die Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis betrifft, ist zweifelsohne die rhetorische Übung das etablierte Beispiel für eine Vermittlung zwischen der praktischen und theoretischen Dimension. Paradigmatisch ist die Übung auch insofern, als in ihr die praktische und theoretische Ebene sich untrennbar gegenseitig durchdringen; der Geschmack ist nicht umsonst der Sinn, der zugleich physiologisch und psychologisch ist. In diesem Sinne präfiguriert der Geschmack die These einer sinnlichen Erkenntnis auf geradezu exemplarische Weise – und zwar nicht nur, was die Annahme einer solchen Erkenntnis betrifft, sondern auch, was den Diskurs von Theorie selbst betrifft. Denn wenn das im Geschmack wirksame Wissen, Erkennen und Urteilen nicht restlos formalisiert werden kann, so bedeutet das für die Theorie, dass sie nicht einfach nur Theorie sein kann. Eine im Geschmack ihre Evidenz und Wirksamkeit findende Theorie der schönen Erkenntnis muss sich an dem messen lassen, was sie zur Ausbildung der guten Anlagen beiträgt. Sowohl Graciáns ›hombre en su punto‹ als auch Baumgartens felix aestheticus verraten, wie sehr die Ästhe­t ik nicht nur theoretische, sondern auch praktische Begründungen, Ansprüche und Ursprünge enthält.45 Hier zeigt sich, dass die Absetzung von der Rhetorik die Schulrhetorik meint und nicht eine Abwertung des rhetorischen Wissens selbst. Da Geschmack aller Theorie zum Trotz auch der Übung und Bildung bedarf, wird er zudem zu jener Kompetenz, in der sich ein Wissen der Tradition noch am effektivsten gegen den neuen Empirismus und Rationalismus zu behaupten weiß. Wenn einerseits der Geschmack die Instanz ist, die sinnlich Vollkommenes wahrnehmen kann, und wenn andererseits die Ästhe­t ik – so heißt es in dem die Aesthetica eröffnenden § 14 – ­i hren Zweck darin hat, die sinnliche Wahrnehmung zu vervollkommnen, dann ist ein aktives Verhalten gefordert, das nicht museale Bewahrung meinen kann. Der Geschmack verhindert, dass Bildung lediglich leblose Gelehrigkeit, totes Zitat anBegriff ist. So darf man sagen: Auch wenn das konkrete Urteil immer auch ein sinnliches ist, bedeutet dies noch lange nicht, dass theoretische Urteile lediglich logische Urteile sind. 44 Met. § 608. 45 Vgl. hierzu ebenfalls Met. § 608, wo explizit auf das vorschnelle Urteil Bezug genommen wird, also dasjenige Geschmacksurteil, das nicht ausreichend Übung erfahren hat.

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tiker Modelle wird. Das Geschmackvolle macht das Wissen lebendig – so eine bei beiden Denkern oft anzutreffende Metaphorik (und auch deren Gegenteil: das ›leblose‹ Wissen). Die Lebendigkeit der schönen Erkenntnis, die Baumgarten im § 22 der Aesthetica fordert, und die der conceptos46 hat ganz entscheidend mit dem Geschmack als belebender Kraft zu tun, gerade weil er nicht abstrakt oder formelhaft, sondern immer nur konkret und in immer veränderten Konstellationen sich artikuliert. Das jedoch sollte nicht dazu verführen, Übung und Theorie zusammenfallen zu lassen. Diese Kluft hat insofern mit der Verortung des Geschmacksproblems zu tun, als (und anders als im Falle der Schulrhetorik) die Übung des Geschmacks nicht an einem mehr oder minder vorgeschriebenen Gegenstand (wie der Rede) erfolgt, sondern prinzipiell an allen Erscheinungen erfolgen kann. Nur folgerichtig hat eine vom Geschmack ausgehende Theorie wesentlich breiter und grundsätzlicher anzusetzen als die stets gegenstandsbezogene Übung der Rhetorik. Wenn sowohl Gracián als auch Baumgarten den Geschmack nicht einfach als ein Talent bzw. eine Naturgabe begreifen, die ohne Übung auskommen könnte, dann zeigt sich darin mehr, als dass beide gewissenhafte Horaz- und Quintilian-Leser waren. Gerade die Absetzung von der Schulrhetorik macht es notwendig, die Übung mit einer weiteren, hiervon deutlich abgesetzten theoretischen Ebene zu konfrontieren – andernfalls wäre über den Geschmack lediglich in moralistischer Verengung zu denken und just auf jenen grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Einsatz verzichtet, um den es beiden geht. Der Geschmack als Gegenstand einer (Erkenntnis-) Theorie verlangt es, auch über die in der Renaissance so dominierende Lehre der imitatio und aemulatio hinauszugehen. Dass diese Theorie mehr leisten soll als einen Kanon gelungener Beispiele zu affirmieren, bedeutet nicht, dass sie auf diesen Aspekt verzichten möchte. Wie sehr sie darin der rhetorischen Übung zutiefst verwandt ist und sich hierin von moderneren Ästhe­tiken unterscheidet, belegen die vielen, sowohl in Graciáns Agudeza wie auch in Baumgartens Aesthetica anzutreffenden Zitate. Doch es geht darum, was diese Theorie darüber hinaus zu leisten vermag, nämlich eine systematische und erkenntnistheoretische Fundierung dieses Vermögens, die nicht nur mit der Etablierung eines Kanons zu leisten ist. Nur folgerichtig ist der Geschmack der (ästhe­tischen) Theorie einem grundsätzlich erkenntnistheoretischen Begriff von ingenium verpflichtet. Wenn die barocke Fassung des Geschmacksproblems das oftmals neoplatonisch eingespannte Schönheits-Paradigma der Renaissance revidiert, dann geschieht dies im Namen einer umfassenden Erkenntnistheorie. Im Barock wird Schönheit theoretisch; dementsprechend ist in der Erkenntnis des Schönen eine auch theoretisch unterfütterte Urteilsinstanz wirksam, die mehr ist als bloß 46 Vgl. Gracián: Agudeza, 439: »Hállanse gustos felices, tan cebados en la delicadeza, tan hechos en la delicadeza, tan hechos a las delicias del concepto, que no pasan otro que sutilezas. Son cuerpos vivos sus obras, con algma conceptuosa, que los otros son cadáveres que yacen en sepulcros de polvo, comidos de polilla.«

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eine Erfahrung von Schönheit bzw. eine Teilhabe an etwas mittels Schönheit. Dass der Geschmack urteilt, erhält dank Theorie eine systematische Bedeutung, System und Theorie in einen nunmehr wechselseitigen Zusammenhang stellend. Die systematisch begründete Behauptung des Geschmacks als eigener Urteilsinstanz, die in ihrer Leistung weder durch das logische (bzw. bei Gracián strukturanalog: die prudencia) bzw. das genuin natürliche (bzw. das schulrhetorische ingenium) Urteil eingeholt werden kann, setzt Theorie voraus und nur deshalb ist der durchdringend urteilende und erkennende Geschmack – anders als Logik und ein auf Begabung reduzierter Begriff von ingenium – stets mehr und anderes als ein lediglich konkretes bzw. subjektives Urteilen wie es die ungebildete Begabung ermöglicht bzw. eine lediglich logische Argumentation, die der Sinnlichkeit nicht bedarf. Wie sehr hier auch ein von der Geschmacksdebatte geerbter Aspekt hereinspielt, zeigt sich daran, dass für eine Theorie der sinnlichen Erkenntnis die schöne Erscheinung nur Schauplatz einer besonderen, sinnlich verfahrenden Reflexion ist und nicht der Gegenstand selbst. Genau hierin besteht schon vor Kant die Bedeutung des Geschmacksurteils; es destabilisiert im Namen einer Theorie die Trennung des Konkreten vom Allgemeinen, des Sinnlichen vom Denken. Dass beide einen bloß intuitiven bzw. subjektiven Geschmacksbegriff zurückweisen, ergibt sich notwendigerweise aus der gemeinsamen Grundintention. Bei Gracián expliziert sich der theoretische und überindividuelle Anspruch des Geschmacks in der Empfehlung, nicht nur dem eigenen Geschmack zu folgen, sondern einem äußeren und universalen Geschmack (»gusto ajeno universal«), also einer theoretischen Abstraktion.47 Dass der »Geschmack im weiteren Sinne« nicht ausschließlich einen Geschmack im übertragenen Sinne, sondern auch einen überindividuellen Geschmack meint, verdeutlicht Baumgarten wiederum in seiner Kollegsschrift und zwar just nach jener Stelle, in der auch die Absetzung von der Rhetorik erfolgt.48 Auch mittels Geschmack kann deutlich erkannt werden (wenn auch nicht im Sinne von logischer Deutlichkeit). Dies gelingt jedoch nur, wenn über die persönliche Präferenz hinaus auch ein Moment der Wahrheit sich einstellt. Das theoretisch fundierte Geschmacksurteil geht über bloß persönliche Beurteilung hinaus. Das Moment der Wahrheit macht schließlich explizit, wie wenig der universale Geschmack Graciáns bzw. Baumgartens ästhe­tische Wahrheit als intersubjektive Übereinkunft zu begreifen sind. Geschmack ist hier nicht in eine soziale Funktion eingespannt, sondern Garant für die Anteilhabe an einer noch nicht im Kant’schen

Vgl. Gracián: El discreto, 299: »[…] atiendan todos al gusto ajeno universal, que es la norma del eligir, y tal vez se ha de preferir al crítico y singular, o propio o extraño.« Auch das Lob der Übung und der ›erudición‹ darf in diesem Kontext gelesen werden. 48 Vgl. »Kollegnachschrift über die Ästhe­ t ik«, 76 (§ 5): »Wann ich beurteile, darf ich nicht bloß nach meinem Geschmack, sondern muß nach Deutlichkeit urteilen. Die Ästhe­t ik geht viel weiter als die Kritik, und sie kann zu mehreren Dingen als zum Beurteilen nur allein gebraucht werden.« 47

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Sinne zu verstehenden transzendentalen Wahrheit.49 Nicht Offenbarung, sondern eine bestimmte theoretische Erfahrung ist gemeint: Wie Baumgarten explizit in § 607 und § 608 der Meta­phy­sik darlegt und wie Gracián vielfach unterstreicht, kommt dem Geschmack als sinnlichem Urteilvermögen das Privileg zu, die Vollkommenheit einer materialen und sinnlichen Erscheinung zu erkennen. Das ist mehr als das Erkennen einer gelungenen Praxis. Es geht um die Erfahrung von Vollkommenheit selbst, die für den Menschen allenfalls auf dieser sinnlichen Ebene erleb- und erkennbar ist. Auch Gracián verwendet die Begrifflichkeit der Transzendenz in scholastischer Tradition und in Bezug auf den Geschmack. Im Realce X in El discreto, der gemeinhin als der für Graciáns Geschmackstheorie ergiebigste Abschnitt gilt, wird die Bedeutung des universalen Geschmacks an der Bedeutung der richtigen Wahl dargelegt. Die Bedeutung des Geschmacks ist »transcendental«,50 da nur wo die richtige Wahl getroffen worden ist, Vollkommenheit vorherrschen kann: »No hay perfección donde no hay elección«.51 Die Vollkommenheit lässt sich weder durch reine Begabung noch durch Bildung erreichen, sondern nur im Zusammenspiel von sinnlicher Feinheit und theoretischer Reife. Der Geschmack erlangt genau dadurch eine transzendentale Bedeutung; in allen anderen Bereichen ist dem Menschen das Erreichen und Erkennen der Vollkommenheit verwehrt. Das Vermögen zur rechten Wahl bzw. die Gabe, diese Vollkommenheit zu erkennen, ist Glück in vielerlei Hinsicht. Anthropologisch gesprochen: Er ist jene Instanz, die Gott dem Menschen als Ausgleich der intellektuellen und existenziellen Mängel zugestanden hat. In dieser Perspektive wird deutlich, inwiefern Geschmack als Vermögen, die richtige Wahl zu treffen, und Geschmack als Vermögen, Schönheit zu erkennen, zusammenhängen und eine anthropologische Aussage enthalten. Anders als der Mensch, so bringt es Baumgarten im § 870 der Meta­phy­ sik auf den Punkt, verfügt Gott als immer deutlich erkennende Instanz über keine unteren Erkenntnisvermögen und braucht folglich auch keinen Geschmack. Gott hat auch deshalb keinen Sinn für Schönheit, weil das göttliche Wissen als erklärtermaßen unbedingtes außerhalb aller Beziehung steht. In seiner vollkommenen Fülle bleibt kein Raum für die stets relationale Logik der Schönheit. Spätestens hier wird explizit, inwiefern der Begriff der Schönheit auch eine anthropologische Frage verhandelt. Schönheit nämlich, die immer auch Undeutliches in sich trägt, ist für Gott ebenso unmöglich wie überflüssig und bezieht sich folglich immer auf die sehr neuzeitliche Frage, was dem Menschen möglich ist. Das alte platonische Prinzip, wonach die einzige Idee, an der der Mensch auch sinnlich teilhaben kann, die Idee der Schönheit ist, reformulieren sowohl Gracián als auch Baumgarten mit dem Geschmack als dem Vermögen, sinnlich Vollkommenes zu erkennen, das in seiner sinnlichen Relationalität selbst vollkommen ist. In dieser anthropologischen Di49 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Dagmar Mirbach in: Baumgarten: Ästhe­tik, »Einführung«, Bd. 1, XLV – LII. 50 Gracián: El discreto, 298. 51 Ebd., 300.

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mension benennt der Geschmacksbegriff weit mehr als eine feine oder distinguierte Verhaltensweise. Gracián und Baumgarten begründen Theorie auch als Forderung jenseits von einer Bildungsarbeit, die bis dahin Poetik und Schulrhetorik zugefallen war. Es wäre verfehlt, darin nur Begründungsrhetorik auszumachen. Die ›Weltweisheit‹, deren paradigmatischer Vertreter der Neuzeit Gracián ist und die Baumgarten 1737 an der Universität Halle doziert, steht wie die Ästhe­tik für ein erkenntnistheoretisches Projekt, das die von der Schulrhetorik gesetzten Grenzen des sinnlichen Wissens überwindet.52 Die Weltweisheit lotet unter der Kondition der Undeutlichkeit eine dem Menschen verfügbare und einsehbare Wahrheit aus. Als auszubildendes Vermögen, das auf Schönheit zielt, vertritt der Geschmack eine spezifisch menschliche Qualität, die nicht nur negativ in Bezug auf Gottes Allwissenheit bezogen ist. Die andere den Menschen bestimmende Grenze in dieser Skala des Seienden ist die Natur – etwas, von dem der Mensch laut Gracián und Baumgarten gleichermaßen unterschieden werden muss. So ist es kein Zufall, dass sich der Geschmack seit Gracián – anders als Schönheit – schlechthin nicht als Natur denken lässt. Vollkommenheit und Vervollkommnung, in menschlichen Verhältnissen entworfen, ist Sache der Kunst, nicht der Natur. Wie Gracián es im 12. Aphorismus des Handorakels auf den Punkt bringt, schlägt im Menschen die natürliche Vollkommenheit ins Barbarische um. Nur das künstliche Wesen Mensch kann und muss vervollkommnen und nur darin kann sich der Mensch als solcher behaupten. Wenn Gracián im 39. Aphorismus des Handorakels behauptet, dass nur der Geschmack die mit Kunst auf ihren jeweils richtigen Stand gebrachten Dinge genießen und erkennen kann, dann bestätigt er den engen und inneren Zusammenhang von Kunst (als Gegenbegriff zu Natur) und Geschmack (als Gegenbegriff zu lediglich spontanem Gefallen). 4. Die hier aufgeführten Einsatzstellen des Geschmacks, wie er von Gracián vorgezeichnet und von Baumgarten weiter systematisiert worden ist, haben gemeinsam, dass der Geschmack ein Urteil unter immer spezifischen Umständen spricht und dabei einen theoretischen Diskurs voraussetzt, der mit den Mitteln der Schulrhetorik nicht mehr angemessen formuliert werden kann. Dieser Bedarf an einer disziplinären Reform lässt sich exemplarisch an der kritischen Diskussion des TopikBegriffs nachzeichnen, die nicht zuf ällig bei Gracián und Baumgarten ähnlich ausfällt. Denn wenn es eine rhetorische Instanz gibt, in der die Geschmacksproblematik wirksam werden kann, dann ist es die Topik. Um dies nachzuvollziehen, ist es notwendig, das Verhältnis von Schönheit und Topik zu diskutieren. Zunächst wäre die Einschätzung zu differenzieren, wonach der Geschmack nicht auf einen begrenzten Bereich zu reduzieren ist. So sehr dies zutrifft, so wenig bedeutet dies, Peter Hess: »Zum Toposbegriff in der Barockzeit«, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 10 (1991), 71 – 8 8. 52 Vgl.

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dass der Geschmack schlechthin keinen Gegenstand hat. Wollte man einer mit dem Geschmack ansetzenden Theorie einen Gegenstand zuordnen, dann wäre das die Schönheit und zwar in einem höchst theoretischen Sinne. Was bedeutet es, Schönheit zu erkennen und eben nicht nur zu erfahren bzw. zu genießen? Für Baumgarten ist Schönheit, so darf man die § 18 bis § 20 der Aesthetica zusammenfassen, im Wesentlichen ein Verhältnis, eine gelungene Relation all jener Aspekte, die beim Erkennen von Erscheinungen eine Rolle spielen. Genau deshalb ist Schönheit ein komplexes Phänomen. Im § 24 spricht Baumgarten von ihr als einer zusammengesetzten Vollkommenheit. In diesem Sinne ist ›schönes Denken‹ eine produktive Leistung, die als sinnliche Konkretion eines Allgemeinen, als sinnliches Scheinen einer Idee nur unzureichend erfasst ist, sofern in diesem Falle das Sinnliche lediglich eine Vorstufe der begrifflich-logischen Erkenntnis wäre und nicht eine eigene Form der Erkenntnis. Bei Gracián wiederum findet sich eine ähnliche Bestimmung, wenn er die auf Schönheit drängenden conceptos als einen Verstehensakt beschreibt, der eine Beziehung (und eben nicht: eine Proposition) expliziert.53 Was hat das mit der Topik zu tun? Die Topik ist zweifelsohne jener Bereich der Rhetorik, der es neben aptum und decorum am ehesten mit Relationen zu tun hat. Dabei stehen nicht so sehr die Beziehung von Darstellung und Gegenstand bzw. Rhetor im Vordergrund, also ›externe‹ Relationen, als vielmehr die Relationen des Gegenstandes selbst. Hier ist insofern eine konzeptionelle Denk-Relation wirksam, als diese Relation zwar mit Blick auf die Darstellung, aber nicht in der Darstellung selbst (im Sinne von Rede bzw. Performanz) zu erfassen ist. So bestimmte eine traditionellerweise eher der inventio zuzuordnende Topik, was einen Gegenstand spezifisch auszeichnet, und differenziert ihn im Verhältnis zu anderen Entitäten. In einer wiederum eher als iudicium operierenden und folglich für die elocutio verbindlichen Topik geht es darum, die Beziehung dieser spezifischen Qualität zu allgemein anerkannten und tradierten Argumentationsvorräten darzulegen. Die Topik erstreckt sich somit über den Bereich der inventio und elocutio und ist darin sicher von größtem Interesse für die Entwürfe von Gracián und Baumgarten, die ja dem rhetorischen Dreischritt von inventio, dispositio und elocutio methodisch verpflichtet bleiben und den Zusammenhang von Reflexion, Vorstellung und Darstellung im Sinne eines grundsätzlich nicht zu trennenden ästhe­tischen Erkenntnisverfahrens behaupten. In dieser Doppelfunktion als Teil der Findungslehre einerseits und als Teil der Argumentationslehre andererseits übergeht die schulrhetorische Topik jedoch den entscheidenden Aspekt der dispositio und mag aus diesem Grund sowohl für Gracián als auch Baumgarten Anlass zur Kritik sein. Immerhin liegt in der dispositio eine Gliederungs- und Ordnungsarbeit vor, die immer sowohl auf das Gedachte als auch auf das Darzustellende bezogen ist und die somit jedwede strenge Trennung Vgl. Gracián: Agudeza., 443: »De suerte que se puede definir: Es un acto del entendimiento, que exprime la correspondencia que se halla entre los objetos.« 53

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von inventio und elocutio, von Denken und Darstellung unterläuft. Das Verständnis der dispositio als einer Arbeit, die jene Relationen des Denkens und Darstellens immer schon zusammenführt bzw. die konzeptionelle und darstellerische Ebene eng zusammenführt, verträgt sich nicht mit einem Begriff der Topik, der entweder der Darstellung vorgelagert ist (als Findungshilfe in der inventio) oder aber nachgelagert (als Argumentationshilfe des iudicium). So sehr die Topik als ein Wissen, vielleicht gar als ein Erkenntnisverfahren von Interesse ist, das nicht im strengen Sinne logisch, oder um es im klassisch-rhetorischen Jargon zu sagen: dialektisch verfährt, so problematisch ist ihre speziell in der barocken Schulrhetorik 54 anzutreffende Aufspaltung in zwei Bereiche. Eine solche schulrhetorische Strukturierung der Topik hat sich im Grunde genau jener Veranschaulichungsleistung bzw. einer propositionalen Logik verschrieben, die mit einem sowohl bei Gracián als auch Baumgarten anzutreffenden und auf Relationalität zielenden Schönheitsbegriff gerade nicht gemeint ist, und würde just jene Trennung zementieren, die mit einem systematisch fundierten Geschmacksbegriff fragwürdig geworden ist. So ist es nur konsequent, dass Gracián und Baumgarten sich auf die Topik in einer kritischen Art und Weise beziehen. Beiden geht es um eine Beziehung, die erst mittels Darstellung zu finden und eröffnen ist. Dadurch richten sich beide gegen jede formalisierte Topik, die – sowohl in Bezug auf die inventio als auch die elocutio – ein vorgefertigtes Reservoir an Fragen oder Allgemeinplätzen ist und dadurch die Relationierungsleistung der Darstellung verdeckt. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass am Geschmack ein sinnliches Erkenntnisvermögen verhandelt worden ist, wird einsichtig, weshalb beide Denker das immer auch konkrete Moment einer ästhe­tischen Wahrheit, mithin das Schöne vom gelehrigen Pomp unterscheiden möchten. Die agudeza (um mit Gracián zu sprechen) ist mehr eine agudeza de concepto als eine agudeza de artificio.55 Im concepto ist ein Denken wirksam, das seinen konkreten Gegenstand dank seiner Darstellung durchdenkt und somit Darstellung gerade nicht als gelehrige Kunstfertigkeit begreift. Gracián, so hat es schon Woods dargelegt,56 interessiert an der Topik weniger ihre formalisierende Seite als vielmehr die Tatsache, dass sie – darin dem Geschmack methodisch entsprechend – ein Erkenntnisverfahren ist, das mit konkreten Umständen umgeht. Es ist sicher nicht verfehlt, das Ingeniöse des Konzeptismus gerade hier auszumachen. Wie sehr die Betonung der konkreten Umstände einer Abkehr von der tradierten Topik-Lehre gleichkommt, lässt sich insbesondere 54 Vgl. hierzu: Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grund­ lagen, Tübingen 1970; Hess: »Zum Toposbegriff«. 55 Vgl. Gracián: Agudeza, 445: »Pudiera dividirse la agudeza de artificio en agudeza de concepto, que consiste más en la sutileza de pensar, que en las palabras. […] La otra es de agudeza verbal, que consiste más en la palabra, de tal modo que, si aquella se quita, no queda alma, ni se puede traducir en otra lengua […].« 56 Vgl. hierzu: M. J. Wood: »Gracián, Peregrini, and the Theory of Topics«, in: The Modern Language Review 63/4 (1968), 854 – 863, hier 856: »Be this as it may, it is clear that Gracián’s interest is concentrated primarily upon the circumstantial topics […].«

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an der Zeit-Dynamik darlegen. Das Moment der rechten Wahl, so Borinski in seiner Gracián-Interpretation, fällt ja allein dem Geschmack zu.57 Dieses Leitmotiv ist auch für eine konzeptistisch entworfene Topik bestimmend. Als eine dem konkreten Umstand verpflichtete Kunst wird die konzeptistische Topik zum privilegierten Ort jenes acumen sensitivum, von dem Baumgarten in seiner Meta­phy­sik spricht. Die Gnade des rechten Augenblicks ist somit keineswegs auf eine Handlungskunst beschränkt; sie steht auch für eine Auseinandersetzung mit der klassischen Topik. Diese lässt sich exemplarisch dem Discurso X der Agudeza entnehmen, in dem Gracián auf die ›konzeptistischen Ähnlichkeiten‹ zu sprechen kommt.58 Die Ähnlichkeiten sind in der klassischen Topik-Lehre Teil der relationalen Topoi und so just für jenes Denken von Interesse, das Gracián und Baumgarten der sinnlichen Erkenntnis unterstellen. Dabei unterscheidet Gracián zwei Arten von Ähnlichkeiten: Neben der Ähnlichkeit der schulrhetorischen Topik, dem »artificio retórico«,59 behauptet Gracián noch eine Ähnlichkeit, die eine andere Art (»otra formalidad«) von Bezugnahmen vollzieht. Nur letztere enthält jene (auf ästhe­tische Wahrheit verweisende) »sutileza«, die sie zu einer konzeptistischen Ähnlichkeit macht. Wie wichtig Gracián dieser Unterschied ist, zeigt sich an der Tatsache, dass an dieser Stelle der Unterscheid zwischen der Lehre (»arte«) der conceptos und der Rhetorik erneut betont wird. Ohne diese andere konzeptistische Topik wären die conceptos nichts weiter als leblose Tropen oder Figuren (»tropos o figuras sin alma de sutileza«). Sicher auch um sich ein weiteres Mal von der Rhetorik abzusetzen, aber auch der Sache nach, insistiert Gracián auf diesen Aspekt, wenn er nur wenig später, im Discurso XII, betont, dass sich die konzeptistische Ähnlichkeit auf einen besonderen Umstand (»circunstancia especial«) bezieht und gerade nicht einem schulrhetorisch vorgegebenen Fragekatalog verdankt.60 Eine ähnliche Reflexion findet sich in Baumgartens Besprechung der Topik. In der Aesthetica verhandelt der Abschnitt X die Topik. Dort stellt Baumgarten gleich zu Beginn klar, dass die Topik für ihn – anders als die Tradition es lehrt – nicht in den Bereich der Heuristik, also der inventio fällt. Die Topik als eine »Kunst, sich die Prädikate eines bestimmten Gegenstandes gemäß einer bestimmten Ordnung von mit dem Gegenstand verbundenen Begriff in Erinnerung zu rufen«,61 ist allenhierzu: Borinski: Baltasar Gracián, 41. die sicherlich expliziteste Kommentierung der Topik betrifft, den Discurso IV der Agudeza und seiner Rad-Metapher, verweise ich auf die Ausführungen von Wood: »Gracián, Peregrini, and the Theory of Topics«, hier: 856. 59 Vgl. hierzu und nachfolgend: Gracián: Agudeza, 499: »No cualquiera semejanza, en opinión de muchos, contiene en sí sutileza, ni pasa por concepto, sino aquellas que incluyen alguna otra formalidad de misterio, contrariedad, correspondencia, improporción, sentencia, etc. Estas, dicen, son objeto de esta arte, incluyen, a más del artificio retórico, el conceptuoso, sin el cual no serían más que tropos o figuras sin alma de sutileza.« 60 Vgl. ebd., 511: »Pero cuando a la semenjanza da pie alguna circunstancia especial del sujeto a quien se arguye, entonces es rigurosamente concepto, y de semajanza retórica pasa a sutileza de ingenio.« 61 Aesth. § 130. 57 Vgl.

58 Was

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falls als Mnemotechnik von Interesse und somit denkbar weit entfernt von jenem kreativen Moment des Findens und Erkennens, den das geschmackvolle Denken auszeichnet. In § 136 schließlich gesteht Baumgarten, dass er, seit er geschmackvoll (»ad elegantiae […] componere«) denkt und verfasst,62 sich an keinen Gewinn durch die auf Kinderreim-Niveau rangierende Methode der Topik erinnern kann. Wenn es aber für Baumgarten dennoch eine Topik gibt, die zu retten ist, dann ist es die ›ästhe­t ische‹ Topik, die jene im § 22 genannten Kriterien der Vollkommenheit sinnlicher Erkenntnis – Reichtum, Größe, Wahrheit, Klarheit, Gewissheit und Lebendigkeit der Erkenntnis – wieder aufnimmt. Diese Kriterien jedoch bringen eine ganz andere, nämlich ästhe­tische Reflexion in die Topik. Die sehr propositional entworfene, im Wesentlichen begrifflich verfahrende Logik der schulrhetorischen Topik weicht hier einer relationalen Logik, die immer das Spezifische im Blick hat und gerade dadurch nicht in das im § 138 kritisierte Umherschweifen verfällt. Hierfür jedoch bedarf es des schon wenige Zeilen zuvor genannten Vermögens, geschmackvoll zu denken, sofern der Geschmack das Vermögen ist, die gelungene Relation im rechten Moment zu erkennen. Dass auch hier wie schon bei Graciáns ›besonderem Umstand‹ Kairos am Werke ist, dass also die Topik weder vor- noch nachgeschaltet von Interesse ist, sondern nur in actu, in einer solchermaßen inventio und elocutio zusammenführenden dispositio sozusagen, betont Baumgarten im § 141, der den Abschnitt zur Topik beendet: »Wenn, während du mit derartigen vorläufigen, nach welcher Kunst der Topik auch immer unternommenen Sammlungen beschäftigt bist, jene Begeisterung und Entflammung des Geistes […] dich ergreift, dann verwerfe, sobald du findest, daß dir die Geplänkel schon mehr als genügend nützlich gewesen sind, was auch immer es an loci wo auch immer geben mag. Dann mögen die Arbeiten an der Topik abgebrochen liegenbleiben, du aber — indem du zur Vollendung eilst und mitten in die Sachen, nicht anders, als ob sie dir schon bekannt seien, fortgerissen wirst – nimm das Ganze [caput] in Angriff, bestimme die Hauptsache, bilde die Hauptteile des zukünftigen Werks […], damit du nicht, während du unrühmlich das Gewebe deiner Topik vollendest, […] das Größte durch Zögern verlierst und dir die Gelegenheit entgehen läßt, anstelle der Vorbereitungen den bedeutsamsten Teil des Werkes selbst rühmlich auszuführen […].« 63

Gracián hätte dies nicht eindringlicher auf den Punkt bringen können und es ist genau dieser geschmackvolle Blick fürs Ganze, den auch Gracián im Discurso LI seiner Agudeza anempfiehlt. Denn was zugunsten einer einzelnen Ausformungen (sprich: einer gewissenhaft und blind verfahrenden schulrhetorischen Topik folgend) eine Sache nur schärft, verdient nicht Geschmack genannt zu werden.64 Doch die 62

Ebd., § 136. Ebd., § 141. 64 Vgl. Gracián: Agudeza, 745: »No merece llamarse gusto el que deja la agudeza aliñada por la descompesta y desatada […].« 63

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entscheidende Pointe dieses Ganzen, das bei Baumgarten caput genannt wird, ist ja gerade nicht, dass es eine vollkommene Explikation ist. Inwiefern gerade das gelungene Ganze undeutlich bzw. unvollständig bleiben muss, Schönheit also im gewissen Sinne ein wahres Undeutliches ist, hat Gracián schon in der frühen Schrift El Héroe und auch im 170. Aphorismus des Handorakels betont, wonach die gute Hälfte mehr ist als das Ganze.65 Diese scheinbar etwas beliebige Unterscheidung von schlechtem und gutem Fragment wird erst mit der Kritik jener ästhe­tischen Topik nachvollziehbar, die Baumgarten fordert. Wann ist die Hälfte eine dem Menschen verfügbare Hälfte, in der er eine geschmackvolle Erkenntnis sich ereignet, und wann liegt bloß eine schlechte Andeutung vor, die zwar jede Menge (qua schulrhetorischer Topik eingesammelte) Details enthält, aber kein Ganzes, keine Hauptsache, keinen Kopf? Diese Frage ist eine der sinnlichen Erkenntnis im besten Sinne: Die schlechte Andeutung wäre lediglich Kürzel für etwas, was vollkommen explizierbar ist. In der Schönheit hingegen, der hermosura, ist ein Verweis auf ein Ganzes wirksam, das schlechthin nicht vollends in die Explikation geholt werden kann. Das schlechte Fragment ist jenes, das keine erweiternde Beziehung aufweist. Das in sich ganze Halbe, der Kopf einer Erscheinung, die als Erscheinung immer auch undeutlich und unvollständig bleibt, vermag hingegen genau deshalb diese erweiternde Beziehung herzustellen, weil sie nicht bloß vermittelnde oder katalogisierende Instanz ist, sondern die Frage der Darstellbarkeit stellt. Die Sinnlichkeit der Erscheinung tut dies nicht zuletzt dadurch, indem sie – so Baumgarten im § 3 der Aesthetica, der den höheren Nutzen der Ästhe­t ik diskutiert – den Stoff für die Wissenschaften bereitstellt. Auch hier zeigt sich die anthropospezifische Qualität der ästhe­tischen Vollkommenheit, die von der (göttlichen) epistemischen Vollkommenheit ja schon deshalb zu unterscheiden ist, da diese weder eines Stoffes noch einer Darstellung bedarf. Dieses Lob des Fragments ist nicht nur als anthropospezifische Chiffre lesbar. Sie legt auch eine etwas mildere Lesart dieser zwei monumentalen Entwürfe zur sinnlichen Erkenntnis nahe: Weder die Agudeza noch die Aesthetica (als de facto unvollendeter Text) können als vollendete Werke gelten, aber auch nicht als im klassischen Sinne schöne, leicht lesbare Texte. Aber in dieser Unmöglichkeit einer Vollendung verrät sich womöglich, dass sie das Wesentliche nicht aus den Augen verloren haben. In dieser Hinsicht dürfen sie als produktiv gescheiterte Texte gelten, die auf ihr Ganzes verzichten müssen, sofern ihre Hälfte mehr ist als welches letzte Wort auch immer. Und auch das, so Gracián in seinem letzten Werk, dem Criticón, ist eine Lehre des Geschmacks: Der Geschmack der Weisen lehrt, dass die Anstrengungen der sinnlichen Erkenntnis immer wieder von neuem ansetzen müssen. Der Geschmack verlangt es, alte Vollkommenheiten zu erneuern und das meint: nicht nur bewundern, sondern eine Erneuerung vollziehen, die auch den Geschmack selbst betrifft: »Redimen esta civilidad del gusto los sabios con hacer reflexiones nuevas sobre las perfecciones antiguas, renovando el gusto con la admiración.« 66 65 Vgl.

Gracián: El héroe, 75: »[…] más es la mitad que el todo.« Gracián: El criticón (1651), primera parte, in: ders., Obras completas, 826.

66 Baltasar

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Begreift man den Geschmack als begründendes Paradigma der Ästhe­t ik, so ließe sich dies auch dahingehend deuten, dass die Ästhe­t ik wie auch der Geschmack nur als immer wieder zu erneuernde wirksam bleiben. Sodann wäre die Darstellungsproblematik der Ästhe­t ik, jene Problematik, an der Gracián und Baumgarten mit ihren eigenen Texten vermeintlich gescheitert sind, in ein anderes Licht gerückt. Wenn auch die Ästhe­tik ihre eigene Darstellung durchdenken muss und immer wieder an und mit dieser Darstellung sich erneuert, dann auch deshalb, weil sie sich nicht restlos formalisieren lässt. Damit ist nicht einem Irrationalismus das Wort gesprochen (sowohl Gracián als auch Baumgarten wären hierfür denkbar schlechte Beispiele), sondern nur bekräftigt, dass eine Ästhe­tik ohne Darstellung nicht zu haben ist. Dabei betrifft Darstellung nicht in erster Linie den Schreibstil selbst – auch wenn sich das speziell bei Gracián anbietet. Darstellung ist in der Agudeza und auch in der Aesthetica wirksam in den zahlreichen Zitaten und Beispielen. Diese illustrieren nicht nur, sondern operieren wie ein Index dessen, was jeweils unter geschmackvoller Darstellung verhandelt wird. Nimmt man das Geschmacksparadigma ebenso wie das Darstellungsproblem ernst, so ist nach Gracián und Baumgarten der Ästhe­t ik eine Reflexion aufgegeben, die nicht auf Beispiele verzichten darf, und das meint: eine Disziplin, die sich immerzu fragen muss, in welchen Darstellungen der Mensch bereichernd erkennen kann.

Vom geistlichen zum guten Geschmack? Reflexionen zur Suche nach den pietistischen Wurzeln der Ästhe­t ik Von Simon Grote Es ist seit langem ein Gemeinplatz, dass die deutsche ästhe­t ische Theorie des frühen 18. Jahrhunderts, ähnlich der ›sentimentalen‹ Tendenz innerhalb der Literatur dieser Zeit, ihre Ursprünge im deutschen Pietismus hat. Die anhaltende Verbreitung dieses Gemeinplatzes ist wohl nirgends offensichtlicher als innerhalb der neue­ren Forschung zu Alexander Gottlieb Baumgarten (1714 – 1762), der den Begriff Aesthetica im Jahr 1735 geprägt und als Erster eine Theorie verfasst hat, die diesen Namen trug. In der jüngeren Baumgarten-Forschung ist vielfach zu lesen, dass Baumgartens Erziehung und Ausbildung durch pietistische Theologen in Halle ihm viele Bruchstücke geliefert haben, aus denen er diese ästhe­tische Theorie geformt hat: Grundbegriffe, Konzeptionen, Anspielungen, Standpunkte, Argumente, Funktio­ nen und Ziele.1 Indem diese Forschungsarbeiten über die Ursprünge der ästhe­t ischen Theorie die Wurzeln von etwas erkennbar Modernem in etwas erkennbar Religiösem suchen, haben sie mindestens ein Problem mit Säkularisationstheorien gemein: vielleicht nicht die tendenziöse Andeutung, dass die Leistungen der Moderne illegitim aus der Religion enteignet worden sind,2 sondern eher die einfachere und scheinbar unverfänglichere Grundvoraussetzung, dass Religion in gewisser Weise ›vor‹ ihren mutmaßlich modernen Erben kam und diesen auf die Welt half.3 Im Fall der ästhe­ tischen Theorie scheint diese Annahme, zugegebenermaßen, unbestreitbar zu sein. Beispiel Wilhelm Ludwig Federlin: Kirchliche Volksbildung und Bürgerliche Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993, 61 – 95; Joachim Jacob: Heilige Poesie, Tübingen 1997, 17 – 54; Ernst Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion, Berlin 2004, 45 – 53; Petra Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, Tübingen 2004, 11 – 170; Simon Grote: »Pietistische Aisthesis und moralische Erziehung bei Alexander Gottlieb Baumgarten«, in: Alexander Aichele/Dagmar Mirbach (Hgg.): Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Auf klärung 20), Hamburg 2008, 175 – 198; ders.: Moral Philosophy and the Origins of Modern Aesthetic Theory in Germany and Scotland, Ph. D. Diss. Univ. of California, Berkeley 2010; Stefan Borchers: Die Erzeugung des ganzen Menschen, Berlin 2011, bes. 136 – 162; Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Porträt, Stuttgart 2011, 27 – 29, 79 – 95, 139 – 143 ff.; Steffen W. Gross: Cognitio Sensitiva, Würzburg 2011, bes. 47 – 158; Martin Fritz: Vom Erhabenen, Tübingen 2011, bes. 230 – 283; Ursula Goldenbaum: »Mendelssohn’s Spinozistic Alternative to Baumgarten’s Pietist Project of Aesthetics«, in: Reinier Munk (Hg.): Moses Men­dels­sohn’s Metaphysics and Aesthetics, Dordrecht 2011, 299 – 315; Encyclopedia of Aesthetics, 6 vols., 2nd edition, ed. by Michael Kelly, Oxford 2014, darin: Simon Grote: »Origins of Aesthetics«: »Theological Origins of Aesthetics«, vol. 5, 51 – 54. 2 Hans Blumenberg: »›Säkularisation‹: Kritik einer Kategorie historischer Illegitimität«, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, hg. von Helmut Kuhn und Franz Wiedmann, München 1964, 240 – 265. 3 Die klassische Diagnose der sich ähnelnden Probleme, die jede Identifikation von ›Emp1 Zum

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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Wir sind konfrontiert mit den simplen Fakten der Chronologie und der Geographie: Der Beginn der ästhe­t ischen Theorie ist namentlich verbunden mit Alexan­ der Gottlieb Baumgarten im Jahr 1735, und Baumgarten ist in Halle tatsächlich von Pie­tisten erzogen und ausgebildet worden. Wenn wir herausfinden möchten, welche pietistischen Wurzeln Baumgartens Neuerung gehabt haben mag – wie dies lange vernünftig erschienen ist –, dann ist es nur folgerichtig, dass wir den ›Pietismus‹ – nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung – als Baumgartens Vorläufer ansehen. Es ist allerdings ein Irrweg, Gemeinsamkeiten in Baumgartens philosophischer Ästhe­t ik und pietistischer Theologie zu entdecken und dann eher anzunehmen als zu beweisen, dass diese Gemeinsamkeiten Übertragungen vom einen zum anderen sind, Hinweise des Einflusses vom einen auf das andere oder vielleicht sogar Zeichen einer Transformation des einen zum anderen. Wir neigen dabei dazu, die Möglichkeit zu übersehen, dass die Beziehung zwischen Pietismus und Ästhe­tik nicht primär kausal sein mag. Tatsächlich mögen beide z. B. gemeinsame Wurzeln, Quellen oder Modelle gehabt haben oder auch zwei ganz unterschiedliche Projekte gewesen sein, zwei Teile eines gemeinsamen Projektes oder auch zwei Beiträge zu einem oder auch vielen laufenden Diskursen. Mit anderen Worten: In den Kategorien von ›Säkularisation‹ oder ›Wurzeln‹ zu denken, unterstützt den Trugschluss post hoc propter hoc. Kaum deutlicher könnte sich diese Gefahr zeigen als in August Langens Untersuchung zum Einfluss des Pietismus auf die deutsche weltliche Literatur des 18. Jahrhunderts. Langen ist zwar vorsichtig und erkennt an, dass pietistische Wörter, Konzepte und literarische Strukturen keinesfalls die einzigen Quellen der ›Gefühlssprache‹ gewesen sind, die für weite Teile der Literatur im 18. Jahrhundert so charakteristisch gewesen sind.4 Doch eben seine Suche nach den pietistischen Quellen dieser Sprache führt ihn bisweilen dazu, einfach kausale Beziehungen zu behaupten, wo die tatsächlichen Zusammenhänge zwischen früheren und späteren Texten in Wirklichkeit sehr viel komplexer gewesen sein mögen. Diejenigen, die die pietistisch-theologischen Wurzeln oder Quellen von Baumgartens Ästhe­t ik suchen, sehen sich einer ganz ähnlichen Gefahr ausgesetzt. Im Fall des ›guten Geschmacks‹ ist diese Gefahr besonders augenfällig. Dieser in Baumgartens Ästhe­t ik enthaltene Begriff birgt eine faszinierende Ähnlichkeit zum ›geistlichen Geschmack‹, einem zentralen Begriff pietistischer Theologie. Einerseits scheint es gute Gründe dafür zu geben, die Herkunft von Baumgartens ›gutem Geschmack‹ aus dem pietistischen ›geistlichen Geschmack‹ abzuleiten. Das charakteristische pietistische Beharren darauf, dass die Aneignung von ›geistlichem Geschmack‹ mittels teilweise übernatürlicher Hilfe untrennbar mit findsamkeit‹ mit ›säkularisiertem Pietismus‹ betreffen, findet sich bei Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, Bd. 1, Stuttgart 1974, 58 – 6 4. 4 August Langen: Wortschatz des deutschen Pietismus, 2. Auf l., Tübingen 1968, 434.



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Bekehrung verbunden und für den Glauben wesentlich ist, könnte Baumgarten in irgendeiner Art und Weise angeregt haben, die philosophische Ästhe­t ik als ein ergänzendes, jedoch ausschließlich natürliches Mittel zu entwickeln, um etwas mit ähnlichem Nutzen zu erwerben. Andererseits sieht das tatsächliche Herkommen sogleich viel komplizierter aus, wenn man den Kontext erweitert und auch relevante Texte auch anderer Autoren als diejenigen Baumgartens und seiner pie­ tis­tischen Lehrer als den mutmaßlichen theologischen Ursprung des ›guten Geschmacks‹ mit in den Blick nimmt. Eine der ausgefeiltesten Darstellungen innerhalb der verschiedenen lutherischtheologischen Werke des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zum ›geistlichen Geschmack‹ findet sich im Oeuvre Joachim Langes (1670 – 1744), der den Begriff im Dienst der jahrzehntelangen polemischen Kampagne, welche die Protagonisten der ersten Generation des Halleschen Pietismus gegen die Lutherische Orthodoxie führten, aufstellte und weiter entwickelte. Eine der wesentlichen Achsen dieses Konflikts rückte zu Beginn des 18. Jahrhunderts besonders stark in den Mittelpunkt. Der ausgedehnte Streit zwischen Lange und dem Wittenberger Theologen und Verteidiger der späten Orthodoxie par excellence, Valentin Ernst Löscher (1673 – 1749), machte eine wesentliche Frage offenkundig: Wie ist Luthers bekannte Lehre zu verstehen, dass allein Gottes Wort zur Erlösung führt? Der umstrittene Punkt war die von allen Konfliktparteien so genannte ›Lehre von der Erleuchtung‹, die anscheinend von vielen als »das Zentrum der so genannten Pietistischen Theologie« wahrgenommen wurde.5 Aus Sicht von Langes gelegentlichem theologischen Verbündeten Johann Georg Walch (1693 – 1775), der darüber in den späten 1720ern publizierte, hing diese Debatte an einer einzigen Frage: Ob der Heilige Geist die Unbekehrten solcherart erleuchtet, dass er ihnen »einige Wissenschaft und Erkänntnis von göttlichen Dingen« verleiht.6 Langes Argument gegen Löscher lautete, dass er dies nicht tue. Der Schlüssel zu Langes Argumentation liegt in seinem Beharren darauf, dass der Erwerb von ›geistlicher Erkenntnis‹ mehr verlange als nur ein intellektuelles Einverständnis mit der Lehre. Denn viele der zentralen Lehren – wie die Lehre vom gerechten Gott, von seiner Allgegenwart und seiner Allmacht, von der Offenbarung göttlichen Wortes in der Schrift, von der zur Wiederherstellung der menschlichen Gottebenbildlichkeit notwendigen Gnade Gottes usw. – seien fun5 Johann Georg Walch: Historische und Theologische Einleitung in die Religionsstreitigkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche, 5 Bde., Bd. 2, Jena 1730, § 53, 253. 6 Ebd., § 53, 256. Vgl. Martin Greschat: Zwischen Tradition und neuem Anfang: Valentin Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie, Wittenberg 1971, 263 – 278; mit besonderem Rekurs auf Langes, Johann Georg Pritius’ (1662 – 1732) und Gottlieb Wernsdorffs (1668 – 1729) Positionen zu diesem Thema: Ernst Koch: »De Theologia experimentali. Akademische Diskurse um 1700 in Leipzig, Halle und Wittenberg«, in: ›Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget‹. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009, hg. von Christian Soboth/Udo Sträter, Halle 2012.

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damental ›praktisch‹ und nicht nur theoretisch. Folglich sei, um es mit Lange zu sagen, die wahre Einwilligung in die Lehre untrennbar verbunden mit einem Wandel in Willen und Handeln des Glaubenden. Dieser Wandel könne aber nur in denjenigen Menschen stattfinden, die die Wahrheit »göttliche[r] Lehren, die in ihrem Gebrauch praktisch sind«, »erfahren«, also durch die übernatürliche Kraft des göttlichen Wortes erlebt haben.7 Für Lange ist diese ›geistliche Erfahrung‹ das Resultat einer übernatürlichen Erleuchtung durch den Heiligen Geist während des Prozesses der Bekehrung.8 Sie ist eine Grundvoraussetzung für die Wiederherstellung des Bildes Gottes im einzelnen Christen und Bedingung für eine fehlerfreie Interpretation der Bibel sowie für wirkungsvolles Predigen – den Unbekehrten steht sie nicht zur Verfügung.9 Aus einer Vielzahl von Bibelstellen schöpfend und im Einklang mit den Metaphern ›Geschmack‹ und ›Süßigkeit‹, die charakteristisch für mittelalterliche Mystik und geistliche Barocklyrik sind,10 verankert Lange seine Darstellung der ›geistlichen Erfahrung‹ in der bekannten Analogie zum menschlichen Geschmackssinn.11 Wir können den Geschmack von Speisen und Getränken weder beurteilen, beobachtet Lange, noch können wir sie um ihres Geschmacks willen begehren, wenn wir nicht die Erfahrung desselben zuvor schon einmal gemacht haben. Und genau wie z. B. die Süße des Honigs von niemandem verstanden werden kann, der diese Süße noch nie geschmeckt hat, so kann auch die übernatürliche Kraft des Wortes Gottes – sozusagen unsere übernatürliche Speise – von demjenigen nicht erkannt werden, der sie nie erfahren hat.12 Die ›geistliche Erfahrung‹ bezeichnet Lange daher als ›geistlichen Geschmack‹ (gustus spiritualis) oder als ›inneren Geschmack‹ – und, indem er direkt auf Philipper 1,9 rekurriert, zudem als aisthesis. Von dem, was Lange an anderen Stellen als ›lebendige Erkenntnis‹ göttlicher Wahrheiten bezeichnet, ist dies nicht zu unterscheiden: die Erfahrung und die ›innerliche Überzeugung‹ (convictio interioris) sowie ein hochgradig affektgeladenes Verlangen nach geistlichen Dingen, deren Güte uns in der Schrift vor Augen gestellt wird.13 Joachim Lange: Die richtige Mittelstraße, Bd. 2, Halle 1712, 203, 205, 207, 208 – 231. Die richtige Mittelstraße, 204.  9 Joachim Lange: De experientia spirituali, Halle 1710, 30 f. 10 Zur Geschichte dieser Metaphern vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, hg. von Ulrich Goebel [et al.], Bd. 6, Berlin 2010, Art. »Geschmak«; Langen: Wortschatz, 296; Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch (Leipzig 1955), Neudruck München 1999, Art. »Geschmack«; Joseph Imorde: Affektübertragung, Berlin 2004, bes. Kap. 3; Joseph Ziegler: Dulcedo dei. Ein Beitrag zur Theologie der griechischen und lateinischen Bibel, Münster 1937; Werner Armknecht: Geschichte des Wortes »süß«, I. Teil: Bis zum Ausgang des Mittelalters, Diss. Univ. Berlin 1936; Fridolin Marxer: Die inneren geistlichen Sinne. Ein Beitrag zur Deutung ignatianischer Mystik, Freiburg 1963, 104 – 107; Endre Szécsényi: »Gustus Spiritualis. Remarks on the Emergence of Modern Aesthetics«, in: Estetika. The Central European Journal of Aesthetics 51/1 (2014), 62 – 85. 11 Vgl. Richard Cross: »Thomas Aquinas«, in: The Spiritual Senses, ed. by Paul L. Gavrilyuk and Sarah Coakley, Cambridge 2012, 188. 12 Lange: Die richtige Mittelstraße, 211, 215; Lange: De experientia spirituali, 17. 13 Lange: Die richtige Mittelstraße, 206; Lange: De experientia spirituali, 35. Vgl. Georg Pasors  7

 8 Lange:



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Wie zu erwarten, kann dies nicht ohne die Gnade Gottes erlangt werden, aber Lange besteht ebenso auf der Bedeutung von kontinuierlicher Übung – auf einem »Weg der wahren Askese und Aisthesis« (via verae ἀσκήσεως et αἰσθήσεως), der zu einem »Habitus der Erfahrung« (habitus experientiae) führt und die innige Liebe zu Gott und dem Nächsten stärkt.14 Dieses persönliche Regiment entspricht der dreiteiligen Struktur, die Luther, und an diesen anknüpfend Langes Lehrer und Kollege August Hermann Francke (1663 – 1727), für die theologische Ausbildung propagiert haben: oratio, meditatio, tentatio. Dem Gebet (oratio) folgt die gewissenhafte, durch den Heiligen Geist geleitete Auslegung der Schrift (meditatio) und zum Schluss die Anfechtung (tentatio) als Versuch, die göttlichen Wahrheiten der Schrift im eigenen Leben zu erfahren.15 Diese dritte und letzte Phase trägt nach Lange am meisten zur Entwicklung des ›geistlichen Geschmacks‹ bei.16 Die Verwandtschaft zwischen Langes und Baumgartens Projekt ist unübersehbar. Zugegebenermaßen nutzt Baumgarten selbst den Begriff ›Geschmack‹ (gustus oder sapor) nur selten, und genau genommen präsentiert er seinen Gebrauch als nur einen der möglichen Zwecke der Ästhe­t ik. Dennoch nimmt er eine zentrale Position in Baumgartens Aesthetica ein. Der Begriff bezieht sich auf das sinnliche oder intuitive Urteilsvermögen, durch welches das Individuum erkennt, bis zu welchem Grad etwas vollkommen oder unvollkommen ist.17 Dieses Urteilsvermögen, eine von mehreren ›untere[n] Erkenntniskräften‹, deren Vervollkommnung Baumgarten in seinen 1735 erschienenen Meditationes als Ziel der Ästhe­tik annahm, ist diejenige Fähigkeit, die für die »Ästhetische K ritik [Aesthetica critica ]« verantwortlich ist: »die Kunst, den Geschmack zu bilden« (ars formandi gustum), indem man intuitiv über etwas urteilt und dieses Urteil anderen mitteilt.18 Doch obwohl Baumgarten als das allgemeine Ziel der philosophischen Ästhe­t ik nicht per se die Ausbildung des ›guten Geschmacks‹, sondern die ›Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher‹ (perfectio cognitionis sensitivae, qua talis) bezeichnet,19 fasst er diese Formulierung einfach unter dem Begriff »Schönheit« (pulcritudo) zusammen, Erklärung des Begriffs aisthesis als »gustus bonorum coelestium« in: Lexicon Graeco-Latinum In Novum Domini Nostri Jesu Christi Testamentum, Leipzig 1686, »aisthesis«. 14 Lange: Die richtige Mittelstraße, 205; Lange: De experientia spirituali, 35. 15 Chi-Won Kang: Frömmigkeit und Gelehrsamkeit, Giessen 2001, 78 – 87, 364 – 4 01. Ich danke Jonathan Strom, der mich auf die Verwandtschaft dieser dreiteiligen Schemata aufmerksam gemacht hat. 16 Lange: De experientia spirituali, 27. 17 Med. §§ 115 f., hier und im Folgenden zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Medi­ tationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, Halle 1735; Met. §§ 607 f., 662, hier und im Folgenden zitiert nach: Ders.: Metaphysica/Metaphysik, Hist.-krit. Ausgabe, übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011; Aesth. §§ 5, 56, hier und im Folgenden zitert nach: ders.: Ästhe­tik, Lat./Dt., übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007, §§ 5, 56. 18 Med. §§ 115 f.; beide Zitate: Met. § 607, vgl. Met. § 533. 19 Aesth. § 14.

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die er als »Vollkommenheit in der Erscheinung, i.e. Vollkommenheit, die vom Geschmack in weiterer Bedeutung [i.e. vom sinnlichen Urteilsvermögen] festzustellen ist« (perfectio phenomenon, s. gustui latius dicto observabilis), definiert.20 Ziel der philosophischen Ästhe­t ik ist also in diesem Sinne die Vollkommenheit des Geschmacks. Baumgarten legt dem Leser außerdem nahe, dass es zum Erreichen dieser Vollkommenheit notwendig ist, dass diejenigen, die sich mit der Ästhe­t ik beschäftigen, in sich selbst und in ihrem Publikum eine ›lebendige Erkenntnis‹ der Wahrheit entwickeln – mit anderen Worten: eben das, was bei Lange ›geistlicher Geschmack‹ heißt, dort mit besonderem Bezug auf geistliche Wahrheiten. Die Mittel, mit denen man nach Baumgarten diese ›lebendige Erkenntnis‹ ausbildet, sind ebenso wie bei Lange nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Das heißt, sie beinhalten nicht nur den Erwerb von theoretischem Wissen (Wissenschaft) über die Vollkommenheitskriterien in der Kunst, sondern auch »Askese und die ästhe­t ische Übung« (ἄσκησις et exercitatio aesthetica), um sowohl den »Geist« (ingenium) als auch »die Gemütsart und das ästhe­tische Temperament« (indolem et temperamentum aestheticum) zu verbessern.21 Diese beiden Mittel, theoretische und praktische, erinnern an Langes Projekt zur Vervollkommnung des geistlichen Geschmacks und damit zur Verstärkung sowohl der Überzeugung von der übernatürlichen Kraft des Wortes Gottes als auch der Liebe zu Gott und dem Nächsten. Indem er im theoretischen Teil seiner Aesthetica die Kriterien für ein gutes Kunstwerk oder gute Literatur aufstellt, entwickelt Baumgarten offensichtlich bewusst ein Mittel, um die übernatürliche Autorität der Bibel zu demonstrieren. Ansätze dazu finden sich bereits in Baumgartens 1735 erschienenen Meditationes,22 ein klarer Beweis findet sich dann zehn Jahre später in seinen Vorlesungen über Dogmatik in Frankfurt/Oder. Wenn man die Schrift ästhe­t ischer Kritik unterwerfe, so erklärt er in diesen Vorlesungen, lasse sich ein Grad von Vollkommenheit erkennen, der weit entfernt sei von allem, was zeitgenössische antike Autoren produziert hätten. Dies könne nicht das Ergebnis bloßer menschlicher Fähigkeiten gewesen sein, sondern müsse viel eher göttlicher Inspiration zugeschrieben werden.23 Was Baumgartens praktische Übungen anbetrifft, so ist ihre namentliche Verwandtschaft mit Langes ›Weg der wahren Askese und Aisthesis‹ klar. Weniger offensichtlich ist es vielleicht, dass Baumgarten seine eigene ›Askese und ästhe­t ische Übung‹ ebenfalls als Mittel zur Verbesserung des sittlichen Charakters des An20 Met.

§ 662, vgl. § 607. §§ 47, 59; »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, § 44; Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhe­tik, Tübingen 2009, 25, 104 – 110; Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten, 141; Gabriel Trop: Poetry as a Way of Life. Aesthetics and Askesis in the German Eighteenth Century, Evanston 2015, chapt. 1. Mein Dank gilt Gabriel Trop, der mir kurz vor der Publikation seines Buches Einblick in das Manuskript gewährt hat. 22 Vgl. Grote: »Pietistische Aisthesis,« 191 f. 23 Alexander Gottlieb Baumgarten: Isagoge philosophica in theologiam theticam, niedergeschrieben von Joannes Gottfried Beneke, 3 Bde., Berlin 1748, Berliner Staatsbibliothek, Ms theol. lat. Oct. 48, §§ 41 – 69. Vgl. Aesth. § 22. 21 Aesth.



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wenders verstand, ähnlich der Übungen Langes zur Entwicklung des geistlichen Geschmacks. Man kann diesen Schluss aber aus verstreuten Hinweisen in seiner Aesthetica und in seiner 1741 gehaltenen Antrittsvorlesung an der Viadrina ziehen.24 Angesichts von Baumgartens Kenntnis der Langeschen Ideen – dank der Lektüre von Langes eigenen Schriften, der Hörerschaft in Langes Vorlesungen in Halle und diverser anderer mündlicher und schriftlicher Kommunikation mit Lange und dessen Kollegen in Franckes Schulen und an der Universität – scheint es nicht unangemessen zu vermuten, dass Langes polemische Aufstellung des Begriffs des ›geistlichen Geschmacks‹ Baumgarten in Teilen den Anstoß lieferte, seine eigene ästhe­tische Theorie zu entwickeln. Darüber hinaus scheint es in Anbetracht der oben angedeuteten Ähnlichkeiten auch nicht unangemessen, Baumgartens ästhe­ tische Theorie als eine ›säkulare‹, philosophische Version von Langes theologischem Programm zur Ausbildung des geistlichen Geschmacks zu deuten, als eine Version mit größerem Geltungsanspruch, die so entworfen ist, dass sie bis zu einem bestimmten Punkt sogar in Abwesenheit übernatürlicher Hilfe wirksam sein kann. Baumgarten scheint sich die Ästhe­t ik als Mittel vorgestellt zu haben, mit dem man ohne Hilfe des Heiligen Geistes die nötigen sinnlichen Fähigkeiten entwickelt, die das Individuum zu moralischem Handeln und zur Gestaltung von Kunst und Literatur benötigt: Indem sie heilbringende Gemütsbewegungen hervorrufen, haben sie die Kraft, ein Publikum zu erbauen.25 Und doch ist die Grundlage dieser Vermutungen – also zum einen die Verwandtschaft von Langes und Baumgartens Konzeptionen und Projekten, und zum anderen ein unmittelbarer Kontakt zwischen Baumgarten und Lange – relativ schwach. Vorsicht scheint also geboten. Die Notwendigkeit der Vorsicht wird besonders im Lichte eines anderen Textes augenscheinlich, der in seiner Zielsetzung sehr an Baumgartens Ästhe­t ik erinnert und ebenfalls von einem Bekannten Langes verfasst worden ist, der aber offensichtlich nicht von Langes Darstellung des ›geistlichen Geschmacks‹ oder von der theologischen Polemik Langes abhängt: Johann Ulrich Königs (1688 – 1744) Untersuchung Von dem guten Geschmack in der Dicht- und Rede-Kunst, einem Nachwort zu seiner 1727 erschienenen Edition von Gedichten Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz’ (1654 – 1699).26 Auf der einen Seite gleicht Königs Projekt demjenigen Baumgartens. Indem er argumentiert, dass Canitz’ Gedichte ihren Autor ausweisen als einen Deutschen mit exemplarisch gutem Geschmack, der eifrigster Nachahmung durch seine Landsleute würdig sei, bietet König seinen Lesern eine theoretische Beschreibung des Moral Philosophy and the Origins of Aesthetic Theory, 212 – 222; vgl. Dagmar Mirbach, »Ingenium venustum und magnitudo pectoris. Ethische Aspekte von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica«, in: Aichele/Mirbach (Hgg.), Alexander Gottlieb Baumgarten, 199–218, hier: 204. 25 Vgl. nahezu alle oben in Anm. 1 genannten Texte (außer Federlin: Kirchliche Volksbildung). 26 Johann Ulrich von König: Untersuchung Von dem guten Geschmack in der Dicht- und RedeKunst, in: ders. (Hg.): Des Freyherrn von Caniz Gedichte, Leipzig 1727. 24 Grote:

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›guten Geschmacks‹ an sich, speziell für den Bereich der Dichtkunst. Guter Geschmack sei es, behauptet er, der denjenigen, die ihn besitzen, erlaubt, Werke von vollkommener Schönheit zu erschaffen.27 Als wortwörtliche Bezeichnung für das Urteil unserer Zunge darüber, ob wir uns an Speisen und Getränken erfreuen oder nicht, bezieht sich »Geschmack« im übertragenen Sinne auf eine »innerliche Empfindung« oder ein »Gefühl des Verstandes«: auf ein instinktives Urteil über den Grad der Vollkommenheit eines Gegenstands, und folglich auf eine dementsprechende Neigung oder Ablehnung in Bezug auf diesen Gegenstand.28 Das Urteil kann durch den Erwerb von solidem Wissen (Wissenschaft) über die fundamentalen Prinzipien des ›guten Geschmacks‹ – »die unveränderlichen Regeln des [S]chönen und des [W]ahren« 29 – und durch die Anwendung dieser Regeln unter Anleitung eines Lehrers in praktischer Übung (Ausübung) vervollkommnet werden.30 Während der gesamten Erörterung scheint König stets Baumgarten vorwegzunehmen. Dies geschieht vielleicht am auffallendsten am Ende seiner Untersuchung, wo er verspricht, zu einem nicht näher definierten späteren Zeitpunkt die Grundprinzipien der Konstruktion eines vollkommenen Gedichts aufzuzählen und zu veranschaulichen.31 Bekanntermaßen löste Baumgarten dieses Versprechen sieben Jahre später in seinen Meditationes von 1735 ein. Auf der anderen Seite präsentiert König vordergründig keine ›säkularisierte‹ Version von Langes Programm zur Vervollkommnung des geistlichen Geschmacks. Freilich war Lange der Erste, der einen Band Canitz’scher Gedichte herausgab – seine Edition erschien im Jahr 1700 – und König behauptet, Lange konsultiert zu haben, als er seine eigene Ausgabe ein Vierteljahrhundert später zusammenstellt.32 Aber unerachtet dieses Kontakts mit Lange und trotz seiner augenschein­lichen Vertrautheit mit der zeitgenössischen theologischen Literatur zum geistlichen Geschmack, beruht Königs Darstellung des guten Geschmacks klar auf anderen Quellen.33 König zufolge ist ›geistlicher Geschmack‹ nur eine von etlichen Formen des guten Geschmacks; man kann ebenso in den Bereichen Ethik, Klugheit, Alltag, Poetik und Rhetorik guten Geschmack haben.34 Seiner Erklärung nach stammt der Impuls, sich mit Geschmack im Allgemeinen und in allen spezielleren Bereichen auseinanderzusetzen, nicht aus den laufenden Debatten über den ›geist­ lichen Geschmack‹, sondern eher aus den jüngsten theoretischen Diskussionen über den goût bei französischen Autoren wie Jean-Baptiste Dubos (1670 – 1742), DomiUntersuchung, 229. 240, 248, 254 – 258. 29 Ebd., 321, es wird Charles Rollin zitiert. 30 Ebd., z. B. 262 – 2 76, 318. 31 Ebd., 318. 32 König (Hg.): Des Freyherrn von Caniz Gedichte, xxiv, l-li. 33 Gegen August Langens Behauptung (Wortschatz, 297), augenscheinlich ohne Beweis, dass König sein Vokabular »aus der religiösen Überlieferung« übernahm. 34 König: Untersuchung, 277 – 291. 27 König: 28 Ebd.,



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nique Bouhours (1628 – 1702), Jean Frain du Tremblay (1641 – 1724), Anne Dacier (1654 – 1720), Charles Rollin (1661 – 1741) und Jean-Baptiste Morvan de Bellegard (1648 – 1734), sowie aus aktuellen deutschen Kommentaren zu Baltasar Graciáns L’Homme de Cour, unter anderem von Christian Thomasius.35 Einige dieser Autoren wie Gracián und Bouhours scheinen die Beziehung zwischen ihren eigenen Konzeptionen und derjenigen des geistlichen Geschmacks erkannt zu haben.36 Ihre Texte und alle anderen von König erwähnten waren jedoch entweder vor oder zeitgleich mit denjenigen Langes und seiner pietistischen Kollegen erschienen und konnten daher gar nicht auf letztere Bezug nehmen. Mit anderen Worten: So wenig die pietistischen theologischen Diskussionen zum geistlichen Geschmack offensichtlich weder ausschließlich noch grundlegend auf den langjährigen französischen und deutschen Geschmacksdiskursen beruhten, auf die König Bezug nimmt,37 so wenig war die Diskussion, als deren Beiträger sich König präsentiert, in der pietistischen Theologie verwurzelt. In einem gewissen Maß muss das gleiche für Baumgarten gelten. Und tatsächlich verortet eine seit langem bestehende, von Alfred Riemann vor fast einem Jahrhundert eingeführte Interpretation die Wurzeln von Baumgartens Projekt in genau den französischen Geschmackstheorien des 17. Jahrhunderts, denen König zu einem deutschen Audi­ torium verholfen hatte.38 Wir stehen also vor einem Rätsel. Was wie eine Übertragung der Begriffe von Lange zu Baumgarten aussehen mag, was die Vorstellung erweckt, dass ästhe­t ische Theorie in pietistischer Theologie wurzelt, sieht gleich ganz anders aus, wenn man es im Lichte der Ähnlichkeiten von Baumgartens und Königs Projekten betrachtet. Wie können wir nun das wechselseitige Verhältnis zwischen Baumgarten und Lange oder zwischen Baumgartens Ästhe­tik und der pietistischen Theologie am besten zusammenfassen? Beginnen wir mit der Erkenntnis, dass unsere historischen Erzählweisen – also solche, die vorgeben, dass die pietistische Theologie zu Baumgartens Ästhe­ tik führt – unausweichlich genau jene Texte und Begriffe widerspiegeln, die zur Entstehung eben dieser Erzählweisen geführt haben. Begriffe wie z. B. ›Wurzeln‹ 35

Ebd., 241 f., 250 – 254, 269 – 271, 282. darauf wirft Szécsényis wegweisende Studie »Gustus Spiritualis« (s. oben Anm. 10). Ich danke Endre Szécsényi, der mich auf diesen Artikel aufmerksam gemacht hat. 37 Ungeachtet des Hinweises durch Langes Kollegen Christian Thomasius auf den »leben­ dige[n] Geschmack am Wort Gottes« in seiner Schrift Von der Artzeney wider die unvernünfftige Liebe, Halle 1696, 527. 38 Alfred Riemann: Die Aesthetik Alexander Gottlieb Baumgartens unter besonderer Berücksichtigung der ›Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus‹ nebst einer Übersetzung dieser Schrift, Wiesbaden 1973, 5 – 14. Vgl. z. B. Sven Aage Jørgensen [u. a.]. Aufklärung, Sturm und Drang, Frühe Klassik 1740 – 1789, München 1990, 111 f.; Stöckmann: Anthropologische Ästhe­tik, z. B. 25, der eine Vorgeschichte von Baumgartens Ästhe­t ik bietet, die zwar Dubos beinhaltet, sich aber eher auf französische psychologische Affekttheorien konzentriert als auf Theorien des Geschmacks an sich. 36 Licht

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tendieren dazu, Abstammungsnarrative zu erzeugen, in denen die Entstehung eines späteren Gegenstands quasi-biologisch wie ein Ergebnis eines teleologischen Wachstums oder einer Transformation dargestellt wird. In Baumgartens Fall führt uns das in die Irre. Statt einfach auf zentrale Konzeptionen Langes zurückzugreifen, Langes eigene Impulse zu übernehmen oder eine ästhe­t ische Theorie mit dem Ziel zu entwickeln, Langes theologisches Programm in den Bereich der Philosophie auszudehnen, greift Baumgarten auf eine Vielzahl von Quellen zurück, die vermutlich so weit gestreut sind wie die von König und die er nicht – so wenig wie König – einfach von Lange für eigene Zwecke übernommen haben kann. Die Aufarbeitung der Beziehung zwischen Baumgartens ästhe­tischer Theorie und der theologischen Polemik, in der Lange seinen Begriff des ›geistlichen Geschmacks‹ eingesetzt hat, verlangt eine gewissenhafte Untersuchung dieser Zwecke. Solche Recherchen haben schon einige plausible Hypothesen zu Tage gefördert. In der jüngeren Forschungsliteratur steht, dass Baumgarten in einer laufenden Debatte darüber, ob die in hohem Maße affektgeladenen Äußerungen von den mensch­ lichen Autoren der Bibel als göttliche Eingebungen zu werten seien,39 seine Meditationes (1735) als philosophische Vermittlung für seine pietistischen Lehrer geschrieben habe; dass Baumgarten in andere – aber verwandte – Debatten zwischen seinen pietistischen Lehrern und Christian Wolff (1679 – 1754) über die Ethik eingreifen wollte, die beispielsweise darüber geführt wurden, ob moralische Erziehung die unteren kognitiven Fähigkeiten nicht besser einbeziehen solle anstatt Affekte zu unterdrücken;40 und dass Baumgarten seine ästhe­tische Theorie als einen Beitrag zur pietistischen Kampagne gegen die Wertheimer Bibel entwickelt habe, einer durch Christian Wolff inspirierten Übersetzung des Pentateuch von Johann Lorenz Schmidt (1702 – 1749), dem wiederum von Joachim Lange und anderen vorgeworfen wurde, sprachliche Eindeutigkeit und logische Transparenz zum Preis von Poesie und Erhabenheit verkauft zu haben.41 Ungeachtet der Glaubhaftigkeit all dieser Vermutungen mag eine weitere Annahme, die sich auf den letzten Punkt obiger kurzen Aufzählung bezieht, den direktesten Aufschluss geben über Baumgartens und Langes Verständnis vom Geschmackssinn: Gemeint ist die folgende Annahme, die auf Andres Strassbergers Beobachtung, dass Baumgartens ästhe­t ische Theorie den Kritikern der sogenann39 Grote: »Pietistische Aisthesis«, 175 – 198; Fritz: Vom Erhabenen, 230 – 2 83, bes. 247 f. et pas­ sim, der eine ähnliche, aber ausführlichere Darstellung Baumgartens als philosophischem Verfechter einer in Wolff ’scher Manier formulierten und auf pietistischem Fundament errichteten ›Ästhe­t ik des Erhabenen‹ bietet; vgl. Grote: »Theological Origins of Aesthetics«, 52 f. 40 Diverse Hypothesen zu Baumgartens Eingreifen in ethische Debatten wie diese finden sich in Jacob: Heilige Poesie, bes. 42 – 48; Müller: Ästhetische Religiosität, 46 – 56; Grote: Moral Philosophy and the Origins of Aesthetic Theory, 141 – 253; Gross: Cognitio Sensitiva, 104 – 106; Grote: »Theological Origins of Aesthetics« sowie, vornehmlich mit Bezug auf Baumgartens ethische Schriften: Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten, 79 – 95, 135 – 143. 41 Goldenbaum: »Mendelssohn’s Spinozistic Alternative«, 305 – 315.



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ten ›philosophischen Predigt‹ in den 1740er Jahren Munition lieferte, beruht:42 Aus der Perspektive von Langes Theorie des ›geistlichen Geschmacks‹ versorgte Baumgarten tatsächlich nicht nur andere mit Munition, sondern er setzte diese Waffen 1735 zu eigenen Zwecken auch selbst ein. Die von Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) seit Mitte der 1720er Jahre in einer Reihe von Lehrbüchern und anderen Schriften zu Rhetorik, Homiletik, Poetik und Philosophie offensichtlich befürwortete ›philosophische Predigt‹ hatte bereits Anfang der 1730er Jahre den Argwohn der Halleschen Pietisten erregt, noch bevor die Wertheimer Bibel im Jahr 1735 erschien.43 Gottsched hatte mit Christian Wolffs ›mathematischer Methode‹ der philosophischen Demonstration argumentiert, dass heilige Rhetorik, ebenso wie säkulare Rhetorik, auf Klarheit zielen solle. Sie solle den Willen des Zuhörers hauptsächlich durch einen Appell an den Intellekt bewegen und Logik solle ihr wichtigstes Mittel der Überzeugung sein.44 Nachdem er die Hallesche Theologische Fakultät in den 1720er Jahren mit reichlich polemischer Schlagkraft in ihrer erfolgreichen Kampagne gegen Wolff versorgt hatte, setzte sich Joachim Lange in Halle an die Spitze des Angriffs gegen die scheinbar gefährliche neue Entwicklung, die in der Anwendung der Wolff’schen Philosophie auf die Homiletik durch Gottsched und seine Schüler zu befürchten war. Ebenso besorgniserregend erschien für Lange die Aussicht auf eine damit vielleicht einhergehende allgemeine Rehabilitation der Wolff’schen Philosophie durch den preußischen König Friedrich Wilhelm I.45 Zu Langes Angriffszielen gehörte auch Alexanders Bruder Siegmund Jakob Baumgarten (1706 – 1757), dessen Sympathien für Wolff bereits vor Baumgartens Berufung zum Professor der Theologie im Jahr 1734 Lange und einige seiner Kollegen an der Halleschen Theologischen Fakultät beunruhigt hatten.46 Im März 1736, kurz nachdem Baumgartens neues Lehrbuch zur Moraltheologie begonnen hatte, im Druck zu erscheinen,47 überreichten Lange und seine Kollegen Baumgarten einen Brief, der ihre Bedenken umriss – unter anderem, dass seine Methode, Theologie zu lehren, »all zu philosophisch« sei und unverhältnismäßig häufig Bezug auf die Prinzipien der »Wolffische[n] Philosophie« nehme.48 Im Rückgriff auf Strassberger: Johann Christoph Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt, Tübingen 2010, 481, 491 – 493; vgl. Müller: Ästhetische Religiosität, 53 – 56. 43 Strassberger: Johann Christoph Gottsched, 347 – 351, 430 – 451, bes. 435. 44 Ebd, 145 – 153, vgl. 384 – 3 89, 399. 45 Ebd., 346. 46 Ebd., 430 – 4 44; Friedrich August Tholuck: Geschichte des Rationalismus, 2 Bde., Bd. 1 (Berlin 1865), Neudruck Aalen 1990, 135; Martin Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, Göttingen 1974, 38 – 50, bes. 40. 47 Siegmund Jacob Baumgarten: Unterricht vom rechtmässigen Verhalten eines Christen oder Theologische Moral, Halle 1738. Zum Erscheinen der ersten Bogen im Jahr 1736: Carl Günther Ludovici: Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie, 3 Bde., Bd. 2 (Leipzig 1737), Neudruck Hildesheim 1977, § 472. 48 »Einige Scripturae, des Hn. Prof. Baumgartens philosophische Lehrart betreffend / de anno 42 Andres

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bereits bekannte Argumente aus Angriffen auf philosophisches Predigen und auf die Wertheimer Bibel, die von Lange und anderen schon in den vorhergehenden Jahren veröffentlicht worden waren, zeigten sich Baumgartens Kollegen besorgt, dass die Lehre der Wolff’schen philosophischen Prinzipien dazu führe, dass die Theologiestudenten »an Gottes Wort […] allen Geschmack verliehren [sic]« – und sogar, dass sie sich »vor dem lieben Wort Gottes […] als vor einer losen Schrift eckel[n]«.49 Zu viele Hallesche Theologiestudenten, so fuhren die Kollegen fort, philosophierten daher »safft- und krafftlos« auf der Kanzel, die biblische Sprache (das »einfaltig[e], lauter[e] und rein[e] Wor[t] Gottes«) hingegen wäre nirgends mehr zu hören. Ihre Predigten neigten dazu, »das […] herrliche Evangelium vielmehr [zu] enervieren, als [es] mit […] Beweisung des Geistes und der Krafft an die Hertzen zu legen«.50 Selbstverständlich war ›Geschmack‹ für Lange und seine Kollegen viel mehr als eine Metapher für gewohnheitsmäßige Vorlieben. Bezogen auf die Bibel, wie auch in ihrem gemeinsamen Brief an Baumgarten, bezeichnete er den ›geistlichen Geschmack‹, d. h. eine Erfahrung der übernatürlichen Kraft des göttlichen Wortes und folglich eine ›lebendige‹, praktisch angewandte ›Erkenntnis‹ geistlicher Wahrheiten, erschlossen durch den »Weg der […] Aisthesis«.51 Was sie beunruhigte war, dass die Gemeinden nicht die biblische Sprache hörten, welche die Kraft hatte, diese Erfahrung hervorzurufen, sondern eine philosophische Sprache, die eventuell ein intellektuelles Einverständnis erzeugte, aber nicht die Kraft hatte, das Herz der Zuhörer zu bewegen. Sie sorgten sich darum, dass Baumgarten diese letztere Predigtmethode sowohl mit den homiletischen Prinzipien, die er verfocht und die denjenigen Gottscheds zu ähneln schienen, als auch mit seinem eigenen Beispiel in »all zu philosophisch[en]« Erklärungen im Hörsaal und in seinen Schriften zu befördern schien. Diese Befürchtung erhielt Nahrung durch einen königlichen Befehl aus dem Jahr 1736, der beide Seiten des Konflikts dazu anhielt, »dass die Studiosi Theologiae zum wahren lebendigen Christenthum und richtigen Tüchtigkeit Gott im Predigt Amt nützlich zu dienen, angeführet werden« sollten, »damit ferner viele rechtschaffene Prediger aus ihnen werden mögen«.52 Siegmund Jakob Baumgarten und sein Bruder Alexander antworteten darauf ganz einfach. Siegmund Jakobs Reaktion erschien ausführlich in der Einleitung seines Lehrbuchs zur Moraltheologie im Jahr 1738: Wenn Studenten seine philosophische Methode zur Überzeugung als Modell für ihre Predigten nähmen, dann sei dies ein 1736. d. 19 Febr. bis 29 April«, Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle, AFS t / H E7, fol. 3r. 49 »Einige Scripturae«, AFS t / H E7, fols. 4r-4v. 50 Ebd., fol. 4v. 51 Siehe Anm. 14. 52 Friedrich Wilhelm I an Joachim Lange, 22. Sept. 1736, in: Wilhelm Schrader: Geschichte der Universität Halle, 2 Bde., Berlin 1894, Bd. 2, 462.



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»zufällige[r] Misbrauch« seines Lehrbuchs, welcher die Regeln für gutes Predigen eben gerade verletze.53 Mit anderen Worten, eine ›Wolffische‹ Lehrmethode war durchaus passend, um Studenten zu lehren, wie man geistlich erbauliche Predigten hielt, ohne dass diese Lehrmethode selbst auf der Kanzel anzuwenden sein sollte. Die gleiche Reaktion war bereits in Alexander Baumgartens Meditationes enthalten, die selbst eine philosophische Demonstration waren, dass ein Gedicht, oder eine ›vollkommene sinnliche Rede‹, Vorstellungen verwenden sollte, die gleichzeitig so klar-verworren wie möglich seien – d. h. höchst symbolisch, konkret und affektreich, ganz ähnlich der biblischen Sprache, die Lange und seine Kollegen in den Predigten der Theologiestudenten sehen wollten.54 Jahre später, in seinen Vorlesungen zur Ästhe­t ik, behandelt Baumgarten diesen Punkt ausführlicher. »Durch die Ästhe­tik«, erklärt er seinen Studenten, »wird der Theologus ein guter Homilete werden.« 55 Dieser Lesart folgend mag Baumgarten seine Meditationes vielleicht als Antwort auf Königs Ruf nach einer philosophischen Poetik geschrieben haben, wenngleich König natürlich nicht der einzige war, der eine solche Forderung stellte und den Baumgarten kannte. In den frühen 1720er Jahren hatte König selbst in Johann ­Jakob Bodmers (1698 – 1783) und Johann Jakob Breitingers (1701 – 1776) Discourse der Mahlern eine Anregung zu seinen eigenen Untersuchungen gefunden.56 Baumgarten kannte nicht nur Bodmer und Breitingers Discourse, sondern auch Gottscheds Poetik, die 1729 erschienen war und möglicherweise selbst als Antwort auf Königs Forderung aufzufassen ist.57 Und doch kann Baumgarten nicht nur die Absicht gehabt haben, in eine von König nach Deutschland übertragene französische Debatte des 17. Jahrhunderts einzugreifen. Oder auch nur in eine deutsche Debatte über den literarischen Geschmack, deren Rahmenbedingungen von Bodmer, Breitinger, König und Gottsched in den 1720ern festgelegt worden waren.58 Wahrscheinlicher ist, dass er sich Mitte der 53 Siegmund Jacob Baumgarten: Unterricht vom rechtmässigen Verhalten eines Christen oder Theologische Moral, »Vorbericht«, [xxvi]. 54 Vgl. Grote: »Theological Origins of Aesthetics«, 52 f. 55 »Kollegnachschrift über die Ästhe­t ik«, § 3. 56 Johann Jacob Bodmer/Johan Jacob Breitinger: Die Discourse der Mahlern, Zürich 1721 f., und Die Mahler oder Discourse von den Sitten der Menschen, Zürich 1723. Tatsächlich hatten Bodmer und Breitinger geplant, Canitz’ Gedichte zu edieren und mit ihrem Verzicht auf dieses Projekt überließen sie König das Feld. Vgl. Max Clemens Rosenmüller: Johann Ulrich von König. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Diss. Leipzig 1896, 133 – 137, 143. 57 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen, Leipzig, 1730; Med. § 91; Strassberger: Johann Christoph Gottsched, 91. Zu Gottscheds zumindest oberflächlich herzlichem Verhältnis zu König in den späten 1720er Jahren, einschließlich Gottscheds Angebot, König bei seiner Edition der Canitzschen Gedichte zu helfen, vgl. Rosenmüller: Johann Ulrich von König, 47 – 56 und Theodor Wilhelm Danzel: Gottsched und seine Zeit, Leipzig 1855, 70 – 72. 58 Vgl. Stöckmann: Anthropologische Ästhe­tik, 25.

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1730er Jahre in einer hitzigen Kontroverse über die Art der Pfarrausbildung wiederfand. Seine pietistischen Lehrer befürchteten nämlich, dass Wolffs mathematische Methode, mit der Theologiestudenten in poetisch-rhetorische, Gottscheds Dichtungstheorie verwandte Prinzipien eingeführt wurden, dazu veranlasse, eher in einer uninspirierten, philosophischen Redensart zu predigen als in der affektgeladenen, inspirierten, poetischen Sprache der Bibel. Die Ersetzung der affektgeladenen Ansprache durch die philosophische habe selbstverständlich zur Folge, dass die Studenten und ihre Gemeinden die Vervollkommnung ihres ›geistlichen Geschmacks‹ preisgegeben würden. Sie wäre also eine unmittelbare Missachtung dessen, was Lange in seiner langjährigen Polemik gegen die Lutherische Orthodoxie als entscheidendes Projekt des Pietismus vorgestellt hatte.59 Baumgarten rea­ gierte mit einer Poetik und später mit einer allgemeinen Ästhe­t ik, welche zwar die Wolff’sche Methode einsetzte, um aber ein Ergebnis hervorzubringen, das sich von demjenigen Gottscheds seiner Intention nach maßgeblich unterschied. Indem er die ästhe­t ische Vollkommenheit genau jener Sprache bewies, von der Lange fürchtete, dass sie bei den Theologiestudenten Widerwillen gegenüber dem Evangelium hervorrufen würde, beabsichtigte Baumgarten, die Studenten zu motivieren, ästhe­t ische Übungen vorzunehmen, die ihren Geschmack für diese Sprache entwickeln würden. Es war jene Sprache, deren ästhe­tische Vollkommenheit zum Gegenstand einer Kontroverse wurde – und zwar in den Geschmacksdiskursen der 1740er Jahre, die mit dem sogenannten kleinen Dichterkrieg in Halle und Leipzig verbunden waren.60 Wenn diese Annahme zu Baumgartens Absicht richtig ist, dann war seine Ästhe­ tik keinesfalls eine unmittelbare Erweiterung von Langes Programm zur Vervollkommnung des ›geistlichen Geschmacks‹. Schließlich attackierte Lange selbst Siegmund Jakob Baumgartens pädagogischen Gebrauch einer Wolff ’schen Ausdrucksweise, die derjenigen Alexanders ähnlich war. Er mag jeden Versuch misstrauisch beäugt haben, eine Reihe von Prinzipien vorzuschlagen, die auch einen Prediger ohne göttliche Inspiration in den Stand gesetzt hätten, eine wirksame Predigt hervorzubringen.61 Sicherlich zog auch Alexander Baumgarten selbst in Betracht, dass der außerordentliche Grad an ästhe­tischer Vollkommenheit, den die Bibel aufweist, ein Beweis göttlicher Eingabe sei.62 Gemessen an Baumgartens Prinzipien würde ein inspirierter Autor oder Prediger also einen höheren Grad 59 Über Gottscheds Affinität zur Lutherischen Orthodoxie: Georg Friedrich Meier: Frühe Schriften zur ästhe­tischen Erziehung der Deutschen in 3 Teilen, hg. von Hans-Joachim Kertscher und Günter Schenk, 3 Bde., Bd.  1, Halle 2000, 173 f.; Strassberger: Johann Christoph Gottsched, 379 – 424, 451, der auch ein Licht auf Gottscheds Konflikte mit den Orthodoxen wirft. 60 Strassberger: Johann Christoph Gottsched, 493 – 518, bes. 495; Stöckmann: Anthropologische Ästhe­tik, 113 – 148; Meier: Frühe Schriften, 173 – 83, 187 – 212, neben anderen Darstellungen dieser Debatten. 61 Strassberger: Johann Christoph Gottsched, 154 f. 62 Alexander Gottlieb Baumgarten: Isagoge philosophica in theologiam theticam, §§ 41 – 69.



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an ästhe­tischer Vollkommenheit erreichen als selbst der talentierteste und bestens ausgebildete, aber uninspirierte. Lange kann solch einem Gedanken kaum wider­ sprochen haben. Aber seine Zweifel und jene, die auch andere Autoren seiner Zeit an der Brauchbarkeit philosophischer Demonstration zur Förderung der Entwicklung eines Geschmacks für die biblische Sprache äußerten, mussten erst noch zerstreut werden. Dass Baumgartens ästhe­tische Theorie die Aufgabe, diese Zweifel zu zerstreuen, erfüllte und dass Baumgarten genau dies beabsichtigt haben mag, spiegelt eine historische Beziehung zwischen den Konzeptionen des ›geistlichen‹ und des ›guten Geschmacks‹ wider, die eine einfache Suche nach den Wurzeln der ästhe­tischen Theorie in der pietistischen Theologie nicht enthüllen kann.63 Übersetzung von Claudia Drese

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Ich danke Peter Erickson, Jonathan Strom und Christopher Wild für die Gelegenheit, eine frühere Version dieses Aufsatzes auf dem Jahrestreffen der German Studies Association im Okto­ ber 2014 dem Seminar »Conversion in the Eighteenth Century: Narrative, Spirituality, Aesthe­ tics« vorzustellen, und Carol Dougherty, Direktorin des Newhouse Center for the Humanities am Wellesley College, für die Einladung, dieses Projekt im März 2015 den Kollegen in Wellesley zu präsentieren. Den Teilnehmern des GSA Seminars und meinen Kollegen in Wellesley gilt mein Dank für ihr Feedback. Zudem bin ich – wie immer – Britta Klosterberg, Thomas MüllerBahlke, Christian Soboth und vielen anderen in den Franckeschen Stiftungen in Halle zu Dank verpflichtet: für ihre unermüdliche Gastfreundschaft und ihre Unterstützung meiner Forschung zu diesem Thema; ein großer Teil davon fand im Sommer 2014 in Halle statt. Für hilfreiche Gespräche und bibliographische Ratschläge während dieses Sommers und während des darauffolgenden Jahres danke ich ganz besonders Jonathan Strom, Endre Szécsényi und Kelly Whitmer. Schließlich: Für die Übersetzung dieses Aufsatzes aus dem ursprünglichen englischen Original ins Deutsche, ausgeführt mit großer Kompetenz, Kollegialität und Schnelligkeit unter Zeitdruck, danke ich Claudia Drese.

Veranschaulichte Welt Der Orbis Pictus, das wissenschaftliche Theater von Leibniz und die Vermittlungsstrategien in den Franckeschen Stiftungen Von Christoph Asendorf Bei Baumgartens Ästhe­tik kommt zu dem auf klärerischen Interesse an einem »Wissen vom Sinnenhaften«1 noch eine andere Einflussgröße hinzu, nämlich seine Prägung durch den Hallenser Pietismus, der ein aktives Interesse an der Welt als Schöpfung Gottes forderte und gegen tote theologische Schriftgelehrsamkeit das Ideal der »lebendigen Erkenntnis« 2 setzte. Weltzugewandtheit, ein aktives Interesse an der Welt, ist von Sinnlichkeit bzw. sinnlicher Wahrnehmung schwer zu trennen. A ­ ugust Hermann Francke, Gründer der Hallenser Schul- und Sozialstiftungen, stand in Kontakt mit Leibniz und operierte mit den Lehrkonzepten von C ­ omenius, die beide elaborierte Methoden der Veranschaulichung entwickelt hatten. Da Baumgarten erst zu Franckes Schülern zählte und später auch im pietistischen Halle studierte, möchte ich auf der Linie Comenius – Leibniz – Francke auf einige der einschlägigen Verfahren verweisen, mit denen Baumgarten direkt oder indirekt konfrontiert war, als er sein Konzept einer »Emanzipation der Sinnlichkeit« 3 entwickelte. 1. Orbis pictus Der 1658 von Comenius publizierte Orbis sensualium pictus ist das am meisten verbreitete Schulbuch der frühen Neuzeit überhaupt. Mancherorts wurde es sofort nach Erscheinen für den Schulgebrauch vorgeschrieben. Die Rezeptionsgeschichte, die hier begann, sollte, mit über 250 Ausgaben und zahlreichen Übersetzungen, bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts reichen.4 Wie konkurrenzlos das Buch lange Zeit war, zeigt eine Äußerung Goethes, der in Dichtung und Wahrheit über seine Schulzeit mitteilt, dass es neben dem Orbis pictus nichts Vergleichbares gab;5 das war immerhin ein Jahrhundert nach seinem Erscheinen. In heutiger Nomenklatur 1 Ursula Franke: »Sinnliche Erkenntnis«, in: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Aufklärung, 20), hg. von Alexander Aichele und Dagmar Mirbach, Hamburg 2008, 74. Vgl. Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Stuttgart 1993, 9 f. 2 Clemens Schwaiger: »Baumgartens Ansatz einer philosophischen Ethikbegründung«, in: Aichele/Mirbach (Hgg.): Alexander Gottlieb Baumgarten, 234. 3 So eine Formulierung Cassirers, s. Aichele/Mirbach (Hgg.): Alexander Gottlieb Baumgarten, »Einleitung«, 7. 4 Heiner Höfener: »Nachwort«, in: Orbis sensualium pictus (Faksimile-Reprint der Ausg. von 1658), Dortmund 1978, 395. 5 Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: ders.: Werke, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1977, 33.

ZÄK-Sonderheft 15  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978 – 3 -7873 – 2 816 – 1

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wäre das Genre dieses Buches nicht leicht zu bestimmen – unter anderem ist es ein Sprachenlehrbuch Deutsch–Latein. Dass dies aber nicht seine Hauptfunktion ist, zeigt schon der Titel, der in seiner deutschen Fassung lautet: Die sichtbare Welt – Das ist aller vornemsten Welt-Dinge und Lebens-Verrichtungen Vorbildung und Benahmung. Das weist eher auf Heimat-, Erd- oder Sozialkunde; insgesamt wäre der Terminus ›Weltkunde‹ wohl angebrachter. Und genau diese Intention bringt Comenius in seinem Vorwort auch unmissverständlich zum Ausdruck: »Es ist / wie ihr sehet / ein kleines Büchlein: aber gleichwol ein kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen Sprache / voller Figuren oder Bildungen / Benahmungen und der Dinge Beschreibungen«.6

Damit ist, auch wenn sich das Buch, seinem Verwendungszweck entsprechend, einfach und geklärt liest, eine komplexe Konzeptualisierungsarbeit vorausgesetzt – denn wie kann das Ganze der Welt in ein Schulbuch übersetzt werden? Das erste Kapitel ist ›Gott‹ überschrieben, darauf folgen die ›Welt‹, der ›Himmel‹ und die Elemente. Über das Stichwort ›Erde‹ geht es dann zu den greif baren Realien, zu Pflanzen und Tieren, dann zu den Menschen in Physiologie und Lebensform und weiter zu Haus und Stadt, um schließlich, nachdem der große Bogen des Irdischen durchlaufen ist, wieder mit religiösen Themen zu schließen. Dabei ist solch »kurzer Begriff der ganzen Welt« nicht ans Wort allein gebunden; in allen 150 jeweils doppelseitigen Kapiteln tritt zu den Beschreibungen jeweils eine unter Umständen mehrsze­ n ige Illustration. Diese Abbildungen, auf Anschaulichkeit hin konzipert und schon aufgrund des gegebenen Formates (die Originalgröße des Buches war 10 x 16,5 cm) über das konkret Darzustellende hinaus nicht allzu detailreich, markieren illustrationsgeschichtlich ein genuin neuzeitliches Sach­inte­resse, das sich vom mittelalterlichen grundsätzlich unterschei- Abb. 1: Comenius: Orbis pictus, Titelblatt der det: Wurden früher eine Pflanze oder Erstausgabe 1658 6 Orbis

sensualium pictus, »Praefatio/Vortrag«, [XII].



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ein Tier im Kontext beispielswiese ihrer mythologischen Konnota­tionen gezeigt, was durchaus auf Kosten des tatsächlichen Erscheinungsbildes gehen konnte, so änderte sich dies – um den Preis nun wiederum der Reduktion auf die Sache selbst. Gänzlich ist die alte Sicht auch bei den Illustrationen des Orbis pictus nicht verschwunden; aber es sind nurmehr Einsprengsel, 1658 auch weiterhin zugelassene Reste eines vergehenden Weltbildes. Hinter dieser bildgeschichtlichen steht eine geistesgeschichtliche Veränderung, mit der philologisches Wissen langsam durch exakte Naturbeobachtung ersetzt wurde. Dazu gehört auch die Wendung von einem wesentlich schriftorientierten Humanismus hin zu Anschaulichkeit und Erfahrung. Diese Orientierung, grundlegend für den Empirismus, hatte Auswirkungen natürlich auch auf die Pädagogik – so forderte schon Francis Bacon, und der Orbis pictus liegt ganz auf dieser Linie, dass der Unterricht stets von der Erfahrungswelt des Kindes auszugehen habe.7 Für Comenius waren die Dinge aus den Dingen selbst zu lernen – die Wahrheit wohne den Dingen inne, und nicht vorgefundenen Texten. Eine Kenntnis der Dinge kann nur über die Vermittlung der Sinne gewonnen werden – und diesen in seinen Augen einzig gangbaren Weg fasst Comenius in die fortan vielzitierte Formel: »Es ist aber nichts in dem Verstand, wo es nicht zuvor im Sinn gewesen«.8 Dieser Leitvorstellung folgt auch, wo immer möglich, der Orbis pictus sowohl in seiner Struktur wie der konsequenten Bild-Text-Relation. Dabei sind die Illustrationen des Orbis pictus durchaus nicht in allen Fällen einfach als möglichst wirklichkeitsnahe Wiedergaben von konkreten Dingen aufzufassen. Bei dem gegebenen Anspruch, in Bild und Text das Ganze der Welt darzustellen, mussten noch weitere Aufgaben erfüllt werden – denn wenn jedes einzelne Kapitel illustriert werden sollte, dann galt dies auch für Themen wie ›Gott‹, ›Die Vorsehung‹ oder ›Die Seele des Menschen‹, wo schnell die Grenzen einer ›realistischen‹ Repräsention erreicht sind. Hier und auch in noch weiteren Fällen mussten Comenius und Holzschneider wie Verleger nach anderen Formen der Darstellung suchen, andere Modi der Verbildlichung einsetzen, ohne die intendierte Übersichtlichkeit und Verständlichkeit des Ganzen zu gefährden. Insgesamt lassen sich vier verschiedene Formen von Illustrationen unterscheiden, nämlich direkte und in­d irekte wie auch metaphorische und allegorische.9 Die geringsten Probleme machen natürlich die direkten Abbildungen eines Hauses oder der Glieder des Menschen. Schon eine Schule aber beispielsweise lässt sich nur indirekt zeigen über einen Schulraum, die Tafel, Bankreihen etc. Das ›Jüngste Gericht‹ (Kap. CL) wird metaphorisch veranschaulicht, über den aus den Wolken herab Rechenschaft fordernden Herrn und den jeweiligen Ort für die Auserwählten und Verdammten, während ›Gott‹ in seiner Transzendenz und Nichtbetrachtbarkeit nur allegorisch 7 Vgl. Robert Alt: Herkunft und Bedeutung des Orbis Pictus, Berlin 1970, 15 – 17 und Albert Reble: Geschichte der Pädagogik, Stuttgart 1993, 118. 8 Vgl. Alt: Orbis Pictus, 25 f. 9 Dazu ausführlich: Herbert Hornstein: Die Dinge sehen, wie sie aus sich selber sind, Hohengehren 1997, 12 f.

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gezeigt werden kann, in diesem Fall als konventionelles Zeichen, als Dreieck, umgeben von einem sich ausbreitenden Strahlenring. Vielleicht sollten als fünfte Gruppe noch kartographische und diagrammatische Darstellungen genannt werden, letzteres zu sehen etwa bei den ›Monds Gestalten‹ (Kap. CV ). Auch innerhalb der jeweiligen Bildmodi sind die einzelnen Illustrationen nicht einfach voraussetzungslose Darstellungen, sondern sie stehen ihrerseits vielfach in bestimmten Traditionslinien. Dabei gibt es bemerkenswerte visuelle Transfers, wie etwa im Fall des Kap. XXXIX (›Fleisch und Ingeweid‹): Die Illustration zeigt links einen stehenden männlichen Körper mit abgezogener Haut, rechts einen Torso mit aufgeschnittener Haut, der Einblick in Lage und Gestalt der Organe gibt. In beiden Fällen sind es vereinfachte und verkleinerte Dastellungen aus medizinischen Lehrbüchern, im Fall des stehenden Mannes sogar aus einem der berühmtesten Werke der Neuzeit überhaupt, nämlich dem 1543 in Basel erschienenen anatomischen Atlas De humani corporis fabrica libri septem von Andreas Vesalius, dem Begünder der neuzeitlichen Anatomie und des morphologischen Denkens, darüberhinaus noch Leibarzt Karls V. und Philipps II.10 Gegebene visuelle Quellen wurden auch in weiteren Fällen benutzt bzw. dem pädagogischen Bedürfnis angepasst. Dabei kommen zu den einfachen Adaptionen auch Collagen mehrerer Vorlagen, wie das im Fall der ›Erzgrube‹ (Kap. ­L XVII) zu sehen ist. Auch für dieses Thema war wie bei der Anatomie eine epochale Darstellung vorhanden, nämlich Agricolas De re metallica, ebenfalls in Basel und ein gutes Jahrzehnt nach dem Werk von Vesalius erschienen. Danach kam es zu einer Vielzahl weiterer Veröffentlichungen illustrierter Bücher zu diesem ja auch ökonomisch wichtigen Thema, und die entsprechende Abbildung des Orbis pictus erweist sich als aus zwei Vorlagen zusammengesetzt, von denen eine direkt dem Buch von Agricola entnommen ist. Zur Bearbeitung von Illustrationen aus den großen wissenschaftlichen Werken der Zeit kommt die Anregung durch populäre volkssprachlichen Quellen – und beides ist im Orbis pictus so ineinandergefügt und erläutert, dass alle Bereiche des Lebens abgedeckt sind und damit tatsächlich ein »kurzer Begriff der ganzen Welt« gegeben ist. Dieser Humanismus speist sich nicht aus der Philologie, sondern wesentlich aus den Realien der frühneuzeitlichen Lebenswelt, die, eingebunden in einen christlichen Bezugsrahmen, mit größtmöglicher Anschaulichkeit und auf der Höhe der Erkenntnis präsentiert werden. Nur ein Punkt bleibt davon ausgenommen – der Wunsch, die Welt als Einheit zu erfassen, alles Sein von ihr aus zu denken, ließ Comenius auch weiterhin geozentrische Darstellungen verwenden.11 Comenius und Vesalius: Alt: Orbis Pictus, 31 – 41; zum Bild von Vesalius selber: Harry Robin: The Scientific Image, New York 1993, 40 f. Ein digitales Faksimile von Teilen des Buches von Vesalius unter: http://archive.nlm.nih.gov/proj/ttp/flash/vesalius/vesalius.html (letzter Aufruf 01.06.2015). 11 Vgl. Orbis pictus, Kap. CIII - CVI. Den Versuch einer Einordnung bietet: Hans Scheuerl: »Johann Amos Comenius«, in: Klasssiker der Pädagogik, hg. von dems., Bd. 1, München 1991, 67. 10 Zu



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Die systematische Verknüpfung von Bild und Text macht Comenius auch zum Pionier der Bilddidaktik, einer Vermittlungsform von Wissen, die die europäische Geistesgeschichte von den Bilderbibeln in den Glasfenstern der großen Kirchen des Mittelalters bis heute durchzieht. Mit den bildgestützten Massenmedien des 20. Jahrhunderts wurden die Potentiale der Bilddidaktik noch einmal angereichert, was von den kommentierten Bildtafeln Aby Warburgs bis zum Iconic Turn auch vielfache intellektuelle Aufmerksamkeit erfahren hat. Weitere Impulse kamen von Seiten der Neurophysiologie, die nach der Bedeutung bildlicher Repräsentation für das Entstehen von Wissen und Erkenntnis überhaupt fragte. Angesichts dieser erst jüngeren Entwicklungen und Erkenntnisse erstaunt es noch mehr, mit welch zielgerichteter Sicherheit schon im 16. und 17. Jahrhundert Bilder zur Wissensvermittlung eingesetzt wurden. Im Fall des Orbis pictus aber ist die Frage immer wieder verschieden beantwortet worden, was denn das eigentliche Ziel der so sorgfältig strukturierten Bild-TextMontage und vor allem der Illustrationen selber gewesen ist. Natürlich ist die erste naheliegende Antwort, dass es darum gehe, die einzelnen Dinge in ihrer tatsächlichen Beschaffenheit zu zeigen. Doch dies beträfe nur das Bildmaterial selbst und nicht das zugrundeliegende Programm. Nicht zuletzt deswegen auch bot der Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow, ein Schüler Martin Heideggers, eine in andere Richtung weisende Erklärung, als er darauf hinwies, dass man dem Buch von Comenius nicht gerecht wird, wenn man es allein »in die Entwicklung der sensualistischen Didaktik einordnet, oder überhaupt seine Bedeutung von der bildlichen Veranschaulichung her sieht. Man verkennt damit das Eigentliche dieses Werks: seine systematische Absicht als Darstellung eines geordneten Weltbilds […]. [D]as Entscheidende liegt nicht im einzelnen Bild, so interessant es sein mag, sondern in der Anordnung und Darstellung des Ganzen«,

darin, »das Ganze des Weltbilds« zu spiegeln.12 Dies impliziert, dass das einzelne Ding so weit, wie es im gegebenen Rahmen möglich ist, dargestellt und erläutert wird, dabei aber immer als in größere Zusammenhänge eingeordnet begriffen wird, bis hin zum Gottesbezug. Das ausgeprägte Weltinteresse, von dem der Orbis pictus zeugt, die Darstellung der Breite der Lebenswelt, lässt die Dinge nicht als frei verfügbare erscheinen, sondern im Bezug auf ein unverfügbar Größeres, das kosmische Ganze innerhalb der Schöpfung überhaupt. Als genuin frühneuzeitliches Projekt erschließt der Orbis pictus die Fülle des Seins vom kleinsten Ding bis in die

12 Otto Friedrich Bollnow: »Comenius und Basedow«, in: Die Sammlung 5/3 (März 1950), 141–153, im Internet unter: www.otto-friedrich- bollnow.de/doc/ComeniusBasedowA.pdf, 5, 4. Vgl. ders.: »Amos Comenius«: www.otto-friedrich-bollnow.de/doc/ComeniusV.pdf (letzter Aufruf der Bollnow-Texte: 01.06.2015). Dazu: Klaus Schaller: Die Pädagogik des Johann Amos Comenius, Heidelberg 1962, 341 f. Kontrovers: Alt: Orbis Pictus, 28 f.

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Unendlichkeit, zeigt die Welt als Einheit13 und inventarisert sie gleichsam – und dies aus einer durchaus aktivistischen Perspektive, in welcher der Mensch wie ein Mitarbeiter am Werk der Schöpfung erscheint. 2. Leibniz und Comenius Als dreidimensionale und performative Version eines Orbis pictus lässt sich die Idee des wissenschaftlichen Theaters verstehen, die Leibniz über Jahrzehnte hinweg beschäftigt hat. In einer Denkschrift für Peter den Großen über die Verbesserung der Wissenschaften und Künste im russischen Reich legt er 1716 die letzte Version seines Konzeptes dar: »Das Theatrum Naturae et Artis begreift in sich etwas größeres; und zwar zum naturae gehören ganze Grotten, darin allerhand Sorten der Mineralien und Muschelwerke zu sehen, Garten, darin ungemeine Sorten von Bäumen, Stauden, Wurzeln, Kräuter, Blumen und Früchte zu finden und endlich Thiergarten und vivaria, darin lebende vierfüssige Thiere, Vögel und Fische zu sehen, samt einem theatro Anatomico, darin der Thiere Sceleta zu zeigen […] Zu dem theatro artis gehöret was ein observatorium […], darin auch Modelle von allerhand nützlichen inventionen in ziemlicher Grösse sich finden sollen«.14

Die Mischung von toten und lebendigen Objekten im Naturtheater machte es in heutiger Nomenklatur zu einem Hybriden aus Zoo und Naturkundemuseum; dazu kommen noch das Theatrum Artis mit seinen technischen Geräten und eine Kunstkammer. Die Idee, Objekte zu theatralisieren, hat Leibniz schon in frühen Jahren beschäftigt; die Lebendigkeit des Eindrucks sollte Kenntnisse erweitern helfen. Das ganze Spektrum der Präsentationstechniken findet sich schon im einem Text von 1675 beschrieben; dieser »Gedankenscherz, eine neue Art von Représentations berührend« ist, wie der Titel andeutet, halb Utopie und halb Spiel und berührt dennoch ein lebenslanges Anliegen von Leibniz. ›Représentations‹ wären zum Beispiel, so schreibt er, »die Laterna Magica (damit könnte man beginnen), Flüge, künstliche Wetterphänomene und alle Sorten optischer Wunder. Eine Darstellung des Himmels und der Sterne, Kometen, ein Globus sowie jener in Gottorp oder Jena, Feuerwerk, Springbrunnen und Schiffe ungewöhnlicher Formen […]. Seltene Musikinstrumente. Sprechende Trompeten. Portraits aus Edelsteinen nachgemacht. Die Représentation 13 Vgl. Eugenio Garin: Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik III , Reinbek bei Hamburg 1967, 40 f. 14 Gottfried Wilhelm Leibniz: Denkschrift über die Verbesserung der Künste und Wissenschaften im Russischen Reich für Zar Peter I. (1716), hier zitiert nach Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade, Berlin 2004, 235 f.



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könnte beständig mit Geschichten und Komödien verbunden werden. Theater der Natur und Kunst.«

Der Begriff des Theaters wird sehr weit gefasst, bis hin zur theatralen Präsentation von Erfindungen jedweder Art. Am Ende also hätte man hier »wahrhaftig ein Theater aller nur denkbaren Dinge«, ein barockes Totaltheater, in dem die Bestände sämtlicher Wissenschaften und alle sonstigen Kenntnisse und Erfahrungen ins Spiel der Vorführungen einbezogen wären.15 Doch dabei sollte nicht aus dem Blick geraten, dass es Leibniz nicht um das Theater an sich, sondern um die Vermittlung von Wissen zu tun ist, für die nur das Theater mit seiner besonderen Übertragungskraft das Medium der Wahl ist, in Kombination mit Akademien, Gemäldegalerien und anderen Stätten der Kommunikation und des Vergnügens. Welch unglaublich aufwendige Maschinerien der Vergegenwärtigung hier entworfen werden, zeigt schon ein Blick auf die Komplexität eines einzelnen der hier erwähnten Objekte. Denn den ›Globus in Gottorp‹ gab es ja tatsächlich, Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf hatte dieses naturwissenschaftliche Großobjekt ab 1650 von seinem Hofgelehrten Adam Olearius entwerfen und dann bauen lassen, und zwar für den barocken Garten hinter Schloss Gottorf bei Schleswig. Das kosmologische Interesse der Zeit war ja, nachdem Galilei ein Teleskop zur Himmelsbeobachtung eingesetzt hatte, stark angewachsen. Für den Gottorfer Globus mit einem Durchmesser von mehr als 3 Metern wurde extra ein Gebäude errichtet, das Globushaus, die sog. ›Friedrichsburg‹. Der begehbare Globus selbst bot in seinem Inneren bis zu zwölf Personen Platz; und während auf der Außenseite eine kartographisch exakte Darstellung der damals bekannten Welt aufgebracht war, bot das Innere einen figürlich ausgeschmückten ›vollständigen‹ Sternenhimmel, wobei auch der Lauf der Gestirne vorgeführt werden sollte. Zu diesem Zweck befand sich im Keller des Globushauses ein Wassermühlenantrieb, von dem aus über gut abgestimmte Getriebe und Feinübersetzungen eine Umdrehung in 24 Stunden vollzogen wurde. Diese Attraktion, die »gleichsam den historischen Kulminationspunkt Gottorfer Barockkultur markierte«,16 faszinierte auch Peter den Großen, der sich den Globus nach einer militärischen Niederlage der Gottorfer als Geschenk erbat und erhielt. Er wurde aus der Friedrichsburg herausgebrochen und nach St. Petersburg verbracht, wo er 1717 ankam, ein neues Globushaus erhielt und vom Zaren fast täglich besucht wurde. Mit diesem sehr frühen Planetarium ist nur ein Jahr nach der letzten Denkschrift von Leibniz an den Zaren (und gut vier Jahrzehnte nach seinem Gedankenscherz, der genau dieses Objekt erwähnte) ein Bestandteil des von ihm empfohlenen Theatrum Artis tatsächlich nach RussWilhelm Leibniz: Gedankenscherz, eine neue Art von Représentations berührend (1675), hier zititiert nach Horst Bredekamp: »Leibniz’ Theater der Natur und Kunst«, in: Katalog Theater der Natur und Kunst, hg. von Horst Bredekamp [u. a.], Berlin 2000, 15. Vgl. dazu die Ausführungen Bredekamps, ebd., 14 – 16. 16 Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloß Gottorf, hg. von Herwig Guratzsch, München/London/New York 2001, 42 – 4 4, Zitat: 43. 15 Gottfried

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land gelangt, wo es in einer Art barockem Science-Park Aufstellung fand. In Gottorf selbst gelang es erst 2005, eine Rekonstruktion zu errichten und in Betrieb zu nehmen.17 Das Theatrum-Konzept von Leibniz, das nach 1700 auch in die Gründungs­ geschichte der Berliner Akademie der Wissenschaften hineinreichte, basiert grundsätzlich auf der Annahme, dass Visualität das Verstehen von Sachverhalten befördert; Dinge, die anschaulich gemacht werden, lassen sich schneller und eindeutiger als durch Texte allein erfassen, auch das Zusammenwirken mehrerer Objekte lässt sich leichter zeigen. Darin liegt eine Übereinstimmung mit dem Konzept des Orbis pictus – und auch wenn Anspruch und Adressatengruppen sehr verschieden sind, so geht es doch jeweils um Vermittlung durch Veranschaulichung, um ein Weltbild, das den Zusammenhang und die Einheit des Kleinen und Großen, des Belebten und Unbelebten, des Nahen und Fernen betont. Doch dies ist nicht die einzige Parallele; auf weiterreichende Bezüge machte der Leibniz-Forscher Dietrich Mahnke schon 1930 aufmerksam, indem er feststellte, dass »der allernächste Geistesverwandte des Comenius […] unter den großen Barockphilosophen zweifellos Gottfried Wilhelm Leibniz [ist], der sein höchstes Lebensziel: die einheitliche vernünftige Menschheitsorganisation, genauso wie Comenius durch die Schöpfung einer scientia generalis und characteristica universalis (d. h. einer einheitlichen logischen Sprache und Schrift) zu fundamentieren, durch die Gründung von wissenschaftlichen Sozietäten, die Reform des Unterrichts, die harmonische Synthese der mannigfaltigen Wissenschaftsgebiete und der entgegengesetzten Standpunkte, die Union der christlichen Konfessionen und die weltanschauliche Versöhnung von Wissenschaft und Religion durchzuführen bestrebt war.«18

Vergleichbarkeiten bestehen auch hinsichtlich des Wirkungsradius’ beider. Als Comenius 1641 nach London reist, wird im Parlament die Gründung eines universalwissenschaftlichen Instituts erwogen; Kardinal Richelieu lädt ihn ein, in Frankreich ein pansophisches Institut zu gründen, also ein Institut der Allweisheit. Bei dem Treffen von Comenius mit Descartes prallen zwei epochal verschiedene Haltungen aufeinander; Descartes’ konsequenter Rationalismus steht gegen die Verknüpfung von Analogiedenken und Wissenschaft, von Vernunft- und Offenbarungsweisheit bei Comenius; doch beide begegneten sich offensichtlich mit Achtung. Das Harvard College ruft ihn nach Neuengland und der Große Kurfürst schließlich unterzeichnet 1667 den Plan für eine große comenianische Universität im kriegszerstörten Tangermünde, einer kleinen Stadt elbabwärts bei Magdeburg (die 300 Jahre zuvor schon Kaiser Karl IV. zur Nebenresidenz nach Prag machen wollte).19 Die letzten ebd.; vgl. 10. Kunstzeitung 105 (Mai 2005), 30. Weiter: Wladimir Velminski: »Mysterien der Kartographie«, in: Horst Bredekamp/Pablo Schneider (Hgg.): Visuelle Argumentationen, München 2006, 225 – 252. 18 Dietrich Mahnke: »Die Pansophie als bestes Mittel zur Friedensstiftung«, in: Werner Korthaase [u. a.] (Hgg.): Comenius und der Weltfriede, Berlin 2005, 258, vgl. 967. 19 Hans Scheuerl: »Johann Amos Comenius«, 71; Werner Korthaase: »Comenius’ Pansophic 17 Vgl.



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Lebensjahre verbrachte er in Amsterdam – und womöglich ist Rembrandts ›Bildnis eines alten Mannes‹ ein Porträt von Comenius.20 Das ist eine Karriere, mit der es gelang, wenn auch nicht ganz auf dem Plateau des universalen Denkers Leibniz, der an den großen Höfen verkehrte, ein hohes Maß an gesamteuropäischer Aufmerksamkeit hervorzurufen. Die Übereinstimmung der Positionen von Leibniz und Comenius drückt sich auch in der expliziten Wertschätzung aus, die Leibniz dem ein halbes Jahrhundert älteren Comenius entgegenbrachte. Unter seinen Texten findet sich sogar ein Lobgedicht des jungen Leibniz auf Comenius. Dass ihn die Didaktik des Comenius interessierte, liegt ohnehin auf der Hand; offenbar aber sah er auch eine Beziehung zwischen seinem Universalismus und dessen enzyklopädischen und pansophischen Überlegungen.21 Mit ihrem Wunsch nach »einheitlicher vernünftiger Menschheitsorganisation« und der Neigung zu »allumfassendem Planen« 22 stehen Leibniz und Comenius nicht allein; derartige Grundorientierungen sind in ganz Europa in der Zeit gegen Ende und nach dem Dreißigjährigen Krieg durchaus verbreitet und wohl auch mit ein Grund für die internationalen Karrieren beider Denker. In beiden Fällen aber ist der Vereinheitlichungswunsch nicht eine genuin politische Idee, sondern abgeleitet aus einem elaborierten pansophischen bzw. universalistischen Denken, das in hohem Grad auf Integration der Wissensgebiete, der Reli­ gionen und auch der Staaten zielte. 3. Francke in Halle Mit August Hermann Francke wurde im Oktober 1701 einer der wichtigsten Theologen und Pädagogen des Pietismus in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Der Vorschlag ging von Leibniz aus, dem ersten Präsidenten der Akademie, der mit Francke über seine »Universalpläne« und die Möglichkeiten einer China-Mission korrespondiert hatte.23 Francke ist Gründer und Leiter der Franckeschen Stiftungen, ausgedehnter pädagogischer und sozialer Anstalten, die sich der langwährenden Unterstützung des brandenburgisch-preußischen Herrscherhauses erfreuen konnten.24 Und wie für die Hohenzollern, die 1701 mit der Universal University of Nations, Sciences and Arts«, in: Korthaase [u. a.] (Hgg.): Comenius, 487 – 510; Wolfgang Harms: »Wörter, Sachen und emblematische ›Res‹«, in: Dietrich Hofmann (Hg., unter Mitarbeit von Willy Sanders): Gedenkschrift für William Foersle, Köln 1970, 532. 20 Vgl. Katalog Rembrandt – Genie auf der Suche, hg. von den Staatlichen Museen zu Berlin, Köln/Berlin 2006, 394 f. 21 Mahnke: »Pansophie«, 258; vgl. Scheuerl: »Comenius«, 80; Hartmut Hecht: »Der junge Leibniz über Johann Amos Comenius«, in: Korthaase [u. a.] (Hgg.): Comenius, 377 – 390. 22 Reble: Geschichte der Pädagogik, 120. 23 Helmut Obst: A. H. Francke und die Franckeschen Stiftungen in Halle, Göttingen 2002, 29. 24 Zum Pietismus in Brandenburg-Peußen und zur Bedeutung Franckes im politischen Kontext: Christopher Clark: Preußen, München 2007, 154 – 171.

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Krönung des Brandenburgischen Kurfürsten zum König in Preußen ihre Rang­ erhöhung feiern konnten, war auch für Francke das Jahr bedeutsam, nicht nur weil die ehrenvolle Aufnahme in die Akademie erfolgte, sondern vor allem wegen der Einweihung des zentralen Gebäudes der Franckeschen Stiftungen, des Waisenhauses, eines schlossähnlichen, fünfgeschossigen barocken Großbaus mit vorgelagerter doppelläufiger Steintreppe und großem Tympanon, hinter dem sich dann der ausgedehnte Komplex der weiteren Bauten entwickeln sollte. Das Tympanon zeigt einen aufwendigen figuralen Schmuck, was im Kontext des ansonsten wenig bilderfreundlichen Pietismus auffällig ist und offensichtlich auch sein soll. Zu sehen sind zwei Adler, die der Sonne entgegenfliegen, und darunter das Bibelwort aus Jesaja 40, 31: »Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler.« Franckes Ziel ist Erweckung, und in seinem Sinn heißt dies hier »Bekehrung, Veränderung, ja Tod des alten sündigen Menschen und Wiedergeburt eines neuen […]«. Damit treffen wir auf das hinter allen Reformbewegungen stehende Anliegen Franckes: »Weltverwandlung durch Menschenverwandlung«.25 Das Waisenhaus ist Zentrum der Schulstadt Franckes, und das Typmanon zeigt das Programm der Schulstadt als Gottesstadt. Das große Gebäudeensemble der Stiftung am Rande der Altstadt von Halle umfasst 50 Gebäude auf einer Fläche von 14 Hektar. Eine Schule für arme Kinder und die eigenständige Haushaltung für Waisen bildeten, durch Spenden gefördert, 1694/1696 den Ausgangspunkt der Aktivitäten. Fast gleichzeitig nahm das ›Pädagogium‹ für Kinder der ›höheren Stände‹ die Arbeit auf; die Unterrichtsmethoden waren hoch innovativ und vielfach auf Realien bezogen. Die Grundsteinlegung des großen Waisenhauses, das als Zentrale vielen Zwecken der Stiftung dienen sollte, erfolgte 1698; mit seiner Fertigstellung 1701 begann auch die Medikamentenexpedition, also der auch für die Finanzierung der Stiftung nicht unerheb­liche internationale Handel mit den Produkten der eigenen Apotheke. In einem separaten Gebäude entstand die berühmte Kulissenbibliothek. Weiter wurde ein Verlag begründet, und in enger Verbindung damit entstand auch die Canstein’sche Bibel­a nstalt. Eine preiswerte Bibel war zu der Zeit ein Desiderat – und der Ausstoß enorm: Zwischen 1712 und 1934 wurden nicht weniger als 10 Millionen Exemplare gedruckt.26 Oben im Waisenhaus wurde eine bis heute erhaltene bzw. mit den originalen Bestandteilen rekonstruierte Kunst- und Naturalienkammer eingerichtet, jetzt aber nicht mehr zum Pläsir eines Fürsten, sondern, wie ein Orbis pictus in Objekten, für den Schulunterricht. Die Naturalien waren nach den Linné’schen Regeln geordnet, dazu kamen zahllose Alltagsgegenstände, Instrumente, kosmologische Modelle und Kunstwerke. Untergebracht sind sie, zumindest da, wo es die Grö25 Helmut Obst: »Das Tympanon des Halleschen Waisenhauses«, in: Katalog Gebaute Utopien – Franckes Schulstadt in der Geschichte europäischer Stadtentwürfe, hg. von Holger Zaunstöck, Halle 2010, 78 – 81, beide Zitate 80. 26 Obst: A. H. Francke, 65 ff. Zum Manuskriptfund von Comenius: Jürgen Beer: »Comenius’ Panglottia und die Idee einer Universalsprache«, in: Korthaase [u. a.] (Hgg.): Comenius, 208 – 227.



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Abb. 2: Die Franckeschen Stiftungen in Halle. Gesamtansicht von Westen, ca. 1700 (Halle, Franckesche Stiftungen: AFSt/Z 3794)

ßenverhältnisse zulassen, in aufwendig gebauten Schränken, deren Aufsätze die jeweiligen Themen kunstvoll umspielen.27 Der Zustrom exotischer Objekte erfolgte nicht zuletzt durch Einsendungen der Missionare; Francke hatte inzwischen nämlich auch eine weitgespannte Missionsarbeit begonnen, deren bekanntester Ableger sich in Ostindien befand. Mit Blick auch auf die zahlreichen Publikationen und die verzweigte Korrespondenz, besonders nach Nordamerika,28 lässt sich hier tatsächlich von ›weltweiten Aktivitäten‹ sprechen, Franckes Unternehmen als global charakterisieren. Das Zentrum aber blieb Halle; in der Schulstadt lebten bis zu 3.000 Bewohner; dies ist, so Francke 1701 in seinem »Project zu einem Seminario universali«, der »Pflantz-Garten, von welchem man eine reale Verbesserung in allen Ständen in und außerhalb Teutschlandes, ja in Europa und allen übrigen Theilen der Welt« zu erhoffen habe.29 Katalog Die Wunderkammer – Die Kunst- und Naturlienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Konzept von Thomas Müller-Bahlke, Halle 2004. 28 Dazu: Katalog Freiheit, Fortschritt und Verheißung, hg. von Claus Veltmann [u. a.], Halle 2011. 29 Obst: A. H. Francke, 35, das Francke-Zitat: 7. Weitere Ausführungen zur Geschichte, historischen Struktur und Rezeption der Stiftungen: 29 – 37, 57 – 6 4. 27 Vgl.

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Dass in der Bibliothek 1934 ein bedeutendes Manuskript von Comenius entdeckt wurde, weist auf einen Quellpunkt des Hallenser Projekts.30 Ohnehin werden beim Blick auf Franckes Pädagogik die Affinitäten zum Ansatz des Orbis pictus schnell deutlich, der Bezug auf die Fülle der Lebenswelt und der Wille, diese möglichst anschaulich zu vergegenwärtigen. Während Comenius dabei mit Texten und Bildern arbeitet und nach ihm Leibniz mit einem wissenschaftlichen Theater, da kann Francke auf die Sammlung seiner Kunst- und Naturalienkammer zurückgreifen. Dies alles sind Möglichkeiten eines ästhe­t ischen, über sinnliches Anschauen erfolgenden Weltzugangs. Mit ihren je verschiedenen Begründungslogiken begegneten sie sämtlich dem jungen Baumgarten – und finden sich gleichsam im Unterbau der philosophischen Ästhe­t ik, die sich dann von seinem Werk aus entfalten sollte.

30 Franz Hofmann: »A. H. Franckes Idee der ›Universal-Verbesserung‹ und die Weltreformpläne des Comenius«, in: August Hermann Francke, Festreden und Kolloquium aus Anlaß der 300. Wiederkehr seines Geburtstages, 22. März 1963, Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg 1964 (Hallesche Universitätsreden), 79 – 87.

Siglenverzeichnis

Meistzitierte Werke Alexander Gottlieb Baumgartens (unabhängig von je verwendeter Ausgabe) Acr. log. = Acroasis logica. In Christianum L. B. de Wolff (1761) Aesth. = Aesthetica (1750/1758) Eth. = Ethica philosophica (1. Aufl. 1740, 3. Aufl. 1763) Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall = Alexander Gottlieb Baumgartens, Ordentl. Lehrers der Philosophie zu Frankfurth, Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall auf Academien, Wonebst er zu Antritts-Rede und ersten Franckfurthischen Lese-Stunden eingeladen (2. Aufl. 1741) »Kollegnachschrift über die Ästhetik« = in: Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens, Diss. Univ. Münster, Borna-Leipzig 1907, 65-258. Med. = Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) Met. = Metaphysica (1. Aufl. 1739, 7. Aufl. 1779) Philos. Brieffe = Philosophische Brieffe von Aletheophilus (1741) Philos. gen. = Philosophia generalis. Eddidit cum dissertatione prooemiali de dubitatione et certitudine Ioh. Christian Foerster (1770) Sciagraphia = Sciagraphia encyclopaediae philosophicae (1769)

Gesamtausgaben anderer Autoren AA = [Immanuel Kant]: Kant’s Gesammelte Schriften, »Akademieausgabe«, hg. von der Kö­n ig­

lich Preußischen Akademie der Wissenschaften [und Nachfolgern], [bisher] 29 Bde., Berlin 1900 ff. AW = Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke, hg. von Joachim Birke [u. a.], 12 Bde., Berlin 1968-1995 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts). GP = [Gottfried Wilhelm Leibniz]: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, 7 Bde., Berlin 1875–1890 [u.ö.]. GW = Christian Wolff: Gesammelte Werke, hg. und bearbeitet von J. École [u. a.]. – Abt. I: Deutsche Schriften. – Abt. II: Lateinische Schriften. – Abt. III: Materialien und Dokumente. Hildesheim [u. a.], 1962 ff.

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2816-1

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