Handlung und Ordnung im Strafrecht: Grundlagen einer kognitiven Handlungs- und Straftheorie [1 ed.] 9783428469833, 9783428069835


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German Pages 685 Year 1991

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Handlung und Ordnung im Strafrecht: Grundlagen einer kognitiven Handlungs- und Straftheorie [1 ed.]
 9783428469833, 9783428069835

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WALTER KARGL

Handlung und Ordnung im Strafrecht

Schriften zum Strafrecht Heft 86

Handlung und Ordnung im Strafrecht Grundlagen einer kognitiven Handlungsund Straftheorie

Von Walter Karg)

DUßcker & Humblot . Berliß

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

KargI, Walter:

Handlung und Ordnung im Strafrecht: Grundlagen einer kognitiven Handlungs- und Straftheorie / von Walter Kargl. Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Schriften zum Strafrecht; H. 86) Zugl.: Passau, Univ., Habil-Sehr., 1989/90 ISBN 3-428-06983-8 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-06983-8

Vorwort Die Arbeit lag im Wintersemester 1989/90 der juristischen Fakultät der Universität Passau als Habilitationsschrift vor. Unter den vielen, denen ich Dank schulde, seien genannt die Professoren Martin Fincke, Bernhard Haffke und Gunther Teubner, auf deren wohlmeinende Kritik manche Verbesserungen der Arbeit zurückgehen, der Diplomsoziologe Stefan Asmus, der in langen Gesprächen mein Interesse an der Kognitionsbiologie Maturanas entfachte, Herr Assessor Thomas Gleißner, der bei der Anfertigung der Register behilflich war, Frau Landgraf, die bis in ihre Freizeit hinein die Schreibarbeit besorgte und die Mitarbeiter des Verlages - allen voran Herrn Wolfgang Nitzsche - , die das Manuskript bis zur Drucklegung betreuten. Besonders danken möchte ich meiner Frau für ihre lange Geduld. Passau, im August 1990

Walter Kargl

Inhaltsverzeichnis Einführung 1. Teil

Kognitionstheorie der Handlung Kapitell: Biologie der Kognition ..................................................

17

I. Einleitung ........................................................................ 1. Epistemologie ................................................................

17 17 19

2. Methodologie ................................................................ ll. Prozesse des Lebens ............................................................ 1. Von Objekten zu Relationen ................................................

25 25 31

ill. Prozesse des Erkennens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Nervensystem ...........................................................

2. Das visuelle System ......................................................... 3. Die neuronale Funktion .....................................................

51 51 59 66

Kapitel 2: Psychologie der Kognition ..............................................

74

I. Denken .......................................................................... 1. Operieren in reinen Relationen ............................................. 2. Sprache ....................................................................... 3. Bewußtsein.. ............. ........... .... ......... .... ........ ................

74 74 76 83

ll. Fühlen .. ......... ............ ........... ............... ............ .... .......... 1. Mfekte .......................................................................

141 141 151 165

2. Das autopoietische System... .... ........ ...................................

2. Konzept der ,,Affektlogik" .. ............. ................................... 3. Wille ......................................................................... 2. Teil

Kognitionstheorie der Ordnung Kapitel 3: Soziologie der Kognition................................................

221

I. Systemtypen ...... ... ...... ...... ............ ................ .... ................ 1. Organismen als selbsterhaltende Systeme.................................. 2. Gehirne als selbstreferentielle Systeme .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sozialsysteme als synreferentielle Systeme ................................

221 221 225 237

VIII

Inhaltsverzeichnis

II. Ordnungstypen 1. Handlungsbezugsrahmen .................................................... 2. Extrempositionen ............................................................ 3. Kognitive Ordnung ..........................................................

272 272 290 322

3. Teil Kognitionstheorie der Normativität Kapitel 4: Ordnung durch Recht .......... .......... ............ ............ ......

381

I. Recht in vorstaatlichen Gesellschaften ........................................ 1. Theorie des Evolutionismus ................................................. 2. Entwicklungsstadien ......................................................... 3. Begriff des Rechts ........................................................... 4. Begriff der Moral............................................................ 5. Zusammenfassung ...........................................................

381 381 384 405 418 424

II. Recht in staatlichen Gesellschaften ............................................ 430 1. SpezifIka modemen Rechts ................................................. 430 2. Vorstaatliches und staatliches Recht im Vergleich ........................ 475 Kapitel 5: Ordnung durch Strafrecht.. ......... .............. .......... .... ......

488

I. Strafrechtliche Handlungstheorien ............................................. 1. Kausale Handlungslehre (v. Liszt) .......................................... 2. Finale Handlungslehre (Weizei) . ........ .... ............ ...................

488 488 497 3. Kognitive Handlungslehre ....................................... :........... 510

II. Straftheorien .......................... :.......................................... 1. Ordnung durch Spezialprävention .......................................... 2. Ordnung durch (positive) Generalprävention ....... ............. ....... ... 3. Ordnung durch Ko-Evolution ...............................................

545 545 555 568

Glossar ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Literaturverzeichnis ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Namenregister ....................................................................... 653 Sachregister .......................................................................... 665

Übersichtenverzeichnis Übersicht 1:

Unterscheidung der Systeme nach dem internen Zustand des Gleichgewichts bzw. des Ungleichgewichts ................................

45

Übersicht 2:

Bedeutsame Unterschiede und Leistungen der linken und der rechten Gehimhälfte ...........................................................

90

Übersicht 3:

Wahrnehmungen von Personen hinsichtlich der Ursachen vttn Erfolg bzw. Mißerfolg bei Handlungseffekten in den Dimensionen internal / external und stabil / variabel .................................... 100

Übersicht 4:

Ergänzung der Übersicht 3 um die Dimensionen absichtlich / unabsichtlich ............................................................... 101

Übersicht 5:

Stufen der intellektuellen und affektiven Entwicklung nach Piaget . .. 112

Übersicht 6:

Stufen der psychosexuellen Entwicklung nach Erikson ............ 143

Übersicht 7:

Die ..dualistisch-komplementäre" Struktur der psychoanalytischen Konzepte .............................................................. 145

Übersicht 8:

Theoretische Positionen über den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung ........................................................ 209

Übersicht 9:

Charakteristika fremd- und selbstreferentieller Systeme und ihrer Beziehungen .......................................................... 226

Übersicht 10: Unterscheidung von Systemen nach dem Grad der Autonomie ihrer Komponenten ......................................................... 255 Übersicht 11: Subsysteme der Gesamtgesellschaft ................................. 278 Übersicht 12: Der Handlungsbezugsrahrnen und auf ihn bezogene Ordnungstheorien ................................................................ 285 Übersicht 13: Der Handlungsbezugsrahrnen und auf ihn bezogene Ordnungsmodelle, Erklärungsweisen und Wertideen ............................. 289 Übersicht 14: Interpenetration gesellschaftlicher Subsysteme ..................... 321 Übersicht 15: Kognitive Stile von ,.Realisten" und ,.Konstruktivisten" ........... 343 Übersicht 16: Stufen der natürlichen Evolution .................................... 358 Übersicht 17: Stufen der moralischen Evolution ................................... 359 Übersicht 18: Stufen der religiösen Evolution ......... ; ............................ 362 Übersicht 19: Stufen der strafrechtlichen Evolution ................................ 365 Übersicht 20: Typen rigider Ethik ................................................... 372 Übersicht 21: Stufen schriftloser Gesellschaften ................................... 385 Übersicht 22: Vergleich vorstaatlichen Rechts mit staatlichem Recht ............ 478 Übersicht 23: Zusammenhang von Handlungsbezugsrahrnen, Ordnungs- und Straftheorien sowie methodologischen Erklärungsweisen ............... 574

Einführung In der Strafrechtswissenschaft ist die noch vor wenigen Jahrzehnten heftig geführte Debatte um einen Begriff der "Handlung", der als Grundbegriff der gesamten Verbrechenslehre gelten könnte, zum Stillstand gekommen. Dies liegt nicht daran, daß sich eine einheitliche Überzeugung hinsichtlich des ,,richtigen" Handlungsbegriffs herausgebildet hätte. Nach wie vor stehen einander drei Handlungslehren gegenüber, deren Verknüpfung bislang nicht überzeugend gelungen ist. Das Erlahmen der Debatte scheint vielmehr darauf zurückzuführen zu sein, daß im Laufe der Zeit die Hoffnung auf die praktische Bedeutung eines allgemeinen Handlungsbegriffs geschwunden ist. Man traut ihm vielfach nur noch eine Abgrenzungsfunktion gegenüber den sogenannten Nicht-Handlungen (z. B. Reflexbewegungen) zu. Dieser Ertrag wäre in der Tat denkbar gering. Sollten dem Handlungsbegriff darüber hinaus keine weiteren Funktionen zukommen, dann hätte sich die Suche nach dem archimedischen Punkt des Strafrechtssystems der "Handlung" - als Fehlschlag erwiesen. In dieser Überzeugung ist sich die gegenwärtige Strafrechtslehre weithin einig.

Fragt man danach, worauf diese Übereinstimmung gründet, so stößt man unbeschadet des Streites um das "Wesen" der Handlung und um die Existenz eines spezifisch strafrechtlichen Handlungsbegriffs - auf eine zwischen den verschiedenen Handlungslehren bestehende fundamentale Gemeinsamkeit: auf die Vorstellung von einern Handlungswillen, der - unabhängig vorn Handlungsbewußtsein - das zentrale Moment menschlichen Verhaltens ausmacht. Danach ist nur wi/lensgetragenes Verhalten strafrechtsrelevant. Von vornherein aus dem Bereich zurechenbaren Handeins sind diejenigen Verhaltensweisen auszuscheiden, die nicht Produkt des steuernden Willens sind. Nach welchen inhaltlichen Kriterien, Mustern oder kognitiven Schemata der Wille gesteuert wird, interessiert bei diesem allerersten Ausgangspunkt der Strafhaftung noch nicht. Infolgedessen besitzt auch jenes Verhalten Handlungsqualität, das sich als Ergebnis "unfreier" Willensbetätigung darstellt. Entscheidend ist nur, daß überhaupt ein Wille unterstellt werden kann. Wo dies nicht der Fall scheint - wie z. B. bei instinktiven Abwehrreaktionen, bei Bewußtlosigkeit oder bei Handeln unter unwiderstehlicher Gewalt - , dort ist die Frage nach der Erfüllung eines konkreten Verbrechenstatbestandes sowie die Frage nach Vorsatz oder Fahrlässigkeit gar nicht mehr zu stellen. Die herrschende Lehre ist sich also im wesentlichen darüber einig, daß die Handlung ihren methodischen Standort zwar innerhalb des allgemeinen Verbrechensaufbaues, aber außerhalb der Lehre vorn Tatbestand einzunehmen hat. Ein 1 Karg!

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Einführung

solcher vortatbestandlicher Handlungsbegriff definiert sich im wesentlichen negativ: Er gibt nur die Grundlage für die Feststellung, was jedenfalls keine Handlung im Sinne des Strafrechts ist. Positiv läßt sich von der Handlung nur sagen, daß sie zumindest "gewillkürtes Körperverhalten" sein muß, wenn sie als Basis für strafrechtliche Zurechnung in Betracht kommen soll. Demzufolge erschöpft sich der Handlungsbegriff nach Ansicht Jeschecks darin, den Bereich, der für das Zurechnungsurteil überhaupt in Frage kommt, inhaltlich zu bezeichnen und abzugrenzen. Indes, bei näherem Zusehen ist offenkundig, daß dieser "vor die Klammer gezogene" und aller Streitfragen entleerte Handlungsbegriff nicht einmal zur Grenzziehung zwischen menschlichem und tierischem Verhalten taugt. Wenn der Wille vorrangig als Gejühlsimpuls beschrieben werden muß - worüber es in der Emotionspsychologie keinen Streit gibt - , dann kann man Tieren derart affektiv gestimmte Antriebe gewiß nicht absprechen. In diesem Sinne ist Beutejagen zweifellos ein willensgetragenes Körperverhalten. Sieht man vom Willens inhalt und somit von den kognitiven Funktionen der Psyche ab, so stehen Tiere hinsichtlich der affektiven Gestimmtheit Menschen in nichts nach. Also bedarf es zur Beschränkung der strafrechtlichen Wertung auf menschliches Verhalten zusätzlicher, im Willensmoment nicht enthaltener Kriterien. Diese weiteren Kriterien sind äußerst umstritten. Sie betreffen vor allem das Problem der Steuerung des Willens entweder durch konditionale Faktoren oder durch normative Präferenzen (Ziele, Werte), und sie betreffen die Frage, ob diese Präferenzen vom Individuum "frei" gewählt werden können oder nicht. Im Verbrechensautbau werden diese Fragen vor allem auf der Ebene des subjektiven Tatbestandes, auf der Schuldebene und bei der Unterscheidung von Tun und Unterlassen akut. Jede der drei Handlungslehren bildet eines der genannten Probleme besonders überzeugend ab. So bietet die kausale Handlungslehre den besten Erklärungsansatz für Fahrlässigkeitsdelikte, indem sie auf die konditionalen Faktoren des Handeins abstellt; die finale Handlungslehre modelliert am treffendsten die Vorsatzdelikte, weil sie den Aspekt der Zielorientierung hervorhebt; zugleich begründet und rechtfertigt sie mit dem Gedanken der finalen Überdetermination (Freiheit) den Schuldbegriff; die soziale Handlungslehre schließlich ist besonders bei Unterlassungsdelikten durch Betonung der Sozialerheblichkeit des Verhaltens erklärungskräftig. Von der Stellungnahme zu einem dieser Handlungsbegriffe hängt es ferner ab, ob die Rechtswidrigkeit tatbestandsmäßigen Verhaltens nur als eine Erscheinung des objektiven Geschehens oder auch als ein vom Willen des Täters gestalteter Faktor gesehen werden muß. Dies wiederum entscheidet über die Berücksichtigung subjektiver Rechtfertigungselemente. Die Wahl eines der Handlungsbegriffe bestimmt ferner über die systematische Stellung des Unrechtsbewußtseins im Verbrechensautbau. Dasselbe gilt für das Schicksal der Teilnahme und ihre Abgrenzung von der mittelbaren Täterschaft, für die Konkurrenzlehre ,ja schließlich zunehmend auch für andere Rechtsgebiete.

Einführung

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Man sieht, innerhalb des Strafrechtssystems gibt es keinen Problemkreis, der nicht von einer Parteinahme für oder wider einen bestimmten Handlungsbegriff abhängig wäre. Es ist also nicht zutreffend, die Funktion des Handlungsbegriffs auf das vortatbestandliche Gebiet der Selektion von sogenannten Nicht-Handlungen zu beschränken. Wohl aber ist die Erkenntnis zutreffend, daß es noch keine allgemeine Definition von Handlung gibt, die das gesamte Spektrum des Verbrechensbegriffs in konsistenter Weise integrieren könnte. Von daher mag sich das Bemühen erklären, die Strafrechtsdogmatik insgesamt von dem ungelösten Problem der Handlungstheorie abzukoppeln und auf einen anderen Grundbegriff umzupolen. Zunehmend wird dieser Grundbegriff im Bereich der Strafzwecklehre, in kriminalpolitischen Zielsetzungen, also auf der Ordnungsebene, gesucht. Die strafrechtliche Lehrbuchliteratur demonstriert die verbreitete Neigung, Dogmatik nicht mehr mit handlungstheoretischen, sondern mit ordnungspolitischen Mitteln zu betreiben, sehr anschaulich dadurch, daß sie ihren Darstellungen zumeist ein Kapitel zum "Sinn und Zweck der Strafe" voranstellt, das sich als Motto und Interpretationsraster für die Probleme des Verbrechensbegriffs verwenden läßt. Man konzipiert also in aller Regel Theorien der Strafe, bevor Überlegungen darüber vorgestellt werden, ob und wie sich die staatlichen Erwartungen im Individuum "umsetzen". Dazu aber bedürfte es eines umfangreichen Wissens über die Funktionsweise des menschlichen Verstehens und Handeins. Ein solches Wissen, das Anschluß an die Entwicklungen der biologischen, psychologischen und soziologischen Disziplinen zu halten hätte, machen aber die im Strafrecht dominierenden handlungstheoretischen Kategorien der "Kausalität" und der ,,Finalität" schon lange nicht mehr plausibel. Das hat vor allem zur Folge, daß die Strafjuristen ihre Ordnungsvorstellungen nicht mehr mit Fragen nach deren anthropologischer und sozialpsychologischer ,,Realisierung" konfrontieren müssen. Brauchen die "Strafzwecke" aus keiner schlüssigen Handlungslehre abgeleitet zu werden, so ist der Weg frei für eine rein ,,normative" Entscheidung der strittigen Punkte. Die Strafjuristen sagen jetzt: Wir wissen nicht, wie Strafe wirkt, aber sie sollte um dieser oder jener Ziele willen vergelten, abschrecken, erziehen, Normen stabilisieren usw.; wir wissen nicht, ob Menschen frei handeln, aber wir sollten aus diesen oder jenen Staatszwecken heraus sittlich tadeln und Übel zufügen. Werden so die Ordnungsvorstellungen nicht mehr mit Hilfe der am Subjekt gewonnenen Erkenntnisse abgestimmt und korrigiert, ist natürlich die Gefahr groß, daß auch strafrechtsdogmatische Problemstellungen nur noch nach dem Denkmuster des Normativismus gelöst werden. Der vom handlungstheoretischen Begriff gereinigte Normativismus führt indes auf der vollzugspraktischen Ebene geradewegs zu einem kruden Positivismus, der die zu Attributen der Ordnung herabgesunkenen Menschen im Sinne des konformistischen Ideals zu instrumentalisieren sucht.

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Einführung

Diese beiden, in der Strafrechtswissenschaft der Gegenwart wohl vorherrschenden Denkströmungen - normativistischer Idealismus in Gestalt des Finalismus einerseits und machttheoretischer Positivismus in Gestalt des Kausalismus andererseits - werden von Parsons zu den ,,herrschaftlichen", heteronomen Varianten der bestehenden Ordnungsmodelle gezählt. Parsons macht desweiteren darauf aufmerksam, daß diesen Extremvarianten der Ordnungstheorien ebensolche vereinseitigte Handlungsmodelle zugrundeliegen - ob sie erkannt und thematisiert werden oder nicht. So korrespondiert dem idealistischen Konformismus ein Handlungsbegriff, der die Regelmäßigkeiten des Verhaltens auf logische Deduktionen aus Normen und auf die Verpflichtung auf diese Normen zurückführt. Dem machttheoretischen Positivismus erscheint die Ordnung des Handeins als Folge situativer Faktoren, die von einer einseitigen Machtverteilung beherrscht werden. Zu den im Strafrecht seltener reflektierten, freiheitlichen ordnungstheoretischen Extremtypen zählen der rationalistische Positivismus und der rationalistische Idealismus. Die erstere Variante erklärt Ordnung aus dem Optimierungsverhalten individueller Akteure (z. B. der Utilitarismus); die letztere erhebt Diskursivität zum ordnungsstiftenden Wertmuster (z. B. Habermas' Theorie des kommunikativen Handeins). Die gemeinsame Schwäche dieser extremen Ordnungstypen besteht darin, daß sie entweder nur den Wandel der gesellschaftlichen Institutionen (die "freiheitlichen" Entwürfe) oder nur deren Stabilität und Verfestigung (die ,,herrschaftlichen" Ansätze) erklären können. Ihre Reichweite erstreckt sich auf nur jeweils eine Komponente des Handlungsraumes: Kosten-Nutzen-Kalkül, Machtorientierung, normative Vergemeinschaftung und diskursive Vernünftigkeit. Die regulative Kraft dieser Beschreibungen geht verloren, sobald Handlungsbereiche involviert sind, die außerhalb der entsprechenden ordnenden Prinzipien liegen. Will man die Partikularismen der einzelnen Ordnungstheorien überwinden, muß man ein umfassendes Paradigma entwerfen, in dessen Bezugsrahmen die zutreffenden Annahmen der verschiedenen Konzeptionen integriert und zugleich deren Grenzen erkannt werden können. Objekttheoretisch heißt dies, jede Ordnung aus der Art der Relation oder Interpenetration der konditionalen (positivistischen) und der normativen (idealistischen) Faktoren zu begreifen. Metatheoretisch bedeutet dies die Vereinigung des kausalen Erklärens mit Aspekten des "fmalen" Verstehens. Im Bezugsrahmen einer solchermaßen erweiterten Handlungstheorie steht Handeln somit stets im Spannungsfeld zwischen den situationalen und den sinnhaft-normativen Polen. Es genügt nun freilich nicht, die verschiedenen Handlungsfaktoren dadurch zu "vereinen", daß man sie ohne ModifIkation einfach nur addiert oder auf unterschiedliche Handlungsfelder verteilt. Im Strafrecht hat sich die Erfolglosigkeit eines solchen Unternehmens in der sogenannten sozialen Handlungslehre, die Kausalität und Finalität zusammenbringen wollte, sowie in den diversen straftheoretischen Vereinigungslehren, die "absolute" und ,,relative" Ansätze ver-

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söhnen wollen, deutlich gezeigt. Das Hauptmanko liegt darin, daß eine Vereinigungslehre zwar den Erklärungsschwerpunkt eines bestimmten Ansatzes angeben, aber im Konfliktfall die bestehenden Polaritäten nicht aufheben kann. Sie muß sich dann für eine der Konzeptionen entscheiden: entweder für Spezialprävention oder für Generalprävention, entweder für Vergeltung oder für Abschrekkung. Also bringen es die Vereinigungslehren über eine gewisse Systematisierung und Strukturierung der bislang unverbundenen Theoriensplitter nicht hinaus. Im Bereich der strafrechtlichen Handlungslehren tritt das Problem einer bloßen Kombination von "Kausalität" und "Finalität" noch grundsätzlicher zu Tage. Man kann nämlich nicht zugleich Determination und Indetermination, durchgehende Kausalkette und gleichzeitig Unterbrechung der Kausalreihe behaupten. Nichts anderes aber macht die herrschende Lehre, wenn sie im Unrechtsbegriff auf einen deterministischen Standpunkt (,,Finalität" ist ja nicht eo ipso mit Freiheit gleichzusetzen), im Schuldbegriff dagegen auf einen indeterministischen Ansatz abstellt. Man kann hier die Standpunkte nicht "vereinen", ohne gegen den Satz vom Widerspruch zu verstoßen. Man kann aber die ganze Sache auch nicht auf sich beruhen lassen, weil die bestehende Praxis des Strafens, die mit dem "Verdienen" eines Übels argumentiert, nicht ohne eine psychische Instanz, auf der das "Verdienen" gründet, gerechtfertigt werden kann. Diese Instanz ist und bleibt die" Willensfreiheit". Wie aber diesen Begriff mit der unbestrittenen Gesetzmäßigkeit allen Geschehens in der Welt vereinheitlichen? Niemand wird ernsthaft bestreiten können, daß das bis heute nicht gelungen ist. In der Idee der Willensfreiheit gipfelt gerade jener abendländische Dualismus, der das Denken in Subjekt und Objekt, in Freiheit und Notwendigkeit, in Geist und Körper, in Idealismus und Positivismus, in Rationalität und Emotionalität usw. aufspaltet. Diese Auftrennung der Welt in grundsätzlich divergente Bereiche ist zu jenem umfassenden Paradigma, das die konditionalen und die normativen Faktoren versöhnen soll, augenscheinlich außerstande. Der Dualismus produziert statt eines einheitlichen Orientierungsstandards immer nur Unverbindlichkeit: Jederzeit kann der Determinismus mit dem Gedanken der Freiheit, die Verantwortlichkeit mit dem Argument der Macht, die konditionalen Faktoren mit der normativen Idee außer Kraft gesetzt werden. Welche Perspektive gerade gewählt wird, hängt mit dem jeweiligen Interesse zusammen, das verfolgt wird. Will man effektiv Kontrolle über Menschen ausüben, steht der mechanistische Aspekt des Dualismus im Vordergrund. Will man sich für die Kontrolltätigkeit rechtfertigen, hat es Tradition zu sagen, daß der Kontrollierte die Kontrolle irgendwie "verdient" hat. Damit wird auf den Autonomieaspekt des Dualismus zurückgegriffen. Die Freiheitsidee legitimiert also in diesem Zusammenhang die Freiheit des Kontrolleurs zur Beschneidung der Freiheit des Kontrollierten. Man kann natürlich das Autonomiemodell auch zur Erweiterung der menschlichen Handlungsmöglichkeiten einsetzen. Dann aber verbietet sich die gleichzeitige Verwendung des Kontrollmodells.

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Was hier also dem Dualismus vorgehalten wird, ist das simultane Festhalten an logisch unvereinbaren Denkmustern. In der Strafrechts wissenschaft entspringt der antinomische Dualismus einerseits dem gesellschaftlichen Auftrag, bestimmte Rechtsgüter durch Normsetzung und Strafverfolgung zu schützen und - wenn möglich - bei der Allgemeinheit und / oder dem Straftäter entsprechende Lernprozesse in Gang zu setzen, sowie andererseits der ethischen Forderung nach einer ontologischen Rechtfertigung dieser Praxis. Die Partitur für den "praktischen" Teil haben die ,,Kausalisten" , diejenige für den "ethischen" Teil haben die ,,Finalisten" geschrieben. Zusammen ergeben die Teile - wie gesagt - kein Ganzes, weil sie sich widersprechen. Aus diesem Dilemma hat sich das Strafrecht bis heute nicht befreien können. Jenseits von Determinismus und Indeterminismus, von Bestimmung und Freiheit, von Zwang und innerer Zustimmung schien ein Drittes nicht in Sicht, das die Extremtypen der Handlung und Ordnung in ein umfassendes Paradigma transformiert. Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein erster Anlauf zur Formulierung eines solchen umfassenden, neuen handlungs- und ordnungs theoretischen Bezugsrahmens, der die alten Dichotomien überwindet. Dazu bedarf es einer theoretischen Konzeption, die das Kunststück fertigbringt, Determinismus und individuelle Verantwortlichkeit nicht als begriffliche Gegensätze, sondern als Komplementärbegriffe zu konstituieren. Das macht eine Neuinterpretation des Determinismusmodells unumgänglich. Vor allem muß die Vorstellung, daß alle menschlichen Handlungen aus vorausliegenden Umständen nach Gesetzen hervorgehen, von dem häufig mitgemeintenJatalistischen Effekt abgekoppelt werden. Ist vorherbestimmt, wie wir handeln, macht es keinen Sinn, unsere Handlungen moralisch zu rechtfertigen. Ein Determinismus, der den Weltlauf von außen als festgelegt ansieht, enthält einen eklatanten Verzicht auf die Möglichkeit menschlicher Entscheidungen, die der eingeschlagenen Tendenz des Weltlaufs entgegenwirken könnten. Ein solcher strikt durchgeführter "Außendeterminismus " würde nicht nur unser Bewußtsein destruieren, er müßte auch das Strafrecht jeglicher rechtfertigender Grundlage berauben. Gesucht werden mußte also ein Begriff von Determinismus, der einerseits den fatalistischen Effekt vermeidet und der andererseits gegen die idealistische Versuchung einer begründungslos eingeführten Freiheitsidee gefeit ist. Diesen Begriff glaube ich in Maturanas Erkenntnisbiologie gefunden zu haben. Maturana spricht von Zustandsdeterminismus bzw. von Strukturdeterminismus lebender Systeme. Ich bevorzuge den Begriff "Innendeterminismus", weil er sich deutlicher von der fatalistischen Einstellung der äußeren Festlegung der Dinge abhebt. Was im einzelnen mit diesem Wort gemeint ist, führt das Buch in den ersten beiden Kapiteln ,,Biologie der Kognition" und ,,Psychologie der Kognition" eingehend aus. Die Theorie, mit der das Entstehen des Strukturdeterminismus unseres Handelns erklärt wird, ist die in erster Linie von dem chilenischen Biologen Maturana entwickelte sogenannte "biologische Kognitionstheorie". In den letzten Jahren

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hat sich insbesondere wegen der erkenntnistheoretischen Implikationen dieser Theorie der Oberbegriff "Konstruktivismus" etwas gefestigt. Dennoch kann vom Gebrauch einer einheitlichen Terminologie noch nicht die Rede sein. Ich verwende daher die Begriffe "Konstruktivismus", ,,Erkenntnisbiologie" , ,,Kognitionstheorie" gleichbedeutend, d. h. ohne mit ihnen eine inhaltliche Differenzierung zu verbinden. Erst der im dritten Kapitel eingeführte Begriff" kognitive Ordnung" bzw. "kognitive Handlung" weist über Maturanas Beitrag zu einer allgemeinen Handlungstheorie hinaus. Er sucht Parsons Vierfunktionenschema der Handlung zu reformulieren und aus der Sicht des heutigen Entwicklungsstandes der konstruktivistischen Kognitionstheorie weiterzuführen. Das Ergebnis ist die Eliminierung des Voluntarismus aus dem Handlungsbegriff und seine Ersetzung durch die zentrale Kategorie der erkenntnisbiologischen Systemtheorie: den Strukturdeterminismus bzw. die Innensteuerung, die Autopoiese lebender Systeme. Auf diese Weise, so hoffe ich, erhält eine strafrechtlich relevante Handlungstheorie genügend Spielraum zwischen der Szylla des Fatalismus und der Charybdis des Voluntarismus. Das Buch beginnt mit der Ausarbeitung der konstruktivistischen Theorie der Lebewesen bei Maturana und Varela und schreitet dann in dieser Perspektive zu einer kognitiven Handlungs- und Ordnungstheorie fort, die neue Fragestellungen zu alten Antworten erlaubt. Die Methode, gesellschaftliche Sachverhalte aus dem Verständnis der Operationsweise konkreter Individuen zu erklären, folgt zwingend aus den erkenntnistheoretischen Implikationen der konstruktivistischen Theorie lebender Systeme als autopoietischer Systeme. Die im ersten Kapitel vorgestellten, von Maturana aus der Neurophysiologie abgeleiteten wichtigsten Bestimmungen autopoietischer Systeme sind: -

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Autopoiese bezeichnet die Art der Organisation materialer und prozessualer Komponenten, die in lebenden Organismen angetroffen werden. Das hervorstechende Merkmal der Verknüpfung dieser Komponenten ist ihre Zirkularität. Autopoietische Systeme weisen eine Struktur auf, in der sich ihre autopoietische Organisation ausdrückt. Autopoietische Systeme sind organisationeIl geschlossen und in dieser ßinsicht autonom. Alle Informationen, die das System für die Aufrechterhaltung seiner zirkulären Organisation braucht, liegen in dieser Organisation selbst. Das System ist operational geschlossen, seine Operationen hängen von dem jeweiligen Zustand vor jeder Operation ab; in diesem Sinne sind autopoietische Systeme struktur- bzw. zustandsdeterminiert. Autopoietische Systeme sind selbstreferentiell, d. h. sie beziehen sich im Prozeß der Aufrechterhaltung ihrer Organisation ausschließlich auf sich selbst. Die funktionale Organisation selbstherstellender Systeme wird erklärt als zyklische, selbstreferentielle Verknüpfung selbstorganisationeller Prozesse. Autopoietische Systeme sind mit dem Medium, in dem sie existieren, sowie mit anderen Organismen strukturell gekoppelt. Autopoietische Systeme operieren induktiv und konservativ.

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Einführung Nervensysteme, die sich im Verlauf der Evolution autopoietischer Systeme entwickelt haben, sind - wie das Gehirn beim Menschen - funktional geschlossen. Daraus folgt, daß ein Organismus seine Welt aufgrund seiner physiologischen und funktionalen Beschaffenheit erzeugt. Die ihm zugängliche Welt ist mithin seine kognitive Welt, nicht eine Welt "so, wie sie ist".

Damit ist in Grundzügen die konstruktivistische Kognitionstheorie skizziert und ihre Differenz zu herkömmlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorien aufgezeigt. Um wenigstens anzudeuten, welche Konsequenzen sich daraus für die Behandlung ethischer und gesellschaftspolitischer Probleme ergeben, seien kurz die erkenntnistheoretischen Prämissen dieser neuen Konzeptualisierung von Wissen und Wirklichkeit zusarnmengefaßt. Allen dualistischen und ,,realistischen" Positionen, die die Wirklichkeit als eine vom Denken und Handeln der Menschen unabhängige, objektive Größe begreifen, setzt der Konstruktivismus ein "holistisch" und "monistisch" orientiertes Modell entgegen. Holistisch ist dabei die Annahme, daß kein Organismus kognitiven Zugang zu Strukturen hat, die nicht selbst von ihm gemacht sind. In keinem Sinne darf daher das, was wir "Realität" nennen, als Widerspiegelung "objektiver" Strukturen angesehen werden. Damit entfallen die erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Probleme. Zu den monistischen Aspekten zählt vor allem die konstruktivistische Annahme, daß Materie und Geist, Bestimmung und Freiheit, Kausalität und Finalität, Positivismus und Idealismus nicht kategorial voneinander getrennt werden müssen, sondern daß sich Bewußtsein notwendig entwickelt, wenn lebende Systeme eine bestimmte materiale Komplexität und selbstorganisationelle Selbstreferentialität entwickelt haben. Das zweite Kapitel führt insbesondere den monistischen Gedanken des Konstruktivismus spezialisierend fort. Seine Bedeutsamkeit für die Psychologie wird u. a. am Modell der "Affektlogik" gezeigt, das Luc Ciompi in unmittelbarem Anschluß an die erkenntnisbiologischen Konzepte entwickelt hat. Ciompi konzeptualisiert die Psyche als Teil eines autopoietischen Systems und begreift daher Fühlen und Denken als eine umfassende Einheit mit ähnlicher Grundstruktur und gleichartiger Genese. Danach gibt es zwischen den ,,körperlichen" und "geistigen" Aspekten der Psyche keine scharfe Trennung, vielmehr postuliert der Terminus ,,Affektlogik" eine strukturelle Einheitlichkeit des Psychischen überhaupt. Denken und Fühlen werden somit als komplementäre und einander ebenbürtige überlebensnotwendige Weisen der Welterfassung angesehen. Zu dieser Erkenntnis gelangte Ciompi über die systematische Rekonstruktion zweier Disziplinen, die jeweils einen der beiden Aspekte der Psyche am fundiertesten vorangetrieben haben: über die psychoanalytische Affektlehre und die kognitive Psychologie von Piaget. Ohne beide aufeinander zu reduzieren, versucht Ciompi Affekt und Kognition in einem systemtheoretischen Rahmen - im Begriff des affektivkognitiven Bezugssystems - zu verbinden. Zentral ist dabei die Vorstellung, daß es entgegen der verbreiteten Auffassung von der Irrationalität der Gefühle eine "Logik der Affekte" gibt, die gleich einem inneren Kompaß das Denken

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auf "Stimmigkeiten", aufInvarianzen, auf Gleichgewichtigkeiten hinleitet. Affekt und Intellekt orientieren sich gegenseitig und bilden damit, nach Ciompi, eine faszinierende Manifestation der Selbstorganisation der Psyche. Die Lehre von der Affektlogik bietet nun in Verbindung mit der Theorie autopoietischer Systeme zahlreiche Anschlußmöglichkeiten für strafrechtliche Fragestellungen. Ich greife hier nur die Zentralproblerne der "Schuld" und der "subjektiven Zurechnung" heraus. Mit dem Schuldbegriff läßt sich die herkömmliche Strafpraxis der Vorwertbarkeit rechtfertigen, mit der Bestimmung "subjektiver Zurechnung" die strafrechtlich relevante Grenze zum Zufall, zur Erfolgshaftung und zu den Nicht-Handlungen ziehen. Der Schuldbegriff ist unlösbar in die Debatte um die "Willensfreiheit" verstrickt, der Zurechnungsbegriff hängt von der Stellungnahme zum Streit über die verschiedenen Stufen der inneren Beteiligung ab, die vom absichtlichen Handeln bis zur unbewußten Fahrlässigkeit reichen. In beiden Kontroversen nimmt das Konzept des "Willens" eine Fundamentalstellung ein. Aus affektlogischer Sicht ist der" Wille" als " verdichtetes Gefühl" das symmetrische Gegenstück zur Kognition. Wenn sich die Affekte parallel zu den kognitiven Strukturen differenzieren, ist die Annahme plausibel, daß sich mit der kognitiven ebenfalls eine affektive Hierarchie ausbildet und zwar so, daß übergeordneten kognitiven Ganzen auch übergeordnete Affekte entsprechen. Daraus ergibt sich eine bemerkenswerte Verbindung zu Piagets Auffassung von der Rolle der Gefühle als ,,Regulatoren" im zwischenmenschlichen Bereich: "Höhere" Gefühle regulieren bzw. dominieren hierarchisch niedrigere Bezugssysteme. Hiernach handelt es sich beim sogenannten "Willen" um einen regulierenden Gejühlsimpuls, der dann vorliegt, wenn eine gegebene Situation einer höheren affektiven Werthierarchie untergeordnet wird. Daraus folgt nun desweiteren zwingend, daß der Wille jedenfalls keine Instanz sein kann, die außerhalb des durch die lebensgeschichtliche Erfahrung konstituierten affektiv-kognitiven Bezugssystems steht. In diesem Sinne ist der Wille also nicht frei. Er kann nicht - wie dies die Freiheitskonzeptionen häufig tun - von individuellen Lernerfahrungen, von der Gesellschaft und der Geschichte abgekoppelt werden; er kann deshalb auch die kausale Gesetzmäßigkeit der Welt der Dinge nicht überdeterminieren. Er ist von vornherein Bestandteil dieser Welt. Abgewiesen ist damit eine Rechtfertigung der Strafpraxis, die auf der Vorstellung des freien Willens handelnder Menschen gründet. Schuldstrafe und Schuldvorwurf passen somit nicht zum affektlogischen Willens begriff, der vom Strukturdeterminismus des Denkens und Fühlens ausgeht. Wenn nun entsprechend des Autopoiesekonzeptes der Wille vom Zustand des psychischen Systems bestimmt ist, wie kann dann noch in vernünftiger Weise von Verantwortlichkeit geredet werden? Dies gelänge nicht, wenn man sich den Willen als von außen determiniert vorstellen müßte. Dann wären Verhaltensänderungen vollständig von konditionalen Faktoren abhängig, - eine Extremvariante des Handlungsbegriffs, die kausa-

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listisch argumentiert und in der gesellschafts- bzw. kriminalpolitischen Praxis auf eine mechanische Verhaltensdressur hinausliefe. Demgegenüber geht das strukturdeterministische Denkmodell davon aus, daß gerade operational geschlossene Systeme in besonderer Weise zu überlebensförderndem Verhalten und damit zum Lernen befähigt sind. Nach Maturana lösen autopoietische Systeme das Problem des Lernens durch "strukturelle Koppelungen" mit dem Medium, in dem sie leben. Beide - Medium und Organismus - verändern sich unaufhörlich, indem sie in kongruenter Weise strukturelle Veränderungen beim jeweils anderen gemäß des jeweiligen Innenzustands anregen. Es ist diese Unabhängigkeit der Systeme voneinander, die gewährleistet, daß sie sich nicht gegenseitig heteronomisieren. Für den Begriff der Verantwortlichkeit ist nun von entscheidender Bedeutung, daß Menschen besonders befähigt sind, den eigenen inneren Zustand zu beobachten und zu beschreiben. Infolgedessen ist Personen rückblickend durch Selbstbeobachtung einsehbar, daß ihre Handlungsdispositionen, zu denen eigene und fremde Erwartungen gehören, ein entscheidender Faktor beim Zustandekommen ihres Handelns sind. Die Person weiß nunmehr, daß ihre Handlungen von ihren Entscheidungen abhängen und daß diese Entscheidungen durch ihre Erfahrungen, die sich zum affektlogischen Bezugssystem verdichtet haben, bestimmt werden. Dieses Wissen weiß auch um die ethischen Erwartungen anderer, und es weiß gegebenenfalls um die Inkongruenzen zwischen der Eigen- und Fremderwartung. Die Verantwortlichkeit für das eigene Tun erwächst aus dieser Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und zur Selbstkorrektur. Es ist dies aber keine Verantwortlichkeit, die mit Schuld zu tun hätte, da die Befähigung zur Selbstbeobachtung ihrerseits lebensgeschichtlich erworben wurde. Staatliche Reaktionen auf "abweichendes Verhalten" lassen sich demzufolge allenfalls als "Störungen", als Perturbationen oder als Anregungen konzipieren, die den Prozeß der Selbstbeobachtung in Gang setzen. Verhaltenskonditionierungen, die nach dem Muster instruktiver Interaktionen geplant sind, widersprechen dem Gedanken der strukturellen Koppelung. Dies erklärt, weshalb sie bisher nirgendwo funktioniert haben. Eine Praxis der Vergeltung sei es mit Blick auf die Gerechtigkeit oder mit Blick auf das Normbewußtsein der Allgemeinheit - setzt ein "Dafür-Können" (Willensfreiheit) des Täters voraus und ist aus eben diesem Grunde nicht legitimierbar. Die ethischen und kriminalpolitischen Konsequenzen aus dem Autopoiesekonzept sind im zweiten und fünften Kapitel eingehender dargestellt. Der Begriff der Affektlogik trägt nicht nur zur Klärung des Streitfrage über die Willensfreiheit bei, er kann auch bei der Lösung des alten Problems der Differenzierung von Vorsatz und Fahrlässigkeit entscheidende Hilfestellung leisten. Ohne den Ausführungen im strafrechtlichen Schlußkapitel vorzugreifen, sei hier lediglich an den Grundgedanken der Psyche als affektiv-kognitives Bezugssystem erinnert. Dieser Grundgedanke besteht darin, daß Denken und Fühlen aus konkreten Aktionen erwachsen und sich durch ständige Wiederholungen zu

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einem Schema oder einem kognitiven Programm verdichten, das in hierarchisch geordneten Systemen internalisiert wird. Die Affektkomponenten entwickeln sich dabei im Laufe der Zeit zu zunehmend stabilen Motivations- bzw. Wertsystemen, die untrennbar mit den kognitiven Faktoren verbunden sind. Dieser Gedanke der Einheit von Intellekt und Affekt ist in gewisser Hinsicht im Strafrecht lebendig, wenn dort der Vorsatz als" Wissen und Wollen" der Tatbestandsverwirklichung definiert wird. Werden beide Faktoren als vollständig komplementär, analog und kongruent aufgefaßt, dann können sie sich auch nicht aufspalten, ohne zugleich die Einheit des Psychischen zu zerstören. Im Wissen ist also stets das Wollen enthalten und umgekehrt. Es gibt kein inhaltsleeres Wollen und kein affektloses Wissen. Dementsprechend ist die in der strafrechtlichen Literatur für möglich gehaltene sogenannte" bewußte Fahrlässigkeit" nur um den Preis der psychischen Desorganisation vorstellbar. Wer handelt und zugleich die erkannten Folgen seines Handelns nicht will, der hat sich widersprechende, disparate Schemata aufgebaut und ist deshalb zu erfolgreichen kognitiven Prozessen, die im Ausgleich von Widersprüchen bestehen, nicht in der Lage. Was also die Strafrechtswissenschaft unter dem Namen der bewußten Fahrlässigkeit für strafbar hält, hat in Wahrheit längst die Grenze zur Zurechnungsfähigkeit überschritten. Man kann also sagen: Zurechnungsfähig handelt derjenige, der in der Lage ist, nach einem kongruenten affektlogischen Schema zu handeln; wer hingegen dazu außerstande ist, weil sich die Schemata widersprechen, der kann für seine Handlungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Vorsätzlich handelt danach, wer affektlogisch handelt; fahrlässig handelt, wer bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt affektlogisch handeln könnte. Das dritte Kapitel "Soziologie der Kognition" leitet zur kognitionstheoretisch begründeten Definition der "Normativität" über. Wieder kann die Homogenität des autopoietischen Ansatzes im Aufweis der Zusammenhänge zwischen handlungs- und erkenntnistheoretischen sowie soziopolitischen Modellen gezeigt werden. Ich beziehe mich in den folgenden Überlegungen auf P. M. Hejl, der wohl den am weitesten ausgearbeiteten Entwurf einer konstruktivistischen Sozialtheorie mit seiner Deutung der Sozialwissenschaft als Theorie selbstreferentieller Systeme vorgelegt hat. Nach Hejl erfolgte die ,,Erfindung von Gesellschaft" als Folge der mit dem Wachstum des Gehirns verbundenen erhöhten Kontingenz der Umweltkonstruktionen und der daraus resultierenden Veränderungen des gesellschaftlichen Prozesses. Mit Hilfe der sozialen Subsysteme wie z. B. Politik, Gemeinschaft, Wirtschaft und Recht werden die notwendigerweise differierenden Umweltbeschreibungen unterschiedlicher Individuen soweit aufeinander abgestimmt, daß gesamtgesellschaftliche Entscheidungen ermöglicht werden. Gesellschaft wäre hiernach als der Prozeß zu definieren, in dem konsensuelle Bereiche konstituiert werden. Neu an diesem Ansatz dürfte der spezifisch kognitionstheoretische Blickwinkel sein: Bereits aus erkenntnistheoretischen Gründen, nämlich der Individuenabhängigkeit der Wahmehmung, ist der Gesellschaftsprozeß eine

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unabweisbare Notwendigkeit. Erst die Herstellung vergleichbarer Realitätskonstrukte durch eine partielle Parallelisierung der kognitiven Systeme sichert in einer sich verändernden Umwelt das biologische Überleben. Anders formuliert: Die Gruppenmitglieder interagieren allein mit Bezug auf eine gemeinsame Realität, mit Bezug auf parallelisierte Zustände ihres kognitiven Systems. Diese knappen Hinweise deuten bereits an, welchem Systemtypus gesellschaftliche Systeme angehören. Wenn Lebewesen um der Erhaltung ihrer Organisation willen ein soziales System integrieren, dann sind die Komponenten der Sozialsysteme eben diese Lebewesen und nicht etwa Kommunikationen. Sozialsysteme dienen der Verwirklichung ihrer Komponenten, aber sie produzieren sie nicht selber. Daher sind soziale Systeme keine autopoietischen Systeme, sie sind vielmehr allopoietische Systeme, von Menschen gesteuerte, bei aller Komplexheit mithin "triviale" Maschinen. Die Aufstufung gesellschaftlicher Bereiche wie Recht oder Politik zu autopoietischen Systemen kehrt die Verhältnisse um: Nicht Menschen erzeugen danach ihre Institutionen, sondern die Institutionen erzeugen Menschen nach Maßgabe einer eigenen Gesetzlichkeit. Der zunehmenden Autonomisierung gesellschaftlicher Teilbereiche folgt als Kehrseite die Heteronomisierung und Funktionalisierung der diesen Systemen unterworfenen Menschen. Eine Sozialtheorie, die die modemen Institutionen als Entfaltung der inneren Eigengesetzlichkeit von Handlungssphären beschreibt, verkennt den einfachen Sachverhalt, daß die Gesellschaft nicht - wie etwa Luhmann annimmt - der Erhaltung der Kommunikation, sondern der Erhaltung der menschlichen Verwirklichung dient. Setzt man als Komponenten des Sozialsystems Kommunikationen ein, so kann man der Implikation nicht entrinnen, daß die Menschen der durch Rollen und Normen vermittelten Kommunikation untergeordnet werden. In diesem Fall gewinnen die Sozialsysteme jene sonderbare Autonomie, derzufolge Menschen nur noch Systemfunktionen zu erfüllen haben. Faßt man hingegen Menschen als Komponenten von Sozialsystemen auf, dann beinhaltet die Erhaltung des Systems die Unterordnung der Rollen und Institutionen unter die Verwirklichung der Menschen, die das System konstituieren. In diesem Falle korrespondiert der vollen Autonomie der Komponenten eine nur relative Autonomie des Sozialsystems. Als Maschinen sind Sozialsysteme von ihren Produzenten abhängig. Infolgedessen erlangen sie nur insoweit Autonomie, als ihnen die Produzenten im Interesse ihrer Selbsterhaltung Spezialsemantiken zubilligen, die halbwegs selbstreferentiell und damit operativ geschlossen operieren. In den Kapiteln vier und fünf wird der Stellenwert der Überlegungen zum Systemtypus des Gesellschaftlichen für den Begriff der Normativität fruchtbar gemacht. Aus der Bestimmung des Gesellschaftlichen als einer allopoietischen Maschine dürfte ohne weiteres klar geworden sein, daß sich das spezifisch Rechtliche - das Sollen - nicht in einem "Müssen", das von außen an die Individuen entweder durch physischen oder psychischen Zwang herangetragen wird, erschöpfen kann. Dies liefe auf die ordnungstheoretischen Extremvarianten der

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Zwangsordnung und der konfonnistischen Ordnung hinaus, die ihre soziologische Entsprechung in der Konstruktion der Gesellschaft als autopoietisches System haben. Demgegenüber rechnet die kognitive Handlungstheorie mit einer Ordnung, die jenseits nur situationaler Faktoren Regelmäßigkeit durch Konsens stiftet. Dieser Konsens wurzelt in der affektiven Verbundenheit in der Gemeinschaft und stellt die allererste Voraussetzung für das Zustandekommen von konsensuellen Bereichen dar. Demnach ist der zentrale Aspekt jeder freiheitlichen Ordnung zutreffend umschrieben als aktive Teilnahme nach eigener Entscheidung, als Gleichheit und Autonomie der Beteiligten, als affektuelle Verbundenheit. Mit diesen Hinweisen ist zugleich der Kern dessen fonnuliert, was hier unter Normativität verstanden wird. Da in der neueren Rechtstheorie der konsensuelle Aspekt des Rechts zunehmend hinter seiner herrschaftlichen Funktion zurücktritt, ja Recht geradezu mit staatlicher Herrschaft gleichgesetzt wird, erschien es sinnvoll, die Identifizierung von Recht und Zwang an einem umfangreichen ethnologischen Material zu überprüfen. Die Befunde widerlegen den staatsorientierten Nonnativismus: Nirgendwo finden wir innere Zustimmung und innere Verpflichtung auf sozialethische Grundlagen in reinerer Fonn als bei den vorstaatlichen Gesellschaften der Jäger und frühen Ackerbauern. Anstelle der Ordnungsprinzipien Macht und Herrschaft existieren in den akephalen Gesellschaften die Handlungsfaktoren der ,,Egalität" und der "Reziprozität". Das macht eine Konfliktregelung möglich, in deren Zentrum Diskussionen und Verhandlungen stehen. In dem Maße jedoch, in dem diese grundlegenden Handlungsprinzipien - etwa im Zuge gesellschaftlicher und ökonomischer Differenzierung - wegfallen, verringern sich jenes Vertrauen und jene affektiv -kognitiven Gemeinsamkeiten unter den Gesellschaftsmitgliedern, ohne die herrschaftsfreie Ordnungen nicht zusammengehalten werden können. Vertrauen wird zum Teil durch Macht und innere Verpflichtung durch ein fonnalisiertes Nonnensystem abgelöst. Am Ende der Entwicklung scheint eine konfonnistische Ordnung denkbar, in der die materialen Gesichtspunkte des Konsenses und der Egalität hinter die fonnalen völlig zurücktreten, in der die Legalitätshaltung das eigentlich nonnative Moment des gesellschaftlichen Zusammenhangs verdrängt. Gewiß kann die Entwicklung des modernen Rechts in Richtung auf fonnale Gesetzlichkeit nicht rückgängig gemacht werden. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen wäre dies auch nicht wünschenswert. Doch ebenso gewiß ist, daß der Legalismus alleine noch nicht legitimiert. Er bindet das Recht lediglich an die Faktizität einer vorhandenen Ordnung. Autonomer Rechtfertigung ist der Legalismus nicht fähig. Begnügt man sich nicht mit einem Nonnensystem, das lediglich den Abstand der Individuen formal überbrückt, dann muß die Legitimität des Rechts im materialen Gesichtspunkt des "Konsenses" bzw. der intersubjektiven Geltung aufgesucht werden. Der hier verwendete Begriff ,,Konsens" verweist auf Gemeinsamkeiten, die im affektlogischen Bezugssystem der

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Menschen verankert sind. Wie das Strafrecht mit seinen ebenso bescheidenen wie plumpen Mitteln dazu beitragen kann, den affektlogisch vertieften Konsens unter den Gesellschaftsmitgliedern zu stärken, wird am Ende der Arbeit in spezialpräventiver Perspektive unter dem Stichwort "Ko-Evolution" erläutert. Dabei unterliegt der Autor keineswegs dem Irrtum, daß sich das Strafrecht "eigengesetzlich" verändern läßt. Voraussetzung für eine durchgreifende Reform ist allemal, daß sich in den psychischen wie den sozialen Systemen die Gewichte vom Herrschafts- auf den Konsensaspekt des Handeins verlagern. Das entbindet freilich auch den Strafrechtswissenschaftler nicht von der Verantwortung für das eigene Tun, das aus den Möglichkeiten der Selbstbeobachtung resultiert.

Erster Teil

Kognitionstheorie der Handlung

Kapitell"

Biologie der Kognition I. Einleitung 1. Epistemologie Die folgenden Überlegungen gehen im Anschluß an Maturana 1 von zwei Hypothesen aus, die in einen eigentümlichen Widerspruch verwickelt scheinen. Erstens wird behauptet, daß Menschen autopoietische Systeme sind. 2 Zweitens wird angenommen, daß autopoietische Systeme aufgrund ihrer anatomischen und funktionalen Eigenschaften nicht in der Lage sind, Erkenntnis über die tatsächliche Beschaffenheit der Wirklichkeit zu gewinnen. Würde die erste Hypothese beanspruchen, eine objektive Gegenstandswelt abzubilden, geriete sie offensichtlich in Kollision mit der erkenntnistheoretischen Position der zweiten Hypothese. Denn diese besagt, daß Lebewesen weder einen unmittelbaren Zugang zu andersartigen noch zu gleichen Systemen haben. Hiernach gibt es keinen direkten Zugriff auf eine Welt äußerer Gegenstände, infolgedessen auch keine ungefilterte Anschauung, die in einer deskriptiven Beziehung zu diesen Gegenständen gedacht werden kann. Wenn in diesem Sinne Wissen als ein Entdecken von objektiven Unterschieden "da draußen" strikt zurückgewiesen wird, welches Wissen repräsentieren dann die beiden Hypothesen? Diese Frage führt die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Konsequenzen aus der angedeuteten Ablehnung objektiver Erkenntnis scharf vor Augen. Diesen Konsequenzen entrinnt man auch dann nicht, wenn man den erkenntnistheoretischen Zweifel mit großem Aufwand erfahrungswissenschaftlich fundiert, " Zur Zitierweise: In den Fußnoten wird jeweils eine gekürzte Titelfassung zitiert; der vollständige Titel ist aus dem Literaturverzeichnis ersichtlich. Wird derselbe Titel eines Autors in unmittelbar aufeinanderfolgenden Fußnoten zitiert, dann wird der Titel bei der zweiten und allen weiteren Angaben mit "ebd." wiedergegeben. 1 Siehe insbesondere Maturanas ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, die 1982 unter dem Titel "Erkennen" in der autorisierten deutschen Fassung von W. Köck erschienen sind. 2 Strenggenommen gilt dies nur für die biologischen Prozesse des menschlichen Organismus. Weiter unter werden wir die kognitiven Systeme als "selbstreferentielle" von den autopoietischen Systemen abgrenzen. 2 Kargl

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Kap. 1: Biologie der Kognition

wie dies im Konstruktivismus 3 geschieht. Der Standpunkt der zweiten Hypothese läßt nur eine Schlußfolgerung zu: Es gibt keine Möglichkeit festzustellen, ob seine Aussage der Wirklichkeit entspricht oder nicht. Der erkenntnistheoretische Zweifel erfaßt unweigerlich den empirischen Boden, auf den er aufgebaut ist. Daher ist jede Hoffnung, daß zumindest das Konzept autopoietischer Systeme eine wirkliche Wirklichkeit beschreibt, illusionär und in sich widersprüchlich. 4 Auch die letzte Gewißheit, daß alles ungewiß ist, gibt es nicht. Anderenfalls würde die zweite Hypothese in einen ontologischen Rang erhoben, den sie für jegliche Erkenntnis ablehnt. Eigenes Wissen kann hiervon nicht ausgenommen werden, ohne in Ontologie zu verfallen. Es bleibt dabei, die Theorie autopoietischer Systeme und die Theorie der Kognition repräsentieren kein ontologisches Wissen; es ist nicht möglich zu entscheiden, ob sie wahr oder falsch sind. Daß dies ebenso für andere Modelle der Wirklichkeit und der Erkenntnis gilt, erklären die beiden Hypothesen, die in den folgenden Kapiteln näher skizziert werden. Wenn sich demnach Wissen nicht nach dem Grad seiner Übereinstimmung mit der Wirklichkeit unterscheidet, worin dann? Die Antwort ist, Wissen fördert die Erreichung der jeweiligen Ziele oder hemmt sie. Wissen ist fruchtbar oder unfruchtbar; vermittelt die Fähigkeit, in individuellen oder sozialen Situationen adäquat zu operieren oder führt zur Desintegration. Die Kompatibilität und nicht die "Wirklichkeit" ist das Differenzkriterium allen Wissens, auch der wissenschaftlichen Erkenntnis. 5 Demnach werden die Modelle des Wissens nicht der 3 Eine Übersicht über die wissenschaftlichen und philosophischen Grundlagen des "Konstruktivismus" findet sich in dem von S. J. Schmidt herausgegebenen Sammelband Der Diskurs, 1987, sowie in der Einführung, die 1985 von H. Gumin und A. Mohler veröffentlicht wurde. 4 Überzeugend hierzu Schiepek, Methodologie 1988, 74. Davon zu trennen ist die Frage, ob wir im Alltagshandeln unsere Konstrukte wie ontologische Realitäten gebrauchen müssen. Aber das sollte die Reflexion nicht daran hindern, sich des hypothetischen Charakters der Konstrukte bewußt zu bleiben. Es handelt sich bei ihnen stets um die besondere Kombination einer Invarianz mit einer Varianz, also um die Produktion einer Struktur; dazu inbesondere Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988, 141. 5 Bezugspunkt für Kompatibilität, Viabilität oder Nützlichkeit des Wissens ist das kognitive System des Individuums und nicht - wie im Rationalismus - die objektive Wirklichkeit (zur Kritik an der instrumentalistischen Interpretation des Erkennens vgl. aber Wendel, Wirklichkeit 1989, 86). Unabhängig vom konstruktivistischen Standpunkt wird zunehmend anerkannt, daß es nicht Aufgabe der Erkenntnistheorie sein kann, absolute Rechtfertigungen für Erkenntnis- oder Wahrheitsansprüche zu liefern. Jeder derartige Versuch führt uns in eine dreifache Sackgasse, die H. Albert (Traktat 1968, 13) treffend das "Münchhausen-Trilemma" genannt hat, nämlich entweder - in einen Zirkel - was logisch fehlerhaft ist, oder - in einen unendlichen Regreß - was praktisch undurchführbar ist, oder - zu einer willkürlichen Aussetzung des Begründungspostulats - was zum Dogmatismus führt. Für G. Vollmer tritt dieses Trilemma unvermeidlich und regelmäßig in Rechtfertigungsund Begründungszusammenhängen auf: ,,Es gilt für die Definition von Begriffen, für die Ableitung von Aussagen, für die Begründung von Normen, für die Rechtfertigung von Werten" (Wissen 1985, 234).

1. Einleitung

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Struktur der realen Welt nachgebildet, sondern resultieren aus der Struktur unserer Erfahrungswirklichkeit. 6 Diese Modelle sind einzig das Ergebnis der kognitiven Tätigkeit ihrer Konstrukteure und stellen Möglichkeiten der Weltwahrnehmung dar. Soweit sie als mehr oder weniger effektive Instrumente der Orientierung operieren, spricht prinzipiell nichts dagegen, das Rohmaterial, aus dem sie bestehen, als empirisches Wissen zu bezeichnen. Um Mißverständnisse, die aus der ontologischen Tradition dieses Begriffs resultieren könnten, zu vermeiden, bevorzuge ich künftig Bezeichnungen wie operationales Wissen oder Orientierungswissen. 7 Damit soll auch terminologisch eine scharfe Trennlinie zu Ontologien jeglicher Spielart gezogen werden.

2. Methodologie Das Fazit aus den epistemologischen Überlegungen läßt sich in einer dritten Hypothese bündeln: Über Wirklichkeit sind nur Beobachteraussagen möglich. Trifft es zu, daß für das Individuum die Gegenstände "draußen" unerreichbar sind, dann verlagert sich die Erklärung des Erkenntnisphänomens weg von den Gegenständen hin zu Bewußtseinsprozessen. Nicht mehr das Was der Erkenntnis, sondern das Wie des Erkennens ist das zu erklärende Phänomen. 8 Die Operation der Erkenntnistätigkeit muß dann die fehlende Unmittelbarkeit zu den Gegenständen "draußen" in einer Weise kompensieren, daß Orientierung im gegebenen 6 Jede Theorie basiert demnach auf einem Konstitutionsakt, der eine bestimmte Perspektive darstellt, und daher nicht in Begriffen von ,,richtig" und "falsch" zu beurteilen ist, so v. Schlippe, Systemischer Ansatz 1988,83; Kriz, Klinische Epistemologie 1987, 51; Maturana, Wissenschaft 1990, 107. 7 Ein solches Wissen betont die Rolle des Subjekts beim Entstehen von Erfahrung. In dieser Hinsicht besteht zwischen dem Konstruktivismus und der Evolutionären Erkenntnistheorie Übereinstimmung; vgl. K. Lorenz, Erfahrung 1943,235; R. Riedl, Erkenntnis 1981; G. Vollmer, Erkenntnistheorie 1983; ders., Wissen 1988,70. 8 Während die typische Fragestellung der Ontologie lautet: Wie sieht die Welt aus?, fragt die methodische Erkenntnistheorie: Wie erlangen wir dieses Wissen? Der für eine solche Epistemologie angemessene begriffliche Rahmen war zunächst jener der Kybernetik, denn die Kybernetik ermöglichte als einzige wissenschaftliche Disziplin eine strenge Behandlung kreiskausaler Phänomene. Mit ihrer Hilfe konnten die kognitiven Prozesse als Rechenprozesse aufgefaßt werden, die ihrerseits Rechenprozesse errechnen. So deutet etwa v. Foerster den Prozeß der Erwerbung von Kenntnis als rekursives Errechnen, vgl. Kybernetik 1985,65. Den Weg zu dieser Theorie bereitete insbesondere der "theoretische Flügel" der Kybernetik, der mit den Namen N. Wiener (Kybernetik 1969), L. v. Berta1anffy (Systemtheorie 1957; General System 1971) und G. Günther (Maschinen 1963; Nichtaristotelische Logik 1978) verbunden sind. Deren Untersuchungen zu Selbstregulation, Autonomie und hierarchische Ordnungen, zu zirkulärer Kausalität, Feedback, Äquilibrium oder Kontrolle haben wichtige Anstöße zu einer Erkenntnistheorie im Rahmen des Modells selbstorganisierender Prozesse geliefert. Eine historische Darstellung findet sich im Vorwort Maturanas zur deutschen Übersetzung seiner Schriften (Erkennen 1985, 14) sowie in einer Übersicht bei V. Glasersfeld (Einführung 1981, 16) und im Vorwort von Krohn, Küppers, Selbstorganisation 1990, 1. Eine Bibliographie zum Konstruktivismus haben P. M. Hejl und S. J. Schmidt (1985) zusammengestellt.

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Kap. 1: Biologie der Kognition

Milieu möglich ist. Wir werden sehen, daß Orientierung durch die kognitive Tätigkeit der Beobachtung gewährleistet ist, die als ein Erzeugen von Realität durch Konstruieren von Regelmäßigkeiten oder Invarianzen bezeichnet werden kann. Mit Hilfe der Konstruktion von stabilen Standards vermag das Individuum seine Erfahrung zu assimilieren und zu organisieren. In epistemologischer Hinsicht vollzieht somit die dritte Hypothese einen folgenreichen Perspektivenwechsel: Aussagen über die Realität werden zu Aussagen über den Beobachter der Realität. Eine weitere Frage ist, ob der epistemologische Perspektivenwechsel methodische Konsequenzen erzwingt. Genauer gefragt, gilt der epistemologische Primat des Individuums auch in methodologischer Hinsicht? Die Problematik, um die es hier geht, wird unter verschiedenen Überschriften diskutiert und ist bis heute in den Sozialwissenschaften nicht zur Ruhe gekommen. Im Zentrum der Debatte steht das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, wobei in systematischer Hinsicht darüber gestritten wird, ob Sozialwissenschaft ihren Ausgangspunkt beim Verständnis des einzelnen Individuums oder bei der Beschreibung sozialer Sachverhalte zu nehmen hat. Die oft überzeichnete Gegenüberstellung lautet: methodologischer Individualismus versus methodologischer Kollektivismus. 9 Schon für Durkheim 10 ging es in dieser Kontroverse um den Bestand der Soziologie als eigenständige Disziplin, was ihn zu der bekannten Forderung veranlaßte, Soziales nur durch Soziales zu erklären. Mit dem Eingang ganzheitlicher oder holistischer Konzepte in die Sozialwissenschaften im Zuge der Übernahme systemtheoretischen Denkens wurde das alte Thema wieder akut, ob das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile. 11 Die Position der Holisten ist eindeutig: Das Ganze dominiert die Teile, das Individuum wird von der Gesellschaft beeinflußt. Luhmann 12 geht noch einen Schritt weiter, indem er die Indivi. duen durch die Gesellschaft konstituiert sieht, "da sie es ihnen ermöglicht, sich wechselseitig als Individuen zu behandeln ...". Die individualistische Gegenposition, wie sie von Parsons 13 vertreten wurde, erblickt im Handeln immer eine 9 Zur Geschichte dieser Kontroverse, die mit Beginn der Sozialwissenschaften einsetzte, vgl. Agassi, Methodologicallndividualism 1960,244. Im Folgenden wird auf die in dieser Kontroverse vertretenen Auffassungen nur insoweit eingegangen, als sie der hier vertretenen methodischen Erkenntnistheorie widersprechen. \0 Durkheim, Soziologische Methode 1976; freilich wendet sich Durkheim nur gegen einen ,,individualpsychologischen" Individuenbegriff; siehe dazu näher Hejl, Individuum 1987, 115. 11 Ausführlich hienu Boudon, Gesellschaftliches Handeln 1980,52; die Frage wird aber auch immer wieder von methodologisch orientierten Autoren diskutiert; vgl. Schlick, Ganzheit 1970,213; Nagel Das Ganze 1970,225; Carlsson, Funktionalismus 1970, 236. 12 Luhmann, Individuum 1984,5. Für Luhmann ist der Subjektbegriffkein Grundbegriff mehr, sondern nur noch ein ,,Problemhinweis" hinsichtlich systemischer Zurechnungsregeln; dementsprechend die europäische Handlungslehre eine "gefallene Theorie"; vgl. Aufklärung 1981,59. Demgegenüber werden "individualistische" und ,,kollektivistische" Erklärungsansätze zunehmend als komplementäre Anschlußtheorien begriffen; vgl. Schmid, Sozialer Wandel 1982,210; Waschkuhn Systemtheorie 1987.

I. Einleitung

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Sache individuellen Verhaltens. Kollektive könnten nie eine handelnde Einheit darstellen. Ähnlich äußerte sich Homans 14: Die einzigen theoretischen Sätze der Soziologie, denen man allgemeine Geltung bescheinigen dürfe, seien Sätze der Psychologie. Folgerichtig führt er denn auch gegen den Reduktionismus-Vorwurf ins Feld: Es gebe keine soziologischen Verallgemeinerungen, die auf diejenigen anderer Wissenschaften ,,reduziert" werden könnten. Damit identifiziert er soziologische Konzepte mit den Beschreibungen des Verhaltens individueller Akteure. Welche Stellung bezieht die dritte Hypothese in diesem Streit? Zunächst stellt sie klar, daß auch über Gesellschaft und Individuum sowie über deren Wechselverhältnis nur Beobachteraussagen möglich sind. 15 Sofern die Position des Holismus ontologisch aufgefaßt wird, ist sie aus der erkenntnistheoretischen Sicht der dritten Hypothese abzulehnen. Der ontologische Holismus äußert sich regelmäßig darin, daß Ganzheiten wie Gesellschaften, Staaten, Klassen oder Organisationen in Analogie zu Individuen irgendwelche Ziele, Interessen oder Verhaltensweisen zugeschrieben werden. Wenn diese Ziele oder Interessen nicht aus dem Verhalten von konkreten Menschen gewonnen werden können, müssen sie als individuenunabhängige Entitäten, als objektive Realität konstruiert werden. 16 Von da an ist der Weg zu immer komplexeren, abstrakteren und letztlich vagen Modellen unvermeidbar: Das unbefriedigende "Verhalten" des sozialen Kontextes muß auf die mangelnde Ausarbeitung des Modells zurückgeführt werden. Auch die Position des Individualismus ist abzulehnen, solange sie soziale Beziehungen aus dem "Wesen" des Menschen ableitet, das apriorisch den Gegenstand der Psychologie von der Umwelt des Individuums trennt. Da das "Wesen" des Menschen nicht weiter ableitbar, also ontologisch ist, muß es unabhängig von der Umwelt, in der Menschen leben, aufgefaßt werden. Derartige psychologistische Konzeptionen sind mit allem Orientierungswissen der modemen Biologie und Anthropologie unvereinbar und daher überholt. 17 Parsons, Aktor 1986, 174. Nachweis bei Hartmann, Amerikanische Soziologie 1973,72. 15 Dazu Maturana (Kognition 1985, 34): ,,Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt. Der Beobachter spricht durch seine Äußerungen zu einem anderen Beobachter, der er selbst sein könnte; alles, was den einen Beobachter kennzeichnet, kennzeichnet auch den anderen." 16 Hejl (Selbstrejerentielle Systeme 1982, 245) vergleicht die Position des ontologischen Holismus treffend mit derjenigen der Theologie. Beide stehen vor dem Problem, Aussagen über "Ganzheit" - sei es eine soziale oder eine göttliche - machen zu wollen, die nicht aus dem Verhalten von konkreten Individuen gewonnen werden können. In beiden Fällen werden deshalb entweder sehr ,,menschliche" Entitäten erzeugt, .oder die Theorien verlieren sich in rational kaum rekonstruierbare Aussagen. Wie sollten auch endliche Menschen zu Aussagen über Unendliches gelangen? Der ontologische Holismus versucht es gleichwohl und muß sich deshalb von Hejl das Verdikt gefallen lassen, "säkularisierte Theologie" zu sein. 17 Dieser keineswegs repräsentativen Psychologismuskonzeption liegt Poppers Antipsychologismusattacke zugrunde; vgl. Lichtrnan, Karl Popper 1965, 1. 13

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Kap. 1: Biologie der Kognition

Faktisch werden denn auch ontologische Extrempositionen heute selten vertreten. Vielmehr dominieren Theorien, die das Wechselverhältnis von System und Umwelt thematisieren und die es infoltedessen nicht in einen einseitigen Determinismus auflösen wollen, auch wenn der einen oder anderen Einflußrichtung stärkeres Gewicht beigemessen und deren erkenntnistheoretischer Status unterschiedlich beurteilt wird. 18 Wer davon ausgeht, daß sich Individuum und Gesellschaft im Aufbau ihrer eigenen Komplexität wechselseitig ermöglichen, hat die Einseitigkeiten der skizzierten Grundpositionen hinter sich gelassen und der Kontroverse die Schärfe genommen. Zumal das systemtheoretische Interesse richtet sich auf die Form, in der Gesellschaft als Bedingung der Sozialisation von Individuum wirkt und umgekehrt Kognitionsprozesse Grundlagen für den Aufbau von sozialem Kontext liefern. 19 In funktionalistischer Perspektive kann man fragen, inwiefern ein zu Erkennen befähigtes psychisches System funktional für die Reproduktion sozialen Verhaltens und umgekehrt soziale Kommunikation funktional für die Reproduktion von Bewußtseinsprozessen ist. Hiernach ließen sich die Aufgaben zwischen Psychologie und Soziologie so verteilen, daß keine Disziplin auf die andere reduziert werden müßte. Psychologie erforscht, wie Personen psychologische Prozesse verwenden, um eine soziale Wirklichkeit zu schaffen. Soziologie untersucht, wie soziale Strukturen als Kontrollparameter für psychologische Prozesse fungieren. 20 Wird in dem aufgezeigten Sinn die Gegenposition jeweils mitbedacht, müssen methodologische Grundsatzfragen nicht unbedingt entschieden werden; jedenfalls befinden sie dann nicht auf Anhieb über die Plausibilität einer Theorie. Die Geschichte der Sozialwissenschaften zeigt jedoch, daß die Unentschiedenheit in methodologischer Hinsicht häufig eben doch dazu führt, daß die Gegenposition unterbelichtet und die wechselseitige Konstituierung von Person und Umwelt bloße Behauptung bleibt. Die dritte Hypothese, wonach über Wirklichkeit nur Beobachteraussagen möglich sind, bezieht eindeutig Stellung: Die Sozialwissenschaft muß mit dem Verständnis des einzelnen Individuums, mit dem Beobachter beginnen. Sie bekennt sich also zum methodologischen Individualismus 18 Die Frage, ob eine Funktion des Menschen ererbt oder angeboren sei oder ob sie während des Lebens des Menschen erworben wurde, gilt denn auch heute als überholt. Weder Milieutheorie noch Nativismus konnten mit den Fortschritten der Bio-Wissenschaften, vor allem der Evolutionstheorie, mithalten; vgl. hierzu die instruktiven Beiträge des von Niemitz 1987 herausgegebenen Bandes "Erbe und Umwelt". 19 In der Sprache Maturanas: Lebende Organismen können ihre Organisation nur dann erhalten, wenn ihre Struktur und die Struktur des Mediums kongruent sind. Insofern bilden System und Medium stets eine Einheit und befinden sich automatisch in Kongruenz, solange das System lebt; vgl. Sozialität 1985, 8. 20 In beiden Disziplinen lautet somit die systemische Leitfrage: Welche Organisationsform von Operationen ist erforderlich, um zufaIlige Ereignisse in präzise, erwartbare, strukturierte Prozesse zu verdichten, also unwahrscheinliche Ereignisse so zu vernetzen, daß spezifische reproduktive Zyklen entstehen; vgl. zum Spezialfall der "Intervention in autonome Systeme" Willke (1987, 333).

I. Einleitung

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und begründet dies mit der Konzeption autopoietischer Systeme. Ohne deren Darstellung vorzugreifen, sei lediglich daran erinnert, daß sie Objektivität an die Subjekte und deren Erfahrung bindet. 21 Demnach können soziale Entitäten, die ja höchst voraussetzungsreich und somit keineswegs basal sind, nicht die methodologische Grundlage von Sozialwissenschaft sein. Bevor Moral und Normen, Macht und Kontrolle, Institutionen und Organisationen etc. untersucht werden, müssen wir auf möglichst exaktem Niveau wissen, wie Menschen wahrnehmen, denken und handeln. Wir müssen wissen, "wie der Prozeß zu verstehen ist, in dem ein ,Ich' konstituiert wird, das ,versteht', ,denkt', sich selbst und anderes beobachtet, sich selbst dabei beschreibt und sich schließlich beschreibt als sich selbst beschreibend". 22 Aus der hier vertretenen individuenbezogenen Position kann kein Psychologismus abgeleitet werden. Wir werden sehen, daß kognitionstheoretische Ansätze ihre Argumente nicht mehr nur der Psychologie, sondern überwiegend aus der Biologie, der Humanethologie, der Ökologie oder der Biokybernetik u.a. entnehmen. Die Basis der relevanten Grundlagenwissenschaften hat sich beträchtlich erweitert. Seit Maturanas Theorie der Kognition lebender Systeme scheint die Hoffnung nicht unbegründet zu sein, daß in absehbarer Zeit ein allgemeines theoretisches Fundament errichtet werden könnte, das die bislang auseinanderstrebenden Natur- und Sozialwissenschaften wiedervereint. 23 Schließlich ist gegen den Psychologismus Vorwurf weiter anzumerken, daß das Erkennen, Denken und Handeln des Individuums immer das Ergebnis seiner Interaktionen mit anderen Individuen und deshalb Resultat sozialer Kommunikation ist. Aber die Eigenschaften sozialer Kommunikation können nur erklärt werden, wenn gezeigt wird, wie diese durch die Interaktionen der Individuen aufgrund deren Eigenschaften erzeugt werden. Demnach muß schon aus systemtheoretischer Sicht bei der Analyse das Verhalten eines Kollektivs auf der Ebene der Systemelemente, hier der handelnden Personen und deren Relationen, angesetzt werden. Der Vorwurf der Reduktion ist erst dann berechtigt, wenn die Systemelemente, isoliert betrachtet, zu allgemeinen Grundbausteinen, Dingen an sich, "Wesen" oder selbständigen Entitäten stilisiert werden. Geschieht dies, so ergibt sich der Reduktionismus aus einer falschen Verwendung des Systembegriffs. 24 21 Stellt man den "Beobachter" in den Mittelpunkt jeden Verstehens, dann ergibt sich ,,Realität" einzig aus dem erkennenden Tun des Beobachters. Varela nennt diesen kognitiven Prozeß "Ontieren" - Daseinschaffen einer Welt, s. Biological Autonomy 1979 sowie Kreativer Zirkel 1981, 294. 22 Hejl, Selbstreferentielle Systeme 1982, 177. 23 Davon sind wir in der Bundesrepublik trotz der großen Aufmerksamkeit, die die empirische Kognitionstheorie in den verschiedensten Disziplinen erfahren hat, noch weit entfernt. Dennoch liegen bereits zahlreiche Arbeiten vor, die von der Integrationsfahigkeit des Autopoiese-Konzeptes zeugen; z. B. Hejl, Köck, Roth, Wahrnehmung 1978; BenseIer, Hejl, Köck, Autopoiesis 1980; Roth, Schwegler, Self-organizing systems 1981; Luhmann, Autopoiesis 1982, 366; ders., Soziale Systeme 1985; Rusch, Erkenntnis 1987; Teubner, Autopoietic Law 1988; Stichweh, Selbstorganisation 1990,265.

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Kap. 1: Biologie der Kognition

Die bisherigen Erörterungen hatten das Ziel, in aller Vorläufigkeit zu begründen, worin unsere Anfangsbeschreibung des Erkenntnisphänomens bestehen muß. Die epistemologischen und methodologischen Hypothesen haben uns den Weg zurück zum Ursprungsort jeder Beschreibung gewiesen, zum Beobachter. Er allein ist es, der im Akt des Erkennens eine Welt hervorbringt und eben dadurch seine Existenz in einem bestimmten Milieu fortsetzt. Trifft es zu, daß jede Aussage eine Beobachteraussage und der Beobachter ein menschliches Wesen, d. h. ein lebendes System ist, dann muß alles, was lebende Systeme kennzeichnet, auch ihn kennzeichnen. 25 Ausgangspunkt und Leitfaden für die folgenden Überlegungen wird also ein Konzept sein, das die Charakteristika von lebenden Systemen beschreibt und das fähig ist, das kognitive Phänomen als das Ergebnis des Operierens von Lebewesen zu erweisen. Damit werden die biologischen Grundlagen des Erkennens in der gemeinsamen Eigenart allen Lebens verwurzelt. Folglich beginne ich das nächste Kapitel mit der Erörterung jener Eigenart, die allem Lebendigen zugrunde liegt. 26

24 Entscheidend für die richtige Verwendung des Systembegriffs ist, daß die Elemente als Systemelemente und die Systemeigenschajten als Resultat der Interaktionen der Systemelemente begriffen werden. Faßt man Systemelemente dagegen als selbständige Einheiten auf, verwandelt man sie in Systeme und grenzt sie damit aus dem Untersuchungsgegenstand aus. Daraus folgt für die Reduktionismusproblematik, daß bei der Analyse des Systemverhaltens zwar auf der Ebene der Individuen angesetzt werden muß, diese aber nur als Systemelemente interessieren dürfen. Spricht man ihnen hingegen andere Eigenschaften als dem Systemelement Individuum zu, resultiert aus dieser Reduktion keine Erklärung des Verhaltens sozialer Systeme, sondern eine Erklärung des Verhaltens von Individuen. Zur Auseinandersetzung zwischen methodologischem Kollektivismus und Individualismus vgl. m. w. N. Hejl, Selbstrejerentielle Systeme 1982, 176, insb. 240. 25 Maturana, Kognition 1985,34. 26 Für den weiteren Verlauf der nächsten Kapitel folge ich dem konzeptionellen Fahrplan, den Maturana und Varela (Erkenntnis 1987) aus der Feststellung entwickelt haben, daß alles Erkennen durch Handeln des Erkennenden hervorgebracht wird. Wenn solcherart Leben und Kognition verbunden werden, ist es folgerichtig, mit der Erörterung der Organisation des Lebendigen zu beginnen.

11. Prozesse des Lebens

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11. Prozesse des Lebens 1. Von Objekten zu Relationen a) Das atomistische Modell

Was ist das Kriterium, das ein vorhandenes System als lebendes Wesen klassifiziert?) Die vielen Antworten im Verlauf der Geschichte der Biologie deuten die Schwierigkeit der Problemstellung an. 2 Traditionellerweise werden einzelne Eigenschaften aufgezählt, die aus elementaren materiellen Bausteinen abgeleitet werden. So ist zum Beispiel vorgeschlagen worden, daß die Fähigkeit zur Bewegung, aber auch die Fähigkeit zur Reproduktion aus bestimmten chemischen oder psysikalischen Grundbausteinen des Organismus resultieren müsse. Derartige Erklärungen fassen lebende Organismen als aus getrennten Teilen konstruierte Maschinen auf. 3 Sie fügen sich in einen größeren theoretischen Rahmen, der das Universum als ein mechanisches System von getrennten Objekten begreift. Es war Descartes, der als erster ein Weltbild aus einem Maschinenmodell entwickelte und dieses auf menschliche Körper ausdehnte. Er schuf eine Anschauung der Natur als einer perfekten Maschine, die in Begriffen der Anordnung und der Bewegung seiner Teile erklärt werden konnte. 4 Das Funktionieren der im 17. Jahrhundert kunstvoll den Uhrwerken nachgebauten Automaten verglich er mit dem ) Nach Hiller (Naturwissenschaften 1974) ist die Frage nach der Defmition des Lebens wahrscheinlich unmöglich zu beantworten; Bogen (Exakte Geheimnisse 1979) hält die Frage merkwürdigerweise sogar für unstatthaft. Das liegt an der heute noch maßgebenden naturwissenschaftlichen Meinung, die Leben substantialistisch für eine Fonn der Materie hält. 2 Eine Übersicht geben Linser, Dynamismus 1988,9; v. Frisch, Leben 1988, 18. 3 Zur Kritik an dem gegenstandsbezogenen statischen Modell, das Leben von einem einzigen Molekül getragen sieht, vgl. Eigen, Leben 1987, 55; Riedl, Das Menschliche 1988, 19; Wuketits, Biologie 1981,95; ders., Erkenntnis 1983; Probst, Selbstorganisation 1987,21; zur Def. des Lebens bei Fechner, die Maturanas Ideen sehr nahe kommt, vgl. Heidelberger, Selbstorganisation 1990,68. 4 Die Vorstellung von getrennten Teilen oder "Substanzen" wurzelt in der Philosophie der griechischen Atomisten (Leukipp, Demokrit), nach denen die Materie aus "Grundbausteinen" besteht, den Atomen, die an sich passiv und tot sind. Damit griffen die Atomisten Gedanken von Parmenides auf, der das Grundprinzip des Lebens das "Sein" nannte und behauptete, es sei einzig und unwandelbar. Die Atomisten suchten aber auch die von Heraklit formulierte scharfe Gegenposition, nach der alles Leben ein ständiger Wandel sei, zu integrieren. Um das ewige Werden von Heraklit mit dem unwandelbaren Sein des Parmenides in Einklang zu bringen, nahmen sie an, daß die Materie von einer äußeren Kraft in Bewegung gesetzt werde. Von dieser Kraft glaubte man, daß sie geistigen Ursprungs und grundSätzlich verschieden von der Materie sei. Aus diesem Denken ging der abendländische Dualismus von Körper und Seele hervor, der seine am schärfsten zugespitzte Formulierung in der Philosophie von Descartes erhielt. Zur Verbreitung dieser Ideengeschichte hat am nachhaltigsten Capra beigetragen; vgl. Physik 1983, 14; Tao 1987, 16; Wendezeit 1987, 51; Denken 1987, 15. Speziell zum LeibSeele-Problem vgl. Wuketits, Bewußtsein 1985; ders., Philosophie 1987; Bestenreiner, Spiegel 1988,237; Carrier, Mittelstrass, Geist 1989; Krüger, Selbst 1990, 143.

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Kap. 1: Biologie der Kognition

Funktionieren lebender Organismen: "Ich sehe keinerlei Unterschied zwischen Maschinen, die von Handwerkern hergestellt wurden, und den Körpern, die allein die Natur zusammengesetzt hat". 5 Der menschliche Körper als Uhrwerk wurde denn auch bis zum 20. Jahrhundert zum beherrschenden Paradigma der Medizin, der Biologie, der Physik und der Psychologie. 6 Offensichtlich beantwortet das mechanistische Modell der Welt unsere Frage nach dem Differenzkriterium zwischen Lebewesen und der übrigen Materie negativ. Es gibt danach keinen entscheidenden Unterschied, jedenfalls nicht auf der Ebene der Materie. Da Descartes die Materie auf eine einzige Erklärungsebene, der mechanistischen, reduziert und alle Phänomene in der logischen Ordnung fester Körper zu finden sucht, muß er für Menschen einen zusätzlichen Bereich konstruieren, der völlig getrennt von ihren Körpern existiert. Er nannte diesen Bereich Geist oder ,,res cogitans" und stellte ihn als fundamental verschieden dem Bereich der Materie, "res extensa", gegenüber. Descartes differenziert also nicht zwischen der biotischen und der anbiotischen Materie, sondern zwischen Geist und Materie. Demnach dürfte er keinen essentiellen Unterschied zwischen einer Kuckucksuhr und einem Kuckuck erkennen können; eine zur Reproduktion von Kuckucksuhren fähige Maschine müßte folgerichtig als lebendig bezeichnet werden. b) Das holistische Modell Maturana und mit ihm zunehmend mehr Biologen schlagen demgegenüber als Kriterium des Lebendigen eine Sichtweise vor, die auf radikale Weise mit der traditionellen Aufzählung von Eigenschaften bricht. Das Augenmerk ist nicht auf isolierte Einheiten wie feste Körper oder chemisch zusammengesetzte Zellen, Neuronen oder atomare Teilchen gerichtet, sondern auf die Verknüpfung der einzelnen Komponenten. Es sind diese Verknüpfungen oder Relationen zwischen den Teilen, die ein Etwas ausmachen. Maturana nennt dieses Gewebe von Relationen "Organisation". 7 Im Falle eines Stuhles müssen zwischen den Beinen, der Lehne und der Sitzfläche gewisse Relationen auf eine Weise gegeben sein, die das Sitzen möglich machen. Hingegen kommt es für den Begriff der Organisation Zitiert in Rodis-Lewis, Cartesian Conception 1978. Nicht zuletzt in der Psychiatrie spielt das Maschinenmodell eine große Rolle, vgl. nur die großen Arbeiten zu diesem Thema von Dömer, Irre 1969; Szasz, Geisteskrankheit 1972; Foucault, Wahnsinn 1969; Laing, Erfahrung 1983. Für den Bereich der Medizin vgl. Vester, Neuland 1986, 172. 7 Das Wort kommt vom griechischen organon, "Instrument", und definiert ein komplexes System als eine Einheit, die sich durch die zwischen ihren Bestandteilen bestehenden Relationen verwirklicht. Will man also ein System als eine zusammengesetzte Einheit einer besonderen Klasse definieren, ist es notwendig und hinreichend, seine Organisation darzustellen; vgl. hierzu Maturana, Organisation 1985, 139; Maturana, Varela, Uribe, Autopoiese 1985, 157; Maturana, Varela, Autopoietische Systeme 1985,228. 5

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II. Prozesse des Lebens

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auf die jeweilige Beschaffenheit der einzelnen Teile nicht an, solange die Organisation als solche unangetastet bleibt. Für die KlassifIkation Stuhl ist es unerheblich, ob sein Material aus Holz oder Metall besteht, ob die Teile genagelt, verschraubt oder geleimt sind. Die spezifIsche Ausgestaltung der Organisation, die tatsächliche Beschaffenheit der einzelnen Komponenten nennt Maturana die "Struktur" des Systems. 8 Die Organisation eines Systems wird also durch seine Struktur verwirklicht. Es ist daher allein die Organisation und nicht die Struktur, die ein Objekt als ein System bestimmter Art defIniert. Es ist die Organisation eines Systems, die seine Klassen-Identität aufzeigt. 9 Wird auf Objekte einer Klasse hingewiesen, dann wird implizit oder explizit deren Organisation anerkannt. Maturana benutzt also Zusammenhänge als Grundlage seiner Defmition des Lebendigen. Mit dieser Verlagerung weg von Objekten hin zu Verknüpfungsmustern der im jeweiligen System ablaufenden Prozesse vollzieht Maturana für die Biologie einen ähnlich radikalen Kurswechsel, wie er seit Einstein in der modernen Physik vorgenommen wurde. 10 In der klassischen Physik dominierte eine statische Betrachtungsweise, die vor allem an räumlichen Strukturen, an festen Objekten, an den Grundbausteinen der Materie interessiert war. 11 Man kann eine 8 Das lateinische struere heißt "bauen" und bezeichnet die Bestandteile und Relationen, die in konkreter Weise eine bestimmte Einheit konstituieren. "Struktur" bezieht sich somit ebenso auf den Prozeß der Konstruktion wie auf die Bestandteile des Konstrukts; vgl. Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 54. 9 Infolgedessen dürfen die Begriffe "Organisation" und "Struktur" nicht synonym gebraucht werden. Für die Unterscheidung der Begriffe ist wichtig, daß zusammengesetzte Einheiten (z. B. Lebewesen) die gleiche Organisation, aber unterschiedliche Strukturen (z.B. verschiedene Gattungen) aufweisen können. Demgegenüber wird in der Biologie häufig der Fehler gemacht, daß zur Erklärung eines lebenden Organismus nur ihre Struktur reproduziert wird; siehe dazu Linser, Dynamismus 1988,99. 10 Ebenso wie in der modemen Biologie haben die grundlegenden Änderungen im Weltbild der Physik, insbesondere durch die Entdeckung der Quantenmechanik im ersten Drittel unseres Jahrhunderts, die Aufmerksamkeit der Naturwissenschaftler auf erkenntnistheoretische Fragen gelenkt: Die prinzipielle Beschränkung wissenschaftlicher Aussagen wurde deutlich. Zur Wissenschaftsgeschichte der modemen Physik vgl. Dürr, Das Netz 1988,26; Höfling, Waloschek, Kleinste Teilchen 1984,48; Jantsch, Selbstorganisation 1986, 51; Bestenreiner, Spiegel 1988, 164. 11 So macht die klassische oder Newtonsche Dynamik ihre Aussagen in Begriffen der Position und Geschwindigkeit der Teilchen. Die Bewegung der einzelnen materiellen Punkte ist dabei völlig umkehrbar, der Impuls für die Bewegung kommt von außen; es gibt keine Selbstorganisation. Erst im 19. Jahrhundert erfaßt die Beschreibung der Thermodynamik ,,Prozesse". Man beschäftigt sich mit ganzen Populationen von Teilchen und brachte die dynamischen Aussagen auf Begriffe wie Temperatur und Druck, die Mittelwerte aus der Bewegung vieler Moleküle darstellen. Die Ordnung dieser Prozesse fand 1850 ihre erste gültige Formulierung in dem bekannten zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. wonach der verlustlose Energie-Wärme-Übergang grundsätzlich ausgeschlossen ist. Das wurde von Clausius für die Dampfmaschine errechnet. Danach geht notwendigerweise immer ein Teil der Energie verloren. Dieses sog. Gesetz der Entropie ist nicht nur ein Maß für Energieverlust, sondern - im Gegensatz zur mechanischen Betrachtung - auch ein Maß für die Nichtumkehrbarkeit von Vorgängen, für deren

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Kap. 1: Biologie der Kognition

starre Struktur auf eine Kombination von Normbauteilen zurückführen; man kann sie auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Gewicht oder Stabilität resultieren aus den Eigenschaften der Bauteile und ihrer Konfiguration. Es ist nicht ohne Ironie, daß die Vorstellung von "Dingen" bei der intensiven Suche nach den "Dingen" aufgegeben wurde mußte. Die Quantentheorie machte deutlich, daß selbst die subatomaren Teilchen keine Festkörper im Sinne der klassischen Physik sind. Je nach Behandlung erscheinen diese kleinsten Einheiten mal als Teilchen, mal als Wellen. Diese Doppelnatur zeigt auch das Licht, das als elektromagnetische Schwingung oder als Teilchen auftreten kann. Wie aber ist das Paradox aufzulösen, daß etwas gleichzeitig ein Teilchen sein kann, also eine abgrenzbare Einheit, und eine Welle, die sich über einen weiten Raum erstreckt? Die Lösung ist verblüffend und nötigt nicht nur Physiker, sondern uns alle, die Grundlagen der mechanistischen Weltanschauung, und das heißt, die Vorstellung von der "Wirklichkeit" der Materie, aufzugeben. Heisenberg erkannte, daß die atomaren Erscheinungen durch ihre Beziehungen zum Ganzen bestimmt werden. 12 Ihre Eigenschaften - teilchenähnlich oder wellenähnlich - sind von ihrer jeweiligen Umwelt abhängig. Das bedeutet, daß die experimentelle Apparatur, zu der die subatomare Einheit in Wechselbeziehung treten muß, darüber mitentscheidet, welche Eigenschaften das atomare "Objekt" zeigt. Damit ist für den Bereich des Mikroskopischen erwiesen, daß eine Beschreibung der atomaren Vorgänge notwendig den Beobachter mit einbeziehen muß. Je nachdem wie er mit der Materie zusammenwirkt, ist diese definierbar und wahrnehmbar. Mit jeder Beobachtung und jeder Theorie greifen wir in den Gegenstand unserer Wahrnehmung ein. 13 Nichts anderes besagt die eingangs formulierte dritte HypoIrreversibilität. Damit ist die Entropie auch ein Zeitmaß: Energieflüsse sind "gerichtet" in der Zeit. Ludwig Boltzmann interpretierte diese Entropiezunahme als fortschreitende Desorganisation, als Evolution auf einen "wahrscheinlichsten" Zustand maximaler Unordnung hin. So entstand das düstere Bild vom unentrinnbaren "Wärmetod" der Welt. Auf einer dritten Betrachtungsebene kann man - ohne in Widerspruch zum Zweiten Hauptsatz zu geraten - Systeme so beschreiben, daß sie Energie und Materie beständig mit der Umwelt austauschen und so ihre Ordnungsstrukturen nicht nur erhalten, sondern sogar weiter ausbauen. Solche Systeme (um etwas vorzugreifen) erneuern sich selbst und halten ihre Ordnung nur im Ungleichgewichtszustand aufrecht; zum Ganzen ausführlich Cramer, Chaos 1988, 14. Zum Konzept einer ,.Prozeßontologie" im Gegensatz zur älteren "Strukturontologie" vgl. Götschl, Naturverständnis 1990, 181. 12 Diese Schlußfolgerung ist als Unschärferelation oder Prinzip der Unbestimmtheit bekanntgeworden. Thre Bedeutung liegt vor allem darin, daß sie sich von der Determiniertheit der klassischen Ideen löst. Wenn man nicht einmal von einem Teilchen den Ort und den Impuls genau kennen kann, sind Vorhersagen unmöglich. Die Zukunft ist demnach unbestimmt. Anders ist es, wenn man in der Zeit rückwärts geht. Nach Heisenberg können wir die Vergangenheit in allen Bestimmungsstücken prinzipiell erkennen; vgl. dazu Physik 1984; Naturbild 1956; Teil 1986. Anschauliche Darstellungen der Unschärferelation geben Hawking, Zeit 1988, 75; Gribbin, Schrödingers Katze 1987, 171. Für das Folgende ist festzuhalten, daß Heisenbergs Quantenmechanik vollkommen mit Maturanas Modell des Strukturdeterminismus übereinstimmt. \3 Vor allem Bohr führte in der berühmten "Kopenhagener Deutung" der Quantenphysik aus, daß der Beobachter in einem solchen Ausmaß mit dem System wechsel wirkt,

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these, deren Triftigkeit des weiteren im Rahmen der biologischen Theorie der Kognition nachgewiesen werden soll. In der Quantentheorie langt man also niemals bei isolierten Materie-Teilchen an, man hat es immer mit einer dynamischen Wirklichkeit zu tun, deren Strukturen in kohärenter Weise entwickelt und somit vernetzt sind. Materie-Teilchen sind keine "Dinge", sondern Verknüpfungen zwischen "Dingen", und diese "Dinge" sind ihrerseits Verknüpfungen zwischen anderen "Dingen" und so fort. 14 Übertragen wir diese Überlegungen auf die makroskopische Ebene, wo wir eine Welt separater Gegenstände beobachten, so behält die relationale oder prozessuale Betrachtungsweise ihre volle Gültigkeit. Auch hier gilt, die Menschen leben in Relationen, weil sie als Beobachter nicht anders können als Relationen oder Differenzen festzuhalten; sie halten niemals Gegenstände fest. Je nach den Differenzen, die sie machen, betrachten und beschreiben sie Gegenstände. Dabei sind, genau gesagt, zwei Differenzen impliziert: die Differenz von beobachtetem Gegenstand und mindestens einem anderen Gegenstand, von dem man ihn unterscheiden kann sowie die Differenz zwischen beobachtetem Gegenstand und Beobachter. 15 Streng genommen isolieren Differenzierungen daß man von dem System nicht sagen kann, es habe eine unabhängige Existenz. Zum besseren Verständnis dieser Beziehungen führte Bohr die Idee der Komplementarität ein. Für ihn bezeichneten das Teilchenbild und das Wellenbild zwei sich ergänzende Beschreibungen einer Wirklichkeit, die durch Entscheidungen eines Beobachters festgelegt wird; dazu Bohr, Atomtheorie 1931; Dürr, Das Netz 1988, 50, 116; Hofstadter, Metamagicum 1988,489. 14 Den vorläufigen Höhepunkt einer Konzeption, die die materielle Welt als ein Gewebe von Zusammenhängen auffaßt, markiert die sog. "Bootstrap-Theorie" der Elementarteilchen von Geoffrey Chew. Nach dieser "Schnürsenkel-Hypothese" muß die Natur durch die Forderung nach folgerichtiger Gesamtübereinstimmung ("Selbstkonsistenz") verstanden werden. Für Chew ist das materielle Universum ein dynamisches Gewebe zusammenhängender Geschehnisse. Folglich ist keine der Eigenschaften dieses Gewebes fundamental; alle ergeben sich aus den Eigenschaften der anderen Teile, und die umfassende Stimmigkeit ihrer Zusammenhänge bestimmt die Struktur des ganzen Gewebes. Da fundamentale Einheiten als letzte Bausteine abgelehnt werden, geht auch Chew davon aus, daß die Strukturen der Welt durch die Art und Weise bestimmt werden, wie wir diese Welt sehen. Somit wären die beobachteten Strukturen der Materie Spiegelungen der Struktur unseres Bewußtseins. Diese Idee fmdet eine bemerkenswerte Entsprechung in der chinesischen Philosophie. So weist Needham (Science in China 1956,567) darauf hin, daß die Chinesen über kein Wort verfügen, das der westlichen Idee des ,,Naturgesetzes" nahekommt. Die Chinesen sprechen dagegen von li, was Needham mit "dynamisches Muster" übersetzt, es sei "die kosmische Organisation ... ein Großmuster, das alle kleineren Muster einschließt, und die in ihnen waltenden ,Gesetze' sind diesen Mustern immanent". Genau dies ist die Idee der Bootstrap-Philosophie: Jedes Teilchen besteht aus allen anderen Teilchen. Aus dieser Sicht kann daher der Suche nach letzten Bausteinen, etwa den Quarks, kein Erfolg beschieden sein; vgl. Chew, Bootstrap 1968, 762; Analytic matrix 1966; Elementary particle concept 1974. Hinweise gibt es bei Jantsch, Selbstorganisation 1986, 63; Capra, Denken 1987, 53; Bestenreiner, Spiegel 1988, 173. 15 Aus der modemen Physik haben wir eben gelernt, daß Differenzen an die Stelle jeden Ursprungs treten. Aus Temperaturunterschieden läßt sich Arbeit, also Leben gewinnen. Thermodynamisches Ungleichgewicht ist die Quelle von Ordnung. Das ist die

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Kap. 1: Biologie der Kognition

einzelne Teile eines einheitlichen Ganzen; Benennungen oder Klassifizierungen besitzen die Tendenz, Zusammenhänge zu zerreißen, dynamische Strukturen in lokal fixierte Positionen zu übersetzen. Sind wir uns jedoch der allseitigen Wechselwirkungen, durch die ein Gegenstand erst benennbar wird, bewußt, sind wir uns darüber im Klaren, daß unsere Beschreibungen von Dingen auf der basalen Operation der Handhabung von Unterscheidungen, d. h. von Relationen, beruht, dann können wir den Reduktionismus des mechanistischen Weltbildes überwinden und die prozeßorientierte, relationale oder systemische Betrachtungsweise einnehmen. Nun dürfte klar geworden sein, warum Maturana es ablehnt, lebende Organismen als Maschinen zu betrachten, die aus separaten Teilen bestehen, und warum er die Funktionen der Lebewesen nicht auf die Funktionen oder Eigenschaften ihrer Zellen reduzieren will. Derartige Reduktionen würden exakt der kartesianischen Anschauung entsprechen. Die Grenzen der Apparatemedizin führen vor Augen, daß dieses Modell seine Nützlichkeit bereits überlebt hat. Die Überwindung des kartesianischen Modells liegt demgegenüber in einer Konzeption, die Lebewesen als organismische Ganzheiten begreift, deren Strukturen sich aus den wechselseitigen Beziehungen ihrer Teile ergeben. Statt auf Grundbausteine konzentriert sich die neue Sicht des Lebens auf das grundlegende Organisationsprinzip des Ganzen. Maturana hat dieses Prinzip Autopoiese genannt. Es ist das Kriterium, das ein vorhandenes System als lebenden Organismus definiert.

zentrale Botschaft der von llya Prigogine so genannten" dissipativen Strukturen" (darauf gehen wir im Zusammenhang mit soziologischen Homöostasevorstellungen näher ein): Letztlich werden nicht Teilchen unterschieden, sondern Geschwindigkeiten. Mit der Unterscheidung von langsam und schnell kommen statt Substanzen Ereignisse ins Spiel, d. h. man unterscheidet das Ereignis eines langsamen Moleküls vom Ereignis eines schnellen Moleküls; vgl. Prigogine, Werden 1985; Prigogine, Stengers, Natur 1980; Nicolis, Prigogine, Die Erforschung des Komplexen 1987. Aus dieser Zusarnmenführung von Differenz und Ereignis sucht Niklas Luhmann eine neue theoretische Grundlegung der Soziologie zu gewinnen; vgl. Soziale Systeme 1985. Er kann sich dabei auf die Theorie der Differenz von Bateson stützen, der davon ausgeht, daß unser sinnliches System nur mit Ereignissen arbeiten kann, die wir Veränderungen nennen können; vgl. Geist und Natur 1984, 120. Infolgedessen definiert er die Information als einen "Unterschied, der einen Unterschied macht"; vgl. Ökologie des Geistes 1983, 408, 488, 580. Ohne Differenzen zu konstruieren, könnten wir demzufolge nichts identifizieren im Unterschied zu anderem. Es ist gerade dieser Unterschied zu anderem, der die Identität des Identifizierten ausmacht. Identität verweist also auf Differenz bzw. Nicht-Identität und ist nur durch diese zu sichern. Im Unterschied zu Hegel, der auf die Identität von Identität setzt, kommt Luhmann zur Schlußfolgerung: ,,Am Anfang steht nicht Identität, sondern Differenz" (Soziale Systeme 1985, 112). Diese Entscheidung wird gestützt durch die Grundlegung einer algebraischen Logik von George Spencer-Brown, Laws 0/ Form 1979, die nur mit "distinction" und "indication" arbeitet. Zur Differenztheorie m. w. N. vgl. Baecker, Freiheit des Gegenstandes 1985,76; zur konstitutiven Funktion der Differenz in der Sprache vgl. Derrida, Schrift 1972.

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2. Das autopoietische System a) Organisation

Autopoiese heißt wörtlich übersetzt "selbst-machen" (autos = selbst, poiein = machen) und wird von Maturana in den Bedeutungen von Selbstherstellung und Selbsterhaltung gebraucht. 16 Das Gemeinsame zwischen den Lebewesen läßt sich . hiernach dadurch charakterisieren, daß sie sich andauernd selbst erzeugen und selbst erhalten. 17 Diese Fähigkeit ist durch die spezifische Organisation des Lebenden gewährleistet, deren herausragendes Merkmal in der Zirkularität oder Kreisförmigkeit der im System ablaufenden Prozesse besteht. Ein zentraler Effekt der zirkulären Organisation ist die Reproduktion der Elemente aus den Elementen des Systems. Damit kann die autopoietische Organisation als ein System beschrieben werden, das zirkulär die Komponenten produziert, aus denen es besteht, das sich über die Herstellung seiner Bestandteile selbst herstellt und erhält. 18 Konstitutive Eigenschaft autopoietischer Systeme ist also die Erhaltung ihrer zyklischen Organisation. Diese Eigenschaft unterscheidet die Klasse lebender Systeme von allen anderen Klassen von Systemen, insbesondere auch vom "sozialen System". Was autopoietische Systeme auszeichnet, ist vor allem, "daß sie als Einheiten abgeschlossene Netzwerke der Produktion von Komponenten konstituieren, in denen die produzierten Komponenten das Netzwerk der Produktion, in dem sie entstehen, selbst hervorbringen". 19 Nach dieser Terminologie müßte das "soziale System" als ein Netzwerk der Produktion von Menschen konstituiert sein, was offensichtlich nicht der Fall ist. Allenfalls kann es als Netzwerk der Koordination von menschlichen Handlungen oder menschlichen Sinngebungen verstanden werden. 20 Es 16 Das Folgende bezieht sich vor allem aufMaturana, Organisation 1985, 138; Maturana, Varela, Erkenntnis 1987,55; Varela, Autonomie 1987, 119; Roth, Autopoiese 1987, 256; Oeser, Seitelberger, Gehirn 1988,43; Roth, Gehirn 1990, 167. 17 Um naheliegenden Mißverständnissen vorzubeugen, Selbsterhaltung heißt nicht totale Autonomie gegenüber der Umwelt. Das lebende System benötigt die ständige Zufuhr von chemischer Energie. Es muß also einen Metabolismus besitzen. Ohne diesen würde das System entsprechend dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik spontan in einen stabilen, nicht veränderbaren Gleichgewichtszustand übergehen, was dem Zustand des Todes gleichkommt; siehe Eigen, Wissenschaft 1988, 143; ders., Selbstorganisation 1971; Haken, Wunderlin, Synergetik 1986, 35. Selbstreproduktivität meint also die essentielle Eigenschaft des Lebens, ohne die nach jeder Generation die für den betreffenden Lebenszustand spezifische Information verloren ginge; vgl. Cramer, Chaos 1988,33. 18 Maturana, Kognition 1985, 35; an anderer Stelle heißt es: " ... ist den Lebewesen eigentümlich, daß das einzige Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, d.h. es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art von Organisation", Maturana, Varela, Erkenntnis 1987,56. 19 Maturana, Grundkonzepte 1987, 10. 20 So zutreffend insbesondere Hejl, Soziale Konstruktion 1987, 319.

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produziert unabhängig von den Individuen weder Handlungen noch Bedeutungen, es operiert also nicht in zirkulärer Geschlossenheit, sondern fremdbestimmt. Warum dennoch soziale Systeme in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeiten mit autopoietischen Systemen - etwa im Hinblick auf ihren beharrenden Charakter aufweisen und daher mit ihnen identifiziert werden, liegt darin begründet, daß sie als Aggregate aus autopoietischen Systemen bestehen, die ihrerseits durch ihre Unterscheidungen eine Gesellschaft beschreiben, die von den beobachtenden Individuen nicht abgetrennt werden kann. 21 Halten wir fest, es ist das besondere Netzwerk von Prozessen der Produktion von Bestandteilen, das eine autopoietische Einheit organisiert. Dieses Netzwerk wird nicht durch seine Bestandteile oder durch deren statische Relationen untereinander defmiert, sondern durch einen Bereich der Verkettung von Prozessen. Der Ausdruck "autopoietische Organisation" bedeutet daher schlicht Prozesse, die auf eine zirkuläre Art verbunden sind: auf eine Weise, in der die verketteten Prozesse die Bestandteile erzeugen, die das System als eine Einheit aufbauen und kennzeichnen. Es gibt in biologischen Systemen drei Fälle, wo die autopoietische Organisation explizit nachgewiesen worden ist. Es handelt sich dabei um das Zell-, das Immun- und das Nervensystem. 22 Ich beschränke mich vorerst auf die zelluläre Ebene, da sie einerseits die volle Komplexität selbsterhaltender Systeme aufweist und andererseits vergleichsweise leicht zu verstehen ist. Auf die Arbeitsweise des Nervensystems wird bei der Beschreibung der Prozesse menschlichen Erkennens näher einzugehen sein. Im Falle der biologischen Zelle sind die Bestandteile Moleküle, und die Prozesse sind chemische Produktionen, die Zellstoffwechsel (Metabolismus) genannt werden. Das Besondere dieser zellulären Dynamik besteht darin, daß der Zellstoffwechsel Moleküle erzeugt, die allesamt in das Netzwerk von Wechselbeziehungen, das sie erzeugte, integriert werden. Ein Effekt dieser dynamischen Transformationen ist die Etablierung einer Raum-Zeit-Struktur durch die Schaffung einer Membrane. Manche der Moleküle bilden einen Rand, der das Netzwerk von Prozessen begrenzt und dessen Entstehen im Raum möglich macht. Diese Membrane nimmt ihrerseits an den internen Transformationsprozessen teil und verhindert, daß sich der zelluläre Stoffwechsel in eine molekulare Brühe auflöst. Man kann also sagen, daß der Rand eine wesentliche Bedingung der Existenz autopoietischer Systeme ist. 23 Andererseits muß berücksichtigt werden, daß das 21 Thren scheinbar objektiven Charakter erhalten soziale Systeme durch die Ausbildung von semantischen Strukturen, die die sonst unterschiedlichen Individuen zu mehr oder weniger gleichförmigen, rekursiv operierenden Kommunikationen "veranlassen" können; vgl. Willke, Intervention 1987, 337; KargI, Gesellschaft ohne Subjekte 1990 b. 22 Ausführliche Darstellungen bei Preuß, Aufbau des Menschlichen 1987,36; Cramer, Chaos 1988,20; Müller, Evolution 1987,31; v. Frisch, Leben 1988,24. 23 Damit erfüllen Zellen die von Roth (Selbstorganisation 1986, 155) aufgestellten Bedingungen der Selbsterhaltung: ,,(1) Das System bildet ein räumlich zusammenhängendes Gebilde (Einheit); (11) das System bildet einen freien, vom System erzeugten Rand,

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Netzwerk von chemischen Prozessen die Bedingung der Möglichkeit des Randes ist. Folglich verwirklichen diese dynamischen Wechselbeziehungen der Moleküle die Zelle als eine materielle Einheit. 24 Zwei für das Verständnis autopoietischer Systeme zentrale Merkmale folgern aus der zirkulären Interdependenz der Prozesse: organisationelle Geschlossenheit und Autonomie. Gilt Selbsterzeugung als der Schlüsselbegriff lebender Organismen, dann ist zugleich gesagt, daß der Organismus hinsichtlich seiner Organisation von der Umwelt abgekoppelt ist. Zyklische Organisation defmiert Einheiten als organisationeIl geschlossen. Wenn die organisationelle Geschlossenheit gebrochen wird, verschwindet die Einheit. Wenn andererseits Zirkularität einmal entsteht, dann bilden die Prozesse eine sich selbst berechnende Organisation, die, um sich zu erhalten, auf sich selbst angewiesen ist. Sie benötigt für ihre zyklische Arbeitsweise keinerlei Intervention aus der Umgebung. Um autopoietisch kohärent zu bleiben, genügen dem System "Informationen" über seine Elemente und deren Zusammenwirken. Ein autopoietisches System ist mithin in erster Linie auf sich selbst bezogen und wird daher auch als "selbstreferentiell" bezeichnet. 25 Eben diese Selbstbezüglichkeit oder Eigengesetzlichkeit ist das Charakteristikum dessen, was Maturana und Varela mit dem Begriff Autonomie benennen. 26 Ist ein System dazu fähig, das ihm Eigene zu verwirklichen, dann ist es autonom. Das Bild der Bestimmung von innen her kontrastiert mit Systemen, die allopoietisch oder fremdreferentiell genannt werden, weil sie wie Maschinen eine von der nicht unabhängig vom System existiert (autonomer Rand); (ill) das System existiert in einer Umwelt, aus der es Energie und/ oder Materie aufnimmt (materielle und energetische Offenheit); (IV) jede der konstitutiven Komponenten existiert nur für eine endliche Zeit (Dynamizität); (V) alle konstitutiven Komponenten partizipieren zu jeder Zeit an den Anfangsbedingungen der Komponenten, die zu einer späteren Zeit existieren, so daß das System sich dauernd erhält (Selbstreferentialität)". 24 Mit dieser Auffassung stimmt die Vorstellung von der genetischen Information des DNS (Nukleinsäuren) nicht überein. Behauptet man, daß die Gene die Information enthalten, die ein Lebewesen spezifizieren, löst man die DNS aus ihrer Einbindung in den Rest des Netzwerkes heraus. Es ist jedoch dieses Netzwerk von Interaktionen in seiner Gesamtheit, welches die Charakteristika einer bestimmten Zelle bestimmen. Zur Reproduktion und Vererbung siehe Maturana, Varela, Autopoietische Systeme 1985, 203. Gegen einen allwissenden Baumeister in Form eines Genoms vgl. auch Roth, Gehirn 1990, 178. 25 Zur notwendigen Unterscheidung von Selbsterhaltung (Autopoiese) und Selbstreferentialität siehe Roth, Selbstorganisation 1986, 157; ders., Autopoiese 1987,256. Wir werden weiter unten (Kap. 3 I) ausführlich darauf eingehen. 26 Varela hebt die Tatsache hervor, daß alle autonomen Systeme organisationeIl geschlossen sind. Autopoietische Systeme sind davon nur ein Spezialfall, der sich per definitionem auf chemische Produktionsbeziehungen beschränkt und auf topologische Grenzen bezieht. Er meint daher, daß Vorschläge, soziale Systeme, etwa Institutionen, als autopoietisch zu verstehen, auf Kategorienfehlern beruhen, da sie Autonomie (= Selbstreferentialität) mit Autopoiese (= Selbsterhaltung) verwechseln; vgl. Varela, Autonomie 1987, 120. 3 Kargl

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Kap. 1: Biologie der Kognition

außen vorgegebene Funktion haben. 27 Solche Maschinen sind durch externe Ereignisse steuerbar, sie werden vom Konstrukteur kontrolliert und produzieren durch ihr Funktionieren etwas von sich selbst Verschiedenes. Die Organisation etwa eines Autos ist zwar auch in der Verkettung von Prozessen gegeben, aber diese Prozesse erzeugen keine Bestandteile, die das Auto als eine Einheit definieren, da die Bestandteile unabhängig von der Organisation des Autos produziert werden. Wie wir oben gesehen haben, konstruiert das mechanistische Weltbild lebende Organismen analog den Auto-Maschinen. Dabei wird übersehen, daß Autos sich nicht über ihre Organisationsform reproduzieren, sondern von anderen Maschinen hergestellt werden. Der Fabrikationsprozeß von Maschinen kann also nicht operativ geschlossen sein, wenn er nicht selbstreproduktiv und nicht selbststeuernd funktioniert. Lebende Zellen hingegen sind ein Musterbeispiel für Selbstreproduktion und für autonome Einheiten. Dennoch werfen auch sie die Frage auf, wie sich ihre Autonomie und ihre organisationelle Geschlossenheit mit der Tatsache vertragen, daß sie Umweltbeziehungen haben, ja ohne diese nicht existieren könnten. Es muß also die Frage beantwortet werden, in welcher Hinsicht sind autopoietische Systeme geschlossen, in welcher sind sie offen. Die Antwort auf diese Frage hat Maturana in der Struktur des autopoietischen Systems gefunden und auf die Begriffe "strukturelle Koppelung" und "strukturelle Determination" gebracht. b) Struktur

Unter der Struktur eines selbsterzeugenden Systems haben wir die Komponenten und die Relationen verstanden, die in konkreter Weise eine bestimmte Einheit konstituieren und ihre Organisation verwirklichen. Die jeweiligen konkreten Strukturen können variiert und modifiziert werden; sie können in den durch die zyklische Organisation abgesteckten Grenzen lernen, sich differenzieren, wachsen und Deformationen kompensieren. Insofern sind autopoietische Systeme strukturell plastische Systeme.28 Sie befinden sich in einem ständigen Strukturwandel, der durch innere oder äußere Einflüsse ausgelöst wird. Diese Empfänglichkeit für externe Elemente ist es, die Maturana den Begriff "offen" verwenden 27 Hej1 (Selbstreferentielle Systeme 1982, 179): ,,Fremdreferentielle Systeme entstehen und funktionieren in Erfüllung einer von ihrer Umwelt gestellten Aufgabe in von der Umwelt festgelegten Weise. Tun sie dies nicht, so ist das ein Indiz entweder für einen Konstruktionsfehler oder für eine Defizienz im System ... So, wie seine Konstruktion lediglich ein Problem der Umwelt, nämlich der Konstrukteure und der Werkstatt, ist, ist sein von den Plänen abweichendes ,Verhalten' auch ein Problem der Konstrukteure bzw. der Reparaturkolonne" . Siehe hierzu auch Maturana, Varela, Autopoietische Systeme 1985, 186. 28 Maturana, Organisation 1985, 143: ,,Eine Einheit, deren Struktur sich verändern kann, während ihre Organisation invariant bleibt, ist eine plastische Einheit, und die strukturellen Interaktionen, in deren Verlauf diese Invarianz erhalten werden kann, sind (Stör)-Einwirkungen."

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läßt. Die Strukturen lebender Systeme sind offen für den Durchfluß von Materie und Energie, was eine notwendige Bedingung ihrer Existenz als molekulare Einheiten darstellt. Aber deshalb besteht noch kein Detenninationszusammenhang zwischen den äußeren Vorgängen und den Reaktionen des Systems. 29 Machen wir uns die besondere Art der Interaktionen zwischen innen und außen wiederum anband der zellulären Einheit klar. Durch die Membranen stehen die Zellen in einem ständigen Stoffwechselprozeß mit der Umwelt. 30 Dabei findet ein aktiver Ionentransport statt, wobei die Zelle derart reagiert, daß sie die Ionen in ihr Stoffwechselnetz einbezieht. Beachtenswert ist nun, daß die Struktur der Zelle Interaktionen nur mit bestimmten Ionen zuläßt. Würden andere Ionen in die Umwelt eingeführt werden, stünden die dadurch ausgelösten strukturellen Veränderungen nicht mehr im Einklang mit der Autopoiese der Zelle. Die Folge wäre die Zerstörung der Zelle. Der Organismus bestimmt also durch seine strukturelle und funktionale Organisation in weiten Grenzen, welche Energie und Materie wann und in welchen Mengen aufgenommen und abgegeben wird. 31 Die Interaktionen der Zelle mit ihrer Umgebung sind somit spezifisch; es handelt sich um einen zwar direkten, jedoch nur selektiven Kontakt mit der Umwelt. Der Organismus steuert und kanalisiert selbst in weiten Grenzen die externen Einflüsse. Das Beispiel des Zellsystems zeigt, daß über seine Membrane enge Interaktionen mit der Umwelt stattfinden 32 und daß andererseits kein detenninistischer Zusammenhang von außen nach innen gegeben ist. Maturana nennt die Interaktionen zwischen einer Einheit und ihrem Milieu sowie die Interaktionen zwischen zwei oder mehr autopoietischen Einheiten "strukturelle Koppelung". 33 Nimmt 29 Die Wirkung der äußeren Umstände nennt Maturana ,,Auslöseereignisse", siehe Repräsentation 1985, 284. 30 Neben dem Stoffaustausch besitzt die Zellmembran weitere wichtige Funktionen: Energiehaushalt, Weitergabe und Verarbeitung von "Störeinwirkungen" in den Sinnesund Nervenzellen, Mithilfe bei der Immunabwehr; dazu näher v. Frisch, Leben 1988, 30. 31 Außerdem können viele Organismen Schwankungen in der Verfügbarkeit benötigter Energie ausgleichen, z.B. durch Anlegen von organismusinternen Reserven, Senken der Stoffwechselrate oder Übergehen zu alternativen Materie- oder Energieformen. Auf diese Weise sind sie imstande, sich zum Teil von der Umwelt abzukoppeln und sich somit selbst zu stabilisieren; vgl. Roth, Autopoiese 1987, 263; Preuß, Aufbau des Menschlichen 1987,47. 32 Deshalb bedeutet "Selbstherstellung" auch nicht, daß alle Komponenten, aus denen ein Organismus besteht, "ex novo" geschaffen werden: ,,Der Organismus nimmt mit der Nahrung entweder direkt niedermolekulare Bausteine auf, oder er zerbricht hochmolekulare Nahrung und gewinnt so neben der freiwerdenden Energie niedermolekulare Bausteine, die er dann zu organismusspezifischen hochmolekularen Verbindungen zusammensetzt. Die spezifische Struktur und damit die Funktion dieser Makromoleküle ist also ,selbst' , d. h. innerhalb des Organismus, hergestellt; oder noch richtiger: Der Organismus schafft die bioenergetischen Bedingungen, unter denen sich diese Strukturen selbstorganisierend bilden. Der Organismus verfügt also im aktiven Sinn über die Ressourcen, die die Umwelt bietet. Dies ist der Zusammenhang zwischen Umweltabhängigkeit und Autonomie", Roth, Selbstorganisation 1986, 159; ders., Gehirn 1990, 170.

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die Interaktion rekursiven oder sehr stabilen Charakter an, dann kann von wechselseitiger Anpassung gesprochen werden. Dabei muß berücksichtigt werden, daß Einheit und Milieu mit einer je besonderen Struktur ausgestattet sind. Aus diesem Grunde bilden ihre Interaktionen füreinander wechselseitig Störungen oder Perturbationen. "Bei diesen Interaktionen ist es so, daß die Struktur des Milieus in den autopoietischen Einheiten Strukturveränderungen nur auslöst, diese also weder determiniert noch instruiert (vorschreibt), was auch umgekehrt für das Milieu gilt. Das Ergebnis wird - solange sich Einheit und Milieu nicht aufgelöst haben - eine Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen sein, also das, was wir strukturelle Koppelung nennen."34 Da Einheiten zu jeder Zeit in einem Medium existieren, ist es folgerichtig, wenn Maturana und V arela annehmen, daß in jedem Augenblick struktureller Wandel in der Einheit stattfindet. 35 Des weiteren leuchtet unter diesen Bedingungen ein, Ontogenese als die Geschichte des strukturellen Wandels einer Einheit ohne Verlust ihrer Organisation zu beschreiben. Wie kommt es aber, daß die Autopoiese in Organismen nur bestimmte strukturelle Koppelungen zuläßt? So transportieren die Zellmembranen nur Natrium- und Calcium-Ionen und keine anderen. Die Antwort liegt in der Geschichte des betreffenden Zellstammes: "Die Art der gegenwärtigen strukturellen Koppelung jeder Zelle ist der gegenwärtige Zustand in der Geschichte des Strukturwandels innerhalb der jeweiligen Phylogenese. Dieser Zustand ist ein Moment im ,natürlichen Driften' einer Abstammungslinie, welche bei jeder Zelle aus der kontinuierlichen Erhaltung ihrer strukturellen Koppelung mit dem Milieu, in dem sie sich verwirklicht, resultiert."36

33 Maturana, Organisation 1985, 144; ders. Repräsentation 1985, 287. 34 Maturana, Vare1a, Erkenntnis 1987,85. 3S

Ebd. 84.

36 Ebd. 86. Das von den Autoren vorgelegte Konzept des ,,natürlichen Driftens" hat

andere Implikationen für das Verständnis der Evolution als das Konzept der ,,natürlichen Auslese", das von der noch herrschenden Lehrmeinung des Neodarwinismus bzw. der "Synthetischen Theorie" vertreten wird. Während etwa Mayr (Evolution 1984, 8) die Auffassung vertritt, daß allein die Selektion durch Umweltfaktoren die Richtung der Evolution der Organismen bestimmt, folgt aus dem Autopoiese-Konzept, daß selbsterhaltende Systeme jegliche Veränderung erfahren können, solange diese nicht die zirkuläre Produktion ihrer Komponenten unterbricht. Bleibt die Organisation bestehen, stellen wir als Beobachter eine Verträglichkeit (Kompatibilität) zwischen der Struktur des Milieus und dem Organismus fest. In dieser Situation wirken Milieu und Einheit füreinander als gegenseitige Quellen von Perturbationen. Infolgedessen kann die Selektion immer nur auf das wirken, was ihr der Organismus "anbietet", umgekehrt definiert dann Anpassung nicht irgendeine optimale Lösung der "Stärkeren", sondern bloß strukturelle Verträglichkeit des Organismus mit dem Milieu. Mit welchen Mitteln und in welchem Maße diese Verträglichkeit hergestellt wird, ist gleichgültig. In aller Regel sind viele Strukturvarianten in der Lage, in einem bestimmten Milieu lebenstüchtige Individuen hervorzubringen. Aus diesem Grunde ist es sehr selten, daß unter veränderten Umweltbedingungen nur eine Alternative überlebt. Die Neodarwinisten beschreiben also einen Sonderfall der Evolution. ,,Normal" ist hingegen, daß entweder keiner der Organismen oder gleich

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Durch strukturelle Koppelung eines Organismus an sein Medium kommt es zu phylogenetischer und ontogenetischer Anpassung. Die Strukturen der gekoppelten Einheiten werden dabei solange aufeinander abgestimmt, bis eine strukturelle Kongruenz von Organismus und Medium, bis ein konsensueller Bereich resultiert. 37 Es kann in diesem Zusammenhang nicht nachdrücklich genug betont werden, daß die Organismen ihre Reaktionspartner ebenso wie die Modalitäten des Importes, der Umsetzung und des Exportes von Reaktionsprodukten selbst definieren. Dies ist von ausschlaggebender Bedeutung für jene Operationsweise autopoietischer Systeme, die strukturelle Determination oder Zustandsdetermination genannt wird. Nach Maturana ist jede Veränderung im System vollständig durch seine materielle Struktur determiniert. Veränderungen im Milieu sind deshalb als solche nicht Ursachen für strukturelle Veränderungen des Systems, sondern allenfalls Auslöser oder Anlässe für Prozesse, die ihren Grund im je gegebenen Zustand des Systems finden. Allein die Struktur des Systems bestimmt darüber, mit welchen Ereignissen es in seinem Medium interagieren kann und zu welchem Wandel es infolge der äußeren Anlässe in ihm kommt. Die Interaktionen zwischen dem Lebewesen und seiner Umgebung lösen zwar eine Wirkung aus, aber sie schreiben keine Effekte vor. Diese werden durch die Funktionsweise des Systems selbst festgelegt. 38

mehrere überleben. Im letzteren Fall sind alle gleich angepaßt; es gibt keine "beste" Weise zu überleben. ,,Die Unterschiede zwischen den Organismen offenbaren, daß es viele strukturelle Wege der Verwirklichung des Lebendigen gibt und nicht die Optimierung einer Beziehung oder eines Wertes"; Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 125; zur autopoiesegerechten Evolutionstheorie vgl. Roth, Selbstorganisation 1986, 159; Jantsch, Erkenntnis-theoretische Aspekte 1987, 166; Wuketits, Evolution 1984, 13; Rieppel, Evolutionstheorie 1989. 37 Rusch, Erkenntnis 1987, 142, definiert den konsensuellen Bereich als "Bereich von Verhaltensweisen einzelner Organismen, in dem diese ihr Verhalten aufeinander abstimmen, in dem sie sich gegenseitig orientieren". Auf die Sprache als besondere Form konsensuellen Verhaltens gehen wir weiter unten näher ein (vgl. Kap. 2 I). 38 In diesem Sinn behauptet v. Foerster, daß Menschen nicht-triviale Maschinen sind. Er beschreibt sie als rückbezügliche Lebewesen, die als Reaktion auf das eigene Verhalten ihren inneren Zustand ändern. Infolgedessen funktionieren Menschen stets als ganzheitliche Systeme und zwar in der Gegenwart. Folgende Eigenschaften kennzeichnet nach v. Foerster eine nicht-triviale Maschine: - Sie ist synthetisch bestimmbar, d. h. Sie können eine nicht-triviale Maschine zusammenbauen ... - Anders als die primitive Maschine ist sie von ihrer Vergangenheit abhängig. Was sie tut, ist bedingt durch ihre ,.Erfahrung", ihre Geschichte. - Sie ist analytisch nicht bestimmbar; man kann nicht ausrechnen, was die Maschine macht, indem man sie studiert, eben weil sie zu komplex ist. - Sie ist daher nicht vorhersehbar. Ganz anders die trivialen Maschinen: - Sie sind berechenbar und voraussagbar. - Sie sind von ihrer Vergangenheit unabhängig. - Sie sind synthetisch bestimmbar. Man kann sie zusammensetzen. - Sie sind analytisch bestimmbar. Wenn man herausfmden will, wie sie funktionieren,

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Kap. 1: Biologie der Kognition

Im Falle der strukturellen Koppelung entsprechen allerdings die Zustandsveränderungen des Organismus den Zustandsveränderungen des Mediums. Deshalb kann man sagen, daß relevante Veränderungen des Mediums spezifische Zustände des Systems selektieren. 39 Umgekehrt geschieht mit dem Milieu dasselbe: "die in ihm interagierenden Lebewesen wirken als Auswähler für seine Strukturveränderungen. So hat zum Beispiel die Tatsache, daß die Zellen während der ersten Millionen Jahre nach dem Ursprung des Lebens gerade Sauerstoff und nicht irgend ein anderes mögliches Gas verbreitet haben, substantielle Veränderungen in der Erdatmosphäre bewirkt ... Andererseits hat das Vorkommen von Sauerstoff in der Atmosphäre seinerseits strukturelle Variationen in vielen Stämmen von Lebewesen selektiert und dabei im Verlauf der Phylogenese zum Aufbau von Formen geführt, die als sauerstoffatmende Wesen leben. Die Strukturkoppelung ist immer gegenseitig; beide - Organismus und Milieu - erfahren Veränderungen." 40 Fassen wir zusammen: Lebewesen sind strukturell determinierte Systeme. Alles, was in ihnen geschieht, ereignet sich in Form von Veränderungen ihrer Struktur, die teils Resultate der eigenen inneren Dynamik sind, teils durch Interaktionen mit dem Medium ausgelöst werden. In keinem Falle finden instruktive Interaktionen derart statt, daß Lebewesen und Medium einander determinieren oder auch nur kontrollieren. 41 Allenfalls entsprechen die Strukturveränderungen einander, wenn die Interaktionen rekursiven Charakter annehmen, ohne daß die Identität des Systems zerstört wird. Der Strukturdeterminismus autopoietischer Systeme resultiert aus ihrer organisationellen Geschlossenheit, die besagt, daß alle Informationen, die das System für die Aufrechterhaltung seiner zirkulären Organisation braucht, in dieser Organisation selbst liegen. Wenn in diesem Sinne autopoietische Systeme informationsdicht sind, dann hängen seine Operationen gibt man ihnen Inputs, beobachtet ihre Outputs und schreibt die Transfer- oder Ubertragungsfunktion nieder (vgl. v. Foerster, Sicht 1985,12; Segal, Erfindung 1988, 162). Vergleicht man die beiden Charakteristika im Hinblick auf die vorherrschenden Straftheorien, dann ist evident, daß diese den Menschen nach dem Modell der trivialen Maschine konstruieren. Dieses Modell ist das grundlegende Paradigma der Kontrolle.. es setzt Interaktion mit Instruktion gleich und kontrastiert mit dem Modell der Autonomie, das für innere Regulierung, Bestätigung der eigenen Identität und Gespräch steht; siehe hierzu Varela, Autonomie 1987, 129; DelI, Epistemologie 1984, 161. 39 Maturana, Repräsentation 1985,281. 40 Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 112. 41 Das scheint mir der wichtigste Gedanke des Autopoiese-Konzeptes zu sein. Demgegenüber halte ich den Gedanken der Selbsterhaltung für insgesamt weniger aussagekräftig. Immerhin können sich individuelle Lebewesen nur vorübergehend selbst erhalten. Daher sind - streng-genommen - alle Einzellebewesen keine echten autopoietischen Systeme. An der Heiden, Roth und Schwegler (Organismen 1985,370) ist zuzustimmen, wenn sie das Leben selbst als einziges autopoietisches System bezeichnen, das "als ununterbrochene Fortpflanzungskette besteht, die seit mehr als drei Milliarden Jahren sich selbst herstellt und erhält und damit alles überdauert hat, was auf unserer Erde existierte"; ebenso Roth, Kognitive Selbstreferentialität 1987, 396.

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allein vom jeweiligen Zustand vor jeder Operation ab. Jegliches Verhalten ist somit struktur- bzw. zustandsdeterminiert. c) Funktion

aa) Homöostase Das Lebewesen verhält sich so, wie es sein innerer struktureller Aufbau zuläßt. Dies war die Kernaussage des vorangegangenen Abschnitts. Der strukturelle Aufbau steht seinerseits im Dienste der Selbsterhaltung des Systems. Diese Selbstreproduktion wird durch die Zirkularität der Systemkomponenten gewährleistet. Das haben wir im Abschnitt "Organisation" näher beschrieben. Als System"ziel" kann daher die Systemerhaltung bezeichnet werden, die durch eine in Grenzen mögliche interne Anpassung an die Umwelt erfolgt. 42 Da die Umwelt sich in einem andauernden Veränderungsprozeß befindet, muß das System in deJ:Lage sein, seine Organisation durch jegliche externen Störungen hindurch zu erhalten. Damit ist gesagt, daß alle Interaktionen der Lebewesen unter dem Primat der Selbsterhaltung stehen. Folglich ist das Verhalten lebender Organismen eine Funktion ihrer autopoietischen Organisation. Wenn alles Verhalten dem Prozeß der Autopoiese untergeordnet ist und nur in diesem Prozeß Funktion hat, dann ist jedes Verhalten ein Akt in der Autopoiese, demgegenüber die Aktivität des Mediums eine untergeordnete Rolle spielt. 43 Aus der Hypothese, daß Verhalten eine Funktion der Autopoiese ist, folgern logischerweise drei besondere Merkmale autopoietischer Verhaltensweisen, nämlich deren Homöostase, deren Induktivität und Konservativität. 0.) Invarianz und Organisation

Maturana bezeichnete wiederholt Lebewesen als homöostatische Systeme. 44 Unter Homöostase ist die Tendenz lebender Organismen verstanden worden, einen Zustand innerer Ausgeglichenheit zu bewahren. 45 Diese Definition ist gewiß nicht falsch, aber sie birgt eine Quelle von Mißverständnissen. Das erste Mißverständnis gründet auf einem Begriff von Homöostase, der mit konventionellen 42 In systemischer Perspektive kann freilich nicht von Zielgerichtetheit eines Organismus im Sinn einer Teleologie auf ein bestimmtes telos oder Ziel hin gesprochen werden, eher von Zwecken und Richtungen, die ihrerseits selbstorganisierend sind und die sich aus dem ,,natürlichen Driften" und den strukturellen Koppelungen der autopoietischen Systeme ergeben; vgl. Jantsch, Erkenntnistheoretische Aspekte 1987, 188. ,,zwecke" können jedenfalls nicht mehr so beschrieben werden, als würde eine Komponente des Systems das Funktionieren des gesamten Systems bestimmen oder regulieren; so Dell, Homöostase 1986,46; Guttman, Epistemologie 1985, 16; Schiepek, Diagnostik 1986, 92. 43 Rusch, Erkenntnis 1987, 49. 44 Maturana, Kognition 1985,35,72. 45 Begriff und Definition stammen von dem Neurologen Walter Cannon, Wisdom 1939.

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Kap. 1: Biologie der Kognition

Bedeutungen wie Stabilität belastet ist. Assoziiert man mit dem Wort "stabil", daß das System "festgelegt", "statisch", "sich nicht verändernd" ist, dann sind das für die Beschreibung von selbsterhaltenden Systemen untaugliche Begriffe. Homöostase darf nicht mit Gleichgewicht verwechselt werden. 46 Die Identifizierung von Homöostase mit statischem Gleichgewicht finden wir häufig, wenn systemtheoretisches Gedankengut auf soziale Sachverhalte übertragen wird. Das Konzept der Homöostase soll das schwierige Problem der Konstanz, der Regelhaftigkeit, eben die erkennbare Stabilität sozialer Gebilde wie Familie, Gesellschaft und Staat erklären helfen. 47 Es funktioniert dann unversehens nach Art einer Letztbegründung: es gebe ein homöostatisches Prinzip oder eine derartige Kraft, die das Gleichgewicht "verursache" und sich Änderungen widersetze. Zu sagen, das System erhalte den Status quo, weil es homöostatisch ist, heißt zirkulär argumentieren. Eine solche Argumentation widerspricht der autopoietischen Konzeption. Ich möchte am Beispiel des familientherapeutischen Bereiches die folgenreichen Konsequenzen eines nichtsystemischen Homöostasebegriffs herausarbeiten. Zugleich soll über die Anschaulichkeit des Materials das Verständnis für die Funktionsweise autopoietischer Systeme vertieft werden. In den fünfziger Jahren begannen Bateson und seine Mitarbeiter, die Schizophrenie in dem interpersonellen Kontext der Familie zu untersuchen. 48 Sie kamen 46 In solchen, sich auf Gleichgewichtszustände hin evolvierenden Systemen muß wie wir gesehen haben - die Entropie notwendigerweise zunehmen, was auf Desorganisation und schließlich Zerstörung der Strukturen hinausläuft. Bei diesen Systemen handelt es sich um mehr oder weniger isolierte Systeme, also um Systeme ohne oder mit geringem Umweltaustausch. Jantsch zählt sie zur ersten Grundklasse physikalischer Systeme, zu den sog. "strukturbewahrenden Systemen", Selbstorganisation 1986, 57 (siehe Übersicht

I).

47 Den ,,kulturellen" Hintergrund homöostatischer Gesellschaftsvorstellungen bildet die in den Vereinigten Staaten in den 50er und 60er Jahren dominierende strukturalfunktionale Sozialtheorie von Talcott Parsons. Nach dieser Theorie wird die Beziehung von Person und sozialem System über die ,,Rolle" hergestellt. Die Rollen ergeben in ihrer Gesamtheit die soziale Struktur und haben die Funktion, die Stabilität und das harmonische Funktionieren des sozialen Systems zu sichern und das Individuum darin zu integrieren. Daraus ergibt sich der Aufbau der Gesellschaft als ,,zwiebel": das Individuum ist über die Rolle in das hierarchisch höhere System der Familie eingebettet, diese in die lokale Gemeinschaft, diese in den Staat etc., vgl. Parsons, Sozialstruktur 1977, 327. Jede Ebene der sozialen Organisation erhält demnach ihre Ordnung durch die unmittelbar darüberliegende, die dann auch für Abweichungen der darunterliegenden Ebene "verantwortlich" ist. So beeinträchtigt die Familie das Individuum, die Gemeinschaft die Familie, der Staat die Gemeinschaft etc. Dieser hierarchischen und homöostatischen Ordnung sozialer Strukturen korrespondiert auf der Ebene sozialer Intervention ein Konzept, das auf Macht und Kontrolle aufbaut. Ein solches Kontrollmodell ist mit der Vorstellung einer objektiven beobachtbaren Wirklichkeit verbunden, von der aus Abweichung diagnostizierbar ist. Zum ideengeschichtlichen Zusanunenhang von Sozialtheorie und Kontrollparadigma vgl. Anderson, Goolishian, Winderman, Determined Systems 1986; Steiner, Selbstorganisierende Systeme 1987,48. 48 Einen vorzüglichen historischen Abriß über das familientherapeutische Forschungsprojekt in Palo Alto bietet aus eigener Anschauung Lynn Hoffman, Familientherapie 1982; dies., Macht 1987,76; instruktiv auch Boeckhorst, Familientherapie 1988, 10.

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zu dem Ergebnis, daß schizophrenes Verhalten in einem familiären Kontext auftritt, den sie Double-Bind nannten. 49 Unklar blieb unter den Autoren, ob die Psychopathologie der Kinder als durch das neurotische Verhalten der Eltern verursacht anzusehen sepo oder ob die Verhaltensweisen in der Familie eine allgemeine Komplementarität besitzen, ob sie zusammenpassen, stimmig sind. SI Jackson, der letzterer Auffassung zuneigte, führte in diese Diskussion als erster den Begriff Homoöstase ein. 52 Er meinte, daß eine Vielzahl diagnostischer Kategorien in ein interaktionales Muster passen, das homöostatische Mechanismen aufweist. Seine Untersuchung ergab, daß einer Besserung auf Seiten der Patienten häufig eine Verschlechterung des Zustands anderer Familienmitglieder folgte: ,,Ernste Folgen werden bei einem Familienmitglied auftreten, das seine psychosoziale Gesundheit mit der Krankheit der Person, die in Behandlung steht, ,erkauft' hat."53 Eine sorgfaltige Interpretation des Satzes läßt die Implikation erkennen, daß derjenige, der "erkauft", irgendwie die Krankheit des Patienten verursacht. 54 Kurze Zeit später wurde diese linear kausale Position zugunsten einer wechselseitigen Verursachung zurückgenommen. 55 Es fragt sich jedoch, ob der Gedanke der Stimmigkeit sich überhaupt mit ätiologischen Vorstellungen oder mit dem Verursachungsmodell verträgt. Zur Beantwortung der Frage ist es nützlich, die für autopoietische Systeme grundlegende Unterscheidung zwischen Organisation und Struktur wiederaufzu49 Dargestellt sind die Forschungsergebnisse in: Watzlawick, Beavin, Jackson, Kommunkation 1974; Watzlawick, Weakland, Fish, Lösungen 1974; Bateson, Ökologie des Geistes 1973, 321; Bateson u. a., Schizophrenie 1972; krit. Bleuler, Psychiatrie 1983, 456; Hell, Gestefeld, Schizophrenien 1988, 23. 50 Dazu tendiert etwa Bowen, Familie 1972, 181; ebenso Lidz, Cornelison, Fleck, Terry, Ehe 1972, 108. 51 Für das Stimmigkeitsmodell z. B. Bateson, Jackson, Haley, Weakland, Schizophrenie-Theorie 1972, 11; Bateson, Kybernetik des "Selbst" 1983,400; Wynne, Rykoff, Day, Hirsch, Pseudo-Gemeinschaft 1972,44. 52 Jackson, Family Homoestasis 1957,79. 53 Jackson, Family 1965, 1.

S4 Womit letztlich die Stimmigkeits-Konzeption in Begriffen der Verursachung verstanden wird, häufig sogar im Sinne linearer Kausalität: Mütter würden ihre Kinder doppel-binden und schizophrene Symptome verursachen. 55 Als heuristische Modelle der Farnilieninteraktion wurden zunehmend Kybernetik und Kommunikationstheorie "entdeckt". Man begriff die Familie als ein durch Irrtum aktiviertes, sich selbstkorrigierendes, homöostatisches Modell, das Information auf sich selbst als Symptom bzw. als abweichendes Verhalten zurückwirken läßt. Dieses negative Feedback funktioniert dann als Servomechanismus, der Veränderung verhindert. Das Symptom wird nicht mehr nur negativ gesehen; es erfüllt eine wichtige Funktion für die übergeordnete Einheit, d. h. es steht im Dienste der Sicherung der Kontinuität und Stabilität der Familie. Damit läßt sich eine dysfunktionale Familie in System-Begriffen und nicht in denen psychischer Strukturen - wie in der analytischen Psychotherapie - beschreiben. Als Pionier einer systemtheoretischen Familientherapie gilt Minuchin, Familie 1977; ders., Familienkaleidoskop 1988; s. auch Minuchin, Fishman, Familientherapie 1983. Zur Kritik an diesem Ansatz eingehend Steiner, Selbstorganisierende Systeme 1987,50; Hoffman, Macht 1987, 82.

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Kap. 1: Biologie der Kognition

greifen. Die Organisation stellt die Erzeugung der Bestandteile des Systems sicher. 56 Für die Existenz eines Systems ist folglich die Erhaltung seiner Organisation konstitutiv. Dies gilt auch für die Erhaltung der strukturellen Koppelung an das umgebende Medium. Geht die Organisation oder die Anpassung an das Medium verloren, dann des integriert das System und hört auf zu existieren. Infolgedessen muß die Organisation durch das Funktionieren der Bestandteile hindurch konstant gehalten werden. 57 Allein im Hinblick auf die Erhaltung der Organisation und der Angepaßtheit an das Medium ist das autopoietische System homöostatisch. 58 Nur in dieser Hinsicht hält es den Status quo aufrecht und widersetzt sich Änderungen.

ß) Varianz

und Struktur

Keineswegs widersetzt sich das autopoietische System Änderungen bezüglich seiner Struktur. Man kann im Gegenteil sagen, daß die fortlaufende Transformation der Struktur die Autopoiese erst ermöglicht. Dies heißt, daß die Selbsterhaltung des Systems durch andauernde Änderung seiner Struktur gewährleistet wird. Alles Verhalten beeinflußt auf rekursive Weise den Zustand des Systems. Es ist also gar nicht möglich, daß sich das gleiche System zweimal in derselben Weise verhält. 59 ,,Ein System kann sich nicht verhalten, ohne sich selbst zu ändern." 60 Die Stabilität lebender Organismen beruht nicht auf dem Gleichgewicht ihrer Bestandteile und deren Umweltbeziehungen, sondern in der Erhaltung ihrer Organisation. Trotz beständigen Wandels, ja sogar Ersetzens der Bestandteile, wird das Gesamtmuster des Organismus beibehalten. Zellen zerfallen und bauen neue Strukturen auf. So ersetzt die Bauchspeicheldrüse alle 24 Stunden die meisten ihrer Zellen, die Magenschleimhaut erneuert sich alle drei Tage und unsere weißen Blutzellen werden in zehn Tagen erneuert. 61 Dennoch bleibt die Fähigkeit Maturana, Kognition 1985,72. Maturana, Grundkonzepte 1987, 11. 58 Statt von homöostatischen Systemen spricht man also besser von organisationsstatischen Systemen. Varela nennt die autopoietische Maschine deshalb auch zu Recht ,,relations-statisches System, das seine Organisation (defmiert als ein Netzwerk von Beziehungen) als eine fundamentale Invariante hat", vgl. Biological Autonomy 1979, 13. 59 Der entscheidende Mangel des Konzepts der Homöostase ist dessen Unvennögen, systernische Änderungen zu erklären. Infolgedessen muß es verwundern, einen Ansatz des therapeutischen Wandels auf eine Theorie zu gründen, wie Systeme sich nicht ändern; zu dieser erkennbaren Ironie Speer, F amily Systems 1970,259; Wynne u. a., Psychotherapie 1980, 42. 60 Schon Heraklit, dessen Satz (Du kannst nie zweimal in den gleichen Fluß steigen) hier paraphrasiert wurde, wußte, daß Änderungen irreversibel sind. Dell (Homöostase 1986, 56) weist mit Nachdruck darauf hin, daß die Änderungen bzw. die ,,Rückkopplung" das gesamte System und nicht nur die Zielvariable beeinflussen: "Immer wenn eine Konstanz an einer Stelle des Systems eingeführt wird, wird sich das übrige System verändern, um an diese Konstanz zu akkomodieren"; vgl. hierzu auch Dell, F amilientheorien 1981, 310. 56 57

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zur Selbsterhaltung unter einer Vielfalt von Umständen bewahrt. Will man diese Fähigkeit homöostatisch nennen, dann muß man sie mit Flexibilität, mit Dynamik, mit Fluktuation, mit Anpassung, mit Lernen und Änderung in Verbindung bringen. Es gibt also keine Tendenz, die inneren oder äußeren Einflüsse derart zu kompensieren, daß der alte Zustand wieder hergestellt wird. Autopoiese gewinnt ihre stabilisierende und ordnende Funktion über beständiges Modifizieren ihres Zustandes, über transformatorisches Operieren. Homöostatisch sind Lebewesen nur hinsichtlich ihrer Fortexistenz. Diese sichern sie durch steten Wandel bis zum Tod. Erich Jantsch 62 hat für den Zustand der Lebewesen fern vom Gleichgewicht das Bild eines Menschen gefunden, der stolpert, sein Gleichgewicht verliert und sich nur dadurch aufrecht halten kann, daß er immer weiter vorwärts stolpert. Damit ist treffend veranschaulicht, daß Homöostase in autopoietischen Systemen Ordnung durch Bewegung, Stabilität durch Fluktuation meint. 63 Im Hinblick auf das Verhalten des Gesamtsystems dürfte nach alldem der Homöostase-Begriff erst gar nicht verwandt werden, da er in aller Regel als ein in Gleichgewicht stehender Anfangszustand interpretiert wird, zu dem das System nach der Bewältigung von Störungen unverändert zurückkehrt. Tatsächlich sind jedoch gerade umgekehrt Ungleichgewichtszustände als Quelle von Strukturierung und raumzeitlicher Stabilität anzusehen. 64 In chemischen Reaktionssystemen, die den ersten Schritt zum Leben darstellen, ist das Prinzip der "Ordnung durch Fluktuation" von Prigogine eindrucksvoll nachgewiesen worden. 65 Er entdeckte in chemischen Systemen die gleichen 61 Daran zeigt sich, daß die Stabilität selbstorganisierender, energetisch offener Organismen äußerst dynamisch ist und nicht mit Gleichgewicht verwechselt werden darf; näher zur Varietät der Teile und zur Selbstorganisation als übergeordnetem Konzept vgl. Riedl, Erkenntnis 1981; ders., Weltbild 1985; Probst, Selbstorganisation 1987,29. 62 Jantsch, Selbstorganisation 1986, 63. 63 Um zu verdeutlichen, daß der Organismus einerseits seine Strukturen ständig emeu~ ert und andererseits informationell abgeschlossen operiert, benutzt Maturana den Vergleich mit einem Piloten, der eine Blindlandung macht: "Was in einem lebenden System geschieht, entspricht etwa dem, was während eines Instrumentenfluges passiert, wo der Pilot keinen visuellen Zugang zur äußeren Welt hat und ausschließlich als Kontrolleur der Werte fungiert, die seine Fluginstrumente anzeigen. Seine Aufgabe ist es, eine bestimmte Abfolge der von seinen Instrumenten angezeigten Meßwerte einzuhalten ... Der Pilot, der sein Flugzeug verläßt, ist erstaunt darüber, daß ihm seine Freunde zu perfektem Flug und perfekter Landung gratulieren, die er in absoluter Dunkelheit ausgeführt hat. Er ist perplex, weil er sich nach seinem Verständnis in jedem Moment nur darum kümmerte, die Anzeigen auf seinen Instrumenten innerhalb bestimmter Grenzen zu halten, eine Beschreibung, die überhaupt nicht in den Beschreibungen seiner Freunde (Beobachter) von seinem Tun vorkommt" (Kognition 1985, 74). Aufgrund der prinzipiellen Unerkennbarkeit der Wirklichkeit kann man also mit Maturana sagen, daß lebende Organismen immer Blindlandungen machen, selbst wenn sie die ganze Zeit mit der äußeren Welt "Informationen" austauschen. 64 Jantsch, Erkenntnistheoretische Aspekte 1987, 164. 65 Prigogine, Werden 1985; Glansdorff, Prigogine, Theory o!Structure 1971; Nicolis, Prigogine, Erforschung des Komplexen 1987,77; vgl. auch die Darstellung "dissipativer

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Kap. 1: Biologie der Kognition

Charakteristika, die Maturana für Zellen beschrieb. Auch die chemischen Reaktionssysteme halten sich selbst mit Hilfe des Energie- und Materieaustausches mit der Umgebung in Gang und bilden über längere Zeit stabile Strukturen. Wegen ihrer ständigen Energieumsetzung und Entropieproduktion hat Prigogine sie "dissipativ" genannt. 66 Daraus resultiert ein Verhalten, das nichtlinear ist und von Jantsch mit einem "Davongaloppieren" verglichen wurde. 67 Die Kybernetik nennt ein solches Verhalten "positive Rückkoppelung", ein Verhalten, das immer höhere Abweichungen statt eine Rückregelung zu einem vorgegebenen Sollwert verursacht. 68 Die Abweichung,' d. h. Instabilität fern vom Gleichgewicht, läßt neue Ordnung entstehen, während nahe dem Gleichgewicht Ordnung zerstört wird. Eben diese temporär stabilen Konfigurationen, die sich aus der Wechselwirkung von Prozessen ergeben, zeichnen autopoietische Systeme aus. Es handelt sich bei ihnen mithin um evolvierende Systeme, die ihre offene· Ordnung auf Dauer nur im Ungleichgewichtszustand aufrechterhalten können, die sich durch Austausch selbst erneuern. 69 Sein und Werden fallen auf dieser Ebene zusammen. Was allein konstant bleibt, ist die spezifische Organisation des dynamischen Prozesses. Wir erkennen ein Gesicht wieder, auch wenn seine Zellen mehrfach ausgetauscht werden.

Strukturen" bei Crarner, Chaos 1988, 35; Rusch, Erkenntnis 1987, 26; G1eick, Chaos 1988,20; Dürr, Netz 1988,76. 66 Dissipieren, vom lateinischen dissipare: zerstreuen, umwandeln, verteilen. Ein bekanntes Beispiel für das spontane Entstehen von Ordnung fern vom Gleichgewicht ist die sog. Banardsche Instabilität, die entsteht, wenn eine Flüssigkeit zwischen zwei Platten gelagert ist, zwischen denen ein Temperaturgefälle herrscht. Wenn sich die Flüssigkeit erwärmt, entstehen Konvektionsströme. Erreicht die Energiedifferenz ein bestimmtes mittleres Maß, so bilden sich wellenartige Muster. Man kann diese Banardschen Rollen häufig auf der Oberfläche des heißen Kaffees in der Tasse beobachten; siehe Prigogine, Werden 1985, 101; Jantsch, Selbstorganisation 1986,53. Neben diesen Diffusionsphänomenen ist als chemisches Beispiel für eine dissipative Struktur die sogenannte "Belusojf-Zhabotinsky-Reaktion" bekanntgeworden. Diese Reaktion zeigt, daß sich bei Zusarnmenführung einer organischen Säure mit Kaliumbromat in Gegenwart von Cerium-Ionen spontan globale Ordnungen etablieren können, die ohne weiteres Zutun für eine gewisse Dauer in einem Fließgleichgewicht stabil bleiben; Abbildung einer solchen Spiralwelle bei Crarner, Chaos 1988, 37; Prigogine, Werden 1985, 131. Über den Begriff ,,F1ießgleichgewicht" verfügte bereits Fechner, vgl. Heidelberger, Selbstorganisation 1990, 71. 67 Jantsch, Selbstorganisation 1986, 62. 68 In Anlehnung an die mathematische Formulierung nennt man ein solches Verhalten auch "nichtlinear". Auf die Meteorologie übertragen, versteht man darunter die Erscheinung, die unter dem Begriff "Schmetterlingseffekt" bekannt ist: die Vorstellung, wonach ein einzelner Schmetterling, der mit seinen Flügeln in Peking die Luft bewegt, einen Monat später Sturmsysteme über New York beeinflussen kann; vgl. zum Ganzen Bestenreiner, Spiegel 1988, 152; Gleick, Chaos 1988, 20. 69 Deshalb klingt es etwas tautologisch, wenn man Ungleichgewicht als Quelle von Ordnung bezeichnet. Richtiger ist es, Ungleichgewicht als einen Typ von Ordnung, der polar oder multidimensional sein kann, zu begreifen.

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Übersicht 1: Unterscheidung der Systeme nach dem internen Zustand des Gleichgewichts bzw. des Ungleichgewichts (nach Jantsch, Selbstorganisation 1986, 67).

Kennzeichnender Systemaspekt

Strukturbewahrende Systeme

Evolvierende Systeme

GesamtsystemDynamik

statisch (keine Dynamik)

konservative Selbstorganisation

dissipative Selbstorganisation (Evolution)

Struktur

Gleichgewichtsstruktur, permanent

Devolution auf Gleichgewichtszustand hin

dissipativ (fern vom Gleichgewicht)

Funktion

keine Funktion oder Allopoiese

Bezug auf Gleichgewichtszustand

Autopoiese (Selbstbezug)

Organisation

statistische Schwankungen in reversiblen Prozessen

irreversible Prozesse in Richtung auf den Gleichgewichtszustand

zyklisch (Hyperzyklus), irreversible Drehrichtung

Interner Zustand

Gleichgewicht

nahe Gleichgewicht Ungleichgewicht

Umweltbeziehungen

abgeschlossen oder offen (Wachstum möglich)

offen (ständiger, ausgewogener Austausch)

y) Varianz und Invarianz in Sozialsystemen

Es ist nun leicht zu erkennen, daß die Konstruktion einer familiären Hornöostase unter Berufung auf autopoietische Systeme unzutreffend ist. Denn die Vorstellung einer wie immer gearteten Struktur der Familie, die ein Kontrollnetz über deren Mitglieder ausspannt, entspricht dem Maschinen-Modell. In einem solchen Modell ist es folgerichtig, das familiäre Ganze einem Thermostaten gleichzustellen, dessen Aufgabe darin besteht, einen bestimmten Zustand nahe dem vorgegebenen Sollwert zu halten. Kommt es zu Störungen, werden regulatorische Maßnahmen eingeleitet, die die gewünschte Anfangsposition wiederherstellen. Es ist dies der Mechanismus der ,,negativen Rückkoppelung", der in der Kybernetik Selbststeuerung bedeutet. 70 70 Ein wichtiger Mangel des einfachen Rückkoppelungssystems "Thermostat" ist offensichtlich: Er kann nicht lernen. Ein lernendes System müßte in der Lage sein, für jede Art von Störsignal denjenigen ,,Mechanismus" zu erfassen und zu speichern, der das Problem erfolgreich gelöst hat. Es muß also eine Art von Gedächtnis besitzen, soll es selbständig herausfmden, welche der Aktivitäten innerhalb seines Verhaltensrepertoires am wahrscheinlichsten geeignet ist, ein bestimmtes Störsignal zu korrigieren. Diese Arbeit hat im Falle des Thermostaten der Konstrukteur vorweg festgelegt; vgl. ausführlich zu Kybernetik und Lernen v. Glasersfeld, Kybernetik 1987, 145.

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Kap. 1: Biologie der Kognition

Die entscheidende Frage lautet, wer hat den Sollwert vorgegeben? In der Kybernetik steht außer Frage, daß dieser dem System von außen auferlegt ist. Ein Beispiel dafür lieferte bereits Phiion von Byzanz, der im dritten Jahrhundert vor Christus wohl als erster eine Öllampe baute, bei der der Öl stand des Brenners die Ölmenge kontrolliert, die dem Brenner von einem Reservoir zugeführt wird. 71 Die Öllampe ist natürlich außerstande, den Referenzwert selbst zu bestimmen. Wer aber bewirkt in der Familie den Sollwert? Der Theorierahmen des Maschinen-Modells läßt nur eine Antwort zu: Er muß dem Familiensystem - sei es von einem Mitglied oder von außen - vorgegeben worden sein. Dies würde heißen, daß eine Komponente des Systems die anderen Komponenten steuert, kontrolliert oder gar umfassend determiniert. Tatsächlich ist in familientherapeutischen Diskursen häufig davon die Rede, daß einzelne Familienmitglieder andere dazu brächten, sich zu "opfern". Zum Beispiel heißt es, die Patientin spiele verrückt, um ihre Eltern von einem Konflikt zu befreien. 72 In solchen Aussagen wird besonders deutlich, daß sich die Konzeption linearer Kausalität scheinbar mühelos mit Gründen oder Zwecken des Handeins in Verbindung bringen läßt. 73 Daher ist nicht verwunderlich, daß auf dieser Basis Zuschreibungen und Kontrolle aller Art errichtet werden. 74 Die Sichtweise der autopoietischen Konzeption ist eine völlig andere als die des Maschinen-Modells der Homöostase. Sie definiert die Familie als ein System, Mayr, Feedback Control1970. Kindliche ,,Rollen" dieser Art beschreibt Horst-Eberhard Richter, Eltern 1969,69. 73 DelI, Homöostase 1986, 49: "Wenn man einem Kliniker sagt, eine Familie hat einen homöostatischen Mechanismus, so wird er nicht ruhen, ehe er nicht den ,Zweck' dieses Mechanismus ,entdeckt' hat." Sobald man jedoch annimmt, daß das Verhalten eines Systems sich aus wechselseitig kausalen Prozessen ergibt, wird eine zweckbezogene Interpretation dieser Funktionsweise nicht mehr schlüssig durchzuhalten sein. Die beste Erklärung eines Systems ist immer noch das System selbst. Dennoch muß man zwischen autopoietischen Systemen (= nicht-trivialen Maschinen) und allopoietischen Systemen (= trivialen Maschinen) differenzieren: Allein lebende Systeme sind als physikalische autopoietische Maschinen zweckjreie Systeme. Zur Begründung siehe Maturana, Varela, Autopoietische Systeme 1985, 190. 74 Die meisten heute praktizierten Familientherapieformen kann man dem sogenannten "Kontrollmodell" (siehe Maturana, Biological Autonomy 1979) zurechnen. So werden in kybernetischen Kontrollmodellen familiäre Probleme als Defizite, als Fehler des Systems gesehen, wie z. B. im hierarchischen Modell lebender Systeme von Miller (Living Systems 1978), das in der Familientherapie eine gewisse Bedeutung gewann (vgl. Guntern, Psychotherapie 1980, 1; ders., Welt 1983). Der Fehler hat jedoch eine Funktion, er dient der Aufrechterhaltung der spezifischen Struktur des Systems. Dementsprechend ist der "identifizierte Patient" das Produkt einer Störung in der Entwicklung einer ,,normalen" Struktur. Folgerichtig besteht das Therapieziel in der Korrektur eines fehlgelaufenen Entwicklungsprozesses. Das wiederum impliziert ein normatives Modell, das der Helfer seine "Landkarte" der Familie nennt. Dieses kybernetische Familienmodell ist in den letzten Jahren philosophisch wie auch pragmatisch grundsätzlich kritisiert worden, vgl. Bogdan, Family Ecology 1984, 375; DelI, Familientheorien 1981, 310; Steiner, Selbstorganisierende Systeme 1987, 48; Hoffrnan, Macht 1988, 76; Efran, Heffner, Lukens, Alkoholismus 1988, 185; Cailla, Konstruktivistische Familientherapie 1988, 43. 71

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11. Prozesse des Lebens

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das sich als Netzwerk der Koordination von lebenden Systemen konstituiert. 75 Wesentlich dabei ist, daß die Komponenten des familiären Systems aus Menschen bestehen und nicht aus Rollen, Handlungen oder Institutionen. Das beinhaltet, daß die Erhaltung des Systems der Verwirklichung seiner Mitglieder und nicht umgekehrt die Menschen der Verwirklichung des Systems und seiner Rollen dient. Daher sind familiäre und darüber hinaus alle sozialen Systeme keine autopoietischen Systeme. 76 Ein Merkmal der Organisation sozialer Systeme ist die Verwirklichung seiner Komponenten als lebende Systeme. Auf die Fragestellung der familiären Homöostase bezogen heißt dies, daß die Erhaltung des Systems, seiner Strukturen und normativen Muster der Verwirklichung der Menschen untergeordnet ist. Der Begriff Homöostase hingegen meint ein Ordnungsmodell, das die Komponenten unterordnet, ja die Mitglieder des Systems negiert, solange sie seiner Selbsterhaltung im Wege stehen. Da aber das Prinzip der Selbsterhaltung nur in den einzelnen Lebewesen wirksam ist, kann es im Gesamtsystern nur zur Geltung kommen, wenn sich in ihm das Verlangen aller oder einzelner dominierender Mitglieder des Systems ausdrückt. Im letzteren Falle zeigt der Homöostase-Begriff seine Funktion als Kontroll-Metapher: Partikulare Interessen werden verallgemeinert; in das System werden Zwecke hineingetragen, die individuenunabhängig sind. 77 Maturana, Sozialität 1985, 8. Maturana, Grundkonzepte 1987,9. 77 Demgegenüber betont das Autonomiemodell systemtheoretischer Konzepte die operationale Geschlossenheit der internen Organisation des familiären Systems bei gleichzeitiger Anpassung der Struktur des Systems an die Umwelt. Der ,,zweck" eines solchen Systems liegt in ihm selbst; Transformationen des Systems dienen keinem externen Zweck wie im Kontrollmodell. Damit wird gegenüber der einseitigen Umwelt-Abhängigkeit deren interne Strukturdeterminiertheit primär gesetzt (so Willke, Therapeutisches Handeln 1988, 111). Einwirkungen aus der Umwelt stellen somit nur Auslöser und nicht Determination für Strukturanpassungen des Systems an seine Umwelt dar. Es ist das System, das spezifiziert, ob und wie auf Umweltereignisse geantwortet wird. Für die therapeutische Intervention kann es also nicht mehr darum gehen, "Gewohnheiten zu durchbrechen", ,,Krankheiten zu heilen", "Systeme zu manipulieren" oder ,,Kognitionen" zu verändern. Unter den Bedingungen der operationalen Geschlossenheit stellen therapeutische Interventionen vielmehr "Verstörungen" bzw. Anregungen des Systems Familie dar, auf die diese in einer nicht eindeutig vorhersehbaren Weise mit einer Strukturänderung antwortet (vgl. Ludewig, Therapeutische Intervention 1983,78; ders., Diagnostische Maßnahmen 1987, 155). Exakter muß man freilich sagen, daß sich nicht "die Familie" als eine "substantielle" Einheit ändert, sondern die Familienmitglieder plus den beruflichen Helfern. Beide zusammen ergeben - wie Bogdan (Family Ecology 1984) sagtein kleines evolvierendes Bedeutungssystem. Nicht mehr die Familie an sich, sondern Ideen und Regeln sind das gemeinsame Problem. Infolgedessen wird heute zunehmend über Therapie in Begriffen eines "konversationellen Bereiches" gesprochen: ,,Nach unserem Modell kommen wir und unsere Klienten als autonome Menschen zusammen, von denen jeder in Übereinstimmung mit seiner eigenen Struktur handelt, die aber eine neue Koppelung bilden - wenn man so will: eine Mini-Gesellschaft schaffen, in der neue Optionen auftauchen können" (Efran, Heffner, Lukens, Alkoholismus 1988, 189). Diese Auffassung von Therapie als einer Ko-Evolution (Willi, Ko-evolution 1987) ist sehr stark von der Arbeit der Mailänder Gruppe um Mara Selvini-Palazzoli beeinflußt, die ihrerseits Batesons Konzept kybernetischer Kreisläufe in klinische Begriffe übersetzt 75

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Kap. 1: Biologie der Kognition

Es gibt also kein Gleichgewicht der Familie oder der Gesellschaft, sondern jedes Mitglied definiert diesen Begriff für sich je nach seiner Erfahrungswelt. In Familien bilden sich häufig interaktionale Systeme aus, die Maturana in Begriffen einer reziproken strukturellen Koppelung beschreibt. 78 Es kommt dann vor, daß die Verhaltensgeschichte der Mitglieder des jeweiligen Systems in einem stabilen abgeschlossenen System gipfelt. Dennoch findet sich der Ursprung der ,,rigiden" Familienstruktur in den Individuen, aus deren Verhalten sich das System zusammensetzt. Keine homöostatischen Mechanismen sind am Werk, die sich Veränderungen widersetzen und das System erhalten. Es sind die Verhaltensweisen der Familienmitglieder, die das Resultat ihrer Erfahrungen im Medium und die Funktion ihrer Autopoiese sind. Alle Familienmitglieder verhalten sich entsprechend ihrer Struktur. Diese allein bestimmt, wie sie sich verhalten. Demnach ist die Familie so, wie sie ist, weil es die Art ist, wie die Individuen sich strukturell gekoppelt haben. 79 Wie auch immer die Verhaltensweisen in klinischer Terminologie benannt sein mögen, sie sind Ausdruck der strukturellen Übereinstimmung zwischen den Mitgliedern des Familiensystems. In derartigen Situationen erfolgen die strukturellen Veränderungen einzelner Angehöriger, die notwendig mit jeder Interaktion einhergehen, kongruent mit den strukturellen Veränderungen anderer Angehöriger. Sie sind stimmig, sie passen zueinander, sie sind kohärent. Insofern ist es zwar aus der Sicht eines Beobachters ungewöhnlich, aber aus der Sicht des Systems zutreffend, wenn Maturana jegliches Verhalten als adäquat oder kongruent bezeichnet. 8o Da Lebewesen sich gar nicht anders verhalten können, als es ihr innerer Zustand zuläßt, und der innere Zustand aus den strukturellen Verkoppelungen mit dem Milieu resultiert, muß Verhalten mit eben diesem Milieu übereinstimmen. 81 Was wir als inkonsistentes, irrationales oder abweihat. Diese Gruppe pflegt eine nicht-instrumentelle Haltung, die besonders in dem charakteristischen Interviewstil des ,,zirkulären Befragens" zum Ausdruck kommt (vgl. SelviniPalazzoli, Boscolo, Cecchin, Prata, Paradoxon 1977). Diese Art der Befragung stellt als solche bereits eine Intervention dar und macht die Botschaft des Teams am Ende des Interviews überflüssig (vgl. insbesondere Boscolo u. a., Mailänder Modell 1988; Penn, Vorwärts-Koppelung 1986,206). Entscheidend ist also, daß nicht die Therapeuten neue Regeln, Ideen, Haltungen oder Prämissen liefern, sondern die betroffene Familie selbst. Die Betonung liegt auf Bedeutung anstelle von Verhalten. 78 Maturana, Repräsentation 1985,287. 79 DelI, Homöostase 1986, 71: "Wenn sich die interaktionale Kohärenz aus den Möglichkeiten der strukturellen Koppelung ergibt, die in den Verhaltenskohärenzen der Mitglieder des Systems liegen, dann ist letzten Endes die Verhaltenskohärenz jedes Einzelnen vorrangig und die entstehende strukturelle Koppelung zweitrangig. Anders gesagt, das interaktionale System ist eine Folge der Natur (d. h. der Verhaltenskohärenz) der Individuen, aus denen es sich zusammensetzt." 80 Vgl. zur "strukturellen Kongruenz" Maturana, Sozialität 1985, 8; ders., Einleitung 1985, 20; ders., Kognition 1985, 75. 81 Aus diesem Grunde führen Schuldzuschreibungen nicht zu Verhaltensänderungen: ,,Einer Person oder Gruppe die Schuld für einen bedauerlichen Zustand zuzuschreiben, verstärkt oder vergrößert fast immer diesen Zustand. Geisteskrankheiten sind wirklich

11. Prozesse des Lebens

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chendes Verhalten beschreiben, beruht auf den Unterscheidungen von Beobachtern. Das sind zwingende Schlußfolgerungen aus dem Autopoiese-Konzept. Da sie uns über die gesamte Arbeit hinweg beschäftigen werden, sollen sie in den Worten von Maturana und V arela 82 etwas ausführlicher wiedergegeben werden: "Was wir beim Beobachten der Zustandsveränderungen eines Organismus in seinem Milieu als Verhalten bezeichnen, entspricht der Beschreibung, die wir von den Bewegungen eines Organismus in einem von uns benannten Milieu machen. Da in einem Lebewesen nur innere Zustandsveränderungen auftreten, ist Verhalten nicht etwas, das das Lebewesen an sich tut, sondern etwas, worauf wir hinweisen. In dem Maße, in dem die Zustandsveränderungen eines Organismus von dessen Struktur abhängen und diese von dessen Geschichte von Strukturkoppelungen, werden die Zustandsveränderungen eines Organismus in seinem Milieu notwendigerweise kongruent beziehungsweise kommensurabel mit dem Milieu sein. Ob eine Verhaltensweise als eine besondere Konfiguration von Bewegungen adäquat erscheint, wird deshalb von der Umgebung abhängen, in der wir sie beschreiben. Erfolg oder Mißerfolg einer Verhaltensweise sind immer durch die Erwartungen definiert, die der Beobachter bestimmt." bb) Induktivität und Konservativität Zu Beginn dieses Abschnitts sind "Induktivität" und ,,Konservativität" neben der Homöostase als weitere Funktionen autopoietischer Systeme genannt worden. Erst die Kapitel über die Arbeitsweise des Nervensystems werden zu einem vertiefteren Verständnis dieser Merkmale beitragen. Vorerst genügt der Hinweis, daß induktives Schließen eine notwendige Funktion der zirkulären Organisation ist. 83 Diese Organisation funktioniert in prognostizierender Weise derart, daß geistig, denn sie bestehen mindestens zu 90% aus Schuldzuschreibung oder Ursachenattribuierung, die als Schuld erlebt wird. Viele Familientherapeuten vertreten die Auffassung, daß niemand mit einer negativen Konnotation das Feld verlassen kann. Ich möchte ergänzen, daß man sich unter einer negativen Konnotation auch nicht ändern kann", Hoffmann, Macht 1987, 87. Um die symptomatische Mythologie der Einteilung in gute und schlechte Elemente zu überwinden, haben die Mailänder Familientherapeuten um Selvini-Palazzoli die sogenannte "positive Konnotation" erfunden, die zu einer wirklich neuen therapeutischen Gestalt führte. Sie enthält eine Botschaft des Therapeuten an die Familie, daß das Problem in seinem Kontext logisch und bedeutsam ist. Infolgedessen wird häufig ein gutes Motiv für ein negatives Verhalten vorgeschlagen; zur weiteren Entwicklung dieses Konzeptes, das letztlich zu einer Umstrukturierung des Bewußtseins der Therapeuten führt, siehe Boscolo, Cecchin, Hoffman, Penn, Mailänder Modell 1988, 18. Nach Hoffman (Macht 1987,90) sollte jede Therapie, die die komplexen Wirkungszusammenhänge des Handelns berücksichtigt, folgende Merkmale aufweisen: ,,1. Eine Haltung des ,beobachtenden Systems' und den Einschluß des Kontextes des Therapeuten. 2. Eine Struktur der Zusammenarbeit anstelle der Hierarchie. 3. Ziele, die den Kontext für Veränderungen schaffen, aber nicht die Veränderung spezifizieren. 4. Möglichkeiten, sich gegen zuviel Instrumentalität zu schützen. 5. Eine ,zirkuläre' Abschätzung des Problems. 6. Eine nicht-pejorative, nicht-wertende Haltung." 82 Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 151. 83 Das ergibt sich daraus, daß die Zirkularität der Organisation lebende Systeme fortwährend zum gleichen internen Zustand (gleich mit Bezug auf den zyklischen Prozeß) zurückführt. Das wiederum setzt voraus, daß bestimmte Interaktionen mit der Umwelt erfüllt sein müssen, damit der nächste Zustand herbeigeführt werden kann. 4 Karg!

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Kap. 1: Biologie der Kognition

jede Interaktion eine Voraussage über die nächste erlaubt: Was einmal geschehen ist, ereignet sich wieder. Es handelt sich also um eine Voraussage über den allgemeinen Fall, daß die Zustände des Mediums von derselben Art bleiben. 84 Da die Umwelt sich fortwährend ändert, implizieren die Voraussagen keine Einzelereignisse, sondern Klassen von Interaktionen. "Diese Klasse von Interaktionen wird durch jene Merkmale definiert, die dem lebenden System die Erhaltung seiner zirkulären Organisation nach der Interaktion und damit erneutes Interagieren erlauben."85 Durch induktives Verhalten reguliert also der Organismus seine Interaktionen mit der Umwelt auf eine Weise, die zur Sicherung seines Überlebens weitere Interaktionen erlaubt. Dadurch erzeugt das Lebewesen Realität. 86 Aus der Induktivität autopoietischer Systeme ergibt sich umgekehrt deren Konservativität: Sie wiederholen in der Regel nur das, was funktioniert. 87 So bewahren sie ihre Organisation und die Kohärenz ihrer Struktur. Der gegenwärtige Zustand des Systems ist immer durch den vorausgegangenen Zustand insofern 84 In diesem Punkt entspricht das Funktionieren autopoietischer Systeme dem Verfahren eines induktiven Schlusses: Jede strukturelle ModifIkation des Systems bedeutet eine Voraussage über das Andauern jenes Zustands des Mediums, aufgrund dessen die ModifIkation erfolgte (siehe Rusch, Erkenntnis 1987, 49). Es sollte aus dem bisher Gesagten klar sein, daß auch induktives Schließen kein sicheres Wissen über die Wirklichkeit erzeugt. Was Aristoteles oder Francis Bacon vorschwebte - eine zuverlässige Methode, induktiv zu allgemeinen Aussagen über die Welt zu gelangen - , das ist aus erkenntnisbiologischen Gründen unmöglich. Dennoch schließt diese Einsicht nicht aus, daß wir uns bei unseren Erwartungen für die Zukunft psychologisch und forschungsstrategisch auf unser Wissen über die Vergangenheit stützen; vgl. zur logischen Unmöglichkeit, sicheres Wissen über die Welt weder durch Deduktion noch durch Induktion zu gewinnen, Vollmer, Wissen 1985,22,26; Maturana, Wissenschaft 1990, 107. 85 Maturana, Kognition 1985, 36. 86 In der Tat kann es ohne die Annahme, daß es innerhalb unserer Erfahrung bestimmte Regularitäten gibt, kein Lernen geben. Hume hat das so ausgedrückt: "Sollte es irgendwelchen Verdacht geben, daß der Lauf der Natur sich verändern und die Vergangenheit nicht als Regel für die Zukunft dienen könnte, dann wäre jegliche Erfahrung nutzlos und würde keinerlei Schlußfolgerungen oder Ableitungen zulassen" (Human Understanding 1963,47). Freilich handelt es sich bei unserer Erfahrung stets um eine konstruierte. Sehr pointiert hierzu v.Glasersfeld, Richards, Wahrnehmung 1984, 22: "Wir halten ständig Ausschau nach Invarianzen, und wir assimilieren Erfahrungen unter Mißachtung individueller Unterschiede. Darum sollten wir uns nicht darüber wundern, daß wir Dinge so wahrnehmen, daß sie ähnlich rekurrent und invariant sind. Aber wir haben zu zeigen versucht, daß Ähnlichkeit, Rekurrenz und Invarianz zu der Art und Weise gehören, in der wir unsere Erfahrung organisieren, und daß nichts in unserer Erfahrung die Annahme stützen könnte, daß die Eigenschaften die Eigenschaften einer ontologischen Wirklichkeit sind". 87 Insofern ist das System nicht innovativ, sondern reproduziert, was sich bewährt hat. Das muß konsequenterweise auch für soziale Systeme gelten, die durch das Zusammenwirken der Eigenschaften von Lebewesen gebildet werden. Deshalb kann sich ein soziales System nur verändern, wenn sich seine Mitglieder als lebende Systeme verändern. Es sind also die Mitglieder, die als Komponenten des sozialen Systems durch ihr Verhalten die Eigenschaften eben dieses sozialen Systems selektieren. Das macht den konservativen Charakter jeder Gesellschaft aus; vgl. Maturana, Sozialität 1985, 10; vgl. Kargi, Gesellschaft ohne Subjekte 1990 b.

III. Prozesse des Erkennens

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bestimmt, als er den Bereich möglicher Verhaltensänderungen einschränkt. Der innere Zustand, der durch die Geschichte der strukturellen Koppelungen mit der Umwelt geprägt ist, determiniert den nächsten Zustand; aber dieser ist nicht mehr derselbe wie der frühere. Der Organismus bewahrt seine Organisation durch beständige Veränderung seiner Strukturen. 88 Erhalten durch Ändern, das meint Maturana mit Konservativität. Man könnte es ebenso gut Progressivität nennen. Für alle lebenden Organismen gilt, daß Verhalten eine Funktion der Selbsterhaltung ist. Die Standortveränderungen eines Lebewesens in seiner Umgebung können von einem Beobachter als Handlungen beschrieben werden. Daran ändert sich nichts Grundsätzliches bei Lebewesen, die wie Menschen mit einem Nervensystem ausgestattet sind. Es bewirkt allerdings eine ungeheuerliche Erweiterung des Verhaltens- und des Kognitionsbereiches. Das ist das Thema des nächsten Abschnitts.

111. Prozesse des Erkennens 1. Das Nervensystem a) Einzeller

Wir haben unter "Verhalten" Standortveränderungen eines Lebewesens verstanden, die von einer Beobachtersicht aus als Bewegungen oder Handlungen in Bezug auf eine bestimmte Umgebung beschrieben werden können. 1 In Organismen ohne Nervensystem besteht das "Verhalten" in chemischen oder physikalischen Prozessen, die Stoffwechsel oder Photosynthese genannt werden. 2 Am Beispiel der biologischen Zelle war oben gezeigt worden, wie sich Zellsysteme ständig im Wechselspiel von anabolischen (aufbauenden) und katabolischen (abbauenden) Reaktionsketten erneuern. Mit dem Vorhandensein vieler großer, organischer Moleküle nimmt die Bewegungsfähigkeit der Organismen zwar enorm zu, aber infolge des Fehlens eines Nervensystems bleiben die Interaktionen auf 88 Im Hinblick auf soziale Systeme nennt Maturana (ebd. 10) drei Gründe für eine strukturelle Veränderung a.) Tod oder Migration der Mitglieder, b.) Eingliederung neuer Mitglieder, c.) Veränderungen der Eigenschaften der Mitglieder, die sich aus Interaktionen außerhalb des Systems oder aus der internen Dynamik der Mitglieder ergeben. "So ist die historische Entwicklung jeder wie auch immer beschaffenen Gesellschaft stets das Resultat zweier Prozesse: der Konservation und der Variation." 1 Bewegung im üblichen Sinn des Wortes ist also nicht konstitutiv für den Begriff "Verhalten". Es gibt viele Lebewesen, die keine Bewegung zeigen. So verändert z. B. das Pfeilkraut (Sagittaria) seine Form je nachdem, ob es außerhalb oder innerhalb des Wassers wächst. Entscheidend für den Begriff "Verhalten" ist also, daß Strukturveränderungen eintreten, die als beobachtbare Formveränderungen im Zuge der Kompensation gewisser rekursiver "Störungen" der Umgebung erscheinen; vgl. Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 156. 2 Zum äußerst komplizierten Prozeß der Photosynthese (zu deutsch: Aufbau durch Licht) vgl. v. Frisch, Leben 1988,67; Linser, Dynamismus 1988,49.

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Kap. 1: Biologie der Kognition

chemische oder physikalische Prozesse beschränkt. 3 Betrachten wir das Verhaltensrepertoire bei einem Einzeller wie der Amöbe etwas genauer. Was geschieht, wenn sich eine Amöbe ein Protozoon mit Hilfe fmgerförmiger Ausstülpungen ihres Protoplasmas (Pseudopodien) einverleibt?4 Der Vorgang demonstriert eindrucksvoll die autopoietische Organisation der Einzeller: Das Protozoon bewirkt Veränderungen der physikochemischen Beschaffenheit der Zellmembrane, die in der Ausstülpung des Pseudopodiums resultieren. Das Pseudopodium wiederum bewirkt Veränderungen der Lage der Amöbe, wodurch sich die Anzahl der mit der Membrane interagierenden Moleküle im Milieu ändert. Das Nahrungsverhalten der Amöbe ist demnach die Folge der internen Korrelation zwischen den Veränderungen seiner Membrane und solchen des Protoplasmas, die Pseudopodien genannt werden. Was konstant gehalten wird, ist die Korrelation zwischen einer sensorischen Fläche (Membrane), die nur gewisse "Störungen" zuläßt, und einem motorischen Bereich, der die Bewegungen erzeugen kann. Aufrechterhalten wird eine zusammenhängende Menge von inneren Relationen in der Amöbe. 5 Das Beispiel der Nahrungsaufnahme der Amöbe lehrt uns dreierlei: Erstens beruht das Verhalten der Einzeller auf einer besonderen Korrelation zwischen der sensorischen und der motorischen Struktur. Zweitens kommt diese Korrelation durch Stoffwechselprozesse im Inneren der Zelle zustande. 6 Und drittens bedarf die Koppelung der sensorischen und der motorischen Oberfläche keiner wechselseitigen Verknüpfung, da die Oberflächen identisch sind. Es ist der dritte Punkt, der metazelluläre Organismen von Einzellern unterscheidet: Die Vielzeller bedürfen eines dynamischen Netzwerkes, das die sensorischen und motorischen Flächen miteinander verbindet. Dieses Netzwerk ist das Nervensystem, das bei Vielzellern jegliches Verhalten und im Falle des Menschen darüber hinaus "abstraktes Denken" konstituiert. 3 Das Fehlen von Bewegung bei Pflanzen hängt nach Auffassung von Maturana und Varela (Erkenntnis 1987, 161) vermutlich damit zusammen, daß Pflanzen ihre Erhaltung mittels der Photosynthese unter folgenden Bedingungen verwirklichen: eine konstante, lokale Nahrungszufuhr aus dem Boden sowie Verfügbarkeit von Gasen und Licht aus der Atmosphäre. ,,Dies erlaubt ihnen die Erhaltung der Anpassung ohne große und schnelle Standortveränderungen." 4 Die Amöbe hat also keinen Mund. Stattdessen kann sie jede beliebige Stelle ihrer Oberfläche bei Berührung mit dem Protozoon als Rachen öffnen und die Beute durch Umfließen verschlucken; v. Frisch, Leben 1988, 36. 5 Bemerkenswert an dem Beispiel ist, daß die sensorische Oberfläche und die motorische Oberfläche identisch sind, so daß ihre Koppelung unmittelbar ist; siehe Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 163. 6 Auf die~~n Punkt hebt besonders Preuß (Aufbau 1987,62) ab, wenn er die bewundernswerte Uberlebensfähigkeit der Einzeller auf deren Binnenstruktur zurückführt: ,,Dieses Können der Einzeller beweist, wie ausschlaggebend der binnenzellige Lebensantrieb ist. Bei der Sicherung des Stoffwechsels stellt nicht die Umwelt, sondern die Inwelt die entscheidenden Aufgaben ... "

III. Prozesse des Erkennens

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b) Vielzeller

Das Nervensystem erweitert den Verhaltensbereich der Lebewesen dadurch, daß es die oft weit voneinander entfernt liegenden sensorischen und motorischen Elemente in Interaktion bringt. Auf diese Weise wird mit Hilfe einer solchen Koppelung das Feld möglicher sensomotorischer Korrelationen der Organismen enorm ausgeweitet. Um die Natur dieser Koppelung im einzelnen verstehen zu können, müssen wir jene Zellen genauer betrachten, die die Verbindung herstellen und damit die verschiedenen Teile des Körpers integrieren. Das besondere Merkmal dieser Zellen ist, daß sie Verlängerungen haben, die sich im Vergleich mit normalen Zellen über enorme Abstände erstrecken. Diese Zellen heißen Neuronen oder Nervenzellen und bauen das gesamte Nervensystem auf. 7 Ein Neuron wird aus einem Zellkörper (Soma) und mehreren Fortsätzen aus diesem Zellkörper, einem Axon und meist einer Reihe von Dendriten 8 gebildet. Das Axon verbindet die Nervenzelle mit anderen Zellen, während an den Dendriten und am Zellkörper die Axone anderer Nervenzellen enden. Bedenkt man, daß bis zu 6000 Axone an einem Neuron enden, kann man sich leicht das dichte Geflecht von Vernetzungen der Nervenzellen untereinander vorstellen. 9 Die Dendriten werden einige Zentimeter lang, die Axone erreichen demgegenüber eine Länge von einem Meter und darüber. Letztere bilden in großer Anzahl Nervenfasern aus, die den Hauptanteil am peripheren Nervensystem ausmachen. Von besonderem Interesse für die in diesem Netzwerk ablaufenden Prozesse sind die Verbindungsstellen der Axone mit Neuronen, die sogenannten Synapsen. \0 Über diese Synapsen üben die Neuronen gegenseitig Einflüsse aufeinander 7 Vgl. zur detaillierten Darstellung der Erkenntnisse der modernen Nerven- und Gehirnphysiologie Schmidt, Biomaschine 1979, 138; v. Foerster, Wirklichkeit 1981, 39; Schwarz, Physiologische Psychologie 1980, 12; Roth, Neurobiologische Grundlagen 1975, 10; Popper, Eccles, Gehirn 1987; Restak, Gehirn 1988; Mecacci, Gehirn 1988; Oeser, Seitelberger, Gehirn 1988; Kail, Pellegrino, Intelligenz 1988, Gazzaniga, Gehirn 1989. 8 Aufgabe der Dendriten ist es, die Oberfläche des Neurons zu vergrößern und so die Aufnahmefähigkeit der Nervenzelle gegenüber dem Einfluß anderer Zellen zu verbessern; siehe dazu Restak, Gehirn 1988, 31, Ornstein, Multimind 1989, 63. 9 Nach v. Frisch (Leben 1988, 160) setzt sich das menschliche Gehirn aus 30 Milliarden Nervenzellen zusammen, die untereinander mit vielen Schaltstellen verknüpft sind. Je Nervenzelle fmdet man mehrere tausend solcher Kontaktstellen, innerhalb der Hirnrinde bis zu zweihunderttausend. Die gesamte Anzahl an Verbindungsstellen im Netzwerk des Neuronensystems des Gehirns ergibt eine unvorstellbar große Summe. Restak (Gehirn 1988, 31) hält sie für größer als die Zahl von Einzelteilchen im uns bekannten Universum. Nach Linser (Dynamismus 1988, 103) handelt es sich bei der gesamten Neuronenkapazität um eine Zahl, die durch eine eins mit 14 - 17 Nullen geschrieben werden müßte. \0 Dieser Begriff wurde 1897 von dem englischen Neurophysiologen Sir Charles Sherrington in Anlehnung an das griechische Wort synapto, das "eng umgreifen" bedeutet, geprägt. Mit dem Synapsenkonzept bestätigte er die ebenfalls Ende des 19.Jahrhunderts von Ram6n y Cajal aufgestellte Vermutung, daß das Nervensystem aus Neuronen aufgebaut ist, die isoliert und nicht in einem Zellverband miteinander verbunden sind, sondern von denen jede unabhängig ihr eigenes biologisches Leben lebt. Erst in den

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aus. Sie erlauben es dem Nervensystem, gezielte Interaktionen zwischen topographisch weit auseinanderliegenden Zellgruppen zu vermitteln. Die Synapsen besitzen Membranen, die darauf spezialisiert sind, Überträgersubstanzen (Neurotransmitter) freizusetzen, sobald ein elektrischer Impuls an eine synaptische Endung gelangt. Die Neurotransmitter überqueren dann den Spalt zwischen den Membranen und lösen eine elektrische Veränderung in der nächsten Zelle aus. 11 Wie bereits gesagt, gibt es bei jeder Nervenzelle gewöhnlich Tausende von Synapsen, die sich mit vielen hundert verschiedenen Neuronen verbinden. Jede dieser Endungen trägt zur elektrischen Aktivität der Nervenzelle bei, mit der sie gekoppelt ist. Berücksichtigt man des weiteren, daß sich die miteinander verbundenen Neuronen auch auf chemische Weise (mittels der Diffusion von Metaboliten) wechselseitig beeinflussen können, dann wird die schwindelerregende Vielfalt möglicher Zustände des Nervensystems himeichend deutlich. Sicher jedenfalls ist, daß der Aktivitätszustand aller Neuronen des Nervensystems in jedem Augenlick von deren elektrischen und chemischen Prozessen abhängt. Bisher war nur von den synaptischen Verbindungen der Neuronen untereinander die Rede. Natürlich bilden die Nervenzellen auch mit vielen anderen Zellarten des Organismus Synapsen. Um die Beweglichkeit der Lebewesen zu steigern, muß es vor allem Kontaktstellen geben, mit deren Hilfe die sensorischen und motorischen Flächen interagieren können. Am Beispiel der Hydra, einem winzigen Hohltier, läßt sich die einfachste Form eines Nervensystems veranschaulichen, das sensorische Zellen und motorische Zellen in einem neuronalen Netzwerk verbindet. 12 Diese Tiere werden von einer doppelten Zellschicht in Form einer Vase gebildet. 13 Sie sind imstande, mit Muskelzellen (Tentakeln) das Wasser letzten Jahrzehnten ist es gelungen, eine genauere Vorstellung von der Synapsen- und Neuronentheorie zu gewinnen; für diese Arbeiten erhielt der Australier Sir John Eccles 1963 zusammen mit seinen englischen Kollegen A.L.Hodgkin und A. F. Huxley den Nobelpreis; ausführliche Darstellung zu den Synapsen als spezialisierte Kommunikationsorte bei Eccles, Gehirn 1979; Eccles, Zeier, Gehirn 1980; Popper, Eccles, Gehirn 1987,288. Roth (Gehirn 1990, 168) schätzt, daß sich bis zum 2. Lebensjahr im Durchschnitt pro Sekunde ca. 12 Millionen Synapsen bilden müssen. 11 Im Nervensystem gibt es neben dieser chemischen Erregungsübertragung über Synapsen auch elektrische Übertragungen. Es sind dies die kurzen, Impulse oder Aktionspotential genannten, elektrischen Wellen, die nach dem Alles- oder Nichts-Prinzip, oft mit hoher Geschwindigkeit, die Nervenfaser entlang laufen. Man unterscheidet zwei Arten von Synapsen, die erregenden (exzitatorisehen) und die hemmenden (inhibitorisehen). Die ersteren sind bestrebt, das Empfangerneuron zu veranlassen, einen Impuls abzugeben, die letzteren trachten danach, den kommenden Impuls abzuschalten. Die hemmenden Synapsen haben vor allem bei Lernpsychologen Interesse gefunden. Durch Erfahrung kann ein vorher versperrter neuronaler Weg geöffnet werden; es erfolgt eine Bahnung in bestimmten Schaltkreisen, was die morphologische Grundlage für das Gedächtnis sein soll. Dazu im einzelnen v. Frisch, Leben 1988, 160; Popper, Eccles, Gehirn 1987, 288; Oeser, Seitelberger, Gehirn 1988, 69; Gazzaniga, Gehirn 1989, 61, 119. 12 Siehe Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 166. 13 Genauer gesagt handelt es sich um eine innere und eine äußere Zellschicht. Es gibt Zellen mit Lanzetten, die bei Berührung ihre Geschosse nach außen schleUdern; andere Zellen besitzen Vakuolen, die Verdauungs säfte nach innen absondern können.

IH. Prozesse des Erkennens

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zu bewegen und so andere Tiere heranzuholen und diese mit Hilfe sekretorischer Zellen im Inneren zu verdauen. Soll nun eine koordinierte Aktivität zwischen den Tentakeln und den Verdauungszellen stattfinden, müssen diese Zellen auf spezifische Weise gekoppelt sein. Da diese Zellen lediglich die ,,motorische Fläche" bilden, müssen sie ihrerseits mit der "sensorischen Fläche" vermittelt werden. Im Falle der Hydra handelt es sich bei dieser Fläche um Zellen, die in der Lage sind, auf spezifische Reize zu antworten. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Reize aus dem Milieu oder aus dem Inneren des Organismus kommen. Die Hydra verknüpft diese Zellgruppen miteinander, indem sie über alle Teile ihres Körpers ein neuronales Netzwerk erstreckt, das somit auch die sensorischen und motorischen Elemente umfaßt. 14 Die verschiedenen Weisen, wie diese beiden Flächen durch neuronale Zwischenverbindungen vemetzt sind, ergeben das Verhalten der Hydra. Für die Erhaltung der Organisation des Lebewesens ist es nun wesentlich, daß das Nervensystem gewisse Relationen zwischen den sensorischen und den motorischen Elementen konstant hält. Dieses Merkmal weist das Nervensystem als ein autopoietisches System aus, dessen Organisation bei fortwährender Veränderung der Struktur invariant bleibt. In diesem Sinne ist das Nervensystem wie jedes autopoietische System durch organisationelle Geschlossenheit charakterisiert: Jeder Wandel der Aktivität eines Neurons führt stets zu einer Aktivitätsveränderung anderer Neuronen. 15 Und: Äußere Störungen modulieren zwar die inneren 14 Diese Architektur des Nervensystems ist universell und gilt deshalb auch für die höheren Wirbeltiere sowie den Menschen. Grundlegend für diese Organisation ist, daß sie zwischen den sensorischen und motorischen Flächen ein Netz von neuronalen Zwischenverbindungen spannt, das präzise Interaktionen erlaubt. Der einzige Unterschied zwischen verschiedenen Tierarten besteht in der Art und Weise, wie dieses Netzwerk sich anband von Neuronen und Verbindungen verkörpert. In dieser Hinsicht existiert eine enorme Vielfalt. Aber das Entscheidende ist: "Die Grundorganisation dieses so unermeßlich komplizierten menschlichen Nervensystems folgt im wesentlichen derselben Logik wie bei der bescheidenen Hydra. In der Transformationsreihe der Abstammungslinien, die von der Hydra bis zu den Säugetieren verläuft, treffen wir nur auf Entwürfe, die Variationen über dasselbe Thema darstellen", Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 174. 15 Die Hypothese der operationalen Geschlossenheit des Nervensystems dürfte lebhafte Kritik provozieren. Bislang ist in der Biologie die Vorstellung herrschend, daß das Gehirn ein informationsverarbeitendes und daher offenes System sei. So wird Maturana von Oeser und Seitelberger (Gehirn 1988, 71) vorgehalten, daß er den gehirntragenden Organismus als mit einer unbedingten, selbstgenügsamen Autonomie ausgestattet begreife. Dem halten sie das Modell des kommunikativen Informationssystems IndividuumUmwelt entgegen. Mir scheint, dem Vorwurf liegt ein Mißverständnis über den von Maturana verwendeten Autonomiebegriff zugrunde. Maturana leugnet nicht den Einfluß beständiger Umwelt-Störungen, wohl aber den Mechanismus simpler Nachrichtenübermittlung. Das Operieren des Nervensystems besteht nicht im Weiterleiten von "Informationen" aus dem Milieu, sondern darin, einige der Aktivitätsrelationen zwischen den Komponenten trotz fortdauernder Perturbationen konstant zu halten. Nur in diesem Sinne ist das Nervensystem durch operationale Geschlossenheit charakterisiert. Es funktioniert also "als ein geschlossenes Netzwerk von Veränderungen der Aktivitätsrelationen zwischen seinen Komponenten", Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 180.

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Kap. 1: Biologie der Kognition

sensomotorischen Korrelationen, aber sie determinieren sie nicht. Diesen wichtigen Gedanken werden wir im nächsten Abschnitt am visuellen System eingehender illustrieren. Für den Augenblick genügt es, wenn wir uns die Aktivität einer Nervenzelle ansehen, die auf übermäßigen Druck an einer Stelle des Armes antwortet. Aus dem Blickwinkel des Beobachters hat der Schmerzreiz das Zurückziehen des Armes bewirkt. Vom Nervensystem aus gesehen, wurde eine bestimmte Korrelation zwischen den sensorischen und motorischen Flächen, die kurzzeitig gestört wurden, konstant gehalten. Die Nervenzelle ist mit dem Rückenmark verbunden, wo über Interneuronen Kontakt zu Motoneuronen besteht. die durch ihre Aktivität die Kontraktion des Muskels auslösen. Die dadurch bewirkte Bewegung verändert die sensorische Aktivität durch Verringerung des Druckes, wodurch das innere Gleichgewicht zwischen den Sensoneuronen und den Motoneuronen wiederhergestellt ist. Der äußere Druck hat also nur das konstante Hin und Her der inneren Relationen moduliert. 16 Bedenkt man des weiteren, daß sich das Nervensystem infolge beständiger interner neuronaler Interaktion in permanenter Veränderung befindet, dann ist einsichtig, daß Änderungen in der Umgebung diese immense innere Aktivität bloß überlagern können. So ist errechnet worden, daß der menschliche Körper gegenüber äußeren Reizen eine mehr als 100 OOOmal stärkere Sensibilität für Veränderungen innerhalb des Organismus besitzt. 17 Dies zeigt überaus deutlich, daß das Nervensystem nicht nur auf das Milieu des Organismus gerichtet ist, sondern mindestens ebenso auf den Organismus selbst. Ein beträchtlicher Teil sensorischer Daten, der im Nervensystem verarbeitet werden muß, verdankt sich internen Vorgängen und Zuständen. Maturana und Varela 18 vergleichen die externen Einflüsse mit einer Stimme, "welche zu den vielen Stimmen bei einer heftigen Diskussion in einer großen Familie hinzukommt, wobei der schließlich erreichte Konsens über zu unternehmende Aktionen nicht Ausdruck dessen ist, was die Familienmitglieder im einzelnen vorgebracht haben". Aus dem Gesagten folgt eine wichtige Einsicht Maturanas, daß nämlich das Nervensystem als ein organisationell geschlossenes System im informationstheoretischen Sinne autonom ist. Nervensysteme haben keinen informationellen Input 16 Wir erinnern uns an den Piloten beim Blindflug, dessen Aktivität sich nie in einem Operieren mit Abbildungen der Welt vollzieht, die der Außenbeobachter sieht. Wir dürfen also die Arbeitsweise des Flugzeugs und die Dynamik seiner Zustände nicht mit dessen Verlagerungen im Milieu verwechseln; sie beinhaltet nur Korrelationen zwischen Anzeigen innerhalb bestimmter Grenzen. Daraus leiten Maturana und Varela (Erkenntnis 1987, 180) die allgemeine Regel ab: ,,Jedes Verhalten ist eine äußere Sicht des Tanzes der internen Relationen des Organismus." 17 Das sind niedrig geschätzte Zahlen, denn sie beruhen auf der Annahme, daß unser Nervensystem gegenüber 100 Millionen Sinneszellen lediglich 10 000 Milliarden Synapsen enthält, so v. Foerster, Wirklichkeit 1981,51. Andere Schätzungen gehen weit darüber hinaus, siehe Restak, Gehirn 1988,31; Linser, Dynamismus 1988, 103. 18 Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 178.

III. Prozesse des Erkennens

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und Output; sie sind zwar energetisch offen, aber injormationell geschlossen. 19Alle Informationen, die das System für die Aufrechterhaltung seiner zirkulären Organisation benötigt, liegen in dieser Organisation selbst. Wenn es also zu Zustandsveränderungen in Sinneszellen kommt, so sind diese durch die chemoelektrischen und funktionalen Eigenschaften der Nervenzellen im neuronalen Netzwerk determiniert. Dem Nervensystem ist nicht etwa ein äußerer Anlaß zugänglich, sondern allein der Zustand der Aktivität zwischen den Nervenzellen. Ein bestimmter Zustand nervöser Aktivität verursacht wiederum einen Zustand relativer Aktivität in anderen Nervenzellen usw. Diesen Vorgang beschreibt ein Beobachter in der Regel als eine Interaktion des Organismus mit einem bestimmten Gegenstand oder mit einem anderen Organismus. Tatsächlich jedoch wird das Nervensystem des beobachteten Organismus durch Veränderungen in der Aktivität der mit den sensorischen Elementen verbundenen Nervenzellen modifiziert. Die neurophysiologische Vorstellung, daß Sinneszellen Reize in elektrische Signale umwandeln, ist daher mindestens mißverständlich. 20 Vielmehr ist die Sinneszelle selbst ein Reiz, wenn deren Zustandsveränderung zu einem Aktionspotential führt. Der Anlaß für Zustandsveränderungen der Nervenzelle sind Veränderungen der chemischen Eigenschaften der Zellmembran, was einen Ionendurchfluß zur Folge hat. Der Anlaß für Veränderungen der Zellmembran ist das Auftreten bestimmter chemischer "Schlüssel" an ihrer Außen- oder Innenseite. "Was wir beobachten, ist also eine Kette auslösender Prozesse, eine Kette von Erzeugungen verschiedener Substanzen, deren Diffundierungen, Erzeugungen von Ausgangssubstanzen, etc. und 19 Die Geschlossenheit der funktionalen Organisation des Nervensystems wird besonders bei systematischen Beobachtungen klar, die explizit die Dominanz der Korrelation der Aktivität der Rezeptor- und Effektoroberflächen gegenüber dem Verhalten zeigen. Experimente wie die von Held und Hein (zit. bei Gregory, Gehirn 1972,211) belegen, daß eine Katze nicht imstande ist, ihre Umwelt bei normalem Licht visuell zu erfassen, wenn sie im Dunkeln aufgezogen und lediglich passiv, d. h. von einer zweiten Katze, herumbewegt wurde. Aus solchen Beobachtungen wird klar, daß nur die aktive Katze eine Wahrnehmungsfahigkeit entwickelt. Das läßt darauf schließen, daß die "visuelle Handhabung" einer Umwelt keine unmittelbare Repräsentation oder "ikonisches" Erfassen einer Wirklichkeit sein kann. Vielmehr handelt es sich um die Herstellung einer Menge von Korrelationen zwischen Effektor- (Muskel) und visuellen Rezeptoroberflächen, so daß ein spezifischer Zustand in den Rezeptoroberflächen einen spezifischen Zustand in den Effektoroberflächen hervorruft. Zur Betonung der effektorischen Aktivität beim Aufbau von Umweltmodellen vgl. auch Hejl, Selbstreferentielle Systeme 1982, 266; Stadler, Seeger, Raeithel, Wahrnehmung 1975. Diese Ergebnisse bestätigen Untersuchungen an Menschen, die erst als Erwachsene durch Operationen sehend wurden: Diese konnten Gegenstände, die sie früher ertastet hatten, relativ leicht mit den Augen erkennen, während andere Gegenstände oder Relationen, z. B. Entfernungen, nur sehr schwer gelernt wurden, vgl. Gregory, Gehirn 1972, 189. 20 In der neurophysiologischen Literatur werden Sinneszellen häufig als Transduktoren (Umwandier) bezeichnet, die in der Lage seien, ,,mit ganz bestimmten ihnen angemessenen Reizen in Reaktion zu treten und diese spezifischen ... Reize in elektrische Signale umzusetzen", Schmidt, Biomaschine 1979,210; siehe auch Küppers, Farbenlehre 1978, 101.

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Kap. 1: Biologie der Kognition

nicht etwa die Umwandlung von Licht in elektrischen Strom durch z. B. eine Rezeptorzelle in der Retina, und auch nicht durch die Umwandlung von mechanischem Druck in elektrischen Strom durch eine Tastsinneszelle."21 Bei der Erregung von Sinneszellen handelt es sich also um autonome Leistungen dieser Zellen; es handelt sich um Resultate ihrer eigenen Aktivität, die in keinem deterministischen Zusammenhang zu jenen Anlässen steht, die diese Aktivität auslösen. 22 Im Gegensatz dazu wird in der neurophysiologischen Literatur die Funktionsweise der Sinneszellen mit Meßgeräten wie Belichtungsmessern oder Mikrophonen verglichen, die in einem Eins-zu-Eins-Verhältnis auf die auslösende Aktivität reagieren. Diese Vorstellung beruht auf der Annahme einer objektiven Außenwelt, aus der absolute Größen an Informations-Inputs auf das wahrnehmende System übertragen werden. 23 Hiernach wäre unter Wahrnehmung lediglich eine "innere Informationsverarbeitung" zu verstehen, die externe Daten aufnimmt und wiedergibt. Für das optische System hieße dies, daß das Bild auf der Netzhaut ein Objekt ablichtet, das ins Innere des Nervensystems transformiert wird. 24 Die Verbindung zur Welt ließe sich als einen linearen Vorgang darstellen, der externen Faktoren determinierende Wirkung beirnißt. Wir haben demgegenüber angenommen, daß die externen Faktoren nur das konstante Hin und Her der inneren sensomotorischen Korrelationen modulieren. Maturana hat diesen für die biologische Kognitionstheorie zentralen Gedanken am visuellen System entwickelt und dabei festgestellt, daß es überhaupt keine eindeutige Beziehung zwischen Umweltreizen und dem Nervensystem gibt. 25 Im nächsten Abschnitt wollen wir die 21 Rusch, Erkenntnis 1987, 71. 22 Dies hat Maturana, Farbkodierung 1985, 88, am Beispiel der Sinneszellen in der

Retina gezeigt; vgl. dazu insbesondere auch v. Foerster, Wirklichkeit 1981,43, auf das dort entwickelte ,,Prinzip der undifferenzierten Codierung" gehe ich im Zusammenhang mit dem visuellen System weiter unten näher ein. 23 In der modemen Biologie wird freilich zugestanden, daß wir selektiv wahrnehmen und erst die Verstandesleistung die Eindrücke zu sinnvollen Zusammenhängen verarbeitet. Dennoch bleibt das Repräsentationsmodell erkenntnisleitend. So z. B. Oeser, SeiteIberger, Gehirn 1988,72: ,,Entscheidend ist die Tatsache, daß der Verkehr zwischen den zwei Wirklichkeitsprovinzen des Zentralnervensystems und seiner Umwelt faktisch vollzogen wird, wobei zwischen den ausgetauschten Merkmalen das Verhältnis der Repräsentanz besteht und sozusagen die harte Materialwährung der Umwelt in die bildliche Neuralwährung umgewechselt wird." 24 Schon Descartes erschienen die Sinnesorgane als in den Menschen eingebaute ,,Instrumente". Auf die Ähnlichkeit zwischen der Filmkamera aus Metall und Glas und dem Auge aus Fleisch und Blut weisen auch Philip und Phylis Morrison, Wahrnehmung 1988,9, hin. 25 Darauf hat schon im Jahre 1835 der Physiologe J ohannes Müller mit seinem ,,Prinzip der spezifischen Nervenenergien" hingewiesen. Er stellte fest, daß die Spezifität des erlebten Reizes nicht von der "objektiven Natur" äußerer Ereignisse, die auf ein Sinnesorgan einwirken, sondern von der Art der internen Verarbeitungsmechanismen abhängt. Wie auch immer man die Stäbchen und Zapfen anregt, das Auge wird immer eine Empfindung von Licht auslösen. So ruft ein Schlag auf das Auge eine Wahrnehmung von Licht hervor. Mit anderen Worten: Ein und derselbe elektrische Reiz löst in verschie-

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Wahrnehmung als einen zyklischen Vorgang beschreiben, in welchem Schemata die motorische Erkundung leiten, die ihrerseits eine Welt konstruiert, welche die Schemata modifiziert.

2. Das visuelle System a) Die optische Organisation

Das optische System eignet sich besonders gut, den funktionellen Aufbau des Nervensystems zu zeigen. Es veranschaulicht außerdem die Arbeitsweise des Gehirns und bestätigt in jedem Detail die organisationelle Geschlossenheit des neuronalen Netzwerkes. Da die Kognitionstheorie von Maturana aus jahrzehntelangen neurophysiologischen Forschungen hervorgegangen und seine systemische Sichtweise ohne diese neurobiologische Herkunft nicht schlüssig zu vermitteln ist, sei im folgenden auf einige der bahnbrechenden Arbeiten aus den Jahren 1958 - 1961 eingegangen. 26 Sie illustrieren, welch langer Weg bis zu der Erkenntnis zurückzulegen war, daß die Wahrnehmung sich nicht in den Sinnesorganen, sondern in den spezifischen sensorischen Himregionen vollzieht. Als Maturana über die Anatomie und Physiologie des Sehens arbeitete, entdeckte er in der Netzhaut des Frosches Neuronen, die auf bestimmte Umweltreize reagierten. Diese Neuronen (Retinaganglienzellen) werden nur aktiv, wenn man kleine, dunkle, bewegte Objekte durch das Gesichtsfeld des Frosches führt. Große bewegte oder kleine unbewegte Objekte läßt der Frosch unbeantwortet. 27 Es lag nahe, diesen Typ von Neuronen als "Insekten-Detektor" zu charakterisieren. Der denen räumlichen und funktionalen Bereichen des Gehirns ganz verschiedene Empfmdungen aus: Stimulation der Großhirnrinde mit einem identischen Reiz löst im visuellen Cortex visuelle, im auditorischen Cortex somatosensorische Halluzinationen aus. Siehe Segal, Erfindung 1988, 50; Roth, Selbstorganisation 1986, 168. 26 Vgl. Maturana u. a., Vision in the Frog 1960, 129; Lettvin u. a., Frog's Eye 1959, 1940; weitere Fundstellen bei Roth, Autopoiese 1987,39. 27 Was also der Frosch als Jagdziel wahrnimmt, ist das Zusammentreffen von Signalen aus drei hochspezialisierten neuronalen Netzwerken. Für den Frosch konstituiert das Zusammentreffen dieser drei Signale ein "Objekt", auf das er springt, um es zu verschlingen. Der Frosch wird demnach auch auf das reagieren, was ein menschlicher Beobachter als Käfer, kleine Pappscheiben, Bleikügelchen etc. kategorisieren würde, sofern diese nur von einem Hintergrund abstechen, eine bestimmte Größe haben und sich bewegen. Die "Dingheit" als die Vereinigung wahrgenommener Eigenschaften in einem einheitlichen Gegenstand resultiert also aus dem Zusammentreffen neuronaler Signale und erfordert keineswegs die objektive Existenz eines Dings, das diese verschiedenen Eigenschaften tatsächlich besitzt. Wir werden weiter unten sehen, daß Piagets Forschungen, die aus der Analyse des Erwerbs von "Objektpermamenz" beim Kind hervorgegangen sind, ganz ähnlich zeigen, daß das, was als Objekt wahrgenommen wird, die Koordination von sensomotorischen Signalen ist und nicht als Gegebenheit in der näheren Umgebung des Kindes vorausgesetzt werden muß; vgl. ausführlich zur Wahrnehmungstheorie Richards, v. Glasersfeld, Wahrnehmung 1984,4; Grössing, Wahrnehmung 1987, 10; Kruse, Multistabilität 1988, 35.

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Kap. 1: Biologie der Kognition

Frosch "sah" das Beutetier erst, wenn die Retinaganglienzellen "feuerten". 28 Später entdeckte man bei Kröten, Affen und Katzen visuelle Neuronen, die ebenfalls die Eigenschaft zu haben schienen, sehr spezifisch auf bestimmte Reize zu reagieren. Diese Untersuchungen nährten schließlich die Vorstellung, daß es für jedes zu erkennende Objekt ein entsprechendes Detektor-Neuron geben müsse. 29 Das Detektor-Konzept hielt weiteren Überprüfungen nicht lange stand. In theoretischer Hinsicht ist gar nicht vorstellbar, daß es für die zahllosen Objekte der Umwelt jeweils spezifische Detektoren geben sollte. 30 Es müßte darüber hinaus unzählige weitere Detektoren geben, die beim Auftreten von mehreren Objekten deren räumliche Relationen "codieren". In empirischer Hinsicht wurde zudem festgestellt, daß die visuellen Neuronen an der Wahrnehmung ganz unterschiedlicher Objekte beteiligt sind. Sie reagieren nicht auf Ganzheiten, sondern auf Teilaspekte von Objekten wie Kontrast, Ausdehnung, Geschwindigkeit usw. 31 An der Objekterkennung ist somit eine Vielzahl von Neuronen beteiligt, deren Antworteigenschaften sich überlappen. Umgekehrt ist eine Einzelzelle in ganz unterschiedlichen Kontexten aktiv. ,,Einer Objektvielfalt entspricht im Gehirn eine Erregungsvielfalt. "32 Erst die Erkenntnis, daß nicht Einzelzellen, sondern ein komplizierter neuronaler Kreisprozeß die Wahrnehmung konstituiert, hat im Denken über die Arbeitsweise des Nervensystems einen wirklichen Fortschritt gebracht. 33 28 Damit war Müllers Prinzip nachgewiesen: Nicht die physikalischen oder chemischen Eigenschaften des Reizes rufen die Empfindungen hervor, sondern das Nervensystem. Darüber hinaus stellte man fest, daß die Nervensignale, die die peripheren Reize dem Großhirn übermitteln, nur die Intensität, nicht aber die physikalische Ursache des Reizes codieren. Also codieren unsere Sinnesorgane nur, wieviel Stimulierung sie erhalten, und nicht, was diese Stimulierung auslöst. Foerster (Wirklichkeit 1981, 43) nennt diese Beobachtung des "Prinzip der undiJferenzierten Codierung". Auf einem Oszilloskop kann man eine durch Stimulierung ausgelöste Kette von Impulsen beobachten. Jede Spitze entspricht einem ,,Feuern" des Neurons. Das läßt sich akustisch verdeutlichen: "Wenn wir eine Mikropipette in einen Druckrezeptor einführen und den Output mit einem akustischen Gerät verstärken, dann hört man entweder ,p-p-p-p-p' oder aber ,prrrrrrr', je nachdem, wie stark der Druck ist. Die Sprache des Neurons sind die elektrischen Impulse, deren Frequenz sich entsprechend der Stärke der Erregung verändert", Segal, Erfindung 1988, 127. 29 Diese Auffassung gipfelte wie Roth (Autopoiese 1987, 59) mitteilt - in dem Konzept des "Großmutter-Neurons": In meinem Gehirn gibt es genau ein Neuron, das dann feuert, wenn meine Großmutter das Zimmer betritt. 30 Die Objekte können auch unter zahllosen verschiedenen Aspekten erscheinen; z. B. wenn die Großmutter verschieden gekleidet ist oder in je verschiedener Haltung den Raum betritt. 31 Auch auf diese Reize antworten die sensorischen Neuronen nur präferentiell, fast nie ausschließlich; vgl. Grüsser, Grüsser-Cornehls, Visual System 1976, 298. 32 Roth, Autopoiese 1987,60; ders., Gehirn 1990, 171. 33 Roth, (Kognitive Selbstrefentialität 1987,402) schildert die strukturelle und funktionale Evolution des Gehirns als den Übergang von spezialisierten ,,Erkennungsrezeptoren" zu sensorischen "Universal-Netzwerken". d. h. statt der Aktivität eines hochspezifischen

TII. Prozesse des Erkennens

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Nach heutiger Auffassung lassen sich die Verbindungswege des optischen Phänomens folgendermaßen beschreiben: 34 Die bedeutsamste Region von Verbindungen zwischen der Netzhaut und dem zentralen Nervensystem einschließlich der Hirnrinde ist im sogenannten "seitlichen Kniehöcker" (Corpus geniculaturn laterale) des Thalamus (Hauptteil des Zwischenhirns) lokalisiert. Untersuchungen haben ergeben, daß der Kniehöcker nicht einfach als Schaltstelle für Projektionen der Netzhaut auf die Hirnrinde fungiert. Vielmehr projizieren für jedes Netzhautneuron Hunderte von Neuronen aus anderen Teilen des Nervensystems ebenfalls auf den seitlichen Kniehöcker. Folglich konvergieren auf den Kniehöcker viele andere Verbindungswege und überlagern, was zur Hirnrinde weitergegeben wird. Dies macht deutlich, daß die Netzhaut nicht im Sinne einer Telefondraht-Verbindung mit dem Kniehöcker zu verstehen ist. 35 Die Netzhaut kann den Zustand der Neuronen im Kniehöcker modifizieren, aber nicht determinieren. Allein das Gesamt aller Verbindungen bestimmt diesen Zustand. Obwohl die Sinneszellen mit der Umwelt in Verbindung stehen, sind es letztlich die neuronalen Interaktionen im Gehirn, die der äußeren Beeinflussung Bedeutung verleihen. Damit erweist sich das Gehirn als ein selbstreferentielles System, das aus einem komplizierten Netzwerk neuronaler Prozesse aufgebaut ist. Sehen wir uns diese funktionale Selbstreferentialität anband des optischen Systems des Menschen genauer an. 36 Zunächst existiert im Gehirn ein Kreisprozeß erster Ordnung zwischen den eigentlichen visuellen Zentren im Zwischenhirn, Mittelhirn und der Großhirnrinde (Cortex). Einen weiteren Kreisprozeß fmden wir zwischen den visuellen Zentren und dem Gedächtnissystem im limbischen System und im temporalen Cortex. Dieser wird erweitert durch Kreisprozesse zwischen Rezeptors R 1, der nur auf S 1 antwortet, tritt nun bei Einwirkung von S 1 ein bestimmtes Aktivitätsmuster innerhalb der Menge unterschiedlicher Rezeptortypen auf. Damit haben wir einen "Universaldetektor" vor uns, der aufgrund der Kombination der Einzelzustände seiner Komponenten eine sehr große Zahl von Umweltereignissen zu erfassen vermag. 34 Gute Darstellungen des anatomischen Aufbaus und des Zusarnmenwirkens der verschiedenen Sinneszellen in der Retina geben Schrnidt, Biomaschine 1979, Kap.13; Küppers, Farbenlehre 1978, 101; Maturana, Farbcodierung 1985,88; Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 177; Popper, Eccles, Gehirn 1987, 321; v. Frisch, Leben 1988, 145; Restak, Gehirn 1988,45; Morrison, Wahrnehmung 1988,7; Oeser, Seitelberger, Gehirn 1988,79. 35 Anders der übliche repräsentationistische Ansatz zur Erklärung der optischen Wahrnehmung, wonach Sehen als eine bestimmte Operation mit dem Bild auf der Netzhaut verstanden wird, dessen Abbildung ins Innere des Nervensystems transformiert wird. Dementsprechend wurde schon im 6. Jahrhundert v. ehr. Wissen dann für richtig erachtet, wenn man zu dem Schluß kam, daß es dem ursprünglichen Phänomen gleich oder gleichwertig war. E. v. Glasersfeld nennt dieses Verhältnis "ikonisch", d. h. Wissen ist ein Ikon, ein Bild von etwas anderem (vgl. Segal, Erfindung 1988, 32). Ein solches ikonisches Verhältnis behauptet z. B. Hirsts genetische Version der Abbildungstheorie, wenn er seine Theorie mit der dogmatischen Annahme einer externen strukturierten Realität beginnt: "Wahrnehmung ist die Entdeckung der Existenz und der Eigenschaften der äußeren Welt mit Hilfe der Sinne" (vgl. Perception 1967,79). Genau diese Annahme weist die konstruktivistische Kognitionstheorie zurück. 36 Zum folgenden vgl. Roth, Selbstorganisation 1986, 170.

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Kap. I: Biologie der Kognition

den visuellen Zentren und den handlungsplanenden Zentren im Vorderhirn und zwischen den visuellen Zentren und den die Bewußtheit und Aufmerksamkeit steuernden Zentren im Hirnstamm. Hinzu kommen Vernetzungen des visuellen Systems mit anderen Sinnessystemen. Über die Retina laufen ständig Erregungen in die Kreisprozesse hinein und modulieren sie. Aber die Kapazität der sensorischen Eingänge ist im Vergleich zum internen Verarbeitungssystem geradezu winzig. Das Gehirn verbindet die motorischen und sensorischen Neuronen in einem Verhältnis 1 : 100000 : 1. 37 Es ist wie eine gigantische Geschwulst von Interneuronen zwischengeschaltet. So besitzt der optische Nerv beim Menschen etwa eine Million Fasern, während die Gehirnzellen, die die sensorische Erregung verarbeiten, neuestens auf mindestens eine halbe Billion geschätzt werden. Überblickt man die Evolution des Menschen, so ist bemerkenswert, daß die Fähigkeit der Sinnesorgane zur Umwelterfassung eher abnahm. Was dagegen ungeheuer gesteigert wurde, ist die Leistungsfahigkeit des internen Bewertungssystems. 38 Das Gehirn entwickelte sich zu einem Organ, das in kürzester Zeit die Umwelt nach Schlüsselreizen abtastet und dazu passende Details hinzuprojiziert. Das Ergebnis scheint dann die Umwelt 37 Bei den niederen Wirbeltieren liegt das Verhältnis von peripheren sensorischen Neuronen, Verarbeitungsneuronen im Gehirn und Motoneuronen zwischen 1 : 1 : 1 und 1 : 10 : 1. Die Zahlen bezüglich des menschlichen Gehirns sind Roth (Kognitive Selbstreferentialität 1987,420) entnommen, der folgende Rechnung aufmacht: ..Beim menschlichen Gehirn wird von je zweimal 1 Million Opticus-Fasem, 30 ()()() Acusticus-Fasern, 20 ()()() Vestibularis-Fasern und 1 Million somatosensorischen Fasern ausgegangen (über das olfaktorische System waren keine Angaben erreichbar), was zusammen eine Zahl von Gehirnafferenzen von rund 5 Millionen ausmacht. Die Zahl der für die Muskelinnovierung zuständigen Motoneurone wird auf 3 Millionen geschätzt. Die Zahl der Nervenzellen im Gehirn liegt nach gegenwärtigen Schätzungen zwischen hundert Milliarden und 1 Billion. Nimmt man als Mittel 500 Milliarden, so kommt man ganz grob auf 1 : 100 ()()() : 1 beim Verhältnis von Afferenzen zu Gehirn zu Efferenzen." Die Zahlen werden für das visuelle System von Popper, Eccles, Gehirn 1987, 321, gestützt. 38 Bis zu einem gewissen Grad untermauern diese neurophysiologischen Befunde Kants These, daß der Verstand seine Gesetze nicht aus der Natur schöpft, sondern sie ihr vorschreibt (vgl. Prolegomena 1911, 294). Seiner Meinung nach sind Raum und Zeit ..apriorische Kategorien" bzw. allgemeine Aspekte des Bewußtseins, die bereits vor der Wahrnehmung vorhanden sind. Diesen Kategorien hat er später noch die Zahl und die Menge hinzugefügt (vgl. Vernunft 1911,45). Nach Kant stellen alle diese Kategorien einen eigenen Beitrag des Verstandes zur Wahrnehmung dar. Ob deshalb unser Gehirn ..vorprograrnmiert"·ist, die Welt auf eine ganz bestimmte Weise zu sehen, erscheint aus konstruktivistischer Sicht allerdings unzutreffend; so aber Restak, Gehirn 1988, 53. Ähnlich auch das, was Grössing (Wahrnehmung 1987, 17) unter ,,kreativem Zirkel der Selbst-Wahrnehmung von Subjekt und Objekt" versteht: .. 1. WIE wir wahrnehmen (können) und insbesondere das WIE dessen, was wir wahrnehmen (können), also zum Beispiel unsere Wahrnehmung des ,Verhaltens' von Materie. 2. WAS wir wahrnehmen (können) und insbesondere das WIE dessen, was wir wahrnehmen (können), also etwa die konkrete Beschaffenheit der Materie, bestimmt, WIE wir wahrnehmen können." Grössing setzt also die Existenz einer Welt voraus, ohne über diese ein ..objektives" Wissen zu besitzen. Zur Idee der Selbstorganisation bei Schelling vgl. Heuser, Wissenschaft 1990, 39

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zu repräsentieren. Tatsächlich aber hat das Gehirn eine wahrscheinlich vorliegende Umwelt konstruiert, in der ein überlebensadäquates Handeln möglich bleibt. b) Die optische Struktur

Die geschilderte Struktur des optischen Phänomens gilt für jeden anderen Bereich des zentralen Nervensystems. Ist man sich über diese Struktur im Klaren, dann erscheint, wie gesagt, die Redeweise von der Abbildung oder Repräsentation der Außenwelt durch das Sinnessystem als völlig inadäquat. Ob nämlich die betreffende Hirnregion hinreichend stark erregt wird, hängt von der momentanen Aktivität der Region und davon ab, ob die Einflüsse des Nervensystems insgesamt zur Abgabe einer Impulssalve führen oder nicht. Wegen der funktionalen Selbständigkeit des neuronalen Netzwerkes kann von der Leitung eines Impulses von den Sinneszellen bis ins Gehirn nicht gesprochen werden. Nicht die Impulsabgabe der Sinneszellen, sondern die Erregtheit neuronaler Elemente in der visuellen und assoziativen Hirnregion führen zu visuellen Empfindungen. 39 Erst die Vorgänge in den einzelnen Arealen des Gehirns defmieren die einlaufenden Impulse als Sinnesempfindungen eines bestimmten Typs. Wie nämlich festgestellt wurde, kann man solchen Impulsen überhaupt nicht ansehen, ob sie einen optischen oder akustischen oder irgend einen anderen Sinnesreiz melden. 40 Sie machen nach den Worten von Foersters lediglich ,,klick", ,,klick", ,,klick". 41 Denn die Beziehung der Aktivität der Sinneszellen und den entsprechenden Sinnesempfindungen verdankt sich allein den Funktionen des Gehirns in seiner Gesamtaktivität. Diese Auffassung wird nicht nur bestätigt durch die visuellen Wahrnehmungen im Traum, sondern in besonders eindrucksvoller Weise durch die Berichte von Patienten, deren Arme oder Beine amputiert wurden. 42 Durchweg erleben sie ihre verlorenen Gliedmaßen als lebendig: Sie verursachen Schmerzen und können willkürlich bewegt werden. Dieser Sachverhalt ist nur erklärlich, wenn die Wahrnehmung in den entsprechenden Zentren des Gehirns und nicht in den Muskeln und Gliedmaßen erfolgt. Die spezifische Aufgabe der Sinnesorgane ist es, eine Vielzahl von unterschiedlichsten physikalisch-chemischen Ereignissen wie Lichtquanten, Schalldruckwellen, Duftmoleküle, Vibrationen etc. in ein und dieselbe 39 Vielmehr sind es Gruppen funktional selbständiger Neuronen, die aufgrund ihrer Vernetzungseigenschaften einen Teil der Bahnen der Sinnessysteme bilden und ihrerseits jeweils ganz neue Impulse abgeben. 40 Vollmer, Erkenntnistheorie 1978, 87. 41 Die Stärke des Nervenimpulses ist immer gleich. Entsprechend dem Prinzip der "undifferenzierten Codierung" erfassen die Nervenzellen lediglich die Intensität der Erregung, die sich im Feuern der Zelle ausdrückt, nicht jedoch ihre physikalische Beschaffenheit; vgl. Segal, Erfindung 1988, 127; v. Foerster, Wirklichkeit 1981, 43; ders., Erfinden 1987, 35. 42 Siehe Schmidt, Biomaschine 1979, 226; Vollmer, Erkenntnistheorie 1978, 88; speziell zur Schmerzgenese vgl. Geissner, Schmerzer/eben 1988.

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Kap. 1: Biologie der Kognition

Klasse von Ereignissen, in elektrische Nervenpotentiale umzuwandeln. Das Gehirn "versteht" nur diese Art von Signalen. Bei dieser Übersetzungsarbeit der Sinnesorgane verlieren die vielfältigen Umweltereignisse ihre Spezifität. 43 Das Gehirn muß aufgrund der eigenen Aktivität die Botschaft "schaffen". Es muß die bedeutungsfreien neuronalen Prozesse mit Inhalten füllen. 44 Wir sind durchaus zu der Annahme berechtigt, daß auch Empfindungen etwa visueller Art durch eben diese interne Bedeutungszuweisung entstehen. Am visuellen System läßt sich gut exemplifizieren, daß jede Komponente in diesem System die spezifischen Eigenschaften aller anderen Komponenten definiert; weshalb Neurologen immer wieder überrascht sind, wenn sie beobachten, daß selbst elementare Hirnleistungen örtlich nicht völlig festgelegt sind. So können Farb- oder Objekterkennen in anderen als den normalen Hirnregionen stattfinden. Diese Hirnteile müssen folglich in der Lage sein, die in ihnen ankommenden Erregungen umzudeuten 45. Das Gesamtsystem erhält sich, indem es sich von der Variabilität seiner Einzelbestandteile unabhängig macht. Für das visuelle System heißt dies, daß der Kodierungsprozeß von der Aktivität irgendeiner spezifischen Ganglienzelle abgelöst wird. Statt dessen wird der Organismus durch jene Interaktionen modifiziert, die zwischen den aktivierten Zellen bestehen, welche die Lichtquanten an der sensorischen Oberfläche absorbiert haben. Es sind also die Zustände neuronaler Aktivität, welche die visuelle Erfahrung hervorrufen. Sie spiegelt keine vom Lebewesen unabhängige Umwelt und ermöglicht folglich auch nicht die Konstruktion einer absolut existierenden Außenwelt. 43 Darüber hinaus spricht vieles für die Auffassung von Roth (Selbstorganisation 1987, 173), daß ein Nervensystem, das ein Lem- und Gedächtnissystem aufbauen kann, nur auf der Grundlage der Reizunspezifität der neuronalen Prozesse möglich ist. "Das Prinzip der Reizunspezijität schließt das neuronale System sozusagen von der Umwelt ab und nötigt ihm eine Selbstexplikation auf." Wäre das menschliche Gehirn ein wirklich "offenes" System, würde es in jeder Sekunde von der Flut der Umweltereignisse überwältigt werden. Allein als selbstreferentielles System ist das Gehirn zur Überprüfung jeder Sinneswahrnehmung mit früheren Erfahrungen, zu Gliederung, Vergesetzlichung und damit zu einer Entscheidung fähig. Vgl. zur parallelen Verarbeitung sensorischer information auf der Grundlage komplexer Netzwerkstrukturen Kruse, Roth, Stadler, Ordnungsbildung 1988; Stadler, Wildgen, Ordnungsbildung 1987, 101; Kruse, Stadler, Kon-

struktivismus 1987,199.

44 Dabei wird im Entwicklungsprozeß der Wahrnehmung der Bezug zum eigenen Bewertungssystem und somit zur eigenen Erfahrung immer größer. Die Welt wird wie Roth (Kognitive Selbstreferentialität 1987,423) anmerkt - "immer stärker durch die Brille der eigenen Erfahrung gesehen: Welche Bedeutung sensorische Erregung ,von außen' hat, hängt immer mehr von den inneren Bewertungsschemata ab." Der Aufbau einer solchen kognitiven Realität vollzieht sich innerhalb der Hirnevolution als der Schritt vom bloß reaktiven zum prognostizierenden System, vgl. Jerison, Brain 1973. 45 Siehe den Nobelpreisträger für Neurophysiologie Ragnar Granit: "Unterzog man motorische Akte oder Wahrnehmungen gründlicher Untersuchung, konnte man feststellen, daß eine große Zahl von Nervenzellen in verschiedenen Teilen des Gehirns miteinbezogen war" (zit. bei Restak, Gehirn 1988, 76); dazu auch Roth, Gehirn 1990, 173.

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Nicht einmal die Wahrnehmung von Farben korrespondiert mit bestimmten Wellenlängen des Lichts. 46 Von Otto von Guericke wurde zum ersten Mal 1672 das Phänomen von den "farbigen Schatten" berichtet. 47 Er bemerkte, daß sich sein Finger im Schatten zwischen einer Lichtquelle und der aufgehenden Sonne blau verfärbte. Man kann dieses Phänomen sehr einfach durch eine rote und eine weiße Lichtquelle erreichen, indem man ein Papprohr mit dem Durchmesser einer Glühbirne über eine der Birnen stülpt und eine durchsichtige rote Folie als Filter verwendet. Bringt man sodann z.B. die Hand in den Lichtkegel, dann erscheint der Schatten blaugrün. Wie kommt es zu dieser Farbe? Zu erwarten war ja nur Weiß, Rot oder Rosa als Mischung aus beiden Farben. Unsere übliche Vorstellung, daß grünes Licht auf das Auge gefallen sei, ist offensichtlich unrichtig. Denn es müßten Wellenlängen gemessen werden, die den Farben Grün oder Blau entsprechen. Tatsächlich findet sich allein eine Verteilung, die der weißen Farbe entspricht. 48 Ein weiteres alltägliches Beispiel für die Unabhängigkeit unserer Farbenwahrnehmung von der Zusammensetzung der Wellenlänge des Lichts, das von den beobachteten Gegenständen ausgeht: Eine Apfelsine behält für den Betrachter die gleiche Farbe, unabhängig davon, ob sie im Hause durch Neonlicht oder im Freien durch Sonnenschein beleuchtet wird. Das Neonlicht enthält überwiegend kurzweIliges oder blaues Licht, das Sonnenlicht dagegen besteht vorwiegend aus langweIligem, rotem Licht. Die Farbe der Apfelsine kann also nicht durch die Eigenschaften des von ihr ausgehenden Lichtes bestimmt sein. 49 Vielmehr werden wir auch in diesem Falle anzunehmen haben, daß die Erfahrung von Farbe einer spezifischen Konfiguration von Aktivitätszuständen im Nervensystem entspricht, welche durch die Struktur des Nervensystems determiniert ist. 50 46 Zum Farbensehen: Schwartz, Physiologische Psychologie 1980, 113; Autrum, Biologie 1975, 56; v. Frisch, Biologie 1988, 155; Rusch, Erkenntnis 1987,71; Maturana, Farbcodierung 1985, 104; Ornstein, Multimind 1989, 53. 47 Vgl. Maturana, Varela, Erkenntnis 1987,26. 48 Das Beispiel zeigt eindringlich, daß es keine Rolle spielt, ob das Medium farbig ist oder nicht. Siehe auch Autrum (Biologie 1975, 59): ,,Der gleiche Farbeindruck geht

auf physikalisch gänzlich verschiedene Lichtzusammensetzungen zurück. Umgekehrt kann aber der gleiche physikalische Reiz verschiedene Farbempfmdungen bei uns erzeugen ... Unser Auge ist alles andere als ein physikalisches Meßinstrument." 49 Es kann also keine einfache Korrespondenz hergestellt werden zwischen der großen Stabilität der Farben, in denen wir die Objekte der Welt sehen, und den physikalischen Eigenschaften des auf die Retina fallenden Lichts. Restak (Gehirn 1988,46) vereinfacht das Phänomen des Sehvermögens, wenn er es in herkömmlicher Weise als eine Form der Dechiffrierung beschreibt: ,,Das Auge absorbiert Licht und unterscheidet mittels spezieller Zapfenzellen in der Netzhaut verschiedene Wellenlängen, die den Farben entsprechen ... 50 Das Phänomen der Farbkonstanz wird - wie Maturana (Farbkodierung 1985,88) gezeigt hat - so bewerkstelligt, daß nicht Impulse der farbtüchtigen Zapfen direkt an das Gehirn weitergeleitet werden, sondern Impulse aus solchen Nervenzellen, deren Aktivität wiederum Ausdruck der Aktivität eines ganzen Feldes der verschiedenen Zapfen 5 Kargl

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Kap. 1: Biologie der Kognition

3. Die neuronale Funktion a) Erlerntes Verhalten

Wie am Beispiel des visuellen Systems gezeigt wurde, interagiert das Nervensystem zu allererst mit seinen eigenen internen Zuständen. Auch wenn der Organismus auf chemo-physikalischem Wege mit dem Medium in Verbindung tritt, so ergibt sich erst über die immense Dimension der internen Relationen ein Interaktionsbereich, der einem menschlichen Beobachter als Verhalten erscheint. Die zentrale Funktion des Nervensystems hat Maturana daher in der Synthese von Verhalten und nicht in der Handhabung einer unabhängigen Außenwelt gesehen. 51 Verhalten ist, wie aus der vorangehenden Darstellung hervorgeht, stets durch die Struktur des Organismus determiniert. 52 Der Organismus und das ihn.integrierende Nervensystem sind dynamische Systeme; sie befinden sich in kontinuierlicher struktureller Veränderung. Im Nervensystem erscheinen Veränderungen als Veränderungen in den Relationen der Aktivitäten seiner Komponenten. Wir haben sie als Membranveränderungen beschrieben, die mit der Leitung von Nervenimpulsen oder synaptischen Übertragungen zusammenhängen und die dadurch die Eigenschaften der Komponenten verändern, was die Arbeitsweise des gesamten neuronalen Netzwerkes drastisch modifizieren kann. Solche Veränderungen sind reversibel. Sie machen die Plastizität des Nervensystems aus und verkörpern jenes Phänomen, das wir als Lernen bezeichnen. 53 Bei ist. Daraus ergibt sich für die Wahrnehmung eine relative Unabhängigkeit von den physikalischen Verhältnissen, die eine Erregung der Farbsinneszellen auslösen. Es gibt Farbwahrnehmung, wenn gar kein oder schwarzes Licht auf die Retina fällt, und es gibt Wahrnehmung vieler Farben, wenn die spektrale Zusammensetzung des Lichts dies nicht erwarten ließe. Dieses Phänomen erklärt sich aus der Tatsache, daß Farbwahrnehmungen allein aus Werten der relativen Aktivität der Sinneszellen untereinander errechnet werden. "Daraus ergibt sich der Schluß, daß die Handhabung einer farbigen Umwelt keineswegs eine Handhabung einer Umwelt mit Farben ist, sondern eine Interaktion mit Relationen, wie sie in der relativen Aktivität der Retinazellen verkörpert sind,und daß die Beziehung des Menschen zu seiner visuellen Umgebung durch gewisse Konstanten, wie etwa die der Farbe, der Form, der Objekte etc. charakterisiert ist" (Rusch, Erkenntnis 1987,72). Zum eng mit der Farbwahrnehmung zusammenhängenden Aspekt der Formwahrnehmung vgl. die anschauliche Darstellung v. Foersters, Wirklichkeit 1981, 54; siehe auch Kruse, Multistabilität 1988, 35; Roth, Gehirnl990, 177. 51 Maturana, Kognition 1985, 47. 52 Daher "sehen wir nicht den ,Raum' der Welt, sondern wir erleben unser visuelles Feld; wir sehen nicht die ,Farben' der Welt, sondern wir erleben unseren chromatischen Raum. Dennoch sind wir ohne Zweifel in einer Welt (!!!). Aber wenn wir näher untersuchen, wie wir dazu kommen, diese Welt zu erkennen, werden wir immer wieder finden, daß wir die Geschichte unserer biologischen und sozialen Handlungen von dem, wie uns die Welt erscheint, nicht trennen können" (Maturana, Varela, Erkenntnis 1987,28). 53 Die Plastizität des Nervensystems geht darauf zurück, daß die Neuronen nicht so miteinander verbunden sind, als wären sie Stromkabel mit Steckverbindungen. Die Stellen, an denen die Zellen interagieren, sind vielmehr die Regionen der Endverzweigun-

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Lernvorgängen spielen Nervensysteme eine erhebliche Rolle, was schon an den Auswirkungen von deren Verletzungen erkennbar ist. 54 Daher ist es gerechtfertigt, bereits. an dieser Stelle auf das Lernphänomen einzugehen und zwar soweit es jedes Lebewesen mit Nervensystem betrifft. Im folgenden Kapitel sollen dann jene Kapazitätserweiterungen dargestellt werden, die mit der Existenz von Bewußtsein und Sprache einhergehen. Von adäquatem Verhalten sprechen wir im Anschluß an Maturana, wenn die Struktur des Organismus derjenigen des Milieus entspricht. Da sich beide Strukturen beständig ändern, ist Lernen der Weg gemeinsamer struktureller Veränderungen als Resultat der Interaktionen zwischen Organismus und Milieu. Lernen besteht demnach im kontinuierlichen Wandel des Organismus und des Nervensystems in Einklang mit dem Wandel des Mediums. 55 Aus dieser Sicht ist Lernen kein Prozeß, durch den ein Organismus Informationen über sein Medium erhält und Repräsentationen von ihm fertigt, die er in seinem Gedächtnis abspeichert und für die Generierung seines Verhaltens benutzt. 56 Lernen muß vielmehr begriffen werden als ein Prozeß, bei dem Organismus und Medium gegenseitig als Auslöser ihrer Strukturveränderungen wirken und strukturell gekoppelt sind. "Es gibt - in dieser Sicht - für den Organismus in seinem Operieren keine Umwelt, weder Erinnerung noch Gedächtnis; es ist nur ein struktureller Tanz in der Gegenwart, ein Tanz, der entweder einen dem strukturellen Tanz des Mediums entsprechenden Verlauf aufweist oder zur Desintegration des Organismus führt."57 gen und der Synapsen. Dort finden die Strukturveränderungen statt, dort führen molekulare Veränderungen zu veränderter Effektivität der synaptischen Interaktionen. Unterbricht man z. B. den elektrischen und chemischen Fluß zwischen dem Muskel und dem Nerv, wird der Muskel bald atrophiert und verkleinert sein, und dies, obwohl keine Veränderung am Muskel selbst, an dessen Nahrungs- oder Blutzufuhr vorgenommen wurde. Allein der Austausch zwischen den Zellen moduliert also die Effektivität und die Art der Interaktion, die sich zwischen ihnen abspielt. Deshalb hängt das Schicksal von Zellen ,,häufig oder sogar in der Regel von Zell-Zell-Interaktionen ab und nicht von direkter genetischer Determination", Roth, Gehirn 1990, 171. 54 Vgl. zu den Folgen von Hirnverletzungen und Hirnveränderungen die Krankengeschichten von Sacks, Verwechselte Frau 1987; Restak, Gehirn 1988,312. 55 Maturana, Kognition 1985,60; ders. Sprache 1985,253; Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 186. 56 Schon hier sei erwähnt, daß aus diesem Grunde Sozialisation und Pädagogik keine Medien sein können, durch die Kulturmuster schlicht "übertragen" werden. Menschen als selbstreferentielle Systeme lassen sich von der Umwelt allenfalls anregen, nicht jedoch determinieren. Infolgedessen kann Erziehung ihre Effekte nicht kontrollieren. Das ist nach Luhmann (Erziehungswesen 1987, 61) das strukturelle Defizit jeder Pädagogik: "Man nimmt ein Können in Anspruch, das man nicht können kann. Demnach wird ein Erziehungssystem durch sein strukturelles Defizit ermöglicht. In evolutionstheoretische Formulierung übersetzt, heißt dies, daß Erziehung eine evolutionär unwahrscheinliche (von der Ausgangslage der Sozialisation her gesehen eigentlich gar nicht mögliche, im Gelingen zufallsabhängige ) Errungenschaft ist." Zu ähnlichen Überlegungen bei Luhmann vgl. Systeme 1986, 72; Sozialisation 1987, 77; Schulerziehung 1988; Reformpädagogik 1988. 57 Maturana, Lernen 1983, 60. 5*

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Kap. I: Biologie der Kognition

Adäquat ist also das Verhalten eines Organismus nur solange, wie dieser seine Angepaßtheit über seine Interaktionen hinweg aufrechterhalten kann. Das Nervensystem selektiert nur diejenigen Strukturveränderungen, die ihm weiteres Operieren ermöglichen, oder es löst sich auf. Am Beispiel der Struktur der Zelle haben wir oben nachgewiesen, daß diese nur mit bestimmten Ionen interagiert. Anderenfalls würde die Zelle zerstört werden. Für einen Beobachter wirkt das Verhalten der Zelle wie das Resultat einer Erinnerungsleistung. Er wird sie mit Lernen in Verbindung bringen und annehmen, daß Informationen von außen nach innen gelangen. 58 Vom bio-kognitivistischen Standpunkt aus betrachtet folgt das Lebewesen in jedem Augenblick der Erhaltung der strukturellen Koppelung mit seinem Interaktionsmilieu, also seiner Autopoiese. Es "verinnerlicht" nicht etwa sein Milieu, sondern geht mit ihm eine Strukturkoppelung ein, in der die Verträglichkeit der Arbeitsweisen beider Strukturen aufrechterhalten wird. Das Verhalten dieser Lebewesen entwickelt sich demnach aus den Erfahrungen ihrer Ontogenese; es folgt aus der besonderen Geschichte von Interaktionen und ist somit erlernt. Was die Funktion der visuellen Wahrnehmung angeht, so wissen wir nunmehr, daß nicht Sachverhalte aus der Umgebung, sondern Zustände des Nervensystems selektiert werden. 59 Dabei besteht die kognitive Leistung des Gehirns vor allem darin, Wahrnehmungen zu erzeugen, die fluktuierende Umweltereignisse gliedern, vergesetzlichen und gestalten. Dies ist nur möglich auf der Grundlage der erwähnten Reizunspezifität der neuronalen Prozesse. Würden die Signale aus der Umwelt inhaltlich festgelegt sein, dann wäre das menschliche Gehirn zu 58 So interpretiert man gewöhnlich das Phänomen des Gedächtnisses: Man bringt es mit ,,Aufnehmen" oder ,,Empfangen" aus dem Milieu in Verbindung. Dies würde aber voraussetzen, daß das Nervensystem mit Repräsentationen arbeitet, und daß diese Repräsentationen im Gehirn örtlich lokalisiert sind. Demgegenüber verfestigt sich zunehmend die Erkenntnis, daß das gesamte menschliche Gedächtnissystem als eine große "Generalkarte" über eine Vielzahl verschiedener Himregionen organisiert ist. Es gibt im Gehirn keine lokal fixierbare Entsprechung zu jeder Erfahrung. Vgl. hierzu Oeser, Seitelberger, Gehirn 1988, 9l. 59 Dazu paßt, daß die Farbwahrnehmung offensichtlich von Kultur zu Kultur variiert. Mecacci (Gehirn 1988,63) berichtet, daß die Farberkennung bei "primitiven" Kulturen nur ansatzweise entwickelt sei. Bei ihnen kommen nur Bezeichnungen für Weiß und Schwarz vor, während man bei höherentwickelten Kulturen auch Rot, dann Grün oder Gelb, schließlich Blau usw. fmdet, bis alle elf Grundfarben vertreten sind. Als Beispiel führt er Volksgruppen in Neuguinea an, die nur Ausdrücke einerseits für ,,leuchtende" oder "weiße" Farben ("mola"), andererseits für "gedeckte" oder "schwarze" (,,muli") kennen. Es gibt auch Beispiele für eine Rückentwicklung in der Farbwahrnehmung. So fehlt in vielen italienischen Dialekten eine eigene Bezeichnung für Blau, während eine solche im Lateinischen (caerulus) existiert. Für die Farbe blau kommen folgende Umschreibungen vor: color deI cielo (himmelfarben), celiste (himmelblau), viola (violett), paonazzo (blauviolett wie die Federn des Pfaus - pa(v)one). Da zwischen den Römern und den Italienern wohl kaum physiologische Unterschiede in der Farbwahrnehmung existieren dürften, müssen die Unterschiede kulturell begründet sein. Kuhn (Scientific revolutions 1970, 113) drückt das so aus: "Was ein Mensch sieht, hängt von zweierlei ab: von dem, worauf er schaut, sowie von dem, was seine vorherige visuell-konzeptionelle Erfahrung ihn zu sehen gelehrt hat."

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keiner Entscheidung fähig. Es würde von der Flut der Ereignisse überwältigt werden. Es wäre ein "offenes" System, dessen Erfahrungen stets spezifisch sein müßten. Statt dessen sprechen alle Beobachtungen dafür, daß das frühkindliche Gehirn zu einem exemplarischen und stark generalisierenden Lernen fähig ist. So weisen die Gestaltgesetze der Wahrnehmung ausdrücklich daraufhin, daß unsere Wahrnehmungen nicht diffus oder chaotisch sind, sondern durch Schemata organisiert werden, die durch Vorgänge im Nervensystem bedingt sind. Die Gestalttheoretiker stimmen also mit der hier vertretenen Auffassung überein, daß Wahrnehmung nicht passive Abbildung, sondern aktive Erzeugung bedeutet. 60 Im auditiven Bereich hat Tomatis diese synthetisierende oder erzeugende Funktion der Sinnesorgane experimentell vielfach nachgewiesen. 61 Schon 1947 beschrieb er das audiovokale System als einen autonomen Regelkreis, der das Gehirn, das Ohr, die Stimme, die Sprache und das Gleichgewicht verbindet. Nunmehr kommt er zu dem Ergebnis, "daß das Ohr nach eigenen Kriterien in den Wahrnehmungsprozeß eingreift und die eintreffende Information gemäß seinen Widerständen und Präferenzen prägt". 62 Die Funktion des Ohres sieht er darin zu wissen, was es hören muß, und nicht darin, möglichst alles zu hören. 63 Auch Tomatis ist somit der Überzeugung, daß die Welt so dargestellt wird, wie das Gehirn und der Organismus am besten damit umgehen können. Diese Funktion ist erfahrungs- und lernabhängig. 60 Es zählt zu den zentralen Verdiensten der Gestalttheorie, daß sie die Prämisse einer in der objektiven Realität gegründeten Stabilität der Wahrnehmungswelt argumentativ und experimentell in Zweifel gezogen hat. So wird im Ansatz der Gestalttheorie die Bildung der Erlebnisgegenstände bis hinab zu dem basalen Vorgang die Objektausgrenzung als eine Leistung des wahrnehmenden Systems aufgefaßt; vgl. dazu Kanizsa, Luccio, Prägnanz 1986,99; Metzger, Psychologie 1975; ders., Sehen 1975. Wenn die Existenz einer transphänomenalen Realität nicht als Ursache für die Ausbildung stabiler Ordnungszustände im Kognitiven herangezogen werden kann, so muß es sich um einen Prozeß spontaner Strukturierung, um eine "Ordnungsbildung ohne Ordner" handeln (siehe Kruse, Multistabilität 1988, 37). Aus dieser Schlußfolgerung heraus hat Köhler schon 1925 für die Gestaltbildung in erstaunlicher Detailliertheit einige Bausteine der Selbstorganisationstheorie vorweggenommen; vgl. Köhler, Gestaltprobleme 1925, 512; ders., Psychologie 1958; Koffka, Wahrnehmung 1931; Kruse, Roth, Stad1er, Ordnungsbildung 1988; Kruse, Stadler, Konstruktivismus 1987, 199; Stadler, Kruse, Gestalttheorie 1986, 75; Stadler, Wildgen, Ordnungsbildung 1987, 101; Roth, Gestaltwahrnehmung 1985,218; Eibl-Eibesfeldt, Mensch 1988,55; weitere Nachweise bei Kruse, Multistabilität 1988, 35, sowie Perls, Gestalt-Therapie 1989. 61 Umfassender Bericht bei Tomatis, Klang 1987. 62 Ebd. 55, und weiter: ,,Das menschliche Ohr nimmt also ein Schallereignis, gekennzeichnet durch Schwingungen, ihre Frequenz und Intensität, anders auf als ein Aufzeichnungsgerät: nämlich entsprechend den Reaktionen des vestibulo-cochleären Apparates (des Innenohres) und seiner Anhangsgebilde (Mittel- und Außenohr)". 63 Diese Aufgabe übernimmt die sog. Corti-Zelle, die erstmals 1851 von dem italienischen Anatom Alfonso Corti beschrieben wurde. Nach Tomatis handelt es sich bei dieser Zelle um ein "autonomes Gebilde" ganz im Sinn der autopoietischen Organisation; vgl. Tomatis, ebd. 94.

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Kap. I: Biologie der Kognition

b) Angeborenes Verhalten Erlerntes Verhalten ist erfahrungsdetenniniert. Wir sagten, daß es aus den Interaktionen zwischen Organismus und Medium hervorgeht. Der Organismus vollzieht beständig eine den Veränderungen des Mediums kompatible Veränderung seiner Struktur, die effektive Verhaltens synthesen ennöglicht. Nun beobachten wir jedoch bei Organismen einer gleichen Spezies Strukturen, die sich unabhängig von irgendeiner besonderen Interaktionsgeschichte entwikkeIn. Solche Strukturen werden genetisch detenniniert, und die dadurch ennöglichten Verhaltensweisen werden instinktiv genannt. 64 Das wenige Stunden nach der Geburt einsetzende Saugen an der Brust der Mutter ist nicht davon abhängig, wo der Säugling geboren wurde oder welche Handlungen die Mutter ausführt. 65 Andererseits zeigen die Berichte von sogenannten Wolfsmenschen 66 oder von hospitalisierten Kindern,67 daß sich selbst elementare Fähigkeiten, wie auf zwei Beinen zu laufen, nur in einem menschlichen Kontext entwickeln. Die zum Laufen benötigten Strukturen werden also in sozialen Interaktionen gelernt 68. Sie sind ontogenetisch erworben. 64 Instinktverhalten ist freilich im weitesten Sinne ebenfalls erlerntes oder besser erworbenes Verhalten; es wurde im Verlauf der Evolution erworben, d. h. die strukturelle Koppelung des Organismus an sein Medium erfolgte in der Phylogenese der Spezies und ist darum Resultat eines Entwicklungsprozesses; vgl. Maturana, Sprache 1985,253. 6S Auch bei diesen angeborenen Bewegungsmustern (z. B. Atmen, Laufen, Lidschlag, Husten etc.) bleibt der Sachverhalt der sensomotorischen Koordination bestehen. Die Funktion einer solchen Koordination erläutert Schmidt (Biomaschine 1979, 183) am Beispiel des Patellarreflexes: "Dieser Reflexkreis dient ... offensichtlich dazu, die Länge des Muskels (Musculus quadriceps) konstant zu halten. Er arbeitet also als ein LängenKontroll-System mit der besonderen Aufgabe, Änderungen in der Belastung des Muskels über eine Anpassung des aktiven Muskeltonus automatisch auszugleichen. Dieses Längen-Kontroll-System hält also eine einmal eingestellte GelenksteIlung automatisch konstant" (Hervorhebung W. K.). Wir haben diese invariante Korrelation oben am Beispiel des Verhaltens der Amöbe erläutert. Alle diese Beispiele zeigen ein fundamentales Prinzip der Funktion des Nervensystems, nämlich die Konstanthaltung von Relationen zwischen den Aktivitäten bestimmter sensorischer und motorischer Elemente innerhalb mehr oder weniger weiter Grenzen. Nur in dieser Leistung kann die integrative Funktion des Nervensystems überhaupt erblickt werden und damit auch seine Funktion im Prozeß der menschlichen Autopoiese. Die Entdeckung dieser Tatsache verdanken wir Erich von Holst (Koordination 1935, 149), sie wurde mittlerweile in vielen Untersuchungen bestätigt; vgl. Literatur bei Eibl-Eibesfeldt, Mensch 1988, 74. 66 Vgl. McLean, Wolf Children 1977. 67 Vgl. A. Freud, D. Burlingham, Kinder 1971. 68 Das gilt auch für den Erwerb der Sprachfahigkeit. Allerdings muß wohl die herrschende Lehrmeinung revidiert werden, wonach der Spracherwerb ab einem bestimmten Kindesalter unmöglich sei. Mecacci (Gehirn 1988, 37) berichtet von einem Mädchen, das erst ab dreizehneinhalb Jahren sprechen lernte. Man erklärt sich dieses Phänomen damit, daß in diesem Fall die rechte Hirnhälfte die Funktion der unterentwickelten linken Hirnhälfte übernommen hat. Kennzeichen für diese ,,Rechtshirner" ist, daß sie die einzelnen Wörter besser beherrschen als die syntaktischen Regeln, daß sie den Sinn eines Satzes besser erfassen als die grammatische Konstruktion. Das liegt wohl daran, daß die rechte Hemisphäre darauf spezialisiert ist, den emotionalen Gehalt der Worte zu erfassen; hierzu weitere Beispiele bei Sacks, Verwechselte Frau 1987.

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Worin liegt nun aber der Unterschied zwischen angeborenem und erlerntem Verhalten? Beide Verhaltensweisen resultieren aus der Dynamik der Zustände des Organismus. Infolgedessen unterscheiden sie sich nicht hinsichtlich ihrer Natur und ihrer Verwirklichung. Wir können Verhalten nicht ansehen, ob es angeboren oder erlernt ist. Deshalb besteht der relevante Unterschied allein in der Geschichte der Strukturen, die das jeweilige Verhalten möglich machen. Dies ist ein bedeutsames Ergebnis der von Maturana erarbeiteten biologischen Lerntheorie. Denn nach üblichem Verständnis suchte man die Unterscheidung zwischen instinktivem und erworbenem Verhalten in den Konfigurationen des Verhaltens selbst. Das konnte zu keiner präzisierenden Unterscheidung führen, da das Beobachten des Operierens des Nervensystems keine entsprechenden Differenzierungen erlaubt. Soweit wir jedoch zu den Entstehungsbedingungen und Entstehungsmöglichkeiten bestimmter Strukturen Zugang haben, läßt sich Verhalten als angeboren oder erlernt klassifizieren. 69 Es ist für die späteren Erörterungen wichtig festzuhalten, daß wir Lernen als einen strukturdeterminierten Prozeß begreifen, in dem nichts entstehen kann, was nicht in einen Zusammenhang mit vorausgegangenen Erfahrungen gebracht werden kann. Willkürliches ("freies") Handeln ist in diesen Zusammenhang eingespannt. Es konstituiert sich in der kognitiven Wirklichkeit und nicht in einem kognitiven Vakuum. Das gilt ebenso für den Begriff Wille wie für den Begriff Freiheit. c) Kognitives Verhalten

Lebewesen existieren in einer Umgebung, mit der sie interagieren. Aber sowohl dem Organismus wie auch dem Milieu sind nur solche Interaktionen möglich, die durch ihre jeweilige Organisation vorgeschrieben sind. Beide bewahren ihre Autonomie, indem sie sich gemeinsam in kongruenter Weise verändern. Man kann diesen Prozeß als eine Koevolution struktureller Koppelungen bezeichnen. 70 69 Die Entstehungsbedingungen können nur indirekt entschlüsselt werden. z. B. lehrt uns die Untersuchung taub und blind geborener Kinder, daß bestimmte mimische Ausdrucksbewegungen wie das Lächeln, Lachen und Weinen auch bei diesen Kindern heranreifen, die dergleichen nie am sozialen Modell wahrnehmen konnten. Das deckt sich mit der..Tatsache, daß die menschliche Mimik über die Kulturen hinweg eine erstaunliche Ahnlichkeit aufweist. Ebenso gibt es transkulturelle Vorprogrammierungen in der Wahrnehmung des Raumes und der Zeit (siehe Eibl-Eibesfeldt, Mensch 1988, 72). So hat Pöppel (Bewußtsein 1984) nachgewiesen, daß wir das ,,Jetzt" in 3-SekundenEinheiten erleben. Wäre dieser Moment langsamer, würden wir die Gräser wachsen sehen; wäre er schneller, könnten wir den Flügelschlägen einer Fliege folgen. Es scheint ferner, daß auch die menschliche Lebensdauer das Bild von der Welt begrenzt. Nach Dawkins (Watchmaker 1987) haben wir keinen Sinn für Ereignisse, die nach Wahrscheinlichkeit seltener eintreten als einmal pro Menschenleben. 70 Aus diesem Grunde ist Lernen ein Prozeß, der im Leben entsteht, aber nicht darin besteht, die Welt einzufangen. "Lernen besteht vielmehr darin, sich mit der Welt zu verändern, und wenn daran ein Nervensystem beteiligt ist, dann erscheint dieses Sichmit-der-Welt-verändern als Verhaltensänderung, die aus den Veränderungen sensomotorischer Korrelationen entsteht ... " (Maturana, Lernen 1983,70). Zum Konzept der KoEvolution, in der therapeutischen Praxis, das dem Kontrollkonzept gegenübersteht, vgl.

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Kap. I: Biologie der Kognition

Dabei verwirklichen autopoietische Systeme ihre ihnen eigene Struktur desto ausgeprägter, je unabhängiger sie von der "nährenden" Umwelt sind, je mehr Freiheitsgrade sie besitzen. Erich Jantsch nennt diese in systemischen Strukturen auffmdbare Autonomie ein "optimistisches Prinzip, an dem wir im komplexeren menschlichen Bereich immer wieder verzweifeln: Je mehr Freiheit in Selbstorganisation, desto mehr Ordnung!"7l Wir haben diesen Gedanken beim Thema des Homöostasebegriffes diskutiert, wo wir hinsichtlich systemischer Strukturen die Vorstellung eines Gleichgewichts durch das universale Prinzip der "Ordnung durch Fluktuation" ersetzt haben. Die Autonomie lebender Systeme verdankt sich der Selbstreferentialität ihrer zirkulären Organisation. Um sich selbst zu erhalten und zu erneuern, benötigen sie nichts als ein selbstbezügliches Wissen. 72 Wir haben mehrmals erwähnt, daß die Zelle "weiß", was sie zu importieren und was sie zu exportieren hat, um zu überleben. In diesem Sinne besitzen bereits Makro-Moleküle, ja sogar chemische Reaktionssysteme kognitive Qualitäten. Es ist ihnen durchaus nicht abzusprechen, daß sie ein "Wissen" darüber speichern, wie sie sich zu verhalten haben, um ihre Existenz durch Bewahrung ihrer Organisation zu erhalten. Mit einigem Recht kann folglich dieses "Wissen" für eine primitive Form von Bewußtsein gehalten werden. 73 Maturana ist von dieser Erkenntnis nicht weit entfernt, wenn er die Rückkoppelungsbeziehungen eines autopoietischen Systems zu seiner Umwelt als dessen "Kognitionsbereich "und das tatsächliche Verhalten in diesem Bereich als kognitiv bezeichnet. 74 Daher entsprechen Interaktionsbereich und Kognitionsbereich einander insofern, als jedes Verhalten lebender Systeme ein Ausschnitt ihrer Interaktionsbereiche und zugleich ein Element des kognitiven Prozesses ist. Leben Boeckhorst, Familientherapie 1988; Willi, Ko-Evolution 1987; Boscolo u. a., Familientherapie 1988. . 71 Jantsch, Selbstorganisation 1986, 75. 72 Eine solche Autonomie erscheint Jantsch (ebd. 75) "als Ausdruck einer grundlegenden gegenseitigen Entsprechung von Struktur und Funktion, die eines der tiefsten Gesetze der Selbstorganisation darstellt: Die sich spontan bildende Struktur entspricht ihrer Funktion (den inneren und äußeren Prozessen der Struktur) und umgekehrt. Es ist diese mehr oder weniger freie Forrnbarkeit, die der Möglichkeit zugrunde liegt, eine echt autopoietische, auf sich selbst bezogene Balance auf der einen Seite, aber auch Koevolution auf der anderen zu erreichen ... Komplementarität von Struktur und Funktion kann ganz allgemein als Ausdruck von Prozeßdenken angesehen werden: Definierte räumliche St:ruktuTen ergeben sich aus den Wechselbeziehungen von Prozessen in einern bestimmten dynamischen Regime". 73 Nach Ken Wilber (Erkenntnis 1988, 100) führt ein derartiger allseitiger Ansatz zu einer breitgefächerten Landkarte des Bewußtseins, die sich von materiellen und sensorischen Stufen über geistige und verbale Stufen bis hin zu transzendentalen und spirituellen Stufen erstreckt. In der Sprache von Bateson (im Anschluß an Jung und die Gnostiker) handelt es sich bei Bewußtseinsphänomenen allgemein um die Welt des Lebendigen, der creatura, die der Welt des Unbelebten, der pleroma. gegenübersteht; vgl. hierzu Geist 1984, 14; siehe auch Grof, Weisheit 1986, 26; ders., Unbewußtes 1988,466. 74 Maturana, Kognitive Strategien 1985, 301.

III. Prozesse des Erkennens

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und Erkennen werden so ineins gesetzt: ,,Lebende Systeme sind kognitive Systeme, und Leben als Prozeß ist ein Prozeß der Kognition."75 Autopoietische Aktivität erzeugt als Begleiterscheinung mithin in einem geschlossenen Interaktionsbereich ein Verhaltensfeld, dessen Funktion der Selbsterhaltung dient. Jede Interaktion eines Organismus kann aus dieser Sicht als eine kognitive Handlung bewertet werden. Denn eine kognitive Handlung ist nichts anderes als ein effektives Verhalten, das ein Beobachter als Antwort auf seine Frage wahrnimmt. 76 Inwiefern das Nervensystem an den kognitiven Dimensionen des Verhaltens beteiligt ist, haben wir beispielhaft an der neuronalen Struktur der Hydra und des visuellen Systems illustriert. Fassen wir die beiden wichtigsten Funktionen des Nervensystems, die sich aus der Geschlossenheit seines neuronalen Netzwerkes ergeben, zusammen. Es handelt sich um die gewaltige Ausdehnung zweier Interaktionsbereiche. Zum einen werden durch das Nervensystem die internen Zustände des Organismus erweitert. Sie ergeben sich aus der Vielfalt sensomotorischer Korrelationen und bedingen entscheidend die Arbeitsweise des Organismus. Komplementär zur internen Steigerung der Differenzierungsleistung nimmt die Mannigfaltigkeit der externen Interaktionen zu. Für den Organismus eröffnen sich mit der Zunahme interner Zustände neue Dimensionen struktureller Koppelung. Solche neuartigen Koppelungen entstehen dann, wenn die Interaktionen zwischen den Organismen zirkulären Charakter annehmen. Das führt bei Lebewesen mit derart reichem Nervensystem wie bei Menschen nicht nur zur Entstehung sozialer Phänomene, sondern letztlich zur Herausbildung einzigartiger Dimensionen wie der Sprache und des Selbstbewußtseins. 77 Im nächsten Kapitel sollen diese Phänomene einschließlich ihrer affektiven Komponenten unter der Überschrift Kognitionspsychologie im Vordergrund stehen. 75 Maturana, Kognition 1985,39. 76 Ob also Erkenntnis vorliegt oder nicht, steht immer in einem relationalen Kontext, den wir durch unsere Erwartungen abstecken. Es steht uns demnach frei, das gesamte beobachtete Verhalten eines Organismus als eine kognitive Handlung zu bewerten. Das umso mehr, als der Erkennende im kognitiven Akt, gewissermaßen wie der Zauberer aus seinem Hut, "eine Welt hervorbringt". Maturana und Varela verwenden dafür im Spanischen den Ausdruck: traer a la mano, "auf die Hand bringen" (engl.: to bring forth). Läßt man den zirkulären Zusammenhang von Handlung und Erfahrung gelten, dann ist tatsächlich ,jedes Tun ein Erkennen, und jedes Erkennen ein effektives Tun im Existieren als Lebewesen", Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 191. 77 Schon hier sei darauf hingewiesen, daß - wie Ota Weinberger gezeigt hat (Praxis 1987, l37) - auch der Standpunkt der Humanethologie funktionale Zusammenhänge zwischen Erkennen, Wollen, Denken und Handeln voraussetzt: "Vom ethologischen Standpunkt aus läßt sich nicht daran zweifeln, daß Handlungsfähigkeit ein wesentliches Charakteristikum des Menschen ist, und daß sich diese Fähigkeit nur herausbilden konnte in einem Zusammenspiel zwischen der Erkenntnisfähigkeit und der Fähigkeit zur Verarbeitung handlungsbestimmender Informationen und der Fähigkeit des rationalen Denkens." Freilich erscheint in der ethologischen Perspektive - anders als im konstruktivistischen Ansatz - der Begriff der Handlung als "informationsabhängiges" Verhalten, mithin einem subjektunabhängigen Realitätsverständnis verpflichtet (das zeigt sich z. B. an Weinbergers Instinktbegriff; vgl. Praxis 1987, 139).

Kapitel 2

Psychologie der Kognition I. Denken 1. Operieren in reinen Relationen Zuletzt war der kognitive Bereich des Organismus als dessen gesamter Interaktionsbereich beschrieben worden. Wir sagten des weiteren, daß der kognitive Bereich vergrößert wird, wenn neue Interaktionsformen erzeugt werden. Eben diese Erweiterung geschieht durch das Nervensystem, das sich zu einem Instrument für die Unterscheidung interner sowie externer Relationen spezialisiert hat. Die Relationen sind in den Zuständen neuronaler Aktivität verkörpert und repräsentieren vom Standpunkt des Beobachters aus Interaktionen. Mit jeder Interaktion werden neue Relationen erzeugt, die sich in neuen Aktivitätszuständen verkörpern. So konstituieren die Veränderungen, die ein Organismus im Prozeß der Erhaltung seiner Autopoiese erfahrt, sein Verhalten. Wenn wir uns den Phänomenen des Denkens und des Sprechens zuwenden, müssen wir einen besonderen Operationsmodus des Nervensystems in Betracht ziehen. Es ist ihm nämlich möglich, seine internen Zustände nicht nur durch physikalische Ereignisse, sondern auch durch" reine Relationen" zu verändern. 1 Das Nervensystem vermag mit seinen eigenen internen Zuständen so zu interagieren, als ob diese von ihm unabhängige Gegenstände wären. 2 Es bedarf also keiner Veränderung durch physikalische Interaktionen, wie dies etwa bei Reflexhandlungen der Fall ist. Dort kann eine Kette nervöser Interaktionen verfolgt werden, die mit einem spezifischen Aktivitätszustand an den sensorischen Oberflächen 1 Man muß sich das so vorstellen, daß jede Erregungsübertragung durch Impulse vieler miteinander gekoppelter Neurone in allen mit diesen axonal gekoppelten Neuronen Spuren hinterlassen, die wieder den Ausschlag für Impulsabgaben geben können usw., so daß sich gegenseitig vielfach überlagernde Erregungs-Prozeß-Strukturen ergeben, die ihrerseits andere Erregungs-Prozeß-Strukturen auslösen und von anderen solchen Strukturen ausgelöst werden können. Prozesse dieser Art kennzeichnet Maturana als Interaktionen des Nervensystems mit ,,reinen" Relationen, wobei sich die Relationalität der Interaktionen auf die Funktionsweise von Nervenzellen gründet, nämlich darauf, daß die Abgabe eines neuronalen Impulses stets eine "Verkörperung" der relativen Aktivität vieler anderer Neuronen bedeutet; vgl. Maturana, Kognition 1985,39; Rusch, Erkenntnis 1987, 88. 2 Es schafft damit das scheinbare Paradox, seinen kognitiven Bereich innerhalb seines kognitiven Bereiches zu enthalten. In uns selbst - so Maturana, ebd. 39, - wird dieses Paradox aufgelöst durch das, was wir ,,Denken" nennen, also durch eine weitere Ausdehnung des kognitiven Bereiches.

1. Denken

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einsetzt. Anders im Falle der Ausdehnung der kognitiven Aktivität in den Bereich der ,,reinen Relationen": Die Kette nervöser Aktivität setzt hier mit einem bestimmten Aktivitätszustand des Nervensystems selbst ein. Maturana ist nun der Auffassung, daß die neuro-physiologische Fähigkeit des Nervensystems, mit seinen eigenen internen Zuständen zu interagieren, die Grundlage für das darstellt, was wir "abstraktes Denken" nennen. 3 Es befähigt die Organismen zu Abbildungen ihrer eigenen Interaktionen, was nicht notwendigerweise in sprachlichen Äußerungen geschehen muß.4 Denken spiegelt die interne anatomische Projektion des Nervensystems wider. Es entsteht, wie gesagt, aus der Fähigkeit des Nervensystems, unterscheidend mit seinen eigenen Zuständen in einem kontinuierlichen Prozeß der Selbsttransformation zu interagieren. Ein solcher Organismus ist zu Beschreibungen fähig und damit imstande, ein Beobachter zu sein. 5 Lernt der Beobachter sich selbst zu beschreiben, so entsteht ein unabhängiger Interaktionsbereich: der Bereich des Ich-Bewußtseins. Da Beobachter und Selbstbeobachter gesprochene Beschreibungen ihres kognitiven Bereiches erzeugen, ist es ihnen unmöglich, aus dem geschlossenen Bereich sprachlicher Äußerungen hinauszutreten. 6 3 "Denken" ist nach Ciompi (Außenwelt, Innenwelt 1988, 144) das Resultat der hirnphysiologisch bedingten stufenweisen Abstraktion von "Information". Er bezieht sich dabei auf die von Popper, Eccles (Gehirn 1987, 323) beschriebenen neuronalen Vorgänge im Sehtrakt: "Schon im nervösen System der Retina beginnt die Abstraktion aus dem reich gemusterten Mosaik von Antworten der retinalen Rezeptoreinheiten in Musterelernente, die bestimmte Konfigurationen darstellen, und diese Abstraktion setzt sich in den vielen nachfolgenden Stadien fort, die nun in den visuellen Gehirnzentren erkannt worden sind". Man kann sich unschwer vorstellen, daß speziell beim Menschen durch die "Verdrahtungen" von Milliarden hinter- und nebeneinandergeschalteten Neuronen eine maximale Komplexität und damit Transformationsfähigkeit von ursprünglichen "Ereignissen" in Abstraktionen erreicht wird. Daraus zieht Ciompi eine interessante Schlußfolgerung: "Im selben Maße, wie solche Verdichtungen geschehen, entsteht deshalb etwas, das wir zumindest in einem weiten Sinn als ,psychisch' und schließlich eindeutig als ,geistig' bezeichnen müssen: Es bleibt sozusagen bloß noch ein Schatten, ein ,Destillat', buchstäblich ein ,Geist' des ursprünglichen, konkreten Geschehens ... übrig. Dieser ,Schatten' nun stellt in seinem Wesen etwas typisch Abstraktes und damit ,Geistiges', nämlich ein relationales Gebilde dar: Es handelt sich um eine immaterielle Gestalt und Ganzheit, die dann ihrerseits mit weiteren solchen Ganzheiten verglichen und in Beziehung gesetzt werden kann. Derartige internale Prozesse aber bezeichnen wir beim Menschen als Denken", (Außenwelt, Innenwelt 1988,144). Demnach wäre das Geistige im Unterschied zu materiellen Ereignissen durch das Verhältnis zwischen solchen Ereignissen, durch ein relationales Gebilde definiert. 4 Daß der Denkprozeß unabhängig von Sprache ist, wird aus Beobachtungen von Menschen mit getrennten Hirnhemisphären klar. Diese Beobachtungen zeigen, daß auch in der sprachfreien Hemisphäre Operationen ablaufen, die als abstraktes Denken bezeichnet werden können; siehe Restak, Gehirn 1988,217. 5 Zum Beobachterkonzept vgl. Maturana, Kognition 1985,63. 6 Das folgt daraus, daß jede Beschreibung des Beobachters einer Menge von Zuständen relativer Aktivität in seinem Nervensystem entspricht. Aus diesem Grunde kann Maturana folgende oft zitierte Feststellung treffen: ,,Die Logik der Beschreibungen ist die Logik des beschreibenden (lebenden) Systems und seines kognitiven Bereiches", Kognition 1985,64. Dazu aus philosophischer Sicht Krüger, Selbst 1990, 150.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

Will man daher das Phänomen des Bewußtseins begreifen, so muß man es aus kognitivistischer Sicht als Teilbereich sprachlichen Verhaltens analysieren. Zu diesem Zwecke ist es erforderlich, die Evolution der Sprache zu untersuchen und diese aus ihrer sozialen Funktion heraus zu begreifen. Denn die Ausdehnung des kognitiven Bereiches in den Bereich der ,,reinen Relationen" erlaubt insbesondere nicht-physikalische Interaktionen zwischen Organismen. Hierin liegt die biologische Basis der Kommunikation, deren bevorzugtes Mittel beim Menschen die Sprache ist. 2. Sprache

a) Konsensuelles Handeln Über die Entwicklungsgeschichte der Sprache lassen sich nur Spekulationen anstellen. 7 Sprachliche Äußerungen hinterlassen keine Fossilien. Aber aus den Veränderungen des Skeletts sind Rückschlüsse auf Körperhaltung und Bewegung, auf Gesichtsausdruck und Stimmbildung, auf Größe und Gestalt des Gehirns möglich. Deshalb lassen sich ansatzweise jene Lebensmodi rekonstruieren, die im Laufe der Evolution zu sprachlichen Bereichen führten. Über den "Ursprung" der Sprache im Sinne eines Ausgangsereignisses für die Evolution menschlichen Sprechens ist damit nichts gesagt.8 Wir setzen die physiologischen Strukturen, die Geräusche produzieren, als vorhanden voraus. Mit einiger Gewißheit ist zu vermuten, daß das Erscheinen der Sprache bei den frühen Hominiden mit ihrer Geschichte als soziale Wesen zusammenhängt. Sie lebten in kleinen, engverbundenen Gruppen von Individuen, die ihre Nahrung teilten, und die sich andererseits über längere Zeit trennten, wenn sie ihre Nahrung suchten. 9 Wie ist unter diesen Umständen die Gruppe in emotionaler Verbundenheit zu erhalten, ohne daß physische Interaktionen notwendig sind? Bei den sozialen Insekten etwa bleibt die Gruppe als Einheit durch einen ständigen chemischen Austausch (Tropholaxis) bestehen. Die Tiere bieten sich beim Zusammentreffen gegenseitig den Mageninhalt an und verteilen so über die ganze Population gewisse Stoffe, die für das hormonelle Gleichgewicht der 7 Vgl. Lenneberg, Sprache 1972,278; Chomsky, Regeln 1981, 187; Hörmann,Meinen 1976,339; Müller, Sprache 1987,93; Gazzaniga, Gehirn 1989,61, 145, 176. 8 E. v. Glasersfeld (Sprache 1987,63) unterscheidet zwischen Ursprung und Evolution der Sprache. Als "Ursprung" bezeichnet er ein Ereignis oder einen Sachverhalt, der als Ausgangspunkt für die ,,Evolution menschlichen Sprechens" anzusehen ist. Es muß also zuvor das Rohmaterial - etwa die physiologische Fähigkeit, Geräusche zu produzieren - gegeben haben, an das sich jene Veränderung anschloß, die wir heute "Sprechen" nennen. 9 Zu den frühen Sammlern und Jägern vgl. die Darstellung bei Eder, Entstehung 1980,39; ders. Vergesellschaftung 1988,46,73, 176; Wesel, Früh/ormen 1985; Lüth, Mensch 1981, 280; Sigrist, Anarchie 1979.

I. Denken

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Mitglieder verantwortlich sind. \0 Dies bedeutet eine chemische Verhaltenskoppelung, die das gemeinsame Existieren sichert. Auch nur kurzzeitige Trennung von dem ständigen Fluß von Absonderungen würde keines der Tiere überleben. Infolgedessen ist die Ontogenese jedes Tieres abhängig von den Ontogenesen der anderen. Wir haben es mit einer strukturellen Koppelung zu tun, die nur entstehen konnte, weil die Interaktionen zwischen den Organismen einen rekursiven Charakter angenommen haben. 11 Es liegt nun die Vermutung nahe, daß bei den Hominiden die Sprache die Funktion der chemischen Tropholaxis übernommen hat. 12 Sie erlaubt ungleich mehr Rekursionen in der Koordination sozialer Handlungen. Ihre Funktion besteht in der Verknüpfung aufeinander bezogener Tätigkeiten. Ihre Evolution erscheint somit als Resultat kooperativer Handlungen, die durch Veränderungen im strukturellen Aufbau der Hominiden möglich wurden. \3 Zu den wichtigsten Skelettveränderungen zählen der aufrechte Gang, die Gegenüberstellung von Daumen und Zeigefmger sowie das Gebiß eines Allesfressers. 14 Die anatomischen Züge zeigen \0 Darüber hinaus ist dieser chemische Austausch auch für die Differenzierung und Spezifizierung der Rollen verantwortlich. So ist erstaunlicherweise die Königin nicht genetisch als solche festgelegt, sondern dadurch, daß sie auf eine bestimmte Weise ernährt wird. Entfernt man die Königin, führt das durch ihre Abwesenheit verursachte hormonelle Ungleichgewicht sofort zu einer anderen Ernährung einiger Larven, die sich daraufhin zu Königinnen entwickeln; vgl. Maturana, Varela, Erkenntnis 1987,202. 11 Bei Säugetieren kann eine solche Koordination auch durch die Form einer visuellen, auditiven oder anderen Interaktion zustandekommen. Bei Antilopen z. B. wird eine soziale Koppelung sichtbar, wenn sie gestört werden: Die Herde flieht in einer Formation mit einem dominanten Männchen an der Spitze, gefolgt von den Weibchen und den Jungtieren. Den Schluß bilden andere Männchen, von denen eines zurückbleibt, um den Störenfried im Auge zu behalten. Sind die übrigen Tiere in Sicherheit, schließt das zurückgebliebene Tier zu ihnen auf. Hier wird deutlich, daß solche Koppelungen den Tieren erlauben, an Aktivitäten teilzunehmen, die nur aus der Koordination des Verhaltens von ansonsten unabhängigen Individuen entstehen. Soziale Interaktionen dieser Art nennen Maturana und Varela (ebd. 196) "strukturelle Koppelungen dritter Ordnung". Diese variieren von den Insekten bis zu den Wirbeltieren oder den Primaten sehr stark. Gemeinsam ist ihnen aber das Phänomen, daß die beteiligten Organismen ihre individuellen Ontogenesen als Teil eines Netzwerkes von Ko-Ontogenesen verwirklichen. 12 Diese sprachliche Koppelung nennen Maturana und Varela (ebd. 236) in Anlehnung an die Tropholaxis "Linguolaxis". \3 Obwohl die Abstammungslinie der Hominiden weit über 15 - 20 Millionen Jahre alt ist, lassen die fossilen Funde erkennen, daß sich die strukturellen Merkmale des heutigen Menschen erst vor etwa zwei bis drei Millionen Jahren konsolidiert haben; vgl. hierzu Oeser, Seitelberger, Gehirn 1988, 54. 14 Mit der Aufrichtung des Körpers wurden die Arme von der Aufgabe der Fortbewegung entlastet und damit frei für das Greifen und Zubereiten von Nahrung sowie für die Erzeugung von Werkzeugen. In Verbindung damit verloren der Mund und das Gesicht wichtige Freßfunktionen, sie wurden für die kommunikativen Funktionen des mimischen Ausdrucks und der Sprache verfügbar gemacht. Zweifellos übte diese Erschließung neuer Tätigkeitsbereiche für Hand und Gesicht mit einer riesigen Anzahl von Betätigungsmöglichkeiten einen gewaltigen selektiven Druck aus, unter dem sich das Hirngewicht der Hominiden in relativ kurzer Zeit vervierfachte; siehe dazu Oeser, Seitelberger, ebd. 55.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

weiterhin, daß Frau und Mann durch eine ständige, nicht saisonbedingte Sexualität aneinander gebunden und zu frontalem Koitus fähig waren. Somit muß ihr SexualIeben sprachliche Interaktionen über den Gesichtsausdruck einbezogen haben. Fürsorge für die Jungen, Beutefang und Verteidigung gegen Räuber, all dies führt über Rückkoppelungsschleifen zur Ausbildung einer neuen Funktion, zu einer Biologie der Kooperation und schließlich zur sprachlichen Koordination von Handlungen. Auch wenn weitere Untersuchungen die Skizze der sprachlichen Evolution um viele Details anreichern werden, so ist doch sehr wahrscheinlich, daß sich sprachliches Verhalten in Situationen entwickelt, in denen Kooperation eine Art der Organisation im Sinne einer Arbeitsteilung erfordert. 15 Sprache wäre somit eine besondere Weise des Handeins, der eine Schlüsselrolle bei der rekursiven Koordination sozialer Handlungen zufällt. Sprache wäre hiernach, was ihre evolutionären Anfänge anbetrifft, kein Instrument der Reflexion. 16 Sobald Sprache jedoch einmal entwickelt ist, nimmt sie rasch die Funktion eines "Instruments der Reflexion" an und suggeriert die irrige Ansicht, Sprache und Denken seien identisch. Demgegenüber ist festzuhalten, daß Sprechen eine Weise des kommunikativen Handeins ist, deren Funktion in der Koordination sozialer Interaktionen besteht.

b) Beschreibendes Handeln Bei uns Menschen beruht, wie wir gesehen haben, die Kohäsion der sozialen Einheit auf einem sprachlichen Bereich, der aus der Koordination von Handlungen entsteht. Insofern ist der sprachliche Bereich ein Bereich konsensuellen Verhaltens. 17 Dieser ergibt sich aus der wechselseitigen ontogenetischen Strukturenkoppelung von Organismen, die in rekursiver Weise als strukturell plastische Systeme 15 Malinowski (zit. bei v. Glasersfeld, Sprache 1987,71) gibt eine Reihe von Beispielen für den Charakter der Sprache als Instrument und Werkzeug bei der Verknüpfung aufeinander bezogener Tätigkeiten. Die Fischer auf den Trobriand-Inseln benutzen große Netze, die von mehreren Männern in mehreren Kanus ausgeworfen werden müssen. Diese Tätigkeit muß koordiniert und synchronisiert werden. Da die Hände der Männer beschäftigt sind, haben sie keine andere Möglichkeit, als mit Laut-Signalen zu kommunizieren. Ohne diese kommunikative Fähigkeit hätte zweifellos diese Art der organisierten Tätigkeit nicht entwickelt werden können. Dazu stellt v. Glasersfeld vorsichtig fest: "Aufgrund dieser Tatsachen können wir vorläufig festhalten, daß sich kommunikatives Verhalten in Situationen entwickeln könnte, in denen Kooperation nicht bloß die additive Aktivität mehrerer Individuen, sondern eine Art der Reihenfolge oder Organisation im Sinne einer Arbeitsteilung erfordert". 16 Daß Sprache aus der Handlung zwischen Menschen hervorgeht, präzisiert die Entwicklungspsychologie: Das Kind lernt das Kennen aus dem Können zu differenzieren (vgl. Piaget, Inhelder, Kind 1987, 48). Von daher ist es folgerichtig, die Sprache als "verwendete Sprache", als "zielgerichtete Handlung" (Hörmann, Meinen 1976,497), als "Sprechakt" (Searle, Sprechakte 1971) zu begreifen. So auch Weinberger: "Das Handeln hat eine solche Struktur, die auch kooperatives Handeln und kollektives Handeln umfaßt ... " (Praxis 1987, 138). 17 Maturana, Sprache 1985,255.

I. Denken

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interagieren. In solch reziproken Interaktionen wird jeder Organismus zum Medium der Verwirklichung der Autopoiese des anderen. Es findet zwischen ihnen eine gegenseitige Auslösung von Zustandsveränderungen gemäß ihrer jeweiligen Strukturdeterminiertheit statt. Die dabei auftretenden Verhaltensweisen sind kommunikativ und im Falle sprachlichen Verhaltens in individueller Ontogenese erlernt. 18 Für das Folgende ist somit die Überlegung zentral, daß Sprechen wie jegliches Verhalten strukturdeterminiert ist und sich der Dynamik ko-ontogenetischer Koppelungen verdankt. Hieraus sind Konsequenzen für unser Verständnis des Sprachgebrauchs zu ziehen. Wörter können jedenfalls nicht länger als Bezeichnungen von Objekten oder Situationen in der Welt verstanden werden. Sie fertigen keine Beschreibung von Dingen, wie sie "wirklich" sind. Wörter haben eine operative Relevanz. indem sie Verhalten koordinieren. So koordiniert das Wort "Tasse" Handlungen, die wir ausführen, wenn wir mit einer "Tasse" umgehen. Gewöhnlich verschleiert uns der Begriff die Handlungen, die den Begriff konstituieren, indem sie ihn durch Unterscheidungen hervorbringen. 19 Die Koordination von Handlungen geschieht also durch sprachliche Unterscheidungen. Wenn wir sprechen, treffen wir eine sprachliche Unterscheidung einer sprachlichen Unterscheidung. Dadurch entstehen dann auch Objekte als derartige Unterscheidungen. 20 In ihnen sind die Handlungen, die sie koordinieren, 18 Die Definition für Kommunikation lautet demnach: "Als kommunikatives Verhalten bezeichnen wir als Beobachter solches Verhalten, das im Rahmen sozialer Koppelung auftritt" (Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 210). Kommunikation unterscheidet sich von anderem Verhalten also allein dadurch, daß sie im Bereich sozialen Verhaltens auftritt. Zur Definition der Kommunikation bei Luhmann vgl. krit. Kargi, Gesellschaft. 1990 b; ders. Kommunikation 1990 a; Krüger, Selbst 1990, 156. 19 Dazu trägt eine besondere Eigenschaft der indoeuropäischen Sprachen bei: die Nominalisierung. Es handelt sich dabei um einen sprachlichen Prozeß, durch den man Verben in Substantive verwandelt. Auf diese Weise ermöglicht es die Sprache, Handlungen oder Vorgänge in Dinge, in "Wirklichkeit", in Fakten, in "Materielles" zu verwandeln. Elkin (Piaget 1958) merkt aus entwicklungspsychologischer Sicht dazu an: "Wenn einmal ein Begriff konstruiert ist, wird er sogleich objektiviert, so daß das Subjekt ihn als eine wahrnehmungsmäßige Eigenschaft des Objekts betrachtet, unabhängig vom Denken des Subjekts. Die Tendenz geistiger Aktivitäten, automatisch zu werden, und die Tatsache, daß ihre Ergebnisse als dem Subjekt äußerlich empfunden werden, führen zu der Überzeugung, daß es eine Wirklichkeit gibt, die unabhängig vom Denken existiert". Und man muß ergänzen, Denken existiert nicht unabhängig von Handeln. Diese Korrespondenz von Handeln und Denken kommt in der lateinischen Wurzel des Wortes Faktum gut zum Ausdruck. Facere heißt tun oder machen. Also ist im Englischen und Lateinischen ein Faktum etwas, das gemacht ist. Im Deutschen wird diese Korrespondenz ganz unv~rblümt durch das Wort "Tat-Sache" ausgedrückt, vgl. hierzu Segal, Erfindung 1988,56. 20 Genauer gesagt, entstehen Ideen von Objekten. Denn - wie Bateson (Geist 1984, 122) betont - Unterschiede sind ihrer Natur nach Beziehungen und daher nicht in der Zeit oder im Raum lokalisiert: "Wir sagen, daß der weiße Fleck ,dort', ,in der Mitte der Tafel' ist, aber der Unterschied zwischen dem Fleck und der Tafel ist nicht ,dort'. Er ist nicht in dem Fleck; er ist nicht in der Tafel; er ist nicht in dem Raum zwischen der Kreide und der Tafel. Ich könnte die Kreide von der Tafel abheben und sie nach Australien

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

nicht wiederzuerkennen. Infolgedessen muß einen die mangelnde Ähnlichkeit zwischen sprachlichem Verhalten und der Aktivität, die dadurch koordiniert wird, nicht verwundern. Die Form, die die Verhaltenskoordination annimmt, ist nicht relevant. Wesentlich für den sprachlichen Bereich ist, daß er Verhalten abzustimmen vermag, indem er in einer prinzipiell unendlich rekursiven Weise Beschreibungen von Beschreibungen hervorbringt. 21 Allein diese Interpretation entspricht unserem Verständnis von einem Nervensystem, das nicht mit Repräsentationen einer unabhängigen Welt arbeitet. Wir leben vielmehr in einer gemeinsamen Welt, soweit wir sie durch unsere sprachlichen Handlungen miteinander aufgebaut haben. Ohne eine ko-ontogenetische Geschichte von Interaktionen ist es unmöglich, an der menschlichen Gemeinsamkeit teilzuhaben. 22 Diese Erkenntnis wird verdunkelt, wenn die Sprache, wie dies herkömmlicherweise geschieht, als ein Werkzeug der Informationsübertragung begriffen wird. 23 Danach müßten Wörter den Verlauf der Interaktionen bestimmen. Danach müßten Daten oder Beschreibungen einer unabhängigen Außenwelt in einer Theorie Platz haben, die lebende Wesen als strukturdeterminiert betrachtet. Daß dies nicht der Fall ist, soll nachfolgend eine Skizze dessen belegen, was passiert, wenn zwei sprachmächtige Wesen interagieren.

schicken, aber dadurch würde der Unterschied nicht zerstört oder verschoben, weil der Unterschied keine Ortsbestimmung hat." Wir erinnern uns, daß Ciompi das Geistige überhaupt als ein relationales Gebilde defmiert hat. Als solches ist es unendlich, denn die Anzahl potentieller Unterschiede kann nicht begrenzt werden. Aber es ist an das erkennende Subjekt gebunden. Insofern hatte Bischof Berkeley mit der Behauptung recht, daß alles, was in einem Wald passiert, bedeutungslos bleibt, solange er nicht dabei ist, um davon beeinflußt zu werden (zit. Bateson, Geist 1984, 123). 21 Dies ermöglicht Phänomene wie Reflexion und Bewußtsein. Als Grundmerkmal der Sprache bezeichnen Maturana und Varela (Erkenntnis 1987,227), ..daß die Sprache dem, der damit operiert, die Beschreibung seiner selbst und der Umstände seiner Existenz erlaubt - und zwar mit Hilfe sprachlicher Unterscheidungen von sprachlichen Unterscheidungen" . 22 Man denke etwa an den Fall der zwei indischen Mädchen, die jahrelang mit einem Wolfsrudel gelebt hatten. Als sie im Alter von etwa acht und fünf Jahren gefunden wurden, sprachen sie nicht, hatten ausdruckslose Gesichter, aßen rohes Fleisch und wurden nachts aktiv. Sie lehnten menschlichen Kontakt ab und zogen die Gesellschaft von Hunden und Wölfen vor; vgl. McLean, Children 1977. 23 Das informationstheoretische Kommunikationsmodell (z. B. von Shannon, Weaver, Informationstheorie 1976) stellt allenfalls einen extremen Grenzfall menschlicher Kommunikation dar. Es setzt u. a. die Notwendigkeit eines gleichen Signalvorrates von Sender und Empfanger voraus. Damit bei Menschen ein entsprechender Zustand in kognitiven Systemen erreicht werden kann, müßte ihre vollkommen identische Entwicklung gewährleistet werden. ,,Notwendig wäre also eine genetische und individuenspezifische Uniformität, die, politisch gewendet, jede historisch bekannte Diktatur als Anarchie erscheinen lassen müßte" (Hejl, Selbstrejerentielle Systeme 1982,282). Allerdings ist das informationstheoretische Modell teilweise für jene Situationen anwendbar, in denen ein konsensueller Bereich sprachlichen Verhaltens bereits entwickelt ist. Es ist inadäquat sowohl zur Beschreibung der Entstehung als auch der Veränderung konsensuellen Verhaltens; vgl. hierzu Maturana, Information 1986,24.

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c) Orientierendes HandeLn

Es ist bisher gesagt worden, daß Wörter ontogenetisch festgelegte Koordinationen von Verhalten sind. Daraus ergibt sich, daß sie keine Informationen übertragen, die den Verlauf von Interaktionen determinieren. 24 Dennoch lösen sie im Adressaten Reaktionen aus, die sein Verhalten modifizieren. Maturana nennt diese Form des sprachlichen Handeins Orientierungsinteraktionen. 2S Er ist der Auffassung, daß sprachliche Interaktionen den Zuhörer innerhalb seines kognitiven Bereiches orientieren, nicht jedoch das darauf folgende Verhalten spezifizieren. 26 Folgerichtig erblickt er die Funktion der Sprache darin, konsensuelle Verhaltensbereiche im Zuge der Entwicklung eines kooperativen Interaktionsbereiches zu erzeugen. Wie muß man sich im einzelnen jenen Prozeß rekursiver Interaktionen vorstellen, der zur sprachlichen Verhaltenskoppelung und damit zu einem konsensuellen Bereich führt? Wir haben bereits oben im Zusammenhang mit der Struktur des autopoietischen Systems ausgeführt, daß konsensuelle Bereiche dadurch entstehen, daß die Strukturen der gekoppelten Einheiten solange aufeinander abgestimmt werden, bis eine strukturelle Kongruenz von Organismus und Medium resultiert. Maturana 27 schildert diesen langwierigen Anpassungsprozeß im Hinblick auf den Sprachbereich folgendermaßen: ,,In solcher Koppelung wird das autopoietische Verhalten eines Organismus A zu einer Deformationsursache für einen Organismus B, und das kompensatorische Verhalten des Organismus B wirkt seinerseits als Deformationsursache für den Organismus A, dessen kompensatorisches Verhalten wiederum als Deformationsursache auf Beinwirkt usw. rekursiv so lange, bis die Koppelung unterbrochen wird. Auf diese Weise entsteht eine Kette ineinander verzahnter Interaktionen, und obwohl das Verhalten jedes Organismus in jeder Interaktion hinsichtlich seiner Erzeugung vom Verhalten des anderen Organismus unabhängig ist, da es intern durch die Struktur des Organismus allein 24 Oeser und Seitelberger (Gehirn 1988, 44) halten demgegenüber daran fest, daß Nervensysteme biologische Systeme der Informationsverarbeitung sind, und werfen Maturana einen eigenwilligen Informationsbegriff vor. Umgekehrt ist es richtig. Maturana verwendet den Begriff, wie er im ursprünglichen Kontext der Kommunikationstechnik bei Shannon und Weaver gebraucht wurde. Danach bezieht sich ,,Information" auf eine Situation, die so entworfen und konstruiert ist, "daß eine Botschaft (a) zwischen zwei organisationeIl isomorphen und strukturell komplementären Systemen ausgetauscht werden kann, und daß (b) eine Botschaft aus einer Menge von Ereignissen, die beim Empfanger wie beim Sender identisch sind, eine Teilmenge von Ereignissen auswählt, die identisch ist mit der korrespondierenden Ereignisteilmenge beim Sender", Maturana, ebd. 24. Im Sinne der strikten Wortbedeutung meint ,,Information" also eine völlig spezifizierte Situation der Interaktion zwischen Systemen mit organisationeller Isomorphie und struktureller Komplementarität. Eine solche Beschreibung erfaßt nicht den Tatbestand, daß in biologischen Systemen Konsensualität dieser Art das Resultat aus phylogenetischen und ontogenetischen Interaktionsgeschichten ist. 2S Maturana, Kognition 1985, 53. 26 Auch Weinberger erblickt im handlungsbestimmenden Informationsprozeß ,,keine Ursache der Handlung, sondern die vorhandene Fähigkeit zur Aktivität wird durch den Informationsprozeß in gewisse Bahnen gelenkt" (Praxis 1987, 140). 27 Maturana, Sprache 1985,222.

6 Kargl

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bestimmt wird, ist es für den anderen Organismus, solange die Kette besteht, eine Quelle zu kompensierender Deformationen, die im Kontext des gekoppelten Verhaltens als "bedeutsam" beschrieben werden können. Es handelt sich dabei um kommunikative Interaktionen. Wenn die gekoppelten Organismen zu plastischem Verhalten befahigt sind, und ihre jeweiligen Strukturen durch kommunikative Interaktionen permanent modifiziert werden, konstituieren die einander entsprechenden Abfolgen der Strukturveränderungen zwei historisch ineinander verzahnte Prozesse der Ontogenese, die einen ineinandergreifenden konsensuellen Bereich des Verhaltens erzeugen. Ein derartig konsensueller Bereich kommunikativer Interaktionen, in dem die verhaltensmäßig gekoppelten Organismen einander durch Verhaltensweisen orientieren, deren interne Bestimmtheit in den gekoppelten Prozessen ihrer Ontogenese ausgebildet wurde, ist ein Sprachbereich." Die Entwicklung der Sprache erfordert also zumindest zwei interagierende Organismen mit vergleichbaren Interaktionsbereichen. Daraus kann sich ein kooperatives System konsensueller Interaktionen entwickeln, in dem das Verhalten der beiden Organismen für deren Autopoiese relevant ist. 28 Konsens ist dann erreicht, wenn das Verhalten jedes Organismus der Erhaltung beider Organismen dienstbar gemacht wird. Durch den Prozeß der Versprachlichung durchlaufen die Menschen kongruente strukturelle Koppelungen und konstituieren dadurch eine Welt-Wirklichkeit. Das Ergebnis ist freilich keine unabhängige Welt, die sie in der Versprachlichung übermitteln, sondern - wie Maturana 29 sagt - ,,nur ein Tanz der Koordinationen von Handlungen" in einern sich wandelnden konsensuellen Bereich zwischen Menschen. Ein Beobachter, der eine sprachliche Interaktion zwischen zwei Organismen betrachtet, beschreibt diese Koordination von Aktivität gewöhnlich in semantischen Begriffen, so als ob ein Informationstransfer stattfände, der die Interaktion lenke. Er übersieht dabei, daß das sprachliche Phänomen eine Praxis der Abstimmung von Handlungen ist und daß es nichts übermittelt, was Merkmal der Versprachlichung ist. 30 28 Maturana (Kognition 1985, 54) betont, daß es die rekursiven Interaktionen sind, durch die der Organismus zu einem Beobachter wird: "er erzeugt sprachliche Äußerungen als einen Bereich von Interaktionen mit Repräsentationen kommunikativer Beschreibungen (orientierende Verhaltensweisen)". 29 Maturana, Grundkonzepte 1987, 14. 30 Die Bedeutung von Wörtern läßt sich also nicht durch die Beantwortung von Fragen nach Dingen in der "wirklichen Welt" beantworten. Wenn es keine feste Verbindung zwischen Worten und Dingen gibt, dann können auch nicht "Objekte" als Beweis für unsere wissenschaftlichen Aussagen benutzt werden, dann besteht die wissenschaftliche Methode einzig darin, Beobachtungsvorgänge zu spezifizieren, die man durchführen muß, um beobachten zu können. Maturana (zit. nach Segal, Erfindung 1988, 102) unterscheidet vier Klassen von solchen Operationen: - Unterscheiden: Der Beobachter spezifiziert die Unterscheidungsoperationen, die notwendig sind, um das Phänomen zu beobachten, das der Wissenschaftler erklären will. Als Beispiel führt Maturana Blitze an: An einem regnerischen Tag wird man unter bestimmten Voraussetzungen Blitze sehen. - Aufstellen einer Hypothese: Der Beobachter stellt ein System von Konzepten auf, das fahig ist, das zu erklärende Phänomen zu erzeugen. Z. B. wenn sich Wolken

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In einem strengen Sinne hat Versprachlichung somit keinen Inhalt. Der Begriff der Information geht in der Erklärung der Sprache als eines biologischen Phänomens nicht ein. Dennoch ist nicht zu leugnen, daß die Mitglieder einer sozialen Gruppe als Folge ihres Zusammenlebens ihre Koordinationen von Handlungen konsensuell standardisieren können. Werden die Handlungen durch sprachliche Konventionen wiederholbar, dann mag es durchaus angebracht sein, die entsprechenden Interaktionen als Information zu beschreiben. Wir sollten uns allerdings stets bewußt sein, daß wir diese "Informationen" selbst erzeugen, indem wir uns innerhalb unseres kognitiven Bereiches orientieren. 31

3. Bewußtsein a) Konstruktion des Ich

aa) Selbstbeobachtung und Selbstbewußtsein Für den sprachlichen Bereich ist wesentlich, daß er Verhalten zu koordinieren vermag, indem er Beschreibungen von Beschreibungen hervorbringt. Bisher haben wir über Beschreibungen gesprochen, die der Mensch über seine Interaktionen mit dem Medium anfertigt. Wir sagten, daß er auf diese Weise auf einen Teil seiner Umwelt hin orientiert wird. Diese Orientierungen sind nichts anderes als eine Repräsentation der Interaktionen mit der Umwelt. Wenn ein anderer Mensch eine vergleichbare Umwelt hat, so wird er durch diese Repräsentation auf den elektrostatisch aufladen, entsteht ein Spannungsunterschied zwischen den Wolken, der einen Funken überspringen läßt. - Errechnen: Der Beobachter berechnet dann ein weiteres Phänomen, das das zu erklärende Phänomen ebenfalls erzeugen kann. Z. B. kann man einen Kondensator aufladen, wenn man eine Leiter zwischen den Wolken und der Erde installiert; ist der Kondensator genügend aufgeladen, müßte er eine Glühbirne aufleuchten lassen. - Erfüllen: Beobachten der aus der Hypothese abgeleiteten Phänomene. Z. B. ist die Erklärung für eine Gemeinschaft von wissenschaftlichen Beobachtern bewiesen, wenn die Glühbirne nach Durchführung des Experiments aufleuchtet. Der Unterschied zwischen einer magischen und einer wissenschaftlichen Erklärung liegt nach alldem nur in der Art, wie ein wissenschaftliches Erklärungssystem erzeugt wird. Diese Art bildet - wie Maturana und Varela (Erkenntnis 1987, 34) betonen - sein Validitätskriterium. Siehe dazu auch Maturana, Wissenschaft 1990, 116. 31 Aus dieser für Konstruktivisten eindeutig operativen Relevanz sprachlicher Ausdrücke ergibt sich eine gewisse Nähe zu pragmatistischen Semantikkonzeptionen, die die Bedeutungen der Wörter in komplexen Systemen zwischenmenschlicher Interaktionen, in "Sprachspielen" und "Lebensformen" verankert ansehen. Vgl. etwa Dewey (Pragmatismus 1975, 205): "Bedeutung ist ... keine psychische Existenz; sie ist primär eine Eigenschaft des Verhaltens", oder Peirce (Pragmatismus 1975, 114): "Die Bedeutung eines Satzes ist selbst ein Satz. In der Tat ist es kein anderer Satz als der Satz selbst, von dem er die Bedeutung ist: Er ist eine Übersetzung von ihm ..."; vgl. auch Wittgenstein, (Untersuchungen 1977,41): "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache." Zur Kritik an der informationstheoretischen Reduktion sprachlicher Phänomene in der Tradition dialektischer Philosophie vgl. Krüger, Selbst 1990, 159. 6'

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vergleichbaren Interaktionsbereich hin orientiert. Dies ist, so haben wir weiter ausgeführt, die Grundlage der Kommunikation zwischen lebenden Systemen: "Sie entwickeln ein spezifisches System kommunikativer Beschreibungen, um einander auf kooperative Klassen von Interaktionen hin zu orientieren, die für beide relevant sind."32 Die Funktion der Sprache besteht im Aufbau eines Orientierungsverhaltens, das kooperative Interaktionsbereiche ermöglicht. 33 Der Prozeß der Anwendung von Beschreibungen kann in potentiell unendlicher Weise weitergeführt werden. Jede Beschreibung konstituiert die Basis für neue Orientierungsinteraktionen und folglich für neue Beschreibungen. Erzeugt ein System rekursiv Repräsentationen mehrerer seiner Interaktionen, kann es Relationen dadurch herstellen, daß es mit diesen Repräsentationen interagiert. Diese Interaktionen wiederum können repräsentiert und damit zum Gegenstand weiterer Interaktionen werden. Ist der Organismus auf diese Weise in der Lage, rekursiv mit Repräsentationen seiner Interaktionen zu interagieren, so wird er zu einem Beobachter. 34 32 Maturana, Kognition 1985,55. 33 Das Orientierungsverhalten ist demzufolge denotativ und nicht konnotativ: "es

weist auf ein Merkmal der Umwelt hin, welches der zweite Organismus in seiner Nische antrifft und durch angemessenes Verhalten BESCHREmT (= Beschreibung erster Ordnung). Für den Beobachter ist das Orientierungsverhalten eine Beschreibung zweiter Ordnung, die das repräsentiert, was sie seiner Auffassung nach denotiert. Im Gegensatz dazu ist das Orientierungsverhalten des ersten Organismus für den zweiten konnotativ, und impliziert für ihn eine Interaktion innerhalb seines kognitiven Bereiches, die, wenn aktualisiert, ein Verhalten verursacht, welches einen spezifischen Aspekt seiner Nische BESCHREIBT. Was Orientierungsverhalten konnotiert, ist eine Funktion des kognitiven Bereiches des Orientierten, nicht des Orientierenden!", vgl. Maturana, ebd. 53. Unter ,,Nische" versteht Maturana die Menge aller Interaktionsklassen, in die ein Organismus eintreten kann. Zur Diskussion des Begriffs ,,Denotation" bereits in den 20er Jahren vgl. Krüger, Selbst 1990, 158. 34 So bestätigt das genaue Studium des Nervensystems die zentrale Stellung des Beobachters, die Anfang des Jahrhunderts in der nichtrnechanistischen Physik der Relativitäts- und der Quantentheorie hervorgehoben wurde. Zu dieser erstaunlichen Koinzidenz von Biologie und Physik vgl. mit vielen Nachweisen Augros, Stanciu, Biologie 1988, 111. Zitiert wird z. B. Max Born (Physik 1985,50): "Die Schwierigkeit liegt ... darin, daß keine Erscheinung der atomistischen Welt beschrieben werden kann, ohne auf den Beobachter Bezug zu nehmen, und zwar nicht nur auf seine Eigengeschwindigkeit, wie dies die Relativitätstheorie tut, sondern auf sein gesamtes Verhalten bei der Beobachtung, die Einstellung seiner Instrumente usw." Der Physiker John Wheeler (Genesis 1977,5) schreibt dazu: ,,Der Beobachter ist nicht mehr allein ,Beobachter', sondern ,Teilnehmer'. Was uns die Philosophie früher nahelegte, das lehrt uns heute die zentrale Aussage der Quantenmechanik mit beeindruckender Kraft. In einem eigentümlichen Sinn nehmen wir an diesem Universum teil." Zur Rolle des Beobachters, die in der Biologie infolge des Autopoiese-Konzepts eine enorme Bestätigung erfuhr, stellt Maturana (Kognition 1985, 34) fest: ,,Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt. Der Beobachter spricht durch seine Äußerungen zu einem anderen Beobachter, der er selbst sein könnte, alles, was den einen Beobachter kennzeichnet, kennzeichnet auch den anderen ... " Diese biologische Vergleichbarkeit der Beobachter macht aus, daß wir über andere Lebewesen und über Menschen Aussagen machen können. In diesem Sinn äußert sich auch C. F. v. Weizsäcker (Physik 1976, 21): ,,Alle meine Erfahrungen sind meinem Bewußtsein nicht mosaikartig getrennt gegeben, sondern in einem Zusammenhang, der

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Ein solcher Beobachter kann es lernen, sich auf sich selbst hin zu orientieren und sich so selbst zu beschreiben. Diese Orientierung auf Selbstbeschreibung nennt Maturana Selbstbewußtsein und kennzeichnet es als einen neuen Interaktionsbereich des Organismus. 35 Dieser neue Bereich der Selbstbeobachtung liegt vollständig im sprachlichen Bereich, da er aus dem selbstorientierenden Verhalten der Selbstbeschreibung entsteht. Es ist also die Sprache, in der ein Ich aufgebaut wird. 36 Und der sprachliche Bereich sowie das Selbstbewußtsein sind möglich, weil sie sich als verschiedene Bereiche der Interaktion des Nervensystems mit seinen eigenen Zuständen ergeben. Selbstbewußtsein ist folglich kein gesondertes neurophysiologisches Phänomen, das durch Erregung, Hemmung oder Netzstrukturen zu erklären ist. Es ist vielmehr ein Epiphänomen, das, wie gesagt, aus dem selbstorientierenden Verhalten entsteht und allein dessen neurophysiologisches Substrat besitzt. 37 Zusammenfassend läßt sich Bewußtsein als den Teilbereich der Selbstbeschreibung im Bereich der Beschreibungen von Beschreibungen darstellen. Daraus folgt, daß sich die Zustandsveränderungen des Nervensystems, die zur Selbstbeschreibung führen, nicht von anderen Zustandsveränderungen unterscheiden, die zu anderen Beschreibungen führen. Der Unterschied besteht lediglich hinsichtlich des konsensuellen Bereiches, in dem die Beschreibungen entstehen. 38 Wie jedes andere Verhalten ist auch das Selbstbewußtsein strukturdeterminiert und nicht in irgendeinem Begriff des Wortes "semantisch" bestimmt. bb) Die Kohärenz des Geistigen Bewußtsein ist, so die Quintessenz des vorigen Abschnitts, ein selbstbeobachtendes System. 39 Es operiert mit Unterscheidungen von innen und außen, von sich schon daraus ergibt, daß ich selbst ein lebendes Wesen bin, das sich zugleich handelnd und wahrnehmend verhalten muß. In diesem Zusammenhang ist mir bereits etwas von dem Sinn des Verhaltens anderer lebender Wesen gegeben, mit denen ich in lebendiger Wechselwirkung stehe." 35 Maturana, Kognition 1985, 65. 36 Deshalb findet das Phänomen des Selbstbewußtseins nur im sozialen Bereich statt. Es nimmt als Bestandteil des sprachlichen Bereichs an den strukturellen Koppelungen teil, durch die sich das Individuum im Einklang mit dem Medium verändert. Damit ist es unlösbar verbunden mit jener Matrix kultureller Grundsätze, die das Verhältnis von Organismus und Umwelt, von Ich und Nicht-Ich prägen. Wilber bezeichnet die Sprache als den Ursprungsort unserer Dualismen, zu denen auch Ich und Nicht-Ich zählen. Zwar trennen seiner Ansichten zufolge Unterscheidungen das ,,nahtlose Gewand des Universums" auf, aber sie sind doch absolut notwendig als Vehikel für Entwicklung und Wachstum; vgl. Wilber, Erkenntnis 1988,208; ders. Bewußtsein 1987, 141. 37 Maturana, Kognition 1985,74. 38 Vgl. Maturana, Organisation 1985, 155. 39 Das gilt strenggenommen nur für das Selbstbewußtsein, denn Bewußtsein im Sinne innerer Erfahrung kommt zweifellos auch Tieren zu. Davon gehen auch Augros und Stanciu (Biologie 1988, 114) aus und warnen zugleich: ,,Natürlich ist es falsch, wenn wir den Tieren menschliches Verständnis, Überlegung und freie Wahl zuschreiben, aber

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Selbst- und Fremdreferenz. Anders könnte es sich nicht als verschiedenartig von einem anderen Bewußtsein oder der Umwelt abheben. 40 Diese Unterscheidungen, in denen das Ich unterschieden wird, erfolgen in dem symbolischen Medium der Sprache. Das Bewußtsein hilft sich mit der Sprache, um die unterscheidende Beobachtung von Gedanken zu artikulieren. Nur ein sprachbewußter Gedanke kann sich selbst als beobachtbar darstellen. 41 Maturana und Varela bezeichnen daher die Sprache als eine sine qua non für die Erfahrung dessen, was wir "Geist" nennen. 42 Das "Ich" beschreiben sie als eine "andauernde deskriptive Rekursion", die es erlaubt, "unsere sprachliche operationale Kohärenz zu bewahren sowie unsere Anpassung im Reich der Sprache". Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die Sprache, in der das Ich-Bewußtsein entsteht, die konstruktive Leistung eines zu rekursiven Operationen fähigen Organismus ist. Bewußtsein erfordert eine Sensibilität des Nervensystems für Prozesse, die in ihm selber ablaufen und die in ihm selber ausgelöst werden. Wir haben Prozesse dieser Art als Interaktionen des Nervensystems mit ,,reinen Relationen" gekennzeichnet. Die Relationalität der Interaktionen haben wir darin begründet gesehen, daß die Abgabe eines neuronalen Impulses stets eine "Verkörperung" der Aktivität vieler anderer Neuronen bedeutet. Aus dieser durch zahlreiche neurologische Studien 43 gestützten Erkenntnis läßt sich eine wichtige Schlußfolwir sollten auch nicht in das entgegengesetzte Extrem verfallen und die Tiere als Maschinen betrachten. Der Robotomorphismus ist nicht weniger falsch als der Anthropomorphis-

mus."

40 Luhmann (Bewußtsein 1987,28) betont, daß jegliche Beobachtung zwingend ein Differenzschema erfordert. Dennoch kann auch Beobachtung keinen direkten Zugang zu einem anderen Bewußtsein verschaffen: "In jedem Falle nimmt der Beobachter das andere Bewußtsein als black box und füllt diese Intransparenz mit der Vermutung, daß alles nicht Beobachtete so ähnlich ablaufe wie bei ihm selbst. Die Unterstellung eines alter ego kommt mithin dadurch zustande, daß der Beobachter auf das Beobachten reflektiert und das Nichtbeobachtete am Beobachten mitzubeobachten versucht." 41 Einen beobachteten Gedanken bezeichnet Luhmann (ebd. 32) als Vorstellung und das Beobachten als Vorstellung einer Vorstellung. Wie auf diese Weise Intention als Resultat selbstreferentiellen Beobachtens entsteht, schildert Luhmann (ebd. 33) so: "Wenn diese Unterscheidung von Gedanke und Beobachtung zutrifft, prozediert das Bewußtsein voran, indem es zurückblickt. Es operiert gleichsam mit dem Rücken zur Zukunft, nicht proflexiv, sondern reflexiv. Es bewegt sich gegen die Zeit in die Vergangenheit, sieht sich selbst dabei ständig von hinten und an der Stelle, wo es schon gewesen ist; und deshalb kann nur seine Vergangenheit ihm mit gespeicherten Zielen und Erwartungen dazu verhelfen, an sich selbst vorbei die Zukunft zu erraten. Es verfolgt in sich selbst kein Ziel, sondern bemerkt, was ihm passiert ist. Es wird auf sich selbst aufmerksam ... Es verfährt nicht antezipativ, sondern rekursiv, entdeckt aber dann im Rückblick gespeicherte Zukunftserwartungen. " 42 Maturana, Vare1a, Erkenntnis 1987,250. 43 Nachweise bei Schmidt, Biomaschine 1979, 217; Popper, Ecc1es, Gehirn 1987, 380; vor allem Libet und seine Mitarbeiter (Cortex 1973, 743) fanden heraus, daß das Auftreten bewußter Empfmdungen an die Erregung weiter Teile der Hirnrinde gebunden ist. Die Experimente von Kornhuber u. a. (Cerebral Cortex 1974,267) zeigen, daß sogar einer willkürlichen Bewegung eine Erregung fast der gesamten Hirnrinde vorausgeht. Weitere Zusammenfassungen bei Gazzaniga, Gehirn 1988, ders., Gehirn 1989; Ornstein, Multimind 1989; Roth, Gehirn 1990, 178. I

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gerung ziehen: Bewußtsein ist nicht an irgendeiner Stelle des Gehirns lokalisiert, sondern resultiert aus den Interaktionen vieler Millionen von Nervenzellen. 44 Gleichzeitig ist es Ursache und Ausgangszustand für die Veränderung solcher Erregungsmuster. Bewußtsein tritt demnach als eine Eigenschaft der funktionalen Komplexität des Nervensystems auf und kann im rekursiven Zusammenwirken seiner Bestandteile begründet werden. 45 Daß bewußtes Erleben eine Leistung des Gesamtorganismus und nicht einzelner physikalischer Interaktionen ist, belegen die aufsehenerregenden Beobachtungen an neurochirurgischen Patienten, denen die wichtigste Verbindung zwischen den Gehirnhälften, der Balken oder corpus callosum, durchtrennt wurde. 46 Die in den letzten vier Jahrzehnten gewonnenen Befunde im einzelnen zu referieren, würde eine gesonderte Abhandlung erfordern. 47 Ich will mich auf jene Befunde beschränken, die der These von der komplementären Zweiteilung unseres Gehirns zum Durchbruch verholfen und damit unser Verständnis von der Struktur und dem Funktionieren des Gehirns revolutioniert haben. Die Operationen wurden an Patienten vorgenommen, die an Epilepsie litten. Man nahm an, die Ausbreitung der elektrischen Aktivität von einer Gehirnhälfte auf die andere mittels der Durchtrennung der Verbindungsfasern unterbinden zu 44 Daß dies bis heute überwiegend verkannt werden konnte, führt Foerster (kommentiert bei Segal, Erfindung 1988, 67) auf die bereits dargestellte Eigentümlichkeit europäischer Sprachen zurück, Prozesse zu nominalisieren. So ist das Wort "Gedanke" ein Substantiv, das ein "Ding" bezeichnen soll. Viele Forscher glaubten deshalb, daß Denken, Gedächtnis etc. in bestimmten Bereichen des Gehirns angesiedelt sind. Man bezeichnet diesen theoretischen Standpunkt als "Lokalisierung der Funktion ". Anatomen und Phrenologen wie Redfield haben Hunderte von Lokalisierungen auf dem Schädel eingezeichnet. Redfield behauptete - so Segal-, nicht weniger als 186 auf Gesicht und Schädel verteilte Funktionen festgestellt zu haben. Nummer 149 beispielsweise ist der Sitz einer republikanischen Gesinnung; 148: Liebe und Treue; 149 A: Verantwortungsbewußtsein. Zu ähnlichen Überlegungen gelangte der berühmte österreichische Neurophysiologe Exner, nachdem er beobachtet hatte, daß eine Verletzung des Gehirns mit dem Verlust eines bestimmten Verhaltens oder einer bestimmten Funktion verbunden sein kann. 45 Gegen eine Lokalisierung der Gehirnfunktionen bringt Foerster folgende treffende Analogie ins Spiel: "Thr Wagen springt nicht an. Ein Mechaniker findet schließlich den Fehler - die Benzinleitung war verstopft. Würden Sie nun daraus schließen, daß die Fähigkeit Thres Autos, sich fortzubewegen, an diesem Punkt lokalisiert ist; Nein, natürlich nicht! Das System als Ganzes macht es möglich, daß das Auto fährt. Natürlich, wenn im Motor irgend etwas nicht stimmt, weil ein Einzelteil nicht mehr funktioniert, rührt der Wagen sich nicht mehr von der Stelle. Es ist ein Irrtum, einen Funktionsverlust darauf zurückzuführen, daß ein Teil des Gehimgewebes nicht mehr vorhanden ist. Wir haben es stets mit dem Gehirn als Ganzem zu tun." Im Hinblick auf eine Lokalisation des Gedächtnisses: "Wenn unser Gedächtnis wie ein Datenspeicherungssystem eines Computers arbeiten würde, bräuchten wir ein Gehirn mit einem Durchmesser von eineinhalb Kilometern, um all das, was wir wissen, aufzunehmen" (vgl. Segal, Erfindung 1988,71). 46 Man nennt diese Patienten häufig "split-brain-Patienten". 47 Umfangreiche Darstellungen bei Restak, Gehirn 1988, 217; Gazzaniga, Gehirn 1988; Oeser, Seitelberger, Gehirn 1988, 87; Ornstein, Multimind 1989; Leuninger, Neurolinguistik 1989, 11.

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können. Das Ergebnis entsprach den Erwartungen, was die Besserung der Epilepsie betraf. 48 Tatsächlich konnte sich die epileptische Aktivität nicht mehr über die gesamte Hirnrinde ausbreiten, und der Zustand der Patienten besserte sich. Erstauniicherweise entdeckten die Neurologen lange Zeit auch keinerlei Verschlechterung der geistigen Funktionen. Die Forscher waren der Auffassung, daß das zehn Zentimeter lange und sechs Millimeter dicke Nervenfaserbündel keine Funktionen habe. Entsprechend erfolgreich waren sie zwei Jahrzehnte lang im Übersehen der Bedeutung des Corpus callosum. Erst den Experimentalpsychologen Sperry und Gazzaniga gelang es mit Hilfe akribischer Untersuchungen des visuellen Systems eines einzigen Patienten, die Funktion des sogenannten "Balkens" zu entschlüsseln. 49 Sie besteht, kurz gesagt, darin, die Operationsweisen der beiden Gehimhälften zu integrieren und den Menschen zu befähigen, ein komplettes zusammengesetztes ,,Bild" zu erstellen. Diese Erkenntnis gelang den Forschern, indem sie im Labor Interaktionen jeweils mit einer Gehirnseite durchführten. Sie baten ihre Versuchsperson, den Blick auf einen Punkt eines Bildschirms zu fixieren und unter einigen, ihrem Blick verborgenen Gegenständen diejenigen herauszusuchen, die den auf den Bildschirm projizierten Objekten entsprechen. Wurde das Bild eines Apfels ihrem rechten Sehfeld gezeigt, dann hatte die Versuchsperson keine Schwierigkeiten, den Apfel tastend zu finden. Führte man dasselbe Dia dem linken Sehfeld vor, wurde es überhaupt nicht registriert. Der Patient stritt ab, daß irgendetwas geschehen sei. Was tatsächlich geschehen war, ließ sich aus der Anatomie des optischen Systems erklären. Die Verbindungen der Retina zum Gehirn sind nämlich so beschaffen, daß das gesamte Gesichtsfeld links von einem Fixationspunkt auf die rechte Gehirnhälfte und das Gesichtsfeld rechts von diesem Punkt auf die linke Gehirnhälfte projiziert wird. Als der Patient gestand, nichts gesehen zu haben, war der Apfel auf die rechte Gehirnhemisphäre projiziert worden. Dies ließ die Schlußfolgerung zu, daß in der rechten Hälfte des Gehirns Informationen diffuser und nichtsprachlich verarbeitet werden. 50 Rasch bemerkte man in weite48 Als erster führte in den vierziger Jahren der Neurochirurg Van Wagenen eine Durchtrennung des Corpus callosum durch. Da man annahm, daß der Balken keine andere Funktion habe als epileptische Entladungen von einer Gehirnhemisphäre zur anderen zu transportieren, schien die Operation für Epileptiker lohnend und heilsam zu sein; vgl. Restak, Gehirn 1988, 224. 49 Siehe Sperry, cerebral commissure 1964,42; ders., Cerebral Hemispheres 1968, 293; ders., Neocortical Commissures 1970, 123; Sperry, Gazzaniga, Bogen, Interhemispheric Relationships 1969,273; Gazzaniga, Gehirn 1988; ders., Gehirn 1989,47,55, 84, 148. 50 Ein anderes von Maturana, Varela (Erkenntnis 1987, 247) berichtetes Beispiel: Führt man einer Rechte-Hemisphäre-Person das Bild einer nackten Frau vor, wird die Versuchsperson Zeichen von Verlegenheit zeigen. Sie wird jedoch nicht erklären können, was geschehen ist. Im konkreten Fall hat sie gesagt: "He Doktor, da haben Sie aber einen schlimmen Apparat!" Tatsächlich ist folgendes geschehen: Das erotische Bild

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ren Phasen der Untersuchung, daß die rechte Hemisphäre stattdessen bei visuellkonstruktiven Aufgaben dominant war. So konnte die linke Hand, die von der rechten Hälfte kontrolliert wird, Bilder malen oder einen Standardsatz roter und weißer Klötzchen zu einem bildlichen Muster zusammenfügen. Die rechte Hand hingegen war in der Lage zu schreiben und dem Blick entzogene Gegenstände herauszufinden. In den vergangenen zwanzig Jahren sind die Arbeiten von Sperry und Gazzaniga über die Spezialisierung der Hemisphären weitgehend bestätigt worden. Allgemein kann man sagen, daß die linke Hemisphäre eher auf Sprache, symbolische Darstellung und analytisches, lineares Denken spezialisiert ist. Die rechte Seite hingegen ist eher auf gewisse räumliche Funktionen eingerichtet; sie kann besser Landkarten lesen, sich an Gesichter erinnern, ganzheitlicher und synthetischer wahrnehmen. 51 Ist der Balken durchgetrennt, dann funktionieren die Gehimhälften nicht mehr als Einheit. Sie bilden lediglich, unter Übergehung der jeweils anderen Gehirnhälfte, eine operationale Einheit mit dem Rest des Nervensystems. Diese Isolierung der Hemisphären voneinander deutet auf hirnphysiologischem Wege die von Psychologen und Neurologen oft vermutete Möglichkeit an, daß im menschlichen Organismus ~ei getrennte Ichs vorhanden sind, die jedoch wurde der rechten Hemisphäre präsentiert, der Patient antwortet auf die Fragen aber über die linke Hemisphäre, die als einzige Sprache erzeugen kann und die das Bild nicht "gesehen" hat. Daraus schließen Maturana und Varela: "Alles, was die linke Gehirnhälfte tun kann, ist auf eine Weise zu antworten, die sich aus ihrer Verbindung mit dem Rest des Nervensystems ergibt. Dort finden die Aktivitäten von Erröten und Verlegenheit statt, die durch die rechte Gehirnhälfte erzeugt wurden." 51 Diese Aufteilung der Hemisphären in symbolisch-begrifflich gegenüber nichtsymbolisch-direkt wahrgenommen vermeidet viele zu starke Vereinfachungen, die die rechte Hemisphäre schlicht mit ,,musikalisch" oder ,,räumlich" und die linke Hemisphäre mit "sprachlich" kennzeichnen. Aus solchen Vereinfachungen resultieren dann Wertungen, wonach die linke Hälfte "dominant" und die rechte "subdominant" sein soll (so z. B. noch Popper, Eccles, Gehirn 1987, 421). Capra (Wendezeit 1987, 326) bringt diese Bevorzugung der "linken Gehirnhälfte" und der ,,rechten Hand" mit dem kartesianischen Weltbild in Verbindung, das seinerseits auf viel ältere Sprachbildungen zurückgreifen konnte: "In den meisten europäischen Sprachen wird die rechte Seite mit gut, gerecht und tugendhaft assoziiert, die linke mit böse, Gefahr und Argwohn . . . Das deutsche Wort für Gesetz lautet auch ,Recht', genau wie im Französischem ,droit"'. Dazu hat Teuber (Two Brains 1974,71) für die Neurophysiologie bemerkt, daß "das Konzept der unilateralen Dominanz der linken über die rechte Hemisphäre beim Menschen verlassen und durch die eines der komplementären Spezialisierung ersetzt worden ist". Neueste Untersuchungen bestätigen, daß die beiden Hemisphären wie ein gegenseitiges Ersatzsystem funktionieren und daß die Subjekte selbst bestimmen, welche Hälfte dominieren soll. So stellten Mazziotta u. a. in einem richtungweisenden Experiment fest, daß trotz gleichbleibender Musik bei unterschiedlichen Hörern unterschiedliche Hemisphärenaktivitäten zu messen waren. Dies bestätigte die Vermutung, daß die Hemisphärenspezialisierung nicht so sehr vom verwendeten Material, als vielmehr von der angewandten Denkstrategie bzw. geistigen Verarbeitung abhängt. Ein ,,musikalischer" Hörer verwendet also bei der Aufnahme von Musik andere Zonen des Gehirns, "verarbeitet" sie anders als sein naiver Gegenspieler; vgl. hierzu Restak, Gehirn 1988, 228; Gazzaniga, Gehirn 1989, 28, 49, 61, 86.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

Übersicht 2: Bedeutsame Unterschiede und Leistungen der linken und der rechten Gehirnhälften, wie sie aufgrund der neuen Konzepte von Sperri und Gazzaniga vermutet werden.

linke Hemisphäre

rechte Hemisphäre

phylogenetisch jünger (Neocortex)

phylogenetisch älter (Stamm- und Zwischenhirn, limbisches System)

vorwiegend Denken

vorwiegend Fühlen

i. d. R. partikular, analytisch

i. d. R. ganzheitlich, synthetisch

relativ schnell (relative "Varianz")

relativ langsam (relative "Invarianz")

vorwiegend diachron, sequentiell, digital, sprach- und zeitnah

vorwiegend synchron, simultan, analogisch, bild- und raumnah

nonnalerweise über fünfzig Millionen Fasern miteinander integriert sind. 52 Ist dies nicht der Fall, können die meisten Menschen über ihre Rechte-HemisphärePerson keine sprachliche Kommunikation und somit kein Selbstbewußtsein aufbauen. Es gibt allerdings einige Menschen, die nur eine geringe Lateralisierung der Sprache zeigen. Sie können über beide Gehirnhälften sprachlich kommunizieren. Von einem solch seltenen Fall berichten Gazzaniga und Le Doux: 53 Der fünfzehnjährige Paul antwortete auf die Fragen an seine rechte Hemisphäre, wer er sei und wo er sich befinde, jeweils richtig mit ,,Paul" und "Vennont". Dieselben Antworten erfolgten auf Fragen an die linke Hemisphäre. Als er jedoch gefragt wurde, wer er sein möchte, antwortete die rechte Hälfte mit "ein Autorennfahrer" und die linke mit "ein Konstrukteur". Dies beweist nach Ansicht von Gazzaniga, daß die rechte Hemisphäre von Paul "ein getrenntes geistiges System" beinhaltet, das seine eigenen Gefühle und Vorlieben auszudrücken vennag. 54 52 Vgl. Gazzaniga, Gehirn 1988. Der Vorstellung von mehreren verschiedenen Ichs, die wir normalerweise integrieren, kommt Ciompis Konzept der Komplementarität von Fühlen und Denken sehr nahe: ,,zwischen ,Fühlmensch' und ,Denkmensch' besteht höchst wahrscheinlich eine typische strukturelle Koppelung im Sinne von Maturana, Varela et al. Beide, das ,Fühl system' und das ,Denksystem' entwickeln sich gemeinsam und beeinflussen sich wechselseitig, wobei ersteres einen breiten, tief vom Tierreich her aufgebauten tragenden Grund oder Sockel darstellt, von welchem aus sich phylo- und ontogenetisch später dann das Denken weiterdifferenziert", Ciompi, Außenwelt, Innenwelt 1988, 206; ders. Affektlogik 1982, 82. Vgl. auch die mit Ciompis Ansichten weithin übereinstimmenden Annahmen von Bear, Hemispheric asymmetries 1986,29; Leuninger, Neurolinguistik 1989, 8. 53 Gazzaniga, LeDoux, Mind 1978.

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Für den hier interessierenden Zusammenhang von Sprache und Ichbewußtsein ist ein weiterer Aspekt von Pauls Geschichte noch aufschlußreicher. Sie offenbarte, daß bei allen Interaktionen mit Paul die linke Gehirnhälfte zu dominieren schien und daß diese Hälfte "logische" Erklärungen erfindet, um die Kohärenz des Bewußtseins zu bewahren. So hatte man Pauls rechter Hemisphäre den schriftlichen Befehl gegeben: "Lache!" Paul täuschte daraufhin ein Lachen vor. Wurde dann die linke Gehirnhälfte vor die Frage gestellt: "Warum lachst du?", antwortete er: "Weil Sie so komische Typen sind." Obwohl also die LinkeHemisphäre-Person den Befehl zum Lachen nicht gesehen hatte, erarbeitete sie sogleich einen plausiblen Grund für das, was vor sich ging. Ein letztes, besonders instruktives Beispiel für die Konstruktionsarbeit der linken Hälfte wird ebenfalls von Paul berichtet. Man übermittelte der linken Hemisphäre das Bild einer Hühnerkralle und der rechten das Bild einer verschneiten Landschaft. Als man Paul bat, aus einer Reihe von Bildern herauszusuchen, was er gerade gesehen hatte, wählte er mit der rechten Hand, die von der linken Gehirnhälfte kontrolliert wird, das Bild einer Hühnerkralle und mit der linken das einer Schneeschaufel. Auf die Frage, warum er diese besondere Auswahl getroffen habe, antwortete Paul: "Das ist doch einfach. Die Hühnerkralle gehört zum Huhn, und um den Hühnermist wegzuräumen, braucht man eine Schaufel." Gazzaniga leitet aus seinen Untersuchungen mit Paul die Vermutung ab, daß die linke Hemisphäre mit ihrer Bevorzugung des symbolischen Ausdrucks dazu neigt, eher zu interpretieren als Wirklichkeit wiederzugeben. 55 Wir wissen aus unserer Darstellung der Funktionsweise des Nervensystems, daß die Vermutung nicht nur richtig ist, sondern auch auf die rechte Hemisphäre erstreckt werden muß. 56 Der fluß unserer Erfahrungen wird von den Operationen unseres Nerven54 Derselbe Patient antwortete auf Fragen über seine Lieblingsgerichte, die der rechten Hemisphäre übermittelt wurden, er habe überhaupt nichts gesehen. Aber wenige Sekunden später nahm seine linke Hand einen Bleistift und schrieb Antworten auf die Frage nieder. Auch dieser Test liefert nach Gazzaniga den Beweis für die Richtigkeit der Behauptung, daß "unser linkes Gehirn nicht weiß, was das rechte tut"; siehe hierzu auch Gazzaniga, Gehirn 1988; ders., Gehirn 1989,62,87,91, 144. 55 Da die Erklärung falsch war, gebrauchte Pauls linke Hemisphäre ihre größere Sprachfertigkeit zur Konstruktion einer plausiblen "logischen" Auskunft für die von ihm getroffene Wahl. Wir kommentieren also unser Verhalten mit plausibel klingenden, nicht notwendigerweise "wahren" Gründen. Um unser Verhalten als kohärent zu erleben, reicht es aus, stimmig über unsere Erfahrung zu reflektieren. Mit anderen Worten, unser verbales Verhalten gibt unser Erleben wider und nicht das, was aus dem Blickwinkel eines unabhängigen Beobachters geschieht; vgl. hierzu Maturana, Varela, Erkenntnis 1987,249. 56 Ein krasses Beispiel dafür, daß auch die rechte Gehirilhälfte im intakten Zustand ,,konstruiert", ist das in neurologischen Kliniken gut bekannte Phänomen der Verleugnung linksseitiger Lähmungen von Patienten mit Schädigungen der rechten Hemisphäre. Man erklärt sich diese Reaktion damit, daß die rechte Hemisphäre u. a. damit beschäftigt ist, unseren Erfahrungen eine emotionale Färbung zu verleihen. Ist die .rechte Hälfte unbeschädigt, dann wird sie in diesem Fall eine negative Emotion erzeugen und zur Vorsicht anhalten. Die intellektuelle sowie die Gefühlsseite tragen also auf je eigene

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systems gelenkt, die der Autopoiese des Systems dienen. Folglich besteht auch die Funktion der Sprache in der Selbsterhaltung der Lebewesen. Sie dient der Identität und Anpassung. In Pauls Geschichten war festzustellen, daß er im sprachlichen Bereich stets.mit einem Ausdruck der Kohärenz antwortete: "Weil Sie so komische Typen sind" oder "Um den Hühnermist wegzuräumen, braucht man eine Schaufel". Es kann nicht eindrucksvoller als mit diesen Äußerungen bewiesen werden, daß Wörter Zeichen für sprachliche Koordinationen von Handlungen sind. Paul hat nicht Dinge beschrieben, sondern Gründe für sein Verhalten bzw. für sein Empfinden konstruiert. Er hat im sprachlichen Bereich eine innere Regelmäßigkeit erzeugt, die es ihm erlaubte, störende Erfahrungen zu integrieren und Verhalten auf einer neuen Ebene zu koordinieren. Man kann auch sagen, Paul hat über die linke Gehirnhälfte eine Stimmigkeit oder Plausibilität produziert, die ihm half, mit der gegebenen Situation zu leben. 57 Nicht anders als Paul bringen wir Weise zur Erhaltung des Gesamtorganismus bei. Die Beschädigung der rechten Hälfte kann zu einem Abstreiten, daß überhaupt ein Unglück geschehen ist, führen. Es scheint also so, als seien diese Patienten unfähig, angemessene emotionale Orientierung zu empfmden. "Der Patient nimmt keinerlei wichtige Bedrohung wahr und paßt deshalb nicht auf oder sorgt sich oder ergreift entsprechende Maßnahmen", Bear, Hemispheric asymmetries 1986, 29; phantastische Darstellungen dieser Erkrankung fmden sich bei Sacks, Verwechselte Frau 1987; Restak, Gehirn 1988,241; Gazzaniga, Gehirn 1988. 57 Im Fall von Paul ist ersichtlich, daß es im sprachlichen Bereich überhaupt keine Inkohärenz geben kann. Andererseits ist ebenso deutlich geworden, daß bei split-brainPatienten die Gehirnhälften nicht mehr als Einheit funktionieren. Es sieht so aus, als seien diese Patienten nach der Operation zu drei verschiedenen Personen mit jeweils individuellen Charakteristika geworden: einer Linke-Hemisphäre-Person, einer RechteHemisphäre-Person und der äußeren Kombination der beiden in ihrer Operation durch einen gemeinsamen Körper. Diesem Gedanken entspricht die schon 1962 von McLean aufgestellte These vom "Trinitätshirn" (triune brain). Danach verfügt der Mensch entsprechend seiner Entwicklungsgeschichte über drei Gehirne, die es zu integrieren gelte: Erstens das Reptiliengehirn, das in Säugetieren seine Entsprechung in einer Gruppe großer Ganglien findet und das für instinktive, automatische Verhaltensweisen zuständig ist. Zweitens das "ältere Säugetierhirn" oder "limbische System", das den primitiven Kortex und seine Weiterentwicklung in der "limbisehen" Masse um den Hirnstamm umfaßt und das Gefühle und Emotionen erfahrbar macht. Drittens das "jüngere Säugetierhirn", das vor allem durch den Neokortex gebildet wird und an dessen neuronalen Mechanismus die Sprache und das Denken gebunden sind. Der Evolution des Trinitätshirns entsprechen nach Jantsch (Selbstorganisation 1987,236) drei Ebenen des neuronalen Geistes, die organismische, reflexive und selbstreflexive. McLean (Triune Concept 1973) veranschaulicht diese drei Ebenen der ineinandergeschichteten Hirne durch einen Vergleich mit der Struktur der Literatur: Das Reptilienhirn steht für die archetypischen Figuren und Rollen; das limbisehe System bewirkt die emotionale Ausrichtung, Auswahl und Entwicklung der Szenarien; der Neokortex schließlich macht daraus so viele verschiedene Gedichte, Erzählungen, Romane und Dramen, wie es individuelle Autoren gibt. Zum Trinitätshirn vgl. desweiteren McLean, Brain 1962,289; ders. Brain 1964,95. Zur Geschichte des Bewußtseins aus der Perspektive der "transpersonalen Psychologie" vgl. Walsh, Vaughan, Psychologie 1985; ein besonders interessanter Vertreter dieser Denkrichtung ist Ken Wilber, der nicht weniger als acht große Phasen der BewuBtseinsentwicklung des Menschen unterscheidet; vgl. Evolution 1984; Erkenntnis 1988, 164.

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alle durch gegenseitige sprachliche Koppelung eine gemeinsame Welt hervor, die es uns trotz operationaler Geschlossenheit der Nervensysteme erlaubt, Unterscheidungen zu treffen, Ichbewußtsein und Fremdbewußtsein zu trennen sowie eigenes und fremdes Verhalten zu beschreiben. In den nächsten Abschnitten soll das bisher zum Ichbewußtsein Gesagte zusammengefaßt und auf ein kognitivistisches "Selbstkonzept" hin erweitert werden, das Erkenntnisse der Psychoanalyse und der genetischen Epistemologie von Piaget integriert. cc) Selbstkonzept und Erfahrung Bewußtsein ist eine Leistung des Gesamtorganismus. Das haben uns die Überlegungen zum "zweigeteilten Gehirn" nahegelegt. Es resultiert aus den Interaktionen vieler Millionen Nervenzellen zwischen funktional charakterisierbaren Arealen des Gehirns. Seine nicht notwendigerweise sprachlich vermittelte Leistung besteht darin, daß sich der Organismus als von seiner Umgebung unterschieden erlebt. Menschen handeln in dem Bewußtsein, "autonome Einheiten" in einer Welt zu sein. Die Qualität dieser Erfahrung ist vor allem sinnlich bestimmt. Erst wenn wir Beschreibungen von diesem Erleben anfertigen, kann von Reflexion gesprochen werden. Erst in der Sprache werden wir uns als Dinge bewußt, die von anderen Dingen unterschieden sind, indem wir uns Eigenschaften zuoder absprechen, indem wir bestimmte Erfahrungen als "innere" oder als "äußere" klassifizieren. Aus diesem Grunde kann Anselm Strauss feststellen: "Sprache muß im Mittelpunkt jeder Diskussion über Identität stehen."58Über die Menge dieser rekursiven sprachlichen Interaktionen wird nach Ansicht von Rusch eine Differenzierung vorgenommen, deren Resultat die Unterscheidung des Organismus von seiner Umgebung ist. 59 Wir werden im nächsten Kapitel anband der entwicklungspsychologischen Arbeiten von Piaget näher zeigen, wie sich in einem langen kognitiven Prozeß das Kleinkind durch die Koordination sensomotorischer Aktivitäten als eine operationale Einheit von seiner Umgebung zu unterscheiden lernt. Hier sollen einige Hinweise darauf genügen, wie das Selbst als ein ,,konzeptuelles Konstrukt" ausgebildet wird. 60 58 Strauss, Spiegel 1974, 13. 59 Rusch, Erkenntnis 1987, 130: ,,Dies ist eine Differenzierung, die sich im Erfahrungsbereich ... vollzieht und die, insofern sie im Gesamtbereich der Erfahrung die Konstituierung eines Bereiches interner und eines Bereiches externer Erfahrungen bedeutet, auch als eine Externalisation, als eine Klassifizierung bestimmter Erfahrungen in einen ,außen' genannten Bereich angesehen werden kann". 60 Dieser Begriff stammt von Glasersfeld (Kybernetik 1987, 168) und soll ausdrücken, daß sich das Selbst wie jeder andere Gegenstand, den wir beobachten und beschreiben können, aus den Modalitäten der individuellen und sozialen Kognition ergibt. Das heißt, das Selbst ist ebensowenig ein "Ding" wie ein Gegenstand der äußeren Welt, es ist nur im Bereich des Erlebens zugänglich und kann demzufolge nicht "direkt" wahrgenommen werden. Es entsteht parallel zur Konstruktion einer äußeren Welt permanenter Objekte. ,,Diese Externalisierung geht Hand in Hand mit dem Aufbau interner Repräsentationen

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Eine reflexive Selbst-Sicht tritt bei Menschen regelmäßig erst im Alter von 8 bis 10 Jahren auf. 61 Zuvor sind sie zwar in der Lage, über andere Personen und deren Eigenschaften Auskunft zu geben, aber auf Fragen über die eigene Person bleiben sie ratlos. Diese Befunde veranschaulichen, daß Fremdbeobachtungen und Fremdbeschreibungen den Vorstellungen von einer eigenen Individualität vorausgehen. Das Kind entwickelt zuerst Bewußtsein von seinen Partnern und deren Mentalitäten. Es entwickelt auch einen Begriff vom eigenen Körper, der wie andere Objekte mit Permanenz und Materialität ausgestattet wird. 62 Aber entscheidend für die spätere Vorstellung von einem Ich sind die bereits gemachten sozialen Erfahrungen. Sie sind "Bausteine der individuellen Selbst-Sichten"63 und gehen dementsprechend in die Selbstbeschreibung als ein Material ein, das aus der Beschreibung anderer Personen gewonnen wurde. Das Selbst-Konzept existiert also keineswegs vor jeder Erfahrung. Es ist im Gegenteil aus dem Bereich sozialer Interaktionen gewonnen und in diesem verankert. 64 Daher kann es auch nur in diesem Kontext eine kognitive Funktion haben. SignifIkant ist das Selbst-Konzept allein als soziale Größe. Wir erleben uns über das Erleben anderer. Wie Schachter und Singer experimentell nachwiesen, hängt sogar die Benennung der eigenen Stimmungslage als Zorn oder Euphorie davon bzw. Begriffen, und diese duale Entwicklung von Objekten ... führt zu einer scharfen Spaltung der Erfahrung in zwei Bereiche, einen ,externen' und einen ,internen' "; ebd. 169. 61 Vgl. die Arbeiten von Secord und Peevers, Personenkonzepte 1982,47. 62 Zu der schwierigen Frage, wie der Organismus seinen eigenen Körper von anderen Objekten zu unterscheiden lernt, vgl. v. Glasersfeld (Kybernetik 1987, 171): "Einer der primären Faktoren scheint die Erfahrung zu sein, daß bestimmte visuelle Gegenstände motorisch kontrolliert werden können . . . Ist der visuelle Gegenstand etwa die Hand des Organismus, dann kann noch eine weitere Art von Signal mit den visuellen bzw. Bewegungssignalen korreliert werden, nämlich die durch die aktive Bewegung der Hand erzeugten propriozeptiven Signale ... Diese besondere Koordination der motorischen Kontrolle auf der Basis visueller Rückkoppelung, etwa in den Handbewegungen menschlicher Kleinkinder, ist eine schwierige Aufgabe und wird in der Regel nicht vor dem Alter von sechs oder sieben Monaten bewältigt"; vgl. auch Bower, Perceptual World 1977.

63 Rusch, Erkenntnis 1987, 133. 64 Aufgrund dieser Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung dürfte ausreichend belegt sein, daß das Selbst-Konzept eine soziale bzw. gesellschaftliche Größe ist. Strauss (Spiegel 1974, 49) spricht daher mit gutem Grund von einer "situationsgebundenen Identität" und wehrt sich damit gegen die Annahme einer eingewurzelten und früh geformten Charakterstruktur. Er unterstreicht dagegen die ,,kreativen wie auch riskanten Möglichkeiten der Diskonitinuität" (ebd., 29). Das läßt sich auch in der historischen Dimension der Genese von Ich-Bewußtsein nachweisen. So war noch in der frühen Neuzeit die Vorstellung von einem einheitlichen Bewußtsein, das Gefühle erlebt und bis zu einem gewissen Grad kontrolliert, keineswegs selbstverständlich. Der mittelalterliche Empirismus der Hexenverfolger gründete auf der Gewißheit von Besessenheit oder Beseeltheiten, denen Körper und Seele ausgeliefert sind; vgl. hierzu z. B. Duerr, Traumzeit 1978; Feyerabend, Methodenzwang 1977, 66. Zum etymologischen Material der Bewußtseinsentwicklung vgl. lllies, Kultursoziologie 1978. Daß die Einheitlichkeit des Bewußtseins durchaus nicht selbstverständlich ist, zeigt das Erleben schizophrener Personen, siehe Laing, Selbst 1976; ders. Erfahrung 1979; Ciompi, Schizophrenie 1985, 59; Hell, Gestefeld, Schizophrenien 1988.

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ab, welche Art von Interaktionen vorher stattgefunden haben. 65 Eine andere Untersuchung machte deutlich, in welchem Umfang Veränderungen der soziologischen Kontexte wie Umzüge, Berufswechsel etc. Veränderungen in der Selbsteinschätzung zur Folge haben. Bierbrauer stellt dazu fest, daß z. B. "die wiederholte Teilnahme an Protestmärschen und Demonstrationen ... dazu führen (wird), sich als politischer Aktivist oder Radikaler zu begreifen. Die Art und Weise der Interaktionen veraniaßt das Individuum, sein Selbst zu definieren. Das Resultat dieses Definitionsprozesses wird dann umgekehrt wichtig für zukünftige Handlungen und Interaktionen. u66 dd) Selbstkonzept und Selbstzuschreibung Soeben haben wir in Umrissen den genetischen Aspekt der Vorstellung von Identität aufgezeigt: Sie erwächst aus den Erfahrungen im Umgang mit anderen. Was die funktionale Seite der Fähigkeit zur Selbstbeschreibung betrifft, haben wir weiter oben mit Maturana und Varela gesagt, daß das Ich der Bewahrung der sprachlichen Kohärenz dient, die ihrerseits Verhalten zu koordinieren vermag. Dementsprechend besteht die Funktion des Selbst-Konzeptes darin, alle Arten von Handlungen, die eine Person in den unterschiedlichsten Funktionen ausführt, kohärent integrieren zu können. Sie muß folglich in der Lage sein, widersprüchliche Einstellungen und Verhaltensweisen auszugleichen und für veränderte Situationen offen zu sein. Dies gelingt der Person nur, wenn in kognitiver Hinsicht gewisse Konsistenzbedingungen erfüllt sind. Hierzu zählt vor allem, daß jede Handlung, die die Person ausführt, als ihre eigene Leistung verrechenbar ist. 67 Auch neuartige Verhaltensweisen und solche, die nicht ohne weiteres mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen, müssen noch als persönlichkeitsadäquat erlebt werden können. Über das Selbst-Konzept wird das Individuum instand gesetzt, Verhalten als sein Verhalten zuzuschreiben. Infolgedessen muß das Selbstbildjedenfalls so variabel sein, daß es mit neuen Erfahrungen konsistent gehalten werden kann. Es darf nicht so spezifisch sein, daß Verhalten überwiegend als fremdbestimmt angesehen wird. Ein derartiges Selbst-Konzept würde den Kontakt mit anderen Personen erschweren und schließlich die soziale Integration verhindern. 68 65 Schachter, Singer, Determinants 1962,379: "Offenbar stellten die beteiligten Probanden zunächst nur fest, daß sie psychologisch erregt waren. Die spt:~ifische Benennung, welche Emotion erlebt wurde, hing von dem situativen Kontext ab." Ahnliches erbrachten die Experimente von Bem, Self-Perception 1972. 66 Bierbrauer, Attitüden 1976, 12. 67 Anderenfalls treten Persönlichkeitsdissoziationen auf. Bierbrauer (Attitüden 1976, 12) berichtet, daß solche Störungen dadurch vermieden werden, daß sich Personen auch hinter nicht ohne weiteres auf die eigene Person verrechenbare Handlungen stellen, was mit ihrem Selbstbild inkonsistent ist. 68 Zu den von einigen Identitätstheoretikeren als typisch angesehenen Problemlagen der Entwicklung und Erhaltung einer kohärenten Vorstellung von der eigenen Persönlich-

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Andererseits muß das Selbst-Konzept hinreichende Unterschiede zu den Interaktionspartnern begründen können. Diese Unterscheidungen sind das, was als Aspekte oder Merkmale derselben Person zugeschrieben und in einem einheitlichen Selbst-Bild integriert werden kann. 69 Zwar sind diese Kennzeichen der Person strukturdeterminiert und damit der Modifikation durch neue Erfahrungen ausgesetzt, aber sie stellen doch eine relativ geschlossene Einheit dar, die die Identität der Person ausmacht. Was als Ich-Identität bezeichnet wird, ist demnach eine dynamische Konzeption, die um einen stabilen Kernbereich konvergiert. 70 Die Veränderungen im Selbst-Bild werden durch eigene und fremde Identitätszuschreibungen, Selbstbewertungen, Wünsche und Bedürfnisse in Gang gehalten und erfordern vom Individuum in allen Interaktionszusammenhängen fortwährend, seine Identität neu zu gewinnen. 71 ee) Selbstkonzept und Abstraktion Bisher haben wir erörtert, daß die in Selbstkonzepten verdichteten Selbstbeschreibungen die Funktion haben, unterschiedlichste Handlungen als Ausdruck einer einheitlichen Persönlichkeit zu integrieren. Damit enthüllen sich Selbstbeschreibungen als Selbstzuschreibungen. Merkmale und Handlungen des individuums sollen als dessen Leistung erkennbar sein. Es bleibt die Frage, inwiefern keit vgl. Krappmann, Identität 1969; McCall, Simmons, Identität 1974; S~ve, Persönlichkeit 1972; Jacobson, Selbst 1973; Mead, Identität 1978; zur Identitätsproblematik am Beispiel eines konkreten Falles (Georg Trakl) siehe Rusch, Schmidt, Voraussetzungssystern 1983, Kapitel 2, 3, 7. 69 Genauer gesagt: Als Beobachter beschreibt die Person ihre Identität selbst und zwar im Prozeß der strukturellen Koppelung mit dem Medium. Luhmann (Bewußtsein 1987, 54) spricht denn auch von der Identität als der Einführung der Einheit des Systems in das System mittels einer Unterscheidung: "Wenn es als Operationseinheiten des Systems nichts anderes gibt als (bewußte) Gedanken und diese Gedanken einander durch unterscheidende Bezeichnung beobachten und so rekursiv reproduzieren können, kann nur diese und keine andere Operation für Individualisierung in Betracht kommen ... Auch die Beobachtung der Einheit des Systems im System kann nur durch Gedanken und nur in der Form einer unterscheidenden Bezeichnung erfolgen." Mit anderen Worten dasselbe sagen Maturana, Varela (Erkenntnis 1987, 250), "daß es die Sprache ist, in der ein Selbst, ein Ich, entsteht - und zwar als jene soziale Singularität, die durch die operationale Überschneidung der rekursiven sprachlichen Unterscheidungen, in denen das Ich unterschieden wird, im menschlichen Körper entsteht". 70 Rusch, Erkenntnis 1987, 135: ,Jm Sinne dieser Überlegungen stellt ein SelbstKonzept sozusagen den organisationellen Kern oder den Set von Konstruktionsprinzipien und -axiomen dar, auf dessen Grundlagen eine Person Verhalten als ihr Verhalten synthetisiert, beobachtet, identifiziert und bewertet." 71 Holzkamp erblickt im Ich-Bewußtsein darüber hinaus eine Instanz, die zwischen konkreten Lebenszentren und gesamtgesellschaftlichen Lebenszusammenhängen vermittelt, "indem hier das Individuum nicht mehr in den jeweiligen kooperativen Gemeinschaften ,aufgeht' und verschwindet, sondern sich als ,ich' zu diesen ,verhalten' kann, nicht aufgrund irgendeiner geheimnisvollen Potenz des Bewußtseins selbst, sondern aufgrund der materiellen Aufgehobenheit im die einzelnen unmittelbaren Kooperationseinheiten übergreifenden gesamtgesellschaftlichen Erhaltungssystem"; vgl. Psychologie 1983,488.

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Selbstkonzeptualisierungen dieser Art der Autopoiese, also dem Überleben sprachbegabter Organismen, nützlich sein können. Um hierauf im Rahmen der biologischen Kognitionstheorie eine Antwort geben zu können, müssen wir uns an ein besonderes Merkmal autopoietischer Verhaltensweisen erinnern, nämlich an das der Induktivität. 72 Wir sagten, daß die zirkuläre Organisation des Nervensystems notwendigerweise induktiv derart vorgeht, daß sie von jeder Interaktion prognostizierend auf die nächste schließt. Aufgrund von einzelnen Beobachtungen werden mittels der induktiven Logik abstraktere "Theorien" gefolgert. Es handelt sich dabei um die Voraussage über den allgemeinen Fall, daß bestimmte Klassen von Interaktionen von derselben Art bleiben. Der Organismus erarbeitet sich auf diese Weise Konstanten oder Regelmäßigkeiten, die künftige Orientierung erleichtern und singuläre Aussagen überwinden helfen. Auf der Ebene des Bewußtseins haben wir es bei der induktiven Vorgehensweise mit dem Phänomen der Abstraktion und der Erfassung von Relationen zu tun. Abstraktion heißt so viel wie Zusammenzug oder Verdichtung von Erfahrung. Kybernetisch gesprochen kann man Abstraktion auch als "Auszug der Invarianz" bezeichnen: Im Fluß verschiedenartiger Interaktionen wird etwas Gemeinsames, ein übergeordnetes Ganzes erfaßt. 73 Wir werden im nächsten Kapitel sehen, daß 72 Vgl. zum lebenden System als einem ,,folgernden" System Maturana, Kognition 1985,52; Roth, Gehirn 1990, 171. 73 Vgl. Ciompi, Affektlogik 1982, 77: ,,Der grundlegende Vorgang der Abstraktion besteht effektiv darin, daß in einer Vielfalt von verschiedenartigen Phänomenen etwas Gemeinsames, ein in bestimmtem Sinn ,einheitliches Gesamtphänomen', das heißt ein übergeordnetes ,Ganzes', erfaßt wird". Diesem Vorgang der Abstraktion verdankt sich nach Ciompi (ebd, 171) die Existenz der Psyche: "Das eigentliche Wesen des PsychischGeistigen scheint die Verdichtung von ,Information' zu sein, was zugleich die Umsetzung von etwas Diachronem (das heißt in der Zeit ablaufenden konkreten Geschehens, des ,Widerfahrenden', der Erfahrung) in etwas Simultanes, Syn- oder Achrones (das heißt in ein ,Abstraktum') bedeutet. Was aus- und zusammengezogen wird, sind offenbar in erster Linie die (in ihrem Wesen mathematischen, das heißt eben ,abstrakten') Relationen zwischen den konkret begegnenden Fakten, vor allen Dingen ihre Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten". An anderer Stelle führt Ciompi aus, daß der Verdichtungsprozeß der Abstraktion so vieldeutig verwendete Begriffe wie "Struktur", "System" und ,,Differenzierung" zu entschlüsseln vermag: "Wenn nämlich der Abstraktionsvorgang immer wieder im Auffmden von versteckten Gemeinsamkeiten aus einem zunächst ganz regellos erscheinenden Durcheinander von disparaten Einzelheiten besteht, so werden damit zugleich typische ,Strukturen' ... begründet ... Mit anderen Worten, ein gemeinsames Element (= eine Invarianz) verbindet sich gesetzmäßig mit etwas immer wieder Neuem (= Varianz); verallgemeinernd formuliert, kann eine typische Struktur damit als Kombination oder Produkt einer Invarianz mit einer Varianz defmiert werden. Bedeutsamerweise deckt sich dieser Strukturbegriff völlig mit dem modemen Begriff eines ,Systems' ... Und eine .Differenzierung' (Transformation) besteht theoretisch ganz einfach in der Einführung von immer mehr ,Varianz' in eine gegebene ,Invarianz', konkret z. B. in der immer weiter getriebenen Abwandlung des gleichen Bau- und Organisationsprinzips einer Pflanze, einer Tierart oder eines Fahrzeugtyps", Ciompi, Außenwelt, Innenwelt 1988, 142. Die Nähe zum Autopoiesekonzept ist frappierend: Denn die Invarianz ist nichts anderes als jene übergeordnete Gesetzmäßigkeit - die Organisation bzw. bei

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der ,,Auszug der Invarianz" zur Erkennung von typischen Strukturen und damit zu den kognitiven Schemata einer Konstruktion der Welt führt. Es wird in diesem Zusammenhang vor allem darauf ankommen, die enge Beziehung zwischen der Abstraktion und der Bewußtwerdung zu diskutieren. Denn vieles spricht dafür, daß das "Geistige" und das "Denken" in erster Linie im Erfassen von Ganzen und von Relationen zwischen Ganzen besteht. An dieser Stelle genügt die Feststellung, daß das Individuum mit Hilfe des "Auszugs der Invarianz" bzw. der Konstruktion von Konstanten seine Interaktionen unter Kontrolle hält, indem er sie vorhersagbar macht. Zu den wichtigsten kognitiven Instrumenten zählt sicherlich das Wissen des Individuums darüber, wer Kontrolle über die eigenen Handlungen ausübt.·Im Zentrum jeden Selbstkonzeptes stehen folglich Überzeugungen, die sich auf die Urheberschaft von Verhalten beziehen. Es geht um die Frage, ob und welche Personen eigenes Verhalten durch interne oder durch externe Kräfte verursacht ansehen. Zu diesem Thema gibt es heute eine kaum noch überblickbare Flut von Untersuchungen. 74 Sie nahm ihren Ausgang von Rotters Konstrukt der" internen/ externen Kontrollüberzeugung " und hat im wesentlichen seine Thesen bestätigt. 75 Ich möchte im folgenden auf das Konzept der Kontrollüberzeugung nur soweit eingehen, als es Aufschlüsse über die Konstruktionsprinzipien des Selbstbildes gibt. Darüber hinaus soll gezeigt werden, daß die Funktion der Kontrollüberzeugungen wie jeden kognitiven Schemas darin besteht, sprachliche operationale Kohärenz zu erzeugen. Keinesfalls reflektieren diese Vorstellungen "Wirklichkeit". Sie können allerdings Anschlußhandlungen und damit "Wirklichkeit" produzieren. ff) Selbstkonzept und Kontrollüberzeugung Der Kontrollbegriff ist ein zentraler Begriff in der derzeitigen sozialpsychologischen Forschung. 76 Vielfach wird ein Bedürfnis unterstellt, sich und die Umwelt unter kognitiver Kontrolle zu halten. 77 Adäquates Handeln erfordere die Vorhersagbarkeit der Interaktionen, so lautet die Hypothese. In diesem theoretischen lebenden Systemen die Autopoiese - , der die einzelnen Strukturen (Invarianzen) ihre Ganzheit verdanken. Vgl. zum Systembegriff desweiteren Piaget, Strukturalismus 1973; MiIler, Systems 1975. 74 Siehe die umfangreiche Literatur bei Mielke, Locus 01 control 1982, 15; Rotter, Kontrolle 1982,43; Niketta, Locus 01 controll982, 76; Meyer, Bekräjtigungskontrolle 1982,63; Krampen, Kontrollüberzeugungen 1982; Ernst, Illusionen 1989,22. 75 Die Locus-of-control-Theorie wurde erstmals von Rotter (Control olreinforcement) im Jahre 1966 vorgestellt und ging aus der Sozialen Lemtheorie hervor; vgl. dazu Social Learning 1954; Social Learning 1972. Diese Modelle vertreten die Auffassung, daß die Auftretenswahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens maßgeblich von zwei Bestimmungsstärken abhängt: von der Erwartung, daß das Verhalten zum Ziel führt, und von dem Wert, den das Individuum dem Erreichen des Ziels zuordnet. Die Rottersche Theorie arbeitet eine Variante einer solchen Erwartung aus. 76 Vgl. den Reader von Perlmuter und Monty, Choice 1979. 77 Z. B. von Wortrnan, Causal attributions 1976; Burger, Cooper, Controll979, 381.

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Rahmen ist das "internal-externallocus of control"-Konzept ein Ansatz, der von interindividuellen Unterschieden in der wahrgenommenen Kontrolle ausgeht. 78 Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß Individuen in der Interaktion mit ihrer Umwelt Erfahrungen darüber machen, ob Ereignisse 79 als Folge eigener Handlungen oder eigener Charakteristika auftreten oder nicht. Diese Erfahrungen können zu allgemeineren Erwartungshaltungen generalisiert werden, deren Inhalt eine stärker innengeleitete Orientierung und Ursachenzuschreibung oder eine stärker außengeleitete Orientierung und Ursachenzuschreibung ist. 80 Personen mit internen Kontrollüberzeugungen haben demnach generalisierte Erwartungen, daß positive oder negative Ereignisse die Folge eigener Handlung sind 81, während Personen mit externer Kontrollüberzeugung keinen Zusammenhang zwischen Ereignis und eigener Handlung wahrnehmen. Bedeutsam für die weiteren Überlegungen ist nun, daß Personen mit unterschiedlichen Kontrollüberzeugungen nicht danach unterschieden werden können, ob sie sich eher passiv oder eher aktiv verhalten und ob sie sich etwa politisch organisieren oder nicht. Mit Bezug zu den Werten auf der Skala "interpersonales Verhalten" (ein weiteres Konstrukt generalisierter Erwartungen) differenziert Rotter die extern orientierten Personen in "defensive-externale" und "passiveexternale " . 82 Danach können letztere als fatalistisch orientiert bezeichnet werden; sie führen bedeutsame Ereignisse in ihrem Leben vor allem auf Glück, Zufall oder Schicksalskräfte zurück und verfügen gleichzeitig über ein relativ hohes Maß an interpersonalem Vertrauen. 83 Die defensiv-externalen Personen projizie78 Niketta, Locus 0/ Control 1982, 76. Im deutschen Sprachraum hat sich noch kein einheitlicher Begriff für das Kontroll-Konzept etabliert. Als Übersetzungen werden z. B. vorgeschlagen: "Verstärkungskontrolle", "Internale versus externale Kontrolle", "Selbstverantwortlichkeit", "Ort der Steuerung", "Kontrollwahrnehmung" etc.; zur Begriffsvielfalt vgl. Krampen, Kontrollüberzeugungen 1982, l. 79 Rotter spricht nicht von Ereignissen, sondern von "Verstärkern" (reinforcement) und ,,Erwartungen", was deutlich auf den Ursprung des Konstrukts einerseits in den Reiz-Reaktionstheorien und andererseits in den kognitiven Theorien hinweist; siehe Mielke, Locus 0/ControI1982, 15. 80 Das Konzept der "generalisierten Erwartungshaltung" stimmt mit der" induktiven" Operationsweise lebender Systeme überein, wenn es annimmt, "daß ein Organismus, wenn er zwei Situationen als ähnlich wahrnimmt, seine Erwartungen für eine bestimmte Art von Verstärkung bzw. eine Klasse von Verstärkungen von einer Situation auf eine andere generalisiert ... Erwartungen sind in jeder Situation nicht nur durch spezifische Erfahrungen in dieser Situation dertenniniert, sondern auch, in einern gewissen variablen Ausmaß, durch Erfahrungen in anderen Situationen, die das Individuum als ähnlich wahrnimmt", Rotter, Kontrolle 1982, 45. 81 Die Sozialpsychologin Shelly Taylor nennt die mit der internen Kontrollüberzeugung einhergehende Selbstüberschätzung "positive Illusionen", siehe Ernst, Illusionen 1989,23. 82 Rotter, ebd. 44. 83 Eine ähnliche Differenzierung des Konstruks der Kontrollüberzeugungen schlägt Levenson (ControI1974, 377) vor; ,,(1) lnternalität, d. h. die subjektiv bei der eigenen Person wahrgenommene Kontrolle über das eigene Leben; (2) Externale Kontrollüberzeugungen, die durch Gefühle der Machtlosigkeit, der Abhängigkeit von mächtigen

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ren Erfolge und Mißerfolge häufig auf andere Menschen. Ihre Externalität ist auf Gefühle der Abhängigkeit von mächtigeren Personen begründet; ihr interpersonales Vertrauen ist gering. Dennoch werden sie von Rotter als aggressiv, ehrgeizig und leistungsmotiviert beschrieben. 84 Sie finden sich seiner Ansicht zufolge besonders häufig unter Vertretern der protestantischen Ethik, die in der Prädestinationslehre noch nie ein Hindernis für erfolgreiches ökonomisches Handeln gesehen hätten. Nachfolgend soll in den Übersichten 3 und 4 die Beziehung der Kontrollüberzeugung zur Attribution von Ursachen aufgezeigt werden. 85 Nach Heider 86 sind die Handlungsweise eines Menschen und die Ergebnisse dieser Handlungsweise auf die Wechselwirkung zweier Gruppen von Faktoren zurückzuführen: jene, die innerhalb des Menschen, und jene, die außerhalb des Menschen liegen. Die Faktoren innerhalb des Menschen bezeichnet er als ,,Fähigkeit" und "Anstrengung", diejenigen außerhalb des Menschen als "Aufgabenschwierigkeit" und "GlÜck". Diese Dimensionen des Handeins verwendeten Weiner und Rosenbaum, um ein attributionales Modell der Leistungsbeurteilung zu entwickeln: Übersicht 3: Wahrnehmungen von Personen hinsichtlich der Ursachen von Erfolg bzw. Mißerfolg bei HandlungsetTekten in den Dimensionen internal / external und stabil/variabel (nach Weiner u. a., Perceiving 1972, 96).

Personenbezogenheit Stabilität

internal

extemal

stabil

Fähigkeiten Selbstvertrauen Persönlichkeitszüge

AufgabensteIlung soziale Normen Milieu

variabel

Anstrengung Absicht

Glück Gelegenheit

anderen Personen bedingt sind; (3) Fatalistische externale Kontrollüberzeugungen, die auf der Erwartung basieren, daß das Leben und Ereignisse in ihm von Schicksal, Glück, Pech und Zufall abhängen." 84 Eine Reihe von empirischen Untersuchungen bestätigen bislang die dreidimensionale Konzeption der "Kontrollüherzeugungen", wenngleich stets erhebliche Korrelationen zwischen den heiden Externalitäts-Skalen festgestellt werden; vgl. etwa Herrmann, Persönlichkeitsmerkmale 1973; Krampen, [pe-Fragebögen 1981; Rotter-Hochreich, Persönlichkeit 1979. 85 V gl. zur Attributionstheorie Six, Attribution 1987, 122. 86 Interpersonale Beziehungen 1977, 99.

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Übersicht 4: Ergänzung des Klassitikationsschemas der Übersicht 3 um die Dimensionen absichtlich/unabsichtlich (nach Rosenbaum, Perceived causes 1972, 21).

absichtlich

unabsichtlich

stabil

Potential eigener Anstrengungen z. B. Faulheit

Potential eigener Fähigkeiten; z. B. Intelligenz

variabel

aktivierte eigene Anstrengungen z. B. Ausdauer

aktivierte eigene Fähigkeiten; z. B. Stimmung

stabil

Potential der Anstrengungen anderer

Potential der Fähigkeiten anderer; Aufgabenschwierigkeit

variabel

aktivierte Anstrengungen anderer

aktivierte Fähigkeiten anderer; Glück

internal

external

Bevor wir aus der überraschenden Mitteilung, daß Externale leistungsmotiviert sein können, Schlüsse im Hinblick auf die Funktion kognitiver Schemata ziehen, möchte ich auf ein weiteres Kontrollkonzept, nämlich auf den theoretischen Ansatz des "Glaubens an eine gerechte Welt" ("belief in a just world") eingehen. 87 Dieses Konzept geht von Alltagsbeobachtungen und Experimenten aus, die zeigten, daß Opfer häufig für ihren Unglücksfall verantwortlich gemacht und darüber hinaus abgewertet werden, auch wenn die Tatumstände eine Verantwortungszuschreibung nicht nahelegen. Wie ist dieses Phänomen zu erklären? Lerner bringt seinen Erklärungsansatz auf das Grundpostulat: ,,A just world is one in which people ,get what they deserve"'.88 Hiernach wird die Überzeugung von einer gerechten Welt in allen denkbaren Situationen aufrechterhalten. 89 87 Vgl. zu dem Equity·Ansatz die Literaturübersicht bei Mikula, Gerechtigkeitsforschunf;: 1982, 13; ders., Gerechtigkeit 1987, 174. 88 Lerner, Just World 1980, 11. 89 Uneinigkeit herrscht darüber, nach welchen Maßstäben die distributive Gerechtigkeit bewertet werden soll. Die einen Theoretiker verwenden nur ein einziges Gerechtigkeitskriterium, das Equity- oder Ausgewogenheitsprinzip. Danach ist eine Verteilung in einer Beziehung dann ausgewogen und gerecht, wenn das Verhältnis zwischen den zur Beziehung geleisteten Beiträgen und den aus der Beziehung erzielten Ergebnissen für alle Beteiligten als gleich wahrgenommen wird (vgl. Walster, Walster, Berscheid, Equity 1978). Bei der Definition dessen, was als berücksichtigungswürdiger Beitrag anzusehen ist, spielen die Eigeninteressen der Beteiligten eine zentrale Rolle. Damit vertreten die Equity-Theoretiker die anthropologische Auffassung von der eigensüchtigen, nutzen-

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Folgender Verlauf gilt als typisch: Die Beobachtung eines fremden Unglücks verletzt das Prinzip der gerechten Welt. 90 Wenn aber dieses Prinzip nicht mehr funktioniert, ist anzunehmen, daß dem Beobachter ähnliches Unglück widerfahren kann. Um dieses zu vermeiden, wird die Person bemüht sein, die Ungerechtigkeit aufzuheben, um damit wieder eine gerechte Welt herstellen zu können. Diese Herstellung der gerechten Welt kann auf zweierlei Weise geschehen: Erstens werden Handlungen unternommen, die das Unglück kompensieren helfen. 91 Zweitens können die beteiligten Kognitionen verändert werden: Da die Welt gerecht ist, wird dem Opfer die Verantwortung zugeschrieben. 92 Dann hat das Opfer das Unglück verdient, und die Gerechtigkeitsbalance ist eingehalten. Umgekehrt gesteht man den vom Schicksal Begünstigten Verdienste zu, die sie augenscheinlich nicht besitzen, aber um der Gerechtigkeit willen besitzen "müssen". Zahlreiche Studien haben diese Hypothesen bestätigt. 93 So wurden Studenten, die bei einer zufallsabhängigen Lotterie das große Los gezogen hatten, von ihren maximierenden Natur des Menschen, eine Auffassung, die in politischer Hinsicht den soziologischen Machttheorien nahe steht (vgl. weiter unten, Kap. 311). Andere Autoren vertreten einen Mehr-Prinzipien-Ansatz (z. B. Lerner, Whitehead, GerechtigkeitsmotivTheorie 1980,251; Leventhal u. a., Verteilungspräferenzen 1980, 185; Mikula, Gerechtigkeit 1987, 175). Zu den verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen, denen Verteilungen zugrundegelegt werden können, und die aufgrund gesellschaftlicher Übereinkünfte unter bestimmten situativen Bedingungen als gerecht angesehen werden, zählen u. a. das Gleichheitsprinzip (,jedem das Gleiche"), das Beitragsprinzip ("jedem gemäß seiner Beiträge") und das Bedürjnisprinzip (,jedem gemäß seiner Bedürfnisse"). Die bisher gewonnenen Befunde zeigen u. a., daß in primär ökonomisch orientierten Beziehungen eher das Beitragsprinzip, in solidaritäts orientierten Beziehungen das Gleichheitsprinzip und in fürsorgeorientierten Beziehungen das Bedürfnisprinzip als angemessen erachtet und angewandt wird. Neben diesen situativen Determinanten werden auch kulturelle und historische Faktoren (z. B. von Montada, Gerechtigkeit 1980, 301; Sampson, Gerechtigkeit 1980,331) sowie entwicklungspsychologische Faktoren (insbesondere von Lerner, lustice motive 1977, 1) für die Angemessenheit verschiedener Regeln verantwortlich gemacht. Zur Problemgeschichte der Gerechtigkeitsvorstellungen in der Rechtsphilosophie vgl. Arthur Kaufmann, Gerechtigkeitl984. 90 Nach Auffassung der Equity-Theoretiker gilt das Unbehagen für unparteiische Beobachter ebenso wie für Teilnehmer des Geschehens, allerdings fällt bei den "Unparteiischen" die Reaktion weniger heftig aus (vgl. Austin, Equity Theory 1977, 279). Verschiedene Autoren haben dieses Unbehagen unterschiedlich benannt: als Schuld, Empathie, Furcht vor Vergeltung, Dissonanz, konditionierte Angst, Scham, Ärger etc. Überwiegend werden zwei Quellen für das empfundene Unbehagen genannt: das Vergeltungs-Unbehagen und das Selbstkonzept-Unbehagen; vgl. Austin, Hatfield, Equity-Theorie 1980, 30. 91 Es geht hierbei um die Wiederherstellung tatsächlicher Ausgewogenheit: Der Ausbeuter soll Entschädigung leisten (siehe Walster u. a., Equity 1978). Gelingt dies nicht, verändern die Opfer häufig ihr eigenes Verhalten. Z. B. reduzieren Personen, die sich unterbezahlt fühlen, i. d. R. die Quantität und die Qualität ihrer Arbeitsleistung; Adams, lnequity 1965,267. 92 Hier geht es um die Wiederherstellung psychologischer Ausgewogenheit durch Rationalisierungstechniken. Zur Leugnung der eigenen Verantwortung vgl. Sykes, Matza, Techniques ofneutralization 1957,664; zur Abwertung des Opfers vgl. Glass, Changes in linking 1964,531; zur Bagatellisierung des Leidens Brock, Buss, Effects ofjustification 1964,403.

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Kommilitonen im Nachhinein als arbeitsamer eingeschätzt als die, die leer ausgingen. Andererseits wurden Personen, die ohne eigenes Zutun mit einem Auto verunglückten, dennoch verantwortlich gemacht und dies umso nachdrücklicher, je größer der angerichtete Schaden war. Auf dieser Linie liegt auch, daß Personen, deren Verantwortlichkeit deutlich herausgestellt wird, nicht sonderlich abgewertet werden. Denn ihr Geschick zieht, da ,,recht und billig", den Glauben an die gerechte Welt nicht in Zweifel. Besteht aber der leiseste Verdacht, daß man am Unglück anderer mitschuldig ist, wird das Opfer mit Vorwürfen überhäuft. Dies belegt eine andere Studie: In einer getürkten Verlosung von zwei Zetteln zogen die Versuchspersonen das Glückslos, das sie selbst in eine Versuchsreihe mit Belohnungen beförderte. Für den jeweils anderen Teilnehmer blieb so nur der Zettel übrig, der ihn zu Experimenten mit Elektroschocks "verdonnerte". Trotz der vermeintlichen Zufallsentscheidung fühlten sich die Teilnehmer für das Schicksal ihres jeweiligen Gegenspielers verantwortlich. Genau deshalb setzten sie ihn aber auch menschlich herab und stellten so ihren Glauben an die Gerechtigkeit der Welt und an ihre Rechtschaffenheit wieder her. Versuchspersonen, die selbst und als erste das Unglückslos gezogen hatten, entgingen dieser Diskriminierung. Sie hatten sich ihr Mißgeschick in den Augen der anderen eben selbst eingebrockt und waren so keine Gefahr für das kognitive Schema der "gerechten Welt". 94 Erwähnt sei noch, daß die Herabsetzung des Opfers verschiedenen einschränkenden Bedingungen unterliegt. 95 Neben der Attraktivität und dem hohen Status des Opfers ist es vor allem das Mitgefühl, das einer Bezichtigung des Geschädigten entgegenwirkt. Nach der ausdrücklichen Aufforderung, sich in die Haut des Opfers hineinzuversetzen, machten Versuchspersonen dieses viel weniger für sein Unglück verantwortlich als ohne diese Amegung. Allerdings zeigt dieses Beispiel auch, woraus die Empathie erwächst: aus der Erwartung des Beobachters, in eine ähnliche Situation wie das Opfer zu kommen. 96 93 Im folgenden beziehe ich mich auf unveröffentlichte Untersuchungen zum Glauben an eine heile Welt, die von einer Gruppe von Psychologen um Leo Montada von der Universität Trier durchgeführt wurden. 94 Die Bedeutung von Attributionsprozessen für die Konsequenzen wahrgenommener Ungerechtigkeiten belegt eine Studie, deren Versuchspersonen über die Täter und Opfer von fmgierten Notzuchtverbrechen zu Gericht saßen. Dem Vergewaltiger einer Jungfrau wurde erwartungsgemäß ein besonders hohes Strafmaß zugesprochen. Verblüffend aber ist, daß die Juroren der Jungfrau viel mehr Mitverantwortlichkeit als einer Geschiedenen, die ebenfalls vergewaltigt worden war, unterstellten. Daß einer ,,hochrespektablen" Jungfrau solches widerfährt, beeinträchtigt offenbar unsere Beschönigungen weit mehr als das gleiche Schicksal einer scheinbar weniger ehrenhaften Ex-Ehefrau; vgl. hierzu auch Utne, Kidd, Attribution 1980, 69. 95 Vgl. Niketta, Locus 0/ Control 1982, 88. 96 Dennoch zeigt die umfangreiche Forschung (Walster u. a., Equity 1978), daß Empathie durch zahlreiche .. /mmunisierungsstrategien" in Grenzen gehalten wird. Häufig sind nämlich ,.Ausbeuter" wie auch "Opfer" dazu imstande, sich selbst einzureden, daß die unausgewogenste Austauschbeziehung in Wirklichkeit vollkommen fair ist. Dieses Bedürfnis, die Welt als ausgewogen wahrzunehmen, stellt das Fundament dar, auf dem

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Welche Schlußfolgerungen legen diese Studien nahe? Es ist offensichtlich, daß die Überzeugung von einer gerechten Welt dem beschriebenen Abstraktionsprozeß entspricht. Wer eine derartige Vorstellung aufgebaut hat, erzeugt eine erwartbare und somit stabile Umwelt, mit der er sich auseinandersetzen und in der er agieren kann. In diesem Fall wird ein ethisches Prinzip zur Konstante "ausgezogen". Die Gerechtigkeitsmaxime erlaubt, längerfristige Ziele zu verfolgen und die Wegstrecke unter Kontrolle zu halten. 97 Derselbe Mechanismus einer ,,kognitiven Kontrolle" der Umwelt drängt sich auch bei der internalen Kontrollüberzeugung auf. Mit der Attribuierung interner Kausalität auf die eigene Person nimmt sich das Individuum als Urheber von kausalen Abläufen, als "Täter" und nicht als "Opfer" wabr. 98 Sieht das Individuum sein Verhalten als durch interne Kräfte verursacht an, unterliegt es seiner Kontrolle. Infolgedessen wird Freiheit induziert, was nicht nur ein Gefühl "persönlicher Verursachung", sondern auch "persönlicher Verantwortung" erzeugt. 99 Im Hinblick auf die externe Kontrollüberzeugung und den Glauben an eine ungerechte Welt scheint der Effekt kognitiver Kontrolle zu fehlen. Tatsächlich werden diese Konstrukte eher "unreifen" Selbstbildern zugeschrieben, die durch Inkonsistenz des elterlichen Erziehungsverhaltens hervorgerufen wurden. 100 Es die "Mächtigen" eine Sozialphilosophie entwickeln können, nach der jeder sein jeweiliges Los verdient. Diese komplementäre Bereitschaft kommt bei Karl Marx zu kurz, wenn er den Zusammenhang von Macht und Gerechtigkeitsphilosophie in eine lineare Beziehung auftrennt: ,,Die Individuen, welche die herrschende Klasse ausmachen ... , herrschen auch als Denkende und als Produzenten von Gedanken und regulieren die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit ... " (Deutsche Ideologie 1969, 46). 97 Bei vielen Problemen im sozialen Interaktionsgeschehen ist es für die kognitive Kontrolle der Welt wichtig, daß über eine bloße Ursachenzuschreibung zugleich auf eine Verantwortlichkeitszuschreibung vorgenommen wird; vgl. Meyer, Schmalt, Attributionstheorie 1978. Wie eine solche auf dem Boden der biologischen Kognitionstheorie auszusehen hat, diskutieren wir ausführlich weiter unten, siehe Kap. 2 11 3 sowie Kap.

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98 Im Unterschied zu Heider nimmt DeCharms (Motivation 1979) an, daß jedes Individuum das Bedürfnis hat, Urheber ("origin") von kausalen Abläufen zu sein, daß er nach "persönlicher Verursachung" ("personal causation") strebe. Sieht es das Verhalten durch externe Kräfte verursacht, so wertet es dieses Verhalten ab, es sieht sich als "Opfer", als Bauer im Schachspiel ("pawn"). Diese "origin-pawn" -Variable ist nicht nur in der Selbstwahrnehmung, sondern auch in der Fremdwahrnehmung wirksam.. 99 Die Betonung liegt nach DeCharms auf dem Gefühl, auf dem Erleben und nicht auf der Wahrnehmung einer "wirklichen" Freiheit bzw. Kontrolle: "We do not see control, we feel it", Motivation 1979,31. Und Mead (Identität 1978, 221): ,,Das ,Ich' liefert das Gefühl (!) der Freiheit, der Initiative." 100 V gl. zu den vermeintlichen Korrelaten von Kontrollüberzeugungen und familiärer Sozialisation Krampen, Kontrollüberzeugungen 1982, 138. An diesem Punkt ist Vorsicht geboten: Es kann in therapeutischer Hinsicht niemals darum gehen, daß sich das KontrollKonzept auf die Erhaltung der Handlungsfähigkeit unter fremdbestimmten Lebensbedingungen beschränkt,und sich damit ein "Kontrollbedürfnis" in seiner defensiven, asozialen und reaktionären Form als allgemein-menschlich verabsolutiert; zur berechtigten Kritik an Kontrolltheorien, die ein anthropologisches Bedürfnis nach Kontrolle postulieren, statt diese als kognitives Konstrukt zu begreifen, vgl. U. Holzkamp, Kontrollbedürjnis 1987,222.

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gelte bei den external Orientierten, den Glauben an die eigenen Kontrollmöglichkeiten aufzubauen oder zu stärken. Dies ist sicherlich dort angebracht, wo Kontrollverlust eingetreten ist, etwa weil zwischen eigenem Verhalten und Konsequenzen keinerlei Beziehungen mehr hergestellt werden. In solchen Fällen wird die Umwelt als unkontrollierbar erlebt und, wie Seligman sagt, "Hilflosigkeit gelernt". 101 Dieser Zustand der gelernten Hilflosigkeit führt zu Störungen in motivationalen, kognitiven und emotionalen Bereichen: "Die Erwartung, daß eine Konsequenz von den eigenen willentlichen Reaktionen unabhängig ist, (a) senkt die Motivation, diese Konsequenz kontrollieren zu wollen, (b) interferiert mit der Fähigkeit zu lernen, daß die eigenen Reaktionen die Konsequenz tatsächlich kontrollieren, und - wenn die Konsequenz traumatisch ist - (c) löst diese Erwartung solange Furcht aus, wie das Individuum sich der Unkontrollierbarkeit der Konsequenz nicht sicher ist; danach führt sie zu Depression." 102 Die Konsequenz der "gelernten Hilflosigkeit" ist jedoch für externaiOrientierte keineswegs zwingend oder auch nur typisch. 103 Entscheidend dürfte sein, ob der "Externale" hinsichtlich seiner Kontrollüberzeugung hinreichend mit seiner Umwelt strukturell gekoppelt ist oder nicht. Wenn das zutrifft, dann fehlt auch bei einer extrem fatalistischen Einstellung keineswegs der Aspekt kognitiver Kontrolle. Alle Konstruktionen über Kausalität, Verantwortlichkeit oder Freiheit dienen gleichermaßen der Orientierung in einer kontingenten Welt und damit zugleich der Koordination von Handlungen. Auch das kognitive Schema des Ausgeliefertseins an Naturkräfte oder an Gottheiten bringt Rituale oder Verhaltensanweisungen hervor, die den Umgang mit diesen Kräften reglementieren und das Ungewisse bis zu einem gewissen Grade kontrollieren. 104 101 Nach der Theorie der.gelernten Hilflosigkeit, die ursprünglich an Tierexperimenten entwickelt wurde (vgl. den Uberblick bei Maier, Seligman, Helplessness 1976,3), erwirbt ein Individuum, das unkontrollierbaren Situationen ausgesetzt ist, die Erwartung, daß zwischen seinen Verhaltensweisen und externen Geschehnissen kein Zusammenhang besteht; siehe Seligman, Hilflosigkeit 1979; Oesterreich, Kontrolle 1981; Grabitz, Kontrolle 1987, 227. 102 Seligman, Hilflosigkeit 1979, 52. 103 Es konnte zwar festgestellt werden, daß Personen mit externen Kontrollüberzeugungen eher zu Depressionen neigen als Personen mit internen Kontrollüberzeugungen (vgl. den Literaturüberblick bei Niketta, Locus 01 Control1982, 96). Allerdings relativiert Rotter (Control1966, 80), wenn er betont, daß Depressionen an beiden extremen Enden des Intern-Extern-Kontinuums auftreten können: Auch bei extremen Internen führt im Falle des Versagens die interne Ursachenzuschreibung zu Depressionen. Und Niketta (ebd., 98) folgert nach Durchsicht der vorliegenden Experimente, daß bei fortdauernder Unkontrollierbarkeit die erlebte Hilflosigkeit bei Internen sogar stärker zu sein scheint. Dies bestätigt unsere Hypothese, wonach Kognitionen stets "adäquat", notwendig bzw. strukturdeterrniniert sind, da sie den ,.zustand" der jeweiligen Person in seiner Koppelung mit der Umwelt repräsentieren. 104 Magische Bilder von der Welt sind also keineswegs per se rational oder irrational. "Magie kann" - wie Eder (Vergesellschaftung 1988,97) gegen kulturistische Evolutionstheorien einwendet - "sehr wohl rational sein, wenn man die Ziele, die Glaubensanschauungen und die gegebenen Bedingungen berücksichtigt." In derselben Weise kritisiert Oesterreich (Kontrolle 1981) an manchen Fassungen des Kontroll-Ansatzes, daß

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Wie jede Kontrollüberzeugung zur Orientierung verhelfen kann, so besitzt jede aber auch ihre eigene Möglichkeit des Scheiterns. So unterschätzen internal Orientierte häufig das Ausmaß externer und situationaler Kräfte; sie nehmen kausale Verbindungen an, wo ein Beobachter von Zufall sprechen würde, oder sie überschätzen ihre Fähigkeit, unkontrollierbare Ereignisse wie z. B. Glücksspiele zu beeinflussen. 105 Einige der Winkelzüge, die den Glauben an eine gerechte Welt angesichts offensichtlicher Ungerechtigkeit aufrechterhalten, haben wir bereits kennengelernt. Lerner 106 zählt zu den "irrationalen Strategien" insbesondere die Verleugnung und die Reinterpretation der Ereignisse, der Gründe und des Charakters eines Opfers. Als weitere Strategie nennt er eine "Immunisierungsstrategie" . Danach wird der zeitliche Bezugsrahmen variabel gehalten: Im Extremfall wird eine Person im Jenseits erhalten, was sie verdient. Oder es werden durch Differenzierungen verschiedene Welten konstruiert, unter denen es eine ungerechte Welt, die Welt des Opfers, und eine eigene und gerechte Welt gibt. Lerner weist weiterhin darauf hin, daß zwei "Basismythen" unserer Kultur beständig die gerechte Welt bedrohen und entsprechende Strategien der Kompensation erfordern: Der Mythos des "guten Bürgers", der die "öffentlichen Tugenden" pflegt, widerspricht dem Mythos des ,,rationalen Menschen", der nur nach Gewinnmaximierung strebt. Den beiden Mythen korrespondieren jeweils Ordnungsmodelle, die entweder in idealistischer Weise auf ,,Normen" oder in positivistischer Manier auf ,,zwang" setzen. 107 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sowohl das internale wie das externe Selbstbild "Ordnung" in eine Welt bringt, die durch die Konstruktion von Invarianzen für das Individuum erst entsteht. Welches Selbstkonzept sich eine Person in verschiedenen Interaktionszusammenhängen zuschreiben kann, hängt wesentlich davon ab, ob die Interaktionspartner das Bemühen um die Gewinnung einer bestimmten Identität unterstützen, erschweren oder verhindern. Aus den Orientierungsinteraktionen oder dem gegenseitigen ,,Aushandeln" von Identität resultieren die Selbstkonzepte der Person, die für weitere Interaktionen bestimmend werden. Hat eine Person über strukturelle Koppelungen mit der Umwelt ein "einheitliches Selbstbild" integriert, so wird sie entsprechend dem konservativen Grundmuster des Nervensystems versuchen, in den unterschiedlichsten Handlungszusammenhängen dieselbe Identität zu gewinnen. 108 Gelingt es ihr nicht, das jeweilige Handlungsziel des Subjektes und die Kontrollkompetenz, d. h. die Kenntnis des Subjekts von der Struktur der Verhaltens-Ereignis-Verknüpfungen, keine Berücksichtigung fmden. 105 Vgl. Langer, Illusion 0/ control 1975, 311; Lefcourt, Illusions 0/ control 1973, 417; ders., Locus 0/ control1981. 106 Lerner, lust world 1980; vgl. zu den Unlust vermeidenden Abwehrstrategien auch Anna Freud, Abwehrmechanismen 1964. 107 Zu den Ordnungskonzepten und die sie fundierenden Handlungstheorien vgl. Münch, Moderne 1984,619, und im Rahmen dieser Arbeit ausführlich Kap. 3 11. 108 Krappmann (Identität 1969) weist daraufhin, daß aus den verschiedensten Gründen auch ,,negative Identitäten", die nicht eigentlich bejaht werden, aufgebaut werden, z. B.

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die Identität über mehrere Interaktionen stabil zu halten, wird sie die erforderlichen Veränderungen an der Einheitlichkeit des Selbstverständnisses und damit an der positiven Einstellung zu diesem Selbstverständnis orientieren. Der Prozeß der Selbsterzeugung und -bewahrung entspricht also einem Balanceakt zwischen den eigenen und den fremden Identitätszuschreibungen, zwischen positiven und negativen Selbstbewertungen und zwischen der Einheitlichkeit des Selbst und der Dissoziation des Selbst. I09 Was als Ichidentität einer Person angesehen wird, muß demnach als eine dynamische Größe begriffen werden, die insbesondere dann flexibel gehalten wird, wenn sie mit dem eigenen Tun nicht mehr übereinstimmt. Wie Bierbrauer mitteilt, vermeiden Menschen Inkonsistenzen zwischen ihren Handlungen und ihrem Selbstbild gewöhnlich dadurch, daß sie ihre Vorstellungen von sich modifizieren. 110 In Pauls Geschichte sind wir demselben Mechanismus begegnet: Paul wußte nicht, warum er lachte, aber er hatte dennoch keine Schwierigkeit, sogleich eine passende Antwort zu erfinden, die seinen Erfahrungen entsprach. Man lacht über komische Typen. Auf diese Weise hielt er seine Vorstellung von den Ursachen des Lachens mit der neuen Erfahrung des "unmotivierten" Lachens konsistent. Worum kann es also bei Fremd- oder Selbstzuschreibungen, bei Selbstkonzepten oder allgemein bei kognitiven Schemata nur gehen? Es geht um den "Auszug der Invarianz", der einen Weg erfmdet, auf dem Weiterhandeln möglich bleibt. 111 Das Selbstkonzept ist eine derartige Invarianzkonstruktion insofern, als es eine ,,konstruierte" Stabilität einer kontingenten Umwelt entgegensetzt. Es operiert mit der Unterscheidung zwischen einem Ich und einer Umwelt, in der das Ich existiert. 112 Dieses grundlegende Differenzschema erfordert neben dem Wissen aus sozialer Distanzierung, um Aufmerksamkeit zu erregen, um die Zuwendung anderer zu erhalten. Schließlich kann die Forderung nach einer bestimmten Identität (Verhaltensweise) oder die Unterdrückung einer bestimmten anderen Identität zum Verlust der Einheitlichkeit des Ich, zur Persönlichkeitsspaltung führen; siehe dazu Laing, Erfahrung 1979. 109 Rusch, Erkenntnis 1987, 136. 110 Bierbrauer, Attitüden 1976, 11; vgl. zum Stigma-Management Goffmann, Stigma 1972. 111 Insofern handelt es sich bei Selbstattribuierungsprozessen um Strategien zur kognitiven Kontrolle: Aufgrund von Kausalschlüssen werden bei Ereignissen die zugrundeliegenden Ursachen herauszufmden versucht. Eine Möglichkeit, kohärent zu handeln, besteht darin, das Selbst zum Ort der Kausalität für eigenes Verhalten zu erklären. Daß eine Verbindung zwischen einem derartigen Kausalitätskonzept und dem Einheitskonzept bestehen muß, ist plausibel: Bei Wahlfreiheit kann der Ort der Verursachung des Verhaltens intern lokalisiert werden; vgl. hierzu Niketta, Locus 0/ controt 1982, 79. 112 In einem strengen Sinn zählt zur Umwelt des Ich auch das Leben bzw. der eigene Körper. Luhmann führt dazu aus: "Das Bewußtsein kann seine Gedanken nur durch Zuordnung zu diesem seinem leiblichen Leben zur Einheit aggregieren und nur dadurch, daß es sich selbst zugleich von diesem Leben unterscheidet. IdentifIkation mit Hilfe des eigenen Leibes ist also gerade nicht: Identifikation mit dem eigenen Leib." Erst aufgrund der Unterscheidung vom eigenen Leib kann das Bewußtsein wissen, wo es sich "befindet". ,,Nur so kann die Erfahrung lernen, beobachtet zu werden. Das Bewußtsein des

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um das eigene Selbst auch bestimmte Vorstellungen über die Charakteristika der Umwelt, ohne die sich ein Ich nicht als eine Einheit konstituieren ließe. Daher ist es unabdingbar, die Konstruktion des Ichbildes aus der Konstruktion des Weltbildes heraus zu begreifen. Niemand könnte bei der Frage nach dem Ursprung der kognitiven Welt behilflicher sein als Piaget, der über mehr als fünf Jahrzehnte systematisch die Struktur und Genese der kognitiven Funktionen beim Kind untersucht hat. b) Konstruktion der Welt

aa) Erschließung von Regularitäten Handlungen dienen dazu, die Erfahrungswelt beständig und erkennbar zu erhalten. Der Aufbau der Erfahrungswelt wiederum ermöglicht die Koordination von Handlungen. Beide Modi des Seins - Tun und Denken - sichern das Überleben des Organismus. Das gelingt dem Organismus jedoch nur, wenn sein Tun Wiederholung im Denken und sein Denken Wiederholung im Tun erzeugt. Über die gesamte Kindheit hinweg besteht daher das Wachstum des menschlichen Bewußtseins in der sukzessiven Erlangung kognitiver Invarianzen. Aus der Wiederholung einer Aktivität des Subjekts ergibt sich die Identifizierung konstanter Merkmale. Umgekehrt schließen sich an das Wissen von stabilen Umwelten weitere Aktivitäten an. Diesen Prozeß des Erwerbs kognitiver Funktionen vom ersten Lebensjahr bis zur Adoleszenz hat Piaget in einem Stufenmodell abgebildet, das als komplementäres Gegenstück zur psychoanalytischen Genese der Affekte gelten kann. lJ3 Piaget gibt in seinem Modell in empirisch gehaltvoller Weise Antwort auf zwei Fragen: Wie entwickelt sich die Erkenntnis des Menschen, und wie baut sich sein Weltbild auf? Er hat diesem Thema drei minuziöse Werke gewidmet: "Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde", "Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde" und ,,Nachahmung, Spiel und Traum". 114 Im ersten Band geht es um den Beobachtetwerdens ist nur über das Bewußtsein der Sichtbarkeit des eigenen Leibes zu gewinnen"; Luhmann, Bewußtsein 1987,54. 113 Ganz ähnlich wie die Psychoanalyse im Hinblick auf die Affekte hat die "genetische Epistemologie" von Piaget eine regelmäßige Entwicklung der kognitiven Funktionen festgestellt. Auf die Komplementarität von kognitiver und affektiver Genese hat Piaget 1970 vor der Amerikanischen Psychoanalytischen Gesellschaft selbst hingewiesen: "Ich glaube, daß die Probleme des kognitiven Unbewußten ähnlich sind wie die Probleme des affektiven Unbewußten ... Ich bin überzeugt, daß eines Tages die kognitive Psychologie und die Psychoanalyse verschmelzen und eine allgemeine Theorie bilden müssen, welche sowohl die kognitive Psychologie wie die Psychoanalyse verbessern und korrigieren wird", Piaget, Affective unconscious 1976, 63. Um eine Konvergenz der Denkschulen bemühen sich vor allem Ciompi, Psychoanalyse 1981, 66; ders. Affektlogik 1982, 43; ders. Außenwelt-Innenwelt 1988, 169, und Brocher, Sies, Psychoanalyse 1986,38; Mandl, Huber, Emotion und Kognition 1983, 1. 114 Piaget, Intelligenz 1975 (1936); Wirklichkeit 1975 (1937); Nachahmung 1975 (1945).

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Aufbau des sensomotorischen Verhaltensrepertoires, im zweiten um den Aufbau eines konkreten, handlungsbezogenen Weltbildes und im dritten um den Aufbau der Wirklichkeit über spielende und imitierende Handlungen. Alle Bände handeln davon, daß das Kind die Wirklichkeit in seinem Tun erfl:ihrt, und daß die Genese dieses Tuns und die Genese des Weltbildes im gleichen Zug geschehen. 1lS Beide Entwicklungen sind unentwirrbar aufeinander bezogen. Wenn daher in den noch folgenden Abschnitten von Entwicklungs-"Schritten" die Rede ist, bedeuten diese keine chronologische, sondern eine logische Abfolge. Es handelt sich freilich um die Logik eines Beobachters, der ein Modell entwickelt hat, in dem gewisse Schritte die logisch unentbehrliche Voraussetzung für andere bilden. Bleiben wir uns dessen bewußt, dann sind wir vor der Versuchung geschützt, Piagets gigantisches Forschungswerk unversehens zu ontologisieren. Piaget selbst hat sich gegen Ende seines Lebens immer entschiedener zur konstruktivistischen Epistemologie bekannt. 116 Zahlreiche Spuren dieser Einstellung finden sich bereits in dem Entwicklungsmodell der Intelligenz, das in folgenden Stufen abläuft: 117

(1) Senso-motorische Stufe. Von der Geburt bis zum Alter von etwa zwei Jahren erstreckt sich eine Phase, in der das Kind die Idee aufbaut, daß Gegenstände eine eigene "Existenz" haben, und daß ihnen Dauer zukommt, auch wenn sie nicht durchwegs wahrnehmbar sind. 118 Am Anfang erlebt das Kleinkind Ereignisse und Objekte als mit der eigenen Aktivität verschmolzen. In Korrelation mit Wachstum und Reifung des Nervensystems beginnen allmählich bestimmte Gestalten, Figuren und Ereignisse eine Rolle zu spielen, indem motorische und sensorische Schemata koordiniert und differenziert werden. Über reflexgesteuertes Verhalten, primären zirkulären Reaktionen und einfachen Antizipationen und Imitationen schreitet das Kleinkind fort bis zur Entwicklung von Problemlösun115 Das verdeutlicht, daß Intelligenz, Erkenntnis und Wahrnehmung zunächst nicht auf Sprache angewiesen sind, die erst mit eineinhalb bis zwei Jahren auftaucht. Es gibt also Intelligenz vor der Sprache, jedoch stützt sich diese Intelligenz mangels einer symbolischen Funktion ausschließlich auf die Koordination von Wahrnehmung und Bewegung. Es handelt sich somit um eine sensomotorische Intelligenz; vgl. Piaget, Inhelder, Kind 1987, 16; vgl. auch Kail, Pellegrino, Intelligenz 1988, 104. 116 Siehe Zitate bei v. Glasersfeld, Piaget 1987, 100. 117 Das nachfolgende Modell ist entnommen: Piaget, Intelligenz 1972. 118 An anderer Stelle hat Piaget die sensomotorische Periode in drei Stadien ausdifferenziert: (I) Stadium der Reflexe, (11) Stadium der ersten Gewohnheiten, und (ill) Stadium der sekundären Zirkulärreaktion; vgl. Piaget, Intelligenz 1975, 33, 57, 159; knappe Übersicht bei Piaget, Inhelder, Kind 1987, 17. Wesentlich an dieser Differenzierung ist die Erkenntnis, daß auch die Reflexe (Saugreflex oder Greifreflex) einer Konsolidierung durch funktionelle Übungen bedürfen (,.Reflexübung"). Nach einigen Tagen saugt das Neugeborene mit mehr Sicherheit, es fmdet die Brustwarze, nachdem es sie verloren hat, leichter wieder, als bei den ersten Versuchen. Also kann bereits der Saugreflex als eine Erwerbung bezeichnet werden: ,,Doch diese Erwerbung ist nicht irgendeine zufällige; sie schreibt sich in ein bereits ausgebildetes Reflexschema ein und beschränkt sich darauf, es durch Integration bis jetzt von ihm unabhängiger senso-motorischer Elemente auszuweiten", Piaget, Inhelder, ebd. 19. Nach diesem Modell bilden sich die weiteren Stadien, die sich ebenfalls direkt von einer Tätigkeit des SubjeIsts ableiten.

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gen, zur Nachahmung nicht anwesender Vorbilder und schließlich zur Konstruktion von Objekten. 119 In diese Zeit fällt auch die Schaffung einer ersten kontinuierlichen Grundstruktur von Raum und Zeit und das praktische Verständnis von einfachen Kausalbeziehungen. Diese ersten Ordnungs- und Beziehungsstrukturen sind Grundlage allen späteren Denkens 120 und prägen die frühen Differenzierungen zwischen sich selbst als einem ständig anwesenden Körper und den temporär abwesenden Objekten in der Umgebung. (2) Prä-operative Stufe. Im Alter von zwei bis sieben Jahren erwirbt das Kind in einem progressiven Übergang von konkreten Aktionen zur "denkenden" Operation die Fähigkeit zur symbolischen Vorstellung und Repräsentation. Aufgrund der Interiorisierung sensomotorischer Schemata gelingt es nunmehr, Ereignisse, Gegenstände oder Begriffe mit Hilfe von Zeichen wiederzugeben. Dabei spielen Nachahmung, 121 symbolisches Spiel, 122 Gedächtnis, die Ausbildung von "inneren Bildern" 123 und vor allem der Erwerb der Sprache 124 eine entscheidende Rolle. Die konkrete, auf kleine Distanzen gerichtete Intelligenz der ersten Stufe wird nunmehr zu synchronen Gesamtvorstellungen verdichtet. Das Kind entwickelt, was das deutsche Wort "Vor-Stellung" enthüllt: eine Art von vorgebahntem Wegoder Bezugssystem, durch welches es Dinge und andere Individuen erfahren und begreifen lernt. 125 Allerdings bleiben die individuellen Aktionsschemata weithin 119 Diese sog. Objektpermanenz bzw. Personpermanenz ist besonders intensiv untersucht worden. Etwa ab dem 6. - 8. Lebensmonat entwickelt das Kind eine feste Vorstellung davon, daß Objekte unabhängig von konkreter Wahrnehmung existieren. Diesem Entwicklungsfortschritt wird von der Sozialpsychologie große Bedeutung für das Bindungsverhalten und für die Differenzierung des sozialen Verhaltensrepertoires beigemessen; vgl. Schmidt-Denter, Entwicklung 1988, 257. 120 Lenneberg (Sprache 1977, 198) erblickt in senso-motorischen Korrelationen die biologischen Grundlagen der Sprache. 121 Die Nachahmung ist zunächst eine Vorform der Vorstellung, das heißt, sie bildet während der senso-motorischen Periode eine Art Vorstellung in materiellen Akten und noch nicht im Denken. Den Anfang der Vorstellung markiert jedoch die aufgeschobene Nachahmung, die bei Abwesenheit des Modells beginnt, siehe Piaget, Inhelder, Kind 1987,62. 122 Im Falle des symbolischen Spiels oder Fiktionsspiels ist die Vorstellung von einem Objekt oder Geschehen unzweideutig. Die Nachahmung wird nunmehr von Gegenständen begleitet, die zu "Symbolen" geworden sind. Damit ist der Übergang von "Vorstellung in materiellen Akten" zu "Vorstellung im Denken" vollzogen; Piaget, Inhelder, ebd. 66. 123 ,,Mit dem inneren Bild wird die Nachahmung nicht bloß aufgeschoben, sondern auch verinnerlicht, und die Vorstellung, die sie möglich macht und die so von jedem äußeren Akt zugunsten dieser inneren Aktionsentwürfe ... losgelöst ist, ist jetzt bereit, Denken zu werden", Piaget, Inhelder, ebd. 65. 124 Auch die Erwerbung der Sprache steht in dem genannten Nachahmungskontext. Sie beginnt bald den Gesamtprozeß zu dominieren, ,,indem sie einen Kontakt mit anderen sicherstellt, der viel stärker ist als die bloße Nachahmung ... ", Piaget, Inhelder, ebd. 65. 125 "Vorstellung" entspringt - wie wir von Maturana wissen -::- aus der Wahrnehmung von Störungen, auf die das Subjekt stößt. Auch für Piaget (Aquilibration 1976, 19) stehen bei Bewußtseinsvorgängen Ungleichgewichte am Anfang: " ... der Fortschritt in der Entwicklung der Erkenntnisse ist offensichtlich in den Ungleichgewichten als solchen zu suchen, die allein das Subjekt zwingen, seinen gegenwärtigen Zustand zu überwinden und irgend etwas in neuen Richtungen zu suchen." Für Foerster spiegelt die deutsche

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an Situationen gebunden, sind noch subjektivistisch-egozentrisch und fonnieren sich noch nicht zu allgemein-logischen Konzepten. (3) Stufe konkreter Operationen. Der im Alter von ca. sieben bis elf Jahren erreichte Fortschritt besteht darin, daß sich dem Kind mehrere Einzelaspekte eines Systems zu einem kohärenten Ganzen "gruppieren". Zum Beispiel bleibt nunmehr in der Vorstellung des Kindes die Anzahl der Perlen in einem Glas trotz aller Umlagerungen in verschieden große Gläser erhalten. 126 Damit wird die bereits vollentwickelte Objektkonstanz um die weiteren Erhaltungen des Gewichts, des Volumens und der Zahl ergänzt. Hochbedeutsam für die oft plötzlich eintretende Wende im moralischen und mathematischen Denken ist, daß nunmehr die Regeln des logischen, abstrakten Denkens dominieren. 127 Auf diese Weise fügen sich die in früheren Stadien bereits einzeln angelegten Fähigkeiten zur Klassifizierung, Aneinanderreihung, Zuordnung (von einem zum anderen und von einem zum vielen) etc. zu einem kohärenten Ganzen, was etwa die Erfassung einer generellen Zeit, eines generellen Raumes, das Messen und das Verständnis des Systems ganzer Zahlen erlaubt. Auch in dieser Phase bleiben die Operationen noch auf konkrete Dinge und Aktionen beschränkt.

(4) Stufe formaler Operationen. Ab ca. dem elften Jahr macht sich das Denken zunehmend frei vom konkreten Handeln. Das Denken löst sich vom Aktuellen und vennag nunmehr auf bloß verbale Propositionen hin abzulaufen, z. B.: Edith Sprache diese Korrespondenz zwischen Bewußtsein und Sprache deutlicher wider: "Stößt man gegen einen Tisch, so steht dieser Tisch einem entgegen: Das läßt sich nicht besser ausdrücken, als diese Bewegungsfreiheits-Berauber ,Gegenstände' zu nennen" (zit. bei Segal, Erfindung 1988, 207). Dieselbe Idee der Widerständlichkeit findet sich auch in dem Ausdruck "Objekt" (lateinisch obicere = entgegenwerfen). Daraus folgt für die Bewußtwerdung zweierlei: 1. Erkenntnis setzt Erfahrung, und das heißt praktische Aktivität in der Kompensation von Störungen voraus; 2. Erkenntnis ist immer relativ; d. h. sie ist von den durch Erfahrung gewonnenen Erkenntnis-Schemata des Subjekts abhängig; vgl. hierzu auch Kesselring, Entwicklung 1981,209. Gegen Denken als Abbilden oder Verarbeiten von Tatsachen siehe auch Weinberger, Praxis 1987, 142. 126 Den eindeutigsten Hinweis auf das Verlassen der präoperativen Periode gibt das erfolgreiche Abschneiden beim ,,Experiment über die Erhaltung der Flüssigkeiten" (vgl. Piaget, Szeminska, Zahlbegriff 1969): Ein Glas A wird in ein dünneres Glas B oder ein breiteres Glas C umgegossen. Antworten die Kinder zutreffend, dann ordnen sie erstmals die Zustände den Formveränderungen bzw. den Transformationen unter. "Konkret" bezeichnet Piaget diese Operationen, weil sie sich auf Objekte beziehen und noch nicht auf verbal formulierte Hypothesen; dazu Piaget, Intelligenz 1975, 267. 127 In dieser Periode ist der sog. "moralische Realismus" endgültig überwunden, nach dem die Verpflichtungen und Werte durch das Gesetz oder die Weisung an sich, unabhängig vom Kontext der Absichten und der Umstände, bestimmt sind. Aufgrund der Interaktionen mit anderen Kindern erwirkt das Kind neue moralische Beziehungen, die auf dem gegenseitigen Respekt beruhen und zu einer gewissen Autonomie in moralischen Fragen führen. Nunmehr überwiegt das Gefühl für Gerechtigkeit den Gehorsam; vgl. zur Moralentwicklung nach Piagetschem Stufenmodell, Piaget, Moralisches Urteil 1973: ders. Kind 1980; umfangreiche Literaturübersicht bei Kargi, Schuldprinzip 1983, 35; bei Edelstein, Nunner-Winkler, Moral 1986; Schmidt-Denter, Entwicklung 1988, 258; Boyd, Moralische Entwicklung 1986, 181; Kohiberg u. a., Wiederkehr 1986, 206; Ekkensberger, Handlung 1986,409; Keller, Edelstein, Moralische Reflexion 1986,321.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

Übersicht 5: Stufen der intellektuellen und affektiven Entwicklung nach Piaget (Intelligence and affectivity 1981, 14).

A. Sensomotorische Intelligenz / intraindividuelle Gefühle

Denken

Fühlen

I. Ererbte Organisation Sie umfaßt Reflexe und Instinkte.

I. Ererbte Organisation Sie umfaßt Instinkte und alle anderen Reaktionen.

11. Erste erworbene Schemata Sie umfassen die ersten Gewohnheiten und differenzierten Wahrnehmungen.

III. Sensomotorische

III. Affekte, die intentiona-

IV. Präoperationale Repräsentationen Ab jetzt wird Handlung internalisiert.

IV. Intuitive Affekte Diese umfassen elementare Gefühle und den Beginn moralischer Gefühle.

Intelligenz Sie umfaßt die Strukturen, die zwischen 6 oder 8 Monaten und dem Erwerb der Sprache im 2.Jahr erworben werden.

B. Verbale Intelligenz/ Interpersonale Gefühle

11. Erste erworbene Gefühle Dies sind Freude, Trauer, Annehmlichkeit, Unannehmlichkeit, verknüpft mit Wahrnehmungen und bezogen auf Handlungen.

les Handeln regulieren Diese Regulation schließt Gefühle ein, die mit der Aktivation und Retardation von Handlung verknüpft sind.

V. Konkrete Operationen Diese Stufe dauert von 7 oder 8 bis 10 oder 11 Jahren. Sie ist gekennzeichnet durch den Erwerb elementarer Operationen von Klassen und Relationen.

V. Normative Gefühle Auftreten autonomer moralischer Gefühle. Was gerecht ist, hängt nicht länger vom Gehorsam gegenüber einer Regel ab.

VI. Formale Operationen Diese Stufe beginnt mit dem 12. und ist ca. mit dem 15. Lebensjahr realisiert. Denken ist hier durch Verwendung logischer Propositionen charakterisiert.

VI. Idealistische Gefühle In dieser Stufe sind Gefühle für andere Leute überlagert durch Gefühle für kollektive Ideale.

I. Denken

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ist blonder als Susanne; Edith ist dunkler als Lilli; welche ist die dunkelste der drei? Das Kind erwirbt in diesem Stadium die Gesetze der axiomatischen und symbolischen Logik, somit eine bislang nicht gekannte Freiheit und Reversibilität des Denkens. Nicht nur Gegenstände, auch Hypothesen und Ideen können nun logischen Operationen - z. B. der Implikation (wenn ... dann), der Disjunktion (oder ... oder auch ... oder beide), der Ausschließung (entweder ... oder), der Unvereinbarkeit (weder ... noch) etc. - unterworfen werden. 128 Ganzheiten werden voll konserviert; Raum- und Zeitbegriff dehnen sich ins Generelle und lösen sich von der unmittelbaren Erfahrung. Piaget schildert die weitgehende Loslösung vom eigenen Tun und Erleben, die sich in Ansätzen schon in der senso-motorischen Phase zeigt, als einen Prozeß der "Dezentration ".129 Die Fähigkeit der Verdichtung zu einem Ganzen oder zum "Auszug der Invarianz" impliziert den Einbezug des bloß Möglichen und Virtuellen ins Denken. Der Erwerb dieser formalen Fähigkeiten in der Adoleszenz ermöglicht immer neue und weitergehende "Dezentrationen" , die zu allo- statt egozentrischen Erkenntnisprozessen führen müssen. Über diese Dezentrationsvorgänge synthetisiert der Jugendliche intersubjektives Verhalten, intersubjektive Wahrnehmungen und Konzeptualisierungen. Auf diese Weise bringt er unter den stimulierenden und regulierenden Einflüssen seiner Umgebung ein Netzwerk kognitiver Schemata zur Ausbildung, die ihm das Leben in einer mit anderen geteilten Welt ermöglichen. 128 Piaget führt diese neuen Operationen darauf zurück, daß der junge Mensch auf dieser Stufe zwischen der Form und dem Inhalt differenzieren kann. Das befähigt ihn, über Aussagen nachzudenken, an die er nicht oder noch nicht glaubt, die er also als reine Hypothesen betrachtet. Als das wichtigste Ergebnis dieser Ablösung des Denkens von den Gegenständen bezeichnet Piaget die "Kombinatorik", die es ermöglicht, beliebige Beziehungen und beliebige Klassen aufzubauen, indem man irgendwelche Elemente miteinander zusammenfaßt, was die deduktiven Fähigkeiten der Intelligenz beträchtlich verstärkt; siehe Piaget, Inhelder, Kind 1987, 132. 129 Dieser Leitbegriff der Piagetschen Theorie wird verständlicher, wenn man ihn von der "Egozentrik" der frühen Perioden abhebt. Unter Egozentrik kann man denjenigen kognitiven Zustand bezeichnen, in dem sich das Subjekt überwiegend auf den Gegenstand seiner Handlung, d. h. auf den Inhalt eines Schemas konzentriert und dabei das kognitive Schema selbst (Form) weitgehend außer acht läßt. Insofern kann der Begriff zu Mißverständnissen Anlaß geben, denn im Stadium des Egozentrismus konzentriert sich das Kind gerade nicht auf die eigene Person (vgl. Kesselring, Entwicklung 1981, 162). Egozentrisch ist also das Subjekt, solange es sich den Unterschied zwischen dem "Gegenstand" und seiner eigenen Perspektive darauf, also seinem kognitiven Schema, nicht klarmacht. Diesen Erkenntniszustand kann man solipsistisch nennen: Sie leugnet die Existenz der Welt. Im Gegensatz dazu bezeichnet der Begriff der Dezentrierung den Vorgang, durch welchen sich das Subjekt zunehmend seiner Handlungsweise und der leitenden Aktionsschemata und damit seiner selbst bewußt wird. Die Dezentrierung hängt folglich mit der Dissoziation zwischen vom Erkenntnis-Objekt (Inhalt) und Erkenntnis-Perspektive (Form) zusammen. Das bringt stets einen Standortwechsel mit sich. Dieser ist die Folge einer Bewußtwerdung der eigenen Denkaktivität, die nunmehr selbst zum Inhalt eines reflexiven Denkens wird. Vgl. zur Schematheorie Mandl u. a., Wissenserwerb 1988, 123. Zur ,,Dezentration" als Voraussetzung der Objektivierung wissenschaftlicher Geltungsansprüche vgl. Krüger, Selbst 1990, 141.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

Bei Maturana haben wir den Prozeß der kognitiven Entwicklung als eine "ontogenetische Drift" des Organismus kennengelernt, in der dieser seine Struktur verändert, während er seine Organisation und Angepaßtheit aufrechterhält. Für unser Thema ist nun von besonderem Interesse, daß sowohl Piaget wie auch Maturana die Vorgänge des "Driftens" und der Dezentration bis tief ins biologische Geschehen hineinreichende Zusammenhänge stellen und daß beide auf empirischer Grundlage Erkenntnis als passives Kopieren unbezweifelter Realitäten ablehnen. 130 Piaget hat mit seiner Theorie, wonach Kognitionen aus einem dialektischen Prozeß zwischen Assimilation und Akkomodation entstehen, den Boden der Ontologie verlassen und sich - wie später Maturana - jenem Prozeß zugewandt, der uns erlaubt, mit Konstruktionen umzugehen, als wären sie von uns unabhängige "Realitäten". bb) Assimilation und Akkomodation Nach Piaget erfolgt die Konstruktion des Wissens in zwei globalen Prozessen unter der Kontrolle durch einen internen Mechanismus der Selbststeuerung oder der Äquilibration. Den ersten Prozeß kennzeichnet Piaget als Assimilation. 131 Er bedeutet die Aufnahme eines Gegenstandes in ein geistiges Schema. Unter einem Schema sind grundlegende kognitive Strukturen zu verstehen, mit deren Hilfe Gegenstände, Menschen und deren Beziehungen zueinander organisiert werden. 130 Nach Piaget stehen die kognitiven Fähigkeiten des Menschen im Zusammenhang mit der biologischen Organisation als solcher, also mit Organisationsprinzipien, die allen Organismen gemeinsam sind. Dementsprechend stellt Piaget sein Buch über "Biologie und Erkenntnis" unter die Leithypothese: ,,Die kognitiven Prozesse erscheinen ... zugleich als die Resultate der organischen Selbstregulierung, deren Hauptmechanismen sie reflektieren, und als die differenziertesten Organe dieser Regulation der Interaktion mit der Außenwelt, dergestalt, daß sie diese beim Menschen schließlich auf das ganze Universum ausdehnen" (Biologie 1974, 27). Zu den biologischen Hauptmechanismen zählt Piaget die Selbstregulierungsmechanismen, womit er teilweise das Autopoiesekonzept vorwegnimmt (ebd. 1974, 102). Wie Maturana sieht er in diesen Mechanismen die Brücke zwischen den Gesetzen der Materie und den Gesetzen des Geistes: ,,Die Organisation des Lebens (1), Quelle der Fähigkeiten des Subjekts, steht den innersten Mechanismen der Materie näher als das Denken. Es ist also nicht eine prästabilierte Harmonie, aus welcher von Anfang an die Übereinstimmung zwischen der Koordination der Handlungen und den fundamentalen Gesetzen des Objekts hervorgeht, sondern eine beiden gemeinsame Quelle" (ebd. 126). 131 Der Begriff stammt aus der Biologie. Damit unterstreicht Piaget die Entwicklungslinie, die die sensomotorischen mit den kognitiven Prozessen verbindet: ,,Die Assimilation ist ... nichts anderes als die Verlängerung der biologischen Assimilation im weitesten Sinne in den Bereich des Verhaltens, insofern jede Reaktion des Organismus auf die Umwelt darin besteht, diese den Strukturen der Reaktion zu assimilieren" (Kindliche Praxien 1960, 62). Die Assimilation fmdet auf allen organischen und geistigen Entwick1ungsstufen statt: Durch Verdauung wird die Nahrungssubstanz physiologisch assimiliert (vgl. v. Frisch, Biologie 1988, 75). Durch Handlungen werden Gegenstände in den Aktionsradius des Individuums integriert. Durch Erkenntnis werden neue Relationen in ein bestehendes Schema integriert; Piaget, Inhelder, Kind 1987, 16.

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Eine neue Erfahrung kann also nur in dem Maße in das Bewußtsein eingebaut werden, in dem sie mit bereits existierenden Strukturen konsistent ist. I32 Der andere Prozeß unter der Kontrolle des Äquilibrationsprozesses ist die Akkomodation. Sie beinhaltet die Anpassung der Schemata an die Objekte. 133 Unter dem Einfluß von äußeren Elementen werden auf diese Weise bestehende innere Strukturen modifiziert und neue Differenzierungen bewirkt. Auf jeder der Entwicklungsstufen des Erkenntnisgewinns spielen sowohl assimilative als auch akkomodative Aspekte eine Rolle. Auf jeder Stufe wird ein bestimmtes Niveau des Gleichgewichts zwischen den kognitiven Schemata und dem Objekt der Erkenntnis hergestellt. Eine optimale "Dezentration" und damit Reversibilität des Denkens ist erst dann erreicht, wenn sich eine Äquilibration zwischen egozentrischen Assimilationsvorgängen und allozentrischen Akkomodationsvorgängen eingependelt hat. 134 Dieses Gleichgewicht ist funktionell erst im Stadium der formalen Operationen erreicht, davor überwiegt das Tun über das Denken, die Assimilation über die Akkomodation. 135 Nach Piaget ist die gesamte Intelligenzentwicklung von AnI32 Dieser Punkt betont das organisierende Tun, also die Aktivität des Subjekts gegenüber dem von Psychologen häufig verwandten Begriff der Assoziation, in der Erkenntniserwerb als eine Reaktion auf äußere Reize begriffen wird. Der Assimilationsbegriff hingegen verdeutlicht, daß das Subjekt nur in dem Maße für "Störungen" empfanglich ist, wie diese an bereits aufgebaute Strukturen assimilierbar sind; vgl. Piaget, Intelligenz 1975,52. Auch hier beobachten wir eine auffällige Übereinstimmung zwischen Piagets Epistemologie und Maturanas Kognitionsbiologie, denn auch der "Strukturdeterminismus" wendet sich explizit gegen Konzepte schlichter Außensteuerung. 133 Das Schema ist als eine "vom Organismus konstruierte Form" (Piaget, Biologie 1967, 181) prinzipiell gegenüber Erweiterungen, Veränderungen und Anpasssungen (Akkomodationen) offen. Es kann mit dem von Maturana verwendeten Begriff der "Struktur" verglichen werden. Die Akkomodation beruht auf einer beständigen Differenzierung der Schemata (Piaget, Äquilibration 1976, 92) und auf einer Koordination mehrerer bis dahin voneinander unabhängiger Schemata (Piaget, Intelligenz 1975,202), wobei angenommen werden muß, daß diese Koordinierung durch ein übergeordnetes Gesamtschema gesteuert wird; vgl. hierzu auch das Konzept des Bezugssystems bei Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988, 328. 134 Äquilibration meint natürlich keinen statischen Gleichgewichtszustand: "Wir meinen vielmehr einen Prozeß, der von bestimmten erreichten Gleichgewichtszuständen über eine Vielfalt von Unausgewogenheiten und WiedereinsteIlungen des Gleichgewichts zu anderen, qualitativ verschiedenen Gleichgewichtszuständen führt ... Die für die Entwicklung grundlegenden Reäquilibrationen bestehen in der Ausformung nicht nur eines neuen, sondern im allgemeinen auch eines besseren Gleichgewichts. Wir sprechen dann von ,majorisierenden Aquilibrationen', womit die Frage nach der Selbst-Organisation aufgeworfen wird", Piaget, Äquilibration 1976, 11. Piaget zeigt also, wie diese fortwährende Höherentwicklung kybernetisch aus der Integration von äußeren "Störfeuemu in bestehende Schemata verstanden werden kann. Damit erweist sich seine Theorie als weithin kongruent mit modemen system- und kommunikationstheoretischen sowie kognitionsbiologischen Konzepten; siehe Ciompi, Affektlogik 1982, 58. 135 Aus kognitionsbiologischer Sicht muß strenggenommen stets der Primat der Assimilation vor der Akkomodation angenommen werden. Das ergibt sich aus der strukturdeterminierten Funktionsweise lebender Organismen: Diese können auf Umwelteinflüsse

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

fang an aus der Tendenz zu einem Gleichgewicht hin zu verstehen. Wir haben im vorangegangenen Abschnitt gezeigt, wie sich die voll äquilibrierte Reversibilität der formalen Intelligenz bereits in den reflexgebundenen Aktionsschemata der sensomotorischen Periode ankündigt, um sich von daher unter zunehmender Interiorisierung bis zu den gleichgewichtigen "Gruppierungen" der abstraktlogischen Stufe auszudifferenzieren. Piaget selbst erläutert seine zentralen Begriffe folgendermaßen: "Man kann sagen, . . . daß alle Bedürfnisse zunächst darauf hinwirken, Dinge und Menschen in die Tätigkeit des Subjekts selbst einzubeziehen, d. h. die Außenwelt den Strukturen, die bereits konstruiert worden sind, zu ,assimilieren', und zweitens darauf hin, diese Strukturen über Prozesse unmerklicher Transformationen neu anzuordnen, d. h. sie externen Objekten zu ,akkomodieren'. In dieser Sicht assimiliert das lebendige Bewußtsein, und in der Tat alles organische Leben, Schritt für Schritt die es umgebende Umwelt." 136 Es fällt auf, daß Piaget in dieser Textstelle die Begriffe ,,Außenwelt", "externe Objekte" und "umgebende Umwelt" ohne epistemologische Reflexion verwendet. So kann der Eindruck entstehen, als ob die wahrnehmende Tätigkeit des erkennenden Subjekts bloß in der Auswahl kognitiver Strukturen durch Interaktionen mit "gegebenen" Strukturen bestünde. Würde Piaget die Auffassung vertreten haben, daß die Außenwelt durch die Sinnesorgane bloß entdeckt zu werden bräuchte, also Assimilation die Eingliederung von Umweltdaten bedeutete, dann müßte man ihn als einen orthodoxen Denker in der Tradition von Platon bezeichnen. Denn Platon 137 zitiert Sokrates in einem Angriff auf Protagoras mit den Worten: ,,Notwendig also muß sowohl ich, wenn ich ein Wahrnehmender werde, es von etwas werden, denn ein Wahrnehmender zwar, aber ein nichts Wahrnehmender zu werden, das ist unmöglich; als auch jenes muß, wenn es süß oder bitter oder etwas dergleichen wird, es notwendig für einen werden. Denn süß, aber niemanden süß zu sein, ist unmöglich." Seit Platon wurde denn auch die Tätigkeit der Kognition als eine Abbildung aufgefaßt, die umso "wahrer" sein mußte,je stärker die kognitiven Strukturen an die "Umweltrealität" angepaßt schienen. 138 Obgleich nur in dem Umfang reagieren, als sie imstande sind, diese zu registrieren, als es ihre Strukturen (Schemata) erlauben. Anders gesagt, Erfahrung und mithin die Selektion von Daten, Reizen oder Ereignissen sind abhängig vom Zustand, d. h. vom Ausbildungsstand der Schemata. Zu Recht hat daher Montada (Piaget 1970, 49) kritisiert, daß Piaget diesen Primat der Assimilation nicht immer hinreichend deutlich betont hat. 136 Piaget, Psychological Studies 1967, 7. 137 Platon, Theaitetos 1970, 160. 138 Wenn in diesem Sinne die Rezeptoren als Überträger von "Information" aufgefaßt werden, also den Sinnesorganen die Aufgabe zugewiesen wird, zwischen dem ,,realen" Gegenstand und seiner Abbildung durch das Subjekt zu vermitteln, halsen wir uns ein unlösbares Problem auf. Wie können wir jemals sicher sein, eine "wahre" Repräsentation zu besitzen, wenn das Objekt nur durch Vermittlung der Sinnesorgane erreichbar ist? Dazu stellt v. Glasersfeld (Epistemologische Revolution 1987, 123) fest: "Da wir zu diesem Objekt ,draußen' keinen Zugang haben außer durch den Prozeß der Wahrnehmung' werden wir nie imstande sein festzustellen, ob unsere Perzepte genaue oder

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Piaget eine direkte Konfrontation mit den traditionellen Grundlagen der Erkenntnistheorie vermied, war er ganz offensichtlich alles andere als ein naiver Realist. Wie das folgende Textstück mit wünschenswerter Deutlichkeit ausweist, tut man Piaget gewiß nicht unrecht, wenn man ihn im Gegenteil als einen radikalen Konstruktivisten bezeichnet: "Die Phase, die sich von der Geburt bis zum Spracherwerb erstreckt, ist durch eine außergewöhnliche Entwicklung des Denkens gekennzeichnet . . . Diese frühe mentale Entwicklung bestimmt nichtsdestoweniger den gesamten Verlauf psychologischer Evolutionen. Es handelt sich dabei in der Tat um nichts Geringeres als um die Eroberung des Handlungsuniversums, das das kleine Kind umgibt, und zwar durch Wahrnehmung und Bewegung. Im Alter von achtzehn Monaten oder zwei Jahren bewirkt diese "sensomotorische Assimilation" der unmittelbaren Außenwelt eine kopernikanische Revolution en miniature. Am Anfang dieser Entwicklung zieht das Neugeborene alles an sich - oder präziser: an seinen Körper - , während es am Ende dieser Phase, d. h. wenn Sprache und Denken einsetzen, praktisch nur ein Element oder eine Größe unter anderen in einem Universum geworden ist, das es Schritt für Schritt selbst konstruiert hat, und das es schließlich mit Bezug auf sich selbst als extern erfährt."\39 Der letzte Satz läßt sich nicht mehr im Sinne einer wie auch immer fortgeschrittenen Variante der herkömmlichen Abbildtheorie interpretieren. Piaget sagt, daß das Kind sein Universum konstruiert und es dann so erlebt, als ob es außerhalb seiner selbst läge. Dieser Aussage zufolge kann ein ,,sinnesdatum" wohl nicht mehr als ein charakteristisches Merkmal eines unabhängig von uns existierenden Gegenstandes verstanden werden. Vielmehr ist im Lichte der ,,Externalisierung" von Konstrukten nicht daran zu zweifeln, daß das erkennende Subjekt durch die Tätigkeit der Koordinierung von "Störeinwirkungen" oder "Perturbationen" jene Strukturen konstituiert, die wir "Realität" nennen. 140 Daher müssen wir davon wahrhaftige Abbildungen jenes Objektes sind oder nicht". An anderer Stelle formuliert er das Problem als Paradox: "Um die Wahrheit unseres Wissens einzuschätzen, müßten wir das kennen, was wir erkennen, bevor wir es erkennen" (Lernen 1987,279). Es gibt nur wenige Denker, die diesem Paradox nicht ausgewichen sind. Glasersfeld (Einführung 1987, 205) nennt neben dem Vorsokratiker Xenophanes vor allem George Berkeley und Gianbattista Vico als Vorläufer des Konstruktivismus. Vicos bekanntes Schlagwort lautete "verum ipsum factum" (das Wahre ist dasselbe wie das Gemachte) und schrieb 1710, ein halbes Jahrhundert vor Kants Kritik: ,,Ebenso wie die Wahrheit Gottes das ist, was Gott erkennt, indem er es zusammenfügt und schafft, ist die menschliche Wahrheit das, was der Mensch erkennt, indem er es handelnd aufbaut und durch sein Handeln formt. Darum ist Wissenschaft (scientia) Kenntnis (cognitio) der Entstehung, der Art und Weise, wie die Dinge hergestellt wurden" (zit. bei v. Glasersfeld, Einführung 1987, 205). Zu den bekanntesten Konstruktivisten der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zählt v. Glasersfeld insbesondere Dewey, Bridgeman, Piaget und Ceccato, den er als seinen Lehrer bezeichnet. 139 Piaget, Psychological Studies 1967, 8. 140 Zu dieser ,,Realität" muß man wie schon mehrfach hervorgehoben - sogar den eigenen Körper zählen. Die unterscheidende Beobachtung der eigenen Hand ist in visueller Hinsicht nicht von jener Operation zu trennen, mit deren Hilfe auch die übrigen Gegenstände von einem Hintergrund abgetrennt werden. Der Beobachter konstruiert auf diese Weise permanente Objekte, die er aus seiner Erfahrung abstrahiert und von da an

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

ausgehen, daß sich die "Sinnesdaten" und die kognitiven Strukturen, die zu invarianten Koordinationsmustern bzw. zur Realität des Organismus werden, von Anfang an im erkennenden Subjekt und nicht irgendwo "draußen" befinden. Was wir wahrnehmen, ist aus Signalen unseres Erfahrungsbereiches aufgebaut. Diese Signale sind mithin unser Konstrukt, welche wir dem Strom der Erfahrung aufprägen. 141 Sie spiegeln keine objektive Beschaffenheit einer ontologischen Realität wider. Zumindest werden wir niemals wissen, ob unsere Konstrukte Kopien der "Wirklichkeit" sind oder nicht, ebensowenig wie der Frosch die objektive Beschaffenheit jener Dinge erfassen kann, auf die sein visuelles System reagiert. Sein Begriff einer ,,Fliege" läßt sich nur durch die neuronalen Signale definieren, die in seiner Erfahrung zusammenwirken, und niemals durch ihm gänzlich unzugängliche, außerhalb seiner selbst liegende "Ursachen" dieser Signale. Wir befinden uns in prinzipiell derselben Lage wie der Frosch. Unser Handeln ist letzten Endes immer ein Handeln mit dem Beziehungsgefüge unserer Signale. 142 Und was wir durch unser Handeln verändern oder kontrollieren, das sind stets unsere eigenen Wahrnehmungen bzw. die Signale, die wir "Sinnesdaten" nennen. Daß Piaget diesen Formulierungen kaum widersprochen hätte, zeigen zahlreiche, jüngere Ausführungen zur Epistemologie. Von Glasersfeld macht darauf als unabhängige Teile der ,,Realität" behandelt. Demnach verdankt sich auch das Körperkonzept und schließlich das Ichkonzept dem Vorgang der ,,Externalisierung" von Konstrukten; siehe dazu v. Glasersfeld, Kybernetik 1987,169. Ganz auf dieser Linie entwikkelt der Physiker Diettrich die Vorstellung, "daß Realität in ihrer Qualität als oberste Bewertungsinstanz für Theorien nur die Konsistenzbedingungen zur Summe der zuvor (entwicklungsgeschichtlich und historisch) etablierten Theorien im weiteren Sinne reflektiert" (Evolution 1989, 13). Probleme tauchen danach als Konsistenzprobleme zwischen Theorien auf. 141 Hierzu Hebb (Psychology 1959,461): ,,Auf einer bestimmten Ebene physiologischer Analyse gibt es nur die Realität feuernder Neurone". Und Rapaport, Biophysics 1949, 185: "Wissen besteht in einer geordneten Abfolge neuromotorischer Ereignisse". Glasersfeld hält die neurologische Begriffsbildung vom ,,Feuern eines Neurons" für ein starkes analytisches Konstrukt: "Der wichtigste Punkt liegt darin, daß ein solches Signal bzw. Feuern als eigenständiges Datum angesehen werden kann, das nicht als Auswirkung irgendeiner davon unabhängigen und greifbaren Ursache betrachtet werden muß" (Piaget 1987, 106). Die Begründung dafür haben wir oben in dem ,,Prinzip der undifferenzierten Codierung" gefunden: Das Nervenzentrum und nicht die physikalischen Eigenschaften des Reizes rufen die Empfmdung hervor; vgl. Segal, Erfindung 1988, 50; Foerster, Wirklichkeit 1981,43; Roth, Gehirn 1990, 176. 142 Das trifft nicht minder auf naturwissenschaftliche Experimente zu, mit deren Hilfe uns bis zu einem gewissen Grade Vorhersage und Steuerung unserer Erfahrung gelingen. Wenn wir die Ursachen der Signale nicht direkt "beobachten" können, müssen wir uns an ihre Auswirkungen halten. Dementsprechend stehen wir vor dem ,,Außen" und dem ,,Innen" wie vor einem "schwarzen Kasten" (black box). Wir nehmen jeweils nur den Output (Sinnesdaten) und den Input (Rückkoppelungssignale) wahr. ,,Input und Output sind neuronale Signale, und sobald wir diese Differenzierung getroffen haben, können wir rekurrente Koordinationen und Abhängigkeiten zwischen beiden feststellen. Auf dieser Basis von Input-Output-Beziehungen können wir hiernach eine ,Außenwelt' sowie unsere jeweiligen ,Selbst'-Bilder konstruieren", Glasersfeld, Piaget 1987, 108.

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aufmerksam, daß die Erkenntnistheorie des späten Piaget stark an Gianbattista Vico, dem geistigen Vater des italienischen Operationalismus, erinnert, der als erster behauptete, daß der Mensch nur erkennen kann, was er selbst gemacht hat. 143 Piaget stellt ganz im Geiste des Konstruktivismus fest: " ... Wissen bedeutet, in Gedanken (das heißt im Modus des Denkens) erzeugen, und dieses Erzeugen muß so sein, daß es die Art und Weise rekonstituiert, durch die die Phänomene selbst erzeugt werden." 144 ,,Für den genetischen Epistemologen entsteht Wissen durch ständige Konstruktion, denn an jedem Akt des Verstehens ist ein gewisses Maß an Erfindung beteiligt. In der menschlichen Entwicklung ist der Übergang von einem Stadium zum nächsten immer gekennzeichnet durch die Bildung neuer Strukturen, die vorher nicht existierten, sei es in der Außenwelt, sei es im Bewußtsein des Individuums." 145 " ... Erfahrung verbindet Eigenschaften, die durch Handeln in das Objekt hineingebracht werden (sie hat es nicht mit bereits vorgegebenen Eigenschaften zu tun). Wissen wird so vom Handeln selbst abstrahiert, nicht von den physikalischen Merkmalen eines Gegenstandes." 146 cc) Vergegenständlichung Aus diesen Zitaten ergibt sich eine Definition des Wissens, die ganz auf die kognitive Tätigkeit des Subjekts abstellt, Konstrukte zu erzeugen und zu äquilibrieren. Wie verbindet sich diese Tätigkeit mit den Begriffen der ,,Assimilation" und der ,,Akkomodation"? Die wohl umfassendste Antwort gab Piaget, als er der gegenüber den "großen" Themen der Welterkenntnis eher bescheiden anmutenden Frage nachging, wie ein Kind den Begriff eines "Objekts" erwirbt, das trotz ständig wechselnder Erfahrungen von Dauer ist. Piaget konnte bei seinen 143 Das bekannteste Werk von Vico trägt den Titel "De antiquissima Italorum sapientia" (Neapel 1710). Dort finden sich zahlreiche Aussagen, mit denen er die epistemologische Einstellung der modernsten Wissenschaftsphilosophen vorwegnimmt; z. B.: "So wäre denn menschliches Wissen (Wissenschaft) nichts anderes, als die Dinge in schöne Beziehung zueinander zu bringen" (Kap. 7, § m, 5). In Bezug auf die Kategorie der Kausalität sagt er etwa: "Wenn wahr ist, was gemacht ist, dann heißt, etwas durch seine Ursache zu beweisen, das gleiche wie, es bewirken" (Kap. 3, § I, 2). Aus den Worten Vicos ergibt sich die Unrichtigkeit der Auffassung, wonach der Konstruktivismus keine Maßstäbe für die Beurteilung von Erkenntnis besitze. So behauptet Wendel: "Wir sehen, daß die radikal konstruktivistische Erkenntniskonzeption nur solange eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen kann, als sie die eigenen Voraussetzungen unter der Hand realistisch deutet, was sie jedoch inkonsistent machen würde. Der einzige Ausweg hieraus wäre, den involvierten Instrumentalismus als eine metaphysische Hypothese aufzufassen, was jedoch die gleichwohl unannehmbare Konsequenz hätte, daß dann die Behauptungen über den nichtdarstellenden Charakter unserer Erkenntnis auf einer petitio principii beruhen würden" (Wirklichkeit 1989, 88). Vico macht indes klar, daß wir unsere eigenen Erzeugnisse durchaus als ,,realistisch", wenn auch nicht als von uns unabhängig betrachten können. Zum Ontologie-Problem des Konstruktivismus vgl. auch Krüger, Selbst 1990, 139. 144 Piaget, M ecanismes perceptifs 1961, 441; zit. nach v. Glasersfeld, Piaget 1987, 110. 145 Piaget, Erkenntnistheorie 1973, 77. 146 Piaget, Anpassung 1975, 31.

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Untersuchungen auf Analysen aufbauen, die seinem Denken sehr nahe kamen. So hob Ernst Mach bereits 1886 die aktive Mitwirkung des Subjekts an der Erzeugung "beständig existierender" Objekte hervor. 147 Und Bridgeman defmierte "Objektpermanenz" auf eine Weise, die von Piaget stammen könnte: "Wenn wir sagen, daß wir da draußen einen Gegenstand sehen, dann nutzen wir Korrelationen, die durch Erfahrung und Wiederholung in die Struktur und das Funktionieren unserer Gehirne eingebaut worden sind." 148 Mach und Bridgeman gelangten also zu dem Schluß, daß die ,.Existenz" von Gegenständen das Ergebnis der konstruktiven Koordination von Erfahrungsdaten ist, die sodann in eine "Außenwelt" projiziert werden. 149 Piaget's Verdienst besteht nun u. a. darin, daß er diesen Prozeß der Koordination um vieles expliziter dargestellt und unter Entwicklungsaspekten experimentell untersucht hat. Die Ergebnisse der empirischen Studien zur Genese der Objektpermanenz bei Kindern sind, wie von Glasersfeld zu Recht betont, "ein hervorragendes Beispiel für die experimentelle Bestätigung einer Idee, die auf rein theoretischen Grundlagen postuliert worden war". 150 Piaget hat den Aufbau der Objektpermanenz in sechs gleitend auseinanderhervorgehenden Entwicklungsschritten beschrieben, die in der senso-motorischen Periode ausgebildet werden. Sehr gerafft lassen sich diese Aufbauprozesse wie folgt darstellen: (1) In der allerersten Phase besitzt das Kind noch nicht die Fähigkeit, Elemente innerhalb des Erfahrungsstroms voneinander zu trennen und anschließend als Regelmäßigkeiten zu betrachten. So impliziert der erste Kontakt zwischen dem handelnden Subjekt und der Umwelt noch kein Bewußtsein von dem Objekt. Die Dinge werden durch reflexartige Assimilation in Besitz genommen und nicht .erkannt: "Was das Kind wiedererkennt, wenn es z. B. die Brustwarze wiederfindet, ist ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Objekt und ihm selbst, d. h. 147 Vgl. Mach (Erkenntnislehre 1910,601): ,,Ich kann einen Körper sehen, wenn ich ihm den Blick zuwende, ich kann ihn tasten, sobald ich nach demselben greife ... In der Regel ist die Sichtbarkeit mit der Tastbarkeit verbunden ... Wir sind gewöhnt, den Körper als bedingungslos beständig zu betrachten, obgleich es eine bedingungslose Beständigkeit nicht gibt . .. Diese Erfahrung aber über die Grenzen der Erfahrung auszudehnen, ein ,Ding an sich' anzunehmen, hat keinen verständlichen Sinn"; siehe auch Mach, Empfindungen 1886. Ähnlich Gustav Fechner, vgl. dazu Heidelberger, Selbstorganisation 1990, 85. 148 Bridgeman, The Way 1959,46. An anderer Stelle heißt es: "Wir e~ahren keine Dinge; Dinge werden von uns gemacht. Thre Funktion besteht darin, Ahnlichkeiten zwischen den Erfahrungen, die wir hier und heute machen, und den Erfahrungen, die wir schon einmal gemacht haben, festzuhalten. Dies zu tun, hat sich als höchst nützlich erwiesen", Physical Theory 1936, 12. 149 Zu derselben Auffassung gelangte Ceccato, der Begründer des italienischen Operationalismus, und zwar auf rein logisch-theoretischer Grundlage. Sein zentrales Anliegen war der Nachweis, daß alle mentalen Aktivitäten als technisch reproduzierbare Operationen beschrieben und daher in kybernetischen Modellen ,,mechanisiert" werden können; vgl. v. Glasersfeld, Semantische Analyse 1987,25. 150 v. Glasersfeld, Piaget 1987, 104.

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ein globales Bild, das alle Eindrücke, die mit der im Ablauf begriffenen Handlung verbunden sind, enthält." 151 Diese frühen Schemata sind untrennbar mit der eigenen Aktivität verbunden. Solange die Handlung erfolgreich ist, ist ihr Objekt eins mit dem Bewußtsein des Wunsches oder der Bemühung um die Erfüllung des Wunsches. (2) Erst wenn das Kind das Verschwinden der gewünschten Objekte bemerkt, stellt sich das Problem der Unabhängigkeit und Kontinuität des Objektes. Es vermag auch in diesem Stadium noch nicht die eigene Handlung vom Objekt zu trennen. Zwar gerät das Neugeborene in Aufregung, wenn die Mutter aus seinem Gesichtsfeld verschwindet, aber seine Reaktionen erschöpfen sich im Fortführen der letzten Anpassungshandlungen: Es fixiert den Punkt, wo das Bild der Mutter verschwunden ist, oder es saugt, ohne einen Gegenstand zum Saugen zu haben. 152 Um seinen Wunsch zu erfüllen, verläßt sich also das Kind allein auf die Wiederholung der Akkomodationsbewegungen oder im Falle des Mißerfolges auf seinen emotionalen Ausbruch. In der Folge konstituiert sich das Objekt aus dem Bedürfnis des Kindes nach dessen Erhaltung. (3) Im Laufe des dritten Stadiums beschränkt sich das Kind nicht mehr darauf, einem bewegten Gegenstand mit der Hand oder den Augen zu folgen. Nunmehr beginnt das Kind, das Objekt aktiv zu suchen, indem es die Akkomodationsbewegungen in die Richtung verlängert, der das Objekt bis dahin gefolgt ist. "Die Tatsache, momentan den Kontakt mit dem Objekt zu verlieren, um es in einer neuen Position wiederzufmden, kennzeichnet offensichtlich einen Fortschritt in der Trennung der eigenen Handlung von dem Objekt, also in der Autonomie, die diesem verliehen wird." 153 Der Fortschritt'ist dann erreicht, wenn das Kind die visuelle Suche mit der taktilen Suche vereint. 154 Auf diese Weise koordiniert 151 Piaget, Wirklichkeit 1975,91. Ein solch globales Bild bezeichnet Piaget auch als "stabile Gruppe", die das Kind sehr rasch durch jede funktionelle Betätigung (= primäre Zirkulärreaktion) wiedererkennt. So zeigt das Lächeln des Kindes von der fünften bis sechsten Woche an deutlich, daß es die vertrauten Stimmen oder Gestalten wiedererkennt, während ungewohnte Geräusche oder Bilder es in Erstaunen versetzen. Wichtig ist, daß das Wiedererkennen in diesem Stadium noch keine Aktivierung eines geistigen Bildes bedarf. "Was das Subjekt wiedererkennt, ist vorerst seine eigene Reaktion und erst später das Objekt als solches", Piaget, ebd. 17. 152 In diesem Stadium beginnt das Kind erstmals heterogene Schemata zu koordinieren. Als klarstes Beispiel kann man die Koordination von Sehen und Hören anführen. Vom zweiten oder Beginn des dritten Monats an sucht das Kind die Dinge, die es hört, zu erspähen (vgl. Piaget, Intelligenz 1975, 90). Es stellt damit eine Affinität zwischen verschiedenen Lauten und visuellen Bildern her. ,,Es ist klar, daß eine solche Koordination den sensorischen Bildern einen höheren Grad von Beständigkeit verleiht, als wenn sie nur mit einer einzigen Art von Schemata wahrgenommen werden. Die Tatsache, daß es etwas zu sehen erwartet, löst im Subjekt, das ein Geräusch hört, die Neigung aus, das visuelle Bild als schon vor der Wahrnehmung bestehend anzusehen", Piaget, Wirklichkeit 1975, 18. 153 Piaget, ebd. 92. 154 Die Verhaltensweisen im dritten Stadium liegen zwischen den Anfangen des Greifens und den Anfangen des aktiven Suchens nach den verschwundenen Gegenstän-

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es mehrere Reihen von Akkomodationen: Es sucht nach dem Ganzen bei Wahrnehmung eines Teils des Objektes; es beseitigt Hindernisse, die die Wahrnehmung behindern etc. ISS Diese spezifischen Suchhandlungen demonstrieren eindrucksvoll, daß die Genese des Objektbegriffs eng mit den Begriffen des Raumes, der Kausalität, der Zeit, der Veränderung und der Bewegung zu tun haben. Denn sobald es dem Kind gelingt, sich die Permanenz eines Objektes vorzustellen, obwohl es nicht sichtbar ist, muß es seine ,,Existenz" aus einer Verlagerung im Raum ableiten können. Die Suche nach dem verschwundenen Objekt signalisiert die Ansätze zum Aufbau einer verständlichen raum-zeitlichen Welt. IS6 Damit geht einher, daß die eigenen Handlungen nicht mehr als einzige Quelle der äußeren Welt erlebt werden. "So stellt das Kind künftig die Bewegungen seiner Hand in den Rahmen der Bewegungen von äußerlichen Körpern, wobei es diese letzteren mit einer Aktivität ausstattet, die die seine ergänzt. Kurzum, in dem Maße, in dem die Objekte sich von der Handlung lösen, wird der eigene Körper eine Größe unter anderen und fmdet sich so in ein Gesamtsystem einbezogen, das die AnHinge der wirklichen Objektivierung kennzeichnet." IS7 Die Dinge werden nunmehr in ein System von Beziehungen eingefügt, die eigenen Handlungen in ein Verhältnis zu den umgebenden Ereignissen gebracht. Das bedeutet die Organisation eines raum-zeitlichen Netzwerkes und die Errichtung eines Systems von Substanzen und Ursache-Wirkungs-Verhältnissen. IS8 Bis das Objekt über seine Verlagerungen hinweg als eine räumliche Konstante und somit als eine isolierbare Größe den. Im Alter von drei bis sechs Monaten kann das Kind zwar die Gegenstände, die es sieht, ergreifen, und die Gegenstände, die es berührt, vor seine Augen bringen, aber es kann das Greifen noch nicht dazu benützen, die festen Körper, die das gewünschte Objekt verdecken, zu entfernen. Somit ist das Stadium des wirklichen Suchens noch nicht erreicht; siehe dazu Piaget, ebd. 24. ISS Daß das Kind tatsächlich weder autonome Verlagerungen noch irgendeine objektive Permanenz der Objekte erfaßt, zeigt das Beispiel von Laurent: Bei ihm ist das Suchen nach dem heruntergefallenen Gegenstand häufiger, wenn er ihn selbst hat fallen lassen. Die Permanenz des Objektes ist also in diesem Stadium größer, wenn das Kind die Bewegung des fallenden Objektes beobachtet hat. ,,Nur in dem Maße, in dem es so in Abwesenheit der Objekte die in ihrer Gegenwart begonnene Operation fortsetzt, ist es fähig, ihnen eine gewisse Permanenz zu verleihen", Piaget, ebd. 28. IS6 Ohne den Aufbau des Schemas des permanenten Gegenstandes existieren tatsächlich weder ein Raum noch eine zeitliche Ordnung, die die Gegenstände umfassen: "Gegeben ist am Anfang nur ein System von heterogenen Räumen, die alle auf den eigenen Körper zentriert sind: Mund-, Tast-, Seh-, Hörraum, und einige zeitliche Eindrükke (Warten usw.) ohne objektive Koordinierungen. Diese Räume werden dann (durch den Mund und das Greifen) fortschreitend koordiniert", Piaget, Inhelder, Kind 1987, 25. IS7 Piaget, Wirklichkeit 1975, 95. IS8 Die Konstruktion eines Objektes ist also untrennbar mit dem Aufbau der Welt in ihrer Gesamtheit, mit dem des Raumes, der Zeit und der Kausalität verbunden. Die Definition des Objektes lautet denn auch nach Piaget (ebd. 95): ,,Ein Objekt ist ein System von Wabrnehmungsbildem, ausgestattet mit einer über seine aufeinanderfolgenden Verlagerungen hinweg konstanten räumlichen Form, das eine isolierbare Größe in den kausalen Reihen, die in der Zeit ablaufen, darstellt."

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in kausalen Reihen ausgebildet ist, muß das Kind in mehreren weiteren Schritten lernen, das verschwundene Objekt wiederzufmden. (4) Der Fortschritt des vierten Stadiums (8 - 12 Monate) besteht darin, den Gegenstand nicht nur in der Verlängerung von Bewegungen der Akkomodation, sondern außerhalb des Wahrnehmungsfeldes zu suchen. Diese Entdeckung verdankt sich der Tatsache, daß das Kind anfängt, die Dinge zu ergreifen, sie umzuwenden, sie hin und her zu bewegen, sie wiederzufinden. Durch diese Untersuchung der Verlagerung der Körper werden die visuelle und die taktile Permanenz koordiniert, die im vorhergehenden Stadium noch nicht verbunden waren. Aber noch beschränkt sich das Kind darauf, den Gegenstand an dem Platz zu suchen, wo es ihn schon einmal gefunden hat. Es berücksichtigt noch nicht die aufeinanderfolgenden Verlagerungen; folglich hat es den Gegenstand noch nicht voll objektiviert. Der Gegenstand hängt vielmehr noch von dem Handlungskontext ab, in den er eingefügt ist. In der Vorstellung des Kindes "existieren" die Objekte Puppe, Uhr, Ball usw. nicht unabhängig von den bevorzugten Positionen, in denen Aktivitäten mit diesen Objekten stattgefunden haben: Es gibt vorerst nur Bilder wie "an-der-Schaukel-befestigte-Puppe", "Uhr-unterdem-Kissen", "Ball-unter-dem-Sessel" usw. Zwar erkennt das Kind bereits diese Objekte wieder und versieht sie so mit Permanenz, aber sie scheinen eine begrenzte Anzahl unterschiedlicher Formen anzunehmen, ein Mittelding zwischen Einheit und Vielheit. 159 Noch bleibt also das Objekt eher ein praktisches Objekt als ein substantielles Ding, noch bleibt es von seinem Handlungskontext abhängig, noch wird ihm keine objektive Struktur zugeschrieben. 160 Dies geschieht erst, wenn das Kind 159 Folgende Beobachtung, die er später bestätigt fand, veranlaßte Piaget (Wirklichkeit 1975, 64) zur Einschiebung eines vierten Stadiums: ,,Einmal rollt der Ball unter einen Sessel. Gerard sieht ihn und holt ihn, nicht ohne Schwierigkeiten, darunter hervor, um das Spiel wieder zu beginnen. Dann rollt der Ball unter ein Sofa am anderen Ende des Zimmers. Gerard hat gesehen, wie der Ball unter die Fransen des Sofas rollte: Er bückt sich, um ihn dort wiederzufmden, aber da das Sofa tiefer ist als der Sessel und die Fransen ihn daran hindern, deutlich zu sehen, gibt Gerard nach einem Augenblick auf: Er erhebt sich, durchquert das Zimmer, kriecht direkt unter den Sessel und untersucht sorgfältig die Stelle, an der vorher der Ball war." Man kann dieses Phänomen mit Mangel an Gedächtnis, Mangel an räumlicher Lokalisierung oder Mangel an Objektivierung erklären. Piaget hält alle drei Interpretationen für zutreffend, solange sie aufeinander verweisen und sich nicht ausschließen. Entscheidend für das vierte Stadium bleibt, daß das Kind das Objekt in einigen bevorzugten Positionen sieht und es sich nicht in vielen verschiedenen Positionen vorstellen kann, was bedeuten würde, das Objekt gleichzeitig von allen diesen zu abstrahieren; vgl. Piaget, ebd. 68. 160 Ein weiteres instruktives Beispiel demonstriert, daß das Kind noch keine vollständige Vorstellung von der permanenten Identität eines Gegenstandes erworben hat. So erkennt es einen ihm vertrauten Gegenstand nicht wieder, wenn es ihn von der Rückseite sieht, wo wesentliche Orientierungsmerkmale unsichtbar sind. Die Gründe für dieses Scheitern hängen auch hier damit zusammen, daß sich der Gegenstand noch nicht völlig von der Handlung gelöst hat. Diese Ablösung aber bildet die Voraussetzung für die Unterscheidung zwischen Handlung und Zustand. - eine Unterscheidung, die die Re-

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ein Bewußtsein von den Beziehungen der Position und der Verlagerung erworben hat. Dann wird es autbören, das Wiederauftauchen der Objekte allein an dem Ort zu erwarten, wo sie verschwunden sind und wo sie durch eigene Aktivität wiedergefunden wurden. (5) Das fünfte Stadium (vom ersten bis zur Mitte des zweiten Lebensjahres) ist durch eine fortschreitende Eroberung der räumlichen Beziehungen charakterisiert. Das Kind lernt, den verschiedenen Verlagerungen eines Objektes Rechnung zu tragen. Versteckt man einen Gegenstand unter einer ersten Schirrnwand, unter der das Kind es wiederfindet, und versteckt man diesen Gegenstand anschließend unter einer zweiten Schirrnwand, dann sucht es ihn künftig nicht mehr unter der ersten, sondern allein unter der zweiten. Anders als im vorangegangenen Stadium sucht es das Objekt also nicht mehr in einer bevorzugten Position, sondern ausschließlich in der Position, die aus der letzten sichtbaren Verlagerung resultiert. Mit dieser erstmaligen Berücksichtigung der sichtbaren Verlagerungen wird das Objekt von seinem praktischen Kontext abstrahiert und mit substantieller und geometrischer Permanenz ausgestattet. Doch das Kind hat noch nicht die Fähigkeit erworben, unsichtbare Verlagerungen zu berücksichtigen. Wird ein Objekt von einem Behälter in einen anderen gewechselt, ohne daß das Kind den Behälterwechsel direkt wahrnehmen kann, dann wird es auch dann zur Verhaltensweise des dritten Stadiums zurückkehren, wenn der Weg des Objektes leicht zu rekonstruieren ist. Das Kind wird dort suchen, wo es den Gegenstand schon einmal gefunden hat. Solche teilweise unsichtbaren Verlagerungen sind also für das Bewußtsein des Kindes noch nicht erreichbar. 161 Dies zeigt, daß trotz des Aufbaus einer räumlichen Permanenz die Objekte noch von einem Gesamtzusammenhang und von praktischen Schemata abhängig sind. (6) Erst im Verlauf des sechsten Stadiums erwirbt das Kind die Fähigkeit, sein Suchen mit Hilfe der Vorstellung zu steuern. Diese neue Methode erlaubt die Berücksichtigung der unsichtbaren Verlagerungen des zu suchenden Gegenstandes. Von nun an kann sich das Kind den gesamten Weg vorstellen, den das flexion des Subjekts auf den eigenen Standpunkt voraussetzt. Folglich erfordert die Zuordnung von Vorder- und Rückseite zu ein und demselben Gegenstand eine Reflexion auf die eigene Perspektive zum Gegenstand. Solange das Interaktionssystem SubjektObjekt nicht internalisiert ist, ist das Kind nicht in der Lage, sich die Veränderungen von Gegenständen vorzustellen und sie im Geiste umzukehren; vgl. zum Thema der Reversibilität Piaget, Geistige Entwicklung 1976,44; Biologie 1974; Kesselring, Entwicklung 1981, 185. 161 Es wäre durchaus. nicht falsch zu sagen, das Kind kann sich noch nicht an die Reihenfolge der Verlagerungen erinnern. Die Frage ist indes, warum vermag das Gedächtnis die Reihenfolge noch nicht zu speichern. Darauf gibt Piaget die Antwort, weil "es noch immer keine kohärente räumliche ,Gruppe' herstellt" (Wirklichkeit 1975, 81). Für die Vorstellung und für das Gedächtnis sind - wenn die Verlagerungen komplizierter werden - nur "Gruppen" erreichbar, die in zeitlichen Beziehungen geordnet werden. Das Gedächtnis ist eine Konstruktion von solchen zeitlichen Beziehungen.

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Objekt macht. Damit ist das Objekt endgültig konstituiert: Es hat sich von der Wahrnehmung und von der eigenen Handlung freigemacht, um Gesetzen völlig autonomer Verlagerungen zu gehorchen. Erst jetzt wird das Objekt als mit sich selbst identisch aufgefaßt, wo immer es sich befinden mag. 162 Demgegenüber war die frühere Permanenz an die Wahrnehmung gebunden, daß das Objekt hinter einer Schirmwand verschwand. Dabei wurde die Schirmwand als Indikator für die Präsenz des Objekts begriffen. Im sechsten Stadium hingegen bedarf der Glaube an die Permanenz keinerlei Indikatoren mehr. Die wirkliche Vorstellung beginnt von dem Moment an, da das Subjekt den Weg nachvollziehen oder ableiten kann, den das Objekt genommen hat. Diese Vorstellung ist es, die die Gegenstände vom Ich ablöst und zu unabhängigen Objekten macht. Desweiteren trägt dieser Ablösungsprozeß wesentlich dazu bei, die Welt als Gesetzen gehorchend aufzufassen. Eine Welt, deren Organisation nur in Gegenwart des Subjektes beginnen würde, müßte als durch und durch instabil und bedrohlich empfunden werden. In einer Welt, in der nur die wahrgenommenen Bewegungen geordnet sind, gibt es noch keine "Objekte", sondern lediglich Verlängerungen des eigenen Handlungsbereiches. "Dagegen bewirken die Vorstellung und die Ableitung eine Ausweitung des Festigungsprozesses auf Bereiche dieser Welt, die der Handlung und der Wahrnehmung entzogen sind." 163 Zusammenfassung: Man kann beim Aufbau des Objektbegriffs sechs Phasen unterscheiden, die den Stadien der intellektuellen Entwicklung entsprechen. Die ersten beiden Phasen (Stadium der Reflexe und der ersten Gewohnheiten) ermöglichen zwar ein Wiedererkennen, aber die kindlichen Bilder sind ohne Permanenz der Substanz und räumlichen Organisation. Der Beginn der Permanenz setzt in der dritten Phase (sekundäre Zirkulärreaktionen) ein, wenn die Dinge in Verlängerung der Akkomodationsbewegungen gesucht werden. Während der vierten Phase (Anwendung bekannter Verhaltensschemata auf neue Situation) werden die verschwundenen Gegenstände wiedergesucht, jedoch ohne sich der Verlagerungen bewußt zu sein. Die Konstitution des Gegenstandes als individuelle permanente Substanz erfolgt in der fünften Phase (mit ca. 12 - 18 Monaten), wenn der Gegenstand in Gruppen von Verlagerungen eingefügt wird, aber das Kind nicht beobach162 Mit sich selbst identisch bleibend wird das Objekt also erst dann aufgefaßt, wenn es in das System der Vorstellungen und damit der abstrakten Beziehungen eintritt. Künftig wird dann auch der eigene Körper als ein Objekt begriffen und in die abstrakten Beziehungen von Raum, Kausalität und Zeit hineingestellt. Das bedingt schließlich, daß sich das Subjekt als einfache Ursache und einfache Wirkung innerhalb der Gesamtheit der Zusammenhänge, die es konstruiert, ansieht. 163 Piaget, ebd. 89. Es soll hier ein weiteres Mal unterstrichen werden, daß es sich bei der nunmehrigen Vorstellung eines permanenten Objektes nicht um die Kopie eines ,,realen" Objektes handeln kann, die das Subjekt mehr oder weniger passiv speichert. Piaget bringt das deutlich zum Ausdruck: "Wenn Erfahrung vorliegt, handelt es sich um gesteuerte Erfahrungen: Indem das Kind das Objekt entdeckt, organisiert es eher seine motorischen Schemata und erarbeitet operative Beziehungen, als sich passiv dem Druck der Tatsachen zu unterwerfen" (ebd. 97).

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tete Positions wechsel noch nicht berücksichtigen kann. Erst in der sechsten Phase ist die Vorstellung von Gegenständen, die unsichtbare Verlagerungen erfahren, gegeben. Bei dieser Konstitution der Objektpermanenz fällt vor allem auf, daß sie mit der Elaboration der Welt in ihrer Gesamtheit verflochten ist. In dem Maße, in dem sich die Dinge von der eigenen Aktion lösen und diese sich in eine Menge von räumlichen und kinematischen Gesetzen einfügen, muß das Subjekt ein raum-zeitliches Netzwerk errichten, um die umgebenden Ereignisse und sich selbst im Verhältnis zu ihnen verstehen zu können. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß das Objekt sowie seine raum-zeitliche Verortung Konstrukte sind, die sich allerdings unvermeidbar zu dem entwickeln, was als "ontologische Realität" bezeichnet wird. Sobald wir die Konstrukte externalisieren und ihnen dadurch Kontinuität verleihen, haben wir die Grundlage für eine Welt gelegt, die "existiert", ob wir sie wahrnehmen oder nicht. 164 Am Ende dieses Dezentrationsprozesses erscheint dann die Welt als völlig vom erfahrenden und konstruierenden Subjekt getrennt. Von nun an nehmen unsere Erfahrungsakte den Charakter der "Entdeckung" von Dingen an, die bereits da und von uns geschieden sind. Von nun an begibt sich der menschliche Geist auf die Suche nach dem "wahren" Wissen von der "wirklichen" Welt. dd) Verräumlichung, Verursachung, Verzeitlichung Aus der Grundannahme der permanenten Objekte können weitere für unsere Wirklichkeitskonstruktion unentbehrliche Begriffe abgeleitet werden. Wir haben im vorangegangenen Abschnitt gesehen, daß der Aufbau des Objektbegriffes in enger Wechselbeziehung zur Organisation des räumlichen Feldes steht. Zum Abschluß dieses Kapitels über die ,,Konstruktion der Welt" möchte ich kurz zu zeigen versuchen, wie sich die Begriffe des Raumes, der Veränderung, der Ursache und der Zeit notwendig aus der allerersten Konstruktion entwickeln und zu einer kohärenten WeItsicht z1!sammenfügen. 164 Genaugenornrnen werden zwei parallele Kontuinitäten erzeugt: Das Konstrukt der ,,Fortdauer ohne direkte Wahmehrnung" bedingt die Vorstellung einer Kontinuität außerhalb des Stroms der Erfahrung. Damit ist das Fundament für eine ontologische "Wirklichkeit" gelegt, in der die Erfahrungswelt bald den Charakter jener unausweichlichen Notwendigkeit annimmt, den wir ihr in der Regel zuweisen. Hierzu in weitgehender Übereinstimmung mit Piaget, aber von völlig anderen Überlegungen ausgehend der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend (Criticisme 1967, 304): "Schon von frühester Kindheit an werden wir einer Erziehung unterworfen, die unserer Weise, die Dinge zu sehen und in der Welt zu handeln, eine klare Richtung gibt, und die alle anderen Möglichkeiten unterdrückt oder in das Reich der Phantasie verweist. So entsteht unsere Vorstellung von Wirklichkeit." Ein Konstruktivist müßte freilich ergänzend anfügen, daß das Weltbild, an das wir ontogenetisch angepaßt werden, selbst eine von den Menschen erzeugte kognitive Umwelt ist, und daß diese Umwelt nicht strikt determiniert, sondern als "einschränkende Bedingung" (constraint) modifiziert, was strukturell in den Organismen gegeben ist.

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(1) Raum. Hat sich die Vorstellung aufgebaut, daß ein verschwundenes Objekt dennoch "existiert", dann muß es ein Jenseits des Erfahrungsfeldes geben, wo sich das Objekt befindet. Mit der Externalisierung der Konstrukte muß also gleichzeitig die Vorstellung von einem Ort erzeugt werden, der sich später zu einem strukturierten Raum ausweitet. Bevor jedoch der Raum in einzelne Teile aufgespalten wird, besteht sein einziges Merkmal darin, eine Anordnung von Elementen zu ermöglichen. Die Aufmerksamkeit des Subjekts kann sich so von einem Element zum anderen bewegen, und zwar nach Belieben des wahrnehmenden Menschen. 165

Vom Aspekt der Bewußtwerdung aus betrachtet, folgt die Begriffsbildung des Raumes demselben Prozeß der Desubjektivierung oder Dezentration wie der Aufbau permanenter Objekte. 166 Solange des Kind nicht von der Existenz substantieller Objekte ausgeht, kann es auch nicht einen Raum außerhalb des Ich ausbilden. Erst wenn der Raum aufhört, auf die eigene Aktivität zentriert zu sein, wird die Räumlichkeit zu einer Eigenschaft der Objekte und ihrer gegenseitigen Beziehungen. Piaget resümiert ganz im Geiste des Konstruktivismus: "Man versteht also, warum die Räumlichkeit nicht an sich gegeben ist, sondern immer bezogen bleibt auf die intellektuelle Aktivität: Je mehr sich die Gruppen organisieren und Vgl. v. Glasersfeld, Kybernetik 1987, 165. Piaget, Wirklichkeit 1975,204; vor allem die dritte Phase (Koordination des Sehens und des Greifens) erzielt im Hinblick auf die Strukturierung des Raumes bedeutsame Fortschritte. Das Kind wird aufgrund des Greifens fähig, die Objekte zu verlagern und sie so Bahnen beschreiben zu lassen, die zum Ausgangspunkt zurückkommen. Auf diese Weise bildet sich ein System von Operationen, das in sich geschlossen ist, weil es einer Funktion, die Teil des Systems ist, möglich ist, an den Anfangszustand anzuschließen. Solche rekursiven Operationen hält Piaget für den Begriff der "Gruppe" typisch: "Der Gruppenbegriff verkörpert also das Prinzip dieses Systems von Operationen, das die Logiker die ,Logik der Relationen' genannt haben, da das Ergebnis von zwei Relationen wieder eine Relation ist. Die Logik der Relationen ist nun jeder intellektuellen Tätigkeit immanent: Jede Wahrnehmung und jede Vorstellung stellen Beziehungen her ..." (ebd. 204). Der Begriff des Raumes setzt demnach - wie jede andere Vorstellung - ein System von in "Gruppen" geordneten Operationen voraus. Wenn in diesen Operationen die ,,Logik der Relationen" obwaltet, dann ist es zwingend, den Raum (die Objekte, die Zeit etc.) als eine Konkretisierung von Relationen oder genauer als "Bild" von Relationen zwischen Prozessen oder Ereignissen zu begreifen. Das Konkrete wäre somit in höchstem Maße geistig, eine Verdichtung oder Ordnung von Geschehen. Tatsächlich haben zahlreiche Autoren diese Schlußfolgerung nicht gescheut: Ciompi (Außenwelt-Innenwelt 1988, 32) sagt: ,,Das Abstrakte ist immer das ,Gefüge von Relationen', das Konkrete (z. B. die Materie) dagegen der ,Niederschlag', die Verfestigung, die ,materielle Spur' dieser Relationen." Bertrand Russel schreibt hierzu: ,,Feste Körper '" sind eigentlich nur mathematische Konstruktionen, die aus Ereignissen aufgebaut sind" (Relativitätstheorie 1972, 140). Nach Einstein (Relativitätstheorie 1969,89, 113, 125) kann es einen ,,leeren Raum" ohne ein Gravitätsfeld, das von Energie, d. h. von konkreten Ereignissen beeinflußt sei, gar nicht geben (vgl. auch Calder, Einstein 1980, 173; Jantsch, Selbstorganisation 1986, 127; Wilber, Erkenntnis 1988,95). Raum (und Zeit) hängt in dieser Sichtweise also gänzlich von Ereignissen ab, hat unabhängig von diesen keinerlei Existenz. Ohne unsere Handlungen, die ,,Differenzen" und "Inhomogenitäten" produzieren, gäbe es kein "Hier" und kein ,,Dort", keinerlei Raum. 165

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je mehr das Subjekt sich in eine Welt von substantiellen Objekten hineinstellt, um so mehr konstituiert sich die Außenwelt wirklich."167 (2) Kausalität. Die Entwicklung der Kausalität vollzieht sich gleichzeitig mit der Substanzverleihung und Verräumlichung der Welt. Das Schema der Verursachung entsteht in der instrumentellen Wiederholung bestimmter Handlungen, die das Kleinkind als befriedigend erlebt hat. Das Baby entdeckt nach und nach, daß seine Wünsche die Bewegungen seiner Hände oder seiner Beine befehligen können. Es schüttelt die Hand, welche die Rassel hält; es zieht an der Decke, um einen Gegenstand in Reichweite zu bringen. Beide Male haben sich aus solchen Handlungen einmal angenehme sensorische Signale ergeben. Sobald es dem Kind gelingt, diesen sensorischen Komplexen substantielle Permanenz zu verleihen, lassen sich diese externalisierten Ereignisse als Veränderungen und die eigene Aktivität als Ursache solcher Veränderung auffassen. Mit dem neu gefundenen Begriff der Ursache löst das Kind einen Konflikt, der sich daraus ergibt, daß sich Gegenstände einerseits verändern können und andererseits nichtsdestoweniger dieselben Gegenstände bleiben. Durch die Vorstellung einer Ursache wird die registrierte Veränderung neutralisiert. Der Gegenstand oder das Ereignis bewahren so ihre Kontinuität und Identität. 168

Von hier aus entwickelt sich die allgemeine Vorstellung, daß jede Veränderung auf irgendeine kausale Reihe zurückgeführt werden kann, und daß diese Ursache nicht notwendig auf einer Tätigkeit des Subjekts beruht. Das Kind lernt beim Verlassen des anfänglichen Egozentrismus zu begreifen, daß die Dinge, die es umgeben, einen von ihm unabhängigen Weg gehen und daß sich ihre Verlagerungen in "gesetzmäßigen" Systemen "gruppieren". 169 Es muß aber auch mit dem 167 Piaget, ebd. 207. 168 Neuerdings wird an den Untersuchungen Piagets zur Kausalität kritisiert, daß er seine Schlußfolgerungen vorwiegend auf explizite verbale Erklärungen der Kinder stützte. Möglicherweise manifestiere sich frühkindliches Wissen über Kausalität eher in konkreten Handlungen als in sprachlichen Erklärungen. Außerdem würde Piaget nicht hinreichend zwischen der Verfügbarkeit von basalen Kausalitätsprinzipien und dem Wissen trennen, das für kausalitätsbezogene Schlußfolgerungen erforderlich ist (vgl. Weinert, Waldmann, Wissensentwicklung 1988, 170). Aus diesem Grunde habe er übersehen, daß sich Kausalitätsprinzipien bereits sehr früh in der Kinderentwicklung nachweisen lassen. Z. B. träten folgende Prinzipien früher auf, als bei Piaget vermutet: (1) Determinismus (Ereignisse sind verursacht), (2) Priorität (Ursachen gehen den Wirkungen voraus), (3 ) Mechanismen (Ursachen wirken über eine Kette vermittelnder Glieder auf die Effekte (Bullock u. a., causal reasoning 1982,209). Die Kritik läßt allerdings die zentrale These unberührt, daß Kausalität eine entwicklungsbedingte, grundSätzlich konstruierte Kategorie ist. 169 Der Begriff "gesetzmäßig" bedeutet hier selbstverständlich keine Verknüpfung zwischen realen Sachverhalten der inneren oder äußeren Welt. Es geht bei den Kategorien des Raumes und der Zeit sowie bei generellen "Gesetzen" wie dem Kausalprinzip um Relationen, die sich auf Erfahrungen (ontogenetische Koppelungen) und nicht auf eigentliche Sachverhalte gründen. Mit anderen Worten, die Verursachungskategorie betrifft ausschließlich unser operationales Wissen von den Dingen, ist also eine Kategorie von Beziehungen zwischen Ideen bzw. begrifflichen Gegenständen. Daß der Begriff Verursa-

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Problem fertig werden, wie man kausale Invarianzen aufrechterhält, wenn sich Gegenstände stark verändern. So stellt ein verbrannter Holzscheit die Auffassung von Kontinuität auf eine harte Probe. In solchen und schwierigeren Fällen behelfen wir uns gewöhnlich mit begrifflichen Konstruktionen, die Identität retten sollen. Da sie aber notwendigerweise keinerlei kennzeichnende Merkmale aufweisen, können sie auf der sensorischen Ebene auch nicht gefunden werden. Es sind Konstrukte, über deren operationalen Charakter kein Zweifel bestehen kann. Nicht anders verhält es sich mit jener geistigen Repräsentation der Welt, die wir Zeit nennen.

(3) Zeit. Auch der Aufbau der Zeit verläuft parallel zu dem des Raumes und steht in komplementärer Beziehung zur Elaboration der Objekte und der Kausalität. Die Wahrnehmung der Veränderung der Dinge setzt ein "Vorher" und ein ,,Nachher" voraus. Aus diesem Grunde wird gefolgert, daß die Zeit vor dem Raum da sein müsse. Aber mit demselben Recht kann behauptet werden, daß die Zeit den Raum voraussetzt. Denn die Zeit ist nichts anderes als ein InBeziehung-Setzen von Ereignissen, was den Objektbegriffund die Konstituierung der räumlichen Organisation impliziert. An seinem Ursprung vermischt sich der Zeitbegriff noch mit dem Eindruck des einfachen "Dauerns" von Ereignissen, die in der Aktivität des Subjektes liegen. Da noch keine Unterscheidung zwischen der Innenwelt und der externen Realität gegeben ist, können auch die Ereignisse nicht untereinander in eine Ordnung gebracht werden und somit kein wirkliches Intervall-Maß, kein wirkliches "Vorher" und ,,Nachher" beinhalten. Noch ist die primitive Zeit keine vom Ich getrennte, sondern das Gefühl eines Andauerns, das im Verlaufe der Handlung chung ein ,,mentales Konstrukt" sei, hat eine lange geisteswissenschaftliche Tradition, die von Locke (Human Understanding 1960), Berkeley (Motus 1721), Hume (Human Nature 1740) bis Kant (Vernunft 1781, 163) reicht. Nach Kant gehört das Kausalgesetz nicht zur Welt der Erscheinungen, sondern zu der der Noumena, wobei es nur die Richtung angibt, durch die wir die Phänomene ordnen oder bezeichnen können, so daß wir sie als Erfahrungen wahrnehmen (vgl. zur Kritik an der Kausalität die umfangreichen Literaturangaben bei Bunge, Kausalität 1988, 5, 63). Die mechanistische Vorstellung von Kausalität und Determinismus ist in unserem Jahrhundert insbesondere von den Naturwissenschaften, der Physik und der Biologie demontiert worden. Man denke an Einsteins Relativitätstheorie, an die Bohrsche Atomtheorie, an die Heisenbergsche Unschärferelation und die gesamte Quanten- und Wellenmechanik. Auf den kleinsten Nenner gebracht, besagen alle diese Theorien, daß wir mit Gesetzen arbeiten müssen, die es nicht gestatten, die Vorgänge der Welt bis in die kleinsten Einzelheiten vorherzusagen (vgl. zum Kausalitätsbegriff der modemen Physik Frank, Kausalgesetz 1988, 197). Berücksichtigt man diese von den Naturwissenschaften selbst vollzogenen Erschütterungen des mechanistischen Weltbildes, so zeugt es nicht gerade von Interdisziplinarität, wenn in den Sozialwissenschaften und in der Rechtswissenschaft einem vermeintlich "seinswissenschaftlichem" Kausalprinzip ein eigener ,,normativer", auf Interaktion und Zurechnung gegründeter Ansatz entgegengehalten wird (vgl. für das Strafrecht z. B. Maurach, Zipf, Strafrecht AT 1987, 231; Wesseis, Strafrecht AT 1984, 43). Zu den Kontroversen über den Kausalitätsbegriff im Strafrecht vgl. Fincke, Arzneimittelprüjung 1977. Gegenüber der modemen ~aturwissenschaft erscheinen heute die Konstruktionen der sog. Geisteswissenschaften vielfach rückständig, ja bieder. 9 Kargl

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selbst gespürt wird. In diesem Stadium verbindet die Zeit lediglich die sukzessiven Bewegungen des senso-motorischen Schemas. Die Situation verändert sich erst in dem Maße, in dem das Kind auf die sichtbaren Dinge einzuwirken beginnt und die zwischen diesen bestehenden Beziehungen verwendet. 170 Nunmehr werden also die zeitlichen Reihen 171 auf äußere Ereignisse angewendet. Aber die Ausweitung der Zeit auf die Bewegung der Dinge unterliegt einer wesentlichen Einschränkung. Sie findet nur dann statt, wenn die Abfolge der Phänomene auf das Eingreifen des Kindes selbst zurückgeht. Wir haben diesen Entwicklungsfortschritt bereits näher bei der Beschreibung des dritten Stadiums der Objektpermanenz kennengelernt. Entscheidend war dort, daß die Objekte allmählich Gestalt annehmen, daß diese aber andererseits an die Bewegungen der Akkomodation gebunden bleiben. Ebenso ist es mit der Zeit. Das Kind nimmt die Abfolge der von ihm unabhängigen Ereignisse noch kaum wahr. Nur was es selbst reguliert, wird wahrgenommen und in eine zeitliche Reihe gestellt. 172 In einem weiteren Schritt lernt das Kind, das "Dauern" der Zeit in die Dinge zu verlegen und Intervalle abzuschätzen. Damit erwirbt das Kind die Fähigkeit, 170 Der Zusammenhang zwischen den "Dingen" und der Zeit ist unschwer zu verstehen. Wir erinnern uns, daß ,,Dinge" durch das Denken produziert werden. Die selektive Aufmerksamkeit trennt aus der gesamten sensorischen Gestalt ein "Objekt" heraus und benennt dieses mit Worten. Der Denkprozeß kann nun mit diesen "Dingen" oder "Bröckchen" selektiver Aufmerksamkeit nur auf eine ganz bestimmte Weise umgehen, nämlich indem er sie in eine lineare Ordnung, in eine Reihung bringt. Und diese Reihung ist nichts anderes als Zeit. Dazu Ken Wilber (Bewußtsein 1987, 104): ,,zeit ist nicht mehr und nicht weniger als die sukzessive Betrachtung der Welt durch das Denken. Nachdem uns aber diese lineare, sukzessive, temporale Weise, die Natur zu betrachten, in Fleisch und Blut übergegangen ist, halten wir es für selbstverständlich und offensichtlich, daß die Natur selbst diese Reihung aufweist - von der Vergangenheit zur Zukunft, von der Ursache zur Wirkung -, während sie tatsächlich einzig und allein in unserer Betrachtungsweise liegt." Wilber ist der Auffassung, daß die Natur nicht linear, nicht in der Zeit "abläuft", sondern ihr ganzes Sein zugleich besitzt, worin das Wesen der Ewigkeit bestehe. Beweist aber nicht unsere Gedächtnisfunktion die Existenz eines realen Phänomens Zeit? Diese Beweisführung hat schon Augustinus als subtile Täuschung entlarvt: "Vergangenheit und Zukunft können nur als gegenwärtig gedacht werden. ,Vergangenheit' ist mit Erinnerung gleichzusetzen und ,Zukunft' mit Erwartung; Erinnerung und Erwartung sind aber gegenwärtige Fakten" (zit. Russel, Philosophie 1951). Jeder Gedanke an morgen ist also ein gegenwärtiger Gedanke, ein Jetzt, wie Schrödinger (Geist 1959, 46) sagte: ,,Für den Geist gibt es in Wahrheit weder früher noch später, sondern nur ein Jetzt, in das die Erinnerungen und Erwartungen einbeschlossen sind". Und Alan Watts (Weisheit 1981, 79): " ... du siehst überhaupt nicht auf die wirkliche Vergangenheit. Aus Erinnerungen schließt du, daß es vergangene Vorfälle gegeben hat. Aber du gewahrst keine vergangenen Vorfälle. Du kennst die Vergangenheit nur in der Gegenwart und als Teil von dieser." 171 Piaget spricht von "praktischen Reihen" oder "praktischer Zeit", was der parallelen Konstituierung "praktischer Gruppen" im Prozeß der Verräumlichung entspricht; vgl. Wirklichkeit 1975, 314. 172 Diese von der eigenen Aktivität abhängige Zeit nennt Piaget verständlicherweise "subjektive Reihen"; vgl. ebd. 316.

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die Geschichte der externen Phänomene zu rekonstruieren. Wenn es hinter einer Scheibe versteckte Gegenstände zu suchen beginnt, dann wendet es die Begriffe des "Vorher" und "Nachher" auf die Verlagerungen des Objektes an und nicht mehr nur auf die eigenen Bewegungen. 173 Was die Kausalität betrifft, werden nunmehr die zeitlichen Reihen auf die gegenständlichen und räumlichen Verbindungen angewandt, die eine außerhalb des Kindes gelegene Ursache mit ihrer besonderen Wirkung vereinen. Aber wie wir bei der Herausbildung des Objektbegriffes gesehen haben, gelingt in diesem Stadium eine endgültige Überschreitung des Primats der eigenen Aktivität noch nicht. Mit den Verhaltensweisen des fünften Stadiums hört die Zeit auf, eine Weiterführung des in der Handlung selbst liegenden Dauerns von Ereignissen zu sein. Die Zeit wird nun zu einem allgemeinen Milieu, das systematisch die Dinge in der Umwelt sowie die eigenen Handlungen vereint. Von dem Augenblick an, wo sich die Dinge in einem permanenten Universum substantiieren und die Kausalität die externen Phänomene ordnet, konstituiert sich die Zeit als eine vom Raum und der physikalischen Permanenz getrennte, "objektive" Realität. 174 Sucht das Kind das verschwundene Objekt an der Stelle, wo es zuletzt versteckt wurde, so muß es die verschiedenen Verlagerungen des Objekts in eine zeitliche Reihenfolge bringen. Erstmals werden somit die Ereignisse der Umwelt zeitlich geordnet. Diese zeitliche Serie gelingt freilich nur unter der Voraussetzung der direkten Wahrnehmung der Ereignisse. Bleiben die Verlagerungen des Objekts unsichtbar, fallt das Kind in die Gewohnheiten früherer Phasen zurück: Es sucht das Objekt dort, wo es schon einmal gefunden wurde. Erst wenn das Kind Erinnerungen hervorrufen kann, die nicht an die direkte Wahrnehmung gebunden sind, ist der Geist zu kognitiven Repräsentationen fähig. 175 Befreit von der Aktualität gerade ablaufender Handlungen vermag die intellektuelle Operation nunmehr über die Gegenwart zugunsten der Vergangenheit und der unmittelbaren Zukunft hinauszugehen. In diesem sechsten und letzten Stadium weitet sich die Vergegenständlichung der zeitlichen Reihen zu einem kognitiven Schema aus, das die eigenen Handlungen in einen Zeithorizont einordnet, der die gesamte eigene Geschichte umspannt. Die Handlungen bilden jetzt eine Kette in einer Ordnung, die das Dauern der Ereignisse und die Erinnerungen im Sinne des Hervorrufens durch Bilder abwesender Gegenstände einschließt. 173 In diesem Stadium beginnt also das Kind - entsprechend dem Stadium ,,Anwendung bekannter Verhaltensschemata auf neue Situationen" - die Zeit zu " vergegenständlichen", d. h. die zeitlichen Reihen werden nunmehr auf die vom Ich unabhängigen Ereignisse angewandt; vgl. Piaget, ebd. 324. 174 Ein derartiges zeitliches Ordnen der Ereignisse der vergegenständlichten und verräumlichten "Realität" und nicht einfach der eigenen Handlungen nennt Piaget (ebd. 329) "objektive Reihen". 175 Das Stadium der ,,repräsentativen Reihen" setzt also eine kognitive Entwicklung voraus, in der abwesende Gegenstände durch innere Bilder hervorgerufen, ,,repräsentiert" werden können. Dieses Stadium tritt gleichzeitig mit den Fortschritten in der Sprache auf; siehe Piaget, ebd. 333.

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Man kann sagen, daß das Gedächtnis des Hervorrufens zur Entstehung der zeitlichen Repräsentation führt. Dieses Gedächtnis vennag in ihrer Eigenschaft als ,,reproduzierende Assimilation" die Vergangenheit im Geiste und nicht mehr in äußeren Stützen zu rekonstruieren. An diesem Punkt angelangt, ist die Evolution der operativen Kategorien des Objektes, des Raumes, der Kausalität und der Zeit weitgehend abgeschlossen. Erklärt wird die Herausbildung jener Grundbegriffe durch den Prozeß der 10Beziehung-Setzung zwischen einem immer mehr außerhalb des Ichs gelegenen Universum und einer intellektuellen Aktivität zunehmender Verinnerlichung. Das Gesetz dieser Evolution besteht in der Transfonnation des ursprünglichen Egozentrismus in eine Objektivität, deren Ursprung im Subjekt nicht mehr erkennbar ist. 176

Die "Objektivität" der Zeit ergibt sich wie die der anderen Kategorien aus ihrer Funktion, den Strom der Ereignisse zu interpunktieren, eine gegliederte Abfolge der Wahrnehmung und der Erinnerung zu ennöglichen. Der Zeitbegriff erschafft einen mentalen Kosmos, in dem Abfolge und Wandel als Kontinuität der Dinge und Ereignisse erlebt werden können. Auf diese Weise werden die vergegenständlichten Objekte nicht nur in einen Raum externalisiert, sondern auch in eine temporale Dimension versetzt, die deren Überdauern im Erfahrungsstrom sichert. 177 Um den Begriff der Zeit zu konstruieren, benötigen wir allerdings 176 Der Dezentrierungs- oder Reflexions-Vorgang läßt sich somit als eine kognitive Evolution beschreiben, auf der ein und derselbe Typus von Mechanismen die weitere Entwicklung veranlaßt. Auf jeder Stufe werden die Formen des Verhaltens durch Reflexion bewußt, und die bewußt gewordenen Formen bilden den Inhalt der nächsten Stufe. Jedesmal werden die Inhalte komplexer, weil die Formen der Handlungsvollzüge aus der vorhergehenden Stufe die bisherigen Inhaltsstrukturen überlagern und erweitern. Die Überlagerung bewirkt zweierlei: erstens eine vollständige Dezentrierung der für die betreffende Stufe charakteristischen "Unmittelbarkeit" der Inhalte; und zweitens eine TransforTrUltion der Inhalte des Bewußtseins. Diese beiden Fortschritte bilden nach Piaget (Biologie 1974,335) die "funktionellen Invarianten", die sich von Stufe zu Stufe gleichbleiben. 177 Das ist die Antwort auf das Warum des Zeitbegriffes. Er koordiniert Handlungen, indem er Ereignisse in eine chronologische Reihung bringt. Dabei spielen natürlich Vorstellungen und Sprache eine entscheidende Rolle: "Sprache kann zeitliche Aufeinanderfolge der Reihen von Geschehnissen symbolisch darstellen und über die unmittelbare Gegenwart hinaus projizieren" (Wilber, Evolution 1984, 113). Die temporale Darstellung beflihigt also zu langfristigen Planungen. Sie stellt Beziehungen zwischen verschieden schnellen Ereignisfolgen her und enthüllt damit ihren abstrakten, an Ereignisse und Raum gebundenen Charakter. Sowohl Raum wie Zeit sind - wie Piaget sagt - eine mit der Erfahrung engstens verbundene "Logik". Sie sind gleich allen anderen kognitiven Begriffen zunächst ein System konkreter 0p'erationen, bevor sie nach und nach als geistige Begriffe internalisiert, abstrahiert und formalisiert werden. Als übergeordnete abstrakte Kategorien vermögen sie nun die einzelnen, viel konkreteren "Störungen" (Ereignisse) zu transzendieren, indem sie nun im Geist beliebig nach vor- und rückwärts durchlaufen werden können: ,,Das Geistige verstehen, heißt also durch geistige Beweglichkeit das Räumliche überwinden. Das bedeutet vor allem Urnkehrbarkeit (Reversibilität). Der Zeit nur nach dem unmittelbaren Lauf der Ereignisse folgen, heißt nicht sie verstehen, sondern sie erleben, ohne ihrer bewußt zu werden. Sie kennen heißt dagegen,

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pennanente Objekte, auf die wir die Abfolge von Erfahrungselementen projizieren können. Das kontinuierlichste aller kontinuierlichen Elemente ist die Konstruktion des Ich. Auf diese Abstraktion, auf diesen elementarsten ,,Auszug der Invarianz" läßt sich jede temporale Sequenz abbilden. ee) Epistemologische Zusammenfassung Im vorigen Abschnitt haben wir dieses kontinuierliche Ich als ein rein begriffliches Konstrukt gekennzeichnet. Es entsteht in der Sprache und ist die konstruktive Leistung eines zu rekursiven Operationen, und dies heißt, zu Selbstbeschreibungen fähigen Organismus. Auch das Wissen von der Welt ist das Ergebnis derselben kognitiven Tätigkeit. Bei Piaget kommt diese radikal konstruktivistische Interpretation der genetischen Epistemologie nicht immer hinreichend deutlich zum Ausdruck. Dennoch lassen sich seine Aussagen nur dann zu einer kohärenten Erkenntnistheorie bündeln, wenn sie von einer konstruktivistischen Grundposition her begriffen werden. Fassen wir zu diesem Zweck die Angaben, die Piaget über die ontogenetische Entwicklung der Bewußtwerdung sowie der Grundbegriffe "Objekt", "Raum" und ,,zeit" gemacht hat, zusammen. Es handelt sich bei diesen nicht so sehr um eine abgerundete Theorie - anders als seine Ausführungen zur reflektierenden Abstraktion 178 - , sondern um eine Reihe nicht immer verbundener Thesen:

(1) Es sind Hindernisse, die einen Bewußtwerdungsprozeß in Gang setzen. Dagegen bietet ein reibungsloser Aktionszyklus keinen Anlaß zu einer Bewußtwerdung. 179 in ihr voraus- und zurückschreiten und dabei ständig über den wirklichen Verlauf der Geschehnisse hinausgehen" (Piaget, Inhelder, Kind 1987, 109). Den wirklichen Verlauf der Geschehnisse können wir freilich nicht erkennen. Wir können aber unsere ,,Konstrukte" reflexiv und das heißt reversibel halten. Das befähigt zu lernen und zu korrigieren. Diesen instrumentellen, mit historischen Lernprozessen verknüpfte~ Charakter der ,,zeit" hat Norbert Elias mit einer Fülle von Beispielen aus Gesellschaften verschiedener Entwicklungsstufen herausgearbeitet. Auch Elias beklagt den substantivistischen Sprachgebrauch, der vergessen läßt, daß sich ,,zeit" als ein symbolischer Repräsentant einer Tätigkeit, der sozialen Tätigkeit des Zeitbestimmens, erwiesen hat. Daß dem modernen Menschen die Bezüge seiner Symbole zur eigenen Tätigkeit verloren gegangen scheinen, verdeutlicht Elias mit der Parabel eines Turms, in welchem aufeinanderfolgende Generationen von Menschen immer höher steigen, während die Treppen in den unteren Stockwerken allmählich zerfallen. Schließlich wissen sie gar nicht mehr, wie sie ins hundertste Stockwerk gelangt sind, und halten die von dort sich bietende Perspektive der Welt für die einzig ,,richtige", für "allgemein menschliche Vorstellungen" (Elias, Zeit 1988, 115). Die ,,zeit" bietet ein gutes Beispiel für die Folgen des Vergessens der phylogenetischen wie der ontogenetischen Vergangenheit. Sie dient nunmehr weniger der Orientierung des Menschen, sondern eher der Unterwerfung des Menschen unter den Takt der Maschine. Vgl. zur erforderlichen Revision des Zeitbewußtseins Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988,287. 178 Piaget, Biologie 1974, 325. Vgl. dazu auch die Darstellung der ,,reflektierenden Abstraktion" bei Kesselring, Entwicklung 1981, 143. Die folgende Übersicht stützt sich zum Teil ebenfalls auf eine Synopse bei Kesselring, ebd. 132.

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(2) Die Bewußtwerdung der Operationsschemata ist ein gerichteter Prozeß, der zuerst das Handlungsziel bzw. die ,,Peripherie" erfaßt und danach in Richtung auf die Koordination der Handlungen (,,zentrum") fortschreitet. Das Subjekt als Handlungszentrum wird dabei nie völlig erreicht. 180 Ein striktes Selbstbewußtsein gibt es nicht. 181 (3) Ein Individuum wird sich seiner und der Objekte nur über die Aktualisierung seiner Handlungs-Schemata bewußt. Also bezieht sich die Bewußtwerdung weder direkt auf das Subjekt noch auf die Objekte, sondern auf seine Tätigkeit. 182 (4) Die Tätigkeit steht im Zusammenhang mit den Objekten, mit denen sich das Subjekt auseinandersetzt. Demnach erfaßt die Bewußtwerdung nicht ein abstraktes Ich, sondern den Standort, welchen das Subjekt innerhalb seiner Umgebung einnimmt. 183 179 Hierzu gibt es zahlreiche Äußerungen bei Piaget; z. B.: ,,Eine wohl angepaßte Handlung bedarf nur deshalb nicht der Bewußtwerdung, weil sie dur.ch zureichende senso-motorische Regulierungen geleitet wird, die deshalb zu Automatismen werden. Wird jedoch eine aktive Regulierung notwendig, was absichtsvolle Entscheidungen zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten voraussetzt, so kommt es aufgrund eben dieses Bedürfnisses zur Bewußtwerdung" (Affektives Unbewußtes 1976,39). "Die Gewohnheit muß zuerst auf ein Hindernis stoßen, damit der hierbei entstehende Konflikt ein aktives Aufsuchen des gewohnten Verhaltens bewirkt" (Moralisches Urteil 1973, 93). "Das Ichbewußtsein ist nicht angeboren, sondern zeichnet sich nach und nach und in Abhängigkeit von den Widerständen durch das Verhalten anderer ab" (Weltbild 1980, 198). "Das Bewußtsein vom ,Ich' ist von den Widerständen der Objekte und der anderen Personen abhängig" (Nachahmung 1975,256). - Auch auf dem Gebiet des moralischen Urteils ist dieses Gesetz der Bewußtwerdung von Bedeutung: "Sehr häufig ist es das erlittene Unrecht, welches die Gesetze der Gleichheit zum Bewußtsein bringt" (Moralisches Urteil 1973, 311). 180 "Die Bewußtwerdung geht vom sichtbaren oder oberflächlichen Resultat der Aktionen aus und bezieht sich erst später auf deren inneren Mechanismus, den sie niemals ganz erfaßt" (Piaget, Weisheit 1974). "Die Bewußtwerdung rückt von der Peripherie zum Zentrum vor und nicht in umgekehrter Richtung" (Erkennen 1973). 181 Die Thesen 1 und 2 wurden von ClaparMe formuliert und bilden zusammen das "Gesetz der Bewußtwerdung". Piaget hat sie im Anschluß an jüngere Untersuchungen mittels der weiteren Thesen präzisiert; siehe Piaget, Planchet, Conscience 1974. 182 Hinsichtlich der Bewußtwerdung der Objekte auf dem Wege einer Bewußtwerdung der auf sie gerichteten Handlungen: ,,Einerseits gelangt das Subjekt zu einer klaren Erkenntnis seiner eigenen Aktionen nur über ihre Ergebnisse an den Objekten; andererseits kann es aber diese Objekte nur durch mit den Koordinationen dieser selben Aktionen verbundene Folgerungen begreifen" (ÄQUilibration 1976,58). In Bezug auf die Bewußtwerdung seiner selbst als des Zentrums der Regulationen von Handlungen behauptet Piaget nur so viel, daß "die aktiven Regulierungen" eine Bewußtwerdung "auslösen und folglich die Ursache für eine Vorstellung oder Verbegrifflichung der materiellen Aktionen sind. Solche Regulierungen werden einer Lenkung höherer Instanz untergeordnet, was einen Ansatz zu einer Regulierung im zweiten Grad darstellt" (ebd. 28). Dieses Regulationszentrum ("lch") ist also konstitutiv für den Bewußtwerdungsvorgang, wird aber von diesem niemals selbst erfaßt; vgl. hierzu auch Luhmann (Bewußtsein 1987,71), der von ,,notwendiger Intransparenz" spricht. Zur Selbstreflexion und deren Einsatz beim Problemlösen vgl. Putz-Osterloh, Wissen 1988, 251. 183 ,,Egozentrismus bedeutet gleichzeitig Fehlen von Objektivität, während die Besitzergreifung des Objektes als solches Hand in Hand geht mit dem Sich-seiner-selbstbewußt-Werden" (Piaget, Biologie 1974, 12).

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(5) Die Bewußtwerdung bringt eine Transformation der Inhalte, die bewußt werden, mit sich. Beispielsweise werden motorische Handlungen in der Vorstellung rekonstruiert und auf einer neuen Stufe "objektiviert" (Dezentrierung). Objekte, Raum und Zeit lösen sich von der eigenen Handlung und gewinnen im Denken eine vom Ich gesonderte Existenz. 184 (6) Einem Bewußtwerdungsvorgang kann ein "Hemmungsmechanismus" entgegenstehen, der der affektiven "Verdrängung" im Freudschen Sinn analog ist. 185 Dabei ist zu vermuten, daß die bewußten Vorstellungen gegenüber den Schemata, die unterdrückt werden, einen höheren Rang einnehmen, vergleichbar dem höheren Rang des Über-Ich. (7) Die Existenz solcher Verdrängungen im kognitiven Bereich kann als Indiz dafür gewertet werden, daß bestimmte Verhaltensstrukturen von einer unbewußten Ebene auf eine höhere Ebene gebracht werden. Beide Stufen können wegen der Schwierigkeiten beim Übergang nicht identisch sein. Auf der höheren Ebene werden die hemmenden Widersprüche durch den Aufbau ,,neuer begrifflicher Systeme" beseitigt. 186 184 An diesem Punkt streift Piaget die Theorie selbstreferentieller Systeme, die als geschlossene Systeme definiert sind und deren Operationen ausschließlich mit Innenbeleuchtung stattfinden - freilich in einer Umwelt, die Beschränkungen auferlegt. Z. B.: Die Bewußtwerdung ist nicht "eine Art Belichtung von bis dahin im Verborgenen gebliebenen Sachverhalten" (Affektives Unbewußtes 1976,38). ,,Mit der Bewußtwerdung wird vielmehr auf höherer Ebene das rekonstruiert, was in anderer Gestalt auf der unteren Ebene bereits vorhanden ist" (ebd. 39). Diese ,,mit der Bewußtwerdung einhergehende Rekonstruktion" besteht "in einer begrifflichen Umsetzung" (ebd. 39). "Deshalb ist die Bewußtwerdung immer auch eine ..Reorganisation und nicht nur eine Übersetzung oder Vorstellung" (ebd. 41; vgl. auch Aquilibration 1976, 58). 185 So können Handlungsschemata so lange unbewußt bleiben oder in einer inadäquaten Form bewußt gemacht werden, wie sie zu bereits vorliegenden vorstellungsmäßigen oder begrifflichen Schemata im Widerspruch stehen (Beispiele bei Piaget, Affektives Unbewußtes 1976,35; Äquilibration 1976,50; Impetus-Begriff 1978,68,71). Piaget hat desweiteren nachgewiesen, daß das Kind im Gedächtnis behält, "was es begriffen hat, und nicht ... , was es gesehen hat". Daraus kann man schließen, "daß das Gedächtnis jenes Schema überwiegen läßt, das der Stufe des Kindes zugeordnet ist: Die BildErinnerung stützt sich dann auf dieses Schema und nicht auf das Wahrnehmungsmodell" (Piaget, Inhelder, Kind 1987, 87). Von kognitiver Verdrängung kann auch dann gesprochen werden, wenn ein Kind seinen früheren Erkenntnisstand vergißt. Diese häufige Beobachtung dürfte damit zusammenhängen, daß dem erkennenden Subjekt "die zugrundeliegenden Mechanismen, die sein Denken verändert haben", unbewußt bleiben (Affektives Unbewußtsein 1976, 34) und die kognitiven Schemata, die das Ergebnis solcher Veränderungen sind, nicht mehr mit den entsprechenden Vorgängerschemata in Verbindung gebracht werden können. 186 Interessanterweise sieht Piaget hierin eine Parallele zur Katharsis in der Psychoanalyse: Auch sie scheint "etwas völlig anderes als eine einfache Aufhellung zu sein, da anderenfalls ihre therapeutische Wirkung unverständlich wäre" - sie ist "eine auf einer Reorganisation beruhende Verarbeitung und Aufhebung der Konflikte" (Affektives Unbewußtes 1976,40). Das schließt an unsere überlegungen zum Homöostasebegriff an: Das psychische wie auch das familiäre System sind keine statischen Systeme, die in ein ursprüngliches Gleichgewicht gebracht werden müßten. Es handelt sich bei ihnen vielmehr um dynamische Systeme mit dissipativen Strukturen: Diese reorganisieren ihre

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Ausgangspunkt jeder konstruktivistischen Sicht ist die Erkenntnis, daß kein Organismus kognitiven Zugang zu Strukturen hat, die nicht selbst von ihm gemacht sind. In keinem Sinne darf daher das, was wir ,,Realität" nennen, als Widerspiegelung "objektiver" Strukturen angesehen werden. Die Vorstellung, die ein Organismus sich von Raum und Zeit, von Ursache und Wirkung macht, ist das Resultat einer kognitiven Operation. Das Rohmaterial dieser Konstruktionen sind Erfahrungspartikel, die keinerlei spezifische Verursachungen auf Seiten einer bereits strukturierten ,,Realität" voraussetzen. Dieses Außen entspringt allein der Externalisierung der Konstrukte des Organismus. Auch wenn wir infolge lebensgeschichtlicher struktureller Koppelungen zu parallelen Konstrukten gelangen und über die Sprache eine konsensuelle Welt aufbauen, die Überleben und Weiterhandeln ermöglicht, dürfen wir nicht - zumindest nicht beim Nachdenken über das Wie des Erkenntnisvorgangs - außer acht lassen, daß diese Realität gänzlich unser eigenes Konstrukt ist. Es handelt sich bei der wahrgenommenen Realität bestenfalls um eine tragfähige Konstruktion, über die wir intersubjektive Übereinkunft erzielt haben. 187 Dadurch wird sie freilich nicht ,,realer" im Sinne von "ontologisch", denn auch eine derartige Konstruktion ist ausschließlich auf Signale gegründet, die im Subjekt auftreten und vom Subjekt in besonderer Weise kategorisiert, verarbeitet und koordiniert werden. Führt dieser Standpunkt notwendigerweise zum Solipsismus, d. h. zu dem Glauben, daß es keine vom Subjekt unabhängige Welt geben kann? 188 In der Tat strukturellen Koppelungen nach jeder Erfahrung ("Störung", ,,Intervention", "Therapie" etc.) auf einem neuen, veränderten Niveau. So ist z. B. das Verständnis von Wandel und Veränderung moderner Therapeuten an die Auffassung gebunden, daß sich Familien oder einzelne Mitglieder mit ,,Karten" oder "Skripts" darüber einigen, was sich gerade abspielt, und daß die Therapeuten versuchen sollten, diese "Karten" in Frage zu stellen. Tatsächlich lassen sich die ,,Prämisse" oder der "Mythos" solcher ,,Karten" verändern, was sogleich weite Bereiche des familiären Verhaltens beeinflußt; vgl. zur therapeutischen Methode der "Veränderung zweiter Ordnung" Watzlawick, Weakland, Fisch (Lösungen 1974) und zur ,,Änderung der Prämissen" Boscolo (Familientherapie 1988). 187 Von den übergreifenden Koppelurigen ist deshalb auch die Ich-Identität nicht ausgenommen (vgl. zur gesellschaftlichen Synthesis der Identität und zur Formkritik der Identitätskategorie Bolay, Trieb, Subjektivität 1988; Geulen, Subjekt 1989; Taylor, Freiheit 1988; zur kollektiven Identität vgl. Erikson, Kindheit 1971; ders. Identität 1975; ders. Identität 1977; ders. Lebenszyklus 1988; zu ethnologischen Studien über Identität vgl. Parin u. a., Subjekt 1983; Die Weißen 1985). Allerdings ist die Vorstellung vom Subjekt als bloßem ,,Anhängsel" der Wunschmaschinen, als ,,Rest" des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, oder gar als "abgeleitetem Trugbild" solange inakzeptabel, als nicht zugleich die im lebenden Organismus vorhandenen Potenzen zum Lernen, zur Veränderung und damit zur Verantwortlichkeit benannt werd~n (vgl. zu solcher objektivistischen Fassung der Subjektivität Deleuze, Guattari, Anti-Odipus 1977, 52). 188 Der Solipsismus zählt zu den philosophischen Problemen, die sich aus der Sprachabhängigkeit von Vernunft ergeben. Aristoteles meinte mit logos Sprache und Vernunft und stellte damit der Nachwelt das Problem, ob wir Vernunft unabhängig von Sprache explizieren können. Die neuzeitliche Philosophie seit Descartes legte größten Nachdruck darauf, die Vernunft von den Fesseln der Tradition und der Vorurteile zu befreien. Aus diesem Grunde konnte nicht die Sprache, die Konventionen transportiert, den ,,Leitfaden" (Kant) für die Darstellung der reinen Vernunft abgeben. Erst die romantische Aufklä-

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liegt diese Erkenntnis unvermeidlich in der Logik der konstruktivistischen Argumente. Aber unser Verständnis von einer kognitiven Welt ist weit entfernt von jener Welt der Ideen, in die Platon die wirkliche Wirklichkeit versetzte. Der entscheidende Unterschied wird durch den Stellenwert, den der Konstruktivist den Sinneserfahrungen beimißt, markiert. Für Platon war das Erleben eine sekundäre Angelegenheit; er bewertete sie als unzuverlässig und letztlich als für die Suche nach der Wahrheit irrelevant. Ein derartiger Solipsismus wird widersinnig, wenn unsere Vorstellungen an der Erfahrung scheitern. Der Konstruktivist hebt sich gegenüber dieser absoluten Spielart des Solipsismus durch den Begriff der "Anpassung" oder der "strukturellen Koppelung" ab. Zu dem Begriff der "Anpassung" gehört eine völlig neue Definition des Verhältnisses von Wissen und Wirklichkeit. 189 Wissen erzeugt der lebende Organismus rungskritik des späten 18. Jahrhunderts führte die Sprachlichkeit der Vernunft gegen Kant und die reine Bewußtseinsphilosophie wieder ins Feld. Damit begründete sie eine sprachphilosophische Tradition, die später als Hermeneutik von Schleiennacher, Dilthey, Heidegger und Gadamer erörtert wurde. Auch Wittgensteins Wendung zur Sprache (linguistic turn) und die Analytische Philosophie (vgl. Bibliographie bei Meggle, Einleitung 1985, XID) haben dazu beigetragen, daß zunehmend alle Wirklichkeit von Vernunft an sprachliche Verstehensleistungen geknüpft wurde (vgl. Gadamer, Wahrheit 1960). Diese Entwicklung führte zu einer Verschärfung des Relativismusproblems, wonach jede Sprache eine eigene "Weltansicht" (Humboldt) beinhaltet (zum sprachlichen Relativitätsprinzip vgl. Whorf, Sprache 1984). Wenn aus dieser Sicht Vernunft nicht sprachunabhängig zu explizieren ist, sondern in Wahrheit ein "Pluralismus natürlich-sprachlicher Weltanschauungen" (Schnädelbach, Vernunft 1986, 108) ist, dann ist es nur ein Schritt, über die relativen Intersubjektivitäten der Weltbilder hinauszugehen und die Vereinzelung in einem individuellen Bewußtsein ohne jegliche Garantie einer vernünftigen Intersubjektivität zu behaupten. Dies ist die Position des Solipsismus (von lat. solum ipse - allein selbst), wie sie von dem Philosophen C. E. Joad vertreten wird: " ... da all unser Wissen sich auf unsere eigenen geistigen Zustände bezieht, können wir von nichts anderem als unseren eigenen geistigen Zuständen wissen, daß es existiert. Und es gibt keinen Grund, die Existenz von etwas zu behaupten, von dem man nichts wissen kann. Ob außer diesen Bewußtseinszuständen noch etwas existiert, kann ich nicht sagen, denn da ich ... nach außen hin eingesperrt bin in den Kerker meiner eigenen Erfahrung, kann ich diese Mauern nicht durchdringen" (zit. in Segal, Erfindung 1988, 209). Zum Solipsismus-Verdacht vgl. Krüger, Selbst 1990, 139. 189 Das Argument der "Anpassung" führt v. Glasersfeld gegen den Solipsismus ins Feld: "Der Organismus paßt sich an bestimmte Regularitäten der Input-Output-Beziehung an, die er registriert, und zwar mit Bezug auf den schwarzen Kasten, den er als seine ,Umwelt' oder ,Welt' erfährt, und eben diese Art von Anpassung entscheidet letzten Endes über die pragmatische ViabiIität seiner Konstrukte . . . Die Strukturen, die er ,Dinge', ,Ereignisse', ,Zustände' und ,Prozesse' nennt, sind das Ergebnis der besonderen Art, in der er selbst die ,Partikel der Erfahrung' koordiniert hat ..." (Piaget 1987, 112). "Daß dieses Erleben dann zusammenstimmt, das kommt natürlich aus der Wirklichkeit" (Glasersfeld, Richards, Wahrnehmung 1984, 7). Also ist unter "Wirklichkeit" jenes Gesamt an Bedingungen, jenes Medium zu verstehen, das die Menschen als Begrenzung erfahren. Aber diese Bedingungen können eben nicht unmittelbar aufgrund der genannten Wahrnehmungsbedingungen lebender Systeme, sondern nur im kognitiven Bereich erfahren werden als "Störungen", als ,,Rauschen" oder ,,Perturbationen", die das Medium dem Verhalten setzt. Der Radikale Konstruktivismus vertritt demnach - wenn überhaupt - einen epistemologischen Solipsismus (im Gegensatz zum ontologischen Solipsismus oder objektivem Idealismus): ,,Realität" ist beobachterabhängig. Aber Maturana betont

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auf der Suche nach passenden Verhaltensweisen und Denkarten. Wissen überführt also den formlosen Huß des Erlebens in wiederholbare Erlebnisse und ordnet diese zu verläßlichen Beziehungen. Diese in kognitiven Strukturen repräsentierten Überlebensstrategien sind nicht zu verwechseln mit jenem Reich der Ideen, das sich der Wahrheit verpflichtet weiß und doch nur aus der Enttäuschung über eine unzuverlässige Welt geboren ist. Der Konstruktivist bleibt sich dagegen ständig der Tatsache bewußt, daß jegliche Struktur ein Produkt des Organismus selbst ist. Wenn er diese Strukturen externalisiert, dann weiß er nur, daß die Welt Bedingungen bereitstellt, die seine ,,Rezeptoren" aktivieren. Ist der Organismus in der Lage, seine Reaktionen zu koordinieren und die dann koordinierten Strukturen auf relative Dauer zu stellen, dann mag man diese relative Permanenz etwa von Objekten ,,Realität" nennen. In einem strengen Sinne schimmert eine Ahnung von der "wirklichen" Realität erst dort auf, wo unsere Konstruktionen scheitern. Aber auch das Scheitern kann uns niemals ein ikonisches Bild der Welt vermitteln, da es nur in jenen Begriffen beschrieben werden kann, die zum Aufbau der scheiternden Strukturen verwendet wurden. Wenn uns auch das Scheitern kognitiver Strukturen nicht an die wirkliche nachdrücklich, daß auch der Beobachter nicht allein ist, " ... da seine Existenz notwendig zumindest ein weiteres Wesen voraussetzt, das eine notwendige Bedingung für die Herstellung des konsensuellen Bereiches ist, in dem er als Beobachter existiert" (Sprache 1985,269). Damit erweist sich der Solipsismus aus kognitionsbiologischer Sicht als ein Scheinproblem. Dennoch ist das Extrem der absoluten kognitiven Einsamkeit weder mit logischen noch mit empirischen Argumenten zu widerlegen. Es gibt keine andere Möglichkeit, als sich zu entscheiden zwischen einem egozentrischen oder einem dezentrischen Ansatz, zwischen Monolog oder Dialog. Folgende von Foerster angestellte Überlegung könnte das Problem aufzulösen helfen: ,,Als Solipsist behaupte ich, daß ich die einzige Realität bin, alles andere existiert nur in meiner Vorstellung. Ich kann aber nicht leugnen, daß auch andere Leute meine Vorstellungswelt bevölkern. Da sie mir ähnlich sind, muß ich auch diesen Geistergestalten das Recht zugestehen, sich ebenfalls zu Solipsisten zu erklären; d. h. zu behaupten, sie seien die einzige Realität und alles andere sei das Produkt ihrer Phantasie. Sie können jedoch ihrerseits nicht leugnen, daß auch ihre Vorstellungswelt von solchen Gestalten bevölkert ist und eine davon könnte ich sein" (Wirklichkeit 1981, 58). Foerster löst den Widerspruch (jeder erklärt sich zur einzigen Realität), indem er sich für das Relativitätsprinzip entscheidet, das einen Rahmen konstruiert, der auf jeden einzelnen wie auch auf alle zusammen zutrifft. Foerster erläutert an einem Beispiel aus der Kosmologie: "Und jetzt kommt der wichtigste Schritt der Externalisierung. Bei dem kosmologischen Beispiel etwa fordert die heliozentrische Einstellung, daß die Sonne das Zentrum des Sonnensystems ist und daß die Planeten Erde und Mars sich beide um sie drehen. Plötzlich wird ein äußerer Bezugsrahmen geschaffen, der die beiden Planeten enthält, nämlich die Bezugnahme zur Sonne. Wenden wir uns wieder dem Problem des Solipsismus zu: Wenn ich die Ähnlichkeit, ja die Identität zwischen mir und dem anderen erkenne, und wenn ich mich dafür entscheide, das Relativitätsprinzip anzuwenden, dann postuliere ich damit einen äußeren Bezugsrahmen: unsere gemeinsame Umwelt. Der Hauptunterschied ist, daß hier die gängige Interpretation von Erfahrung völlig auf den Kopf gestellt wird. Es ist nicht so, daß meine Erfahrung eine Folge von etwas außerhalb - der Welt - ist; vielmehr wird postuliert, daß die Welt eine Folge meiner Erfahrung ist" (zit. Segal, Erfindung 1988, 212). Und Maturana, Varela (Erkenntnis 1987, 149): "Die Lösung ... besteht darin, daß wir vom Denken in Gegensätzen Abstand nehmen und die Art der Fragestellung ändern, damit diese einen größeren Zusammenhang erfaßt."

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Wirklichkeit heranführt, so sollte es uns doch veranlassen, neue Schemata zu erproben und die unbrauchbaren fallenzulassen. An diesem Punkt gabeln sich die ethischen Pfade von Konstruktivisten und Ontologisten: Während Begriffe mit ontologischer Schwerkraft in aller Regel ihre Nützlichkeit bei weitem überleben, weil ihre instrumentelle Herkunft geleugnet wird, sind konstruktivistische Begriffe stets vorläufiger, hypothetischer Art. Sie schaffen nur solange eine unter unzähligen möglichen Welten, als sich in ihr verläßlich leben läßt. ff) Überleitung Wir haben uns in den letzten Abschnitten vorwiegend mit den geistigen Aspekten der Psyche befaßt. Dies war unter der Überschrift "Bewußtsein" auch sachgerecht. Bewußtsein betont das Wissen um etwas, ist eine kognitive Präsenz von etwas. 190 Wir sagten, daß sich der Mensch orientiert, indem er Repräsentationen seiner Interaktionen mit der Umwelt anfertigt. In dieser vorwiegend intellektuellen Funktion erschöpft sich allerdings keineswegs das Ganze des Seelenlebens. Der andere Aspekt der Psyche besteht in seiner affektiven Funktion. Erst beide Funktionen zusammen machen die ganze Breite der psychischen Erscheinungen aus. 191 Piaget hat in seinem außerordentlich weit angelegten Werk erstaunlich wenig zur Synthese dieser komplementären Seiten der Psyche beigetragen. 192 Ein bedeutsamer Ansatz der Integration des Emotionalen in die genetische Epistemologie fmdet sich erst 1966 im Abriß "Die Psychologie des Kindes". 193 Dort steht unter ausdrücklichem Hinweis auf psychoanalytische Erkenntnisse im Schlußwort: "Wir haben wiederholt gesehen, die Affektivität ist die Energetik der Verhaltensweisen, deren kognitiver Aspekt sich nur auf die Strukturen bezieht. Es gibt deshalb kein Verhalten, so intellektuell es auch sein mag, das nicht als Triebfeder affektive Faktoren enthalten würde; doch umgekehrt kann es auch keine affektiven Zustände geben, ohne daß Wahrnehmungen und Anschauungen mitwirken, die ihre kognitive Struktur ausmachen. Das Verhalten ist folglich eins, auch wenn seine Strukturen nicht seine Energetik erklären und umgekehrt die Energetik die Strukturen unberücksichtigt läßt: Der affektive 190 Vg1. zum Bewußtseinsbegriff in Philosophie, Psychoanalyse und Psychologie Pongratz, Psychologie 1971, 266; Halfmann, Bewußtsein 1987, 150; Schmieder, Bewußtseinstheorien 1987, 157; Klix, Gedächtnis 1988, 19; Aebli, Denken 1988,227; Dömer, Wissen 1988,264; Oerter, Wissen 1988,333. 191 Einen Überblick über die noch nicht allzu zahlreichen Arbeiten zur Integration von Intellekt und Affekt gibt der Sammelband von Mandl, Huber, Emotion 1983; weitere integrative Gesichtspunkte bei Schmidt-Denter, Entwicklung 1988, 211. 192 Obwohl er sich in jungen Jahren so intensiv für die Psychoanalyse interessierte, daß er selber eine Lehranalyse durchmachte, selbst einige Fälle analytisch behandelte und aktiv an mehreren psychoanalytischen Kongressen teilnahm. Es gibt allerdings eine Schrift von 1923 über das symbolische Denken des Kindes (dt. Sprechen 1972), in der die affektiven Faktoren stärker als in seinen späteren Publikationen berücksichtigt sind; vg1. zu Piagets psychoanalytischem Hintergrund Schneider, Piaget 1981. 193 Piaget, Inhelder, Kind 1987, 156.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

und der kognitive Aspekt sind weder voneinander zu trennen noch aufeinander zurückzuführen." Ganz auf der Linie solcher Erkenntnisse hat Luc Ciompi in seinen Überlegungen über die "Affektlogik" Fühlen und Denken als eine umfassende Einheit mit ähnlicher Grundstruktur und gleichartiger Genese konzipiert. 194 Ciompi geht davon aus, daß es in unserem Erleben keine scharfe Trennung zwischen mehr ,,körperlichen" und mehr "geistigen" Aspekten der Psyche gibt. Infolgedessen postuliert der Terminus "Affektlogik" eine strukturelle Einheit oder Einheitlichkeit des Psychischen überhaupt. Zu dieser Erkenntnis gelangte er über die systematische Rekonstruktion zweier Disziplinen, die jeweils einen der beiden Aspekte der Psyche am fundiertesten vorangetrieben haben: über die psychoanalytische Affektlehre und die kognitive Psychologie von Piaget. Ciompi führt dabei zusammen, was Freud und auch Piaget ursprünglich durchaus als das Ganze der psychischen Erscheinungen anvisiert hatten. So stellte Freud bereits in der "Traumdeutung" von 1900 grundlegende Überlegungen zur Entstehung des Denkens aus ersatzweisen "Halluzinationen" bei Ausbleiben einer direkten Triebbefriedigung an. 195 In der Folge stand aber über einen langen Zeitraum hinweg das Triebleben ganz im Vordergrund der psychoanalytischen Interessen. Erst mit der Lehre vom Ich und Es (1923) 196 und der späteren ,Jchpsychologie" wandte sich das Interesse wieder vermehrt den Zusammenhängen zwischen affektiven und kognitiven Funktionen zu. Relativ früh versuchten bereits einige wenige psychoanalytische Autoren explizit, eine Brücke zu Piagets "genetischer Epistemologie" zu schlagen. 197 Meines Erachtens gelang es aber erst Ciompi, eine überzeugende Synthese zu entwickeln. Bevor iffi folgenden die von Ciompi großangelegte Zusammenschau von Affekt und Intellekt referiert wird, fasse ich in dem Abschnitt über das ,,Fühlen" kurz die wichtigsten Elemente der psychoanalytischen Trieblehre zusammen. 194 Siehe Ciompi, Psychoanalyse 1981, 66; ders. Über Affektlogik 1982, 226; ders. Affektlogik 1982; ders. Schizophrenie 1985,59; ders. Affektlogik 1986; ders. AußenweltInnenwelt 1988; Parallelen zur ,,Affektlogik" fmden sich in der ,,Kognitiven Psychothera-

pie" von Beck (1979) und in der ,,Rational-emotiven Therapie" von Ellis (1982). 195 Freud (Traumdeutung 1972,540): ,,All die komplizierte Denktätigkeit aber, welche sich vom Erinnerungsbild bis zur Herstellung der Wahrnehmungsidentität durch die Außenwelt fortspinnt, stellt doch nur einen durch die Erfahrung notwendig gewordenen Umweg zur Wunscherfüllung dar. Das Denken ist doch nichts anderes als der Ersatz des halluzinatorischen Wunsches, und wenn der Traum eine Wunscherfüllung ist, so wird das eben selbstverständlich, da nichts anderes als ein Wunsch unseren seelischen Apparat zur Arbeit anzutreiben vermag". Und noch früher im ,,Entwurf einer Psychologie" aus dem Jahre 1895 differenziert Freud bereits zwischen triebhaft-affektgesteuerten ,,Primärvorgängen" und durch Vernunft und Realität strukturierten "Sekundärvorgängen" (vgl. Entwurf 1975). 196 Freud, Das Ich 1972. 197 Vgl. Rapaport, Theory ofthinking 1950, 161; Haynal, Freud 1975, 242; Jakobson, Das Selbst 1973; Hartrnann, Kris, Loewenstein, Psychic structure 1946, 4; zur Emotionspsychologie und -soziologie vgl. Frey, Sozialpsychologie 1986; Ulrich, Gefühl 1982; Euler, Mandl, Emotionspsychologie 1983; Cobliner, Genfer Schule 1972,312.

11. Fühlen

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11. Fühlen 1. Affekte a) Im Lichte der Psychoanalyse

Das Hauptgewicht der Psychoanalyse liegt seit Freuds frühen Formulierungen im ,,Entwurf einer Psychologie" (1895) ganz eindeutig bei der affektiven Dynamik. Die intellektuellen Funktionen werden hiernach genetisch als Produkt einer bereits im ersten Lebensjahr beginnenden Differenzierung zwischen unmittelbar zur Befriedigung drängenden Triebregungen und ihrer sekundären, zu Bewußtsein führenden Verarbeitung aufgefaßt. Was die affektiven Elemente betrifft, so erscheinen sie in der kindlichen Entwicklung bekanntlich als elementare Lust- und Unlusterlebnisse: HungerSättigung, gustatorische, olfaktorische, taktile, optische Eindrücke etc. 1 Solche Lust-Unlust-Gefühle konzentrieren sich nach psychoanalytischer Auffassung bevorzugt auf verschiedene Körperregionen, woraus sich eine nach den jeweils im Vordergrund stehenden Triebbedürfnissen stufenweise Entwicklung ergibt. Um nur die großen Etappen zu nennen: Auf die auf die Mundzone und die Aufnahrne1 Systematisch ins Lehrgebäude der Psychoanalyse wurden nur die beiden zentralen Affekte oder Triebe Liebe und Haß aufgenommen. Je nach der Entwicklungsperiode der psychoanalytischen Lehre und mit gewissen Bedeutungsverschiebungen werden diese Triebe auch Libido und Destrudo, Sexualität und Aggressivität, Eros und Thanatos genannt. Daneben spielen nur noch Angst, Trauer und Melancholie eine gewisse Rolle. All die vielen feineren anderen Affekte und Affektschattierungen zwischen und neben ihnen werden in der Psychoanalyse kaum thematisiert. Ein klassisches Beispiel für die Beachtung der Emotionen in der Psychoanalyse sind Freuds Studien über Hysterie aus dem Jahre 1895 (Angstneurose 1971,25). Es zeigte sich, daß die Symptome verschwanden, wenn der zugrundeliegende Affekt erinnert wurde, und daß Emotionen gemischt auftreten, zum Beispiel als Ambivalenz von Liebe und Haß (vgl. Freud, Triebe 1946). Desweiteren stellte er fest, daß Emotionen mit Konflikten einhergehen. Liebe und Haß erscheinen dabei als die großen und absolut zentralen Gegenspieler im gesamten Affektieben; all die übrigen ,,zwänge" und affektbeladenen Phänomene stellen nichts als besonders geartete Abwandlungen von ursprünglich erotischen oder aggressiven, nunmehr aber unter dem Einfluß unbewußter Verdrängungen nicht mehr unverstellt an die Oberfläche der Psyche gelangenden Affektregungen dar. Als wichtigste Regulatoren des Affektlebens wirken einerseits das Lust- und andererseits das Realitätsprinzip; zudem steht die ganze Affektdynamik unter der Herrschaft des ,,Nirwanaprinzips" (Freud, Lustprinzip 1946,60). Zu den einzelnen Emotionen sind zahlreiche weitere Hypothesen entwickelt worden, ohne daß bisher eine geschlossene Theorie der Emotionen vorgelegt wurde; so über Angst (Freud, Hemmung 1948; Schwarzer, Angst 1983, 147); Trauer (Freud, Melancholie 1948; Hoffmann, Trauer 1983, 183); Eifersucht (Freud, Eifersucht 1940; Mummendey, Schreiber, Eifersucht 1983, 195; Kutter, Emotionen 1983,209), Schuldgefühl (Freud, Das Ich 1940). Weitere psychoanalytische Untersuchungen beziehen sich auf Schamgefühl (Lewis, Shame 1971), Liebe (Kernberg, Borderline-Störungen 1978), Rache (Socarides, Vengeance 1966,356), Haß bzw. aggressives Verhalten (Mitscherlich, Aggression 1956, 177; ders., Grausamkeit 1969, 97; Verres, Sobez,Ärger 1980, 33; Fromm, Destruktivität 1974).

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

funktionen zentrierte, sogenannte male Phase folgt eine anale, mehr den Exkretionsvorgängen und dieser schließlich eine den Geschlechtsorganen zugewandte, genitale Phase (siehe das Stufenmodell von Erikson in der Übersicht 6). Unter dem Einfluß einerseits des Lust- und andererseits des Realitätsprinzips (Streben nach Lust, Vermeidung von Unlust) erfahren die libidinösen sowie die aggressiven Impulse im Laufe der Kindheit eine zunehmende Differenzierung und Reifeentwicklung, deren Kulminationspunkt der "Ödipuskonflikt" darstellt. Kann die im dritten bis vierten Lebensjahr intensiv durchlebte Dreieckssituation des Kindes zwischen dem gleich- und dem gegengeschlechtlichen Elternteil zum Abschluß gebracht werden, so resultiert daraus ein neues Gleichgewicht aller affektiven Kräfte, das zur wichtigsten Grundlage für eine Persönlichkeitsentfaltung frei von Fixierungen wird. 2 Wie schon bei der genetischen Epistemologie Piagets stehen auch bei der Psychoanalyse die affektiven Beziehungen mit Personen im Vordergrund. Die ersten "Objekte" sind unzweifelhaft die nächsten Bezugspersonen, die freilich anfänglich noch nicht als äußere "Objekte" perzipiert werden können. Vielmehr bauen sich auch die innerpsychischen Repräsentanzen von "Objekten" und vom "Selbst" erst allmählich aus kognitiven und affektiven Elementen auf. Dabei fließen dauernd positive und negative Emotionen aus dem aktuellen Erleben in die sich bildenden kognitiven Strukturen ein und verdichten sich schließlich zu 2 Das elaborierteste Stufenmodell der affektiven bzw. psychosexuellen Entwicklung hat wohl Erikson ausgearbeitet. Es umgreift die gesamte Lebensspanne vom Säuglingsalter bis zum reifen Erwachsenenalter (vgl.ldentität 1977, 150; Kindheit 1971, 66; Lebenszyklus 1988, 36). Hier sollen nur die ersten drei Phasen kurz angeführt werden, da sie weitgehend mit den uns bereits bekannten kognitiven Strukturen der sensomotorischen Intelligenz bei Piaget korrespondieren. (I) Die oral-respiratorische Phase (1. Lebensjahr) ist durch den Verhaltensmodus des Einverleibens gekennzeichnet. Das Kind lernt in dieser Phase sein Organsystem in Übereinstimmung mit der Art zu regulieren, in der die mütterliche Umgebung ihre Methoden der Fürsorge organisiert. Auf dieser wechselseitigen Koordination von Geben und Nehmen steht eine hohe Prämie an libidinöser Lust, die als Kehrseite die Enttäuschung kennt. Die Mutter kann nicht immer anwesend sein, was zu unvermeidbarer Verwirrung beim Kind führt. Je nachdem, ob es gelingt, das Kind behutsam auf die zeitweise Trennung vorzubereiten, wird es ein Grundgejühl des Vertrauens oder ein Grundgefühl des Mißtrauens ausbilden, das durch das ganze Leben eine Quelle der Urangst oder der Urhoffnung bleibt (vgl. Kindheit 1971,74). (11) In der anal-urethralen Phase (2. bis 3. Lebensjahr) werden die sozialen Modalitäten des Hergebens und Festhaltens entwickelt. Das Kind muß in dieser Phase das Gefühl bekommen, daß sein "Urvertrauen" nicht durch seine gewalttätigen und eigensinnigen Wünsche in Gefahr gerät. Rigorose Reinlichkeitserziehung bewirkt dagegen ein Gefühl, das wir Scham nennen. Daher gehört zu den grundlegenden Aufgaben des Ich die Lösung des sozialen Kernkonflikts: Autonomie contra Scham und Zweifel (ebd. 79). (III) In der infantil-genitalen Phase (ca. 4. und 5. Lebensjahr) muß für den dritten Kernkonflikt eine dauerhafte Lösung gefunden werden - für den Konflikt zwischen Initiative und Schuld. Die ödipalen Wünsche rufen ein tiefes Schuldgefühl hervor, das bei gelingender Entwicklung entscheidend dazu beiträgt, daß die (sexuelle) Initiative auf sozial wünschenswerte Ideale und unmittelbare, praktische Ziele hingelenkt wird. Gegenüber der genetischen Epistemologie von Piaget hat das psychosexuelle Modell von Erlkson nicht nur eine komplementäre Funktion, es hebt stärker die Risiken und möglichen Pathologien der einzelnen Stufen hervor; vgl. zu den weiteren Entwicklungsphasen die Übersicht 6.

11. Fühlen

143

Übersicht 6: Stufen der psychosexuellen Entwicklung nach Erikson (Lebenszyklus 1988, 36).

Phasen

I Oral-respiratorische Phase (Einverleibungsmodi) 11 Anal-urethrale Phase (Modi des Zurückhaltens und Ausscheidens)

m

Infantil-genitale Phase (Modi des Eindringens und Umschließens ) N Latenz

V Pubertät

VI Genitalität

A Krisen

B Wichtige Beziehungen

C

Grundaffekte

D Kernpathologien

Grundvertrauen vs. GrundMißtrauen

Mütterliche Personen

Hoffnung

Rückzug

Autonomie vs.Scham, Zweifel

Elternpersonen

Wille

Zwang

Initiative vs. Schuldgefühl

Kernfamilie

Entschlußkraft

Hemmung

Regsamkeit vs. Minderwertigkeit

Nachbarschaft, Schule

Kompetenz

Trägheit

Identität vs. Identitätsdiffusion

Gleichaltrigengruppen

Treue

Zurückweisung

Intimität vs. Isolierung

Partnerschaft, Zusammenarbeit

Liebe

Exklusivität

stabilen affektiven Wertkonnotationen. Kemberg spricht wiederholt von ,,kognitiv-emotional-motorischen Einheiten", die eine Art Programm aufgrund von erlebten Erfahrungen und Dispositionen darstellen würden. 3 Daraus wird deutlich, daß sich die Affektentwicklung auch nach psychoanalytischer Vorstellung nicht 3

Kernberg, Internal world 1980.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

in einem abstrakten innerpsychischen Raum, sondern aus dem handelnden Austausch mit Personen abspielt. 4 Was das Denken und die intellektuellen Funktionen betrifft, so werden auch diese engstens mit Handeln in Verbindung gebracht. Nach Freud ist Denken vor allem ein "Probehandeln" mittels kleiner Quantitäten von Energie, die sich anhand von internalisierten Repräsentanzen von triebbefriedigenden Objekten entwickelt. Der Beginn des Denkens liegt für die Psychoanalyse dabei in der phantasierten, ersatzweise vorweggenommenen Triebbefriedigung, die während des Triebaufschubs aufgrund von Gedächtnisspuren möglich wird. Somit steht auch das Denken letztlich unter der Herrschaft des Lustprinzips: Es stellt als Folge des von der Realität auferlegten Aufschubs einen Umweg zur Triebbefriedigung dar. Ursprung und Motor des Denkens liegen für die Psychoanalyse ganz in der Affektivität und sind namentlich in der Vermeidung von Unlust bzw. in der Suche nach Lustgewinn zu finden; die Inhalte des Denkens hingegen wechseln und differenzieren sich gemäß den verschiedenen Entwicklungsphasen der Libido und den damit verbundenen Triebobjekten. Somit ist die psychoanalytische Trieblehre dadurch charakterisiert, daß sie durchweg in einer Struktur von Dualismen oder Polaritäten ausgespannt ist. Das psychische Geschehen wird aufgefaßt als fortwährend fluktuierende Resultante von dynamischen Prozessen, die sich zwischen einer Vielzahl von Polen bzw. Gegensatzpaaren abspielen. 5 Die wichtigsten sind - mit verschiedenen Überlagerungen und ohne direkte Entsprechungen in der nachfolgenden Übersicht dargestellt. Zwar gibt den Anstoß zu Handeln und Denken das stets gleichbleibende Streben nach Lustgewinn bzw. nach Unlustvermeidung. 6 Aber die zunächst un4 V gl. hierzu vor allem die Studien von Rene Spitz über den Ursprung der menschlichen Kommunikation und ihrer Rolle in der Persönlichkeitsbildung: Spitz, Säugling 1972; Ichbildung 1972; Nein, Ja 1970; Dialog 1988; siehe zur Mutter-Kind-Dyade als Wechselverhältnis und "bestimmte Interaktionsform" Lorenzer, Sozialisationstheorie 1972; Psychoanalytische Erkenntnis 1974, 130. 5 Dieser Punkt erhellt Zusammenhänge und Übereinstimmungen zwischen der Psychoanalyse und der Systemtheorie: Bipole stellen die einfachste Form eines "Systems" dar. Durch das Zusammenwirken von mehreren Bipolen entstehen komplexe Systeme (vgl. für die Psychotherapie Bertalanffy, System theory 1974, 1095; Miller, Systems 1975; Guntern, Psychotherapie 1980,2; Schneider, Ruff, Therapie 1988). Für Ciompi "zeigen diese dualistischen Strukturen und in ganz besonderem Maße Konzepte wie das ,Stabilitätsprinzip' oder das ,Nirwanaprinzip' , die in jeder Hinsicht dem Homöostaseund Entropiebegriff entsprechen, daß Freud in Bezug auf das innerpsychische Geschehen an grundsätzlich ähnliche, wenn nicht an die gleichen Prozesse dachte, wie sie später von der Systemtheorie exploriert und formuliert wurden" (Psychoanalyse 1981,71; ders. zum ,,Lob des Dualismus" Außenwelt 1988,260). 6 Lerntheorie und Neurophysiologie bestätigen diesen Sachverhalt: Jedes komplexere Lernen ist "Lernen am Erfolg" bzw. das "Versuch- und Irrtumslernen " (vgl. zur Integration von Psychoanalyse und Lernpsychologie Whiting, Child, Personality 1953; Murray, Motivation 1964; Geulen, Subjekt 1989). Das gilt auch für die neuronalen Prozesse des Lernens. Nur jene Nervenschaltungen werden stabilisiert, die einen für den Organismus bedeutsamen Effekt nach sich ziehen. Nervenschaltungen, die Belangloses zur Folge

11. Fühlen

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Übersicht 7: Die "dualistisch-komplementäre" Struktur der psychoanalytischen Konzepte.

bewußtseinsferner

bewußtseinsnäher Bewußtes

Unbewußtes

Ich (und Über-ich)

Es

Liebe

Haß

Lebenstriebe (Libido)

Todestriebe (Destrudo)

objektale Triebe (Objektliebe oder -haß)

narzißtische Triebe (Selbstliebe oder -haß)

Lustprinzip

Realitätsprinzip

Spannung

Entspannung

Stabilitätsprinzip

Nirwanaprinzip

verhüllt triebhaften Impulse werden zunehmend durch das Realitätsprinzip moduliert. Sie vermögen - wie die Psychoanalyse sagt - zu sublimieren. 7 In ähnlicher Weise wie Freud den Begriff der "Sublimation" gebraucht, verwendet Heinz Hartmann den ichpsychologischen Begriff der sogenannten ,,konfliktfreien Ichsphäre" bzw. der ,,Neutralisation". 8 Allerdings arbeitet Hartmann stärker als die orthodoxe Psychoanalyse das Zusammenspiel zwischen affektiven und kognitiven Faktoren heraus, wenn er betont, daß die ursprünglich stark ,,konfliktualisierten", affektbeladenen Funktionen wie z. B. das Gehen, das Sprechen und Denken unter günstigen Voraussetzungen im Verlauf der Entwicklung immer affektfreier ablaufen können. Als Paradebeispiel für diesen Prozeß der affektiven Neutralisierung und Automatisierung führt er das Autofahren an, das auch ein gutes Beispiel für die je nach den Umständen mögliche Rekonfliktualisierung, für das jederzeitige Wiederaufflammen der Affektbesetzung ist. haben, verkümmern dagegen. Danach vollziehen sich also die synaptischen Veränderungen anhand von ,,Erfolgsrückmeldungen", die sich im affektiven Bereich als Lust bzw. Unlust repräsentieren. "So können die Aktivitäten verhaltenssteuernder Nervennetze verstärkt oder unterdrückt werden, je nachdem, ob sie einen Zustand der Lust oder der Unlust (positive Verstärkung bzw. Strafe) oder der Beendigung eines Unlustzustandes (negative Verstärkung) zur Folge hatten" (Roth, Kognitive Selbstreferentialität 1987, 410).

7 Freud (SexualmoraI1940, 150): ,,Er (Sexualtrieb ) stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies zwar infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität abzunehmen. Man nennt diese Fähigkeit, das ursprünglich sexuelle Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles Ziel, aber psychisch mit ihm verwandtes, zu vertauschen, die Fähigkeit zur Sublimierung." 8 Hartrnann, Ich-Psychologie 1960.

10 Kargl

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

Hartmann hat mit seiner Ansicht, daß affektive Elemente an allen motorischen, sensorischen und kognitiven Funktionen beteiligt sind, einen wichtigen Beitrag zur affektiven Seite der Genese und Struktur von Intelligenz geleistet. 9 Aber auch er berücksichtigt die kognitiven Funktionen nur in summarischer Weise. Von einer echten und ins einzelne gehenden Integration von Fühlen und Denken kann noch nicht die Rede sein. Bevor ich den Versuch einer Synthese darstelle, seien die wichtigsten Hypothesen zusammengestellt, die als konstruktive Ansätze zu .einer psychoanalytischen Affekttheorie gelten können. Anschließend sollen in einem Überblick die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Psychoanalyse und genetischer Epistemologie resümiert werden. Zusammenfassung der psychoanalytischen Emotionshypothesen: (1) Emotionen beziehen sich sowohl auf das Subjekt selbst (Selbstliebe nach narzißtischem Typus), als auch auf ein anderes Objekt (Objektliebe nach dem Anlehnungstypus ).

(2) Emotionen machen eine Entwicklung durch, die von "unreifen" bis zu ,,reifen" Stadien (von ,,Prägenitalität" zur "Genitalität") voranschreitet (psychoanalytische Entwicklungstheorie). (3) Emotionen sind vielfach unbewußt. Der Mensch wird eher sekundär durch Emotionen gesteuert, als daß er primär die Emotionen steuert. (4) Emotionen geraten häufig mit Steuerungsinstanzen der Person ("Ich", "Über-Ich") in Konflikt und werden dadurch verändert (psychoanalytische Konflikttheorie ). (5) Emotionen betreffen gleichermaßen seeliehe und körperliche Phänomene. Dabei interessieren die Psychoanalyse die mentalen Prozesse der mit Emotionen einhergehenden unbewußten Phantasien. (6) Emotionen zeigen das Phänomen der Ambivalenz, des gleichzeitigen Vorkommens von zwei sich widersprechenden Affekten gegenüber ein und derselben Person. b) Konvergenzen und Divergenzen zwischen Freud und Piaget (1) Sowohl Psychoanalyse wie auch genetische Epistemologie begreifen die Psyche als das Resultat eines langen affektiven und kognitiven Entwicklungspro9 Divergenzen zwischen der orthodoxen Psychoanalyse und der modernen Ichpsychologie gibt es nur in Bezug auf den Grad der möglichen Neutralisierung und hinsichtlich der Frage, ob es neben solchen sekundären dekonfliktualisierten Ichanteilen auch ~ine primäre, d. h. von Geburt an bestehende konfliktfreie Sphäre gebe (vgl. Ciompi, Uber Affektlogik 1982, 233). Genetische Epistemologie und Kognitionsbiologie verneinen die Frage: Verhalten und Denken werden stets durch "Störungen" (äußere und innere) in Gang gebracht.

11. Fühlen

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zesses. Sie sind somit beide in hohem Maße "historisch" 10 und" konstruktivistisch" 11 orientiert. Unterschiede ergeben sich in der Frage des Zeitpunktes der entscheidenden Reifungsschritte. Während die Psychoanalyse den wichtigsten Fortschritt mit dem Ödipuskonflikt bereits ins dritte bis vierte Lebensjahr verlegt, erfolgen für die genetische Epistemologie die entscheidenden kognitiven Entwicklungsschritte mit sieben bis acht und elf bis zwölf Jahren. Danach beschränkt sich die Parallelität der Entwicklung lediglich auf die ersten Lebensmonate. In der Folge muß demnach von einer charakteristischen Verschiebung zwischen affektiver und kognitiver Reifung ausgegangen werden. Ciompi mutmaßt wohl zu Recht, daß es sich bei dieser ungleichzeitigen Reifung um "ein höchst sinnreiches Phänomen" handelt, "bei welchem Fortschritte auf der einen jeweils zur Basis von Fortschritten auf der anderen Seite werden könnten". 12 (2) Für das erste Lebensjahr gelangen beide Wissenschaften zu weitgehend identischen Auffassungen. 13 So stimmen sie darin überein, daß das erste "permanente Objekt" eine Person und nicht ein Gegenstand ist. 14 Die "inneren Objektrepräsentanzen" der Psychoanalyse entsprechen völlig dem, was Piaget dauernd wirksame, internalisierte und mit Sympathien und Antipathien belegte "sensomotorisch-affektive Objekte" nennt. 15 Übereinstimmungen finden sich auch beim 10 Das gilt nicht ohne weiteres für alle Systemtheorie-Ansätze. Dörner (Ökologischer Ansatz 1988,21) betont sehr zu Recht, daß der engere (nicht-biologische) Systembegriff ein primär räumliches Konzept ist, "weshalb zeitliche Gegebenheiten sich in ihm nur sekundär abbilden lassen. Typischerweise wird in der Systemtheorie auch gern von Prozessen gesprochen. Sie ist daher unhistorisch. Geschichtliches Denken mit nach hinten und vorne offenen Entwicklungen ist ihr fremd"; siehe dazu eingehend des weiteren Dörner, Denken 1989,47; ders., Mißlingen 1989. Diese Gefahr hat Maturana mit dem Konzept der "strukturellen Koppelung" gebannt. 11 Auf die ,,konstruktivistischen" Aspekte der Psychoanalyse machen insbesondere Brocher, Sies (Psychoanalyse 1986, 37) aufmerksam, wobei sie Ansatzpunkte für eine Verständigung in den Begriffen ,,Autopoiese", ,,Repräsentation" und "Organisation" sehen. Konzeptuelle Übereinstimmungen lassen sich tatsächlich schon sehr früh feststellen. So weist van der Leeuw (Metapsychologiebegriff 1969, 125) darauf hin, daß bei Freud bereits 1900 der Systembegriff auftaucht, den "eine wissenschaftliche Psychologie ... zur Grundlage nehmen muß". Leeuw betont ausdrücklich, daß Begriffe wie Ich, Es und Über-Ich "als psychische Funktionszentren ... als eine Strukturwerdung" aufzufassen sind, "die das Ergebnis des beobachtbaren Wechselspiels von Funktionen und Funktionsgruppen sind"; er weist damit explizit auf die Gefahr der Verdinglichung von Begriffen (Metaphern) als ,,Entitäten" hin. Eissler (Psychoanalysis 1969, 461) kommt zu den gleichen Schlußfolgerungen: "Ich nenne daher die Psychoanalyse eine SystemPsychologie. " 12 Ciompi, Über Affektlogik 1982, 241. \3 Nach Inhelder, Chipman (Piaget 1976, 32) sind sich beide Wissensbereiche durchaus einig, daß im ersten Lebensjahr ". . . alle Aktionen eine Interdependenz zwischen dem Subjekt und den Objekten zeigen, welche miteinander ohne präetablierte trennende Grenzen verbunden sind. Es gibt zunächst noch keine vom Subjekt unabhängigen Objekte (die Objektpermanenz beginnt erst mit 9-10 Monaten), und umgekehrt trennt sich das Subjekt nicht als solches, sondern nur in Beziehung zu seinen sukzessiven Aktionen ... ". 14 Inhelder, Chipman (ebd. 71) stützen sich dabei auf die Untersuchungen von GouinDecarie aus dem Jahre 1966.

10*

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

Aufbau des Selbst. Wie die modeme, psychoanalytische Narzißmuslehre geht auch die genetische Epistemologie vom Selbst als von einem ,,kognitiv-affektiven Konzept" aus, das sich durch "Spiegelung" in einer Bezugsperson konstituiert. 16 (3) Übereinstimmung findet sich desweiteren in der allgemeinen Charakterisierung der Affektivität als etwas vorwiegend "Energetisches" und des Intellekts als etwas "Strukturiertem". Über letztere Aussage gibt es keinen DissensY Im Hinblick auf die Affektivität wird übereinstimmend angenommen, daß sich ihre Energie aus den biologisch verankerten Trieben speist, die freilich nur indirekt über das beständige Streben nach Lustgewinn faßbar werden. 18 Über die Frage, ob auch die Affekte einer Strukturentwicklung unterliegen, gehen die Meinungen auseinander. Für die Psychoanalyse, die ja als eine Strukturlehre der Affektentwicklung bezeichnet werden muß, ist die Frage mit eindeutigem Ja zu beantworten. 19 Bei Piaget finden sich hingegen widersprüchliche Äußerungen. Einerseits stellt er Energie und Struktur als Gegensatz gegenüber,20 andererseits spricht er gelegentlich von "affektiven Regulationen", sogar von "affektiven Schemata", die prinzipiell gleich strukturiert seien wie die kognitiven. 21 Aufgrund solcher Hinweise gelangt Schneider zu dem Schluß, daß Piagets Theorien "strukturelle Isomorphien" zwischen dem kognitiven und dem affektiven Bereich implizieren. 22 Damit wäre die Notwendigkeit reflektierender Abstraktionen auch für die emotionale Seite der Psyche aufgewiesen. 15 Diese Objektrepräsentanzen sind auch für die Psychoanalyse vorläufiger (temporaler) Art. Andernfalls wären die Bemühungen der Psychoanalyse um strukturelle Veränderungen der im Laufe der Ontogenese entstandenen Repräsentanzen illusorisch. 16 Vgl. zum recht uneinheitlichen Bild des Narzißmusbegriffs in der psychoanalytischen und kulturkritischen Literatur: Kohut, Narzißmus 1975; Arlow, Brenner, Psychoanalyse 1976,59; Ziehe, Narzißmus 1979; Eiss1er, Narzißmus 1980; Laseh, Narzißmus 1980; Rosenfeld, Narzißmus 1981; Häsing u. a., Narziß 1981; Valk, Narzißmus 1981; siehe auch die Literaturübersicht bei Karg!, Schuldprinzip 1982, 93. 17 Das liegt daran, daß die Psychoanalyse die Struktur der kognitiven Entwicklung von der genetischen Epistemologie stillschweigend oder explizit mit dem ichpsychologischen Konzept der ,,Neutralisation" anerkannt hat. Aber dennoch muß gesehen werden, daß sich Piaget weniger für die psychischen Funktionen, als vielmehr für die psychischen Strukturen interessierte. Deshalb zieht er auch den Konflikt der Kräfte nicht in Betracht, so daß es in diesem System praktisch keine Dynamik gibt (vgl. Cobliner, Gen/er Schule 1972,313). 18 In diesem Sinn redet auch Piaget von Gefühlen, mit denen die Objekte besetzt seien: "Die Affektivität auf der einen Seite ist charakterisiert durch die Verteilung von positiven und negativen Objektbesetzungen. Kognitive Aspekte des Verhaltens auf der anderen Seite sind charakterisiert durch ihre Struktur, ob dies nun elementare Aktionsschemata, konkrete Operationen oder proportionale Logik sei" (zit. bei Inhelder, Chipman, Piaget 1976,64). 19 Bekanntlich ist nach Lacan (Psychoanalyse 1978,24) selbst das Unbewußte "strukturiert wie eine Sprache". 20 ,,Affektive und kognitive Mechanismen sind untrennbar, obwohl verschiedenartig: erstere hängen von Energie ab und letztere von Struktur" (zit. bei Inhelder, Chipman, Piaget 1976, 71). 21 Piaget, Psychoanalyse 1933,404.

11. Fühlen

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(4) Bedeutsame Konvergenzen ergeben sich desweiteren zwischen Freuds Auffassung des Denkens als ,,Probehandlung" und Piagets Konzept der kognitiven Schemata als "internalisierte Aktionen". 23 Sie erscheinen in beiden Wissensbereichen als eine Art von ,,Aktionsprogrammen" oder "Vorstellungen", die aufgrund der Erfahrungen ausgebildet werden. (5) Beide Schulen unterstreichen gleichermaßen eine allgemeine Entwicklung von Heteronomie zur Autonomie. So konstatiert die Psychoanalyse eine Entwicklungstendenz vom primären Narzißmus mit seiner Verschmelzung von Subjekt und Objekt bis zu Objektbeziehungen unter autonomen Partnern. Nicht anders beschreibt Piagets Konzept eine Entwicklung von der frühkindlichen ,,Egozentrizität" bis zur gelungenen "Dezentration" mit ihrer kognitiven Reversibilität. 24 (6) Schließlich postulieren beide Denkweisen eine fundamental binäre,polare Grundstruktur des psychischen Geschehens. Aber sie nehmen ganz verschieden-

artige Polaritäten als basale, Affektion und Intelligenz übergreifende Grundstruktur an. Für die Psychoanalyse besteht der Gegensatz zwischen libidinösen und aggressiven Gefühlen, zwischen Eros und Thanatos, zwischen Liebe und Haß. Piaget dagegen verweist auf eine abstraktere Polarität, auf die Reziprozität zwischen logischen Operationen wie Addition und Subtraktion, Implikation und Exklusion, AffIrmation und Negation etc. Erst eine solche Grundstruktur ermöglicht die Rückkehr zum Ausgangspunkt und damit die mit der Reversibilität gegebene Freiheit des Denkens. 25

22 Vgl. Schneider, Piaget 1981, 73, und weiter unten den Abschnitt ,,Logik der Affektivität" . 23 Für die genetische Epistemologie: "Die ganze Intelligenzentwicklung kann verstanden werden als eine schrittweise Bildung und darauf progressive Internalisation von Aktionen in der Kindheitsentwicklung" (Ciompi, Affektlogik 1982, 64). Für die Psychoanalyse: "Verschiedene angeborene, physiologische, verhaltensmäßige, affektive und perzeptive Strukturen werden zusammen als erste Einheit intrapsychischer Strukturen internalisiert. Kognition und Affekt sind so zwei Aspekte derselben primären Erfahrung. Obwohl die für die Speicherung von emotionalen und kognitiven Erfahrungen verantwortlichen Strukturen nicht dieselben sind, ergibt sich aus ihrer Integration in das früheste affektive Gedächtnis m. E. eine gemeinsame Struktur (lust- oder unlustvolle frühe Erfahrungen), von der aus Kognition und Affekt sich in verschiedene Richtungen entwickeln werden", Kernberg, Objektbeziehungen 1981,62. 24 Für beide Schulen spielt dabei auf den verschiedenen Stufen die "Objektpermanenz " eine entscheidende Rolle, bis hin etwa zur Fähigkeit zu echter Trauer in der Psychoanalyse und bis zur kognitiven "Gruppierung" von Gleichartigem in der genetischen Epistemologie. ,,Beide - die affektiven und die kognitiven - Entwicklungslinien treffen sich u. a. in der schließlichen Fähigkeit zur partnerschaftlichen Kooperation unter dem Siegel der ,Gerechtigkeit', deren Werdegang Piaget ilIl:. Spiel und bei der Bildung moralischer Wertvorstellungen untersucht hat", Ciompi, Uber Affektlogik 1982,245. 25 Es ist zu vermuten, daß diese Divergenz auch den Unterschied der Schulen im Begriff des "Unbewußten" bedingt. Nach Piaget sind im ,,kognitiven Unbewußten" nicht dingliche Vorstellungen, sondern Schemata und Operationen bzw. Relationen im Sinne der erwähnten ,,Aktionsprogramme" gespeichert: ,,Es gibt keine Konzepte in Form von Vorstellungen im kognitiven Unbewußten. Die Idee von ,unbewußten Vorstellungen' scheint mir widersprüchlich. Das kognitive Unbewußte besteht aus senso-motorischen

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(7) Eine weitere Divergenz besteht darin, daß die Psychoanalyse mehr die Welt der Personen und der Gefühle, die genetische Epistemologie mehr die Welt der Dinge und der Gedanken erforscht und beschrieben haben. 26 Die Psychoanalyse hat neben den Affekten die Beziehungen zwischen Personen in den Vordergrund gerückt. Die genetische Epistemologie untersuchte dagegen neben den kognitiven Funktionen vorwiegend die Beziehungen des Kindes zu Materie, Raum, Zeit, Kausalität oder Begriffen. 27 Aber wie eingangs betont, beide Wissensbereiche waren sich von Anfang an darin einig, daß ihre Aufmerksamkeit zwar verschiedenartigen, letztlich jedoch untrennbaren Aspekten des Psychischen galt. Angesichts dieses programmatischen Ausgangspunktes und der ausgeführten tiefen strukturellen Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Ausarbeitungen war es überfaIlig, die beiden Denkschulen in einer umfassenden Theorie der Psyche zu integrieren. Das im folgenden diskutierte Konzept der "Affektlogik " von Ciompi stellt den bisher bedeutsamsten Versuch einer Synthese dar. 28

oder operationalen Schemata, die schon zu Strukturen organisiert sind. Die Schemata drücken aus, was das Subjekt ,tun' kann, aber nicht, was es denkt. Das Subjekt besitzt auch affektive und Persönlichkeitsschemata, zum Beispiel Tendenzen, Triebe etc." (Piaget, Affektives Unbewußtes 1976, 35). Das entscheidende Charakteristikum des Unbewußten sieht also Piaget im Fehlen von Abstraktion: ,,Das Unbewußte ist alles, was nicht konzeptualisiert ist" (Piaget, Idees 1977,58; zit. nach Schneider, Piaget 1981,147). Die Psychoanalyse spricht demgegenüber zumindest dem verdrängten Unbewußten sehr wohl reflektierende Abstraktion und Konzeptualisierung zu. 26 Cobliner (Gen/er Schule 1972, 312) erklärt die Ausrichtung Piagets auf Abstraktion und allgemeine Gesetzmäßigkeiten damit, daß er von Anfang an bestrebt war, die Grundlagen für eine genetische Erkenntniswissenschaft zu legen. Mit Kindern zu arbeiten, entsprach dabei weniger einer Neigung, als vielmehr der Notwendigkeit, diese als Mittel für sein Ziel einzusetzen. Freud sei demgegenüber mehr am Individuum, am Menschen und seiner Funktionsweise interessiert gewesen. 27 Daß der Umgang mit der unbelebten Welt in erster Linie kognitive Funktionen erfordert,liegt auf der Hand. Aus diesem Grunde sind auch nur diese von Piaget registriert worden. Umgekehrt verhält es sich bei menschlichen Kommunikationen, die in erster Linie von Affekten getragen we~~en. Als Fazit der Gegenüberstellung von Freud und Piaget hält denn auch Ciompi (Uber Affektlogik 1982, 246) die Komplementarität der Denkschulen fest: ,,Es bestätigt sich also, daß die beiden Wissensbereiche zwei verschiedenartige, immer untrennbar verbundene, aber doch je nach Situation mehr oder weniger im Vordergrund stehende Aspekte des Psychischen erforscht und beschrieben haben: die Psychoanalyse mehr die Welt der Personen und der Gefühle. die genetische Epistemologie mehr die Welt der Dinge und der Gedanken als der je privilegierten Form des Umgangs mit diesen zwei ebenso fundamentalen wie andersartigen Aspekten der begegnenden Umwelt." 28 In zahlreichen Emotionstheorien wurden bereits vor Ciompi "affektlogische" Ideen ausgearbeitet; vgl. insb. von Amheim (Emotion 1958), Magda Amold (Emotion 1960), McGill (Emotions 1954).

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2. Konzept der "AtTektlogik" a) Zur Funktion affektiv-kognitiver Bezugssysteme "Im Begriff des affektiv-kognitiven (oder ,affektlogischen') Bezugssystems vereinigen sich affektive und kognitive Komponenten zu einem operationalen Ganzen, das die persönliche Geschichte aller Interaktionen mit der Umwelt gleichsam als ,Niederschlag' integriert und als ,Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramm' für weitere Interaktionen in ähnlichem Kontext bereitstellt."29 Mit dieser Auffassung von der Bedeutung affektlogischer Bezugssysteme greift Ciompi unmittelbar auf Piaget zurück. Im Unterschied zu diesem ist er jedoch der Meinung, daß alle Schemata in Wirklichkeit "affektlogisch" und nicht nur kognitiv oder nur affektiv sind. Die Erklärung dafür liefert eine genauere Betrachtung der Genese und Funktion geistiger Schemata. 30 Wie Piaget sieht auch Ciompi die geistige Entwicklung aus den senso-motorisehen Aktionen des Organismus, also aus konkreten Handlungen erwachsen. 29 Ciompi, Affektlogik 1986, 382. Weitgehend unabhängig von den Erkenntnissen der genetischen Epistemologie ist in der Wissenspsychologie ein Schemabegriff erarbeitet worden, der verblüffende Parallelen zu den mentalistischen Theorien von Piaget und Ciompi aufweist. Die wichtigsten Kennzeichen dieses Schema-Konstrukts werden von Mandl, Friedrich und Horn (Wissenserwerb 1988, 125) wie folgt zusammengefaßt: - Schemata sind kognitive Strukturen, in denen allgemeines Wissen im Gedächtnis repräsentiert ist. Das Wissen über typische Zusammenhänge in einem Realitätsbereich ist in Schemata organisiert (vgl. zum ähnlich lautenden "Skript"-Konzept Wender, Semantische Netze 1988, 69). - Schemata weisen Leerstellen auf: Bestimmte Merkmale eines Schemas sind variabel; sie können - falls keine spezifische "Information" aus der Umwelt vorliegt - mit Standard werten ausgefüllt werden. - Schemata enthalten sowohl generisches als auch episodisches Wissen (vgl. Brewer, Nakamura, Schemata 1984). - Schemata haben nicht nur eine Struktur-, sondern auch eine ausgeprägte Prozeßkomponente: Schemata entfalten eine ganze Reihe von Kontrollprozessen. Sie bewerten ihre Passung bzw. Kongruenz mit einlaufenden "Informationen", sie rufen ggf. andere Schemata auf usw. (vgl. Rumelhart, Norman, Memory 1983). - Schemata repräsentieren Wissen unterschiedlichster Inhaltsbereiche: Alle Bereiche menschlichen Denkens und menschlicher Erfahrung können in Schemata organisiert sein. Als wichtigste Funktionen der Schemata werden genannt: - Die Integrations/unktion: Ein Schema hat bei der Encodierung neuer "Information" die Funktion eines Rahmens, in den das neu zu erwerbende Wissen integriert werden kann. Dadurch wird die neue "Information" (1) besser verstanden und (2) auch besser behalten (vgl. zum frame-Konzept Furbach, Freksa, Dirlich, Wissensrepräsentation 1988, 519). - Die aufmerksamkeitssteuernde Funktion. Die Hypothese der selektiven Aufmerksamkeitszuwendung besagt, daß schemarelevante "Information" mehr Aufmerksamkeit erfahrt als nicht-schemarelevante "Information": Einmal aktivierte Schemata lösen Erwartungen (top down-Prozeß) aus, die dazu führen, daß gezielt nach jenen Informationen gesucht wird, die die eröffneten Leerstellen ausfüllen (vgl. Anderson, Pearson, Schematheoretic view 1984). 30

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Fragt man nun danach, welche Funktionen diese konkreten Aktionen besitzen, dann gelangt man beinahe zwangsläufig zu der Antwort, daß sie immer auch affektive Komponenten enthalten müssen. Der Effekt von Handlungen ist die Autopoiese des Organismus oder in psychoanalytischer Terminologie entweder Lust oder Unlust bzw. alle möglichen Schattierungen davon. Lust und Unlust zeigen dem Organismus an, was ihm nützlich, d. h. lebenserhaltend oder nicht nützlich, d. h. destruktiv ist. Allein darin besteht die biologische Funktion der Affektivität. Daß es vielfach nützlich sein kann, die Lust über alle möglichen Umwege zu suchen, bekräftigt nur die Theorie der "Affektlogik". Denn jeglicher Verzicht auf Triebaufschub impliziert notwendig die Zerstörung der Autopoiese. Aus dem Gesagten ergibt sich die Notwendigkeit, daß die lebenswichtigen Informationen über Lust oder Unlust in die internalisierten Aktionen und "Handlungsanweisungen" einfließen. So ist beim Aufbau eines kognitiven Schemas über den Umgang mit Feuer äußerst wichtig, daß in ihm auch Unlustgefühle fest enthalten sind, die zur Vorsicht gemahnen. 3 ! Zahlreiche Befunde über die sogenannten bedingten Reflexe bei Tieren 32 und über die "Schreckneurosen" beim Menschen belegen diesen Einbau von Affektivität in die Kognitionen. Nicht anders verhält es sich bei den inneren Schemata im Umgang mit Personen. Aus Alltagsbeobachtungen wissen wir, wie stark derartige Affektkomponenten unsere Handlungen bestimmen. 33 Die Psychoanalyse hat darüber hinaus im Phänomen 31 Auf diese Weise funktionieren die Affekte als typische Organisatoren der kognitiven Inhalte (vgl. Kernberg, Objektbeziehungen 1981). Sehr ähnlich betont Piaget (Intelligence 1981) die Rolle der Gefühle als "Regulatoren" der kognitiven Schemata im Umgang mit Menschen und Gegenständen. Hinsichtlich der Entwicklung dieser Regulatoren haben wir schon bei Erikson erfahren, daß die Kleinkinder aufgrund gegensätzlicher Gefühlseindrücke die Wirklichkeit in zunächst nur zwei ganz verschieden getönte Bereiche (z.B. "gute" und "böse" Mutter) aufteilen. "Was in entweder positiver oder negativer Affektstimmung erlebt wurde, wird durch einen ersten ,Auszug der Invarianz' als zusammengehörig aufgefaßt und zu Ganzen, beziehungsweise zu Unterganzen vereint, in welche immer mehr zugehörige kognitive Einzelheiten als Varianz dann gewissermaßen ,eingetragen' oder ,eingezeichnet' werden ... Die affektiven Elemente sind also sozusagen der ,Leim', der die entstehenden affektiv-kognitiven Bezugssysteme zu einem Ganzen zusammenbindet", Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988, 171. Ebenso Amold: ,,Emotion ist ein komplexer Prozeß, der in dem Augenblick beginnt, in dem etwas wahrgenommen und bewertet wird. Die Bewertung löst in Bezug auf das Objekt eine Tendenz der Zuoder Abwendung aus, die als Emotion gefühlt wird und zur Handlung drängt ..." (Emotion 1960). 32 Man denke an die panikartigen Reaktionen der Pavlovschen Hunde beim Anblick von Wasser im Anschluß an die große Petersburger Flut, während der die Tiere in ihren Käfigen beinahe ertrunken wären. Auch Tiere verfügen also bereits über internalisierte Strukturen. Wie Fischer (Gehirne 1986, 57) mitteilt, entwickeln sich diese bei Affen anfänglich sogar schneller als beim Menschen. Der zentrale Unterschied besteht jedoch in der spezifisch menschlichen Verdichtungsfähigkeit der ,,Eindrücke", die es ermöglicht, die gleichen Abläufe viel weiter zu differenzieren und schließlich in abstrakte Symbole (Sprache) umzusetzen. 33 Zur Rolle der Affekte bei der Ätiologie der Schizophrenie schreibt Ciompi in konsequenter Fortführung seiner affektlogischen Konzeption der Psyche: ,,Klare innerpsychische Strukturen - und damit auch Klarheit und Sicherheit in der Informationsver-

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der Übertragung eindrucksvoll erwiesen, daß es zu automatischen Wiederholungen von Verhaltensweisen gegenüber Personen kommt, die mit meist frühkindlichen Vorbildern eine Ähnlichkeit haben. 34 Diese Befunde lassen sich durch zahlreiche Hinweise aus der Himphysiologie stützen. Auf entsprechende Untersuchungen bin ich bereits im Kapitel über das "Bewußtsein" und die ,,Kohärenz des Geistigen" eingegangen. Hier soll lediglich noch einmal unterstrichen werden, daß es außerordentlich reiche neuronale Verbindungen zwischen jenen Teilen des Gehirns gibt, die eng mit Gefühlen wie Angst oder Lust in Verbindung stehen 35 , und jenen Hirngebieten, die typische kognitive Funktionen wie die Wahrnehmung und das Denken regulieren 36. In dem bekannten Buch "Das Ich und sein Gehirn" spricht lohn Eccles die komplementäre Funktionalität des Gehirns mehrfach ausdrücklich an: "Hypothalamus und limbisches System modifizieren und farben die bewußten Wahrnehmungen, die vom sensorischen ,Impuls' kommen, mit Emotionen und beladen sie mit motivierenden Trieben. Kein anderer Teil des Neocortex hat diese enge Beziehung zum Hypothalamus."37 An anderer Stelle heißt es: "Man kann den präfrontalen Cortex als die Region anschauen, in der alle emotive Information mit somatoästhetischen, visuellen und auditiven Informationen kombiniert wird, um so dem Subjekt bewußte Erfahrungen zu geben und sein Verhalten zu leiten." 38 An der Existenz wichtiger neuronaler Verbindungen, die einen kognitiv -affektiven Funktionskreis bilden, ist aus der Sicht moderner hirnphysiologischer Erarbeitung - können somit nur aufgrund zwischenmenschlicher Erfahrungen und Kommunikationsformen entstehen, in denen Fühlen und Denken (bzw. affektive und kognitive Kommunikationselemente) ,authentisch' sind, d.h. nicht im Widerspruch zueinander stehen ... Adäquate Informationsverarbeitung heißt auch Herstellung einer ökonomischen Ordnung, Minderung von Spannung. Schlechte Informationsverarbeitung dagegen erzeugt Spannung und Verwirrung bzw. beseitigt sie nicht. Gerade aus dieser qual- und streßvollen Spannung aber scheint letztlich die Energie zu stammen, die unter geeigneten Umständen ein normales psychisches Funktionssystem derart zu destabilisieren vermag, daß es schließlich in psychotische Funktions- und Verhaltensweisen ,überschnappt"', Ciompi, Schizophrenie 1985,62; vgl. auch Schizophrenie 1986,47; Schizophrenie 1988; Rehabilitation 1988, 30. Zum Einfluß der Kognitionen bei emotionalen Störungen vgl. Beck, Kognitive Psychotherapie 1979. 34 "Übertragung" heißt in psychoanalytischem Kontext die "Übertragung" frühkindlicher Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen gegenüber Eltemfiguren im Erwachsenenalter. Verwandte Mechanismen sind die Regression auf vorgebahnte infantile Verhaltensweisen oder die Fixierung auf solche. Unter dem Gesichtspunkt der Autopoiese gehören auch sie zu den typisch selbstregulatorischen und selbstorganisatorischen Prozessen (vgl. Ciompi, Außenwelt 1988, 180). 35 Z. B. das Riechhirn, der Hypothalamus und das limbisehe System; vgl. die Untersuchungen von Bechtereva u. a., die zeigen, daß "Gefühle" das Gehirn vom limbisehen System her überfluten und für Stunden oder Tage in seiner "Stimmung" verändern können (Emotional disorders 1984, 143). 36 Z. B. die Großhirnrinde sowie speziell zentrale und präfontale Gebilde. 37 Popper, Eccles, Gehirn 1987. 38 Popper, Eccles, ebd.

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kenntnisse überhaupt nicht zu zweifeln. 39 Schon 1970 ist von Amold ein "affektives Gedächtnis" postuliert worden, über das affektive Elemente mit kognitiven Inhalten in Verbindung stehen. 40 Wenige Jahre später greift Kernberg den Gedanken des "affektiven Gedächtnisses" auf und sucht diesen in die psychoanalytische Triebtheorie zu integrieren: "Verschiedene angeborene physiologische, verhaltensmäßige, affektive und perzeptive Strukturen werden zusammen als eine erste Einheit intrapsychischer Strukturen internalisiert. Wahrnehmung und Affekt sind also zwei Aspekte derselben primären Erfahrung. Obwohl die für die affektive Erfahrung und für die (kognitive) Fähigkeit zur Speicherung dieser Erfahrung verantwortlichen neurophysiologischen Strukturen verschieden sind, bildet meiner Ansicht nach ihre Integration in dem frühesten affektiven Gedächtnis (Amold) eine gemeinsame Struktur (lustvolle oder unlustvolle primitive Erfahrung), aus der heraus sich Wahrnehmung und Affekt in auseinanderlaufenden Richtungen entwickeln. Dies ist von Bedeutung für die psychoanalytische Triebtheorie."41 Treffen die bisherigen Ausführungen zu, so werden offensichtlich Affekt- und Intellektstrukturen völlig gemeinsam und analog ausgebildet. Sie entstehen als Niederschlag von Erfahrung und Handlung; sie aktualisieren sich im entsprechenden Kontext und kanalisieren damit künftige Gefühle, Gedanken und Handlungen entsprechend den internalisierten Programmen. 42 Demzufolge erhalten alle kognitiven Schemata einen je spezifischen Stempel, der zusammen mit den affektiven Anteilen das eigentliche Gedächtnis ausmacht. Diese affektiven Faktoren bestimmen nicht nur, was erinnert, sondern auch, was überhaupt wahrgenommen wird, 39 Mit Recht sieht Ciompi daher seine Theorie der ,,Affektlogik" durch die Erkenntnisse über die Arbeitsteilung der Gehimhemisphären bestätigt: "Ganz ähnlich wie bei der Komplementarität von Fühlen und Denken fmden wir hier wiederum ein Zusammenspiel von zwei typisch gegensätzlichen und zugleich komplementären Funktionsweisen: die eine mehr intuitiv, umfassend, auf Ganzheiten (und also ,Simultaneitäten') ausgerichtet, die andere dagegen viel partikularer und präzise zum Umgang mit Einzelheiten geeignet. Einmal mehr scheint also in Form dieses Zweiersystems das einfachste aller möglichen Organisations- und Funktionsprinzipien zur Erfassung von typischen ,Strukturen' zur Anwendung zu kommen: Das ,rechte Hirn' steuert vorwiegend die Invarianz, das heißt etwas Umfassendes und Gemeinsames, das ,linke Hirn' dagegen die Varianz, das heißt etwas Spezifisches und Partikulares. Da beliebige Strukturen durch die Kombination einer Invarianz mit einer Varianz zureichend defmiert werden können, genügt die Registrierung beider zur operationalen Erfassung der Wirklichkeit" (Außenwelt-Innenwelt 1988,208). 40 Arnold, Emotion 1970, 169. 41 Kernberg, Objektbeziehungen 1981,62. 42 Wenn diese internalisierten Raster die künftigen Wahrnehmungen entscheidend beeinflussen, dann bestätigen sich auch die psychischen Systeme fortwährend selber. Damit weisen sie jene Rekursivität auf, die lebende Systeme als autopoietische Systeme auszeichnet. Die Folge davon ist, daß wir in unserem Denken und Handeln beständig von einem Gefüge von "Selbstverständlichkeiten" bzw. "Konstruktionen" umgeben sind. Da unser Erleben dieses Gefüge ohne Unterlaß moduliert, handelt es sich um ein "dynamisch sehr aktives Gebilde, in dem virtuell die gesamte diachrone Erfahrung zu einer synchronen Gegenwart verdichtet ist" (Ciompi, Außenwelt 1988, 178).

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und sie organisieren - worauf Kernberg hinweist - das in gleicher Stimmung Erlebte zu zusammenhängenden affektiv-kognitiven Ganzen. Hinsichtlich der Funktion eines solchen "affektlogischen" Bezugssystems dürfte außer Zweifel stehen, daß es einen zentralen Beitrag zu möglichst adäquatem und ökonomischem Handeln leistet. Das bewerkstelligt die Affektlogik dadurch, daß sie einen Auszug oder eine Abstraktion der affektiven Invarianz des Erlebten darstellt, also das handelnde Erleben mit einer relativ stabilen emotionalen ,,Färbung" auszeichnet. 43 Diese gefühlsmäßigen Tönungen unserer kognitiv bestimmten Handlungen werden zwar im Verlauf der Entwicklung oft "neutralisiert", aber können doch jederzeit wieder aktiviert werden, was die Psychoanalyse am Beispiel des "Wiederholungszwangs" aufgezeigt hat. Mit gutem Grunde vermutet daher Ciompi, daß unsere Aktivitäten aus diesem Affektanteil ihre allgemeine Orientierung und Motivierung beziehen. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er den affektlogischen Bezugssystemen spezifische Wertsysteme zuordnet. "Es ist evident, daß gerade solche Zuordnungen in hohem Maß im Dienst des Überlebens stehen: Auf diese Weise gehen erlebte Lust und Unlust, Gefahren etc. in die sich bildenden Handlungsschemata mit ein und regulieren damit das künftige Verhalten in ähnlichem Kontext. Ohne sie dagegen würden gerade die lebenswichtigen Lust-Unlust-Erlebnisse für das künftige Verhalten nicht sinnvoll verwertet."44 Wir werden weiter unten sehen, daß sich mit dem Konzept der untrennbaren Einheit von Fühlen und Denken eine Lösung des rätselhaften Problems des Willens anbahnt. U.m das zu verstehen, muß die Parallele von Fühlen und Denken um eine weitere Dimension erweitert werden. Es muß nämlich gezeigt werden, daß die Affekte in derselben Weise logisch strukturiert sind wie die Gedanken.

43 Diese emotionale "Stabilität" wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß wir das psychische System als ein plastisches System beschrieben haben. Es trifft zwar zu, daß der lebende Organismus auf äußere Invarianzen mit Veränderungen seiner inneren Struktur reagiert, womit Strukturveränderung gleichbedeutend mit einer Wahrnehmung ist. Aber die Wahrnehmung kann nur auf der Basis der vorhandenen Struktur verändern: "Um (dies) zu veranschaulichen, bietet sich etwa der Vergleich mit einem nicht ganz aufgepumpten Gummiball an, der durch einen Fußstoß deformiert wird: Auch er hat durch seine Strukturveränderung den Fußstoß gewissermaßen ,wahrgenommen'! Zugleich illustriert dieses Bild mit der Tendenz des Balles, seine ursprüngliche Rundform immer wieder anzunehmen, sehr schön die Tendenz selbstorganisierender Systeme zum elastischen Ausgleich von Deformationen" (Ciompi, ebd. 182). 44 Ciompi, Affektlogik 1986, 388. An anderer Stelle heißt es zur autopoietischen Überlebensfunktion des affektlogischen Bezugssysteme: ,,Es ist evident, daß eine solche mehr oder weniger automatisierte, das heißt mit der Zeit ganz unbewußt werdende Zuordnung von affektiven zu kognitiven Elementen vom Gesichtspunkt der Autopoiese oder Selbsterhaltung aus in hohem Maße sinnvoll ist, da dadurch die gesamte vorhergehende Erfahrung (und nicht etwa bloß ihr kognitiv-intellektueller Anteil) für das zukünftige Handeln in ähnlichen Situationen gespeichert und immer von neuem nutzbar gemacht wird" (Ciompi, Außenwelt 1988, 172).

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Kap. 2: Psychologie der Kognition b) Zur Struktur affektiv-kognitiver Bezugssysteme

aa) Affektivität der Logik Wir erinnern uns an die Behauptung der Psychoanalyse, das Streben nach Lust sei der Motor der gesamten kognitiven Entwicklung. Und wir erinnern uns desweiteren an Maturanas These, daß die kognitiven Handlungen im Dienste der Autopoiese stehende Reaktionsweisen lebender Organismen auf "Deformationen" aus der Umwelt sind. Schließlich weist auch Piaget auf den affektiven "Inprint" der kognitiven Schemata hin. 45 Nimmt man alle drei Äußerungen beim Wort, dann ist es unabweisbar, daß Emotionen bei der Bildung der Kognitionen im Spiel gewesen sein müssen. Das heißt aber auch, daß es von Anfang an so etwas wie eine Lust an der Logik geben muß. 46 Tatsächlich läßt sich beim Kinde tagtäglich beobachten, daß die Entdeckung einer "Stimmigkeit" mit einem positiven Affekt versehen ist. Bereits das Erkennen einer Regelmäßigkeit oder genauer gesagt, die Wahrnehmung einer externalisierten Ordnung ist an sich lustvoll. Dies ist schon deshalb einleuchtend, weil die Konstruktion von Invarianzen die "Deformationen" aus der Umwelt in wiederholbare und damit voraussehbare Ereignisse kanalisiert. Sie schafft ein neues Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkomodation, vermindert eine Spannung 45 In einem ähnlichen Sinn äußert sich Cobliner: ,,Es ist jedoch erwiesen, daß das Erkennen ohne affektive Beteiligung ein Kunstprodukt ist . . . Das Erkennen und die Erkenntnisvorgänge werden ausgelöst von affektiven Prozessen und Erlebnissen und sind mit ihnen verknüpft. Diese innerseelischen Kräfte üben auf die Erkenntnis einen mächtigen Einfluß aus, wirken mit an ihrer Entfaltung und treiben im allgemeinen die ontogenetische Entwicklung ebenso stark voran, wie äußere Einflüsse es tun" (zit. nach Ciompi, Affektlogik 1982, 73). 46 Wie kann man sich vorstellen, daß der Vorgang der Abstraktion (= Auszug der Invarianz als Erkennen von Gemeinsamkeiten) zur ,,Entspannung" beiträgt? Ciompi (Außenwelt 1988, 199) veranschaulicht das am Beispiel der Entwicklung eines Verkehrsnetzes, wobei er explizit auf die Analogie zu neuronalen Wegsystemen verweist: ,,In früheren Zeiten bewegten sich die Menschen auf Fuß- und Saumwegen. Infolge der Zunahme von Karren und Kutschen wurde mit der Zeit die Beschwer so groß, daß schließlich ein breites und weitläufigeres Straßennetz angelegt wurde. Mit der Inbetriebnahme von Automobilen mußte ein neues Netz von geteerten Autostraßen geschaffen werden. Nach der enormen Zunahme dieses Verkehrsmittels wurde ein neuer Sprung auf eine höhere Funktionsebene, nämlich auf diejenige der Autobahn, unerläßlich. Eine Verkehrsebene noch höherer Ordnung repräsentiert heute das Flugnetz." Dieser Vergleich illustriert den Sprung von einer tieferen auf eine logisch höhere Ebene. Er zeigt überdies klar, daß nur Unlustspannungen als Auslöser dieser Sprünge in Betracht kommen und zwar verursacht durch zu viele "Störungen" auf den unteren Verkehrsebenen. Dieser Unlust steht die ,,Funktionslust" (Ciompi) gegenüber, die eine Zeitlang durch die neu gefundenen Lösungen aktiviert wird. Der Motor der Entwicklung waren also offensichtlich die Affekte. Sie ermöglichten die Entdeckung einer höheren Funktionsebene durch einen typischen ,,Auszug von Invarianz" aus dem vorbestehenden Durcheinander. ,,Aus der Kombination dieser affektiv getönten Invarianz mit der kognitiven Varianz der Einzellösungen aber ergab sich in Form der Autobahn eine neue und bessere ,Struktur'" (Ciompi, ebd. 200).

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und beseitigt eine "Störung". 47 In dieser lustvoll erlebten Spannungslösung ist der Anreiz zur Herstellung einer Kontinuität begründet, die zu den wohlbekannten "lieben" Gewohnheiten führt. Es dürfte sehr wahrscheinlich sein, daß die ursprüngliche Freude am Rhythmischen bei der gesamten kognitiven Entwicklung des Menschen eine herausragende Rolle spielt. 48 Die Lust am Wiederholen, an der Harmonisierung, ja an jeder "Strukturierung" wäre danach das treibende Motiv der Intelligenz. Selbst bei der scheinbar gefühlsneutralen Tätigkeit des Wissenschaftlers wird diese affektive Komponente sofort sichtbar, wenn etwas nicht "aufgeht" oder nicht "stimmt". Die unlustvollen Reaktionen des Wissenschaftlers belegen hinreichend, daß es letztlich die Gefühle sind, die das Denken immerfort auf Gleichgewichtigkeiten, auf "Stimmigkeiten" hinleiten. 49 bb) Logik der Affektivität Umgekehrt wissen wir, daß die Gefühle auf kognitive Unstimmigkeiten sehr empfindlich reagieren. Die modeme Schizophrenieforschung hat in eben solchen kognitiven Dissonanzen einen Ansatz zur Erklärung von bestimmten pathologischen Reaktionen ausgemacht. 50 Insgesamt ist freilich über die logischen Komponenten der Affektivität bis heute wenig bekannt. 47 Diese ,,Lust" tritt zweifellos dann auf, wenn etwas "stimmt", wenn etwas "aufgeht" , wenn eine implizite Hypothese bestätigt wird. So berichtet z. B. Piaget von der Freude seiner kleinen Tochter, als sie einen versteckten Bleistift am vermuteten Ort wiederfand. Ebensolche Befriedigung zeigen Erstklässler beim Erfassen von so fundamentalen reziproken "Stirnmigkeiten" wie 1 + 1 =2 / 2-1 = I oder 2x2=4 / 4: 2=2 etc. Forscher berichten von der Euphorie, in die sie geraten sind, wenn sich die Teile eines Puzzles plötzlich zu einem Ganzen fügen (vgl. etwa die Schilderung von James Watson über die Entdeckung der Doppelspiralstruktur der Gene, Doppel-Helix 1969). Ciompi dazu: ,,zumindest spekulativ dürfen wir vermuten, daß diese ,Lust an der Harmonisierung', die ja immer auch eine Spannungslösung und Ökonomisierung bedeutet, bei der gesamten intellektuellen Entwicklung des Menschen, ja bei jeder ,Strukturierung' überhaupt ... eine entscheidende Rolle spielt" (Affektlogik 1982, 72). Damit stimmt die These von EIlis überein, daß Emotionen großenteils aus Denkvorgängen hervorgehen und daß man sie deshalb über Gedanken beeinflussen kann (vgl. Rational-emotive Therapie 1982,55; vgl. dazu auch Warga, Denken 1988, 29). 48 Alles hat, wie man in Anlehnung an Gebsattel (Zeiterleben 1954) sagen kann, eine "gelebte Eigenraumzeit", d.h. es entsteht, verändert sich und vergeht gemäß seinen je eigenen, spezifischen Rhythmen. Diese "inneren Uhren" oder ,,hormonalen Biorhythmen" beeinflussen in hohem Maße viele Verhaltensbereiche vom Schlafverhalten bis zur allgemeinen Stimmung; vgl. hierzu Hall, Danse 1984. 49 Im Zusammenhang mit den Widersprüchen, in die sich die theoretische Physik zu Beginn des Jahrhunderts hinsichtlich des "Weltäthers" verstrickt hatte, schrieb Einstein: ". .. das sind zwei Resultate, die einander zu widersprechen scheinen, und es war ungeheuer schmerzlich für die Physiker, daß man diesen unangenehmen Zwiespalt nicht loswerden konnte" (Relativitäts-Theorie 1911, 6). Die Lösung dieser Unlustspannung war dann die Relativitätstheorie. so Kierkegaard sagte: "Gesundheit ist das Vermögen, Widersprüche zu lösen, so leiblich wie psychisch." Die modeme Schizophrenieforschung hat diesen Gedanken dahingehend verallgemeinert, daß der Psyche (und dem ganzen lebenden Organismus)

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~ap.

2: Psychologie der Kognition

Wenn auch bislang ein schlüssiges kognitives Konzept der Gefühle nicht existiert, so hat Freud doch ein eindrucksvolles Material zur impliziten Logik des Trieb- und Affektlebens vorgelegt. 51 Er hat zahlreiche "affektive" Operationen beschrieben, die den logischen Denkprozessen sehr nahe stehen. So sind zum Beispiel bei den psychischen Phänomenen der "Umdrehung ins Gegenteil", der "Verneinung" und "Verleugnung", der ,,Abspaltung", der "Verdichtung" und "Verschiebung", der "Projektion" und "Introjektion" die strukturellen Analogien zur logischen Reversion und Negation, zur Implikation und Exklusion etc. unverkennbar. 52 Besonders die formal zur logischen Reversibilität gehörenden Operationen lassen sich mühelos im affektiven Bereich nachweisen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß der Patient im Verlauf seiner Analyse regelmäßig mit fundamentalen Ambivalenzen konfrontiert wird. Er lernt oft nur mit größter Mühe zu verstehen und schließlich zu akzeptieren, daß zu jedem geäußerten Gefühl ein verstecktes Gegen-Gefühl existiert, daß erst das zum Teil gehörige Gegen-Teil ein Ganzes ausmacht. Liebe ist nicht ohne Haß, Lust nicht ohne Angst, Freude nicht ohne Schmerz denkbar: Das eine bedingt das andere. 53 die Aufgabe zukomme, "Störungen" auszugleichen, bzw. in kybernetischer Sprache Informationen zu verarbeiten. In der Tat bezeichnet denn auch Ciompi (Schizophrenie 1988) die affektiv-kognitiven Bezugssysteme als informationsverarbeitende Systeme. Er kann sich dabei auf die Resultate der modemen Krisenjorschung (vgl. Jakobson, Crisis intenvention 1974; Sifneos, Crisis intervention 1980) beziehen, wonach Mißverhältnisse zwischen Anforderungen und Verarbeitungskapazität praktisch ubiquitär zu psychopathologischen Störungen in Form nervöser Gespanntheit, Unsicherheit, Angst und Ambivalenz führen, die sich progressiv über Aggressivität oder Depressivität zu affektivkognitiver Verwirrung, ja schließlich zu Depersonalisations- und Derealisationserscheinungen steigern können. Dieser Informationsverarbeitungshypothese der Schizophrenie zufolge ist grundsätzlich jeder Mensch psychosefähig, allerdings sind die individuellen Schwellenwerte hinsichtlich der Streßempfindlichkeit außerordentlich variabel (vgl. Ciompi, Schizophrenie 1985,59; Ciompi, Hubschrnid, Psychologie 1985, 115; Ciompi, Affektlogik 1986, 399; Hubschmid, Schizophreniebehandlung 1988,44). Gestützt werden diese Hypothesen auch durch die Ergebnisse der Life-events-Forschung: Akut schizophrene, depressive und andere Krisen gehen bekanntlich statistisch signifikant mit besonderen Lebensereignissen, die Wechsel und Neuanpassung implizieren, einher (vgl. Dohrenwendt u. a., Life events 1981, 12). 51 Die ,.Logik" besteht u. a. in der durchgehenden Determiniertheit des Trieb- und Affektlebens, die uns Freud eindrücklich vor Augen geführt hat. 52 Alle diese logischen Operationen mit Affekten entspringen wie gesagt - der Unlustspannung: "So wird begreiflich, daß widersprüchliche Gefühle und Gedanken unter dem Einfluß der alles regulierenden Tendenz nach Ausgleich und Abbau von Spannungen so zurechtgebogen werden müssen, daß wenigstens ein Anschein von Gleichgewicht entsteht ...", Ciompi, Affektlogik 1982, 88. Die kognitive Therapie "bearbeitet" dementsprechend "Denkfehler" (Beck) oder "irrationale Ideen" (EIlis), die zu emotionalen Spannungen geführt haben. 53 Nach Piaget besteht die Hauptschwierigkeit bei allen ,,majorisierenden Äquilibrationen" immer wieder in der Integration des Gegenteils bzw. in der Integration der zugehörigen affektiven Negation: "Spontan tendiert der Geist dazu, sich auf die Affirmationen und positiven Eigenschaften der Objekte zu konzentrieren, während die Negationen vernachlässigt sind oder sekundär mühsam konstruiert werden. Da sie aber für alle Formen von Äquilibrationen nötig sind, können diese nur mit viel Schwierigkeiten

II. Fühlen

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Wie wir im kognitiven Bereich der Wahrnehmungen gesehen haben, bedarf Erkennen der Unterscheidung zwischen mindestens zwei Polen oder Gegensätzen. Am Beispiel des Figur-Hintergrund-Problems ist aufgezeigt worden, daß wir ohne ein entsprechendes Gegen-Teil überhaupt nichts wahrnehmen können. Ebenso verhält es sich mit jedem intensiven Gefühlserlebnis. Nur auf dem Hintergrund seines Gegenteils ist emotionales Empfinden möglich. Nur das Ausgespanntsein zwischen Polaritäten oder "Differenzen" vermag Wahrnehmung überhaupt zu konstituieren. 54 Aus diesem Grunde sind gewisse Pendelbewegungen nach beiden Seiten unabdingbar, soll nicht affektiver und kognitiver Stillstand eintreten. Mit dieser Überlegung ist eine interessante Brücke zu dem bereits besprochenen Phänomen der "Ordnung durch Fluktuation" geschlagen. Ebenso wie chemische Reaktionssysteme vermag auch die Psyche Stabilität nur durch Wandel und Bewegung zu erreichen. Sucht sie demgegenüber Ordnung durch Fixierung auf ein Gefühlselement durchzusetzen, Gleichgewicht also durch Rückkehr zu einem Anfangszustand zu erreichen, wird sie ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit verlieren. Dasselbe kann aber auch - in Analogie zum Zustandekommen "dissirealisiert werden, und ihre Ausarbeitung beansprucht entsprechend viel Zeit" (Äquilibration 1976,20). Daß erst die Einsicht in die fundamentale Zweiseitigkeit (Reversibilität) aller Sachverhalte auch im Gefühlsbereich einen Reifungsschritt von erstrangiger Bedeutung darstellt, läßt sich in der Psychotherapie alltäglich nachweisen: ,,Ein Patient beteuert z. B. stundenlang seine Kleinheit und Wertlosigkeit - die von Anfang an untergründig mitschwingenden symmetrisch dazugehörenden Größenphantasien und -hoffnungen kommen einige Stunden später in voller Klarheit zum Vorschein" (Ciompi, Affektlogik 1982,74). 54 Berücksichtigt man, daß selbst die anorganische Welt der Physik eine solche fundamentale Polaritätenstruktur aufzuweisen scheint - sie ist z. B. aus lauter elektrischen ,,Positivitäten" und ,,Negativitäten" aufgebaut, sie besteht aus der Dualität bzw. Identität von Masse und Energie, Materie und Antimaterie etc. - , so dürfte Ciompis Vermutung auf den ersten Blick nicht von der Hand zu weisen sein, daß in den beschriebenen Phänomenen "ein generelles, vielleicht überhaupt ein ubiquitäres Bauprinzip alles Bestehenden zum Ausdruck kommt" (ebd. 75). Korrekter (im Sinne des Konstruktivismus) müßte es heißen, daß das ubiquitäre Bauprinzip unseres Erkenntnisapparates zum Ausdruck kommt. Ciompi ist hier anderer Auffassung. Er verkennt damit freilich, daß man nicht an der autopoietischen Organisation des Lebendigen festhalten kann, ohne gleichzeitig deren epistemologische Konsequenzen zu akzeptieren. Ciompi (Außenwelt 1988, 263) schreibt: "Allerdings ist der Einwand möglich, daß diese ganze, von uns wahrgenommene Doppelstruktur der Welt bloß auf unserer ebenfalls dualistischen Himorganisation beruhe: Da wir eine dualistische Brille tragen, vermögen wir die Welt nicht anders als zwiefach zu sehen. Obwohl dieser Einwand logisch unwiderlegbar ist, halte ich ihn angesichts der überwältigenden physikalischen Evidenz für ein tatsächliches Vorliegen der besagten Polaritäten für wenig stichhaltig, auch angesichts der Tatsache, daß wir die Wirklichkeit nur aufgrund von Differenzen wahrzunehmen vermögen, wäre seine Annahme wohl gleichbedeutend mit dem Verzicht auf irgendwelche Welterfassung." Die konstruktivistischen Argumente gegen den Solipsismus haben wir bereits angeführt. Im übrigen ist gegen Ciompis Konstruktion einer "dualistischen Welt" nichts einzuwenden, solange sie als eine unabdingbar komplementäre Welt aufgefaßt wird, in der die Teile erst miteinander das Ganze ausmachen. Diese Sicht vermehrt zweifellos die Handlungsmöglichkeiten, weil sie den Standpunkt des Entweder-Oder vermeidet. Aber sie darf ihren "Gewinn" nicht dadurch verspielen, daß sie ihr operationales Wissen "objektivistisch" begründet und damit ein erneutes Entweder-Oder begründet.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

pativer Strukturen" - durch allzu raschen Wechsel zwischen völlig gegensätzlichen psychischen Befindlichkeiten geschehen. Ein solcher abrupter Wechsel spielt nach Auffassung von Ciompi eine wichtige Rolle beim "Überschnappen" affektlogischer Bezugssysteme ins Psychotische. 55 Neben der Logik, die in der fundamentalen ,,zweiseitigkeit" aller affektiven Sachverhalte enthalten ist, gibt es eine weitere Parallele zum kognitiven Bereich, auf die schon Piaget aufmerksam gemacht hat. 56 Nach Piaget deutet - wie wir gesehen haben - alles darauf hin, daß sich die Affekte parallel zu den kognitiven Strukturen differenzieren: Von angeborenen, zunächst ganz an die momentane Situation gebundenen Gefühlsempfindungen (im ersten Lebensjahr) entwickeln sich die Emotionen über eine der kognitiven "Dezentration" und "Objektkonstanz" vergleichbare ,,Affektdezentration und -konstanz" (im zweiten Lebensjahr) allmählich weiter bis zu weitgehend stabilen "semi-normativen" (im siebten oder achten Jahr) und schließlich voll "normativen" operationalen Gefühls- und Wertsystemen (in der Adoleszenz), die analog den kognitiven Operationen dezentriert und reversibel sind. Auf diese Weise entsteht eine affektive Hierarchie, in der die übergeordneten Affekte mit dem übergeordneten kognitiven Ganzen korrespondieren. 57 Als Beispiel wäre nach Ciompi an die Internalisierung von moralischen Gefühlen zu denken, die durch hierarchisch so verschiedene Entitäten wie eine einzelne Person, ihre Familie, die Volksgruppe oder die Nation aktiviert werden. 58 Die Reversibilität derartiger Gefühls- und Wertsysteme erblickt Piaget in ihrer Reziprozität im zwischenmenschlichen Verkehr und im gegenseitigen Respekt. Genau wie die Psychoanalyse mit ihrem Konzept der ,,reifen" Objektbeziehungen betont somit Piaget die Rolle der Gefühle als "Regulatoren" im Umgang mit Menschen und mit Gegenständen. Die übergeordneten Gefühle, die sich wie die moralischen, religiösen oder ,,kosmischen" Gefühle an umfassende Ganzheiten heften, würden danach die untergeordneten Gefühle ,,regulieren" oder präziser gesagt determinieren. 59 Ciompi, Affektlogik 1982, 119. Vgl. dazu die Sammlung von Vorlesungen an der Sorbonne aus den Jahren 195354 mit dem Titel "Intelligenz und Affektivität": ,,Es ist unmöglich, ein Verhalten zu finden, das nur affektiv und ohne irgendwelche kognitiven Elemente wäre. Ebenso unmöglich ist es, ein nur aus kognitiven Elementen bestehendes Verhalten zu fmden" (Intellegence 1981,41). 57 Schon das Kleinkind zeigt nach Piaget eine deutliche Hierarchie von Lustgefühlen, die " ... von der einfachsten, körperlich lokalisierten Varietät bis zu höchst komplexen und elaborierten Aktivitäten wie den mit Greifen oder Schwingen eines Objekts etc. verbundenen Formen von Funktionslust reicht. Funktionelle Lustgefühle aller Art differenzieren sich im Verein mit der Differenzierung der Aktivitäten selber" (ebd. 22). 58 ,,Je differenzierter die kognitive Strukturierung, desto nuancierter und stabiler wird ebenfalls die affektive Organisation. ,Höhere' oder ,übergeordnete' Gefühle aber können sich evidenterweise nicht bilden, bevor die entsprechenden kognitiven Überbegriffe (z.B. Familie, Gruppe, Staat etc.) erworben sind. Sogenannte ,Wertbegriffe' sind somit eigentlich nichts anderes als verfestigte positive oder negative Gefühle, die sich mit zunehmender Konstanz an die entsprechenden kognitiven Konzepte heften", Ciompi, AußenweltInnenwelt 1988, 194. 55

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11. Fühlen

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Mit dieser durchgehenden Detenniniertheit des affektiven Bezugssystems ist die implizite Logik des Gefühlslebens vor Augen geführt. Ein anderer Aspekt der Affektlogik bleibt noch zu diskutieren: Denken und Fühlen stellen selber eine grundlegende Art von komplementären Gegen-Teilen dar. Worin liegen ihre Gemeinsamkeiten und ihre Unterschiede? Auf diese Frage läßt sich eine befriedigende Antwort finden, wenn wir das Konzept der Affektlogik auf seine Kompatibilität mit den Anschauungen Maturanas hin überprüfen. c) Affektlogik und Autopoiese

Aus kognitionstheoretischer Sicht erscheinen Affekt und Intellekt als zwei gleichennaßen im Dienst der Autopoiese stehende Reaktionsweisen lebender Organismen auf ,,Perturbationen" aus der Umwelt. Die entscheidende Gemeinsamkeit von Fühlen und Denken besteht demnach darin, daß es sich bei beiden um ,,Kognitionen" im weitesten Sinne handelt, die als ebenbürtige überlebensnotwendige Erfassungsmodi der begegnenden Umwelt zu begreifen sind. 60 Diesen kognitiven Aspekt der Gefühle, der in erster Linie in der Selbsterhaltung der innerpsychischen Prozesse besteht, haben wir soeben näher betrachtet. 61 Als Resümee ist danach festzuhalten, daß· nicht nur das Denken, sondern auch das Fühlen als ein hochkomplexes Infonnationsverarbeitungs- und Regulationsorgan verstanden werden muß, das sich im Austausch zwischen Organismus und UmS9 Im selben Zusammenhang spricht Piaget von "seminonnativen", ,,nonnativen" und schließlich von "idealistischen" Gefühlen, die sich in der präoperationalen, konkretoperationalen und fonnal-operationalen Phase allmählich ausbilderi. Sie entwickeln sich von konkreten Einzelsituationen (z.B. R~spekt vor Spielregeln) über generellere Regeln (z.B. Gerechtigkeit) bis zu ,,höheren" Uberzeugungen ideologischer, politischer oder religiöser Art. Erst in der Fähigkeit zu zwischenmenschlicher Reziprozität findet Piaget schließlich das affektive Gegenstück zur intellektuellen Fähigkeit der Dezentration und Reversibilität; vgl. Piaget, Intelligence 1981, 49, 55, 70; siehe auch Übersicht 5. 60 Damit vertritt das Konzept der Affektlogik von vornherein einen ganzheitlichen Standpurikt. Es geht davon aus, daß die einzelnen Elemente des affektiv-kognitiven Bezugssystems, "in welchem sowohl emotional-körperliche wie auch kognitiv-geistige Elemente zu einem untrennbaren psychophysischen ,Schaltkreis' und Gesamtsystem verschmolzen sind, im Regelfall nur miteinander in Erscheinung treten können" (Ciompi, Affektlogik 1986, 379). Demgegenüber bemüht sich die Emotionspsychologie, den Begriff ,,Emotion" stärker vom Begriff des Derikens abzugrenzen und ihn in eine Vielzahl von Untergruppen aufzusplitten (vgl. Euler, Mandl, Emotionspsychologie 1983). Eine weitere, viel diskutierte Frage ist ferner, ob Gefühle eher zentralnervöse oder eher peripherkörperliche Ursprünge hätten. Die klassische Theorie von Lange (Emotion 1922) vertrat die erstere These ("wir sind traurig, weil wir weinen"), während Schachter und Singer (Emotional states 1962,379) eher den Primat kognitiver Vorgänge betonen. Im Konzept der Affektlogik lassen sich dagegen Fühlen und Deriken nicht oder allenfalls zu analytischen Zwecken ,,künstlich" scharf trennen. 61 Im Hinblick auf die Integration von Intellekt und Affekt ist es wohl das zentrale Verdienst von Ciompi, diesen ,,kognitiven" Aspekt der Gefühle herausgearbeitet zu haben. Weder Piaget noch die Psychoanalyse haben die ,,Logik der Affekte" berücksichtigt. EIlis geht wohl (zu Unrecht) über Ciompi hinaus, wenn er Deriken und Fühlen für essentiell identisch hält (vgl. Rational-emotive Therapie 1982, 52).

11 Kargl

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

welt entwickelt und zu einem immer besser äquilibrierten "interaktiven System" ausdifferenziert. Bei dem "psychischen Bereich" muß demnach von einem Gesamtsystem ausgegangen werden, das durch zunehmende Verdichtung von "Information" zustandekommt und dessen Spezifität im autopoietischen Gesamtorganismus in Regulationsprozessen höherer Ordnung liegt. Fühlen und Denken tragen jedoch auf sehr unterschiedliche Weise ihrer Funktion als Regulatoren und Orientierungsmodi Rechnung. Die anschließende Auflistung greift nur die wichtigsten Differenzen heraus. Die wohl auffälligste Divergenz in der Erfassung von Umweltreizen besteht darin, daß Gefühle mit körperlichen Veränderungen einhergehen, während solche beim Denken fehlen können. Dies erklärt Ciompi damit, daß das Gefühl unmittelbare Erlebnisse verarbeitet, die Gedanken hingegen "geistige" Relationen erfassen. Ob Denken ohne Körperbezug überhaupt möglich ist, mag bezweifelt werden. 62 Daß aber das Fühlen einen ungleich stärkeren Bezug zu körperlichen Begleiterscheinungen biochemischer Art besitzt als das Denken, belegen die Ergebnisse physiologischer Forschung. Lazarus und seine Mitarbeiter vermuten sogar, daß bestimmten Gefühlen bestimmte körperliche Erregungsmuster zugeordnet werden können. 63 Danach gäbe es ein bestimmtes ,,Profil" physiologischer Reaktionen für jedes Gefühl. Untersuchungen zur Psychosomatik und psychoanalytisches Fallmaterial weisen in dieselbe Richtung. 64 Übereinstimmend wird berichtet, daß sich bestimmte Gefühle je nach individuellen Erfahrungen mit verschiedenen Körperbereichen verbinden können: Bei einem vielgeschlagenen Kind etwa lokalisieren sich Ängste vor allem in der Haut und in der Muskulatur. Auch das Konzept der Affektlogik rechnet mit der durchgehenden Simultaneität von Fühlen und körperlichen "Gestimmtheiten": Wenn die Psyche als ein ganzheitliches Funktionssystem mit affektiv-körperlichen und kognitiv-geistigen Anteilen verstanden wird, dann muß jedes (auch nur innerpsychische) Ereignis alle Elemente des affektlogischen Bezugssystems aktivieren. 65 62 Die Umgangssprache jedenfalls verlegt die Gefühle ganz eindeutig in den Körper: "Sie sitzen ,im Herzen', in der Magengrube und in den Gedärmen, sie ,kriechen über die Leber', der Körper ,zerplatzt vor Wut' oder ,erstarrt vor Entsetzen'. Die Angst macht ,Schiß' , und die Überraschung ist ,haarsträubend' usw." (Ciompi, Über Affektlogik 1982, 252). Seit Selyes Lehre vom Streß wissen wir, in welchem Ausmaß sich das Volkswissen bestätigt hat. Danach affizieren Gefühle auf chemischem Weg den Körper, indem sie je nach Affektlage gewisse Hormone (z.B. Adrenalin und Noradrenalin) ins Blut ausschütten, die eine Unzahl von körperlichen Veränderungen ("Umstimmungen") im Gefäßsystem, an der Muskulatur und in allen Organsystemen bewirken. 63 Lazarus, Kanner, Folkman, Theory 0/ emotion 1970,207. Diese Hypothese erscheint aus der Sicht der Affektlogik recht wahrscheinlich, da sich nach diesem Konzept die affektiv-kognitiven Bezugssysteme von angeborenen Anlagen aus aufgrund von individuellen Lemgeschichten entwickeln. 64 Vgl. Alexander u. a., Psychosomatik 1968; Bräutigam, Krankheit 1981. 65 Dies ist der Grund dafür, weshalb die kognitive Psychotherapie hoffen kann, über die Attackierung von Einstellungen, Denksystemen, Ideen etc. die Gesamtperson zu erreichen (vgl. Beck, Kognitive Psychotherapie 1978, 195).

II. Fühlen

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Ein weiterer Unterschied zwischen Fühlen und Denken leitet sich unmittelbar aus der Körpernähe der Gefühle ab. Das gefühlshafte Erfassen der Umwelt muß als umfassende psychophysische Reaktion des ganzen Organismus aufgefaßt werden. Diese erzeugt eine ganzheitliche "Gestimmtheit" von relativer Invarianz, auf die sich - wie Ciompi sagt - die wechselnden gedanklichen Inhalte dann gewissermaßen als Varianz aufmodulieren. 66 Aus dem regelhaften Wechselspiel von bestimmten Invarianzen mit Varianzen entstehen die psychischen "Strukturen" oder das System der Psyche. In enger Beziehung zur Ganzheitlichkeit der Gefühle steht deren deutliche Verbindung zu mehr intuitiven, analogischen, ,,rechtshirnigen" Erfassungsweisen der begegnenden Wirklichkeit. Während Fühlen die Kognitionen zur Synchronie, zum Bild und zum Raum ordnet, ist das Denken mehr der sprachlichen und zeitlichen Erfassungsweise (diachron-sequentiell) des linken Großhirns zuzuordnen. 67

66 Die relative Invarianz der Gefühle läßt sich dadurch veranschaulichen, daß die affektiven Botschaften vorwiegend (zum geringeren Teil auch über das periphere Nervensystem) den Körper mit der Geschwindigkeit des Blutes (durch Ausschüttung der Hormone ins Blut) durchfluten und deshalb im Vergleich zur elektrischen Geschwindigkeit, mit der kognitive Botschaften im Gehirn transportiert werden, sehr langsam ablaufen. Ciompi stellt dazu fest: "Die physikalischen Vorgänge, die mit dem Ablauf affektiver Prozesse einhergehen, dürfen in gewissem Sinn mit einer recht trägen ,Grobmechanik' oder ,Starkstromtechnik' verglichen werden, während rein kognitive, denkerische und geistige Prozesse sich sozusagen auf hochgradig verfeinert:~, mit schwächsten Strömen arbeitende neuronale ,Mikroelektronik' stützen können" (Uber Affektlogik 1982,254). 67 Vgl. zu den Entsprechungen "rechtshirnig" = ganzheitlich, räumlich, synchron, "linkshirnig" = partiell, zeitlich, diachron die Arbeiten von Hoppe, Gehirnhälften 1975, 919; Simon, Evolution 1983, 520; Gazzaniga, LeDoux, Kognitive Prozesse 1983. Ciompi (Außenwelt-Innenwelt 1988, 250) hat diese "psycho-physischen" Entsprechungen zu einem Gesamtbild, zu einer "allgemeinen psycho-physischen Feldtheorie" zu ordnen versucht: Die Parallele zwischen physikalischen und psychologischen Phänomenen erblickt Ciompi entsprechend der üblichen Definition des Feldbegriffs (vgl. Lewin, Field theory 1951) darin, daß beide ein ausgedehntes Gefüge von Wirkungen und Beziehungen darstellen, die von gewissen ,Verdichtungen' oder ,Knotenpunkten' ausgehen". Gerade wegen der Feldwirkungen aller materiellen wie geistigen Phänomene hält es Ciompi für natürlich, beide als "Bezugssysteme" zu verstehen: "Denn beide stellen effektiv ausgesprochene Verdichtungen dar: Die materiellen ,Knotenpunkte' sind Verdichtungen von Energie, und die psychischen ,Knotenpunkte' (Begriffe etc.) sind Verdichtungen von Information! Zu den Wirkungen aber ... gehört wesentlich, daß sie ganz bestimmte ,Bezüge' schaffen, d.h. daß sie ihre Umgebung ,anziehen' und beeinflussen ... Materielle Bezugssysteme beliebiger Größenordnung üben bekanntlich eine Schwerkraft aus ... Sie ziehen in ihrem Einflußbereich sämtliche materiellen ,Ereignisse' im weitesten Sinn mit Einschluß des Lichts an und ,krümmen' insofern, wie wir gesehen haben, sogar Raum und Zeit um sich herum. Mit anderen Worten, sie drängen den umliegenden Ereignissen sozusagen etwas von ihrem ,Eigenraum " von ihrer ,Eigenzeit', und damit von ihrer ,Eigenwahrheit' auf. Genau dasselbe passiert nun im Umkreis von psychischen Bezugssystemen: Wie schon erläutert, wirken alle zu bestimmten Begriffen oder ,Prograrnrnen' kondensierten Erfahrungen mit ihren spezifischen denk- und gefühlsmäßigen Komponenten in der Folge wie vorgestellte Raster oder ,Wahrheitssysteme', durch die hindurch wir zwangsläufig alles Begegnende wahrnehmen und beurteilen" (AußenweltInnenwelt 1988,251).

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

Wenn diese Entsprechungen zutreffen, dann dürfte als einigermaßen gesichert gelten, daß das gefühlshafte Erfassen der Umwelt phylogenetisch viel älter ist als das Denken. Es gehört dann den primitiveren Hirnregionen des Stamm- und Zwischenhirns sowie dem limbisehen System an. Gefühle wie Trauer, Freude oder Gleichgültigkeit finden sich ja bereits bei höheren Säugetieren. 68 Das eigentliche Denken ist dagegen an den hochdifferenzierten Neokortex gebunden und erst beim Primaten in rudimentärer Form ausgebildet. Über die zahlreichen Querverbindungen der beiden Gehirnhälften läßt sich - wie bereits dargestellt ein weiteres Mal die Auffassung von der Komplementarität von Fühlen und Denken stützen. Zum Abschluß dieses Kapitels sei die Quintessenz der "Affektlo'gik" in Ciompis eigenen Worten wiedergegeben: ,,zusammenfassend erscheint somit das Denken in vielerlei Hinsicht gewissermaßen als Gegenpol oder Gegen-Teil des Fühlens. Alles spricht dafür, daß es sich entwicklungsgeschichtlich als solches aus ersterem herausdifferenziert hat. Beide Erfassungs- bzw. Erlebensweisen sind ,Verarbeitung von Information' oder, um mit Maturana zu reden, Reaktion des autopoietischen Gesamtsystems auf Deformationen, was gleichbedeutend ist mit Kognition in einem weiten Sinn. Sie verarbeiten Umweltreize in komplementärer Weise: Das Gefühl perzipiert in erster Linie Ganzheiten, das Denken Teile; aus ihrem regelhaften Zusammenwirken ergeben sich geordnete psychische Strukturen bzw. Systeme. In ihrem Zusammenspiel ,orten' (bzw. ordnen) beide Erfassungsweisen die begegnende Wirklichkeit optimal ökonomisch wie zwei Schnittlinien einer Peilung: Das phylogenetische ältere, körpernahe, deutlich trägere und unschärfere, aber viel umfassendere ,Fühlsystem' auf der einen Seite verleiht dem entsprechenden operationellen ,Bild' der Wirklichkeit gewissermaßen Tiefe und Ganzheitlichkeit, während das phylogenetisch jüngere, körperfeme, abstraktere, präzisere, aber auch viel punktuellere ,Denksystem ' zu seiner Schärfe beiträgt. Es ist klar, daß die resultierende ,Tiefenschärfe' eminent im Dienst des Überlebens, d. h. der Autopoiese steht." 69 Insgesamt haben die vorangegangenen Überlegungen gezeigt, daß "Differenzen" zu "Differenzierungen" und "Differenzierungen" zu "Strukturen" führen, des weiteren, daß "Strukturen" und "Systeme" praktisch identisch sind und generell als ,,Produkt aus einer Invarianz und einer Varianz" definiert werden können. Die äquilibrierten affektiv-kognitiven Schemata können als typische Strukturen bzw. Systeme in diesem Sinn aufgefaßt werden; sie stellen zugleich affektlogische Bezugssysteme dar, die einerseits aus dem Umgang mit der begegnenden Wirklichkeit entstanden sind und andererseits den Umgang mit ihr konditionieren. Die ganze Psyche besteht offenbar aus einem hierarchischen Gefüge von derartigen Bezugssystemen. Manches spricht dafür, daß ihre Struktur letztlich polarbinären Charakter hat. 70 Und noch einmal Ciompi im Hinblick auf die Raum- und Zeitstruktur der Psyche: "Der psychische Bereich, charakterisiert durch die Verdichtung von 68 69 70

Vgl. Ciompi, Über Affektlogik 1982, 256. Ciompi, Affektlogik 1986, 382. Ciompi, Affektlogik 1982, 121.

H. Fühlen

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Infonnation über konkrete Ereignisse zu einem abstrakt-immateriellen, geistigen Gefüge von Relationen, kann ebenso wie der konkrete Bereich der materiellen Physis als ein komplexes Feld von Transaktionen zwischen einem ganzen Universum von größeren und kleineren ,Knotenpunkten' (= einzelnen ,Begriffen', oder ,Konzepten') verstanden werden. Vergleichbar einzelnen Himmelskörpern oder Materieteilchen vereinigen sich mehrere solche ,Knoten' zu Bezugssystemen verschiedener Ordnung. Ganz ähnlich wie das materielle Universum scheint ebenfalls dieses ,innere Universum' in ständiger, selbstorganisatorischer Expansion begriffen zu sein. Ferner bildet offenbar diese spiegelbildliche psychische ,Gegenwelt' in gleicher Weise wie das materielle Universum einen endlichen Zeit-Raum-Geschehenszusammenhang - eine geschlossene ,Kapsel' oder ,Blase' , könnte man wiederum sagen, im ,Nichts' (= im Ungeistigen). Beide Universen haben als Ganze ihre Eigenzeit und ihren Eigenraum (beziehungsweise ihren Eigen-Zeit-Raum). Diese übergeordneten Zeiten und Räume entstehen aus dem Total sämtlicher Ereignisse (= Veränderungen), die in beiden Bereichen stattfinden. Sie stellen Oberbegriffe, basierend auf übergeordneten Invarianzen davon, dar. Die physische und psychische Welt sind in komplexer Weise untereinander reziprok strukturell gekoppelt. Zugleich sind beide hierarchisch unterteilt in eine ungeheure Fülle von einzelnen, sozusagen ,lokalen' Geschehenszusammenhängen mit ihren je lokalen Eigenzeiten und -räumen, und damit auch mit ihren beschränkten ,Eigenwahrheiten'. Jeder solche Geschehenszusammenhang bildet darin ein eigenes, mehr oder weniger abgegrenztes ,Bezugssystem'''. 71

3. Wille a) Einleitung

In diesem Kapitel geht es darum, die Linie des Konzeptes der Affektlogik bis zu jenem Phänomen auszuziehen, das gemeinhin Wille genannt wird. Es geht also nicht um eine systematische Auseinandersetzung mit der weit zUTÜckreichenden philosophischen Kontroverse, die mit den Stichworten Willensfreiheit oder Detenninismus belegt ist. 72 Zwar wird der Argumentationsgang erweisen, daß 71 Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988, 277. Mit dem Konzept der Affektlogik läßt sich die entscheidende Bedeutung des Kognitiven zum Verständnis menschlicher Probleme erklären. Der Psychoanalytiker Arieti hat denn auch die Kognition als das ,,Aschenbrödel" auf dem Gebiet der Psychiatrie bezeichnet. Er führt aus: ,,Ein großer Teil des menschlichen Lebens hat mit begrifflichen Konstrukten zu tun. Es ist unmöglich, einen Menschen ohne so wichtige kognitive Konstrukte wie das Selbstbild, die Selbstachtung, die Selbstidentität und Identifizierung, seine Hoffnungen und Selbstprojektionen in die Zukunft zu verstehen" (Psychiatrie theory 1968, 1637). Das ist die philosophische Position der Stoa, die von Epiktet im ,,Handbüchlein der Moral" so dargelegt wurde: "Die Menschen werden nicht durch Dinge beunruhigt, sondern durch die Ansichten, die sie darüber haben." 72 Philosophiegeschichtliche Überblicke geben z. B. Pothast, Einleitung 1978; ders. Freiheitsbeweise 1987, 65; Schnädelbach, Vernunft 1987, 99; Pieper, Das Gute 1986,

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

eine Affektlogik, die auf Maturana aufbaut, Bedeutsames zur Lösung dieses Streits beizutragen hat, aber die Dimension der Arbeit würde in jeder Hinsicht gesprengt, wenn die Positionen von Leukipp bis zur Sprachanalyse oder zur negativen Dialektik referiert und auf ihre Relevanz oder Irrelevanz für den affektlogischen Begriff des Willens hin überprüft würden. 73 Soweit dennoch philosophische Denker zu Wort kommen, soll in erster Linie danach gefragt werden, ob deren Begriff von Freiheit die Last der herkömmlichen Verantwortlichkeit und damit der zurechnenden Reaktionen zu tragen imstande ist. Von Interesse wird also die Funktionalität des jeweiligen Freiheitsverständnisses im Kontext sozialer Zurechnungsprozesse sein. Nur in diesem Kontext macht denn auch die Rede von Freiheit Sinn. Es ist kein Zufall, daß die großen Ethiker der Philosophiegeschichte in aller Regel zu den Befürwortern irgendeiner "starken" Freiheit und zugleich zu den Verteidigern eines Typs von sozialen Folgen zählen, die sich an den Begriff Verantwortlichkeit binden. Dieser Begriff wird von vielen Autoren aus einer 277; Vossenkuhl,Praxis 1986,246; Zillmer, Wille 1987, 1223; M. Köhler,Fahrlässigkeit 1982, 151; Dreher, Willensfreiheit 1987, 61; Jescheck, Strafrecht 1988, 366. 73 Andeutungsweise sei hier lediglich angeführt, daß seit den Anfängen einer philosophischen Psychologie die Wahrnehmung, das Fühlen und das Begehren stets als ein ,,Erleiden der Seele" (pathos, lat. passio - Leidenschaft) aufgefaßt werden, also als eine Fremdbestimmung durch Affekte. Legt man diese Dreiteilung des ,.Nichtvernünftigen" im Menschen zugrunde, dann nimmt der Gegensatz zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen die Form dreier Gegensatzpaare an: Vernunft und Sinnlichkeit, Vernunft und Leidenschaften, Vernunft und Wille (vgl. Schnädelbach, Vernunft 1986, 100). Die nach der Kombinatorik möglichen Positionen lassen sich in der Philosophiegeschichte sämtlich nachweisen. So hat die ältere Stoa eine intellektualistisch-monistische Position eingenommen. Zenon sagt: "Der Affekt ist Vernunft, die nur schlecht und zügellos ist infolge eines üblen und verfehlten Urteils" (Fragmente 208; zit. nach J. Kargi, Die Stoiker 1913,20; vgl. auch Forschner, Stoische Ethik 1981). Den umgekehrten "affektiven" Monismus vertreten diejenigen, die in der Vernunft nur ein Werkzeug der Leidenschaften sehen. Die Ahnenreihe reicht hier von Epikur über Hobbes bis zu Nietzsehe und Freud. Eine dualistische Position nehmen Platon und Aristoteles sowie die Mehrzahl der Philosophen ein. Die Pferde des platonischen Seelenlebens - Mut und Affekt werden von der Vernunft bezwungen. Kant definierte den Willen als ein Begehrungsvermögen, das nicht wie die Leidenschaften zu beherrschen, sondern vernünftig zu lenken sei, um menschenwürdige Praxis zu ermöglichen. Genau in diesem Sinn hatte schon Aristoteles die Entscheidung (prohairesis) als das Ergebnis des Zusammenwirkens zwischen dem begehrenden (orektik6n) und dem überlegenden (logistik6n) Seelenteil erklärt und als "überlegtes Streben nach dem, was in unserer Macht steht", erklärt (Nikomachische Ethik III). Erst wenn die Lenkbarkeit des Handeins durch die Erkenntnis des Guten allein in Frage gestellt wird, entsteht das Problem des freien und unfreien Willens. Von Paulus (Römer 7, 19) wird die Erfahrung ausgedrückt, daß die beiden Aspekte des Willens, vernünftiges Begehrungsvermögen und Handlungsursache zu sein, auch auseinandertreten können. Dieses Problem ist in klassischer Weise dann von Augustinus (De libero arbitrio), Luther (De servo arbitrio) und Kant (111, Antinomie der "Kritik der reinen Vernunft") erörtert worden. Gemeinsam ist deren Auffassung von der "Versklavung" des Willens, wenn er sich in seiner Rolle als Handlungsursache von unvernünftigen, vernunftfremden Handlungsmotiven außer Kraft gesetzt sieht, die er aber nicht aus sich ausgrenzen kann, weil er sie in sich vorfmdet. Darum spricht Paulus hier von dem Gesetz als der "Quelle der Sünde" (Römer 7,23).

II. Fühlen

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nicht näher beschriebenen Instanz abgeleitet, die sie "freier Wille", "Seele", "reine Vernunft" oder in neuerer Zeit "das Selbst" oder "das Bewußtsein" nennen. Wie die Worte auch heißen mögen, gemeinsam ist ihnen ihre Funktion geblieben: Sie sollen eine Instanz begründen, die als transempirische Entität außerhalb gesetzmäßiger Zusammenhänge Handlungen spontan erzeugen kann, welche ihr und nicht einem bloßen Zufall zuzuschreiben ist. 74 Behauptet wird von dieser Autorengruppe demnach nicht weniger, als daß menschliche Handlungen ihrem Sein nach nicht determiniert, d. h. nicht durch einen vorausliegenden Zustand der Welt oder der persönlichen Psyche "bestimmt" seien. Man kann diese Position als "ontologischen Indeterminismus" bezeichnen. 75 Im folgenden wird zu zeigen sein, daß eine derartige Position mit der konstruktivistischen Konzeption unvereinbar ist, daß somit die deterministische Struktur der Welt durch menschliche Handlungen keineswegs durchbrochen wird. Ferner wird zu begründen sein, weshalb dieser Standpunkt nicht mit dem "harten" Determinismus "fatalistischer" Spielarten verwechselt werden darf. Damit ist der 74 Bateson hält die Trennung von Willen oder "Selbst" und den Rest der Persönlichkeit für eine "außergewöhnlich verheerende Variante des cartesischen Dualismus", 4er üblicherweise durch die Spaltung in Geist und Materie gekennzeichnet ist; vgl. Okologie des Geistes 1983, 405. 75 Pothast schlägt als gemeinsamen Titel für diese Positionen "Theorien des freien Selbst" vor, da die Emphase auf "Selbst", "Handelnder" etc. liegt. Der wohl radikalste Vertreter dieser Position ist der Sartre von "Das Sein und das Nichts" (1970, 697): ,,Nie ist ein soziales Ereignis, eine Situation 'äußerlich', nie objektiv handlungsrelevant, ,sondern die Situation ist meine . .. , weil sie das Bild der freien Wahl meiner selbst ist, und alles, was sie mir darbietet, ist mein insofern, als es mich darstellt und symbolisiert", selbst der Krieg "ist nach meinem Bild, und ich verdiene ihn." Zwar hätten andere den Krieg erklärt und man könnte infolgedessen versucht sein, von einer bloßen Mitschuld der einzelnen zu sprechen. "Aber dieser Begriff der Mitschuld hat nur einen juristischen Sinn, hier hält er nicht stand; denn es hätte von mir abgehangen, daß dieser Krieg für mich und durch mich nicht existierte, und ich habe entschieden, daß er existiert. Es gab da keinen Zwang, denn der Zwang vermag nichts über eine Freiheit; ich hatte keinen Entschuldigungsgrund, denn ... es ist die Eigentümlichkeit der menschlichen Realität, daß sie ohne Entschuldigungsgrund ist ... Tatsächlich bin ich für alles verantwortlich, außer für meine Verantwortlichkeit selbst ... " (ebd. 689; vgl. kritisch dazu Haug, Absurdismus 1976, 78; Müller, Geist 1981, 209; Bloch, Freiheit 1978, 418; Kargi, Schuldprinzip 1982, 160; Pothast, Freiheitsbeweise 1987, 87). An anderer Stelle lesen sich Äußerungen zur Freiheit wie eine Selbstrevision (vgl. Marxismus 1965, 142; Vernunft 1967, 36). Daß es nur eine partielle Revision war, bezeugt folgende späte Textstelle: ,,Denn die Idee, die ich niemals zu entwickeln aufgehört habe, ist, daß man am Ende immer verantwortlich ist für das, was aus einem gemacht wird. Selbst wenn man nichts anderes tun kann, außer diese Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen. Denn ich glaube, daß ein Mensch immer etwas aus dem machen kann, was mit ihm geschieht. Dies ist die Grenze, die ich heute der Freiheit zuschreiben würde: Die kleine Bewegung, die aus einem völlig konditionierten sozialen Wesen jemanden macht, die nicht völlig zurückgibt (zurtickspiegelt), was seine Konditionierung ihm gegeben hat" (ltinerary 1969, 45). Andere Autoren des "ontologischen Indeterminismus" verlangen nur, daß die verantwortliche Person jederzeit imstande sein muß, eine Anstrengung aufzubringen, aus der eine freie Handlung hervorgeht - nicht behaupten sie, daß alle Handlungen der Person eo ipso undeterminiert und von ihr selbst bestimmt seien; vgl. hierzu insbesondere Roderick Chisholm, Freiheit 1978, 71.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

Weg frei für die Legitimation einer besonderen Fonn der Verantwortlichkeit und schließlich für die Begründung ethischer Forderungen an das Subjekt. Am Beginn der Darlegung ist freilich zu klären, was unter einem Begriff von "Willen" verstanden werden kann, der nicht apriori mit der Konnotation ,,Freiheit" auftritt. Ein derartiger Begriff läßt sich mit Piaget und Ciompi zwanglos aus der Konzeption der affektiv-kognitiven Bezugssysteme gewinnen. b) Wille aus affektlogischer Sicht

Wir haben ausgeführt, daß die Psyche als ein komplexes Gewebe von affektivkognitiven Bezugssystemen beschrieben werden kann. Anfanglich sind Gehirn und Psyche einem rudimentär angelegten Wegesystem vergleichbar, das im Gebrauch selber entsteht und sich in der Interaktion mit der Umwelt zu einem äquilibrierten Gefüge von Haupt- und Nebenstraßen weiterentwickelt. Dieses psychische System besteht aus "Programmen" oder "Schemata" mit kognitiven und affektiven Anteilen. Die kognitiven Bestandteile umfassen vor allem übergeordnete, mathematisch-logische Relationen, die affektiven Elemente dagegen die emotionale Tönung dieser Relationen. Bei beiden Komponenten der Psyche handelt es sich gleichennaßen um Kognitionen, die auf Defonnationen des Systems reagieren und sich zu überlebensnotwendigen Erfassungsmodi der Umwelt entwickeln. Je nach persönlicher Geschichte verfügt demnach jeder Mensch über ein individuelles Fühl-, Denk- und Handlungsprogramm, das als ein relativ stabiles Gefühls- und Wertsystem bezeichnet werden kann, das schließlich nur noch aufgrund von massiven Widersprüchen verändert und eventuell höher entwickelt wird. Entsprechend der vorausgesetzten Theorie autopoietischer Systeme besteht demnach die Funktion der Psyche im Ausgleich von Störungen und Widersprüchen. 76 Dem Lustprinzip wird dabei allgemeine Gültigkeit zugesprochen. Bestimmt man nun die Rolle der Gefühle im Rahmen der psychischen Funktionen genauer, dann scheint sich eine Lösung zur Aufhellung der dunklen Redewen76 Das beginnt beim Neugeborenen auf physiologischer Ebene mit der Sicherung der Homöostase. Dementsprechend schildert Mahler (Individuation 1972, 13) den Wachzustand des Neugeborenen als "ununterbrochene Bemühung, zur Homöostase zu gelangen". Und Spitz (Objektbeziehungen 1973, 22) weist darauf hin, daß während der ersten Stunden und Tage des menschlichen Lebens die Unlust der einzige Affekt ist, der sich beobachten läßt; "ihr Gegenpart ist nicht Lust, sondern Ruhezustand. Das sind rein physiologische Funktionen, die psychischen Funktionen müssen sich erst daraus entwikkeIn." Als Störungen dieser Homöostase kommen auch ,,Reize" im internen Milieu in Betracht. Dazu Freud (Triebe 1946,212): " ... das Nervensystem ist ein Apparat, dem die Funktion erteilt ist, die anlangenden Reize wieder zu beseitigen, auf möglichst niedriges Niveau herabzusetzen." Insofern der Trieb für die aus dem Innern des Organismus stammenden Reize steht, ist er als "Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem" zu verstehen, als ,,Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhangs mit dem Körperlichen auferlegt ist" (ebd. 215). Nach Simon (Individuation 1984, 31) beschreibt Freud damit ein system-internes Regelkreisschema. in dem der innere Reiz die Störung der Homöostase ist, die registriert werden und beseitigt werden muß.

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dung vom "Willen" abzuzeichnen. Gesagt wurde bereits, daß nicht nur die Kognitionen eine affektive Komponente, sondern auch die Affekte eine kognitive Seite besitzen 77, und daß sich die Affekte parallel zu den kognitiven Strukturen differenzieren. Dies hat zur Folge, daß sich mit der kognitiven ebenfalls eine affektive Hierarchie ausbildet und zwar so, "daß übergeordneten kognitiven Ganzen auch übergeordnete Affekte entsprechen." Ciompi 78 fährt fort: "Als Beispiel wäre etwa an die verschiedenen Gefühlsstimmungen zu denken, die durch hierarchisch so verschiedene Entitäten wie eine einzelne Person, ihre Familie, die Volksgruppe, die Nation aktiviert werden: Spätestens beim Beispiel der Nation wird deutlich, daß mit dem Erfassen von umfassenderen kognitiven Ganzen neuartige Gefühle möglich werden, die als ,übergeordnet' angesehen werden dürfen. Die ,höchsten' Gefühle wären wohl diejenigen, die den umfassendsten Ganzheiten gelten, also etwa die allgemeinmenschlichen, religiösen oder ,kosmischen' Gefühle." Man muß die bei Ciompi anklingenden Wertungen nicht mitvollziehen, um den Gedanken der ,,Logik der Affekte" und der "affektiven Werthierarchie" für plausibel zu halten. 79 Desweiteren erscheint auf dem Boden der Affektlogik einleuchtend, daß solche Gefühlshierarchien auch entsprechende Aktionshierarchien implizieren: In wessen Wertschema "vaterländische Gefühle" einen hohen Rang einnehmen, der wird vaterländische Handlungen über Handlungen mit geringerer Affekttönung stellen. 80. Daraus ergibt sich eine interessante Verbin77 Wie erläutert, ist im Affekt immer eine Klassifizierung impliziert, die zwischen "Ruhe" und "Spannung", zwischen ,,Lust" und "Unlust", zwischen "aktiv" und "passiv" unterscheidet. Daß entsprechende Kriterien auch beim Erwachsenen die emotionale Bedeutung von bestimmten Worten ausmachen, hat der Psycholinguist Osgood (Affective meaning 1975) nachgewiesen. Die mit den jeweiligen Begriffen verknüpften Assoziationen waren: Aussagen über eine Bewertung im Sinne von "gut" und "schlecht" (,,Evaluation"), über eine "starke" oder "schwache" Reaktion (,,Potenz") sowie eine Aussage darüber, ob das, was gemeint war, "aktiv" oder "passiv" ist (,,Aktivität"); vgl. zu ähnlichen Ergebnissen bei Davitz, Emotion 1969. Auch nach diesen Untersuchungen besteht also die Rationalität der Affekte darin, dem einzelnen ein Lemraster zur Verfügung zu stellen, das ihm sagt, wie er in seinem sozialen Kontext überleben kann. Sie stellt - nach Simon (Individuation 1984, 73) - die ,,Form" bzw. den "Prägestock" dar, der mit konkreten, lebensgeschichtlichen Erfahrungen gefüllt werden muß. Mit Rückgriff auf die Phylogenese drückt Osgood (ebd. 395) diesen Sachverhalt im gleichen Sinn aus: "Wie für den Neandertaler ist auch für uns heute an dem Zeichen für eine Sache wichtig, ob es etwas Gutes oder Böses meint; zweitens, ob es etwas meint, was in Bezug auf mich stark oder schwach ist; drittens, ob es etwas Aktives oder Passives in Bezug auf mich meint. Das Überleben hing damals wie heute von den Antworten ab." 78 Ciompi, Affektlogik 1986, 388. 79 Über die verschiedenen Abstraktionsgrade und damit verschiedenen Hierarchien im Affektiven schreibt Simon in Anlehnung an die logische Typenlehre von Whitehead und Russel (Prinzipia 1910): "Die Begriffe ,Unlust' und ,Hunger' haben nicht denselben logischen Typus. Sie unterscheiden sich in ihrem Abstraktionsniveau. Sie wie auch die in der Struktur des kindlichen Repräsentanzensystems für ,Hunger' stehenden Zeichen sind logisch klassifiziert als zum hierarchisch übergeordneten Bereich der ,Unlustempfindungen' gehörig ... Es zeigt sich, daß also auch rein auf der affektiven Ebene ablaufende Prozesse den gleichen logischen Hierarchisierungen unterworfen sind wie die Begriffsbildung der Sprache im engeren Sinne" (Individuation 1984, 76).

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dung zu Piagets Auffassung von der Rolle der Gefühle als ,,Regulatoren" im zwischenmenschlichen Bereich: Höhere Gefühle regulieren bzw. dominieren hierarchisch niedrigere Bezugssysteme. Völlig folgerichtig hat nun Piaget den Willen analog den kognitiven Operationen als "affektive Regulation von Regulationen" aufgefaßt. Hiernach würde es sich beim sogenannten "Willen" um einen regulierenden Gefühlsimpuls handeln, der dann vorliegt, wenn eine gegebene Situation einer höheren affektiven Werthierarchie untergeordnet wird. 81 Diesen Gefühlsimpuls interpretiert Ciompi als symmetrisches Gegenstück zur gedanklichen Verdichtung auf höherem Niveau und kann infolgedessen den Willen als ein "verdichtetes Gefühl" charakterisieren. 82 Halten wir für den weiteren Argumentationsgang folgendes fest: Aus dem bisher Gesagten läßt sich noch nicht eindeutig folgern, ob der "Wille" frei ist oder nicht. Versteht man - wie hier geschehen - unter "Willen" einen regulierenden Gefühlsirnpuls, der, von einem affektiv-kognitiven Bezugssystem höherer Ordnung ausgehend, hierarchisch niedrigere Bezugssysteme dominiert, dann kann der Wille jedenfalls nichts sein, was außerhalb des durch Erfahrung konstituierten Bezugssystems steht. 83 Abgewiesen sind damit von vornherein Freiheitskonzeptionen, die den Begriff des Willens von jeglicher Bindung an individuelle Lernerfahrungen, an Gesellschaft und an Geschichte abkoppeln möchten. Zu dieser Gruppe zählen Vertreter der Würzburger Schule, die Willensprozesse als eigenständige und ursprüngliche psychische Vorgänge verstehen. 84 Ebenso ist mit dem affektlogischen Wil80 Viele Anhaltspunkte aus der Neuroanatomie und -physiologie weisen darauf hin, daß dem hierarchisierten Gefüge von affektiv-kognitiven Bezugssystemen ganz ähnliche Verhältnisse im ,,materiellen Substrat" entsprechen (vgl. die Drei-Hirn-Theorie von McLean). Demgegenüber hält es Eccles überraschenderweise für wahrscheinlich, daß das Bewußtsein, Wünschen und Wollen mit den Vorgängen im Gehirn eigentlich nichts zu tun haben: " ... Die Hypothese ist, daß der seiner selbst bewußte Geist eine unabhängige Entität darstellt, die aktiv mit dem Ablesen der Vielzahl von aktiven Zentren aus den Moduls der Liaisonbereiche der dominanten Hemisphäre beschäftigt ist." (Popper, Eccles, Gehirn 1987,355). 81 Piaget,Intelligence 1981,65: "Der Wille ist eine Regulation zweiter Ordnung, eine Regulation von Regulationen genauso wie im kognitiven Bereich eine Operation eine Aktion auf Aktionen ist." 82 ,,Ein in solcher Weise übergeordneter Willensimpuls entspräche also im affektiven Bereich genau einer gedanklichen Verdichtung auf ein höheres Niveau, das heißt einer Abstraktion. Es könnte somit als ein ,auf eine höhere Stufe verdichtetes Gefühl' bezeichnet werden. Auch diese Überlegung bestätigt das Vorliegen einer Affekthierarchie parallel zur kognitiven Hierarchie, bzw. vielmehr einer einheitlichen und vereinten affektivkognitiven Hierarchie von Bezugssystemen, in welcher bestimmte, primitive oder ,höhere' Gefühle solidarisch mit bestimmten ,primitiven' oder ,höheren' Gedanken auftreten", Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988, 196. 83 Piaget gelangt offensichtlich zum seI ben Schluß: "Ohne Zweifel sind affektive Strukturen isomorph mit kognitiven Strukturen. Es handelt sich nicht um eine spezielle und gesonderte Art von Srukturen, die in ihrem Wesen von den intellektuellen Strukturen verschieden wäre", Intelligence 1981, 73.

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lensbegriff jenen besonderen Ausprägungen des Voluntarismus der Boden entzogen, die den Willen zum Begründer allen Seins (Duns Scotus), zum alles bestimmenden Grund der Welt (Schopenhauer)85 oder zum eigentlichen Antrieb von Entwicklung in Natur und Geschichte (Nietzsche)86 erheben. Das gilt erst recht für die voluntaristischen Ideen, die als politische Theorie dem Faschismus eine geistige Heimat boten. Mit Gentiles Vorstellung etwa einer Politik als "Schöpfung aus ungeformtem Urstoff', die durch den Willensakt eines herausragenden Führers geschieht, hat der affektlogische Willensbegriff nicht das Geringste zu tun. 87 Gemeinsam ist den genannten Konzeptionen vor allem eines: Sie postulieren den Primat des Willens über den Intellekt; einer strukturlosen Welt wird ein grenzenloser Wille gegenübergestellt. Dies rechtfertigt dann, die Gewalt als schöpferische Heldentat zu utopisieren. Demgegenüber betont die genetische Epistemologie die Komplementarität und Gleichrangigkeit von Wille und Intellekt. 88 Beide entwickeln sich gleichzeitig zu einheitlichen Instrumenten des Erkennens und Handeins. Beide bilden als affektiv-kognitive Bezugssysteme die ,,Einstellung" oder "Gestalten", die stets 84 Hauptvertreter dieser sogenannten "autogenetischen " Willenstheorie ist Ach (Wille 1935). In etwas abgeschwächter Form vertreten diese Richtung auch die Psychologen der Gestalttheorie sowie Kurt Lewin (Wille 1926). Wird der Wille dagegen als eine abgeleitete Qualität betrachtet, die von anderen psychischen Faktoren, z. B. den Gefühlen, dem Denken usw. abhängt, spricht man von "heterogenetischen "Theorien (Plato, Aristoteles, Thomas von Aquin, Descartes, Kant, Hegel, Ebbinghaus u. a.; vgl. hierzu Zillmer, Wille 1987, 1225). 85 Schopenhauer, Wille 1960, 13: ,,Die Welt ist mein Wille." Damit lehrt Schopenhauer, daß nicht Vernunft oder der Logos das Innerste der Welt ausmacht, sondern der Wille als ein dunkler und blinder Drang, der in der Natur und im Menschen als Wille zum Leben alles andere, vor allem aber ihre subjektive Vernunft dominiere; vgl. kritisch zur Wirkungsgeschichte Schopenhauers, der "den Irrationalismus in der Metaphysik zur herrschenden Strömung" erhoben habe: Schnädelbach, Philosophie 1983, 174. 86 Nietzsche, Wille 1959,465: ,,Meine Theorie wäre: - daß der Wille zur Macht die primitive Affekt-Form ist, daß alle anderen Affekte nur seine Ausgestaltungen sind; daß es eine bedeutende Aufklärung gibt, an Stelle des individuellen ,Glücks' zu setzen Macht ... , daß alle treibende Kraft Wille zur Macht ist, daß es keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem gibt." Den "freien" Willen hielt er allerdings für eine lllusion: ,,(Die Theorie vom ,freien Willen') will dem Menschen ein Anrecht schaffen, sich für seine hohen Zustände und Handlungen als Ursache denken zu dürfen: sie ist eine Form des wachsenden Stolzge!ühls" (Umwertung 1977, 145; vgl. insbesondere auch Morgenröte 1960, 119). 87 Vgl. zu Gentile, Spengler, Sorel (der seine Aktionslehre sogar revolutionär-syndikalistisch gemeint hat) und Macchiavelli (dessen Machttechnik freilich erst durch lange Popularisierung dem Faschismus vermittelbar war) die ,,Leittafeln der Willenstempi" bei Ernst Bloch (Hoffnung 1976, 1103). 88 In der neueren Psychologie steht das Thema des Intellekts völlig im Vordergrund. Dies hat mit der Denkweise des Behaviorismus als dem vorherrschenden Muster von Wissenschaftlichkeit in der Psychologie zu tun: Dem Experimentator treten subjektive Momente wie "Wille" oder "Bewußtsein" gar nicht ins Blickfeld. Sie tauchen erst wieder als "Motivation" auf, wo es gilt, Menschen für neue Ziele und Handlungen zu gewinnen; vgl. dazu Zillmer, Wille 1987, 1226.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

als Ganze aktiviert werden, selbst wenn nur Teile den Anstoß geben. 89 So lösen bereits bloße Worte wie etwa ,,Kommunismus" oder "Kapitalismus", ,,Jude" oder ,,Nazi" je nach dem Erfahrungshintergrund des Zuhörers ganz bestimmte positive oder negative Gefühlsmuster aus. Charakteristischerweise bestimmt die Affekttönung die Art und Weise, in der der Betroffene mit dem jeweiligen Thema umgeht. Fakten, die nicht in das affektiv-kognitive "Bild" passen, werden nicht wahrgenommen oder genauer gesagt, nicht als nützliche Konstrukte zugelassen. 90 Besagt nun aber die Feststellung der Stabilität derartiger affektlogischer Systeme, daß sie vom Individuum nicht geändert werden können? Und weiter: Falls ,,Einstellungen" durch "Wahl" oder ,,Entscheidung" des Individuums geändert werden können, ist damit der Determinismus widerlegt? Unterstellen wir im Vorgriff auf Maturanas Konzept, daß die letztere Frage negativ zu beantworten ist, wie kann dann trotz des Bekenntnisses zum Determinismus Verantwortlichkeit des Einzelnen begründet werden? Falls wir auch diese Hürde nehmen und die Frage positiv beantworten, kann ein auf Determinismus gegründeter Begriff von Verantwortlichkeit identisch sein mit einem Verantwortlichkeitsbegriff, der auf Freiheit setzt? Offensichtlich wohl nicht, anderenfalls wären jegliche Bemühungen um eine Rechtfertigung staatlicher Ordnung, um eine Legitimation sozialer Reaktionen auf enttäuschte Erwartungen obsolet. Wir kommen also nicht darum herum, den mit dem Determinismus kompatiblen Verantwortlichkeitsbegriff mit einem neuen Inhalt zu füllen. Dieser neue Inhalt, soviel steht fest, kann nicht mehr tauglich für die Rechtfertigung der existierenden sozialen Praxis sein, die freiverantwortliches Handeln voraussetzt. Welche Ordnung aber ist überhaupt denkbar und zusätzlich legitimierbar, die mit determiniertem Handeln ihrer Mitglieder rechnet? Vermutlich dürfte eine Ordnung zumindest dann nicht zu legiti89 Es zeigt sich hier, daß eine scharfe Unterscheidung zwischen Bewußtsein und Gefühlen, Wissen und Sinneseindrücken, wie sie etwa die Wahrnehmungspsychologie vorzunehmen versucht, nicht sinnvoll ist. Aus affektlogischer Sicht ist der ganze Körper ein einziges "Sinnes- bzw. Fühlorgan": Er registriert fortwährend, was auf ihn einwirkt, und verarbeitet diese gesamte ,,Information" schließlich zentral zu einem sich ausdifferenzierenden Weltbild. Bewußtsein wäre demnach eine aktiv erlebte, stets sich verändernde Aktualisierung der affektlogischen Struktur. Siehe ebenso Scharfetter (Psychopathologie 1976,25): "Der wache Mensch hat nicht Bewußtsein, sondern ist bewußt Seiender, ist selbst unterschiedlich waches, empfmdendes, erlebendes, fühlendes, gestimmtes, rational wissendes, tätiges Bewußtsein." Als "Wille" ist dann die Aktivierung des Bewußtseins, die Aktivierung eines ,,Konzepts", eines "Bezugssystems" zu bezeichnen, dem wir dann "folgen", indem wir handeln; vgl. hierzu Ciompi, der hier einen Zusammenhang zwischen Synchronie (= "Konzept") und Diachronie (= ,,Konkretisierung" in der Zeit) exploriert (vgl. Außenwelt-Innenwelt 1988, 40). 90 Vgl. dazu Nietzsches "Konstruktivismus": ,,In unserem Denken ist das Wesentliche das Einordnen des neuen Materials in die alten Schemata (= Prokrustesbett), das Gleichmachen des Neuen" (Wille 1959, 345) oder "Der ganze Erkenntnis-Apparat ist ein Abstraktions- und Sirnpliflkations-Apparat - nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge: ,Zweck' und ,Mittel' sind so fern vom Wesen wie die ,Begriffe'. Mit ,Zweck' und ,Mittel' bemächtigt man sich des Prozesses (- man erfindet einen Prozeß, der faßbar ist), mit ,Begriffen' aber der ,Dinge', welche den Prozeß machen" (Wille 1959,346).

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mieren sein, wenn unter Determinismus unabänderliches, ein für allemal feststehendes Handeln verstanden wird. Es wird also im Folgenden darauf ankommen, einen Begriff von Determination zu konzipieren, der einerseits an der Gesetzlichkeit menschlichen Handelns festhält, andererseits fatalistische Konsequenzen vermeidet. Ich beginne mit der knappen Erörterung jener "harten" Variante des Determinismus, die den lautesten Widerspruch ausgelöst hat. Es war wohl die staatsphilosophische Unannehmbarkeit ihrer Konsequenzen, die in den letzten Jahrzehnten wieder zu einer eindeutigen Vorherrschaft der Freiheitsidee geführt hat. Pothast spricht in diesem Zusammenhang von einer "Wiederbelebung typisch metaphysischer Anstrengungen". 91 Derartige Denkmodelle dürften allerdings als Legitimationsbasis für ordnungspolitische Interessen ebenso ungeeignet sein wie die des "harten" Determinismus. Es wird sich zeigen, daß beide Extrempositionen in der Pose theoretischer Reinheit übereinstimmen und damit praktische Relevanz bloß deklamieren. c) Notwendigkeit und Freiheit

aa) "Harter" Determinismus Der Sprachgebrauch, zwischen ,,hartem" und "weichem" Determinismus zu unterscheiden, ist von William James in "The Dilemma of Determinism" eingeführt worden. 92 Der ,,harte" Determinismus ist nach James durch folgende Verbindung von Theoremen gekennzeichnet: "Menschliche Handlungen sind determiniert. Verantwortlichkeit für Handlungen setzt Freiheit im Sinn nicht determinierten Handeins voraus. Also sind Personen für ihre Handlungen nicht verantwortlich."93 Demgegenüber gestehen die Theoretiker des "weichen" Determinismus 91 Pothast, Freiheitsbeweise 1987, 9. 92 In der einschlägigen Literatur wird von Holbach als Vater des neuzeitlichen ,,harten"

Determinismus genannt (vgl. Berofsky, Determinism 1966,25; ders., Determinism 1971; Taylor, Determinism 1967). Mit begrenztem Recht kann man auch Spinoza anführen: ,,Es gibt in der Seele keinen unbedingten oder freien Willen, sondern die Seele wird bestimmt, dies und jenes zu wollen, von einer Ursache, die ebenfalls von einer anderen bestimmt ist, und diese wiederum von einer anderen und so weiter ins Unendliche" (Ethica 1967,97). Nach Darstellung Ciceros (Defato) kannte deterministische Weltbeschreibungen schon die antike Welt: eine kausalistische, die sich auf Leukipp und Demokrit, eine fatalistische, die sich auf Diodoros Kronos zurückführt. Eine christliche Variante solcher Weltbeschreibungen fügte Luther hinzu: " ... So steht der menschliche Wille wie ein Reittier zwischen den beiden: Setzt sich Gott darauf, so will und geht es dorthin, wo Gott will . . . setzt sich der Satan darauf, so will und geht es dorthin, wo Satan will. Es hat auch keine Wahl, zu dem einen oder anderen Reiter hinzulaufen, den einen oder anderen zu wählen; sondern die Reiter selbst kämpfen darum, wer es gewinnen und behalten soll" (Wille 1939, 414). Doch die spezifische Mischung der Theoreme, die für den ,,harten" Determinismus typisch ist, scheint erst in der französischen Aufklärung des 18.Jahrhunderts offen aufgetreten zu sein (vgl. Pothast, Freiheitsbeweise 1987, 46).

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die Bestimmung menschlichen Handeins durch innere oder äußere Gesetzmäßigkeit zu, sie behaupten aber, daß bei Abwesenheit von Zwang Handlungen in einem Sinn frei sind, der ausreicht, um Verantwortlichkeit zu begründen und die gegebene Praxis von Lohn und Strafe zu rechtfertigen. 94 Es ist dies die Position, die von der älteren Stoa vorgebildet, von Hobbes wieder aufgenommen und von David Hume sinngemäß in die begriffliche Unterscheidung zwischen Freiheit des Willens und Freiheit des Handeins gebracht wurde. 9s Auf diese Konzeption werde ich weiter unten bei der Ausarbeitung der eigenen Auffassung zurückkommen. Zunächst sollen die beiden zentralen Thesen des "harten" Determinismus auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft werden: die These allgemeiner Determination und die These von der Leugnung moralischer Verantwortlichkeit. Da die zweite These eine zwar selten getroffene, aber doch logische Konsequenz der ersten ist, steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit dem ,,harten" Determinismus dessen Verständnis von Unfreiheit. Jeglicher Determinist muß mindestens der Vermutung beipflichten, daß alle menschlichen Handlungen aus vorausliegenden Umständen nach Gesetzen hervorgehen. 96 Als Beleg für diese Behauptung werden in der Regel Beispiele aus der Tiefenpsychologie angeführt, wo man an einzelnen Handlungen die allgemein vermutete gesetzmäßige Verbindung vorausliegender Bedingungen mit dadurch determinierten Ereignissen bestätigt sieht. 97 Man kann sich dabei auf Freud berufen, der in seiner erstmals 1901 erschienenen Schrift ,,zur Psychologie des Alltagslebens" die Existenz eines freien Willens verwarf und von der lückenlosen 93 In handlungstheoretischer Perspektive wird der ,,harte" Detenninismus nicht mehr als apriorische Aussage über die Welt (wie bei Holbach), sondern gewöhnlich nur noch als Vennutung fonnuliert: Wenn alle menschlichen Handlungen aus vorausliegenden Umständen nach Gesetzen hervorgehen, dann ist zu bezweifeln, daß Personen für ihre Handlungen moralisch verantwortlich sind (vgl. hierzu Hospers, Free-Will 1952, 633; Freiheit 1978, 93). Anders noch Schopenhauer, der einen mit Hilfe einer Erkenntnistheorie begründeten Detenninismus vertritt. Da er mit einem nicht-empirischen Prinzip der Verursachung arbeitet, muß seine Fonn des Detenninismus unter modernen Gesichtspunkten als ein Stück Metaphysik gelten (vgl. Schnäde1bach, Vernunft 1986, 103). 94 Pothast (Freiheitsbeweise 1987, 125) faßt die Arbeiten dieser Gruppe von Autoren unter dem Titel "Die These der Vereinbarkeit" zusammen. 95 Einige Vertreter dieser Richtung behaupten zusätzlich, die Detennination des Handelns sei mit dessen Freiheit nicht nur vereinbar, sondern sei für jede relevante Freiheit eine notwendige Bedingung (vgl. z. B. Hobart, Free Will 1966, 63). Andere nennen die Frage nach einer Freiheit, die im Gegensatz zur Detennination zu bestimmen wäre, ein Scheinproblem und schließen jede Rede darüber aus dem Bereich sinnvollen Sprechens aus (vgl. etwa Schlick, Verantwortlichkeit 1978, 157). 96 Auf die Schwierigkeiten, Aussagen eines allgememen Detenninismus in empirisch gehaltvoller Weise vorzutragen, hat Karl Popper überzeugend hingewiesen. Bekanntlich ist er der Meinung, daß ein solcher Versuch zwangsläufig bei der Metaphysik enden müsse (vgl. Forschung 1966, 33). Gebraucht jemand einen Satz wie "Die Welt wird von strengen Gesetzen beherrscht", dann spricht er über solche Gesetze nicht mehr als falsifizierbare Behauptungen, sondern als etwas, das apriorische Gültigkeit hat. Der empirischen Wissenschaft sind derartige Sätze nach Popper nicht zugänglich. 97 Siehe dazu Hospers, Human Conduct 1961, 10.

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Determinierung im Psychischen sprach. 98 Freud hat jedoch aus dieser Hypothese keineswegs den Schluß gezogen, daß die Menschen deshalb von jeglicher Verantwortlichkeit entbunden seien; im Gegenteil, er deutete sogar ein Einstehenmüssen für das eigene Unbewußte an. Wenn demgegenüber die "harten" Deterministen Verantwortlichkeit leugnen, muß ihr Begriff von Determination anderes und mehr meinen, als er bei Freud und der großen Mehrzahl der Deterministen meint, die Verantwortlichkeit dennoch bejahen. Tatsächlich gehen die ,,harten" Deterministen einen entscheidenden Satz über die Behauptung "Mein Handeln ist determiniert" hinaus. Sie sagen nämlich: "Meine Entscheidungen haben auf meine Handlungen keinen Einfluß." Im Kern läuft diese Aussage auf die Verwerfung der Möglichkeit einer Wahl zwischen Alternativen hinaus. Der Weltlauf gilt als festgelegt; die künftigen Handlungen ereignen sich wie ein Fatum, unabhängig von den Entschlüssen des Individuums. Allein die vorausliegenden Umstände führen das Verhalten herbei, und der Akt der Wahl, den die Person zu vollziehen meint, gehört nicht zu ihnen. Die Wahl wäre hiernach die perfekte Illusion. earl Ginet 99, der vielleicht radikalste Vertreter des ,,harten" Determinismus, hat diese Selbsttäuschung des Bewußtseins mit der Fahrt in einer Geisterbahn verglichen: "Ich fahre in einem Wagen durch die Geisterbahn. Der Wagen hat ein Steuerrad, und bei jeder Kurve drehe ich das Rad genau so weit und in genau der Richtung, wie es nötig wäre, um den Wagen durch die Kurve zu lenken. Aber das Steuerrad ist mit den Rädern gar nicht verbunden; die Fahrt des Wagens wird von einem Steuerungssystem anderer Art gelenkt, nicht von mir. Meine Wahl der Fahrtrichtung fällt mit der faktischen Bahn, auf der ich gefahren werde, nur zusammen, ist aber unwirksam. Daß ich so wähle, 98 Freud, Alltagsleben 1948,282: "Gegen die Annahme eines durchgehenden psychischen Determinismus berufen sich bekanntlich viele Personen auf ein besonderes Uberzeugungsgefühl für die Existenz eines freien Willens. Dieses Überzeugungsgefühl besteht und weicht auch dem Glauben an den Determinismus nicht. Es äußert sich aber, soviel ich beobachten kann, nicht bei den großen und wichtigen Willensentscheidungen; bei diesen Gelegenheiten hat man vielmehr die Empfmdung des psychischen Zwangs und beruft sich gern auf sie ... Nach unseren Analysen braucht man nun das Recht des Überzeugungsgefühls vom freien Willen nicht zu bestreiten. Führt man die Unterscheidung der Motivierung aus dem Bewußten von der Motivierung aus dem Unbewußten ein, so berichtet uns das Überzeugungs gefühl, daß die bewußte Motivierung sich nicht auf alle unsere motorischen Entscheidungen erstreckt. Was aber so von der einen Seite freigelassen wird, das empfangt seine Motivierung von anderer Seite, aus dem Unbewußten, und so ist die Determinierung im Psychischen doch lückenlos durchgeführt." Gegen diese Passage wendet Dreher (Willensfreiheit 1987, 377) u. a. ein, Freud habe nicht zureichend zwischen motiviertem und determiniertem Verhalten unterschieden. Dabei beruft sich Dreher (ebd. 378) auf ein altes Psychologenwort: "Die Motive sollicitieren den Willen, aber sie necessieren ihn nicht" (zit. nach Hoche, Wille 1902, 12). Unklar bleibt, wie denn sinnvoll zwischen Motiven und Wille unterschieden werden soll. Beide repräsentieren den je gegenwärtigen Zustand der affektlogischen Bezugssysteme und existieren nirgendwo unabhängig von diesen. Einen ähnlichen Standpunkt - wenn auch in gänzlich anderer Terminologie - nimmt Manfred Danner (Willensfreiheit 1977) ein. Auch die von Dreher (ebd. 337) gegen Danner formulierten Einwände überzeugen nicht, wie die folgenden Ausführungen im Text zeigen sollen. 99 Vgl. Ginet, Wahl 1978, 129.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

wie ich wähle, und daß ich mir jederzeit die Illusion mache, meine Wahl steuere den Wagen, hat zu tun mit Elektroden, die an mein Gehirn angeschlossen sind. Meine Wahl wird genauso von Fremden gesteuert wie der Wagen, und zwar ist es ein und dasselbe Steuerungssystem - sprich: System vorausliegender Umstände -, das einerseits den Wagen lenkt, andererseits über die Elektroden meine Wahlakte produziert. So stimmen die scheinbare Wahl und der Kurs meiner Reise immer zusammen und erzeugen ständig den Glauben, daß ich es sei, der lenkt - eine Illusion, die zwar zu durchschauen ist, deren Erlebnis oder Eindruck ich aber nie abschütteln kann, genauso wie ich den Eindruck, daß sich die Sonne um die Erde bewegt, nicht loswerden kann, obwohl ich längst wissen mag, daß es sich umgekehrt verhält." Daß Ginet die Wabl als Selbsttäuschung des Subjekts beschreiben kann, hängt von seiner eigenwilligen Interpretation der "vorausliegenden Bedingungen" ab. 100 Er sagt, diese bestimmen die Wabl und die Handlung. Die Wabl selbst kann nach diesem Verständnis also nicht zur Menge der bestimmenden Umstände gehören. Sie ist nicht Teil der Erfahrung oder des Bewußtseins der Subjekte, sondern durch äußere physikalische Kräfte festgelegt. Damit werden als "vorausliegende Bedingungen" nur physiologische Zustände des Organismus zugelassen, auf die das affektiv-kognitive Bezugssystem, die Einstellung des Individuums keinen Einfluß hat. \01 Aus Ginets These von der Determination allen Verhaltens aus äußeren physikalischen Kräften folgt, daß Entscheidungen nicht im Bewußtsein fallen und somit die Erwägungen des Subjekts vor der Entscheidung sowie die Entscheidung selbst ohne Einfluß auf das Verhalten sind. Mit einer solchen Aussage steht Ginet in konträrem Gegensatz zum systemtheoretischen, insbesondere zum autopoietischen Verständnis der menschlichen Psyche als einem Rückkoppelungssystem, das weder von der Vergangenheit noch von der Gegenwart völlig abhängig ist. Bevor wir darauf im nächsten Abschnitt näher eingehen, sei abschließend auf den notwendigfatalistischen Effekt des ,,harten" Determinismus hingewiesen. Pothast nennt diesen Effekt mit Recht "die Selbstdestruktion des handelnden Bewußtseins". 102

100 Die nachfolgende Kritik an Ginet trifft im gleichen Maße Nietzsehe, der zur Illustration der "Selbsttäuschung" ein ähnliches Beispiel wie Ginet wählt: "Was ist Wollen! - Wir lachen über den, welcher aus seiner Kammer tritt, in der Minute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt: ,Ich will, daß die Sonne aufgehe'; und über den, welcher ein Rad nicht aufhalten kann und sagt: ,Ich will, daß es rolle ... ' Aber trotz allem Gelächter! Machen wir es denn jemals anders als einer von diesen? Wenn wir das Wort gebrauchen: Ich will" (Morgenröte 1960, 119). \01 Man hat diese (radikalste) Position "physiologischer Determinismus" genannt (vgl. zu den Theorien über den Zusammenhang von Bewußtsein und Körper Armstrong, Mind 1968, 129; Feigl, The M ental1967, 92). Für diesen Determinismus haben Wünsche, Absichten, Entscheidungen und alle anderen mentalen Zustände keine determinierende Funktion beim Zustandekommen von Handlungen. Handlungen sind vielmehr physikalische Ereignisse, die aufgrund vorausliegender physiologischer Bedingungen geschehen. 102 Pothast, Freiheitsbeweise 1987, 57. Vgl. desweiteren zum Verhältnis von Determinismus und Fatalismus Sellars, Fatalism 1966, 141; Russel, External World 1929, 247; Ayer, Fatalism 1968,235; Cahn, Fatalistic Arguments 1964, 295.

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Der konsequente Fatalismus enthält den Verzicht auf die moralische Rechtfertigung des eigenen HandeIns und darüber hinaus den Verzicht auf praktische Anstrengungen, die der vermeintlich festgelegten Tendenz des Weltlaufs entgegenwirken. 103 Ist vorherbestimmt, wie ich handeln werde, macht es keinen Sinn, daß ich gute Gründe für meine Entscheidungen suche. Der Fatalist braucht seine Handlungen nicht mehr vor sich oder anderen zu rechtfertigen. Er kann sich überdies unangenehme und schwierige Handlungen ersparen, da sich der Weltlauf gegen die eigenen Bemühungen durchsetzen wird. Damit räumt sich der Fatalist stets die Möglichkeit ein, seinen Handlungsspielraum gegen Null hin zu deuten. Es ist dies bekanntlich die verbreiteste Art der Rationalisierung von Willkür und Passivität. Die mit dem Fatalismus eröffneten Möglichkeiten der Selbst- und Fremdtäuschung besagen freilich noch nichts über die Richtigkeit dieser Form von Determinismus. Aber sie veranschaulichen, in welche epistemische Schwierigkeiten sich eine Person begeben würde, die in jeder Situation konsequent von der Unwirksamkeit eigener Entscheidungen ausginge. Ein solches Bewußtsein müßte sich in der Tat selbstdestruieren. Es müßte jegliches Bemühen um das Finden der ,,richtigen" Entscheidung einstellen, wollte es sich nicht fortgesetzt als nutzlosen, albernen oder zynischen Beobachter empfinden. 104 Wer seine Wahlakte als Täuschung ansehen müßte, wäre inkonsequent, wenn er sich dennoch um Leistungen bemühen würde, die nur von einem wirksam wählenden Subjekt erwartet werden können. Wer alle Alternativen als verschlossen ansehen müßte, der würde grundsätzlich mit den Bedingungen seiner Erkenntnissituation in Konflikt geraten. Er

\03 Dies ergibt sich zwingend aus dem Übergang von der Behauptung ,,Mein Handeln ist determiniert" auf zwei andere Behauptungen, nämlich (1) Gründe beeinflussen mein Handeln nicht. Und (2) deshalb ist es sinnlos, mich aufzulehnen. Dabei übersieht der Fatalist - wie Pothast zu Recht anmerkt (ebd. 291) - , daß er, wenn er konsequent ist, auch seine Entscheidungssituation als vorherbestimmt betrachten muß und damit auch die Tatsache, daß er überhaupt zu begründen versucht. Da er nicht weiß, wie er determiniert ist, stehen dem Deterministen aus seiner Perspektive sowohl ein begründetes wie auch ein willkürliches Verhalten gleichermaßen offen. Pothast fährt fort: ,,Es ist er, der wählt, ob er sich beim Handeln nach moralischen Gründen richtet oder nicht. Im zweiten Fall hält er eine von ihm wahrgenommene ,Tendenz' für die, nach der sich die Ereignisse zukünftig entwickeln werden, ohne einen Beweis dafür vorzubringen, daß dies und nichts anderes der determinierte Gang der Dinge ist. Nichts hindert ihn, das ihm unbequeme Gegenstück für determiniert zu halten" (ebd. 192). Daraus folgt evidentermaßen, daß eine fatalistische Haltung keineswegs aus jeder Form deterministischer WeItsicht folgt. Sie wird nur nahegelegt von einer Theorie, nach der die Erwägungen des Subjekts vor der Entscheidung und die Entscheidung selbst ohne Einfluß auf das Verhalten sind. 104 Es kann nicht bestritten werden, daß sich das Subjekt typische Leistungen abverlangt, von denen es glaubt, wirksam zu wählen und zu handeln. Es ist die Tendenz, sich um richtige Entscheidungen zu bemühen und dann die gegebenen Handlungsspielräume auszuschöpfen. Solche Bemühungen (der Kontrolle, der Orientierung etc.) würden ihren Überlebensvorteil einbüßen, sollte der Fatalismus handlungsleitend sein (was praktisch undenkbar ist).

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müßte nämlich sicher sein, daß nur die von ihm wahrgenommene Tendenz die Entwicklung bestimmt. Die tatsächliche Situation ist aber eine andere: Dem Handelnden ist es unmöglich, eine Voraussage über sein Handeln zu treffen. Er kann im konkreten Fall niemals wissen, welche Tendenz, ob z. B. seine Erziehung oder ein rationales Argument, sich durchsetzen wird. Da der Handelnde also nicht weiß, wie er determiniert ist, stehen ihm aus seiner Perspektive begründete Verhaltensweisen genauso offen wie willkürliche. 105 Mit anderen Worten, nur für den Fall, daß er wirklich wüßte, wie die Zukunft aussieht, könnte er sein Verhalten rechtfertigen. Daß die epistemologische Situation dem Handelnden ein derartiges Wissen jedoch verwehrt, wird in den nächsten Abschnitten zu belegen sein. Darüber hinaus soll die autopoietische Konzeption des Lebendigen zeigen, daß die These eines allgemeinen Determinismus dem Handelnden die Forderung einer rationalen Wahl nicht erlassen kann. bb) "Weicher" Determinismus Die Theoretiker des "weichen" Determinismus halten menschliches Handeln zwar für determiniert, sie wollen aber daraus keine fatalistischen Schlußfolgerungen ziehen, sondern Verantwortlichkeit ausdrücklich bejahen. Anders als die "harten" Deterministen binden sie diese Verantwortlichkeit nicht an Freiheit, zumindest nicht an einen entmaterialisierten oder idealistischen Freiheitsbegriff. 106 Da ich Maturanas biologische Kognitionstheorie mit dieser Grundaussage - trotz aller Differenzen im Detail - in Einklang sehe, möchte ich sie in die Modelle des "weichen" Determinismus einordnen. 107 Maturanas Theorie ist wie 105 Die Position der "epistemischen Freiheit" fand eine programmatische Formulierung bei Wittgenstein (Tractatus 5.1362): ,,Die Willensfreiheit besteht darin, daß zukünftige Handlungen jetzt nicht gewußt werden können." 106 Die neueren Vertreter des "weichen" Determinismus berufen sich in der Regel auf David Hume, der eine "hypothetische Freiheit" gelten lassen wollte (Human Understanding 1963, 95). "Hypothetisch" nennt er diese Freiheit zu handeln, wie man will, weil ihre Ausübung an die "Bestimmung des Willens" (determinations of the will) gebunden ist: Wenn aus Motiven, Neigungen, Umständen und Charakterzügen die Bestimmung des Willens mit der Art von Notwendigkeit hervorgegangen ist, die wir überall in der Natur beobachten, und wenn kein Zwang oder ein ähnliches Handlungshindemis (z. B. Ketten des Gefangenen) vorliegt, dann sind wir frei zu handeln, wie unser Wille bestimmt ist. Hume konnte sich mit dieser These auf Hobbes (Leviathan, Kap. 14,21) und Locke (Human Understanding 1960,317) stützen. In der Antike wurde ein Versuch, universale Kausalität mit freier Bestimmung des Handelns zu vereinbaren, von Chrysipp entworfen und in der stoischen Tradition immer wieder diskutiert (vgl. die Darstellung bei Cicero, De fato; XVill; Chrysipp, Fragmente 1903). Was Hume von den älteren Vertretern der Handlungsfreiheit unterscheidet und für die jüngeren "Vereinbarkeitstheoretiker" so attraktiv machte, ist seine zusätzliche Behauptung, daß die mit der Determination verträgliche Freiheit zu handeln, wie man will, völlig ausreicht, um eine Ethik und die typischen sozialen Handlungsfolgen (z. B. Strafen, Belohnen, Tadeln, Hochachten) zu rechtfertigen. Erst mit dieser weiteren Behauptung erreicht die Vereinbarkeitsthese des "weichen" Determinismus jene Form, für die sie in der neuzeitlichen Philosophie klassisch geworden ist.

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. keine andere prädestiniert, die Vereinbarkeit von Detenninismus und Ethik, von Gesetzmäßigkeit und Verantwortlichkeit nicht nur zu behaupten, sondern in einem geschlossenen Argumentationsstrang glaubhaft zu begründen. 108 Zu diesem Zweck müssen wir uns auf zwei Schlüsselbegriffe von Maturanas Autopoiesekonzept zurückbesinnen: auf den Strukturdeterminismus und die operationale Geschlossenheit. Für Maturana ist ein lebender Organismus ein geschlossenes System dadurch, daß jeder neuronale Aktivitätszustand zu weiteren neuronalen Aktivitätszuständen führt und das in unendlich zirkulärer oder "selbstrefentieller" Weise. 109 Infolge der zirkulären Produktion seiner Aktivitätszustände ist das autopoietische System autonom gegenüber seiner Umwelt. Obwohl es energetisch offen ist, detenniniert es seine Zustandsfolgen aufgrund seiner spezifischen internen Struktur. Maturana nennt diese Eigenschaft "Strukturdetenniniertheit" oder ,,zustandsdetenniniertheit".l1O Strukturdetenninierte Systeme können 107 Das heißt freilich nicht, daß es nicht beträchtliche Unterschiede zwischen den "weichen" Detenninisten und den Kognitionsbiologen im Hinblick auf die Ausgestaltung konkreter Interventionsmodelle gäbe. Eine staatliche Strafpraxis, die davon ausgeht, daß Straftäter ihre Strafe "verdienen", ist mit der These des Strukturdetenninismus nicht vereinbar. 108 Das leisten m. E. die bisherigen Positionen der "Vereinbarkeitshypothese" nicht. Nehmen wir zum Exempel die Sprachanalyse von George Edward Moore, die den Versuch unternimmt, eine Freiheit aufzuweisen, die mit dem Detenninismus vereinbar ist (vgl. Ethik 1975; Wille 1978, 142). Moore analysiert zunächst verschiedene Gebrauchsweisen des Wortes ,,können". Er interpretiert den Satz: "Ich hätte anders handeln können" um in ,,Ich hätte anders handeln können, wenn ich es gewählt hätte". Diesen Sprachgebrauch kontrastiert er dem des Detenninisten, der einen anderen Sinn von ,,können" benutzt, wenn er behauptet: "Niemand hätte anders handeln können, als er faktisch handelte." Mit dieser Unterscheidung zweier Bedeutungen von ,,können" will Moore eine bestimmte Art von Freiheit mit der These des Detenninismus versöhnen. Aber ist ihm das wirklich gelungen? Der erste Gebrauch von ,,können" bezieht sich in Wahrheit nur auf die Möglichkeit, daß andere Ausgangsbedingungen vorliegen. "Damit wird ,wenn X gewählt hätte' zu einem Sonderfall von ,wenn andere Bedingungen vorgelegen hätten' , und der Detenninist ist frei, diese Bedingungen als Antezedensbedingungen seines Erklärungsmodells zu nehmen" (Pothast, Freiheitsbeweise 1987, 131). Desweiteren ist mit Moores Uminterpretation nicht geklärt, ob irgendwer jemals anders wählen kann. Das ist Schopenhauers Einwand: Wir können tun, was wir wollen, aber können nicht wollen, was wir wollen. Dennoch soll nach Moore ein derart "schwacher" Freiheitsbegriff die Last des Verantwortlichmachens tragen. Moore sagt: Indem man auf den Willen einwirkt, verschafft man sich eine vernünftige Chance, unerwünschte Ereignisse zu verhindern. Das macht dann Sinn, wenn die Handlung vom Willen abhing, und daß sie davon abhing, ist gewährleistet dadurch, daß er anders gehandelt hätte. wenn er anders gewollt hätte. Auf solch schwankendem Boden steht die gesamte utilitaristisch orientierte Sanktionspraxis des modemen Strafrechts; zur Kritik des Utilitarismus vgl. weiter unten, Kap. 3 n 2. 109 Daraus folgt, daß eine autopoietische Maschine durch ihr Operieren fortwährend ihre eigene Organisation erzeugt und zwar als ein System der Produktion ihrer eigenen Bestandteile und daß diese Bestandteile hierbei in einem endlosen Umsetzungsprozeß unter Bedingungen fortwährender Umwelteinwirkungen bzw. der Kompensation solcher Einwirkungen verbraucht werden; vgl. Maturana, Sprache 1985,245. 110 Zur Definition zustandsdetenninierter Systeme vgl. Maturana, Organisation 1985, 140.

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zwar von außen angeregt oder "perturbiert" werden, aber diese Einwirkungen detenninieren nicht die Zustandsfolgen des Systems. Ob überhaupt ein Umweltereignis auf ein autopoietisches System einwirken kann und welche Folgen diese Einwirkung für das System hat, hängt also ausschließlich vom lebenden System selbst ab. Hinsichtlich ihrer Zustandsänderungen sind autopoietische Systeme operational abgeschlossene Systeme, und dies heißt, daß sie in dieser Hinsicht keinen Input und keinen Output haben. Das Nervensystem kann zwar über die Rezeptoroberflächen der Sinnesorgane "erregt" werden, aber die Folgen dieser Erregung legt es selber fest, ja es erfährt diese nur an und in sich selbst als relative Veränderungen neuronaler Zustände. Was einem Beobachter wie die "Aufnahme" von Infonnationen über die Umwelt erscheinen mag, existiert für das Gehirn selbst nur als interne Zustandsveränderungen, denen es selbstreferentiell verschiedene Bedeutungen zuschreibt und die es mit weiteren internen Zustandsveränderungen "beantwortet". Demnach bedeutet für Maturana die Existenz eines Gehirns in einem Lebewesen keine qualitative Veränderung seiner strukturdetenninierten Organisation, sondern nur eine Erweiterung des Bereichs der Zustände, die das Lebewesen einnehmen kann. lll Denn nun können Zustandsveränderungen relationaler Art auftreten: Unterschiede lokaler neuronaler Erregungen im Nervensystem führen zu weiteren Unterschieden und zu Unterschieden zwischen Unterschieden. 112 Als wichtige Schlußfolgerung aus dem Autopoiesekonzept lebender Systeme können wir festhalten: Alles, was in solchen Systemen geschieht, ist durch die Struktur dieser Systeme bestimmt. Das Verhalten eines Organismus ist also in jedem Augenblick determiniert, aber nicht durch ein externes Agens, sondern durch seine Struktur selbst. Um nun der oben beschriebenen fatalistischen Variante des Detenninismus zu entgehen, besteht die Hauptaufgabe bei der Erklärung menschlichen Verhaltens darin zu zeigen, wie in strukturell detenninierten Systemen Verhaltensänderungen entstehen. Die Frage ist, wie kann ein operational geschlossenes System ein überlebensförderndes Verhalten erzeugen? Mit der Frage nach den Möglichkeiten struktureller Veränderung in strukturell detenninierten Systemen ist zugleich das Phänomen des Lernens angesprochen. Maturana suchte dieses Problem aller detenninistischen Denkmodelle mit Hilfe des Begriffes der "strukturellen Koppelung" zu lösen. 113 Vgl. Maturana, Kognition 1985, 39. In diesem Zusammenhang ist das noch nicht lange entdeckte Phänomen der" neuronalen Plastizität" noch viel zu wenig berücksichtigt worden. Unter ,,neuronaler Plastizität" ist die Tatsache zu verstehen, daß unser Gehirn offenbar bis weit ins Erwachsenenalter hinein (und nicht bloß, wie bisher angenommen, in den ersten Lebensjahren) unter anderem durch Bildung von neuen, dendritischen Verbindungen ("Verdrahtungen") zwischen Nervenzellen überaus plastisch auf Umweltreize aller Art reagieren kann. Infolgedessen steht das zerebrale Assoziationssystem bis ins höhere Alter hinein in einem dynamischen Austausch mit der Umwelt. Dieser Umstand bedingt die Lernjähigkeit autopoietischer Systeme; vgl. hierzu Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988, 205; Roth, Gehirn 1990, 167. III

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Wir haben eben festgestellt, daß das Verhalten der Lebewesen aus ihrer internen Dynamik resultiert und des weiteren, daß das Verhalten einer permanenten strukturellen Veränderung unterliegt. Die Lebewesen existieren aber stets in einem Medium, das sich selbst in ständiger Veränderung befmdet. Daraus ergibt sich die Konsequenz, daß die Organisation des Lebewesens nur dann erhalten werden kann, wenn seine Struktur und die Struktur des Mediums korrespondieren bzw. kongruent sind. Maturana nennt diese strukturelle Korrespondenz zwischen System und Medium ganz allgemein "strukturelle Koppelung". Kann diese Koppelung an das Medium nicht mehr aufrechterhalten werden, dann zerfallt die Organisation, die das Lebewesen als Einheit definiert, und der Tod ist die Folge. 114 Für den Begriff des Lernens und der Verhaltensänderung heißt dies, daß das Lernen eine notwendige Konsequenz der individuellen Geschichte jeden Lebewesens ist, das eine strukturelle, dynamische Plastizität aufweist. Lernen ist in dieser Sichtweise "der Weg (curso) struktureller Veränderungen, den der Organismus im Einklang mit den strukturellen Veränderungen des Mediums als ein Resultat der gegenseitigen strukturellen Selektion einschlägt, wie diese sich aus den Interaktionen von Organismus und Medium unter Bewahrung ihrer jeweiligen Identitäten ergibt". 115 Lernen folgt demgemäß aus der Notwendigkeit von Organismus und Medium, sich strukturell aneinander zu koppeln. Nach Maturana heißt strukturelle Kongruenz nichts anderes als die Angepaßtheit der Lebewesen an das Medium 116, freilich nicht in dem Sinne, daß das Medium das Verhalten des 113 Maturana und Varela (Erkenntnis 1987,89,197) unterscheiden strukturelle Koppelungen (= Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen) erster, zweiter und dritter Ordnung, je nachdem ob Einzeller, metazelluläre Einheiten oder Organismen mit komplexem Nervensystem Interaktionen mit ihrer Umwelt eingehen; vgl. hierzu bereits oben Kap. 1 m sowie Kargl, Gesellschaft 1990 b. 114 Es versteht sich, daß die Wirkungen der strukturellen Koppelungen unterschiedlich sind, je nachdem, ob es sich bei dem Medium selbst um ein plastisches System handelt oder nicht. Nur im ersten Fall ist eine reziproke Koppelung möglich. Zum besseren Verständnis in den Worten Maturanas: "Das Ergebnis der fortgesetzten Interaktionen eines strukturell plastischen Systems in einem Medium mit redundanter oder rekurrenter Struktur kann daher in der fortgesetzten Selektion einer Struktur des Systems bestehen, die einen Bereich möglicher Zustände so festlegt, daß das System in seinem Medium operieren kann, ohne sich aufzulösen. Ich nenne diesen Prozeß ,Strukturkoppelung' . Wenn das Medium selbst ein strukturell plastisches System ist, dann können die beiden plastischen Systeme durch die reziproke Selektion plastischer Strukturveränderungen im Laufe ihrer Interaktionsgeschichte reziprok strukturell gekoppelt werden. In einem solchen Fall werden die strukturell plastischen Zustandsveränderungen des einen Systems zu Einwirkungen auf das andere und umgekehrt, und zwar so, daß ein ineinandergreifender, wechselseitig selektiver und wechselseitig Interaktionen auslösender Bereich von Zustandsfolgen entsteht" (Sprache 1984,244). 115 Maturana, Lernen 1983,60. 116 Wie -auch immer dieses Medium beschaffen sein mag. Ist es selbst strukturell plastisch, dann erfährt es seinerseits Veränderungen und zeigt damit "erlerntes" Verhalten. Lernen ist damit eine notwendige Konsequenz der strukturellen Veränderungen der Lebewesen unter den Bedingungen von Störeinwirkungen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung ihrer Organisation. Daraus zieht Maturana den Schluß, daß Lernen keine Absicht oder Intentionalität verfolge. Die Beschreibungen von Absichten seien Kommentare

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Systems bestimmen könnte. Vielmehr sucht das Lebewesen selbst seine Angepaßtheit und seine Organisation über die Störeinwirkungen des Mediums hinweg zu bewahren. Von diesem Standpunkt aus gibt es also keine "instruktiven" Interaktionen; das Medium selektiert lediglich die strukturellen Veränderungen des Organismus und spezifiziert sie nicht. Desweiteren folgt daraus: Weder verändert sich das lebende System allein, noch bleibt es unverändert. Beide bilden vielmehr stets eine Einheit und befinden sich damit gleichsam automatisch in Kongruenz, solange das System lebt. Wird dieser Punkt, dessen Gültigkeit' durch das Verständnis der biologischen Phänomene oben nahegelegt wurde 117, akzeptiert, dann müßte auch die Feststellung akzeptiert werden, daß die gegenwärtige Struktur eines Lebewesens immer das Resultat einer Geschichte ist, in der die strukturellen Veränderungen des Systems stets kongruent mit den Veränderungen des Mediums sind. 118 Schließlich müßte weiterhin akzeptiert werden, daß sich jedes Lebewesen in jedem Augenblick infolge dieser ununterbrochenen Geschichte von Interaktionen genau an dem Ort aufhält, an dem es sich gegenwärtig befindet. 119 Damit wäre aus dem Verständnis autopoietischer Systeme heraus zweierlei erwiesen. Erstens istjegliches Verhalten eines Lebewesens zu jeglichem Zeitpunkt durch seine Struktur determiniert. Zweitens ist jegliches autopoietisches System - weil es nicht von "außen" determiniert ist - autonom. Man kann demnach bei Lebewesen von einer Innendetermination im Unterschied zu allopoietischen Maschinen sprechen, die einer Außendetermination oder in den Worten Maturanas einer "instruktiven Interaktion" unterliegen. 120 Es bleibt noch die Frage zu beantworten, inwiefern diese Art der "Innendetermination" ausreicht, um Verantwortlichkeit im Sinne von Zurechnung zu begründen. Ich werde versuchen, diese Frage dadurch zu beantworten, daß ich den Innendeterminismus als einen "epistemischen Indeterminismus" schildere. Mit anderen Worten: Es wird zu zeigen sein, daß aus der Sicht des handelnden Individuums Unfreiheit erkenntnistheoretisch unmöglich ist. eines Beobachters, "gut für konversationelle Zusammenhänge, aber irreführend im konzeptuellen Bereich" (Lernen 1983, 70). 117 Man denke an das geschlossene neuronale Netzwerk des Nervensystems, das ausschließlich so operiert, daß es Relationen relativer neuronaler Aktivität erzeugt, die durch seine Struktur bestimmt sind und die Zustandsveränderungen des Nervensystems auslösen können; vgl. Maturana, Repräsentation 1985,282. 118 ,,Lernen als Prozeß besteht in der Transformation des Verhaltens eines Organismus durch Erfahrung ... Entsprechend der zustandsdeterminierten Organisation des lebenden Systems im allgemeinen und des Nervensystems im besonderen ist diese Transformation ein historischer Prozejf', Maturana, Kognition 1985, 60. 119 Maturana, Sozialität 1987, 290. 120 Autopoietische Maschinen halten nicht die Bestandteile wie allopoietische Maschinen - konstant, sondern die spezifischen Relationen zwischen den Bestandteilen, die sich ansonsten in beständigem Wandel befmden. Diese Unterscheidung ist von größter Bedeutung, wenn man den Systemcharakter "sozialer Systeme" bestimmen will; vgl. dazu unten Kap. 3 I 3.

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Gleichzeitig wird aber daran festgehalten, daß aus der Beobachtersicht Freiheit erkenntnistheoretisch unmöglich ist: Denn nur was Struktur hat, ist der Erkenntnis zugänglich. 121 Nun gibt es nicht wenige Autoren, die vom Beobachterstandpunkt aus Freiheit und Unfreiheit zugleich behaupten wollen. 122 Eine in dieser Hinsicht besonders populär gewordene Theorie stammt von Karl W. Deutsch 123. Da er seine Auffassung überdies systemtheoretisch begründet, dürfte sie für die Präzisierung der eigenen Sichtweise von besonderem Interesse sein. Ich werde sie daher als eine systemtheoretische Variante des Indeterminismus dem "epistemischen Indeterminismus" gegenüberstellen und die Unterschiede mehr betonen als die Gemeinsamkeiten. cc) Systemtheoretischer Indeterminismus Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß das autopoietische Konzept lebender Organismen weder die Position des "ontologischen Indeterminismus" noch die Position des "harten" Determinismus zu stützen vermag. Die Vorstellung einer transempirischen Entität, die als Wille Handlungen außerhalb gesetzmäßiger Zusammenhänge spontan erzeugen kann, findet aus kognitionstheoretischer Sicht keinen Halt. Der Wille artikuliert sich als Handlungsimpuls, der jeweils niedrigere Bezugssysteme reguliert. Insofern also der Wille von der Hierarchie der Bezugssysteme oder Kognitionen abhängig ist, kann er nicht frei im Sinne der ontologischen Konzeption sein. Aber er ist auch nicht unfrei in dem Sinne, daß der Weltlauf von außen festgelegt sei. Dies hat der Begriff des Strukturdeterminismus näher umschrieben: "Instruktive Interaktionen" kommen für Lebewesen nicht in Betracht. Veränderungen sind allein durch die Struktur des Systems bestimmt. Für Menschen bedeutet dies, daß die Kognitionen als lebensgeschichtliche Erfahrungen darüber entscheiden, welche Veränderungen möglich sind und welche nicht. Die Interaktionen zwischen den Lebewesen und ihrer Umgebung lösen zwar eine Wirkung aus, aber sie schreiben keine Effekte vor. Auf den ersten Blick im Einklang mit unserer Auffassung von der Innendetermination stehen Interpretationen über Bewußtsein und Wille, die Karl W. Deutsch dem maßgeblich von Norbert Wiener l24 geprägten Sammelbegriff der ,,Kyberne121 Das hat für den Wissenschaftler die fundamentale Implikation, daß er nur strukturell determinierte Systeme erklären kann. Und eine erklärende Hypothese wird unter Wissenschaftlern in aller Regel nur akzeptiert, wenn das zu erklärende Phänomen im Rahmen eines solchen Mechanismus reformuliert werden kann, der das Phänomen als Resultat des Funktionierens dieses Mechanismus erzeugt; vgl. Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 34; ders., Wissenschaft 1990, 107. 122 Im Prinzip sind das die Autoren der sogenannten .Vereinbarkeitshypothese, von denen wir bereits die Position Moores (Wille 1978, 142) skizziert haben. Weitere Autoren wären Schlick (Verantwortlichkeit 1978, 157), Austin (Können 1978, 169), Strawson (Freiheit 1978, 201), White (Freiheit 1978,234), Inwagen (Wille 1978,247); Kritik bei Pothast (Freiheitsbeweise 1987, 125). 123 Im folgenden wird vorwiegend zitiert aus Deutsch, Politische Kybernetik 1973. 124 Wiener, Cybernetics 1961.

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tik" entnommen und zu einem systemtheoretischen Politikverständnis erweitert hat. 125 In seinem Buch "Politische Kybernetik" begreift Deutsch das ,,Bewußtsein" als eine ,,Ansammlung von internen Rückkoppelungsvorgängen" und unter dem "Willen" im Bereich von Staat und Politik "ein Strukturmuster von relativ verfestigten Präferenzen und Hemmungen, die eine soziale Gruppe aus ihren früheren Erfahrungen bezieht, einen relevanten Teil ihrer Mitglieder bewußtseinsmäßig kennzeichnet und von ihnen als praktische Richtschnur angewendet wird, wodurch ihre Handlungsweise gelenkt und nachfolgende Erfahrungen begrenzt werden".I26 Auch bei Deutsch fmden wir die Bindung des Willens an affektlogische Bezugssysteme oder kognitive Schemata, und wir finden bei ihm die relative Autonomie gegenüber der Umgebung. Beide Komponenten zusammen reichen nach Deutsch hin, um systemtheoretisch von "freiem Willen" sprechen zu können: ,,Er ist jederzeit relativ frei von allen Einwirkungen der Außenwelt, denn er stellt ja nichts anderes dar als das Ergebnis der aufgespeicherten Vergangenheit des Netzes, die 125 Dahinter stehen bei Deutsch die folgenden Fragen und Grundannahmen: "Wie groß ist der Toleranzspielraum für Widersprüche und Ambivalenzen in einem gegebenen politischen System? Wie groß ist die Fähigkeit dieses Systems, sich selbst zu verändern und dennoch im wesentlichen seine eigene Identität und Kontinuität zu bewahren? Die Entscheidung über Leben und Tod einzelner Nationen und vielleicht der ganzen Menschheit ist zum Politikum geworden. Die Nationen sind eindeutiger als je zuvor auf die Fähigkeiten ihrer politischen Teilsysteme zur Toleranz, zum Lernen und zur lebenserhaltenden Selbstransformation angewiesen" (Kybernetik 1973, 23). 126 Deutsch, ebd. 154, 165. Mit diesen Defmitionen zielt Deutsch auf ein Verständnis von politischer Kybernetik als einem neuen Modell der Kommul'Jikation und der Steuerung, das gegenüber den älteren Modellen (mechanistischen, organismischen und historischen) den Vorteil haben soll, sowohl Erklärungen als auch Prognosen zuzulassen. Insofern jeder Zusammenhalt sozialer und politischer Organisationsformen auf Kommunikation, auf einem "Ensemble von Dialogen" und damit zu bewirkenden Lernprozessen beruht bzw. beruhen sollte, soll dieses Modell von demokratischer Qualität sein. Daß dieser Anspruch nicht eingelöst werden konnte, liegt an den hier schon mehrfach kritisierten Analogiebildungen zwischen dem individuellen Bewußtsein und dem Verhalten mit gesamtgesellschaftlichen Prozeßabläufen. Wie das nachstehende Zitat verdeutlicht, werden in höchst problematischer Weise "Bewußtsein" und "Wille" auf soziale Systeme übertragen. Damit sollen die Charakteristika kybernetischer (heute würde man sagen autopoietischer) Systeme für die Politik reklamiert werden, nämlich Autonomie, Kreativität, Lernfähigkeit, Selbststeuerung und Selbsterhaltung. Es wird nicht gesehen, daß damit das Politikfeld zugleich zu einem Gebilde mit operationaler Geschlossenheit transformiert wird, das gerade "zieländernde Rückkoppelung" und "schöpferisches Lernen" erschwert oder gar nicht zuläßt. Zur Verengung des Politikbegriffs auf Mechanismen der Selbststeuerung und der Ausdifferenzierung schreibt in diesem Sinn Greven (Systemtheorie 1974, 129): ,,Der Politikbegriff, der in diesem Systemansatz deutlich wird, ist vordringlich und spezifisch auf das administrative Verhalten politisch relevanter Systemteile begrenzt. Er setzt allein auf der Makro- oder Systemebene an. Ihm fehlt die individuelle Dimension der Selbsttätigkeit der Systemmitglieder, deren Verhalten allenfalls als Residualkategorie Eingang in das System fmdet, wenn die Folgen solcher Aktionen als Daten für die Entscheidungsfällung des Systems relevant werden"; vgl. ähnliche Kritik bei Naschold, Systemsteuerung 1971; Systemanalyse 1971,63; Gessenharter, Kybernetik 1971,297; Waschkuhn, Institutionstheoretische Ansätze 1981, 177; ders., Institutionentheorie 1987, 71.

II. Fühlen

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nun wieder in die laufende Entscheidungsbildung einbezogen wird. Ohne eine wirksame Rückkoppelung der Vergangenheit würde das Verhalten des Netzes weitgehend von äußeren Einwirkungen bestimmt werden. Das Netz würde nicht steuern, sondern dahintreiben, und zwar sowohl in seinen äußeren wie in seinen inneren Beziehungen. Das Netz will, so lange es Autonomie besitzt, so sein, wie es ist. Sein Verhaltensmuster (die ,Persönlichkeit'), die es in der Vergangenheit erworben hat und die es mit jeder Entscheidung laufend verändert und neu gestaltet, sind von ihm gewollt. Dadurch, daß es in der Vergangenheit gelernt hat, ist es nicht völlig von der Gegenwert abhängig. Dadurch, daß es noch weiter lernen kann, ist es nicht völlig von der Vergangenheit abhängig. Die Neuordnung, die es jeweils in seinem Innern vornimmt, um mit neuen von außen kommenden Problemen fertig zu werden, erfolgt in einem Wechselspiel zwischen den Erfahrungen seiner Gegenwart und seiner Vergangenheit. In diesem Wechselspiel können wir so etwas wie ,innere Freiheit' erkennen." 127 Bei genauerem Zusehen gibt es jedoch zwischen unserer Position und der von Deutsch einen tiefgreifenden Unterschied. 128 Es ist dies exakt jene Differenz, 127 Deutsch, Kybernetik 1973. 166. Die entscheidende Frage ist, wie schafft es dieser auf das politische System ausgedehnte Wille, ,,frei von allen Einwirkungen der Außenwelt" zu sein? Die seit Max Weber gebräuchliche Antwort gibt auch Deutsch: Es ist das Kommunikationsmedium der Macht, das dem Willen zur Autonomie verhilft. ,,Die Verfestigung einer Entscheidung - das heißt die Abschließung des die Entscheidung treffenden Systems gegen alle nachfolgenden Nachrichten, die eine Modifizierung der Entscheidung bewirken könnten - ist praktisch bedeutungslos, solange keine Vorrichtungen gegeben sind, um sie gegen mögliche äußere Widerstände durchzusetzen ... Wille ist also wirkungslos ohne Macht; aber Macht ist ohne Willen nur eine Wirkung ohne Ziel" (ebd. 170). Diesen Gedanken präzisiert Deutsch in einigen Thesen: "In ihren internen Beziehungen wird eine Einzelperson oder eine Organisation solchen Werten oder Verhaltensmustern den Vorzug geben, die am besten mit der Struktur der Gewohnheiten und Erinnerungen übereinstimmen, welche sie in der Vergangenheit erworben hat. In ihren Beziehungen zur Außenwelt werden Personen und Organisationen versuchen, entsprechend zu handeln, also ihrem ,Charakter' gemäß. Als Macht verstehen wir dann das Ausmaß, in denen eine Person oder Organisation nachhaltig Und erfolgreich ihrem Charakter oder Wesen gemäß handeln kann. Anders ausgedrückt: Als Macht verstehen wir die Fähigkeit einer Person oder Organisation, ihrer Umwelt die Extrapolation oder Projektion ihrer inneren Struktur aufzuzwingen" (ebd. 171). Man vergleiche dazu die Definition der Macht bei Max Weber: "Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht" (Grundbegriffe 1978, 42). Nachdem auf diese Weise "Macht" als erfolgreiche Abwehr von Information und Dialog analysiert wurde, will Deutsch in Analogie zu selbststeuernden Netzwerken eine sozialwissenschaftliche Theorie der Selbstbestimmung von Gesellschaften entwickeln: ,,Eine Gesellschaft, die sich selbst steuern soll, muß in voller Stärke fortlaufend einen dreifachen Informationsfluß empfangen: Informationen über die Außenwelt; Informationen aus der Vergangenheit, wobei der Bereich der Entnahme und Neuordnung von Erinnerungen sehr weit gespannt sein muß; Informationen über sich selbst und alle Einzelteile. Wenn eine dieser drei Ströme längere Zeit unterbrochen bleibt, etwa durch Unterdrückung oder Geheimhaltung, wird die Gesellschaft zu einem Automaten, einer wandelnden Leiche" (ebd. 193). Jedenfalls verwandeln Gesellschaften, die nach autopoietischem Modell konzipiert sind, Menschen in Automaten, d. h. zu fremdbestimmten Bestandteilen eines übergeordneten Ganzen; vgl. ausführlich hierzu weiter unten Kap. 3 I 3. 128 Ich gehe hier allein auf die Differenz ein, die sich aus der unterschiedlichen Betrachtung des personenhaften Willens ergibt.

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die uns zurückhält, den Begriff "freier Wille" zu verwenden und die uns statt dessen von "epistemischem Indeterminismus" sprechen läßt. Deutsch bezeichnet das Verhalten als Resultat des Wechselspiels zwischen den Erfahrungen der Gegenwart und der Vergangenheit. Demnach fließen die Erfahrungen von beiden Zeitdimensionen gleichwertig und gleichgewichtig in das menschliche Handeln .ein. Dem kann aus konstruktivistischer Sicht nicht ohne weiteres gefolgt werden, anderenfalls müßte das Postulat der Geschlossenheit der lebenden Organismen preisgegeben werden. Um nicht bei gesellschaftspolitisch sensiblen Fragestellungen doch wieder unversehens auf alte Denkmuster und damit auf alte Lösungen zurückzufallen, wiederhole ich den für das Problem der Willensfreiheit relevanten Standpunkt Maturanas: Die Zustandsdynamik des Nervensystems ist als Dynamik sensomotorischer Korrelationen zu jedem Zeitpunkt das Resultat der Geschichte seiner strukturellen Veränderungen unter Bewahrung seiner Organisation und Angepaßtheit. Die Organisation des Nervensystems ist die eines geschlossenen Netzwerkes von Bestandteilen, die untereinander interagieren, indem sie gegenseitig Aktivitätsveränderungen auslösen. Was einem Beobachter als Eingänge oder Ausgänge, als Input - Output des Organismus erscheinen mag, ist stets Ausdruck der momentanen Struktur der Einheit "Lebewesen". Verhaltensänderungen werden nach dieser Konzeption nicht durch Außenreize bestimmt bzw. determiniert, sondern durch die Struktur des Organismus selbst. Infolgedessen kann ein gegenwärtiger Umweltreiz nicht - wie Deutsch anzunehmen scheint - den Willen direkt beeinflussen. 129 Er kann aber sehr wohl in die Bestimmungsgründe künftiger Entscheidungen einfließen und die Zustandsdynamik des Systems verändern. Dies setzt freilich voraus, daß das System eine Interaktion mit dem Medium zuläßt. Denn allein die Nervensysteme und Organismen determinieren, was mit ihnen interagieren kann. Nehmen wir diese Auskünfte der biologischen Kognitionstheorie beim Wort, dann ist nicht nur jegliches Verhalten, sondern auch jeglicher Wille durch die 129 Weil Deutsch den Umwelteinfluß überbetont, muß er auch den Gedanken der "Macht" überstrapazieren. Er hält sie für "das wichtigste ,Zahlungsmittel' in den Tauschbeziehungen zwischen dem politischen System und allen anderen größeren Teilsystemen der Gesellschaft" (ebd. 182). An anderer Stelle definiert er seine Politikbestimmung etwas abgeschwächter, ohne sie in der Sache aufzugeben: "Macht ist also weder der Kern noch die Substanz der Politik. Sie ist lediglich eines von mehreren politischen Zahlungsmitteln, einer von mehreren wichtigen Mechanismen zur Schadensbegrenzung in Situationen, wo Einfluß, Gewohnheit oder freiwillige Gleichrichtung versagt haben." Als das eigentliche Wesen der Politik bezeichnet er "eine im Hinblick auf die Erfüllung gesellschaftlicher Zielvorstellungen zuverlässig funktionierende Gleichrichtung von menschlichen Arbeitsleistungen und Erwartungen" (ebd. 187). Diese Akzentuierung der Politik begegnet uns z. B. bei Luhmann (reziproke "Erwartungserwartungen") wieder, sie offenbart in erwünschter Deutlichkeit die Schwächen des Ansatzes; denn: "Selbstregulierung setzt im strengen Sinne des Wortes vollständige Autonomie, d. h. eigenständige Setzung des Sollwertes voraus, eine Annahme, die in diesem Ausmaß auf kein gesellschaftliches Teilgebiet anwendbar ist" (Naschold, Systemsteuerung 1971, 165).

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Struktur des Nervensystems bzw. durch den gegenwärtigen Zustand des Lebewesens determiniert. Von "freiem Willen" kann also in keinem auch noch so geschmälerten Sinn des Wortes die Rede sein. l3O Weshalb aber soll es dennoch möglich sein, von "epistemischem Indeterminismus" und womöglich von "Verantwortlichkeit" zu sprechen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir von der Perspektive des Beobachters fremder Handlungen zur Perspektive der Innensicht des Handelnden wechseln. dd) Epistemischer Indeterminismus Für eine Person, die über ihr eigenes zukünftiges Verhalten reflektiert, gilt eine besondere Erkenntnissituation. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß eine Person im vornherein nicht wissen kann, wann sie sich im Fluß der Erfahrung verändert und wann nicht. 131 Sie kann demnach auch nicht im vornherein festlegen, welchen optimalen funktionalen Zustand sie erreichen soll. Mit anderen Worten: Lernen und Veränderung lassen sich weder vorhersagen noch bestimmen. Der Grund hierfür ist in der einfachen Tatsache gegeben, daß alle Interaktionen zu Strukturveränderung und damit zu Lernprozessen führen. Welche Lernprozesse durch welche Interaktionen ausgelöst werden, ist aus der Sicht des Handelnden unmöglich zu antizipieren. 132 Der Handelnde kann zwar als Lernziel eine be130 Daß es letztlich für unser faktisches Handeln und unser Bewußtsein von diesem Handeln sogar ganz gleichgültig sein kann, ob ein freier Wille existiert, belegen die nachfolgenden Ausführungen. Diesen Gedanken diskutiert auch Wolf, Free Will 1981, 386. l31 Seit Laplace ist die These des Determinismus oft mit der Aussage prinzipieller Voraussagbarkeit verbunden worden. Das hat eine Reihe von Widerlegungsversuchen hervorgerufen, die allesamt die Voraussagbarkeit bestreiten. Den wichtigsten Widerlegungsversuch unternahm Bergson. Er entwickelte aus seiner Philosophie der Subjektivität einen Freiheitsbeweis, der darauf beruht, daß Vorgänge des Bewußtseinslebens weder von Außenstehenden noch von dem erlebenden Subjekt selber exakt vorausgesagt werden können. Bergson bestritt die im 19. Jahrhundert verbreitete Annahme, daß Eigenschaften psychischer Vorgänge genauso quantifizierbar und meßbar seien wie Vorgänge der physikalischen Natur. Nach seinen Überlegungen müßte jeder Versuch, eine Handlung vorauszusagen, darauf hinauslaufen, daß der Erkennende sich identisch mit dem macht, der entscheidet. Das faßte Bergson in der These zusammen, daß man eine Entscheidung nicht voraussagen, sondern nur treffen kann (vgl. Zeit 1911, 148). Diese These unterscheidet sich von unserem Standpunkt darin, daß wir sie lediglich auf das Subjekt der Handlung beschränken und damit einen schwächeren Anspruch erheben: Es wird im folgenden nicht behauptet, Handlungen seien von niemanden voraussagbar, sondern nur, das handelnde Subjekt selber könne seine Handlung bzw. Entscheidung nicht voraussagen. 132 Das gilt freilich sehr häufig auch für den Standort des Außenstehenden. Aber bei diesem sind die Beschränkungen der Voraussagbarkeit nicht prinzipieller Art. Maturana und Varela (Erkenntnis 1987, 135) führen die begrenzte Voraussageflihigkeit auf die Beschränkungen unserer Beobachtungsfähigkeit und des Verstehens zurück (z. B. in der Meteorologie und dem Phänomen der Turbulenz). Schließlich hat die modeme Physik gezeigt, daß es Systeme gibt, die ihren Zustand verändern, wenn sie beobachtet werden, so daß bereits der Versuch eines Beobachters, ihren strukturellen Verlauf vorauszusagen, sie aus dem Bereich der Voraussagemöglichkeit entfernt. Dennoch halten Maturana und Varela am Determinismus fest: "Wir können nur in dem Maße eine wissenschaftliche

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stimmte Richtung innerhalb eines Interaktionsbereiches benennen, aber er kann die zu erwerbende Struktur nicht festlegen. Diese Struktur kann nur im Verlauf der tatsächlichen Lerngeschichte, die in der fortgesetzten Verkoppelung der Struktur eines Organismus mit dem Medium besteht, ausgebildet werden. Die jeweilige Struktur hängt demnach ganz und gar von dieser Lerngeschichte ab. Eine Prognose über künftiges Verhalten ließe sich also nur auf der Basis der Kenntnis aller künftigen Erfahrungen des betreffenden Menschen erstellen. Da die Erfahrungen nicht wie bei "trivialen" Maschinen "instruktive" Interaktionen bewirken, sondern strukturdeterminiert verarbeitet werden, müßte eine tragfahige Prognose überdies mit dem Wissen über den Gesamtzustand des Systems gespeist werden. Ein solches Wissen über Vergangenheit und Zukunft ist für einen Beobacher fremder Systeme prinzipiell erwerbbar. Bei "trivialen" Maschinen sind Vorhersagen deshalb möglich, weil wir die "inneren" Mechanismen der Systemkomponenten kennen. Die triviale Maschine verfügt nur über eine begrenzte Zahl von Operationen und reagiert daher auf eine bestimmte Eingabe mit einer endlichen, vorhersagbaren Zahl von Möglichkeiten, so daß ein vorhersagbarer Output gegeben ist. 133 Im Prinzip ist dies bei ,,nicht trivialen" Maschinen nicht anders. Denn auch sie haben ebenfalls eine theoretisch berechenbare Anzahl von Operationen. Aber diese Zahl ist, wie wir bei der Beschreibung des Nervensystems gesehen haben, so groß, daß die möglichen Outputs aufgrund einer bestimmten Eingabe pr(lktisch nicht vorhersagbar sind. 134 Erklärung abgeben, in dem wir das zu erklärende Phänomen als Ergebnis der Arbeitsweise eines strukturdeterminierten Systems behandeln" (ebd. 134). Daraus folgern sie die Notwendigkeit, "sehr deutlich zwischen Determinismus und Voraussagbarkeit zu unterscheiden": ,,Eine Voraussage enthüllt deshalb, welches Geschehen wir als Beobachter erwarten" (ebd. 135). Wenn wir etwas als zufällig betrachten, so erweisen wir uns als Beobachter, die unfähig sind, dafür ein wissenschaftliches Erklärungssystem vorzuschlagen. Dazu auch Maturana, Wissenschaft 1990, 121. 133 Foerster, der meines Wissens die Begriffe "triviale" und ,,nicht-triviale" Maschinen als erster beschrieb (vgl. Molekular-Ethologie 1985, 179), verwendet das Wort "Maschine", um einen begrifflichen Apparat zu bezeichnen, mit dessen Hilfe man Berechnungen durchführt. Das ,,zusammen-Sehen" von Dingen muß innerhalb eines bestimmten Rahmens stattfinden, und der Einfachheit halber bezeichnet Foerster diesen ,,Rahmen" als Maschine. Um eine solch "logische Maschine" handelt es sich bei der "trivialen Maschine": Sie ist ein prototypisches Modell für Vorhersagbarkeit und Gewißheit. Die primitive Maschine sagt: ,,Jedesmal, wenn du mir den gleichen Input gibst, liefere ich dir den gleichen Output." Primitive Maschinen arbeiten also unabhängig von ihrer Vergangenheit. Triviale Maschinen sind deshalb deduktive Schlußweisen: Immer wenn wir dieselbe Ursache (Input) haben, wollen wir die gleiche Wirkung (Output). Um zu zeigen, wie vorsichtig man sein muß, wenn man lebende Organismen als triviale Maschinen behandelt, führt Foerster folgendes Beispiel an: "Vor kurzem hat ein polnischer Wissenschaftler den Versuch unternommen, Pawlows Untersuchungen zu wiederholen. Wie Pawlow betätigte er eine Glocke, wenn er den Hund fütterte, und schon bald fmg der Hund an zu speicheln, sooft er die Glocke hörte, auch wenn er nichts zu fressen bekam. Beim abschließenden Experiment entfernte der Wissenschaftler jedoch den Klöppel der Glocke und schwenkte sie lautlos vor dem Hund hin und her: Der Hund speichelte. Das Läuten der Glocke war also für Pawlow ein Reiz, nicht aber für den Hund!" (Wirklichkeit 1981).

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Man könnte nun der Auffassung sein, daß sich der Handelnde in keiner anderen Situation befmdet wie der Beobachter fremder Lebewesen, falls er über dessen Wissen verfügt. Unterstellen wir, daß die Kenntnis künftiger Interaktionen und das Wissen um den eigenen Systemzustand möglich sind, so gibt es doch einen relevanten Unterschied zwischen Beobachter und Handelndem. Er besteht darin, daß der Handelnde, der über künftiges Verhalten reflektiert, mit jeder Information, die er über sich und das Medium gewinnt, seine eigene Struktur verändert. \35 "Informationen" können demzufolge nur aufgenommen werden auf Kosten von Veränderungen im Gehirn. Weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft kann es eine vollkommen detaillierte Beschreibung des Gehirns eines Menschen geben, die unabhängig 'davon zutrifft, was der Mensch gerade denkt bzw. wie er über Freiheit und Unfreiheit denkt. Danach gibt es für das Subjekt keine definitive Voraussage, die Anspruch auf seine Zustimmung erheben könnte. Was immer das Subjekt selbst meinen mag, es existiert für das Subjekt keine definitive Information über das künftige Ereignis. MacKay spricht in diesem Zusamrnen134 Nicht-triviale Maschinen haben einen inneren Zustand, der sie von der trivialen Maschine unterscheidet. Dieser innere Zustand ändert sich jedesmal, wenn die Maschine einen Output berechnet. Die Maschine ist rückbezüglich; immer wenn sie eine Operation durchführt, ändert sie ihre Regel der Transfonnation (vgl. Segal, Erfindung 1988, 162). Dazu Foerster: "Wenn Gehorsam das Markenzeichen der trivialen Maschine ist, dann ist Ungehorsam das der nicht-trivialen Maschine. Dennoch ist auch die nicht-triviale Maschine gehorsam, nur folgt sie einer anderen Stimme. Man könnte vielleicht sagen, daß sie auf ihre innere Stimme hört" (Sicht 1985,12). Diese "innere Stimme" macht sie unvorhersehbar, obwohl sie absolut detenniniert ist und einwandfrei funktioniert. Ein weiteres Merkmal dieser Maschinen ist, daß sie in der Gegenwart, im Hier und Jetzt operieren (siehe Segal, Erfindung 1988, 157). 135 In Deutschland dürfte mit dieser These am populärsten Max Planck geworden sein (vgl. Willensfreiheit 1978, 272; Kausalgesetz 1975). Er hat das wichtigste Argument des epistemischen Indetenninismus herausgearbeitet: Daß die Voraussage eigener Handlungen unmöglich ist, weil jeder Versuch, die Daten für eine solche Voraussage zu gewinnen, und auch die Fonnulierung der Voraussage selbst die Handlungsweise der Person beeinflussen können. Also würden die Akte, die zum Bilden der Voraussage erforderlich sind, die Gültigkeit der Voraussage zunichte machen. Daß für einen äußeren Beobachter, der ohne verändernde Eingriffe alle kausal relevanten Bedingungen einer Handlung erfaßte, diese Handlung detenniniert wäre, steht damit nicht in Widerspruch. Soweit stimmt die Analyse mit unserem Standpunkt überein. Nicht nachvollziehbar ist, daß der von ihm beschriebene Wille deshalb "frei" und Grundlage der üblichen Zuschreibung von Verantwortlichkeit sein soll. Planck trennt den von uns postulierten untrennbaren Zusammenhang des affektlogischen Bezugssystems wieder auf, indem er den Willen dem Intellekt gegenüberstellt: Die Freiheit des Willens "beruht einzig auf dem Umstand, daß der Wille eines Menschen seinem Verstande vorgeht, oder, wie man auch sagen kann, daß sein Charakter mehr wiegt als sein Intellekt. Der Wille läßt sich vom Verstand wohl beeinflussen, aber niemals vollständig beherrschen" (Planck, Willensfreiheit 1978, 283). Im übrigen hat sich Planck zu Recht dem Versuch widersetzt, den sogenannten ,,Indeterminismus" in der Elementarteilchenphysik für einen Beleg menschlicher Freiheit auszuwerten. Diese Versuche verfehlen offensichtlich die Idee eines verantwortlich Handelnden und werden deshalb in aller Regel nur sehr vorsichtig fonnuliert; vgl. zu dieser Richtung Eddington, Physical Science 1938, Kap. XI; Jordan, Naturgesetz 1971; Heisenberg, Der Teil 1983; Mittelstaedt, Moderne Physik 1972,151; Popper, Indeterminism 1950, 117, 173; Dreher, Willensfreiheit 1987, 184.

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hang vom Prinzip der "logischen Unbestimmtheit" und führt folgenden Beweisgang an: ,,(a) Sie (die Beschreibung des Gehirns) kann zutreffen, bevor er sie glaubt; dann veraltete sie automatisch mit den Veränderungen, die sein Glauben im Gehirn erzeugt. Oder (b) es könnte möglich sein, es so einzurichten, daß die Veränderungen, die dadurch, daß er sie glaubt, im Gehirn produziert werden, sein Gehirn in den Zustand bringen, den sie beschreibt. In diesem Fall muß sie ungenau sein, wenn er sie nicht glaubt, und also würde er keinen Irrtum begehen, indem er sie nicht glaubt." 136 Vollkommen im Einklang mit der konstruktivistischen Lehre geht MacKay davon aus, daß alles, was ein Mensch glaubt und denkt, sich aufs strikteste im Zustand seines Gehirns niederschlägt. Genau diese Annahme erzeugt nun die eigenartige logische Konsequenz, daß ein Bewußtsein sich nicht vollkommen über sich aufklären kann. Sollen die Gehirne der erkennenden Subjekte den Diskurs über die Gehirne selbst repräsentieren, dann ist dies mit der notorischen Schwierigkeit von Sätzen vergleichbar, die über sich selbst sprechen. Stets laufen die Veränderungen dem Sprechen über die Veränderungen voraus. Stets ist der Zustand des Gehirns mit dem Akt der Selbstreflexion bereits ein anderer. In Maturanas Sprache haben wir gesagt: Alle Interaktionen führen zu Zustandsveränderungen des Nervensystems. Und da auch die Entscheidungen des Subjekts als interne Interaktionen zu Zustands- bzw. Verhaltensänderungen führen, gehören auch sie zu den Bedingungen, aus denen Handeln hervorgeht. 137

136 MacKay, Freiheit 1978, 307. Aus diesen Überlegungen zieht MacKay im übrigen auch den Schluß, daß sich die Erkenntnissituation nicht verändert, wenn mehrere Personen beteiligt sind: "Kein Partner eines Dialogs kann in Übereinstimmung mit der Logik irgendeinen von den anderen als ein voll determiniertes System betrachten. Wir sagen nicht, daß es untunlich ist, so zu verfahren, sondern, daß es im Widerspruch zur mechanistischen Gehirntheorie selbst steht. In diesem technischen Sinn sind Personen im Dialog ebenso unhintergehbar dunkel wie für sich selbst" (ebd. 308). 137 Trifft diese Annahme zu, dann muß sich der Handelnde bei seiner Voraussage über die Zukunft sagen, daß für ihn weder das vollständige Begründen noch das Überprüfen von Voraussagen möglich ist. Räumt der Handelnde somit ein, daß für ihn keine wissenschaftliche Determination existiert, so hat er zugleich zugegeben, daß für ihn seine Entscheidungen in einem spezifischen Sinn frei sind. Außenstehende müssen diese Freiheit anerkennen, indem sie zugestehen, daß ihre eigenen Entscheidungen die Person selbst nicht binden. Bis zu diesem Punkt besteht zwischen MacKay und unserer Position Einigkeit. Der Dissens beginnt bei MacKays Versuch, im Gegensatz zu Planck aus der Unfähigkeit zur Voraussage ein Kriterium für soziale Verantwortlichkeit abzuleiten. Pothast formuliert die Position MacKays und ihre Schwäche folgendermaßen: "Wo die Unfähigkeit (zur Voraussage) gegeben ist, soll Verantwortlichkeit gegeben sein; wo Faktoren nachweisbar sind, die einem Handelnden selbst seine Handlung als gewiß erscheinen lassen, soll sie nicht vorliegen. Der negative Fall mag einleuchten: Wenn ein Handelnder empirische Beweise dafür hat, daß er in bestimmter Weise handeln muß (daß von seiner Entscheidung nichts abhängt), dann kann man annehmen, daß er von Fremden zu seiner Handlung gezwungen wird. Der positive Fall leuchtet nicht ein: Die Tatsache, daß der Täter seine Handlung nicht im voraus wissen konnte, beweist nicht die Abwesenheit von Zwängen" (Pothast, Freies Handeln 1978,271).

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Sehen wir uns die Entscheidungssituation genauer an. Sie zeigt, daß sich eine Person in einem solchen Augenblick gar nicht anders verstehen kann, als daß es von ihrer Entscheidung abhängt, wie sie handeln oder nicht handeln wird. Im Angesicht mehrerer Alternativen, die gerade jetzt zur Wabl stehen, kann sich der Handelnde nur abstrakt sagen: Ich werde, was immer ich tue, determiniert tun. In Bezug auf eine konkrete Handlung kann er jedoch niemals sagen: Ich kann nur diese Handlung tun, weil ich determiniert bin. Wie eben ausgeführt, verbieten die epistemischen Bedingungen dem Handelnden einen derartigen Standpunkt: Das Bewußtsein zählt ja selbst zu den determinierenden Faktoren der Handlung und hat somit als affektivkognitives Bezugssystem Einfluß auf das künftige Ereignis. Wenn es richtig ist, daß jede Information und jede daraus resultierende Entscheidung den Zustand des Bewußtseins verändert, dann ist notwendigerweise jedes Bewußtsein für sich intransparent. Sehr wahrscheinlich kann man noch weitergehen und anerkennen, daß dann alle psychischen Systeme füreinander undurchsichtig bleiben. Sie wären ja stets schneller als Fremd- oder Selbstbeobachtung. Daraus ergäbe sich, daß weder fremdes noch eigenes Verhalten konkret vorausgesagt werden kann. 138 Auch wenn man im Hinblick auf fremdes Verhalten nicht soweit gehen mag, steht jedenfalls fest, daß der Handelnde zwischen verschiedenen Möglichkeiten, die für ihn gleichermaßen offen sind, wählen muß. 138 Für Luhmann leitet sich die Unberechenbarkeit autopoietischer Systeme aus deren doppelter Kontingenz ab, die er zu den Bedingungen der Möglichkeit von Handlungen zählt (Systeme 1985, 149). Unter ,,kontingent" versteht er "etwas, das weder notwendig ist, noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Ppantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist" (vgl. zur Vorgeschichte dieses philosophischen Terminus Barth, Erscheinung 1947,326; Schepers, Kontingenz 1963). Im Hinblick auf die Situation von zwei handelnden Personen: "Die Grundsituation der doppelten Kontingenz ist dann einfach: zwei black boxes bekommen es, auf Grund welcher Zufalle auch immer, miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr eigenes Verhalten durch komplexe selbstreferentielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbar wird, ist deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt das gleiche der anderen. Deshalb bleiben die black boxes bei aller Bemühung füreinander undurchsichtig. Selbst wenn sie strikt mechanisch operieren, müssen sie deshalb im Verhältnis zueinander Indeterminiertheit und Determinierbarkeit unterstellen. Selbst wenn sie selbst ,blind' operieren, fahren sie im Verhältnis zueinander besser, wenn sie sich wechselseitig Determinierbarkeit im System / UmweltVerhältnis unterstellen und sich daraufhin beobachten" (ebd. 156). Trotz der Unterstellung von Determinierbarkeit bleibt natürlich das Verhalten wechselseitig unbestimmbar. Luhmann spricht von einer durch" Voraussage erzeugten Unbestimmbarkeit" und meint damit eben dies, was wir im Anschluß an MacKay ausgeführt haben: " ... wenn deutlich wird, daß eine Voraussagbarkeit benutzt wird, um Komplementärverhalten zu motivieren, mag eben das ein Motiv werden, das voraussagbare Verhalten zu ändern, um der Voraussage ihre Grundlage zu entziehen ... In dem Maße, als die Voraussage sich spezifiziert, gewinnt der andere eben dadurch die Möglichkeit, sich der Voraussage zu entziehen" (ebd. 171). .

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Er muß wählen, um weitere Operationen anschließen zu können, um die Organisation des Organismus aufrechterhalten zu können. Und diese Wahl ist nicht etwa nur eine Selbsttäuschung, auch dann nicht, wenn ihr eine determinierte Operation zugrunde liegt. Denn bewußte Systeme können gar nicht anders, als ihr eigenes Verhalten auf ihre eigenen Entschlüsse zurückzuführen: Sie wissen nämlich nicht, wie sie determiniert sind. Dennoch müssen sie Vorstellungen darüber entwickeln, wie ihre Vergangenheit und ihr jeweiliger Zustand beschaffen sein mögen. Diese Vorstellungen kommen dadurch zustande, daß das menschliche Gehirn zur Beobachtung seiner Gedanken befähigt ist. 139 Danach prozediert - wie Luhmann sagt - das Bewußtsein voraus, indem es auf seine Gedanken zurückblickt, wodurch bereits ein neuer Gedanke entsteht. Luhmann drückt damit sinngemäß aus, was wir über die durch jede Erfahrung bewirkte Zustandsveränderung des Systems gesagt haben. Er weist darüber hinaus auf die Möglichkeit der ,,selbst-lntendierung" hin, zu der bewußte Systeme mit Blick auf gespeicherte Erwartungen gelangen: ,,Es (das Bewußtsein; W. K.) operiert gleichsam mit dem Rücken zur Zukunft, nicht proreflexiv, sondern reflexiv. Es bewegt sich gegen die Zeit in die Vergangenheit, sieht sich selbst dabei ständig von hinten und an der Stelle, wo es schon gewesen ist; und deshalb kann nur seine Vergangenheit ihm mit gespeicherten Zielen und Erwartungen dazu verhelfen, an sich selbst vorbei die Zukunft zu erraten. Es verfolgt in sich selbst kein Ziel, sondern bemerkt, was ihm passiert ist. Es wird auf sich selbst aufmerksam. Es schlägt nicht Ziele wie Haken in die Zukunft (die ja noch gar nicht gegeben ist), an denen es sich voranziehen kann, sondern bemerkt seine Vorhaben in der Erinnerung. Es verfährt nicht antizipativ, sondern rekursiv, entdeckt aber dann im Rückblick gespeicherte Zukunftserwartungen. " 140 Durch Selbstbeobachtung leitet das Bewußtsein den Prozeß einer Art Selbstdetermination ein, die es dem bewußten System ermöglicht, sich selbst als Gegenstand einer Vorstellung zu behandeln. Wenn auch im Moment des Handeins keine bindende Voraussage möglich ist, so erfährt sich das Subjekt doch als eine Einheit, indem es sich von der Umwelt und anderen Subjekten unterscheidet. Die Vorstellung von der eigenen Identität ermöglicht es dem Bewußtsein, sich in der diffusen Aktualität des Moments zu lokalisieren und den Übergang in die Zukunft zu regulieren. Der Strukturbildung des Ich dient als Leitfaden die Differenz von Fremdreferenz und Selbstreferenz. 141 Anders könnte es sich nicht als verschiedenartig von einem anderen Bewußtsein oder der Umwelt abheben. Mit Hilfe solcher Differenzerfahrungen kann das Bewußtsein Gegenstände in AbgrenVgl. hierzu Luhmann, Bewußtsein 1987,33. Luhmann, ebd. 33. 141 Denn jede Beobachtung, auch die Beobachtung des eigenen Ich, der eigenen Gedanken und des eigenen Entschlusses, benötigt zwingend die Voraussetzung der System-Umwelt-Differenz. Die Vorstellung des eigenen Ich ist - so gesehen - ihrerseits nur Gegenstand eines Gedankens, der einen anderen beobachtet; vgl. dazu Luhmann, ebd.40. 139

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zung zu sich selbst identifizieren, somit diese Gegenstände als permanente Objekte in einer intransparenten Welt konstruieren. An anderer Stelle 142 haben wir die Funktion des Selbstkonzeptes auf die Bewahrung der sprachlichen Kohärenz zurückgeführt, die ihrerseits Verhalten zu koordinieren vermag. Zu den wichtigsten kognitiven Instrumenten der Koordination des Verhaltens haben wir das Wissen des Individuums darüber gezählt, wer Kontrolle über die eigenen Handlungen ausübt. 143 Und wir waren zu dem Ergebnis gelangt, daß sowohl die internale wie auch die externale Kontrollüberzeugung der Orientierung in einer kontingenten Welt dienen kann. Voraussetzung für adäquates Handeln ist freilich, daß sich der Handelnde - mit welchem kognitiven Schema auch immer - in einem konsensuellen Bereich bewegt. Auch die externale, deterministische Auffassung menschlichen Handeins vermag demnach erfolgreiche Interaktionen zu ermöglichen, solange die Individuen in dieser Überzeugung strukturell· gekoppelt sind. Dann werden sie Vorkehrungen treffen, die den Umgang mit den externen Kräften reglementieren und kontrollieren. An diesem Beispiel ist ablesbar, daß es bei jedem Selbstkonzept und damit bei jeder Fremd- oder Selbstzuschreibung um das geht, was wir oben ,.Auszug der Invarianz" genannt haben. Das Selbstkonzept ist eine derartige Invarianzkonstruktion insofern, als es der Umwelt eine attribuierte Stabilität entgegensetzt.

So erstaunlich es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag, Freiheitsund Unfreiheitsüberzeugungen sind gleichermaßen kognitive Schemata, die der Berechenbarkeit und Vorhersagbarkeit eigener und fremder Handlungen dienen. Es handelt sich bei ihnen um fortgesetzte Erfahrungen, die sich zu Erwartungen gesammelt und verdichtet haben. 144 Diese Erwartungen können von Situation zu Situation variieren, so daß es sehr wahrscheinlich ist, daß eine Person sowohl eine externale wie eine internale Kontrollüberzeugung besitzt. Ich vermute, daß immer dort, wo die epistemischen Bedingungen der Situation die Konstruktion von kausalgesetzlichem Geschehen erschweren oder unmöglich machen, Freiheit unterstellt wird. Umgekehrt kann Unfreiheit dort konsistent behauptet werden, wo dem Beobachter im Anschluß an den konsensuellen Bereich kausalgesetzliches Wissen zur Verfügung steht. 145 Für den Handelnden selbst heißt dies, daß Vgl. "Selbstkonzept und Selbstzuschreibung" (Kap. 2 I 3 a). Vgl. "Selbstkonzept und Kontrollüberzeugung" (ebd.). 144 Zu diesen Erfahrungen zählen auch fremde Erwartungen. ,,Ein System, das sich vorstellt, mit Erwartungen konfrontiert zu sein, findet sich in einer binär strukturierten Situation. Es kann nur auf zweifache Weise reagieren: mit dem Entschluß, die Erwartungen zu erfüllen, oder mit dem Entschluß, die Erwartungen zu enttäuschen" (Luhmann, Bewußtsein 1987,59). Für den Aufbau solcher Fremderwartungen genügt die mit dem Vollzug der Autopoiese sich einspielende Unterscheidung von System und Umwelt. 145 Diese Annahmen vertragen sich natürlich nicht mit der Prämisse von einer ,,Natur" im Sinne von etwas aus sich selbst heraus Gewachsenem, und sie vertragen sich nicht mit der Annahme eines apriori im Sinne von etwas aus sich selbst heraus Geltendem. Die kognitiven Schemata ,,Freiheit" und "Unfreiheit" resultieren aus der Situation doppelter Kontingenz, die ein uns allen gemeinsames Interesse an Bestimmung erzeugt. Siehe 142 143

!3 Karg!

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er nur als Beobachter vergangener Handlungen rückblickend einen deterministischen Standpunkt einnehmen kann. Künftige Ereignisse kann er indes nicht prognostizieren, weil jedes Wissen darüber zwangsläufig das Ereignis beeinflussen und damit verändern müßte. Im Hinblick auf künftige Entscheidungen muß er einen indeterministischen Standpunkt einnehmen. Für den Beobachter fremden Verhaltens gilt dies nicht gleichermaßen: Kann er vermeiden, daß seine Prognosen Einfluß auf das Geschehen nehmen, was eine komplizierte Experimentalsituation erfordert, dann steht einer deterministischen Auffassung lediglich die praktische Unmöglichkeit, sicheres Wissen über die Veränderungen des Systems und seines Mediums zu gewinnen, im Wege. Was vergangene Ereignisse anbetrifft, so befinden sich beide in derselben Situation als Beobachter, und sie können das Geschehen als kausal gebunden betrachten. d) Verantwortlichkeit

aa) Begründung der Verantwortlichkeit Ausgehend von der biologischen Kognitionstheorie kommen wir zu folgender Argumentationskette: Menschen sind autopoietische Systeme. Als solche operieren sie organisationell geschlossen und strukturdeterminiert. Aus der operationalen Geschlossenheit ergibt sich ihre relative Autonomie gegenüber der Umwelt, zu der auch andere autopoietische Systeme gehören. Unter Autonomie ist zu verstehen, daß die Interaktionen des Systems sein Verhalten weder instruieren noch bestimmen. Das System unterliegt demnach keiner Außenlenkung im deterministischen Sinn. Aus der Strukturdeterminiertheit ergibt sich die Bestimmung des Verhaltens durch den jeweiligen Zustand des Systems. Insofern muß von einer strikten Innendetermination autopoietischer Systeme ausgegangen werden. Unter dem Zustand bewußter Systeme ist das Gesamt affektlogischer Bezugssysteme zu verstehen. Diese Bezugssysteme verändern sich unter dem Druck von Störungen oder Perturbationen. Aus diesem Grunde sind autopoietische Systeme als plastische oder lerrifähige Systeme zu charakterisieren. Auch der Wille als regulierender Gefühlsimpuls unterliegt den Wandlungen des Systemzustands. Obgleich veränderbar, ist er nicht frei, da er gänzlich von der Hierarchie der Bezugssysteme abhängig ist. 146 dazu Luhmann (Systeme 1985, 172): "Das Offensein für Neukonditionierung beruht auf derselben Bedingung wie die Negativität, nämlich auf der Doppelung der Kontingenz: Ego erflihrt Alter als alter Ego. Er erfahrt mit der Nichtidentität der Perspektiven aber zugleich die Identität dieser Erfahrung auf beiden Seiten. Für beide ist die Situation dadurch unbestimmbar, instabil, unerträglich. In dieser Situation konvergieren die Perspektiven, und das ermöglicht es, ein Interesse an Negation dieser Negation, ein Interresse an Bestimmung zu unterstellen. Damit ist, in Begriffen der allgemeinen Systemtheorie formuliert, ein ,state of conditional readiness' gegeben, eine Systembildungsmöglichkeit im Wartestand, die nahezu jeden Zufall benutzen kann, um Strukturen zu entwickeln." An Gelegenheiten und Anlässen fehlt es nicht, kognitive Strukturen sowohl im Hinblick auf Determination wie auch im Hinblick auf Indetermination plausibel zu konstruieren.

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Aus all dem ergibt sich, daß Freiheit und Neuheit keine Merkmale der Operationen autopoietischer Systeme sind. Freiheit stellen wir als Beobachter fest. Demzufolge ist sie ein Merkmal des konsensuellen Bereichs, in dem wir durch strukturelle Koppelung mit dem Medium und anderen Menschen operieren. 147 Wir stellen Freiheit dann fest, wenn ein Beobachter ein Verhalten sieht, das nicht von der Determination des konsensuellen Bereichs vorausgesagt werden konnte. Unter solchen Umständen operiert das System zwar struktur-spezifiziert, aber das Verhalten ist nicht durch die strukturelle Koppelung des konsensuellen Bereichs bestimmt. Der so erreichte strukturelle Wandel kann nur deshalb stattfinden, weil der Organismus und das Medium in ihren Interaktionen als unabhängige Systeme operieren, von denen jedes durch seine eigene strukturelle Spezifikation bestimmt wird. Freiheit und Kreativität ereignen sich daher nur für den Betrachter, falls er andere Voraussagen gemacht hat. Sie sind im lebenden System stets das Ergebnis seiner Interaktionen außerhalb der Bereiche struktureller Koppelung. 148 146 Wenn wir statt des Merkmals "Gefühle" das Konstrukt "affektlogisches Bezugssystem" einsetzen und damit die ,,Rationalität" der Gefühle betonen, dann zeigt sich bis ins Detail eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen unserer Theorie und der Lehre von Manfred Danner (Wille 1977), die sich auf einen einzigen Satz zurückführen läßt: "Der Wille des Menschen wird durch seine Wertgefühle, deren Herr er nicht ist, determiniert." Diesen Gedanken hat Danner aus einer Reihe von Grundthesen heraus entwickelt, die ich nachstehend wörtlich aufführe, um die große Nähe zwischen dem "psychologisehen Determinismus" von Danner und unserem kognitions-biologischen Determinismus zu zeigen. Die Thesen lauten: ,,1. Das Wollen ist auf einen (im weitesten Sinne) subjektiven Wert gerichtet. 2. Was ein subjektiver Wert ist, bestimmen die Gefühle bzw. das Wertfühlen. 3. Also bestimmen die Gefühle unser Wollen. 4. Die Gefühle sind unserer freien Bestimmbarkeit entzogen. 5. Da das Wollen von den Gefühlen bestimmt wird, und da die Gefühle unserer freien Bestimmbarkeit entzogen sind, ist das Wollen determiniert. 6. In der Wahl zwischen zwei Werten entscheidet der subjektiv größere Bedeutungsgehalt eines Wertes, oder, was das gleiche besagt, entscheidet die Stärke der emotionalen Besetzung des jeweiligen Wertes. 7. Selbstverständlich können wir unser Werturteil auch rational begründen, aber wiederum ist es die emotionale, das heißt subjektive Bewertung der rationalen Begründung, die die Begründung zum ,Grund' und das Begründete zum Wert macht. 8. Die Gefühle sind es also, die unser Wollen bestimmen. Da es aber unsere Gefühle sind, die das Wollen bestimmen, und da wir uns mit unseren Gefühlen und mit unserem Wollen identifizieren, haben wir das Gefühl und das Bewußtsein, selbst zu bestimmen, und fühlen uns frei; insofern es aber die Gefühle sind, die unser Wollen bestimmen, bestimmen wir zwar selbst, aber nicht frei" (ebd. 7). Angemerkt sei hier lediglich, daß Danner diese aus unserer Sicht letztlich zutreffenden Hypothesen aus einer recht "simplifizierten Psychologie" (Dreher, Willensfreiheit 1987, 338) gewonnen hat, die der Kritik einen weiten Spielraum eröffnet hat. 147 Maturana, Kognition 1987, 116. 148 Mit fortschreitender struktureller Koppelung im konsensuellen Bereich erhöhen sich die Gefahren der Nivellierung, des Konfonnismus und der Anpassung. Darum sind alle unsere Verhaltensweisen mit anderen Menschen innerhalb konsensueller Bereiche unausweichlich Verhaltensweisen mit ethischer Bedeutung. Und das wiederum ist genau die Bedingung, die uns zu Beobachtern macht und die Erzeugung eines Metabereiches von Beschreibungen erlaubt. "Tatsächlich ist dies unser einziger (und der einzig lohnende)

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Im konsensuellen Bereich struktureller Koppelung rechnen wir in der Regel mit der Permanenz der Objekte, mit kausalem Geschehen, mit der Erwartbarkeit von Verhalten. Das haben wir bei der Beschreibung der Konstruktion des Ich und der Welt näher dargelegt. Demzufolge sind unsere kognitiven Schemata Orientierungsformen, die über die Unbestimmbarkeit und Kontingenz der Welt, zu der wir selbst zählen, hinwegtragen sollen. Mit Recht versteht Luhrnann unter solchen Orientierungsformen "Erwartungen", die ungewisses Terrain sondieren. 149 Auf diese Weise wird die unbestimmbare Umwelt dazu gebracht, sich in einer Weise zu äußern, die das System verstehen und operativ verwenden kann: Es projektiert Erwartungen und registriert dann, ob das Erwartete eintrifft oder nicht. Diese - wie Luhrnann sagt - "Primitivtechnik"l5O, mit der wir der Kontingenz der Umwelt begegnen, birgt ein entscheidendes Gefahrenrnoment. Sie führt nämlich notwendigerweise zu einer Reduktion von Freiheit und Kreativität. Wie die Formierung eines kognitiven Bereiches ganz allgemein berechenbare Strukturen zur Folge hat, so muß die Überfrachtung mit Erwartungen als Ergebnis fortschreitender struktureller Koppelung allmählich jene fatalistische Haltung erzeugen, die den Weltlauf als ein für allemal festgelegt betrachtet. 151 So kann im kognitiven Bereich aus einer vollkommen unbestimmbaren Umwelt eine vollkommen bestimmbare werden. In den Naturwissenschaften hat sich bekanntlich dieses konsensuelle Muster teilweise durchgesetzt. 152 Anspruch auf Freiheit. Im Prinzip können wir immer Beobachter unserer Umstände sein. Damit dies geschieht, brauchen wir nur unsere Interaktionen über die Grenze unserer Bereiche struktureller Koppelung (konsensueller oder anderer Art) hinaus auszuweiten. Das ist auch der Grund, warum das letzte Ziel jedes totalitären politischen Systems eine prüde soziale Moralität ist, d. h. eine völlige Spezifikation der Erfahrungen der Menschen in ihrem Herrschaftsbereich. Das ist jedoch nicht leicht zu erreichen; denn es würde die Vernichtung des Beobachters und mit ihm der Sprache voraussetzen", Maturana, Kognition 1987, 116. 149 Luhmann (Systeme 1985,362): "Bezogen auf psychische Systeme verstehen wir unter Erwartung eine Orientierungsform, mit der das System die Kontingenz seiner Umwelt in Beziehung auf sich selbst abtastet und als eigene Ungewißheit in den Prozeß autopoietischer Reproduktion übernimmt." 150 Luhmann, ebd. 363; Primitivtechnik deshalb, weil sie nahezu voraussetzungslos gehandhabt werden kann: "Sie setzt nicht voraus, daß man weiß (oder gar: beschreiben kann), wer man ist, und auch nicht, daß man sich in der Umwelt auskennt. Man kann eine Erwartung ansetzen, ohne die Welt zu kennen - auf gut Glück hin. Unerläßlich ist nur, daß die Erwartung autopoietisch verwendbar ist, das heißt den Zugang zu Anschlußhandlungen hinreichend vorstrukturiert. " 151 Eine gegenüber der fatalistischen Haltung weit verbreitete Form der Überfrachtung mit Erwartungen besteht in deren Verdichtung zu Ansprüchen. Das geschieht durch einen Prozeß der internen Anpassung an die Differenz Erfüllung / Enttäuschung von Erwartungen. Es ist dies ein Prozeß der Selbstbindung und des Selbstbetroffenseins, die sich im lebenden System als Gefühl artikuliert. Diesen so verstandenen "funktionalen Gefühlsbegriff' definiert Luhmann (Systeme 1985,364) folgendermaßen: "Gefühl (wird) hier verstanden nicht als undefinierbare Erlebnisqualität (etwa innerhalb der klassischen Trias von Vernunft / Wille / Gefühl), sondern als interne Anpassung an interne Problemlagen psychischer Systeme." Als solche Problemlagen haben wir im Anschluß an die genetische Epistemolog~e spannungsfördernde Perturbationen beschrieben, die "Unlust" hervorrufen und neue Aquilibrationen (Lust) erzwingen.

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Welcher Ausweg aus der endgültigen kognitiven Reduktion von Freiheit bietet sich an? Es kann dies nur ein Ausweg sein, der unser Operieren im kognitiven, sprachlichen Bereich betrifft. Der Ausweg besteht darin, daß wir immer Beobachter unserer Situation sein können. Dieser Umstand erlaubt uns die Erzeugung eines Metabereiches von Beschreibungen. Im Kapitel über das Bewußtsein 153 haben wir ausgeführt, daß der Mensch Beschreibungen über seine Interaktionen mit dem Medium anfertigt und daß er auf diese Weise auf einen Teil seiner Umwelt hin orientiert wird. Hat ein anderer Mensch eine vergleichbare Umwelt, so wird er auf einen vergleichbaren Interaktionsbereich hin orientiert. Daraus resultieren kommunikative Beschreibungen, die kooperative Interaktionsbereiche ermöglichen. Wird der Prozeß der Anwendung von Beschreibungen weitergeführt, so lernt das Bewußtsein schließlich mit den Repräsentationen seiner Interaktionen zu interagieren. Das Individuum wird so zum Beobachter und - falls er es lernt, sich selbst zu beschreiben - zum Selbstbeobachter. 154 Auch der neue Bereich der Selbstbeobachtung liegt vollständig im sprachlichen Bereich, da er aus dem selbstorientierenden Verhalten der Selbstbeschreibung entsteht. Es ist also die Sprache, in der das Ich und die Welt aufgebaut ist. Vor dem Hintergrund dieser Basisannahmen sind wir nun zu der Behauptung berechtigt, daß die Vorstellungen von Freiheit und Unfreiheit Repräsentationen von Interaktionen eines Beobachters sind. Voraus bLickend kann er die Situation so beschreiben: "Wie ich handeln werde, hängt von mir ab. Es ist meine Entscheidung, die das Handeln hervorbringt." Diese Beschreibung repräsentiert die epistemischen Bedingungen, in denen sich der Wählende vor seiner Entscheidung befindet. Er beobachtet Alternativen, die durch seine Erwartungen gebildet wurden, und muß nun zwischen diesen Alternativen wählen. Man kann sagen, daß sich der Handelnde aufgrund seiner Erwartungen unausweichlich in eine Situation bringt, in der er zwischen der Erfüllung oder der Enttäuschung der jeweiligen Erwartung wählen muß. Damit wird auch klar, daß eine Entscheidung niemals die Komplexität der Umwelt reduziert, sondern allenfalls die durch die affektlogischen Bezugssysteme geschaffene Komplexität. 155 152 Der Ehrgeiz, die Welt der Materie als eine perfekte Maschinerie mathematisch zu beschreiben, spiegelt sich z. B. in dem Titel des berühmtesten Werkes von Descartes wider: Discours de la methode pour bien conduire la raison et ehereher la verite dans le sciences (Abhandlungen über die Methode, die Vernunft richtig zu führen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen, 1637). 153 Vgl. Kap. 2 I 3. 154 Das ist in nuce die von Maturana, Glasersfeld und Foerster entwickelte .. Theorie des Beobachters". Sie war notwendig geworden, weil sich die Naturwissenschaften in Widersprüche verwickelten, die daraus resultierten, daß sie die Binsenweisheit mißachteten: Eine Beschreibung impliziert immer jemanden, der beschreibt bzw. beobachtet. Da nur lebende Organismen als Beobachter in Frage kommen, ist es nicht überraschend, daß Biologen diese Aufgabe zugefallen ist, und daß von Seiten der Biologie die entscheidenden Innovationen für ein neues wissenschaftliches Welt- und Menschenverständnis zu kommen scheinen; vgl. zum "Mythos der Objektivität" und zur Konstitution des Beobachters in der modemen Biologie Segal, Erfindung 1988,29.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

Da die Beobachtung der eigenen Erwartungen oder Motive den Zustand des Bewußtseins verändert, ist - wie ausführlich dargelegt - eine künftige Prognose für konkretes Handeln unmöglich. Rückblickend indes wird durch Selbstbeobachtung der Person einsehbar, daß ihre Handlungsdispositionen ein entscheidender Faktor beim Zustandekommen ihres Handeins sind. Die Person weiß nunmehr, daß erstens ihre Handlungen von ihren Entscheidungen abhängen, und daß zweitens diese Entscheidungen durch ihre Erfahrungen, die sich zu Erwartungen verdichtet haben, bestimmt werden. Eine sich selbst beobachtende Person muß demnach zu dem Schluß kommen, daß ihre Wahl keineswegs in einem kognitiven Vakuum stattfindet, sondern bestimmten affektlogischen Präferenzen entspricht, die lebensgeschichtlich erworben wurden. 156 Zwar wird im praktischen Fall die ganze Komplexität der Motivationslage, die ja eine vollständige Beschreibung des Gehirnzustandes voraussetzte, nicht durchschaubar sein, aber der Selbstbeobachtung sind sicherlich die dominierenden Erwartungsstrukturen zugänglich. Es sind dies jene Strukturen, die gewöhnlich als Merkmale des Charakters beschrieben werden und deren Veränderung besonderen Bedingungen unterliegt. Die Kenntnis dieser Strukturen allein reicht zwar für deren Veränderung nicht aus, aber sie ist eine wichtige Voraussetzung für einen Lernprozeß, der Veränderungen innoviert. Die andere Voraussetzung für Veränderung ist, daß sich das Medium. an das die Person strukturell gekoppelt ist, ebenfalls auf einen Lernprozeß einläßt. Aus dieser Sicht ist also Lernen ein Prozeß, bei dem Organismus und Medium gegenseitig als Auslöser ihrer Strukturveränderungen wirken. Was dies für die Begründung sozialer Reaktionen auf abweichendes Verhalten heißt, soll mit Hilfe des Begriffs der Verantwortlichkeit präzisiert werden. 157 155 Auf die Kritik an Luhrnanns Konzept der "Reduktion von Komplexität" komme ich weiter unten ausführlich zurück (Kap. 3 I 3c). Hier soll lediglich davor gewarnt werden, den Begriff "Komplexität" wie eine ontologische Gegebenheit zu behandeln. Der Entscheider steht nach konstruktivistischer Auffassung nicht vor den Alternativen einer wie immer komplexen "wirklichen" Welt, sondern vor den Alternativen, die durch die Unterscheidungen der eigenen Denkprozesse hervorgerufen wurden. Also wird selbstproduzierte Realität ,,reduziert". Betrachtet man den Vorgang nicht isoliert, sondern in ein Prozeßgeschehen eingebettet, dann trifft auch das Wort "Reduktion" nicht den Sachverhalt. Denn die Entscheidung produziert ihrerseits eine neue Unterscheidung und schafft somit Vielfalt. Wir sind also nicht "Reduktionisten", sondern Konstruktivisten. 156 Dem entspricht in etwa die These 6 von Manfred Danner (Wille 1977, 7): Es entscheidet die stärkere emotionale Besetzung des jeweiligen Wertes. Allerdings haben wir statt "emotionale Besetzung" den Begriff "affektlogisches Bezugssystem" gewählt, um zu verdeutlichen, daß Denken und Fühlen eine Einheit bilden, sich genetisch gleichgerichtet ausbilden und sich lediglich in den (komplementären) Modi der Welterfassung unterscheiden. Diese Doppelung der Orientierungssysteme erhöht die Überlebenschancen. Schildert man sie dagegen als quasi rivalisierende Systeme, dann muß man erklären, worin der evolutive Nutzen einer mit sich selbst zerstrittenen Psyche liegen soll. In aller Regel wird auf dieses Modell zurückgegriffen, wenn man (in zurechnender Absicht) eine Dominanz des Geistes gegenüber dem Gefühl, also Freiheit postulieren will. 157 Es ist fast ausschließlich das Interesse an der Verantwortlichkeit, das die Beschäftigung mit dem Freiheitsproblem inspiriert. Sollen Handlungen der Gegenstand ethischer Forderungen sein, erscheint es moralisch geboten, die Reaktionen auf irgendeine Form

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bb) Subjektive Verantwortlichkeit Der Begriff der Verantwortlichkeit ist mehrdeutig. 158 Man kann ihm die Bedeutung des "persönlichen Verdienens" von sozialen Reaktionen unterlegen und damit den subjektiven Aspekt von Verantwortlichkeit hervorheben. Man kann ihn aber auch von einer Reflexion auf eventuelle Zwecke, die mit sozialen Reaktionen intendiert sind, abhängig machen; dann betont man den objektiven Aspekt von Verantwortlichkeit. 159 In der Diskussion um angemessene Folgen für abweichendes Verhalten werden gewöhnlich heide Aspekte genannt und miteinander kombiniert. Dabei zeigt sich, daß mit zunehmender Härte der Folgen die Unterstellung der "subjektiven Verantwortlichkeit" an Bedeutung gewinnt. Da dieser starke Begriff von Verantwortlichkeit sowohl im Alltagslehen wie auch im Strafder Freiheit gründen zu können. Dazu Pothast (Freiheitsbeweise 1987, 18): ,,Ein Hauptinteresse, mit dem die Diskussion über Freiheit versus Determinismus geführt wird, ist das Interesse an der Verantwortlichkeit für Handlungen oder deren Vemeinung; an den Folgerungen,die daraus für die Reaktionen zu ziehen sind, mit der wir Regelverletzungen und moralisch falsche Handlungen beantworten ... " In grober Vereinfachung ausgedrückt, ergibt sich dann zumeist folgende paradoxe Situation: Wer zu eher harten Reaktionen neigt, plädiert mit dem Freiheitsargument; wer zu eher liberalen Reaktionen neigt, plädiert mit dem Determinismusargument. In concreto aber will der Freiheitsverteidiger "Unfreiheit" und der Determinismusanhänger "Freiheit". Das Beispiel demonstriert vorzüglich, daß Sprache und damit kognitive Strukturen nichts an und für sich sind, sondern erst im Verwendungskontext Bedeutung gewinnen. Das Wort ,,Freiheit" hat nichts "freiheitshaltiges", ebensowenig wie das Wort "Stuhl" irgendetwas "stuhlartiges" hat. Also kommt es darauf an, den jeweiligen Gebrauchswert der Worte genau zu beobachten. Dabei muß es stutzig machen, daß das Wort Freiheit in der philosophischen und psychologischen Diskussion fast verschwunden ist, dafür aber einen umso breiteren Raum in Strafrechtslehrbüchern einnimmt. 158 Sieht man den Begriff im Zusammenhang mit der Freiheitsdebatte, dann ist mit ihm eine Eigenschaft gemeint, kraft deren sich jemand typische soziale Konsequenzen, die sich auf seine Person als diese Person richten, zuzieht. Pothast nennt diese sozialen Konsequenzen allgemein "zurechnende Reaktionen", die nicht bloße Meinungsäußerungen oder bloße Steuerungsmaßnahmen (so aber Ross, Guilt 1975, V; Baier, Responsibility 1970, 100) sind, sondern eine spezifische Haltung gegenüber dem Handelnden zum Ausdruck bringen. Pothast zählt sieben Charakteristika der zurechnenden Reaktionen auf, die oben im Text zum großen Teil in den Begriff des "Verdienens" zusammengezogen sind: (1) persönliches Element; Adressat nicht austauschbar; (2) die Reaktion ist affektiv gefärbt; (3) Billigung oder Mißbilligung; (4) Bewertung der handelnden Person von Hochschätzen bis Verachten; (5) als Folge der Bewertung Akzeptierung oder Ablehnung der Person; (6) manifeste Handlungen, die über Wertschätzung hinausgehen; (7) das Empfinden, die Reaktion komme dem, den sie trifft, gerechterweise zu (vgl. Freiheitsbeweise 1987,370). Im folgenden steht der siebte Zug der Reaktionen im Vordergrund. 159 Der schärfste Kritiker eines an Nützlichkeit und Zwecken orientierten Strafrechts war Kant. Unter dem Titel "Gerechtigkeit" nannte er das Strafgesetz einen kategorischen Imperativ: " ... wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas aufzufmden, was durch den Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe, oder auch nur einem Grade derselben entbinde, nach dem pharisäischen Wahlspruch: ,es sei besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe'; denn, wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben" (Metaphysik III, 1 E).

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recht dominiert, soll er vorrangig diskutiert und auf seine Verträglichkeit mit unserer Konzeption von autopoietischen Lebewesen hin überprüft werden. 160 Mit der Verantwortlichkeit in dem starken Sinn ist die Fähigkeit der Person gemeint, Gegenstand sozialer Reaktionen deshalb zu sein, weil die Person die fragliche Handlung frei tat. Wir sagen, es lag an ihr, daß etwas passiert bzw. nicht passiert ist. 161 Darin ist immer mitgemeint, daß sie die Handlung auch hätte unterlassen bzw. tun können. Das zentrale Kriterium für die Freiheit des Handeins besteht also in der Bestätigung des Satzes: Die Person hätte auch anders können. Gelingt diese Bestätigung, dann ist ihr das Geschehen bzw. Nichtgeschehen zuzurechnen, dann ist sie auch ein "angemessener" Gegenstand von sozialen Reaktionen. Sie hat dann Strafe oder Belohnung, Tadel oder Lob persönlich verdient. Unser hergebrachtes Instrumentarium zurechnender Konsequenzen be160 Siehe zu ,,Freiheit und Verantwortung" die bekannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord: ,,Achtung und Schutz der Menschenwürde gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes. Die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde stellen den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar ... Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistigsittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten. Diese Freiheit versteht das Grundgesetz nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums ... Sie kann im Hinblick auf diese Gemeinschaftsgebundenheit nicht ,prinzipiell unbegrenzt' sein. Der einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht; doch muß die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben . . . Dies bedeutet, daß auch in der Gemeinschaft grundSätzlich jeder einzelne als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt werden muß. Es widerspricht daher der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen" (BVerfGE, Neue Juristische Wochenschrift 1977, 1526). 161 Dieser Freiheitsbegriff liegt dem geltenden Schuldstrafrecht zugrunde, das auf den Regierungsentwurf eines neuen Strafgesetzbuches von 1962 zurückgeht. Es heißt dort in der Begründung, mit der das Schuldstrafrecht gerechtfertigt wird: "Schuldstrafrecht setzt allerdings voraus, daß es menschliche Schuld gibt, daß sie festgestellt und gewogen werden kann. Der Entwurf bekennt sich zu diesen Voraussetzungen. Der Begriff der Schuld ist im Volk lebendig. Ohne ihn gibt es kein Leben nach sittlichen Wertvorstellungen. Ohne sittliche Wertvorstellungef!.. ist menschliches Leben aber nicht möglich. Auch die Wissenschaft vermag nicht der Uberzeugung die Grundlage zu entziehen, daß es Schuld im Handeln des Menschen gibt. Neuere Forschungen geben dem Raum. Die Schuld kann auch festgestellt und gewogen werden. Es handelt sich dabei nicht um eine kausalwissenschaftliche Feststellung, sondern um einen sittlichen Wertungsvorgang innerhalb der Rechtsgemeinschaft, der gerade das eigentümliche Wesen des Richterspruchs ausmacht" (Entwurf 1962,96). Ein ähnliches Bekenntnis zur Willensfreiheit findet sich in dem Grundgesetzkommentar von Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, wo der Mitherausgeber Dürig aus der Würde des Menschen einen Geist ableitet, "der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und die Umwelt zu gestalten" (Dürig, Rn 15 zu Art. 1). Zu Artikel 2 schreibt Dürig: ..Der aus der Menschenwürde fließende Wert der Freiheit hat wertmäßig Vorrang ... vor dem ebenfalls in der Menschenwürde begründeten Wert der Gleichheit" (Rn 2,3 zu Art. 2).

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ruht zu einem großen Teil auf dieser Verknüpfung von Freiheit und Verantwortlichkeit: Die erstere wird als notwendige Bedingung für die Rechtfertigung der letzteren angesehen. Stimmt man mit dem genannten Bedingungsverhältnis von Freiheit und Verantwortlichkeit überein 162, so hängt die Legitimation von zurechnenden Reaktionen davon ab, ob und mit welchen Argumenten der Begriff "Freiheit" behauptet werden kann. Seit eh und je ist das Problem der Verantwortlichkeit in diesem Sinne von Zurechnungsfahigkeit die Frage nach dem richtigen Verständnis des Satzes vom Anders-handeln-Können. Was ist hier mit ,,können" gemeint? Welchen Sinn hat hier die Rede von einer anderen Möglichkeit? Häufig ist hierauf die Antwort gegeben worden, daß eine Person dann nichts für ihre Handlung kann, wenn diese erzwungen wird. So hat es schon Aristoteles gesehen. Er bezeichnete unser Handeln als freiwillig und d. h. zurechnungsfahig, wenn wir a) wissen, was wir tun, und wenn wir b) nicht unter Zwang handeln. 163 Dabei hat er im wesentlichen nur an äußeren Zwang gedacht. Frei handelt danach eine Person, wenn sie nicht durch Machtausübung anderer, insbesondere des Staates, daran gehindert wird. So wichtig der Hinweis auf äußeren Zwang z. B. in der ordnungspolitischen Diskussion sein mag, er beschreibt längst nicht das 162 In diesem Punkt sind sich die Philosophen so gut wie einig. Sie unterscheiden sich in der Interpretation des Satzes vom "anders-handeln-können". Einige wenige allerdings behaupten kein Bedingungsverhältnis von Freiheit und Verantwortlichkeit, z. B. Frankfurt, Will 1971, 5; Matson, Free Will 1956, 489. 163 ,,Der Mensch aber handelt freiwillig. Denn das Prinzip, das die dienenden Glieder des Leibes bei solchem Handeln bewegt, ist im Menschen, und immer da, wo das bewegende Prinzip im Menschen liegt, steht es auch in der Macht des Menschen, zu handeln oder nicht zu handeln. So ist denn dieses Handeln freiwillig" (Aristoteles, Nikomachische Ethik 1969, 111Oa). ,,Freiwillig" (hekusion) handelt danach, wenn das bewegende Prinzip der Handlungen in den Personen liegt. Greift das Prinzip von außen ein, so wirkt es "gewaltsam" (biaion): "Gewaltsam ist ein Vorgang, dessen bewegendes Prinzip von außen eingreift, ohne daß der Bezwungene irgendwie mitwirkt" (ebd. 1110b). Die für die neuzeitliche Debatte typische Frage, ob nicht auch die bewegenden Instanzen in der Person selbst durch anderes bestimmt sein könnten, tritt also bei Aristoteles noch nicht auf. Die Gegenüberstellung von vollständigem Bestimmtwerden durch vorausliegende Umstände und Freiheit von solchen Umständen sowie Selbstbestimmung fmdet sich zum ersten Mal bei Augustinus. Im Hinblick auf die Bedingungen der Schuldhaftigkeit stellt er einerseits fest: ,,Entstünde nämlich diese Bewegung aus Natur oder Notwendigkeit, dann wäre sie unter gar keinen Umständen schuldbar" (De libero arbitrio m, 1). Andererseits: "Deshalb liegt ja nichts so sehr in unserer Macht als unser Wille selbst, denn er ist ungeteilt und ununterbrochen, sobald wir ihn nur wollen, in unsere Hand gegeben" (ebd. m, 7). Damit hat Augustinus eine Position formuliert, die man mit dem klassischen Wort "Willensfreiheit" kennzeichnen kann. entscheidend ist, daß die Handlungen nicht durch eine dem Einfluß der Person entzogene "Notwendigkeit" hervorgebracht werden und der Wille als Vermögen der Handlungen "in unsere Hand gegeben" ist. Diese Position hat sich - freilich im Detail vielfach variiert - bis zum Neukantianismus z. B. bei Nikolaus Hartmann (vgl. Ethik 1935), bis zur existentialistisch ausgerichteten Phänomenologie von Jean Paul Sartre (z. B. Das Sein 1962) und bis zur analytischen Philosophie eines Roderick Chisholms (vgl. Freiheit 1978, 71) gehalten. Zur Willensfreiheit in dem genannten Sinn bekennen sich wohl auch Arnold Gehlen (Willensfreiheit 1933), Campbell (Free Will 1967) und Taylor (Action 1966).

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ganze Problem. Zum einen wissen wir heute um subtilere Formen der Herrschaft. Diese kann durch die strukturellen Koppelungen im konsensuellen Bereich wesentlich effektiver als durch absoluten Zwang ausgeübt werden. Zum anderen müssen wir der Zustandsdeterminiertheit unserer Handlungen Rechnung tragen. Was bleibt aber von dem Wort "können" noch übrig, wenn wir den äußeren durch den inneren Zwang ersetzen? Auf einen möglichen Ausweg hat George Edward Moore hingewiesen. 164 Im Anschluß an Hume vertritt er die Auffassung, daß freies Handeln nicht etwas Übernatürliches ist, sondern eine bestimmte Art von kausalem Geschehen. 165 Dementsprechend gibt er dem Wort ,,können" einen Sinn, der nicht im Gegensatz zu Notwendigkeit, sondern im Gegensatz zu Unfähigkeit steht. Als Beispiel führt Moore an: Ich hätte in diesem Sinn von ,,können" und ,,nicht können" heute morgen eine Meile in 20 Minuten laufen können, aber nicht 20 Meilen in 5 Minuten. Obwohl ich in diesem Sinn von ,,können" etwas hätte tun können, was ich nicht getan habe, ist gleichwohl alles, was ich getan habe, verursacht gewesen und war insofern notwendig und hätte also nicht anders sein können. Worauf also Moore aufmerksam macht, ist eine Interpretation von Können, die sich auf Fähigkeiten des Handelnden bezieht. Es müssen bestimmte kausale Faktoren gegeben sein, die die betreffende Handlung ermöglichen. Bei Menschen ist die Sache insofern komplizierter, als es bei ihnen nicht genügt, daß bestimmte äußere Umstände eintreffen. So reicht nicht aus, daß S die Fähigkeit hat, Geige zu spielen, und daß er Geige und Bogen in Händen hält, hinzukommen muß, daß S die Fähigkeit auch ausüben will. Ob er es tut oder nicht, hängt nur noch von ihm ab, das heißt nur noch davon, ob er es will. Es ist dieses Können, das viele Autoren meinen, wenn sie jemanden für eine Handlung oder Unterlassung verantwortlich machen. Tatsächlich loben oder tadeln wir eine Person nur dann, wenn wir voraussetzen, daß sie in dem so definierten Sinn verantwortlich ist: Sie wollte die Tat und muß nun eine Einwirkung auf ihren Willen hinnehmen. 166 Moore, Wille 1975, 119. Hume konstatiert: "Diese hypothetische Freiheit wird nun aber einem jeden allgemein zugestanden, der nicht ein Gefangener ist und in Ketten liegt. Hier ist also kein Punkt der Uneinigkeit" (Human Understanding 1902,95). 166 In der deutschen Strafrechtsliteratur vertreten diese Auffassung selbst die ,,Agnostiker" (bzgl. der Willensfreiheit), ja sogar manche Deterministen. Häufig liest man die Behauptung, daß in der sozialen Wirklichkeit auf das Prinzip der Verantwortlichkeit des geistesgesunden Menschen und damit seines ,,Andershandelnkönnens" schlechterdings nicht verzichtet werden könne (vgl. Dreher, Willensfreiheit 1987, 57). Kohlrausch sah darin eine "staatsnotwendige Fiktion" (Sollen 1910,26). Roxin behauptet ebenfalls: Die Freiheit des Andershandelnkönnens, die sich dem empirischen Nachweis entzieht, "bedarf keines Beweises, weil ihre Rolle im Strafrecht nicht die eines Faktums, sondern einer normativen Setzung ist. Wenn unsere Verfassung von den Grundsätzen der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit ausgeht, dann ... erteilt sie der Legislative, der Exekutive und der rechtsprechenden Gewalt den Befehl: Thr sollt den Bürger als freien, verantwortungsfähigen Menschen behandeln! Es geht also bei der Annahme menschlicher Entscheidungsfreiheit nicht um eine Seinsaussage, sondern um 164

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Es gibt nun eine notorische Schwierigkeit dieser Definition, die schon Moore selbst sah, ohne sie aufgelöst zu haben. Die Schwierigkeit betrifft die Frage, ob wir auch hätten anders wollen können, Das Problem wird häufig so formuliert: Diese Definition beziehe sich nur auf Handlungsfreiheit und nicht auf Willensfreiheit. Über ein "anderes wollen können" sei nichts gesagt, und damit sei das Problem wieder wie zuvor völlig offen. Schließlich sei nicht zu erweisen, ob wir jemals anders wünschen können, als wir wünschten. Russel war der Überzeugung: "Wir können handeln, wie wir Lust haben, aber wir können nicht Lust haben, wie wir Lust haben." 167 Das trifft den Kern der Sache und stimmt mit unserer Analyse des Willens überein. Der Wille ist an die affektlogischen Bezugssysteme gebunden und daher unfrei. Mithin kann der Wille weder als Rechtfertigung von Verantwortlichkeit noch als Adressat von zurechnenden Reaktionen tauglich sein. Aus kognitionstheoretischer Sicht führt daher jeglicher Versuch, Verantwortlichkeit aus irgendeinem Begriff vom Willen abzuleiten, in die Irre. Der Satz: Ich hätte anders wünschen können, ergibt keinen Sinn. 168 Denn niemand kann Lust haben, wozu er keine Lust hat. ein rechtliches Bewertungsprinzip" (Schuldstrafrecht 1984, 643; vgl. ders. Schuld 1979, 279; ders. Schuld 1974,171; ders. Schuldprinzip 1973, 316). Jescheck (Strafrecht 1988, 370) schreibt: "Der Gedanke der Verantwortlichkeit des erwachsenen und seelisch durchschnittlich gesunden Täters ist eine unbezweifelbare Realität unseres sozialen und moralischen Bewußtseins. Jeder geht von der Gewißheit der Freiheit als Voraussetzung des eigenen Handeins aus und erwartet ein freies Handeln auch von jedem anderen Menschen. Es wäre eine schlechte Kriminalpolitik, wenn das Strafrecht dieser fundamentalen, sozialpsychologischen Tatsache nicht Rechnung tragen und statt dessen das Menschenbild des konsequenten Determinismus zugrunde legen wollte, dessen Voraussetzungen ebensowenig exakt bewiesen werden können wie die der Freiheit." So erklärt auch Bokkelmann, nachdem er Determinismus wie Indeterminismus verworfen hat, ganz lapidar: "Praktisch folgt jeder dem Schuldprinzip" (Strafrechtskritik 1976,5). Bei Wesseis (Strafrecht, Allgemeiner Teil 1984, 101) heißt es: Da weder Determinismus noch Indeterminismus "wissenschaftlich exakt bewiesen sind, muß das Strafrecht sich mit der Erkenntnis zufrieden geben, daß das Prinzip der Verantwortlichkeit des sittlich reifen und seelisch gesunden Menschen eine unumstößliche Realität unserer sozialen Existenz ist". Aus dem älteren Schrifttum sei noch M. E. Mayer (Strafrecht 1915,447) genannt: Dreierlei "steht unverrückbar fest: Die Willensfreiheit ist undenkbar (sc. im Hinblick auf die Allgemeinheit des Kausalprinzips), die Unverantwortlichkeit ist unerträglich (sc. aus ethischen Gründen), der Widerspruch zwischen Unfreiheit und Verantwortlichkeit unabweis bar". Denn es sei nicht wahr, daß echte Verantwortung und Determinismus vereinbar seien. So kommt er zu dem Schluß: "Die Menschheit ist zum Indeterminismus determiniert." In diesem Sinne auch Naucke (Strafrecht 1987, 229): "Die subjektive Zurechnung von Handlungen, das Verantwortlichmachen für Taten, das Schuldig-sein-Können ist ein so selbstverständliches Organisationsprinzip für zwischenmenschliches Verhalten, daß keine Phantasie ausmalen kann, was geschähe, wenn man dieses Organisationsprinzip fallen ließe." 167 Zit. bei Hospers, Freiheit 1978, 112. 168 Wohl aber ergibt nach Hospers (ebd. 112) der Satz "ich hätte anders handeln können" einen Sinn, aber freilich nur, wenn die Welt eine andere gewesen wäre: "Ich hätte heute abend in die Oper gehen können, anstatt hierher zu kommen; das heißt, wären bestimmte Bedingungen anders gewesen, so wäre ich gegangen." Dieser Gedankengang stützt schlüssig den Determinismus, er gibt freilich nicht das geringste für die Frage der Verantwortlichkeit her.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition cc) Objektive Verantwortlichkeit

Müssen wir jede Hoffnung auf eine Begründung der Verantwortlichkeit aufgeben? Ich glaube, wir haben noch eine Chance, aber es ist keine Chance, die den traditionellen Sinn von Verantwortlichkeit und erst recht die traditionellen Reaktionen auf Abweichung ungeschoren läßt. Einen wertvollen Hinweis auf die Lösung des Problems fmden wir bei lohn Hospers in seinem Aufsatz "What means this Freedom?".169 Er definiert Zurechnungsfähigkeit folgendermaßen: Ein Mensch ist in dem Grad verantwortlich, in dem sein Handeln "durch den Gebrauch von Gründen verändert werden kann (oder hätte verändert werden können)". 170 Wenn akzeptiert wird, daß wir die Gründe, die das Handeln eines Menschen beeinflussen, durch Überlegungen, Gedanken, Erwartungen, affektlogische Bezugssysteme ersetzen, dann ist eine Brücke zu unserer Konzeption von epistemischer Verantwortlichkeit geschlagen. 171 Denn auch wir sind zu dem Schluß gelangt, daß sich Menschen über die Dauer ihres gesamten Lebens verändern können, und daß in diesem Sinn Lebewesen stets lemfähige Systeme sind. Wir müssen jedoch einen gravierenden Unterschied zu Hospers' Vorstellung von der menschlichen Lemfähigkeit festhalten. Wie sein Beispiel vom Waschzwang zeigt, geht er offensichtlich davon aus, daß der "Gebrauch von Gründen" wie eine instruktive Interaktion funktioniert: ,,Angenommen, der Mann, der ständig seine Hände wäscht, tut dies, wie er sagt, aus hygienischen Gründen, weil er glaubt, daß er von Keimen vergiftet werden wird, wenn er es nicht tut. Wir überzeugen ihn nun mit den besten medizinischen Belegen, daß sein Glaube grundlos ist. Nun ist der Test für seine Verantwortlichkeit, ob die veränderte Überzeugung ein verändertes Verhalten hervorbringen wird. Wenn sie es nicht tut, wie beim zwangshaften Händewaschen, so handelt er nicht verantwortlich, aber wenn sie es tut, so handelt er verantwortlich. Es ist nicht der Gebrauch von Gründen, sondern ihre Wirksamkeit bei der Veränderung von Verhalten, die zum Kriterium der Verantwortlichkeit gemacht wird. Und klarerweise findet bei Fällen von Neurose eine solche Veränderung nicht statt; tatsächlich wird dies oft zum definierenden Charakteristikum neurotischen Verhaltens gemacht: Es ist durch keinerlei rationale Überlegungen veränderbar."I72 169 Abgedruckt in dem bereits mehrfach zitierten Sammelband von Pothast (Freies Handeln 1978,93) unter dem Titel "Die Reichweite menschlicher Freiheit". 170 Hospers, Freiheit 1978, 99. 171 Zur Terminologie: Wir sprechen von "objektiver" oder "epistemischer" Verantwortlichkeit, weil diese Verantwortlichkeit darauf verzichtet, einem Handelnden seine Taten persönlich übelzunehmen. Eine individuelle Vorwerfbarkeit verbietet sich, wenn die Annahme zutrifft, daß Menschen strukturdeterminiert handeln. Dennoch scheint eine Verantwortlichkeit in dem Maße schlüssig begründbar zu sein, in dem Menschen aus ihrer Sicht "wählen" können und daher die Entscheidungsprozesse der Menschen für das Zustandekommen ihrer Handlungen wirklich relevant sind. Eine solche, auf die epistemischen B~ngungen gegründete ,,Freiheit des Wählenkönnens" ist eine taugliche Basis für Prozesse eines (stark reduzierten) Verantwortlichmachens. Demgegenüber erscheint es angemessen, eine Verantwortlichkeit,die auf kontrakausaler Freiheit plus Selbstbestimmung beruht, als "metaphysisch" zu bezeichnen. 172 Hospers, ebd. 99

H. Fühlen

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Zu allererst wird man gegen diese Passage einwenden können, daß eine veränderte Überzeugung auch ein verändertes Verhalten hervorbringen wird, anderenfalls kann eben nicht von einer Überzeugung im Sinn eines kognitiven Schemas gesprochen werden. 173 Wichtiger scheint mir jedoch ein Einwand zu sein, der sich auf den Vorgang der Überzeugungsbildung bezieht. Hospers nimmt an, daß wir unsere Überzeugung auf der Grundlage rationaler Überlegungen wie z. B. medizinischer Belege bilden. Lassen wir einmal beiseite, daß der Begriff Rationalität nach unserem Dafürhalten niemals Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen kann, sondern allein im Rahmen eines spezifischen Bezugssystems Sinn macht. 174 Lassen wir auch beiseite, daß Überlegungen stets eine emotionale Dimension besitzen, die Ciompi zu dem Konzept der affektlogischen Bezugssysteme veranlaßte. Der entscheidende Einwand ist: Dieses Bezugssystem bildet sich keineswegs dadurch heraus, daß das Bewußtsein Informationen von außen speichert und in Überzeugungen abbildet. Infolgedessen setzt die Veränderung von Kognitionen mehr voraus, als den Gebrauch von Gründen, die von außen an das Bewußtsein herangetragen werden. Wie wir aus der Theorie autopoietischer Systeme wissen, kann die Umwelt das lebende System nicht bestimmen, auch nicht im gebräuchlichen Verständnis des Wortes beeinflussen. 175 Sie bewirkt "Störungen", auf die das System so reagiert, wie es sein Zustand erlaubt. "Adäquat" reagiert das System, wenn die Struktur des Organismus derjenigen des Milieus entspricht. Da sich beide Strukturen beständig ändern, ist Lernen der Weg gemeinsamer struktureller Veränderungen als Resultat der Interaktionen 173 Dem Verständnis des Strukturdeterminismus zufolge, das sich mit den Erkenntnissen der modemen Himphysiologie deckt, affiziert jede Interaktion des Organismus den Zustand des gesamten Systems. Das impliziert, daß Denken, Fühlen und Handeln nicht in heteronome Sphären aufgespalten werden können, wie dies die ältere Willensphilosophie tut, indern sie einzelnen Sphären eine dominante Rolle einräumt. Daraus folgt, daß das Handeln eines lebenden Systems dessen inneren Zustand spiegelt, also Ausdruck der gesamten psycho-physischen Einheit ist. 174 Das folgt zwingend aus der konstruktivistischen Annahme, daß Beobachter über kein objektives Wissen verfügen. Das Rationalitätsproblem kann also nicht darin bestehen, daß die Vorstellungen des Menschen über die Welt empirisch richtig sein müssen. Das wäre eine Frage der ,,reinen Vernunft" (Kant). Das Rationalitätsproblem besteht vielmehr darin, in welcher Weise die Praxis der Menschen eine praktische, operationale oder methodische Vernunft ausgebildet haben. Diese praktische Vernunft ist unabhängig davon, ob in einer Gesellschaft magische Vorstellungen von der Welt existieren oder nicht. Auf jeder evolutionären Stufe der Gesellschaft kann diese praktische Vernunft ausgebildet oder verfehlt sein; vgl. zur praktischen Rationalität Eder, Natur 1988, 285. 175 Für strukturdeterminierte Systeme gilt, daß sie ausschließlich Veränderungen erfahren, die durch ihre Organisation und ihre Struktur bestimmt sind. Nach Maturana (Sprache 1985, 242) heißt dies im einzelnen: - Strukturdeterminierte Systeme können nur Interaktionen durchlaufen, die entweder ihre Struktur verändern und zu Zustandsveränderungen führen, oder die sie auflösen. - Die Zustandsveränderungen aufgrund von Störeinwirkungen werden durch die Eigenschaften der einwirkenden Entitäten nur ausgelöst. - Die Struktur dieser Systeme legt daher die Eigenschaften fest, die eine Entität aufweisen muß, um mit diesen Systemen zu interagieren und um auf sie verändernd oder zerstörend einzuwirken.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

zwischen Organismus und Milieu. Lernen setzt also nicht nur einen Wandel des Systems, sondern notwendigerweise zugleich einen Wandel des Mediums voraus. Beide, System und Milieu, sind strukturell gekoppelt und selektieren wechselseitig nur jene Strukturveränderungen, die ihnen weiteres Operieren ermöglichen. Für einen autopoietisch begründeten Begriff von Verantwortlichkeit heißt dies, daß die Zurechnungsfähigkeit nicht mehr nur aus der Lernfahigkeit des einzelnen Menschen abgeleitet werden kann. Da Lernfahigkeit als die Evolution von System und Milieu definiert werden muß, sich also beide nur gemeinsam ändern können, ist es folgerichtig, auch nur beiden zusammen das Resultat ihrer Zustandsveränderungen zuzurechnen. Es kann also nur eine gemeinsame Verantwortung für die Ko-Evolution im konsensuellen Bereich und dies meint im sprachlichen Bereich geben. 176 Wir sind gemeinsam für unseren konsensuellen Bereich verantwortlich. Freiheit wäre demnach als die unvorhersagbare Schöpfung neuer Verhaltensbereiche durch einen Organismus, und zwar durch dessen strukturelle Koppelung mit anderen Systemen oder mit sich selbst, zu bezeichnen. Oder anders ausgedrückt: Freiheit ist der Prozeß der Herstellung eines neuen konsensuellen Bereiches in interpersonalen Beziehungen. Das hat nichts mit freiem Willen oder Entscheidungsautonomie zu tun, sondern mit der Einzigartigkeit des Individuums, die, statt in konsensuellenBereichen zu erstarren, stets neue Interaktionen erzeugt. Den Prozeß der Kreativität sieht Maturana 177 mit der Unverwechselbarkeit der Ontogenese gegeben: 176 Welche allgemeinere Implikation ergibt sich aus dieser Auffassung für jenen, der auf sogenanntes abweichendes Verhalten ,,reagieren" will? Um darauf mit konstruktivistischen Argumenten antworten zu können, müssen wir die epistemologischen Prämissen des Konstruktivismus beachten. Danach ist das, was man sieht, immer eine Folge dessen, wie man handelt. Ob man einen Delinquenten als hoffnungslosen Psychopathen oder als ein lemfähiges Individuum sieht, ist eine Folge dessen, wie Polizei, Justiz und Vollzug handeln. So gesehen, enthüllen Beschreibungen von Beobachtungen immer die Handlungen des Beobachters. Diese Erkenntnis des Radikalen Konstruktivismus enthält nach Auffassung von Keeney für den Bereich der Therapie eine unmittelbare Aufforderung dahingehend, "daß der Therapeut auf Prämissen verzichtet, die ,objektive Beobachtungen' für möglich halten und er stattdessen die ,Ethik des Beobachtens' in den Mittelpunkt stellt. Weiß man, daß das, was man sieht, eine Folge dessen ist, wie man handelt, dann liegt die Verantwortung für die eigenen Beobachtungen beim Beobachter. Der Therapeut kann sich nicht länger losgelöst von seinen Beobachtungen des Klienten sehen. Was er sieht, ist i,mmer eine Folge seiner Handlungen und Interaktionen mit Klienten. Diagnose und Behandlung erscheinen relational und evolutionär und nicht isoliert und statisch" (Systemische Therapie 1987, 13). Die praktischen Konsequenzen dieses konstruktivistischen Therapieansatzes für den Bereich der Kriminalität können hier nicht ausgeführt werden. Fest steht jedenfalls, daß dieser Ansatz die Wahlmöglichkeiten des Handelnden ungeheuer vergrößert. Er ist nun aufgefordert, eine Wirklichkeit zu erfmden bzw. einen kommunikativen Kontext zu konstruieren, in dem konsensuelle Bereiche erarbeitet werden können. Zum systemtheoretischen Ansatz in psychiatrischen Institutionen vgl. Seywert, Kaufmann, Systemisches Denken 1988,87; Rüther, Anstaltsalltag 1988, 131; Fulde, Systemisches Modell 1988, 151; Onken, Klinik 1988, 156; Haley , Familientherapie 1988, 164; Deissler, Systemische Therapie 1988, 182; Keller, Sozialpsychiatrie 1988. 177 Maturana, Repräsentation 1985, 293.

II. Fühlen

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"Die Einzigartigkeit eines Organismus ergibt sich aus der Einzigartigkeit seiner Ontogenese (einschließlich seiner genetischen Konstitution). Außerdem manifestiert sich diese Einzigartigkeit in der einzigartigen Struktur jedes Organismus, da sich diese Struktur aus der vielfaItigen strukturellen Koppelung dieses Organismus an andere lebende oder nicht lebende Systeme ergibt. Aus dieser Einzigartigkeit der Ontogenese entspringt die Vielfalt des Verhaltens, die an Individuen derselben Art beobachtbar ist, und die Reichhaltigkeit konsensueller Bereiche, die sich bei Organismen wie Menschen fmdet, die von einem konsensuellen Bereich zu einem anderen übergehen können ... Aus dieser Einzigartigkeit der Ontogenese ergeben sich außerdem neuartige und für den Beobachter unvorhersagbare Verhaltensweisen, wenn neue Interaktionen erzeugt werden, die durch die Struktur anderer Systeme derselben Art nicht vorgegeben sind. In der Tat bedeutet jede strukturelle Veränderung ohne Identitätsverlust in einem plastischen Organismus eine Veränderung seines Zustandsbereiches und folglich eine Veränderung der strukturellen Koppelungen, die er herstellen kann. Da ein Organismus als ein homöostatisches System, und im besonderen sein Nervensystem, viele operationale Beziehungen in seinem Zustandsbereich invariant hält, führen viele strukturelle Veränderungen in ihm nur zu Variationen, die den Organismus im gleichen Verhaltensbereich belassen. Wenn jedoch die neue Struktur z. B. im Nervensystem zu neuen Interaktionsmodi des Organismus als einer Einheit führt, können sich die Verhaltensbereiche, in denen der Organismus sich bewegt, verändern, und neues Verhalten kann erzeugt werden." Worauf Maturana hier ein weiteres Mal aufmerksam macht, ist, daß neues Verhalten nicht durch eine bloße Informationsübertragung von außen nach innen zustandekommt. 178 Wäre dies tatsächlich der Fall, so gäbe es nie das Problem unzulänglichen Verhaltens; es gäbe kein Ordnungsproblem. Denn könnte das Nervensystem durch die in seinen Interaktionen erhaltene Information tatsächlich eine Repräsentation der Umwelt anfertigen und damit die Zustandsveränderungen berechnen, die für die Auseinandersetzung mit der repräsentierten Umweltinformation adäquat sind, darm wäre Verhalten prinzipiell vorhersagbar. Die Situation der Menschen wäre darm eine der wechselweisen Abgabe von Informationen, die ein Mißverstehen in interpersonalen Beziehungen ausschlösse. 179 Wir benötig178 Das neue Verhalten ist daher stets eine Schöpfung. Der kreative Prozeß besteht in der Herstellung eines neuen konsensuellen Bereiches in interpersonalen Beziehungen. Eine solche kreative Interaktion bezeichnet Maturana als eine nicht-kommunikative Interaktion. "Während dieses Prozesses gibt es keine Kommunikation zwischen den . interagierenden Systemen, da diese strukturell heteromorph sind und Kommunikation sich zwischen ihnen nur nach der Herstellung eines konsensuellen Bereiches durch die Erzeugung eines Bereichs struktureller Isomorphie entwickeln kann. Kommunikation führt daher nicht zu neuen konsensuellen Bereichen, sie führt lediglich zu Permutationen von Zuständen innerhalb eines vorgegebenen geschlossenen konsensuellen Bereiches" (Maturana, Repräsentation 1985, 294). 179 Gewöhnlich werden für das "Mißverstehen" zwei Erklärungen angeboten. Entweder wird angenommen, daß die Information durch Störungen im Übertragungskanal verzerrt wird, oder man behauptet, daß die strukturellen Merkmale des Empfängers (z. B. seine Erziehung) die Information beeinflussen. Das erste Argument besagt nichts über das Phänomen des Informationsempfangs - und ist deshalb als Waffe gegen den Konstruktivismus irrelevant - , das zweite Argument bestätigt die Auffassung Maturanas: Wenn die Merkmale des Organismus entscheiden, welche Information er in seinen Interaktionen erhält, dann gibt dieser Vorgang exakt das Operieren des Strukturdetermi-

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

ten dann auch nicht jenen konsensuellen Bereich, der die wechselseitige Undurchdringlichkeit der Subjekte überbrückt, indem er einerseits abgestimmtes Verhalten in bestimmten Bereichen ermöglicht, andererseits aber dessen Transformation zuläßt. Schließlich wäre auf der Grundlage des Informationsübertragungsmodells weder die Einzigartigkeit des Subjekts noch die Notwendigkeit seiner Veränderung einsehbar. Aus all dem ergibt sich, daß sich Verantwortlichkeit des Subjekts einzig auf folgende Aussagen stützen läßt: (1) Menschen sind in der Lage, konsensuelle Bereiche herzustellen, wobei unter konsensuellem Bereich ein ineinandergreifender Bereich von Unterscheidungen, Verweisen oder Beschreibungen verstanden werden soll. (2) Menschen sind Beobachter ihrer Umstände und also auch ihrer konsensuellen Bereiche. (3) Daraus folgert, daß sie die Faktoren, Unterscheidungen und Beschreibungen, aus denen ihr Verhalten resultiert, erkennen können. Menschen wissen somit, daß ihr Handeln auch von ihren Entscheidungen abhängt. (4) Daraus folgert nicht, daß den Entscheidungen eine freie Wahl zugrundeliegt. Die Wahl ist wie jedes Operieren des Organismus strukturdeterminiert und wird daher vom jeweiligen Gesamtzustand des Systems bestimmt. (5) Dennoch ist der Gesamtzustand als Resultat der ontogenetisch strukturellen Koppelung veränderbar. Er besteht aus den wechselweise ausgelösten Zustandsveränderungen der Organismen in einem konsensuellen Bereich. (6) Damit die mit jeder Interaktion eintretenden Zustandsveränderungen des Organismus "adäquates" Verhalten hervorbringen, ist erforderlich, daß die strukturellen Veränderungen des Organismus im Einklang mit denjenigen des Milieus stehen. Mit adäquatem Verhalten soll hier die strukturelle Übereinstimmung zwischen Organismus und Medium ausgedrückt sein. (7) Für den Begriff der Verantwortlichkeit muß daraus folgern, daß ein Mißlingen der strukturellen Übereinstimmung und daraus resultierendem "inadäquaten" Verhaltens nicht allein dem Organismus zugerechnet werden kann. Eine derartige "subjektive" Verantwortlichkeit, die mit persönlichem Verdienst argumentiert, würde den systemtheoretischen Erkenntnissen der Zirkularität und strukturellen Determiniertheit allen Geschehens widersprechen. (8) Eine objektive Verantwortlichkeit, die auf persönliches Übelnehmen verzichtet, ließe sich dagegen aus dem Gesichtspunkt der kognitiven Lernfähigkeit bewußter Systeme begründen. Als Anknüpfungspunkt für zurechnendes Verhalten kommt das Wissen des Handelnden um die Faktoren seines Handelns in Betracht. Dieses Wissen weiß auch um die ethischen Erwartungen anderer und es weiß gegebenenfalls um die Inkongruenzen zwischen der Eigen- und nismus wider. Wie kann man dann von vornherein behaupten, daß das, was ein Organismus tut, sich auf die Umwelt bezieht und nicht auf ihn selber?

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11. Fühlen

Übersicht 8: Theoretische Positionen über den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung. Indetenninismus

Detenninismus hart

weich

ontologisch

epistemisch

Menschliche Handlungen sind determiniert.

Menschliche Handlungen mögen detenniniert sein.

Menschliche Handlungen sind frei, da jedenfalls der "Wille", das "Selbst", das "Bewußtsein" außerhalb gesetzmäßiger Zusammenhänge steht.

Zwar sind menschliche Handlungen detenniniert, aber vor der Entscheidung zur Handlung vom Handelnden nicht voraussagbar.

Verantwortlichkeit setzt Freiheit im Sinne nicht determinierten Handelns voraus (= keine Willens- und Handlungsfreiheit).

Abwesenheit von Zwang genügt, um Verantwortlichkeit zu begründen (= zwar Handlungsfreiheit, aber keine Willensfreiheit; Vereinbarkeitstheorie).

Volle Verantwortlichkeit für alle Handlungen, solange Willensfreiheit des Handelnden gegeben ist.

Trotz dieser epistemischen Bedingungen kann aber der Handelnde beobachten, daß seine Entscheidungen Einfluß auf sein Handeln haben. Dieses Wissen impliziert Verantwortung für eigene Lernprozesse.

Keine moralische Verantwortlichkeit; daraus folgt entweder Fatalismus oder Revision der Zurechnungspraxis (= objektive Verantwortlichkeit).

Ablehnung der Willensfreiheit läßt konkrete Praxis von Lohn und Strafe weitgehend unberührt; eher Betonung des Zweckgedankens der zurechnenden Reaktion (= subjektive Verantwortlichkeit).

Da moralische Schuld existiert, "verdient" der Täter die Reaktion im Sinn gerechten Ausgleichs; eher absolute Auffassung von der Zurechnungspraxis (= subjektive Verantwortlichkeit).

Die Verantwortlichkeit aus dem Gesichtspunkt kognitiver Lernfähigkeit rechtfertigt die Forderung nach Erkenntnis und Veränderung. Dabei muß die Zurechnungspraxis berücksichtigen, daß es nur Ko-Evolution geben kann (= objektive Verantwortlichkeit).

v. Holbach, Nietzsche, Hospers, Ginet, Annstrong.

Hobbes, Locke, Hume, Moore, Austin, Schlick, Strawson.

Augustinus, Hartmann, Sartre, Chrisholm, Gehlen, Campbell, Taylor.

Bergson, Planck, Hampshire, MacKay, Maturana, Luhmann.

14 Kargl

Kap. 2: Psychologie der Kognition

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Fremderwartung. Einem solchen Bewußtsein ist die Norm zumutbar, das an sich selbst zu erkennen, was in der Vergangenheit "adäquates" oder "inadäquates" Verhalten zustandebrachte. Pothast kommt zu einer ähnlich sozialen Erwartung, "die vom Handelnden fordert, für sich selbst die psychischen und anderen Eigenschaften seiner zur Diskussion zu stellen, die eine bestimmte Handlungsneigung ausmachen". 180 Er geht noch weiter und fordert neben der Erkenntnis- auch eine Veränderungsarbeit: "Es erscheint fair, daß eine Gruppe von jemandem, dessen Handeln in der Vergangenheit andere Mitglieder der Gruppe schädigte, eine Veränderung erwartet. Er soll sich so weit verändern, daß eine Handlung dieser Sorte in Zukunft nicht mehr wahrscheinlich ist. Es ist die Erwartung, daß jemand bereit ist, einen quasi-therapeutischen Prozeß einzuleiten, oder, wenn er ihn selbst nicht einleiten kann, sich ihm zu unterwerfen." 181 An dieser Stelle haltgemacht, könnte es den Anschein haben, als ob sich mit der Forderung nach einer Veränderungsarbeit wieder nahezu jedes Veränderungsmittel rechtfertigen und aufzwingen ließe. Die Forderung nach Veränderungsarbeit scheint denjenigen, der fordert, unberührt zu lassen. Demgegenüber wissen wir nunmehr, daß der Veränderungsprozeß der Weg gemeinsamen strukturellen Wandels ist und daß daher an das Subjekt und an das Medium gleichermaßen Erkenntnis- und Veränderungserwartungen zu Pothast, Freiheitsbeweise 1987, 394. Pothast, ebd. 394. Der Begriff "quasi-therapeutischer" Prozeß soll andeuten, daß "Therapie - und was man gegenwärtig darunter assoziiert - bei weitem nicht der einzige typ von Mittel sein muß, mit dem jemand eine andere Handlungsdisposition erwirbt, ohne daß auf Tadel und Strafe zurückgegriffen werden müßte. Das Konzept der "Ko-Evolution der Kohärenzen" (DelI, Erkenntnis 1986,62) eröffnet viele Möglichkeiten, da hier einseitige Anpassung gerade nicht gefordert wird. Ausgehend von der systemischen Erkenntnis, daß alles Verhalten nicht nur aus der Kohärenz (= Systemzustand) rührt, sondern die Kohärenz auf rekursive Weise beeinflußt, bedeuten Lernen und Evolution, daß sich, wenn man Wissen folgt oder einübt, das ganze Selbst ändert, und daß nicht einfach eine Fertigkeit zum bereits bestehenden Selbst hinzugefügt wird. Nach diesem Verständnis haben die zwei Komponenten des ko-evolutiven Prozessen "Erkenntnis und Veränderungsarbeit" eine tiefgreifendere Bedeutung, als Pothast wahrscheinlich annimmt: Sie verändern nämlich beide, Organismus und Medium. Führt man in Pothasts Auffassung die Beobachterposition ein, dann ist seine Lehre von der Verträglichkeit eines deterministischen Handlungsbildes (das Wählenkönnen aus epistemischen Gründen einschließt) mit einer bestimmten Form von Verantwortlichkeit in weitem Umfang mit unserem Konzept der "epistemischen Verantwortlichkeit" identisch. Pothast schreibt: ,,Eine solche Idee von Verantwortlichkeit füllt, ohne die These eines allgemeinen Determinismus zu affirmieren, eine Lücke im Modell der ,harten' Deterministen; denn man hält ihnen immer vor, wenn ihre Position richtig sei, falle jede Verantwortlichkeit dahin. Man kann sich denken, daß eine solche Verantwortlichkeit besteht in der sozialen Erwartung dem Handelnden gegenüber, sich mit den Faktoren auseinanderzusetzen, die sein vergangenes Handeln steuerten. Die Norm: Jeder soll nach Maßgabe seiner Taten leiden oder belohnt werden, die vieles von dem ausdrückt, was man in herkömmlicher Terminologie mit dem Satz Jeder ist für seine Taten verantwortlich verbindet, könnte ersetzt werden durch eine andere Norm: Jeder soll sein Möglichstes tun, um an sich selbst das zu erkennen und zu stabilisieren, was in der Vergangenheit ,richtige' Handlungen zustandebrachte, und das zu erkennen und zu verändern, was ,falsche' Handlungen hervorrief' (Freiheitsbeweise 1987, 394). 180 181

II. Fühlen

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stellen sind. Daraus ergeben sich gravierende Unterschiede zwischen sozialen Reaktionen, die entweder auf subjektive oder auf objektive Verantwortlichkeit gründen. Auf die wichtigsten Unterschiede hat Pothast aufmerksam gemacht, ohne sie freilich aus einer konsistenten Theorie heraus zu entwickeln. Ich beziehe mich im folgenden auf diese Kategorisierungen, da sie durchweg aus kognitionstheoretischer Sicht formuliert werden könnten. dd) Grenzen der Verantwortlichkeit (1) Die Idee persönlicher Vorwerfbarkeit (Schuld) ist moralisch nicht mehr zu rechtfertigen. Aus der Strukturdeterminiertheit allen Handeins ergibt sich, daß niemand jemals anders hätte handeln können, als er es getan hat. Wenn die Freiheit des Willens und der Entscheidung entfällt und Handeln das Resultat der strukturellen Koppelungen zwischen den Menschen und ihrem Medium ist, dann kann sich die Veränderungsforderung nicht nur auf einzelne Personen richten. Daher hat Pothast völlig recht, wenn er sagt: "Das soziale System bleibt, soweit es moralische Ansprüche erhebt, nur dann glaubwürdig, wenn es gleichzeitig mit der formulierten Erwartung an Einzelne auch die Bedingungen zu verändern versucht, die in der Vergangenheit Persönlichkeitsstrukturen dieser Art (oder die Situationen, in denen sie zu Bruch gingen) hervorbrachten. Wenn die Veränderungserwartung einzelnen Individuen als fair einleuchten soll, muß die Gruppe, die sie erhebt, eine ähnliche Erwartung auf ihre eigene Struktur richten (soweit diese Struktur beteiligt ist)". 182 (2) Die Idee individueller Täterschaft und damit persönlicher Vorwerfbarkeit ist allenfalls sozialtechnologisch zu rechtfertigen. Dann muß man sich mit dem Faktum abfinden, daß der Einzelne dem Zweck des Ganzen unterworfen wird, ohne daß ihm die Chance eines gemeinsamen Wandels, einer Ko-Evolution, 182 Pothast, Freiheitsbeweise 1987, 396. Die Forderung nach einer Erkenntnis- und Veränderungsarbeit, die sich sowohl an den Einzelnen wie an seine Umwelt und die Gesellschaft richtet, ist das konsequente Resultat aus der Theorie der strukturellen Koppelung lebender Organismen. Alle Verhaltensweisen im Bereich struktureller Koppelungen sind komplementär: Sie passen zusammen, sind kohärent und folgerichtig. Infolgedessen kann es kein Verhalten ohne das Verhalten der anderen geben. Das trifft ohne Einschränkung auch auf die komplementäre Beziehung von Delinquent und Justiz zu. Aus dieser Koppelung strukturdeterminierter Lebewesen ergibt sich desweiteren, daß die Veränderungserwartung nicht dazu benützt werden kann, um Einzelnen die persönliche Veränderungsanstrengung zu ersparen. Werden "instruktive Interaktionen" als mögliche Kommunikationsform abgelehnt, so verliert der Slogan "Die Gesellschaft ist an allem schuld" seine Berechtigung. Ebensowenig kann die Veränderungserwartung mit dem Argument ausgesetzt werden, man müsse zuerst die Gesellschaft verändern. Diese These wäre nur vor dem Hintergrund der Annahme "instruktiver Interaktionen" schlüssig. Dann könnte nämlich behauptet werden, daß spezifische Gesellschaftsformen ganz bestimmte Persönlichkeitsstrukturen hervorbringen und daß die Gesellschaft der einzige Faktor ist, der einmal entstandene Strukturen in der Existenz hält. Nirgendwo aber hat sich gezeigt, daß sich die Personen mit der Veränderung der Gesellschaft schlagartig in neue Menschen verwandeln. Infolgedessen kann sich eine Gesellschaft nur in dem Maße verändern, in dem sich die Menschen wandeln, aus denen die Gesellschaft besteht.

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

gewährt würde. 183 Dies ist die Position der Abschreckung bzw. der strafrechtlichen Generalprävention. l84 Soweit diese Position dennoch mit subjektiver Verantwortlichkeit, Freiheit und moralischen Ansprüchen an den Einzelnen - wie zumeist - kombiniert wird, ist sie aus unserer Sicht irrelevant: Sie gerät in Widerspruch mit den eigenen Prämissen. 185 Soweit diese Position konsequent vertreten wird, ist ihr nur mit Hilfe ethischer Argumente zu begegnen. Denn aus kognitionstheoretischer Sicht ist nicht zu bestreiten, daß Strafen zur Stabilisierung konsensueller Bereiche beitragen können. 186 Sie festigen Erwartungen und schaf183 Mit diesem Faktum wollen sich insbesondere die absoluten Straftheorien, die wohl mit Recht auf Kant und Hegel zurückgeführt werden, nicht abfmden (vgl. dazu Noll, Strafe 1962; Naucke, Kam 1962; ders. Vergeltungsstrafrecht 1964, 203; Schmidhäuser, Strafe 1971, 19; Neumann, Schroth, Strafe 1980). Für die deutsche Strafrechtslehre war vor allem Hegels Auffassung von der Strafe als der ideellen Wiederherstellung des verletzten Rechts mitbestimmend. Paradigmatisch gegen den Zweckgedanken im Strafrecht: "Wenn das Verbrecht:!l und dessen Aufhebung, als welche sich weiterhin als Strafe bestimmt, nur als ein Ubel überhaupt betrachtet wird, so kann man es freilich als unvernünftig ansehen, ein Übel bloß deswegen zu wollen, weil schon ein anderes Übel vorhanden ist ... Es ist aber weder bloß um ein Übel, noch um dies oder jenes Gute zu tun, sondern es handelt sich bestimmt um Unrecht und um Gerechtigkeit" (Philosophie des Rechts, §§ 97, 99). 184 Mitgemeint ist auch die Position der sogenanngen "positiven" Generalprävention, die mit besonderem Nachdruck von Jakobs (Strafrecht 1983,4; Schuld 1976) vertreten wird. Krit. dazu Kargi, Generalprävention1990 c. 185 Man kann nicht gleichzeitig die Argumente des "persönlichen Verdienens" und der "gesellschaftlichen Nützlichkeit" von Strafe für sich reklamieren: Im Regelfall konfligieren sie miteinander. Das ist der Widerspruch, in den sich die straftheoretischen Vereinigungstheorien verwickeln. Deshalb müssen sie für den Konfliktfall doch einer der vereinigten Theorien den Vorzug geben. So plädieren für Schwerpunkt auf Schuldausgleich v. Hippei, Strafrecht 1930, § 21 XVI; Mezger, Strajzweck 1954, 2; MaurachZipf, Strafrecht AT 1987, § 7 III A, IV Ale, 2, 3; Bockelmann, Strafrecht AT 1979, § 2 11 4; Dreher, Willensfreiheit 1987; Schönke-Schröder-Stree, Strafgesetzbuch 1987, Rn 11 vor § 38. - Für eine Vereinigungstheorie mit dem Schwerpunkt auf Spezialprävention argumentieren Stratenwerth, Strafrecht AT 1981, Rn 30; Baumann, Weber, Strafrecht AT 1985, § 3112 a. - Eine Theorie mit Schwerpunkt Generalprävention vertritt Schmidhäuser, Strafrecht AT 1984. 186 Wir haben gesehen, daß in die affektiv-kognitiven Bezugssysteme selbstverständlich auch soziale Erwartungen miteinfließen und über Luststreben bzw. Unlustvermeiden stabilisiert werden. So gesehen, dient Strafe zweifellos der Erhaltung der Norm; sie bestätigt die Erwartung, daß die Norm auch im Enttäuschungsfall durchgehalten wird, indem nicht die Erwartung des Enttäuschten, sondern der Normbruch des Enttäuschenden als der maßgebliche Fehler defmiert wird (vgl. Luhmann, Rechtssoziologie Bd. 1, 1972, 40, 53, 106; Festinger, Dissonanz 1978; Schild, Verantwortungen 1980, 597; Killias, Strafe 1980, 31; Jakobs, Schuld 1982, 79). Daß hierbei der Normbrecher nur als Demonstrationsobjekt interessiert, wird offen zugestanden: "Man sperrt den Übeltäter zur Demonstration der Fehlerhaftigkeit seines Verhaltens ein" (Jakobs, Strafrecht 1983, 5), und nicht minder deutlich: "Inhalt der Strafe ist ein auf Kosten des Normbrechers (!) erfolgender Widerspruch gegen die Desavouierung der Norm" (Jakobs, ebd. 8). Wie lassen sich diese (einseitigen) Kosten rechtfertigen? Wird von der Freiheit, der Schuld, der Lernfähigkeit des Täters abgesehen, dann bleibt als Rechtfertigungsversuch eigentlich nur übrig, den gegebenen Normenbestand zum höchsten moralischen Gut zu erklären und die Maßnahmen, die das moralische System zu seiner Sicherung nötig findet, selbst zur Moral zu schlagen. In dieser Argumentation ist die Moral selbst einer moralischen

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fen Außenseiter, die - weil unverändert - weiterhin zu Objekten des Normstabilisierungsprozesses taugen. Sollte indes angenommen werden, daß Strafen unmittelbar auf Bewußtsein und Verhalten Auswirkungen zeitigen, so verfällt diese Ansicht dem Irrtum instruktiver Interaktionen. Somit ist allein eine Generalprävention, die Normstabilisierung über lange Zeiträume bezweckt, in sich schlüssig, aber vor dem Hintergrund des Konzeptes autopoietischer Systeme moralisch nicht legitimierbar. Im folgenden unterstelle ich, daß die Bemühungen um eine moralische Rechtfertigung sozialer Reaktionen nicht eingestellt worden sind. Daher sind an soziale Reaktionen, die auf objektive Verantwortlichkeit aufgebaut sind, weitere Forderungen zu stellen. (3) Erkenntnis und Veränderungsarbeit sind keine Übel. Sanktionen des Typs der Übelszufügung sind nur auf dem Boden der subjektiven Verantwortlichkeit zu verteidigen: Weil der Handelnde die Handlung, die er auch hätte unterlassen können, aus freien Stücken tat, hat er die erfreulichen oder unerfreulichen Folgen im Sinn einer gerechten Vergeltung von Lust und Leid verdient. Auf dem Umweg über die Reflexion auf eventuelle Wirkungen, die diese Folgen beim Handelnden oder bei anderen haben mögen, ist eine moralisch gerechtfertigte Sanktion nicht zu begründen. Rein zweckbezogene Maßnahmen, die auf Erkenntnis und Verän-. derungsarbeit zielen, müssen demzufolge soweit irgend möglich vom Odium der Übelszufügung befreit werden. 187 Rechtfertigung weder fähig noch bedürftig. Was zum System der Moral gehört, ist kraft dieser Zugehörigkeit auch moralisch legitim. Diese Form der Rechtfertigung von Strafe stellt einen extremen ethischen Empirismus dar: Er beschreibt alles, was er als Prinzip einer geregelten Praxis fmdet, als Moral. Eine solch dezisionistische Position nimmt m. E. Jakobs ein, wenn er Regelmäßigkeiten in sozialen Kontakten als solche bereits zu ,,moralischen" Werten stilisiert. Dabei übersieht er, daß der Bestand des moralischen Systems nicht von vornherein der höchste mögliche Wert sein karm. Sonst wäre im Namen seiner Erhaltung alles erlaubt. Das wird sicher auch Jakobs nicht plausibel finden. Dennoch sucht man in seiner Argumentation vergeblich nach einem zuverlässigen Bollwerk gegen eine solche Überspitzung der funktionalen Betrachtungsweise. 187 Um einen Etikettenschwindel zu vermeiden, muß deutlich ausgesprochen werden, daß die hier vertretene Position ein weitgehendes Abrücken von den härteren Maßnahmen der staatlichen Strafe bedeutet. Es nützt nichts, die Praxis des Einsperrens mit wohlklingenden Namen wie Resozialisierung oder Sozialtherapie zu versehen (siehe dazu Kargi, Sozialtherapie 1976, 134), um darm doch die Personen an Gütern zu schädigen, die zum Wichtigsten gehören, was Menschen besitzen. Wenn man dies will, darm muß man auch zu den Implikationen der Strafe stehen, nämlich zu ihrem Übelscharakter. Jescheck hat vollkommen recht: "Die Strafe ist ein öffentliches sozialethisches Unwerturteil über den Täter wegen der von ihm schuldhaft (!) begangenen Rechtsverletzung. Die Strafe trägt somit immer einen negativen Akzent und hat insofern auch stets den Charakter eines Übels, mag sie auch letztlich zum Besten des Verurteilten dienen sollen. Das in der Strafe gelegene Übel besteht in dem gewollten Eingriff in die Rechtssphäre des Verurteilten (Freiheit, Vermögen, Freizeit, soziales Ansehen), denn gerade darin fmdet die öffentliche Mißbilligung ihren Ausdruck, daß die Strafe den Schuldigen in seiner Rechtsstellung trifft. Die Leugnung des Übelscharakters der Strafe würde nichts anderes bedeuten als die Leugnung des Strafbegriffs selbst" (Strafrecht 1988, 58; wie Jescheck auch Armin Kaufmarm, Strafrechtsdogmatik 1982, 265; Henkel, Strafe 1969, 7; Noll, Strafe 1962, 17). Jeschecks Gedankengang ist folgerichtig und legitimationswirksam, da er die Strafe

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

(4) Für eine negative Bewertung "abweichender" Personen besteht kein Anlaß und keine Rechtfertigung. Wessen Handeln strukturell detenniniert ist, dem kann zwar die Erkenntnis der Faktoren seines Handeins abverlangt werden, aber für moralische Mißbilligung oder gar für ein "sozial-ethisches Unwerturteil über den Täter" ist kein Raum mehr. Im Gegenteil besteht aller Anlaß zu vennuten, daß eine Änderung des kognitiven Bezugssystems nur dann gelingt, wenn das Subjekt die geforderten Unterscheidungen in sein Selbstkonzept integrieren kann. Dies dürfte schwerfallen auf der Basis von Erfahrungen, die das Ich herabsetzen und dauerhaft stigmatisieren. Ein solches Ich wird, um kohärent bleiben zu können, die Zumutung der Veränderung abwehren. Wem man also die Wertschätzung verweigert, dem entzieht man eine der Voraussetzungen für die Veränderung, die man gleichzeitig von ihm fordert. Das Gemeinwesen hätte da, wo es von einem Devianten Veränderung fordert, diese Veränderung selbst zu unterstützen, indem es nicht durch moralische Feindschaft das konsensuelle Band der strukturellen Koppelung zerschneidet, sondern durch ein gewisses Maß an positiver emotionaler Haltung festigt. 188 An diesem Punkt würde das "Milieu" seiner MitVerantwortung und der Forderung nach Mit-Veränderung gerecht. von der schuldhaft (= andershandelnkönnen) begangenen Straftat abhängig macht. Wer dagegen einen Schuldbegriff entwickelt, der als Derivat etwa der Generalprävention aufgefaßt wird, kann nicht mit ähnlicher Legitimation rechnen (vgl. z. B. den Schuldbegriffbei Jakobs, Schuld 1976; Achenbach, Schuldlehre 1974). Gegen den zweckbestimmten Schuldbegriff äußert sich mit allem Nachdruck Dreher: "Alle diese Gedankengänge laufen auf eine Verfälschung des Schuldbegriffs hinaus und stellen eine Verwirrung strafrechtlicher Grundgedanken dar. Schuld ist nach meinem Verständnis nichts anderes als das Belastetsein eines Menschen mit der Verantwortung für begangenes Unrecht. Diese Begriffsbestimmung ist m. E. der gängigen Defmition ,Vorwerfbarkeit' vorzuziehen, die als Wertung durch Fremdbeurteiler verstanden werden kann. Schuld im defmierten Sinne ist ein auf ein empirisches Ereignis bezogener, sozialethisch bewerteter Sachverhalt. So ist die Schuld eines Mörders zu verstehen, die als solche keinerlei Funktion und schon gar nicht irgendeinen Zweck hat. Sie ist auch nicht von der Existenz eines Strafgesetzbuches abhängig" (Willensfreiheit 1987, 51). Soweit ich sehe, geht heute kaum noch jemand soweit, die Schuld wie ein empirisches Faktum zu betrachten. Und doch ist es nach meinem Dafürhalten die einzige Möglichkeit, den persönlichen Vorwurf und das von ihm abgeleitete Übel zu legitimieren. Die Befürworter des Schuldgedankens stehen also vor der wenig beneidenswerten Alternative: Entweder Ontologiebehauptung - dann Legitimation - oder instrumentalistische Zweckbestimmung - dann minimale oder sogar keine Legitimation. 188 Häufig verbindet sich mit rigiden Sanktionen die Hoffnung, daß sie auch "zum Besten" des Betroffenen ausschlagen mögen. Schon bei Plato wird die Strafe zum Heilmittel erklärt, das die durch das Verbrechen befleckte Seele des Übeltäters reinige (Gorgias 472). In der Strafe einen Dienst am Verbrecher zu sehen, wird vor allem im Bereich der christlichen Betrachtung der Strafe geäußert. Thomas von Aquin spricht von "Heilstrafen" (medicina), die die begangenen Sünden gutmachen und zum Guten anspornen (Summa Theologica 116). Bis in die Gegenwart fmdet sich das absolute Verständnis der Strafe auch in protestantischen Äußerungen: "Um der Übeltat willen wird dem Übeltäter ein Nachteil, ein Leid, ein Verlust oder ein Schmerz zugefügt; und um dieser Zufügung willen kommt das Gleichgewicht der Waage der Gerechtigkeit wieder zustande. Dieses Gleichgewicht aber ist die aus der Sühne folgende Versöhnung. Wer gesühnt hat, der hat Frieden" (Althaus, Todesstrafe 1955,21; vgl. zum Sühnegedanken in der Suafrechtslehre, Preiser, Strafen 1954,71). Pothast (Freiheitsbeweise 1987,

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(5) Es darf keine soziale Quarantäne verhängt werden. Wenn Veränderung nur gemeinsam vollzogen werden kann, dürfen die Kontakte zum Devianten nicht zusammenbrechen. Dies muß auch für jene Menschen gelten, die in ihrem gegenwärtigen Zustand nur eine geringe Gefahr für andere darstellen. Erst recht gilt dies für Personen, bei denen eine solche Gefahr überhaupt nicht besteht. 189 Eine räumliche Ausgrenzung kommt einer Exkommunikation oder Ausstoßung aus dem konsensuellen Bereich gleich. Derartige Maßnahmen ließen sich allein bei Anerkennung der Möglichkeit "instruktiver Interaktionen" rechtfertigen; wenn also zu erwarten wäre, daß die Botschaft der Strafe im Devianten die erwünschte Zustandsveränderung auslöst. Würden wir in diesem Sinn wie triviale Maschinen funktionieren, gäbe es keine Devianz. Infolgedessen ist die Hoffnung einer Veränderung über Strafe, die von jeder Praxis längst widerlegt ist, auch theoretisch unhaltbar. (6) Die Sorge, daß objektive Verantwortlichkeit die Devianten zu Objekten staatlicher Manipulation herabwürdigt, ist aus kognitionsbiologischer Sicht unbegründet. 190 Auch sie entspringt dem traditionellen Verständnis vom Menschen 398) stellt zu der von Schuldtheoretikern oft geäußerten Hoffnung auf Besserung und Versöhnung fest: "Wo diese Hoffnung geäußert wird, wenn man gerade dabei ist, jemanden für immer psychisch das Genick zu brechen, gehört zum Unaufrichtigsten, was das bestehende moralische (und juristische) System hervorbringt." 189 Zur anschwellenden Literatur über die sogenannte Dekarzerierung oder Entinstitutionalisierung zumal jugendlicher Straftäter vgl. z. B. Voß, Gefängnis 1979; Ortner, Strafe 1981; Schumann, Voß, Papendorf, Jugendstrafvollzug 1981, 3; Dürkop, Frauengefängnis 1981,68; Ortner, Wetter, Befreiende Sozialarbeit 1981, lO6; Osterrneyer, Gefangene Gesellschaft 1981, 123; Pilgram, Steinert, Gefängnisse 1981, 133; Haesler, Stigmatisierung 1981; Häberli, Heimaufenthalt 1981,51; Schuh, Strafvollzug 1981,63; Aebersold, Jugendstrafrecht 1981, 97; Egeler, Kurzstrafen 1981, 111; Quensel, Resozialisierung 1981, 161; sliwowski, Freiheitsstrafe 1981, 177; Albrecht, Schüler-Springorum, Jugendstrafe 1983; Ludwig, Institutionelle Rekrutierung 1983, 66; Kersten, Kreissi, Wolffersdorff-Ehlert, Totale Institutionen 1983, 186; Schweppe, Jugendgefängnisse 1984. Zur Kritik an der Jugendstrafe und zu denkbaren Alternativen vgl. Albrecht, Jugendstrafrecht 1987, 7 III. Bei aller berechtigten Kritik an der Gefängnisstrafe (ebenso an den Institutionen der Psychiatrie) muß freilich berücksichtigt werden, daß die Schließung der Gefängnisse die mit ihr proklamierten Ansprüche nicht lösen würde, wenn nicht weitere, umfangreiche Maßnahmen getroffen würden. Wie Scull (Anstalten 1980) dargelegt hat, bedeutet die Öffnung der Anstalten (um etwa Kosten zu sparen) häufig für die Betroffenen raschen physischen und psychischen Verfall - oder eine Alptraumexistenz inmitten von Alkoholikern, Rauschgiftsüchtigen und anderen "Ausgestoßenen". Es kann also bei der Dekarzerisierung nicht darum gehen, die Betroffenen in jene indifferente Realität zu entlassen, deren Widersprüche sie in Krankheit, Abweichung und Kriminalität getrieben hatten. 190 Die Gefahr der Manipulation bzw. der Verletzung der Menschenwürde durch aufgezwungene Therapieangebote ist sehr ernst zu nehmen, und sie wird heute - wie nirgendwo sonst - von der therapeutischen Profession selbst ausführlich diskutiert. Die gesamte ,,kommunale" und "systemische Therapie" kann man als Antwort auf den Zwangs- und Manipulationscharakter vieler Interventionsmodelle begreifen (vgl. hierzu Leipert, Einführung 1988, 9; Trenckmann, Kommunale Psychiatrie 1986, 53; Kulenkampff, Erkenntnisinteresse 1984, 127; Dömer, Psychiatrie 1984). Vor diesem Hintergrund einerseits den instrumentalen Charakter von Therapiemodellen zu beklagen und andererseits als zentrales Bollwerk gegen eben diese Modelle das strafrechtliche Schuld-

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Kap. 2: Psychologie der Kognition

als trivialer Maschine. Abgesehen davon, daß dieses Verständnis mit dem Freiheitsbegriff der subjektiven Verantwortlichkeit schwerlich in Einklang steht, ist nicht ersichtlich, weshalb man Personen, denen man ihr Handeln nicht als persönliches Verdienst zurechnet, weniger oder gar keinen Respekt entgegenbringen sollte. Es gibt auch eine Würde der strukturdeterminierten Person. Sie besteht - wie wir oben festgestellt haben - in der Einzigartigkeit ihrer Ontogenese und damit ihres Zustandes. Insofern sind wir berechtigt, von einer Achtung vor der Autonomie des Einzelnen zu sprechen. Diese Achtung schließt, so kann man gegen Kant sagen, eine Achtung vor dem unfreien Willen ein. Aber es ist eine andere Art von Achtung, als sie Kant im Sinn hatte. Sie ist eine personale Einstellung ohne jene Grausamkeiten, die aus metaphysischen Prämissen resultieren und die letztlich stets mehr Achtung vor Ideen als vor Menschen aufweisen. Die Würde strukturdeterminierter Personen besteht in der grenzenlosen Vielfalt ihrer Zustände, die sie in struktureller Koppelung mit anderen Personen zu steuern in der Lage sind. Die Achtung vor dieser Würde gebietet, den Prozeß der Entfaltung konsensueller Bereiche zu schützen. 191 Dies setzt den Schutz sowohl derer voraus, die sich im konsensuellen Bereich bewegen, wie auch derer, die durch unvoraussagbare Handlungen diesen Bereich verändern und damit zu seiner notwendigen Transformation beitragen. Freilich zuviel Veränderung gefährdet die Überlebenschance lebender Systeme ebenso wie zuviel Bewahrung. Paul Valery hat durchaus systemtheoretisch gesprochen, als er sagte: ,,zwei Gefahren bedrohen die Welt: die Ordnung und die Unordnung." 192 Wie muß also eine soziale Welt aussehen, die diese beiden Gefahren im Blick hat? Diese Frage drängt- sich umso mehr auf, als wir mit unserem Begriff der "objektiven" Verantwortlichkeit der Unordnung möglicherweise eine größere Entfaltungschance einräumten als der Ordnung. Gegen unsere Skizze "zurechnender Reaktionen" läßt sich pragmatisch scheinbar leicht einwenden: Die Forderung nach Mit-Verantwortung und Mit-Veränderung verschaffe dem prinzip zu preisen, ist schlechterdings unverständlich. Ich habe dazu das Nötige bereits ausführlich an anderer Stelle gesagt (Schuldprinzip 1982,251). 191 Zu dieser Achtung vor der Menschenwürde zählt auch, daß Erkenntnis- und Veränderungsarbeit dem Verhältnismäßigkeitsgebot unterworfen sind. Nicht die Schuld begrenzt die "Sanktionen" nach oben, sondern die Höhe des Unrechts. Diese Unrechtshöhe kann nicht über das individuelle Verschulden des Täters, auch nicht mit alleiniger Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (hier hat Arthur Kaufmann, Schuldprinzip 1976, 22, gegen Ellscheid, Hassemer, Strafe 1970,27 recht) festgestellt werden, sondern erfolgt aus der Konkretisierung der in der Verfassung verankerten Grundwerte. Danach beeinträchtigen Verletzungen des Körpers und der Psyche Menschenwürde und Persönlichkeitsentfaltung ungleich höher als Eigentums- und Vermögensdelikte, die über 80 % der gesamten Kriminalität ausmachen. Im Hinblick auf die letzteren Delikte (also die große Masse der Delikte) wären unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit Erkenntnis- und Veränderungserwartung nur selten geboten. Was dagegen dringlich geboten wäre, wäre diese Straftäter in den Stand zu setzen, daß sie den angerichteten Schaden wiedergutmachen können, anstatt ihnen dies durch Einsperren gerade unmöglich zu machen. 192 Zit. nach Jantsch, Selbstorganisation 1986.

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Gemeinwesen vielleicht einen anspruchsvollen philosophischen Begriff von sich selbst, aber sie gewährleiste nicht den Zusammenhalt des moralischen Systems unter nicht-idealen Bedingungen. Der Verzicht auf die herkömmliche Verantwortlichkeit sei praktisch illusionär und zur Stabilisierung realer Gemeinwesen viel zu schwach. Dagegen erfülle die subjektive Verantwortlichkeit des persönlichen Verdienens diese Stabilisierungsfunktion und finde darin auch ihre Rechtfertigung. Um diesen ernstzunehmenden Einwänden auf den Grund gehen und ebenso ernsthaft antworten zu können, ist es erforderlich, die bisherigen Kapitel zur Biologie und Psychologie der Kognition um ein drittes Kapitel, nämlich zur Soziologie der Kognition zu ergänzen. Es soll untersucht werden, ob die Konzeption autopoietischer Systeme auf die Ebene gesellschaftlicher Systeme übertragbar ist, ohne daß die zentralen Charakteristika autopoietischer Systeme verloren gehen. Im Mittelpunkt des Interesses soll dabei das Ordnungsproblem stehen: Wieviel Unordnung muß ein soziales System zulassen, um Ordnung zu bewahren? Wie müssen soziale Institutionen aussehen, um jenen Zustand von Ungleichgewicht zu produzieren, der Prigogines Prinzip der "Ordnung durch Fluktuation" entspricht? Wie muß das Verhältnis von Moral und Recht konzipiert sein, um die geforderte Flexibilität der Ordnung zu erzeugen? Diese und viele andere Fragen hängen nicht zuletzt von der Klärung der Frage ab, ob die Gesellschaft selbst ein autopoietisches System ist oder ob es - ohne es selbst zu sein bloß aus solchen besteht. Trifft letzteres zu, dann müßten wir die Autonomie der sozialen Systeme wesentlich geringer veranschlagen, als dies gewöhnlich bei Systemtheoretikern geschieht.

Zweiter Te i I

Kognitionstheorie der Ordnung

Kapitel 3

Soziologie der Kognition I. Systemtypen 1. Organismen als selbsterhaltende Systeme Zu Beginn einer systemtheoretischen Fundierung des sozialen Bereiches muß die Frage geklärt werden, welche Art von System wir in der Gesellschaft und ihren Subsystemen beobachten. Sollten wir zu dem Ergebnis gelangen, daß die sozialen Systeme wie Organismen operieren, dann müßten wir alle Eigenschaften autopoietischer Systeme im sozialen Bereich wiederfinden. Insbesondere müßten gesellschaftliche Systeme befalligt sein, sich selbst einschließlich ihrer Strukturen und Komponenten durch die Operationsweise eben dieser Komponenten zu reproduzieren. Ein solcher Nachweis ist also nur mit der Behauptung zu erbringen, daß die Konstitutionsbedingungen lebender Systeme mit denen von sozialen Systemen übereinstimmen. 1 Desweiteren ist das Problem zu lösen, ob und in welcher Weise autopoietische Systeme weitere autopoietische Systeme in sich oder außerhalb ihrer selbst hervorbringen können. Es geht dabei um die wichtige Frage der Evolution und Binnengliederung selbstreferentieller kognitiver Systeme. 2 Um in dieser schwierigen und durchaus noch ungeklärten Problematik von 1 Man kann freilich auch von Maturanas ursprünglicher Definition - Selbstreproduktion der Komponenten eines Systems durch das Netzwerk der Komponenten (vgl. Maturana, Varela, Autopoietische Systeme 1985, 184) - abrücken und am Autopoiesebegriff drastische Modifikationen vornehmen, um ihn besser an den Gegenstandsbereich der Gesellschaft anpassen zu können. Diesen Weg ist Luhmann gegangen (vgl. Soziale Systeme 1985,40,388). Er bezeichnet Gesellschaft als ein "selbstproduktives Kommunikationssystem" und hat damit - entgegen Maturana - "Kommunikationen" zu Komponenten des sozialen Systems erklärt (zu den prekären politischen Implikationen dieser Umdefmition vgl. weiter unten). Diese Idee machte weitere Umbauten des begrifflichen Apparates notwendig: Luhmann mußte ,,nicht nur den Produktionsbegriff generalisieren (,Kontrolle einiger, aber nicht aller Ursachen im System'), den Elementbegriff verzeitlichen (,Ereignissystem') und die Vorstellung der Selbstproduktion von bloßen Elementen auf sämtliche im System verwandte Einheiten ausdehnen (,Systeme, die alles, was sie als Einheit verwenden, selbst als Einheit herstellen'). Er sah sich insbesondere auch genötigt, Vorstellungen der ,second order cybemetics' derart in die Theorie einzubauen, daß Autopoiese nicht mehr wie bei Maturana als ,blinder' Prozeß, sondern als Kombination von Selbstproduktion und Selbstbeobachtung erscheint" (Teubner, EpisodenverknüpJung 1987,423). 2 Mit Blick auf die Gesellschaft lautet die zentrale Frage: gibt es Autopoiese innerhalb von Autopoiese? Wenn Gesellschaften autopoietische Systeme sind, können dann auch

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

einigennaßen gesichertem Boden aus zu argumentieren, will ich mich an die Definition Maturanas von der autopoietischen Organisation und deren Möglichkeiten zu strukturellen Koppelungen halten. Es wird sich dabei zeigen, daß wir mit Blick auf die kognitiven und gesellschaftlichen Phänomene zu einer Differenzierung der bisher weitgehend identisch gebrauchten Begriffe der Selbsterzeugung, der Selbsterhaltung und der Selbstreferentialität gelangen. 3 Wir haben unsere Überlegungen zu autopoietischen Systemen mit einer Beschreibung der Amöbe eingeleitet. Das war kein Zufall, denn Einzeller müssen als Musterbeispiel autopoietischer Systeme angesehen werden. Sie stellen sich durch die Herstellung ihrer Komponenten, nämlich der Makromoleküle und Organzellen, selbst her. Mit der Feststellung der Selbstproduktion der Bestandteile, aus denen Lebewesen bestehen, ist bei Maturana der Begriff der Autopoiese definiert. Er gilt daher auch für Vielzeller, die Zellen, Gewebe und Organe zirkulär produzieren. Die Genese von Vielzellern beschreibt Maturana mit Hilfe des Begriffs der "strukturellen Koppelung ": "Daß sich zwei (oder mehr) autopoietische Einheiten in ihrer Ontogenese gekoppelt haben, sagen wir, wenn ihre deren Teilsysteme als autopoietische Einheiten begriffen werden? Bejaht man diese Frage - so meine Vermutung -, werden beliebig viele autonome Gebilde konstruiert, die im Verhältnis zueinander eine operationelle Geschlossenheit aufweisen und folglich gegenüber der allgemeinen kommunikativen Reproduktion der Gesellschaft verselbständigt sind. Schon hier sei angemerkt, daß eine solche Theorie die Tendenz der sozialen Systeme zu bürokratischer Verkrustung und Kommunikationsbarrieren als deren zentrales Merkmal hypostasiert. 3 Soweit ich sehe, kommt vor allem Gerhard Roth das Verdienst zu, das AutopoieseKonzept weiterentwickelt zu haben, ohne es - wie die meisten Rezipienten - in fachfremden Kontexten zu überziehen. Erstaunlicherweise scheint bislang ausgerechnet jene Theorie, für die das Autopoiese-Konzept eigentlich gedacht war, nämlich die Biologie, herzlich wenig Interesse zu zeigen. Dafür ist die Rezeption in der Wissenschaftsund Erkenntnistheorie, den Sozialwissenschaften, der Psychologie, der Pädagogik, den Rechtswissenschaften, der Linguistik, der Literaturwissenschaft, der Psychoanalyse und der Psychotherapie in vollem Gang (vgl. nur Luhmann, Soziale Systeme 1985; Brocher, Sies, Psychoanalyse 1986; Rusch, Erkenntnis 1987; Oelkers, Tenorth, Pädagogik 1987, Keller, Sozialpsychiatrie 1988; Teubner, Autopoietic Law 1988). Daß nunmehr entscheidende Anstöße zur Weiterentwicklung der Autopoiese-Idee wiederum von einem NeuroBiologen kommen, den nicht von vornherein das Interesse an der Übertragbarkeit der Theorie auf nichtbiologische Disziplinen, sondern die Verbesserung der Biosystemtheorie und der Wahrnehmungstheorie anleitet, muß nicht verwundern. Roth (Autopoiese 1987, 257) hält Maturanas Aufsatz "Biology of Cognition" (Kognition 1985, 32) für einen "genialen Welt- und Seinsentwurf, vergleichbar nur noch mit dem Wittgensteinschen ,Tractatus logico-philosophicus'''. Aber anders als beim "Tractatus" könne und müsse der Weg Maturanas (und Varelas) weitergegangen werden: ,,zum einen betrifft dies Weitergehen die inhaltliche Ausführung und Ausfüllung des Maturana-Varela-Konzepts der Autopoiese und der Kognition, die die Autoren selbst bisher nicht geleistet haben, die aber erst die Basis einer wirklich fruchtbaren Anwendung in den Wissenschaften darstellt, und zum anderen die Korrektur einer Reihe von erheblichen Brüchen und Inkonsistenzen. Beides nimmt jedoch der ursprünglichen Theorie nichts von ihrer überragenden Bedeutung" (Roth, Autopoiese 1987, 257). Zu dieser Korrektur gehört insbesondere jene nachstehend diskutierte Differenzierung des Autopoiesekonzeptes in Selbsterzeugung, Selbsterhaltung und Selbstreferentialität.

I. Systemtypen

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Interaktionen einen rekursiven oder sehr stabilen Charakter erlangt haben."4 Einen stabilen Charakter erlangen ihre Interaktionen dann, wenn sie füreinander reziproke Perturbationen bilden und auf diese Weise eine Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen erzeugen. Die je gegebene Art der strukturellen Koppelung jeder Zelle ist also das Ergebnis der Phylogenese oder der Geschichte des betreffenden Zellstammes. Diese Geschichte der strukturellen Koppelung verdeutlichen Maturana und Varela am Beispiel eines Stammes von einzelligen Tieren, den sogenannten Schleimpilzen (Myxomycetes): "So wird beim Physarum eine keimende Spore zu einer Zelle. Ist die Umgebung feucht, führt die Ontogenese dieser Zelle zum Wachsen einer Geißel und damit zur Bewegungsfahigkeit. Ist die Umgebung eher trocken, führt die Ontogenese zu amöbenartigen Zellen. Diese beiden Arten von Zellen teilen sich schließlich, was zur Entstehung vieler anderer Zellen führt. Die strukturelle Koppelung zwischen diesen Zellen führt zu einer so engen Verbindung, daß sie verschmelzen. Dabei entsteht ein Plasmodium, welches wiederum zur Ausbildung eines makroskopischen Fruchtkörpers führt, welcher Sporen bildet." 5 Mit der Zusammenballung von Zellen in dem Fruchtkörper ist eine neue Einheit entstanden. 6 Es hat sich eine Phänomenologie herausgebildet, die sich von der Phänomenologie der sie bildenden Zellen unterscheidet und die insofern nicht von den Eigenschaften dieser Zellen bestimmt wird. 7 Dennoch geht der Entstehungsbeginn des Vielzellers auf eine Zelle zurück. Daher unterscheiden sich die vielzelligen hinsichtlich ihrer Art, Gattungen aufzubauen, nicht von den einzelligen Lebewesen. Auch untereinander kann trotz der beeindruckenden Erscheinungsvielfalt als zentrales Kennzeichen ihrer Identität die Fortpflanzung mittels einer einzelligen Stufe gelten. Damit ist aber die Frage nicht beantwortet, welchem Systemtypus ein derartiger vielzelliger Organismus angehört. Maturana und Varela geben eine eher ausweichende Antwort. Sie bezeichnen Metazeller vorsichtig als autopoietische Systeme Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 85. Maturana, Varela, ebd. 88. 6 Diese neue Zellzusammenballung nennt Maturana "Einheit zweiter Ordnung" oder metazelluläre Einheit (ebd. 89). Als ein weiteres (verwickelteres) Beispiel für Metazeller führen die Autoren einen anderen Schleimpilz an, den Dycostelium. Er unterscheidet sich vom vorigen Beispiel darin, daß sich die amöbenartigen Individuen ohne zelluläre Verschmelzung zu einem Fruchtkörper zusammenschließen. In diesem Fall bleibt in der Einheit zweiter Ordnung eine Vielfalt der Zellarten bestehen. 7 Für die Frage nach dem Systemtypus der Metazeller ist die Aussage entscheidend, daß die neue Einheit nicht durch die Eigenschaften der Bestandteile bestimmt wird. Träfe das Gegenteil zu, könnten Metazeller keine autopoietischen Systeme sein: Sie wären nicht autonom. In den Worten Maturanas und Varelas: "Es ist offenkundig, daß die Ontogenese eines Metazellers durch den Bereich der Interaktionen, der diesen als ganze Einheit kennzeichnet, bestimmt wird und nicht durch die individuellen Interaktionen der den Metazeller bildenden Zellen. Alle multizellulären Individuen sind jedoch Ergebnis der Teilung und Aufspaltung einer Gattung in Zellen, welche zum Zeitpunkt der Befruchtung einer einzigen Zelle oder Zygote entstehen, diese wiederum Produkt einiger Organe oder Teile eines multizellulären Organismus ist" (ebd. 91). 4

5

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

zweiter Ordnung und wollen mit dieser Einstufung einen Unterschied zu den Einzellern festhalten, die als autopoietische Systeme erster Ordnung gelten. Ausdrücklich lassen sie die Frage offen, ob der Fruchtkörper des Schleimpilzes nicht doch als autopoietische Einheit erster Ordnung zu begreifen sei. 8 Eine Präzisierung ihres Standpunktes war wohl auch nicht erforderlich, weil ihnen der Aufweis der operationalen Geschlossenheit der Metazeller für die Zwecke der weiteren Argumentation genügte. Wir hingegen benötigen in diesem Punkt Klarheit. Wenn nämlich sowohl die Einzelzellen wie auch die aus ihnen gebildeten Metazeller als autopoietische Systeme erster Ordnung gedacht werden, dann wäre nicht einzusehen, weshalb Gesellschaften, die aus autopoietischen Einheiten bestehen, nicht auch ihrerseits autopoietisch organisiert sein sollten.

Nach der Begriffsbestimmung Maturanas und Varelas von autopoietischer Organisation als einern Netzwerk, das die Komponenten hervorbringt; aus denen es besteht, ist die Antwort auf die Frage eigentlich vorgegeben. 9 Danach kann ein autopoietisches System weder Teil eines anderen autopoietischen Systems sein, noch kann es aus autopoietischen Systemen als Komponenten bestehen. Im ersten Fall würde es sich nicht selbst hervorbringen, sondern würde von den Komponenten des übergeordneten autopoietischen Systems hervorgebracht. Es wäre fremdgesteuert, was der spezifischen Autonomie autopoietischer Systeme grundsätzlich widerspräche. Im zweiten Fall wären diese Systeme keine echten Komponenten, solange sie als autonome, autopoietische Einheiten operierten. Falls sie echte Komponenten wären, könnten sie keine autopoietischen Systeme sein, weil sie abhängig wären. Mit anderen Worten: Systeme, die selbst autopoietisch sind, können nicht Teil echter autopoietischer Systeme werden, ohne ihre Autopoiese zu verlieren. 10 Auf unseren Fall des Metazellers übertragen, bedeutet dies, daß die Einzelzellen entscheidende Merkmale ihrer Autonomie verlieren, wenn sie sich zu einern mehr- bis vielzelligen Organismus zusammenschließen. 8 ,,Es stellt sich nun die Frage, wie die Organisation der Metazeller beschaffen ist. Da die sie bildenden Zellen auf vielfältige Weise miteinander verbunden sein können, ist einsichtig, daß die Metazeller unterschiedliche Arten von Organisation zulassen, zum Beispiel die eines Organismus, einer Kolonie oder einer Gesellschaft. Sind jedoch einige Metazeller (autopoietische Systeme zweiter Ordnung) auch autopoietische Systeme erster Ordnung? ... Dies sind keine einfachen Fragen ... Im Falle der Metazeller haben wir eine viel ungenauere Kenntnis der molekularen Prozesse, welche sie als den Zellen vergleichbare autopoietische Einheiten definieren könnten" (ebd. 98). Maturana und Varela halten es also für durchaus möglich, daß einige Metazeller autopoietische Einheiten erster Ordnung sind, obwohl die beteiligten Zellen ihre individuellen Grenzen bewahren und weiterhin eine autopoietische Ordnung aufweisen: ,,Denn, wie wir gesagt haben, sind Metazeller, wie auch immer ihre Organisation beschaffen ist, aus autopoietischen Systemen erster Ordnung (!) zusammengesetzt und bilden Abstammungslinien durch Fortpflanzung auf zellulärer Ebene" (ebd. 100). Wie im folgenden gezeigt wird, geraten hier die Autoren mit ihren eigenen Prämissen in Widerspruch; vgl. dazu auch Kargl, Gesellschaft 1990 b. 9 Vgl. Roth, Kognitive Selbstreferentialität 1987, 395. 10 Auf diesen Punkt haben Maturana und Varela selbst verwiesen, als sie feststellten, daß Metazeller nicht durch die Eigenschaften der Bestandteile bestimmt würden.

I. Systemtypen

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Die Einzelzellen können sich nicht mehr selbstherstellen und selbsterhalten. In diesem Sinn ist also der Verlust der Autopoiese - wie Gerhard Roth anmerkt - geradezu konstitutiv für diesen Zusammenschluß. Das Entsprechende gilt auch für individuelle Organismen, die sich zu supraindividuellen autopoietischen Organismen aufbauen, wie dies z. B. im Bienen-, Ameisen- und Termitenstaat geschieht. Die einzelnen Organismen verlieren mit dem Zusammenschluß ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung oder zur aktiven Nahrungsaufnahme. Damit werden sie zu allopoietischen Komponenten, die ohne die anderen Komponenten nicht existieren können. Das Gesamtsystem ist es nun, das eine neue, besondere Kohärenz aufbaut, und das sich infolge der Koppelung vieler Komponenten reproduziert. Das für autopoietische Systeme konstitutive Merkmal der Selbsterhaltung kommt hier also nur der neuen Einheit und nicht mehr den Komponenten zu. 11 2. Gehirne als selbstreferentielle Systeme a) Begriff der Selbstreferentialität

Überträgt man diese Überlegungen auf das Verhältnis des Gesamtsystems "Mensch" zu dem Subsystem "Gehirn", dann wird rasch deutlich, daß auch das Gehirn sich nicht selber erhält. Wie wir bereits näher dargelegt haben, ist die Arbeitsweise des Gehirns dadurch gekennzeichnet, daß seine neuronale Aktivität zu veränderter neuronaler Aktivität führt. Es ist jedoch nicht diese neuronale Aktivität als solche, die das Gehirn erhält. Erhalten wird es vielmehr durch die Organe des Gesamtorganismus, zu dem es gehört. 12 Versteht man das Gehirn 11 Roth merkt eine weitere Einschränkung an, die der Autopoiesebegriff sogar im biologischen Bereich hinnehmen muß: ,,Letztlich aber sind alle individuellen Lebewesen keine echten autopoietischen Systeme, da sie eine nur begrenzte Lebenszeit haben, sich also nur vorübergehend selbst erhalten können. Im Grunde gibt es nur ein einziges autopoietisches System, nämlich das Leben selbst als ununterbrochene Fortpflanzungskette, die seit mehr als drei Milliarden Jahren sich selbst herstellt und erhält und damit alles überdauert hat, was auf unserer Erde existierte" (Kognitive Selbstreferentialität 1987, 396). Ungeklärt ist allerdings die Frage, ob sich das Leben unter günstigsten Bedingungen unendlich lange erhalten könnte. 12 Selbsterhaltende Systeme bestehen aus einer zyklischen Verknüpfung selbstorganisierender Systeme, die so organisiert sind, daß das erste selbstorganisierende System genau die Anfangsbedingungen für ein zweites selbstorganisierendes System (oder Prozeß) erzeugt, welches wiederum die Anfangsbedingungen für ein weiteres selbstorganisierendes System herstellt usw., bis schließlich eines der selbstorganisierenden Systeme die Anfangsbedingungen für ein selbstorganisierendes System der Klasse des ersten selbstorganisierten Systems erzeugt und sich der Zyklus schließt. Also: Selbsterhaltende Systeme sind Systeme, in denen selbstorganisierende Systeme sich selber in operational geschlossener Weise erzeugen. Sie haben insbesondere die Eigenschaft, nicht an die Lebensdauer einzelner Komponenten gebunden zu sein. In diesem Sinne sind sie ,,mehr" als die Summe ihrer Teile. Die selbstorganisierenden Systeme sind hingegen an die Lebensdauer der Komponenten gebunden: Sie zerfallen, wenn die Komponenten aufgebraucht sind. Nach dieser Defmition sind lebende Systeme als selbsterhaltende Verknüp-

15 Kargl

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

Übersicht 9: Charakteristika fremd- und selbstreferentieller Systeme und ihrer Beziehungen (nach Hejl, Selbstrejerentielle Systeme 1982, 184). Fremdreferentielles System

Selbstreferentielles System

Entstehung

Erzeugung durch Menschen

Selbsterzeugung (Fortpflanzung, Reproduktion des Systems)

Basale Struktur

Linear

Zirkulär

Vom Erzeuger vorgegeben (Reproduktion, Wissensgewinn etc. im Dienste der Reproduktion des Erzeugers) Vom Erzeuger als möglich vorgegebener und durch konkrete Interaktionen erreichter Bezugszustand

Erhaltung der Art und des konkreten Systems

Welterfassung

Beschränkt, da abhängig von den Sensoren und dem Verarbeitungsprogramm. Insgesamt: dem Erzeuger unterlegen

Beschränkt, da abhängig von den Sensoren und dem funktionalen Bezug

Umweltkonstanz

Vollständig gegeben. Nicht vom Konstrukteur vorgesehene Umweltveränderungen können nur durch sein Eingreifen ausgeglichen werden, wodurch bis zum nächsten Eingriff eine neue Konstanz entsteht.

Nur als Grenzfall, insbesondere in der Interaktion mit der physischen Welt gegeben. Je komplexer die Systeme, desto komplexer kann ihre Umwelt sein und desto stärker können sich Umwelt und System verändern. Verändert sich die Umwelt schneller als das System (z. B. aufgrund des Einflusses anderer Systeme), so kann dies im Extremfall für das System Interaktionen mit der Umwelt, die dann nicht mehr seine Umwelt ist, unmöglich machen; es desintegriert.

System"ziel" / Funtionaler Bezug - allgemein

- bei einzelnen Interaktionen

Durch genetische Ausstattung und konkrete Interaktionen erreichter Bezugszustand als systemspezifische Konkretisierung des allgemeinen funktionalen Bezuges

I. Systemtypen

227

Fremdreferentielles System

Selbstreferentielles System

Folgerungsweise

Deduktiv, alles berücksichtigend, was durch Konstrukteur als relevant festgelegt wurde.

Induktiv-heuristisch in Abhängigkeit vom funktionalen Bezug.

Verhalten

Vom Konstrukteur festgelegt

Genetisch bestimmt und, je nach Komplexitätsgrad und Umwelt, gelernt, d. h. in der Evolution des Systems erworben.

Verhaltensänderungen

Durch Eingriff des Konstrukteurs

Durch Mutation oder / und Lernen

Ursprung von Informationen

Umwelt

Umwelt ist nur das "womit" in Interaktionen. In von diesem "womit", dem Bezugszustand des Systems, d. h. seinem Zustand vor einer konkreten Interaktion und seinem funktionalen Bezug erzeugt das System Information.

Gegenstand der Information

Umwelt

Umwelt und System

Wirkung von Information

Denotativ. Sie verweist auf bestimmte Umweltereignisse, die dem System konstruktiv als relevant vorgegeben, d. h. für die Sender und Empfanger eindeutig identifizierbar sind und auf die das System mit einem vorgegebenen Verhalten reagiert, wie kompliziert dieses auch immer sei.

Konnotativ. Sie verweist auf Veränderungen bzw. Elemente im System oder seiner Umwelt, auf die dieses mit genetisch fixiertem oder erlerntem Verhalten reagiert, ohne daß auf der informellen Ebene das vom "Sender" Gemeinte feststellbar ist.

Reliabilität der Informationen über die Umwelt

Im Rahmen der technisehen Möglichkeiten gegeben. Eindeutigkeit ist nur ein technisches Problem des Empfanges und der Dekodierung.

Vollständig abhängig von Umweltveränderungen und Systemevolution, d. h. über die Reliabilität kann nicht prinzipiell, sondern nur unter Bezug auf ein bestimmtes System und seine Umwelt entschieden werden.

15*

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

als Organ und fragt man dementsprechend nach der Rolle, die es bei der Selbsterhaltung des Organismus spielt, dann ist es kein autopoietisches System. 13 Fragt man hingegen danach, wie das Gehirn funktioniert, also nach der funktionalen Organisation des Gehirns, dann kommt ein vom biologischen Organismus gesonderter eigener Phänomenbereich, das kognitive System, ins Blickfeld. 14 Welchem Systemtypus gehört das kognitive System an, wenn es kein autopoietisches System ist? Es gilt bei der Beantwortung dieser Frage die Verschiedenheit der Organisation biologischer und kognitiver Systeme herauszuarbeiten. Gerhard Roth hat vorgeschlagen, den Autopoiesebegriff auf biologische Systeme zu beschränken und den Begriff der "Selbstreferentialität" als Oberbegriff für biologische und kognitive Systeme zu verwenden. 15 Wir wollen im folgenden diese KlassifIkation unterschiedlicher Systemtypen beibehalten, da sie - wie Hejl16 überzeugend dargelegt hat - einen wichtigen Fortschritt auf dem Wege der Ausarbeitung der Theorie sozialer Systeme gebracht hat. Unter selbstreferentiellen Systemen versteht Roth solche Systeme, "deren Zustände wesentlich durch die Interaktion ihrer Komponenten (also von ,innen') und nicht wesentlich durch die Beeinflussung durch ihre Umwelt (also von ,außen') bestimmt werden". 17 Selbstreferentielle Systeme sind daher Systeme, die die Zustände ihrer Komponenten in operational geschlossener Weise verändern. Ihrer Umwelt gegenüber sind sie autonom, können also von außen nur begrenzt oder gar nicht gesteuert werden. 18 Dennoch handelt es sich bei ihnen Jung selbstorganisierender Prozesse zu verstehen. Sie bilden die materielle Basis für Systeme wie das Gehirn. Damit ist klar, daß das Gehirn von dieser materiellen Basis erhalten wird und sich nicht selbst durch seine Komponenten selbst erhält (vgl. hierzu Roth, Erkenntnis 1987,229; Hejl, Soziale Konstruktion 1987,307). 13 Die Rolle des Gehirns bei der Selbsterhaltung des Organismus besteht darin, ein Verhalten zu erzeugen, mit dem Überleben möglich ist. Das Gehirn muß also den Organismus zweckmäßig auf die relevanten Umweltereignisse hin orientieren. Dies geschieht nicht durch Informationsaufnahme und -auswertung, sondern - wie nachstehend dargelegt - selbstreferentiell (vgl. Roth, Selbstorganisation 1986, 168); zum Begriff der Modularität des Gehirns vgl. Gazzaniga, Gehirn 1989, 119. 14 Die "Verbindung" zwischen diesen zwei Arten der Betrachtung des Gehirns scheint dessen Topologie zu sein (vgl. Roth, Erkenntnis 1987,232). Als Ergebnis seiner Evolution repräsentiert die Topologie des Gehirns die sensomotorischen Oberflächen des betreffenden Organismus dergestalt, daß die selbstreferentiellen Hirnaktivitäten notwendig mit dem Zustand des Organismus und dessen Möglichkeiten korrespondieren. 15 Vgl. Roth, Autopoiese 1987,262; ders., Kognitive Selbstreferentialität 1987, 399; ders., Selbstreferentialität 1984. 16 Siehe Hejl, Selbstreferentielle Systeme 1982; ders., Soziale Systeme 1986, 56; ders., Individuum 1987, 123; ders., Soziale Konstruktion 1987, 303. 17 Roth, Kognitive Selbstreferentialität 1987,400. 18 Im Hinblick auffehlende Außendetermination sind sich Organismus und Nervensystem gleich. Sie unterscheiden sich aber im Grade der Autonomie. Der Organismus kann nur spezifische Interaktionen mit seiner Umwelt eingehen; d. h. der Organismus nimmt nur bestimmte Materie und Energie auf und reguliert selbst die Quantität der Aufnahme und Abgabe. Zwar kann sich dadurch der Organismus zum Teil von der Umwelt abkoppeln, aber die Umwelt wirkt energetisch auf den Organismus ein. Deshalb ist jede

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um detenninistische Systeme in dem Sinn, daß sie eine - wenn auch vom System selbst - genau festgelegte Zustandsfolge besitzen. Mit der Umwelt stehen sie in einem für die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Existenz notwendigen Austausch; sie empfangen Einflüsse aus der Umwelt und üben Einflüsse auf diese aus. Diese Einflüsse können die Innenzustände und damit das Verhalten des Systems zwar modulieren, aber sie detenninieren sie nicht. Denn ob ein Umweltereignis überhaupt ein Reiz für das selbstreferentielle kognitive System ist und, wenn ja, welche spezifische Wirkung an welchem Ort und zu welcher Zeit es ausübt, wird allein durch die strukturellen und funktionalen Eigenschaften des Systems bestimmt. b) Genese kognitiver Selbstreferentialität

Über die Eigenschaften referentieller Systeme haben wir am Beispiel des Gehirns ausführlich berichtet. Wichtig war dabei hervorzuheben, daß das Nervennetzwerk des Gehirns letztlich alles, was zu motorischem Verhalten führen soll, in elektrische Signale transfonniert. Aber darin erschöpft sich die Leistung des Gehirns nicht. 19 Es muß entsprechend der obigen Defmition von SelbstreferentiaAutonomie des Organismus nur eine relative Autonomie. Desweiteren ist zu beachten, daß die Struktur des Organismus notwendigerweise entweder aufgrund von Umweltprozessen oder aufgrund thermodynamischen Zerfalls zerstört wird, wenn diese Prozesse nicht ständig kompensiert werden. Eben darin besteht die Autopoiese, daß alle Komponenten des Systems sich gegenseitig reparieren und ersetzen. Aus diesem Grunde muß die Produktion der Komponenten in einer genau festgelegten Weise erfolgen, und zwar so, daß die Komponente A genau diejenigen Bedingungen schafft, unter denen Komponente B entstehen kann usw. (vgl. Roth, Autopoiese 1987, 264; an der Heiden, Ordnung 1986, 154; an der Heiden, Roth, Schwegler, Organisation 1986,330; dies. Selj-organization 1985, 125). Im Gegensatz zu der sehr spezifischen Interaktion zwischen den Komponenten des Organismus (einschließlich des Nervensystems als Ganzes) zeichnen sich die Interaktionen der Komponenten eines Nervensystems, nämlich die Nervenzellen, durch eine hohe Variabilität der Zustände aus, die umso höher ist, je höher die kognitive Leistungsfähigkeit des Nervensystems ist. Diese Nervenzellen können zwischen Unerregtheit und maximaler Erregtheit unendlich viele Zustände annehmen. Diese Möglichkeit liegt darin begründet, daß sich die Nervenzellen nicht notwendig durch ihre neuronale Aktivität selbst erhalten müssen. Daraus folgert Roth (Autopoiese 1987, 270): "Die Autonomie des Gehirns ist ganz wesentlich eine Freisetzung von der Existenzerhaltung: Das Gehirn kann sich immer mehr mit Dingen beschäftigen, die nur sehr indirekt mit Überleben zu tun haben. Dies gerade ist die Grundlage der spezifischen Leistung menschlicher Kognition, nämlich Konstitution von Wirklichkeit und damit die Möglichkeit, Handlungs-Planung zu betreiben, d. h. etwas zu tun, was noch keinen Nutzen für den Organismus hat." 19 Denn das Nervennetzwerk als solches garantiert noch nicht, daß die Reflex- und Instinkthaftigkeit des Verhaltens überwunden wird. Nach wie vor könnte ein bestimmtes Umweltereignis stets eine bestimmte Reaktion hervorrufen. Außerdem wäre nicht ausgeschlossen, daß die Verdrahtung dieses Nervennetzwerkes fest vorgegeben ist. Unter solchen Voraussetzungen müßte man anstatt von Kognition von einer Sequenz psysikalisch-chemischer und physiologischer Prozesse sprechen. Auf die Frage, wann und warum Selbstreferentialität ins Gehirn kommt, antwortet Roth: ,,Ein erster und zugleich entscheidender Schritt zur Ausbildung von Selbstreferentialität und Kognition im Gehirn hängt mit der geschilderten Steigerung der Leistungsfähigkeit der Sinnessysteme zusammen,

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lität die Fähigkeit erlangen, seine Netzwerkeigenschaften selbst zu kontrollieren. Es muß also eine bewertende Instanz ausbilden, die die synaptischen Veränderungen steuert, denn das sich verändernde Netzwerk kann nicht selbst der Evaluator des Effekts seiner Veränderungen sein. 20 Roth weist darauf hin, daß aus diesem Grunde der neuronale Evaluator räumlich getrennt von den eigentlich sensorischmotorischen Netzwerken existieren muß und daß es seine Bewertungskriterien aus Erfahrungen mit erlerntem Verhalten lernt, d. h. eine Erfahrung zweiten Grades bildet: "Im Gehirn geschieht dies dadurch, daß die Bewertungssysteme Erfahrung auf immer breiterer Basis, zum Beispiel auf der Grundlage des Vergleichs der Daten aus unterschiedlichen Sinnessystemen, sammeln. Dies hat zur Voraussetzung, daß die unterschiedlichen Sinneszellen ein hohes Maß an ,Transfer'-Möglichkeiten ausbilden ... Dies führt zu einer ,intermodalen Konsistenzprüfung' . Eine Konsistenzprüfung wird aber auch und insbesondere hinsichtlich früherer Erfahrungen durchgeführt, d. h. alles, was erlebt wird, wird an früher Erlebtem überprüft . . . Bestimmte Zentren entwickeln also nach und nach immer verläßlichere Kriterien für die Bewertung der Gehirnzustände und damit der Verhaltenssteuerung. Durch rekursive Selbstbewertung, d. h. durch steten Rückgriff auf immer breitere Erfahrung, wird die Notwendigkeit eines höchsten, allwissenden Steuerzentrums vermieden ... Es zeigt sich, daß die sensorischen Verarbeitungssysteme gleichzeitig zwei Leistungen vollbringen müssen, nämlich Abstraktion und Generalisierung und konkrete, detaillierte Wahrnehmung. Hierarchische und parallelverarbeitende Auswertungssysteme durchdringen sich daher notwendigerweise."21

d. h. damit, daß spezialisierte ,Erkennungsrezeptoren' durch sensorische ,UniversalNetzwerke' ersetzt werden. Wird das Zerlegen der Umweltereignisse durch die Sinnesorgane weiter gesteigert, so müssen diejenigen nachgeschalteten Zentren immer leistungsfähiger werden, die die Grundereignisse zu einer bedeutungsvollen Wahrnehmung zUSammenfügen, z. B. aus einzelnen Helligkeitsverteilungen auf der Netzhaut eine Gestalt extrahieren. In dem Maße, wie die Sinnesorgane immer universeller und damit immer ereignis-unspezijischer werden, wächst die Notwendigkeit des Gehirns zur Gestalt-Wahrnehmung" (Kognitive Selbstreferentialität 1987, 408). 20 Im Fall des Lernens als sog. operanter Konditionierung sind die Bewertungskriterien in der Regel genetisch determiniert. So können die Aktivitäten verhaltenssteuerndei Nervennetze verstärkt oder unterdrückt werden, je nachdem, ob sie einen Zustand der Lust oder der Unlust zur Folge hatten. Eine nach diesem Prinzip erfolgende Veränderung der Übertragungseigenschaften verhaltenssteuernder Netzwerke kann z. B. mit Hilfe sog. Hebb-Synapsen bewerkstelligt werden (vgl. Jerison, Brain 1973). Im menschlichen Verhalten müssen die Bewertungskriterien selbst wieder erlernt werden. 21 Roth, Kognitive Selbstreferentialität 1987,411. In der neueren Hirnforschung wurde - unter dem Eindruck der Befunde von Hubel und Wiesel (Receptivefields 1968,215) über die Organisation des visuellen Systems von Katzen und Affen - lange angenommen, Wahrnehmung beruhe auf einer hierarchischen Verarbeitungsorganisation, innerhalb derer auf jeder höheren Stufe immer komplexere und abstraktere Eigenschaften der wahrgenommenen Umweltereignisse repräsentiert würden. Wie schon an anderer Stelle dargelegt (Kap. 1 III 2), wurde letztlich geglaubt, daß Wahrnehmung in der Aktivität eines einzigen Neurons (des "Großmutter-Neurons") an der Spitze einer Verarbeitungshierarchie gipfele. Inzwischen wurden zahlreiche parallelverarbeitende sensorische Systeme nachgewiesen (vgl. Stone, Dreher, Leventhal, Parallel mechanism 1979,345; Essen, Maunsell, Hierarchical organzitation 1983, 370).

I. Systemtypen

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Mit diesen evolutiven Differenzierungen des Gehirns ist ein entscheidender Schritt zur Kognition erreicht. Nunmehr vermag das Nervensystem auf der Basis ständig erweiterer innerer Konsistenzprüfung sich selbst zu bewerten. Damit hat es die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung entwickelt und ist in der Lage, die von den Sinnesorganen kommenden Erregungen in vielfältigster Weise auszulegen und im Kontext früherer Erfahrungen zu deuten. "Jede einlaufende sensorische Erregung löst im Gedächtnis eine Lawine von Assoziationen aus, und das Gehirn ,errechnet' die Bedeutung der Erregungen aus eben diesen Assoziationen."22 Aus diesem Grunde ist das, was wir als bewußte Wahrnehmung erleben, stets Resultat der Deutung primärer Sinneserregungen. Die Welt erblicken wir durch die Brille der eigenen Erfahrung: Welche Bedeutung sensorische Erregung "von außen" hat, hängt immer mehr von den inneren Bewertungsschemata ab. 23 Im Anschluß an Ciompi haben wir diese inneren Bewertungsschemata "affektlogische Bezugssysteme" genannt. Diese Bezugssysteme sind innerhalb der Hirnevolution ungeheuer angewachsen, so daß schließlich dasjenige, was durch die Sinnesorgane an Erregungen ins Gehirn gelangt, beim Menschen fast verschwindend gering ist gegenüber dem, was insgesamt an Verarbeitungsprozessen im Gehirn stattfindet. 24 Damit hat sich der Schritt vom reaktiven zum prognostizierenden System vollzogen. Offenbar brachte es einen entscheidenden Überlebensvorteil, eine kognitive Realität aufzubauen und mit dieser umzugehen, anstatt die Umwelt sensorisch immer genauer abzutasten. Der Vorteil einer kognitiven Wirklichkeit besteht vor allem darin, daß sie Erfahrungs-Realität im Sinne einer gestalteten und vergesetzmäßigten Realität ist. 25 Sie ermöglicht dem Menschen, 22 Roth, ebd. 413. Unter "Bedeutung" versteht hier Rothjede Art von Wahrnehmungsinhalt, wodurch das kognitive System einem an sich bedeutungsfreien neuronalen Erregungsereignis zugeordet wird (z. B. Farbe, Form, Lautstärke), und natürlich Bedeutungen "zweiten Grades", die das umfassen, was als der ,,sinn" der Wahrnehmungsinhalte angesehen wird. 23 Vgl. hierzu insbesondere die Erkenntnisse der Wahrnehmungs- und Gestaltpsychologie, dargestellt z. B. bei Metzger, Sehen 1953; Stadler, Kruse, Gestalttheorie 1986, 75; Roth, Gestaltwahrnehmung 1985.228; ders., Gehirn 1990, 177. 24 Die Zahl der Nervenzellen im Gehirn liegt nach gegenwärtigen Schätzungen zwischen 100 Milliarden und 1 Billion. Nimmt man als Mittel 500 Milliarden, so kommt man ganz grob auf 1 : 100.000 : 1 beim Verhältnis von sensorischen Neuronen, Verarbeitungsneuronen im Gehirn und Motoneuronen. Damit ist keineswegs gesagt, daß die Tätigkeit der Sinnesorgane für das Gehirn irrelevant wäre, und daß das Gehirn sich wesentlich nur für sich selbst interessierte. Die ungeheure Erweiterung der Verarbeitungszentren im Gehirn dient vielmehr dazu, dasjenige, was sensorisch wahrgenomm,en und als Eigentätigkeit rückgemeldet wird, zur eigenen Erfahrung (der Summe der Effekte aller früheren Aktivitäten) in Bezug zu setzen. Dieser Bezug zu sich selbst durch "Bewertungskreise" wird immer größer. Vgl. dazu eingehend Roth, Gehirn 1990, 173. 25 Diese "gestaltende" Aktivität legt den Schluß nahe, als würde das Gehirn aus der unübersehbaren Fülle vorgegebener Realität handliche Ausschnitte bilden, mit denen es besser umgehen kann. Man nennt diesen Vorgang "Komplexitätsreduktion der Realität". Ist man sich bewußt, daß diese Betrachtung aus der Beobachterperspektive erfolgt, dann gibt sie den Sachverhalt richtig wider. Geht man jedoch davon aus, daß die Realität unabhängig vom Subjekt, also "objektiv", existiert, dann führt sie in die epistemologische

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komplexe Entscheidungen in kurzer Zeit zu treffen, da er es mit bereits durchstrukturierten und "aufbereiteten" Daten über die Umwelt zu tun hat. Und sie ermöglicht ihm Handlungsplanung: Da die konstruierte Wirklichkeit eine Extrapolation aus den Mannigfaltigkeiten der Erfahrung ist,26 erleben wir sie so, wie sie nach all dieser Erfahrung am wahrscheinlichsten und konsistentesten ist. Um Alternativen und ihre möglichen Konsequenzen zu erwägen, müssen wir Teile unserer aufbereiteten Wirklichkeit wie Versatzstücke benutzen und zusammensetzen können. Es spricht alles dafür, daß die wichtigste Voraussetzung für diese Art der Handlungsplanung die Sprache ist. Zeit und Zukunft sind sprachliche Konzepte, und diese wiederum sind aufs engste mit der Existenz des Bewußtseins und der Konstitution des Ich verbunden. Denn Handlungsplanung setzt einen Bezugspunkt, ein Handlungs-Ich, das sich von der Umwelt abgrenzt, voraus. 27 c) Kognition als Emergenzphänomen

Unsere Rekonstruktion der Kognition im Gehirn hat ergeben, daß die Fähigkeit zur selbstreferentiellen Interpretation der Sinnesdaten erst allmählich entstanden ist. Dieser Prozeß ging einher mit einer Zunahme der Zahl der Nervenzellen, mit einer räumlichen Trennung der zentralen sensorischen Zentren, mit einer Steigerung der Verknüpfung zwischen diesen "spezialisierten" Zentren und schließlich mit einer immer größeren Modulation sensorischer Erregung durch Gedächtnisinhalte. 28 Unter dem Einfluß dieser Gedächtnisinhalte verschiebt sich ein Teil der Verarbeitungsprozesse der Sinnesdaten vom Konkreten zum Abstrakten. Aber dieser Abstraktionsprozeß kann nicht von der Perzeption getrennt werden; er ist stets von der Bewahrung der konkreten Information begleitet. 29 Irre. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sollte man den Aufbau der kognitiven Welt nicht mit ,,Reduktion", sondern mit "Produktion" assoziieren. Ein solcher Sprachgebrauch wird der selbstreferentiellen Tätigkeit des Gehirns besser gerecht. 26 Handlungsplanung setzt die Fähigkeit voraus, eine vorgestellte Wirklichkeit zu konstruieren. Da die wahrscheinlich wichtigste Voraussetzung dafür die Sprache ist, verwundert nicht, daß Menschenaffen nur eine sehr begrenzte Fähigkeit zur Handlungsplanung besitzen (vgl. Reusch, Menschenaffen 1968, 103). 27 Wir haben die für die Konstruktion der Welt unerläßliche Konstruktion des Ich ausführlich unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Piaget und der psychoanalytischen Ichpsychologie dargestellt. Dazu Roth in lapidarer Kürze: "Während von vielen Philosophen und Wahrnehmungsforschern darauf hingewiesen wurde, daß zum reaktiven Handeln keinerlei Ich und keinerlei bewußte Wahrnehmung nötig sei, so ist doch völlig klar, daß Handlungsplanung ohne bewußte Vergegenwärtigung nicht möglich ist" (Kognitive Selbstreferentialität 1987,416). 28 Als Folgen der Entstehung von Selbstreferentialität und Kognition im Gehirn hatten wir im Anschluß an Roth drei Schritte ausgemacht: (1) die Ausbildung des Gehirns zu einem selbst-evaluierenden System, das den Erwerb struktureller und funktionaler Plastizität der Nervennetze zur Voraussetzung hat; (2) die Konstruktion einer anschaulichen Wirklichkeit, die zur Grundlage komplexer Handlungsentscheidung gemacht wird; und (3) die Ausbildung der Fähigkeit zu Imagination und Denken und damit zur Handlungsplanung.

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Wie bereits ausgeführt, geht beides zusammen, Abstraktion und Detailwahrnehmung, unmittelbar in das Bewußtsein ein. Aus dieser Entstehungsgeschichte der Kognition lassen sich nunmehr Argumente sowohl für den spezifischen Systemtypus des Bewußtseins wie auch für das Verhältnis zwischen neuronalen und kognitiven Prozessen gewinnen: (1) Das kognitive System ist ein Organ des lebenden Systems und damit allopoiefisches Subsystem des autopoietischen Systems. Da es sich nicht selbst hervorbringt, sondern von den Komponenten des übergeordneten Organismus hervorgebracht wird, kann es per defmitionem kein autopoietisches System sein. Man kann freilich den Begriff der ,,Autopoiese" und dementsprechend den Begriff der "Hervorbringung der Komponenten" in einem weiter gefaßten Sinn verstehen. Während für Roth 30 die Autopoiese lediglich die zirkuläre Produktion physiko-chemischer Komponenten umfaßt, will Luhmann darunter sehr allgemein die Produktion und Reproduktion von "Elementen" verstehen. 31 Als Elemente der kognitiven Systeme nimmt er "Gedanken" an: Gedanken erzeugen andere Gedanken. 32 Diese Beschränkung der Elemente kognitiver Systeme auf "Gedanken" entspricht allerdings nicht unserer Konzeption von der Evolution des Gehirns.

29 Mit ,,konkreter Information" ist hier Detailwahrnehmung gemeint, die in einem komplizierten Entwicklungsprozeß in Verbindung mit Verdichtungsvorgängen die Konzepte von Objekt und Farbe, Bewegung und Größe ausbildet. Dieser Entwicklungsprozeß verdankt sich nach Roth der "Diversifikation der Organisation des neuronalen und kognitiven Systems, d. h. der Erhöhung der Vielfalt in der Analyse der von den Sinnesdaten kommenden Erregungen und der Steigerung der Verknüpfung zwischen diesen ,spezialisierten' Zentren" (Kognitive Selbstreferentialität 1987,417). Auf diese Weise sind immer komplexere Zusammenfügungen ("Verdichtungen" würde Ciompi sagen) dieser Detail-Informationen möglich, und zwar unter dem Einfluß der Erfahrung. 30 Roth, ebd. 396; zustimmend Hejl, Soziale Konstruktion 1987,309. 31 Vgl. Luhmann, Bewußtsein 1987,25. In ähnlicher Weise verwendet Teubner (Episodenverknüpjung 1987,425) den Begriff der ,,Autopoiese". Für beide Autoren sind autopoietische Systeme all die Systeme, die - in operational geschlossener Weise - "die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren" (Luhmann, ebd. 26). Nach Luhmann gibt es allerdings drei Arten von autopoietischen Systemen, die "ihre je eigene Weise der Autopoiese auf verschiedene Weise zustande bringen", nämlich lebende Systeme, bewußte Systeme und soziale Systeme. Luhmann merkt in diesem Zusammenhang an, daß bei ihm die Begriffe "Produktion" und ,,Reproduktion" einen "Kausalvorgang" bezeichnen, "der intern kontrollierbare und externe Ursachen zusammenführt" (ebd. 31). Reproduktion meint für ihn ,,Produktion aus Produkten (und anderen)". Luhmann fährt fort: "Die Bewußtseinstheorie würde, um mechanistische Assoziationen zu vermeiden und um die Immanenz des Vorgangs zu unterstreichen, eher von ,Konstitution' sprechen. Wir kommen aber aufgrund der Theorie rekursiv geschlossener Systeme im Ergebnis zum selben Resultat" (ebd. 40). 32 In den Lebewesen sind nach Luhmann die Elemente Moleküle und Zellen, in sozialen Systemen Kommunikation; dazu die Kritik weiter unten sowie Kargi, Kommunikation 1990 a.

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Wir waren zu dem Ergebnis gelangt, daß Kognitionen nicht von der Perzeption getrennt werden können. Wahrnehmung, Vorstellung und Denken sind Unterscheidungen, die vom kognitiven System selbst getroffen werden. Mit anderen Worten: Nur auf der Phänomenebene bewußten Denkens scheint es so, als ob ein Gedanke zum anderen führe bzw. ein Gedanke einen anderen denke. Auf der Funktionsebene hingegen "denken" Gehirne, indem neuronale Bereiche sich gegenseitig modulieren. Dabei wird uns nur ein sehr kleiner Teil dieser Prozesse bewußt, nämlich die Wahrnehmungen einer Umwelt, eines Ichs, der Gedanken etc. "Im Bereich unseres Bewußtseins werden diese dann zu Akteuren bzw. Objekten, es entstehen Ich, Du und Wir als von der Mechanik ihrer Erzeugung abgeschnittene Instanzen. Deshalb scheint es ein Ich zu geben, das zwar denkt, selbst aber kein gedachtes Ich ist."33 Luhmanns Systemkonzept vom Gehirn beruht demnach auf einer unangemessenen Trennung der Phänomenbereiche: Kognitiv erzeugte Realitäten wie Gedanken werden von der Funktionsweise des Organismus abgespalten. (2) Das kognitive System erhält sich zwar nicht selbst, aber es verändert seine Zustände in operational abgeschlossener Weise. Es ist ein relativ autonomes und zugleich deterministisches System, das im wesentlichen von seinen eigenen Zuständen gesteuert wird. Ein solches System wollen wir mit Roth ein selbstreferentielles System nennen, das sich die zentralen Eigenschaften autopoietischer Systeme mit Ausnahme von deren "Selbsterhaltung" bewahrt hat. 34 Dies hat die Konsequenz, daß selbsterhaltende Systeme notwendigerweise selbstreferentiell sind, aber nicht alle selbstreferentiellen Systeme selbsterhaltend sind. Bezogen auf ihre kognitiven Funktionen sind daher Gehirne selbstreferentiell, aber nicht selbsterhaltend. Es wird sich zeigen, daß diese Explikation lebender Systeme insbesondere für ein besseres Verständnis sozialer Systeme wichtig ist. (3) Parallel zu den Erregungsprozessen im Gehirn organisiert sich das kognitive System als ein kohärentes Bedeutungssystem. Dadurch werden Wahrnehmungen als ein eigenständiger Phänomenbereich erlebt. In dem Maße, in dem kognitive Akte auf sich selber Bezug nehmen, sieht das vom Gehirn konstruierte "Ich" die Wahrnehmung als seine eigene an. Man kann diesen Prozeß fortschreitender Kognition als ein Emergenzphänomen beschreiben: Neuartige Phänomenbereiche werden aus alten Phänomenbereichen herausprozessiert. 35 Aus biologischen Pro33 Hejl, Individuum 1987, 135. 34 In den Worten Roths: "Kognition ist die Funktion, oder besser der Zustand, eines

selbstreferentiellen Systems, des (menschlichen) Gehirns, das nicht im biologischen Sinne autopoietisch, d. h. selbstherstellend und selbsterhaltend ist, sondern von einem biologisch-autopoietischen System, dem (menschlichen) Organismus, erhalten wird" (Kognitive Selbstreferentialität 1987, 394). 35 ,,Ein solches"emergentes' System liegt dann vor, wenn die vom autopoietischen System 1. Ordnung hervorgebrachten Phänomene beginnen, sich zirkulär hervorzubringen und zu steuern, und wenn die Komponenten des emergenten Systems nicht derselben Phänomen-Klasse angehören wie das System 1. Ordnung, das die Komponenten hervor-

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zessen entsteht das Bewußtsein. Dennoch ist wichtig festzuhalten, daß sich Kognitionen keineswegs von den neuronalen Prozessen "freimachen": ,,Es besteht nach wie vor keine Notwendigkeit, den Gedanken einer strikten Parallelität neuronaler und kognitiver Prozesse aufzugeben, daß also zu einem bestimmten Zeitpunkt einem kognitiven Prozeß genau ein neuronaler Prozeß zugerechnet ist."36 Das ist nicht leicht zu verstehen: Weder sind Kognition und Neurosystem identisch noch getrennt. Identisch sind sie nicht, weil sich sonst diese Zuordnung aufgrund der Eigenaktivität des Systems nicht ändern könnte. Getrennt sind sie nicht, weil das kognitive System ohne den Organismus nicht existenzfahig wäre. Roth hat diesen verwickelten Zusammenhang sehr hilfreich am Beispiel der Beziehung zwischen Sprachlauten und deren Bedeutungen erklärt. 37 Zunächst macht er klar, daß Sprachlaute keinerlei wesensmäßige Beziehung zu ihren Bedeutungen haben, und daß im Prinzip jeder Laut eine beliebige Bedeutung besitzen kann. Ihre Beziehungen unterliegen der Übereinkunft der Sprachgemeinschaft, und die Veränderungen der Bedeutungen werden von dieser Gemeinschaft nach den Prinzipien interner Konsistenz vorgenommen. Es werden danach nur solche Veränderungen akzeptiert, die eine hinreichende Eindeutigkeit der Kommunikation aufrechterhalten. So differenziert sich die Semantik der Sprache selbstreferentiell aus: Es gibt ein Bedeutungssystem, das dem Lautsystem aufruht. Man kann nun die Situation so beschreiben, als organisierten sich die Sprachlaute gegenseitig. Dann besitzt man dieselbe Perspektive wie ein Hirnforscher, der die neuronalen Erregungsprozesse studiert. Man kann aber auch die ganzen Prozesse so beschreiben, als organisierten sich die Bedeutungen gegenseitig. Dann befindet man sich in der Situation eines Henneneutikers, der zu dem richtigen Schluß kommt, daß Bedeutung stets nur aus Bedeutung entsteht und nicht aus Sprachlauten. Aber es ist ebenso richtig, daß eine Bedeutung nur in einem System von Sprachlauten ablaufen kann, die ebenfalls auf ihrer Ebene selbstreferentiell sind. Dieselbe Beziehung besteht zwischen den neuronalen Ereignissen und den kognitiven Bedeutungen. Diese Bedeutungen sind vollkommen vom Gehirn abhängig und führen keinerlei materielles Eigenleben. Was jedoch als "geistiges" Eigenleben bezeichnet werden kann, ist der unendlich beliebige Wandel dieser Bedeutungen. Und dieser Wandel der Zustände des Bewußtseins, der vom matebrachte. Letzteres trifft für das Verhliltnis zwischen Organismus und kognitivem System zu. Komponenten des Organismus als eines autopoietischen Systems sind - je nach Betrachtungsebene - Moleküle, Zellorganellen, Zellen, Organe. Diese unterliegen den sog. physikalischen Gesetzen, und in diesem Sinne ist ,Leben' auch ein physikalisches Phänomen. Die Komponenten des kognitiven Systems aber sind Bedeutungszuweisungen - das, was wir als mentale Akte in Form von Wahrnehmung, Denken, Fühlen erleben - und ganz offenbar unterliegen diese Akte nicht den (physikalischen) Gesetzen, denen die Komponenten des biologischen Systems Gehirn unterliegen. Das scheinbare Paradoxon, daß biologische Systeme Phänomene hervorbringen, die nicht mehr biologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, gilt es aufzulösen" (Roth, ebd. 398). 36 Roth, ebd.. 418. 37 Vgl. zum folgenden Roth, ebd. 419.

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riellen Gehirn nicht determiniert ist, macht das kognitive System zu einem selbstreferentiellen System. d) Zusammenfassung (1) Das Gehirn ist ein selbstreferentielles System. Das bedeutet, daß es funktional in sich abgeschlossen ist und nur mit seinen eigenen Zuständen interagiert. Es hat keinen direkten Zugang zur Außenwelt. Bei der Interpretation seiner eigenen Zustände geht es nur nach internen Prinzipien der Konsistenzprüfung vor. Diese Selbstreferentialität ist die Grundlage der außerordentlichen Konstanzund Entscheidungsleistungen, die wiederum die Voraussetzung für die einzigartige Fähigkeit des Gehirns sind, komplexe Umwelten zu schaffen.

(2) Nur selbstreferentielle Systeme sind in der Lage, Kognition zu konstituieren, d. h. eine verfügbare Wirklichkeit zu schaffen. Die Sinnesorgane, die mit den Signalen der Umwelt unmittelbar umgehen, sind an diese spezifischen Reize gebunden und daher höchst unflexibel. Allein das Gehirn hat in einer langen Evolution und in der ontogenetischen Entwicklung Prüfverfabren entwickelt, die hochgradig verläßlich sind und ein höchst flexibles Verhalten ermöglichen. (3) Die selbstreferentielle Organisation des materiellen Gehirns schafft sich eine kognitive Welt, in der das Ich von der Umwelt geschieden ist. Diese kognitive Welt ist dadurch, daß sie in Bezug auf ihre eigenen Teilbereiche konstituiert und definiert ist, in sich abgeschlossen. Dies ist die Wirklichkeit,· der wir nicht im Sinn der Rede von der Subjekt-Objekt-Spaltung gegenüberstehen, sondern von der wir ein Teil sind. Ich und Umwelt sind Konstruktionen unseres Gehirns und doch unsere einzige Wirklichkeit. (4) Die funktionale und kognitive Abgeschlossenheit des Gehirns bedeutet nicht, daß es von der Umwelt isoliert oder solipsistisch ist. Seine Zustände werden durch jede Interaktion mit der Umwelt moduliert. Das heißt aber nicht, daß die Umwelt die Zustände des Gehirns determiniert. Vielmehr legt das Gehirn fest, welche Umweltereignisse in welcher Weise auf das Gehirn einwirken können. Mit Hilfe der Konstitution einer internen Umwelt durchbricht das Gehirn die prinzipielle Isolation, in der sich alle neuronalen Systeme gegenüber ihren Umwelten befinden. Entwickeln die Gehirne parallele interne Weltkonstruktionen, so ist es kein Widerspruch, daß unsere individuelle, in sich abgeschlossene Wirklichkeit eine soziale Wirklichkeit ist. Obwohl also das Gehirn in der Tat ohne Fenster mit der Umwelt interagiert, ist es keine Monade im Leibnizschen Sinn. 38

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Zur "Monadologie" von Leibniz vgl. Koch, Erkenntnis 1989,86.

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3. Sozialsysteme als synreferentielle Systeme a) "Erfindung" der Gesellschaft

Um zu begreifen, weshalb sich von einem "Punkt" der menschlichen Evolution an die Gesellschaft konstituierte, müssen wir die mit dem eben beschriebenen Gehirnwachstum einhergehenden Konsequenzen einer genaueren Betrachtung unterziehen. Bisher haben wir nur die positiven Effekte hervorgehoben: Das Gehirn entwickelt die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und ist nun in der Lage, die von den Sinnesorganen kommenden Erregungen in vielfältigster Weise auszulegen und im Kontext früherer Erfahrungen zu deuten. Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung erzeugen neue Umwelten, was einen Überlebensvorteil für den Fall bedeutet, daß Veränderungen der Umwelt nicht mehr der Kontrolle des lebenden Systems unterliegen. Einem Beobachter erscheint dann das veränderte Verhalten als Anpassung an eine neue Umwelt. 39 Tatsächlich aber hat eine KoEvolution stattgefunden, die von den beteiligten Systemen jeweils selbst determiniert wurde. Die Konstruktion kognitiver Wirklichkeit vergesetzlicht die undurchschaubare Umwelt und erlaubt somit flexibles Handeln. 39 Diese sog. ,,Anpassung" wurde während der weitaus längsten Periode der Entwicklung menschlicher Gesellschaften in einer von der heute dominierenden grundsätzlich verschiedenen Weise gelöst. Dies wird deutlich, wenn man sich etwa das Entwicklungsschema von S. Diamond (Zivilisation 1976,84) betrachtet. Er unterscheidet vier Phasen. Der längste Zeitraum umfaßt den Übergang vom Paläolithikum zum Neolithikum, der sich ungefähr von 500 000 bis 10 000 vor unserer Zeitrechnung erstreckt. Dies ist die Phase der ersten Gesellschaftsbildungen und der Ursprünge jeder Kultur. Die zweite Phase dauert bis ca. 5 000 vor der Zeitrechnung, d. h. bis zum Auftreten früher Formen sozialer und politischer Differenzierung. Als dritte Phase betrachtet Diamond den Zeitraum zwischen der Entstehung der antiken Hochkulturen und dem ,,Ende" des Mittelalters. Die vierte Phase fällt schließlich mit der Entwicklung der modernen Staaten, der modernen Wissenschaft bzw. mit dem Aufstieg des Bürgertums zur dominierenden sozialen Schicht zusammen (vgl. hierzu auch Whitehead, Wissenschaft 1988). Die bedeutendsten Veränderungen haben in der ersten Phase stattgefunden. Sie bestanden nicht so sehr in der Erfindung von Werkzeugen und Maschinen (siehe Mumford, Maschine 1977, 37), auch nicht in der Spezialisierung einzelner Organe, sondern in der Spezialisierung des Koordinationsmechanismus aller Organe, also des Nervensystems einschließlich des Gehirns. Diese Leistungsflihigkeit, ja zerebrale "Überkapazität" ist die wichtigste Voraussetzung für Anpassung. Sie muß bereits vorhanden sein, bevor neue Umweltkonstellationen neue Verhaltensmöglichkeiten erfordern, denn nur in diesem Falle kann die Leistungsflihigkeit aktualisiert werden (vgl. zur Überkapazität des Gehirns auch bei Tieren Sebeok, Apes 1980). Zu den besonderen "Gefahren" dieser Leistungsflihigkeit beim Mensc~en sagt Hejl: ,,Man muß annehmen, daß im Zuge der Herausbildung dieser ,zerebralen Uberkapazität' von einem kaumzu bestimmenden Punkt an der Mensch mit der Notwendigkeit konfrontiert wurde, sich mit den Produkten seines eigenen Gehirns auseinanderzusetzen, also etwa mit Ängsten und Phantasien, die den ökologisch gegebenen Interaktionszusammenhang mit anderen Individuen und mit der umgebenden Natur gewissermaßen ,aufzubrechen' drohten. Damit enthielten seine Wahrnehmungen Elemente der Unsicherheit, die nur dadurch ihrer potentiell zerstörerischen Wirkung beraubt werden konnten, daß sie auf einer konsensuellen Basis reguliert und damit zu einem integrativen Faktor der Gesellschaft wurden" (Selbstreferentielle Systeme 1982, 331).

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In dem Maße jedoch, in dem sich der Fortschritt vom reaktiven zum prognostizierenden Handeln vervollständigt, wird auch der Nachteil des Gehirnwachstums deutlich. Mit der zunehmenden "Loslösung" von den Sinneserfahrungen und der damit verbundenen Steigerung der Selbstbeobachtung müssen die Realitätskonstrukte als zunehmend kontingent, d. h. als auch anders möglich erfahren werden. In dieser Situation ist es schwierig und risikoreich, angemessene Verhaltensweisen auszuwählen. Denn welche Realität soll aus den wenigen Signalen, die von "außen" kommen, konstruiert werden? Was heißt adäquates Verhalten für ein System, das sich weitgehend nur auf seine eigene Komplexität und Vielfalt interner Verarbeitungsmöglichkeiten "verlassen" kann? Auf eine bestimmte Realitätskonstruktion muß sich aber der Mensch festlegen, um aktuell handeln und damit sein Überleben sichern zu können. Daraus folgt zwangsläufig, daß unterschiedliche Beobachtungen und Beschreibungen unserer Umwelt und unserer selbst entstehen. Solche unterschiedlichen Deutungen der Wirklichkeit können bereits bei der Kooperation von zwei Individuen zum Problem werden, wenn die Wahrnehmungen für die wechselseitige Abstimmung des Verhaltens wichtig sind. 40 Gesellschaftstheoretisch bedeutungsvoller ist wohl der Fall, daß Realitätskonstrukte nicht mehr durch alle Mitglieder einer Gesellschaft konstituiert werden. In einem derartigen Fall werden die konsensuellen Beschreibungen insbesondere dann zum Problem, wenn die aus ihnen folgenden Konsequenzen jene Gesellschaftsmitglieder negativ wahrnehmen, die von dem betreffenden konsensuellen Bereich nicht umfaßt werden. 41 Wir stellen also fest, daß unterschiedliche problematische Umweltbeschreibungen einmal aus der Individuenabhängigkeit jeder Wahrnehmung, zum anderen aus den Veränderungen des gesellschaftlichen Prozesses resultieren. 42 Der letztere Fall verstärkt 40 Da wir unsere Wahrnehmungen in Sprache wiedergeben, ist zugleich gesagt, daß der fundamentale Interaktionsmechanismus im Operieren menschlicher sozialer Systeme die Sprache ist. Worte bezeichnet Maturana denn auch als "basale Verhaltenskoordinationen ", die einerseits eine Welt von Handlungen und Objekten erzeugen, die andererseits die Ausbildung von Selbst-beobachtung hervorbringen, die ebenfalls nur im sozialen Bereich existiert und nur dort einen Sinn hat. Daraus leitet Maturana die streng biologische Natur der sozialen Individualität des Menschen ab: "Die Individualität des Menschen ist sozial, und weil sie menschlich-sozial ist, ist sie sprachlich, d. h. sie ist für uns in der Sprache begründet. Aber dies ist konstitutiv für alles Menschliche. Wir werden gezeugt, wachsen auf, leben und sterben versunken in unseren Worten, in der sprachlichen Reflexion, in der Andeutung von Selbstbewußtsein und manchmal in Selbstbewußtsein. Kurz, als Menschen existieren wir nur in einer sozialen, durch unser Sein in der Sprache definierten Welt, die das Medium darstellt, in dem wir uns als Lebewesen verwirklichen und in dem wir unsere Organisation und Angepaßtheit aufrechterhalten. M. a. W., unsere gesamte menschliche Realität ist sozial, und wir sind Individuen, Personen, nur weil wir soziale Wesen in der Sprache sind" (Sozialität 1985, 11; vgl. zu Sprache, Sozialisation und Gesellschaft die bedeutsame Arbeit von Quine, Referenz 1989). 41 Diese notwendigerweise auftretenden sozialen und sprachlich vermittelten Diskrepanzen lassen sich auf Dauer nicht durch machttheoretisch begründete soziale Institutionen ausgleichen (vgl. dazu weiter unten im Kapitel "Ordnungstypen"; zu den Antworten, die Foucault und Habermas auf die Ordnungsfrage geben, vgl. Honneth, Macht 1989).

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und modifiziert die Effekte des ersten Falles. Wie ist es nun möglich, daß sich beide Prozesse nicht nur nicht kumulieren, sondern die Vorteile des Gehirnwachsturns dessen Nachteile überwiegen? Die Antwort auf diese Frage ist die ,,Erfindung" von Gesellschaft und ihrer Subsysteme wie z. B. Kultur, Gemeinschaft, Wirtschaft, Recht und Politik. Mit Hilfe dieser ,,Erfindung" werden die notwendigerweise differierenden Beschreibungen unterschiedlicher Individuen soweit aufeinander abgestimmt, daß gesamtgesellschaftliche Entscheidungen ermöglicht werden und daß die Fortsetzung von Gesellschaft gewährleistet ist. 43 Gesellschaft wäre hiernach als der Prozeß zu definieren, in dem konsensuelle Bereiche als Resultat eines individuellen und sozialen Interaktionszusammenhanges konstituiert werden. Wichtig ist dabei festzuhalten, daß es die Beobachterproblematik und die Individuenabhängigkeit der Wahrnehmung sind, die den Gesellschaftsprozeß als unabweisbare Notwendigkeit erscheinen lassen. Weil Erfahrung, Wahrnehmung und Erkenntnis vom kognitionstheoretischen Standpunkt aus als streng individuenabhängig konzipiert sind, folgt daraus systematisch die Notwendigkeit sozialer Systeme, in denen gültige Selbst- und Umweltbeschreibungen konstruiert werden. Erst die Herstellung vergleichbarer Realitätskonstrukte durch eine partielle Parallelisierung der kognitiven Systeme sichert in einer sich verändernden Umwelt das biologische Überleben und erzeugt gleichzeitig Bereiche, in denen die Selbstreferentialität des Bewußtseins erst ihre innovativen Möglichkeiten entfalten kann. 44 Anders formu42 Hejl, dessen Arbeiten den Beginn einer kognitions biologischen Gesellschaftstheorie markieren, faßt seine Überlegungen folgendermaßen zusammen: "Menschen leben sozial aus biologischen Gründen und können biologisch sein, wie sie sind, weil sie sozial leben. Gesellschaft als solche ist somit biologisch notwendig" (Soziale Konstruktion 1987, 315). 43 Daraus ergibt sich für Hejl eine Bestimmung des Politikbegriffes: ,,Nur durch die Akzeptierung einer individuenabhängigen Wahrnehmung als Resultat einer individuellen und in den gesellschaftlichen Interaktionszusammenhang eingebundenen Erfahrung kann der politische Bereich als unabweisbare Notwendigkeit sozialen Zusammenlebens begriffen werden. Aus der Individuenabhängigkeit von Erfahrung folgt systematisch die Notwendigkeit von Politik. Die Notwendigkeit, gesamtgesellschaftlich bindende Entscheidungen zu treffen, wird hinfort als ,Politikproblem' , die Art und Weise, in der die Entscheidungen getroffen werden, als die ,Lösung des Politikproblems', die Handlungen, die im Rahmen einer Lösung des Politikproblems erfolgen oder zur Durchsetzung einer anderen Lösung dienen, als ,Politik' bzw. ,politisches Verhalten' bezeichnet" (Hejl, Selbstrejerentielle Systeme 1982, 322). 44 Maturana defmiert soziale Systeme als ein Netzwerk der menschlichen Koordination von Handlungen: ,,In jedem Fall, in dem die Mitglieder einer Menge lebender Systeme durch ihre Verhaltensweisen ein Netzwerk von Interaktionen ausbilden, das für sie wie ein Medium wirkt, in dem sie sich als Lebewesen verwirklichen und in dem sie dementsprechend auch ihre Organisation und Angepaßtheit aufrechterhalten, haben wir es mit einem sozialen System zu tun. Mit anderen Worten behaupte ich: a.) Die so beschriebene Organisation ist notwendig und hinreichend, um soziale Systeme zu charakterisieren, und b.) jedes einzelne, durch diese Organisation definierte System erzeugt alle Eigenphänomene sozialer Systeme, indem es für die Art lebender Systeme, die solche sozialen Systeme bilden, einen Verhaltensrahmen spezifizieren. Die Art von System ist das unausbleibliche Resultat der rekurrenten Interaktionen zwischen den Lebewesen ..." (Sozialität 1985, 9).

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liert: Die Gruppenmitglieder interagieren allein mit Bezug auf eine gemeinsame Realität, mit Bezug auf parallelisierte Zustände ihres kognitiven Systems. Die bisherigen Überlegungen lassen sich in die Schlußfolgerung zusammenziehen: Gesellschaft ist wegen der Individuenabhängigkeit von Wahrnehmung biologisch notwendig. Ist damit auch gesagt, daß spezifische soziale Phänomene biologisch notwendig oder unter Rückgriff auf die hier gegebene Sichtweise zu erklären seien? Ich denke, man kann dem in der Frage steckenden Vorwurf des Reduktionismus und Biologismus nur entgehen, wenn man den Aufbau gemeinsamer Realitätskonstrukte sorgfältig als einen Prozeß wechselseitiger Interaktionen und damit wechselseitiger Veränderungen beschreibt. Dann wird nämlich deutlich, daß nicht die Biologie, sondern bestimmte Interaktionen bestimmte soziale Regelungen oder Realitätsdefinitionen erzeugen. b) Interaktion als soziales Handeln Bisher haben wir den Prozeß der Konstitution einer Umwelt vorwiegend als Evolutionsprozeß eines Einzelindividuums geschildert. Dabei stand die Interaktion des Individuums mit der unbelebten Natur im Vordergrund. Wir sahen, wie es dem Individuum gelingt, mit Hilfe seiner sensomotorischen Aktivitäten aus der unstrukturierten Signalfülle 45 einen Gegenstand, z. B. einen Apfel, auszugrenzen, wobei das Gesamt seiner dazu notwendigen Aktivitäten diesen Gegenstand beschreibt. Für das Individuum entsteht der Apfel also dadurch, daß er ihn aus seiner Umwelt hervorhebt und zusätzliche, etwa taktile oder olfaktorische Signale erzeugt, wenn er ihn ißt. Hält nun das Individuum nach weiteren Äpfeln Ausschau, weil der erste Apfel eßbar war, dann ist sein Verhalten in logischer Hinsicht induktiv folgernd. Aus der singulären Erfahrung mit einem singulären Gegenstand folgt also die Erwartung einer Klasse von Erfahrungen mit einer Klasse von Gegenständen. Der Bezugspunkt für diese Erfahrungen und Erwartungen ist das Individuum selber: Nur der Zustand, in dem sich der Einzelne befand, bevor der Prozeß ablief, bestimmt, welcher Art die Erfahrungen sein können, die der Einzelne erwarten kann. 46 Daraus folgt, daß alle Aktivitäten eines lebenden Systems Informationstheoretisch wäre hier von "Rauschen" zu sprechen. In diesem Sinn erscheint es gerechtfertigt, die Zustände des Gehirns als allgemeine Basis von kognitiven Prozessen zu verstehen. Trifft dies zu, dann befmdet sich das Gehirn vor jeder Interaktion in einer Menge von Zuständen, und sei es als Resultat der Artgeschichte. Mithin definiert jeder Zustand eine Klasse von Interaktionsmöglichkeiten, für die es angeborene oder erlernte Sequenzen von in der Vergangenheit erfolgreichen Handlungen gibt. In der konkreten Interaktion wird eine von diesen Handlungsmöglichkeiten realisiert, was notwendigerweise zu einer Zustandsveränderung des Systems führt. Kommt es in diesem Prozeß dazu, daß weitere Interaktionen zu "schwächeren" Zustandsveränderungen führen, dann hat das interagierende Individuum ein permanentes Objekt, in gewissem Sinne "Objektivität", konstruiert. ,,Es hat in seinem kognitiven Bereich das Verhalten der betreffenden Gegenstände dadurch trivialisiert, daß es sich selber in einer Weise verändert hat, die ihm gestattet, eine viable Vorstellung des betreffenden Gegenstandes zu erzeugen" (Hejl, Soziale Systeme 1986, 60). 45

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Interaktionen mit sich selber sind, die in unterschiedlichem Ausmaße durch seine Umwelt vermittelt sind.

Nunmehr soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß die Umwelt nicht nur aus unbelebter Natur, sondern auch aus weiteren Individuen besteht. Zu dem solitären Individuum ,,A" soll sich "B" gesellen, wobei angenommen wird, daß B sich in Analogie zu A eine Umwelt konstituiert hat. Im Unterschied zu früheren Interaktionen existiert jetzt ein anderer in der jeweils eigenen Umwelt. 47 Dieses Zusammenleben mit dem jeweils anderen führt zu einer neuen Dimension der Interaktion, die gewöhnlich unter Kommunikations- und Sprachaspekten diskutiert wird. 48 Ich möchte diese Aspekte weiterhin am Beispiel der Konstitution des Apfels veranschaulichen. B sieht z. B., wie A bestimmte Äpfel auswählt und andere unberührt läßt. Daraufhin ißt auch B jene Äpfel, die A ausgewählt hat. Beobachter dieser Situation könnten nun annehmen, daß die jeweils ausgewählten Äpfel für B dasselbe bedeuten wie für A. Dann aber müßten sich A und B in ihren biologischen und kognitiven Zuständen völlig gleichen. 49 Sie müßten nicht nur in ihrer Entwicklungsgeschichte identische Erfahrungen gemacht haben, sondern auch genetisch übereinstimmen. 50 Da es keinerlei Anhaltspunkte für eine solche Annahme gibt, 47 Dazu Hejl (ebd. 61): "Wenn sich als Ergebnis der Interaktionen jedoch zeigt, daß eine Trivialisierung der ausgegrenzten Entität nicht möglich ist, so führt dies dazu, daß Aktivitätszentren außerhalb des Systems wahrgenommen werden, denen aus der Sicht des Systems im Grenzfall Freiheitsgrade zugesprochen werden müssen, die den eigenen vergleichbar sind: andere lebende Systeme vergleichbarer Komplexität. In diesem Fall ist es für das lebende System nicht länger möglich, seine eigenen Zustände einseitig zu verändern, um zu verläßlichen Vorhersagen über das Umweltverhalten zu kommen. Statt dessen wird es notwendig, in einen Prozeß wechselseitiger Interaktionen und damit wechselseitiger Veränderungen einzutreten, der zu einer partiellen ,Parallelisierung' der selbstreferentiellen Subsysteme der interagierenden Systeme führt." 48 Vgl. dazu Dieter Geulen: ,,Notwendiges Medium unserer Kommunikation mit anderen ist die Sprache, und soweit soziales Handeln als kommunikatives Handeln verstanden wird, ist Sprache notwendige Bedingung für soziales Handeln überhaupt ... Sie beeinflußt den Begriffsapparat, stiftet Assoziationen zwischen Phänomenen, ist notwendiges Codierungsmittel für ein umfangreiches Gedächtnis und teilweise Medium der Denkprozesse selber, auch wenn Sprache und Denken weiterhin unterschieden werden müssen ... Die Sprache ist die Klammer zwischen der privaten Subjektivität und der sozialen Welt. Sie muß daher in jeder Theorie der Sozialisation hervorragendes Interesse finden" (Subjekt 1989, 301). 49 Als pragmatische Vereinfachung mag es hingehen, eine Identität der Äpfel zu akzeptieren. Aber diese Verkürzung ist erst dann zulässig, nachdem das zu vereinfachende Modell diskutiert ist. 50 Um beim Beispiel der Äpfel zu bleiben: Es hängt von vielen Faktoren ab, ~as A und B unter dem Teil ihrer Umwelt verstehen, den wir - als Beobachter - als ,,Apfel" bezeichnen. Ist einer von beiden z. B. farbenblind, dann muß sich dieser andere Merkmale als die Farbe einprägen, um die Äpfel zu erkennen. Nehmen wir z. B. an, daß es A leichter fallt, auf Bäume zu klettern, so ist für B der Apfel etwas, das schwer zu bekommen ist, während er für A einfach eine rote Frucht ist, die man durch Bäumeerklettern leicht erreicht (vgl. zu dem Apfel-Beispiel Hejl, Selbstreferentielle Systeme 1982, 278).

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müssen wir davon ausgehen, daß auch die Gegenstände ,,Äpfel" für A und B nicht identisch sind. Dennoch aber verwenden A und B, sobald sie miteinander sprechen, das Symbol "Äpfel" und benützen es als Voraussetzung weiterer Handlungen. Es muß also in dem Begriff ein Gemeinsames geben, das trotz der unterschiedlichen Erfahrungen von A und BAnschlußhandlungen erlaubt. Das Gemeinsame resultiert aus jener Form des sprachlichen Handeins, die Maturana" Orientierungsinteraktion" genannt hat. 51 Danach wird B durch das Verhalten von A auf Äpfel und all das verwiesen, was A damit macht. Durch seine Interaktionen beschreibt A somit den Handlungs- und Wahrnehmungskomplex ,,Äpfel", auf den hin Binfolge seiner Beobachtungen orientiert wird. B macht nunmehr mit den Äpfeln seine eigenen Erfahrungen, so daß schließlich der Begriff zwar einerseits für A und B das "gleiche" Objekt denotiert, andererseits aber gleichzeitig die individuellen Handlungserfahrungen von A und B konnotiert. Dieser konnotative Aspekt ist Resultat der Selbstreferentialität de~ Handeins eines jeden Akteurs. Daher kommunizieren A und B nicht deshalb, weil "Apfel" einen von ihnen unabhängigen Gegenstand denotieren würde, sondern weil das Symbol bei ihnen vergleichbare Handlungsmöglichkeiten konnotiert, die gemeinsames Handeln trotz unterschiedlicher Erfahrungen gestatten. Sprachliche Interaktionen orientieren also den Zuhörer innerhalb seines eigenen kognitiven Bereichs. Sie determinieren nicht das darauf folgende Verhalten, aber sie können zu einer partiellen "Parallelisierung" der kognitiven Systeme führen. Die Ausbildung derartiger Parallelisierungen läßt vergleichbare Realitätskonstrukte und damit soziale Bereiche entstehen. 52 Als Konsequenz dieser Defini51 Der Begriff "Orientierungsinteraktion" besagt, daß es eine unvennittelte oder direkte Interaktion auch zwischen Menschen nicht gibt. Vielmehr interagieren menschliche Interaktionspartner jeweils mit den Beschreibungen, in deren Gestalt jeder von ihnen innerhalb seines eigenen Kognitionsbereichs den jeweils anderen erlebt. Sie enthalten sich sozusagen gegenseitig in ihren jeweiligen Kognitionsbereichen. Der Grund hierfür liegt darin, daß kein Weg an den Interaktionsoberflächen des Organismus vorbei direkt zu seinem Bewußtsein führt. Diese operative Autonomie des menschlichen Organismus ist eine notwendige Voraussetzung für die orientierenden Interaktionen, weil nur durch diese Art der im Organismus ausbildbaren Verhaltensprogramme die ko-produktive "Verzahnung" der einzelnen Verhaltensweisen bei gleichzeitiger maximaler Variabilität organisiert werden kann. Infolgedessen bestimmt Maturana (Kognition 1985, 154) einen konsuellen Bereich genauer als einen Bereich ineinandergreifender Verhaltensweisen, der sich aus der ontogenetischen reziproken Koppelung der Strukturen strukturell plastischer Organismen ergibt. Diese reziproke Koppelung der interagierenden Organismen ist dabei von der Art, daß es als aufeinander gerichtetes und gegenseitig bedingtes Verhalten beschrieben werden kann, z. B. als Aufeinanderfolge von Reaktionen auf das Verhalten des jeweils anderen, wie es etwa bei Paarungs- und Kampfverhalten der Fall ist. Solche Orientierungsinteraktionen bergen natürlich die Gefahr eines ,,2entrismus" der Wahrnehmung und des Denkens. Vor dieser Gefahr kann nur die ,,Perspektivenübernahme" (Mead), also die (fiktive) Sicht aus der Perspektive eines Dritten schützen. Das erfordert allerdings ein relativ hohes Niveau der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung. 52 Zunächst bedeuten "vergleichbare Realitätskonstrukte" oder "Konsensualität" hier nicht Einstimmigkeit oder Übereinstimmung etwa im Sinn einer gemeinsamen Überein-

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tion sozialer Bereiche versteht denn auch Hejl unter sozialem Verhalten "jedes Verhalten, das auf der Basis einer sozial erzeugten Realitätsdefinition oder konstruktion hervorgebracht wird oder das zu ihrer Bildung oder Konstruktion führt". 53 Demnach liegt die Bedeutung sozialer Bereiche darin, daß sie Möglichkeiten für Kommunikation und koordiniertes Verhalten bieten. Sie verbessern gegenüber der isolierten Reproduktion des solitären Individuums die Überlebenschancen und bedeuten somit einen entwicklungsgeschichtlichen Vorteil. 54 Aufgrund der bisherigen Diskussion kann ein wichtiges methodologisches Ergebnis für eine sozial wissenschaftliche Handlungstheorie festgestellt werden: Nicht Kommunikation und Sprache sind zunächst die primären Phänomene, sondern Handeln und kognitive Entwicklung. 55 Die Herausbildung von für die Beteiligten vorteilhaften Bereichen konsensuellen Handelns darf nicht den Blick dafür verstellen, daß es sich bei den sozialen Bereichen um eine Parallelisierung individueller Naturbearbeitung handelt, daß Sprache und Kommunikation der autopoietischen Organisation und dies heißt der Existenzerhaltung des Organismus unterworfen sind. Sprache verweist nicht auf eine Realität an sich. Sie stellt kunft. In einem konsuellen Bereich stimmen einzelne Organismen lediglich ihr Verhalten aufeinander ab, indem sie sich gegenseitig orientieren. Das erfordert nicht Konsens oder semantische Identität. Es genügt, "daß jeder Organismus den anderen in seinem Kognitionsbereich in Form von Deformationen, die er erleidet, und in Form des Verhaltens, das er selbst in der entsprechenden Situation synthetisiert, beschreibt, so daß er, wenn er mit einem anderen Organismus interagiert, faktisch mit denjenigen Beschreibungen ,interagiert', die er selbst erzeugt" (Rusch, Erkenntnis 1987, 142). An anderer Stelle weist Rusch zu Recht darauf hin, daß sich die Menschen über "kognitive Parallelität" verständigen können: "So können sie z. B. darin übereinstimmen, daß sie ein Ding, ein Ding mit diesen und jenen Eigenschaften etc. vor sich haben. Und sie können darin übereinstimmen, daß das Ding, auf das hin der eine den anderen orientiert hat, und das Ding, auf das der andere dann orientiert ist, identische Dinge sind. Sie haben sich dann auf eine Verwendung des Wortes ,identisch' geeinigt. Wie ähnlich sich diese Dinge aber auch sein mögen, identisch können sie nicht sein. Für das Gelingen von Orientierungsinteraktionen ist eine solche Identität aber offenbar auch gar nicht erforderlich. Es kommt vielmehr auf die Identität der Urteile an ..." (ebd. 536). 53 Hejl, Social Systems 1984, 69. 54 Demgegenüber wird in der soziologischen Literatur seit Durkheims ,,Les n5gles de la methode sociologique" (vgl. die dt. Ausgabe 1976,5) immer wieder der Zwangscharakter des Sozialen hervorgehoben (womit die Trennung von Individuum und Sozialem begründet wird). Wir haben an anderer Stelle bereits hervorgehoben, daß sich in diesem Fall die Ausbildung von kognitiven Zuständen vollzieht, die sich am Muster der Ausbildung von Objektivität orientiert. Gefordert ist hier eine einseitige Zustandsveränderung : Anpassung. Eine solche Anpassung bezeichnet v. Foerster als "illegitim", weil sie Antworten auf Fragen fordert, die bereits bekannt sind (vgl. Perception 1972, 40). Aber selbst diese so schwer korrigierbaren Realitätsdefinitionen werfen die Frage nach den Konstrukteuren auf und damit die weitere Frage. ob wir ihre Defmitionen übernehmen wollen. Es geht also in der soziologischen Debatte darum, neben dem Zwangscharakter sozialer Verhältnisse (Handeln auf der Basis sozial erzeugter Realitätsdefmitionen) auch den ebenso wichtigen Aspekt der Erzeugung und / oder Veränderung dieser Realitätsdefinitionen durch soziales Handeln hervorzuheben. 55 Beobachten kann man die Bedeutung der Handlung als Beginn der Kommunikation vor allem in Form der Nachahmung bei Tier (vgl. Lawick-Goodall, Schimpansen 1975, 124) und Mensch (Hassenstein, Sozialisation 1975,92; Quine, Referenz 1989,51, 122). 16*

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demnach auch keine Metaebene von Handeln in dem Sinn dar, daß auf dieser Ebene die Regeln etwa für ,,richtiges" Handeln festgelegt werden. Über "richtig" und "falsch" wird vielmehr auf der Ebene des Handeins selber entschieden: Der Handelnde bewertet die Handlungsresultate nach ihrem Beitrag zu seiner Selbsterhaltung. 56 Daran ändert sich nichts, wenn er in einen Interaktionsprozeß eintritt. Auch in dieser Situation bleibt er ein geschlossenes strukturell determiniertes System, das ausschließlich vom Zustand vor der Interaktion abhängig ist. Da jedoch den anderen lebenden Systemen eine vergleichbare Komplexität zugesprochen werden muß, ist es dem Handelnden nicht mehr möglich, seine eigenen Zustände einseitig zu verändern. Will er zu verläßlichen Prognosen über das Umweltverhalten kommen, muß er in einen Prozeß wechselseitiger Interaktionen und damit wechselseitiger Veränderungen eintreten. Das Ergebnis ist die gegenseitige ,,Anpassung" einer mehr oder weniger großen Anzahl von Zuständen der beteiligten Individuen. Von konsensuellem Verhalten kann infolgedessen erst dort gesprochen werden, wo eine Veränderung im kognitiven Bereich der Akteure stattgefunden hat als Folge von Interaktionen, durch die die kognitiven Zustände der Akteure zunehmend vergleichbar wurden. 5? Jener Interaktionsprozeß, in dem systematisch vergleichbare kognitive Zustände erzeugt werden, ist die Sozialisation. Im folgenden sei auf den Beitrag der Kognitionstheorie zum Begriff der Sozialisation nur insoweit eingegangen, als er das Verständnis des Phänomens der "sozialen Integration" vertiefen hilft. c) Sozialisation als Entwicklung konsensuellen Handeins

Mit der hier geschilderten Position ist von vornherein ein Sozialisationsbegriff unvereinbar, der in der Tradition des funktionalistischen methodologischen Kollektivismus 58 Sozialisation als einen Prozeß der schlichten Übertragung von 56 Dabei muß natürlich berücksichtigt werden - so Hejl (Selbstre!erentielle Systeme 1982, 280) -, daß Existenzerhaltung nicht auf den rein biologischen Aspekt beschränkt gedacht werden darf. Sie bezieht sich also nicht nur auf die besprochenen Einheiten 1. und 2., sondern auch auf die Einheiten 3. Ordnung. 5? Auf der phänomenologischen Ebene der Sozialwissenschaften ist es dann angemessen, von "sozial erzeugtem Sinn" bzw. von "sozial erzeugter Bedeutung" zu sprechen. Auf dieser kommunikativen Ebene ist es allerdings nicht möglich festzustellen, ob kommunikative Interaktionen erfolgreich waren. Der Beleg für eine erfolgreiche kommunikative Interaktion ist nicht eine wiederum kommunikative Bestätigung des Partners, sondern die Beobachtung entsprechenden Handelns durch den an einer Überprüfung seiner kommunikativen Bemühungen interessierten Sprecher (vgl. allgemein zur Kommunikation W. K. Köck, Communication 1981,87; Geulen, Subjekt 1989, 301). 58 Vgl. zum methodologischen Kollektivismus Goldstein, Methologicallndividualism 1969,625; Mandelbaum, Sodetal Laws 1969,642; Wisdom, Situationallndividualism 1970, 271; Watkins, Methodologieallndividualism 1969, 621; zum methodischen Aspekt der Sozialisationsforschung ausführlich auch Geulen, Subjekt 1989, 15, 64; Klüver, Wissenschaftssystem 1990,208.

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Konformitätsmustern begreift. 59 Ein solches Modell konzipiert den Sozialisanden als eine triviale Maschine. Die Kommunikation wird als Input, das richtige Verhalten als Output gesehen. Ganz in diesem Sinn definiert etwa O. G. Brim Sozialisation als "den Prozeß, in dessen Verlauf der Mensch sich Kenntnisse, Fähigkeiten und Neigungen aneignet, die ihn erst zu einem richtigen Mitglied einer Gesellschaft werden lassen", und er präzisiert dies als "Umwandlung des ,menschlichen Rohmaterials' einer Gesellschaft in fähige Mitglieder dieser Gesellschaft".60 In dieser Beschreibung sind die Sozialisanden Objekte, die dem gesellschaftlichen Subjekt unterworfen sind. Das Ziel der Integration besteht in Anpassung, und der Operationsmodus der Sozialisation wird als eine Kommunikation verstanden, die in den Worten Maturanas und Varelas nach Art einer ,,Röhre" funktioniert: "Gemäß der ,Röhren'-Metapher ist Kommunikation etwas, das an einer Stelle entsteht, durch eine Leitung (oder eine Röhre) übertragen und zum anderen Ende übermittelt wird. Demnach gäbe es also ein Etwas, das kommuniziert wird, und dieses wäre in dem enthalten, was in der Verbindungsröhre weitergeleitet wird."61 Um im Bilde zu bleiben: Sozialisation wäre als eine Röhre gedacht, durch die dem psychischen System die "Information" fremder Erwartungen oder genauer: Die "Information" der eigenen Erwartung fremder Erwartungen auferlegt würde. Das Sichaneignen von Erwartungserwartungen im Sinn der ,,Röhren"Metapher ist gemäß unserer Analyse unhaltbar. Sie geht vom vorschreibenden 59 Bei einer derartigen Ausweitung des Sozialisationsbegriffs Lernen als weithin gesellschaftsbestimmt - stellt sich die Frage, ob überhaupt noch ein Gegenstand für eine spezifische Sozialisationstheorie übrigbleibt, etwa in Abgrenzung zur Gesellschaftstheorie oder auch zur allgemeinen Soziologie. Geulen (Sozialisation 1973, 89) hat denn auch im Hinblick auf neuere interaktionistische Konzepte konstatiert, daß kaum noch ein Unterschied zwischen Sozialisations- und Gesellschaftstheorie denkbar ist. Soll die Sozialisationstheorie dennoch nicht als "Bestandteil der Gesellschaftstheorie" ihre Eigenständigkeit verlieren, so müßte sie zu begreifen sein als Zusammenfassung der Resultate individueller Interaktionen von Sozialisanden mit dem für sie erfahrbaren Teil der Gesamtgesellschaft. Sozialisationstheorie und Gesellschaftstheorie wären dann zwei bezüglich ihres Hauptinteresses unterschiedliche Beschreibungen des gleichen Prozesses: "Gesellschaft wirkt sozialisierend, Sozialisation bewirkt Gesellschaft. Keines ist Teil des anderen, sondern seine Voraussetzung und sein Resultat" (Hejl, Selbstreferentielle Systeme 1982, 286). Diese Auffassung stimmt mit der These von Geulen überein, "daß der Mensch durch die Gesellschaft und ihre jeweils historisch materiellen, kulturellen und institutionellen Bedingungen konstituiert und geformt wird, und zwar in seinem eigensten Wesen als Subjekt" (Subjekt 1989, 11). Eine solche Position wendet sich gegen eine nativistische Sichtweise, die den Menschen ausschließlich als biologisches Gattungswesen begreift, ebenso gegen einen idealistischen Individualismus, der einen transempirischen Wesenskern herausstellt. Sie wendet sich aber auch gegen das mechanistische Mißverständnis, das den Menschen als von äußeren Bedingungen determiniertes Wesen objektiver Mächte ansieht. Daß in diesen Abgrenzungen kein Widerspruch liegt, haben die kognitionsbiologischen Konzepte der strukturellen Determination und der strukturellen Koppelung gezeigt. 60 Brim, Sozialisation 1974, 1. 61 Maturana, Varela, Erkenntnis 1987,212.

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Charakter der Interaktionen aus und negiert damit den Strukturdetenninismus des Verhaltens. Nach unserer Vorstellung hängt das Phänomen der Kommunikation nicht von dem ab, was übennittelt wird, sondern von dem, was im Empfänger geschieht. Die "Infonnation" ist gegenüber der internen Verarbeitungskapazität eher sekundär. 62 Im Rahmen einer Theorie der Sozialisation steht als zu erklärendes Phänomen demnach nicht Differenz, Abweichung oder Anomalität im Vordergrund, sondern das Problem, wie es trotz der selbstreferentiellen Geschlossenheit psychischer Systeme zu einem so hohen Maß an Kooperationsfahigkeit kommen kann. Wie lassen sich autopoietische Systeme durch ihre Umwelt anregen? Wie können Kultur, Nonnen, Werte und Rollenmuster im Durchlauf der Generationen relativ stabil gehalten werden? Dies sind seit Beginn der Soziologie die eigentlich begriffsbildenden Fragestellungen der Sozialisationstheorie gewesen. 63 Von ihrer zureichenden Beantwortung sind wir weiter entfernt denn je; insbesondere deshalb, weil das autopoietische Konzept des Lebendigen das Thema der Autonomie 62 Dieses Problem hat die neuhumanistische Theorie der Bildung erkannt und als Freiheitsproblem formuliert: Wie bringt man Freiheit dazu, sich selbst zu steigern, wenn Erziehungseinwirkungen die Möglichkeit, die Einwirkungen abzulehnen, ausschließen müssen (vgl. Luhmann, Schorr, Erziehung 1981, 38; Luhmann, Schulerziehung 1989, 20.) An anderer Stelle wird das gleiche Problem als .. Technologiedejizit" des Erziehungssystems bezeichnet (Luhmann, Schorr, Erziehung 1982, 11). Unter dieser Überschrift lautet dann die Frage konkreter: Wie stellt sich das Erziehungssystem in seinen Interaktionen und seinen Organisationen und in seinem Professionsbewußtsein auf die Tatsache ein, daß es die angestrebten Effekte nicht quasi als gesetzesförmig bewirken, als auch nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit kontrollieren kann (Luhmann, Erziehungswesen 1987, 61)? Da Lernen als ein Prozeß der Restrukturierung innerhalb eines geschlossenen Systems begriffen werden muß, ist die Annahme ausgeschlossen, daß die Elemente eines solchen Systems zuverlässig vom Erziehungssystem nach innen transportiert werden können. Daraus folgt, daß Sozialisation letztlich nicht intentionalisierbar ist, zumindest nicht im Sinn einer Kontrolle über die Effekte. Dennoch gibt es eine Reformpädagogik, die eine bessere und eine gleicher verteilte Erziehung anstrebt. Luhmann interessiert sich nun nicht so sehr dafür, ob es das, worüber geredet wird, überhaupt gibt, sondern nur: was gemacht wird, wie geredet wird und warum so geredet wird, wie geredet wird. Bei der Suche nach dem Begriff, der die Kommunikation über Pädagogik vorantreibt, der ein Motiv bezeichnet, das über Differenzen hinweg konstant gehalten wird, sind Luhmann und Schorr rasch fündig geworden: "Der god-term (Kenneth Burke) der Pädagogik heißt ,Bildung'. Von Bildung kann man sprechen, um zu bezeichnen, was verbessert und was ,gleicher' verteilt werden soll. Ob es so etwas gibt oder nicht gibt, können wir offen lassen. Das Wort wird benötigt für die Organisation eines semantischen ,Diskurses' , somit auch für die Organisation von Reformzielen, als Trägerbegriff für angestrebte Veränderung; und es hätte, für Soziologen zumindest, wenig Sinn zu behaupten, daß diese ganze Bemühung keinen Sinn hätte, weil es Bildung gar nicht gibt oder nur in der ,bürgerlichen' Imagination gibt" (Reformpädagogik 1989, 2). 63 Luhmann ist der Meinung, daß diese eher konservative Betrachtung der Sozialisation der Soziologie aus der Taufe geholfen hat, denn: "Im Vergleich zu den politökonomisehen Diskussionen des 19. Jahrhunderts boten sie der Soziologie die Chance, die ideologischen Streitigkeiten über Verteilungsfragen zurückzustellen und statt dessen dem Problem der Tradierung von Kultur, von Normen und Werten, von Rollenmustern nachzugehen" (Sozialisation 1987,77).

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des Individuums radikal zugespitzt hat. Luhmann kann aus diesem Grund mit Recht feststellen, "daß wir noch nicht einmal über die Ansätze zu einer empirischen Theorie des rekursiven, selbstreferentiellen Operierens von Bewußtseinssystemen verfügen." 64 Dennoch stehen wir nicht mit leeren Händen da. Wir "wissen", daß das psychische System Strukturen ausbildet, die den Augenblick überschreiten und nächste Ereignisse regulieren. Wir "wissen" des weiteren, daß für diese Funktion die Bildung affektlogischer Bezugssysteme erforderlich sind. Der Prozeß der Sozialisation kann mithin als Prozeß der Bildung von Affektlogik verstanden werden. Diese Affektlogik reguliert ihrerseits, welche Ereignisse für das System möglich und welche nicht möglich sind. Berücksichtigt man die operationale Geschlossenheit des psychischen Systems, dann erscheint es durchaus angebracht, den Prozeß der Herausbildung affektlogischer Invarianzen als Selbst-Sozialisation zu begreifen. Nimmt man hinzu, daß es für den Menschen einen Überlebensvorteil bedeutet, wenn er die Herausbildung individueller Invarianzen zumindest teilweise durch sozial ausgearbeitete Invarianzen ersetzt, dann ist es folgerichtig, die SelbstSozialisation als einen Prozeß der Konstitution konsensueller Bereiche zu konzipieren. 65 Die Lösung des Problems der Unvoraussagbarkeit von Ereignissen Luhmann, ebd. 78. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von der Bildung von Erwartungen, deren zentrale Eigenschaft er darin sieht, daß sie enttäuscht werden können. Deshalb habe die Sozialisation es nicht einfach mit der Schaffung von Konformität, sondern mit der durch Kommunikation ständig reproduzierten Alternative von Konformität oder Abweichung, Anpassung oder Widerstand zu tun (vgl. Sozialisation 1987, 80). Wie aber sehen die "Erwartungen" im Erziehungssystem aus? Welcher semantische Kontext beschreibt die Pädagogik als ein geschlossenes System? Luhmanns Vorschlag lautet, "die formale binäre Codierung der Selektion als Ausgangspunkt zu akzeptieren" (Reformpädagogik 1989, 25). Im Klartext handelt es sich dabei um die Codierung von besser und schlechter, von Kenntnis und Unkenntnis, von Fähigkeit und Unfähigkeit (Schulerziehung 1989,22). Man muß genau zusehen, um richtig zu begreifen, was Luhmann meint: Mit der Codierung besser / schlechter sind nicht etwa Inhalte irgendwelcher Art gemeint, die das Erziehungssystem tradiert, sondern ist allein der Selektionsmodus angesprochen, mit dem Karrieren prozessiert werden, nämlich Lob und Tadel, Zensuren, Versetzungsentscheidungen, Prüfungen usw. Luhmann sagt unmißverständlich: "Das Erziehungssystem unterscheidet nicht zwischen Sinus und Cosinus, sondern zwischen dem, der diese Unterscheidung handhaben kann und dem, der es nicht kann; denn nur davon hängen die weiteren Operationen des Erziehungssystems ab. In einem sehr allgemeinen Sinne kann das Erziehungssystem daraufhin als ein Prozeß der Abweichungsverstärkung begriffen werden" (Schulerziehung 1989,22). Und damit kein Entrinnen möglich ist, setzt er nach: "Es gibt keine Erziehung ohne sie (Codierung nach besser / schlechter) oder unabhängig von ihr. Sie defmiert die Anschlußfähigkeit aller Systemoperationen, also die Einheit des Systems . . . In diesem Sinne ist zu verstehen, daß das Erziehungssystem seinen eigenen Code nicht wegreformieren kann" (Reformpädagogik 1989, 25). An diesen Stellen verwundert nicht so sehr der Tenor, der eine außenbestimmte, autoritäre, gänzlich formale Erziehung intendiert, sondern die systemtheoretischen Ungereimtheiten. Auf der einen Seite wird Luhmann nicht müde, die Gesellschaft und ihre Subsysteme als autopoietische Organisationen zu beschreiben, auf der anderen Seite entpuppt sich die zirkuläre Geschlossenheit dieser Systeme als ein gänzlich inhaltsleerer formaler Operationsmodus, dessen Zweckbestimmung in jeder Hinsicht von außen vorgegeben 64 65

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

bestand also darin, individuelle Festlegungen durch soziale Wirklichkeitskonstruktionen zu ergänzen und damit Verhalten in weiten Bereichen erwartbar zu machen. Solche Prozesse der Herausbildung konsensueller Bereiche kommen durch menschliche Interaktionen zustande. Sie beginnen spätestens mit der MutterKind-Dyade, in der sich bereits in einem sehr frühen Stadium aus angeborenen Verhaltensweisen des Kindes ein konsensueller Bereich zwischen Mutter und Kind herausbildet. 66 Und sie enden keineswegs mit einem willkürlich gesetzten Lebensalter der an diesen Prozessen Beteiligten. Faßt man Sozialisation als Entwicklung sozialer Realitätsdefitionen,so ergibt sich ein hochgradig differenzierter Prozeß, der sich aus einer Vielzahl über das Leben aller Individuen verteilten "einzelnen" Sozialisationen zusammensetzt. 67 Dabei muß - wie uns Piaget gezeigt hat - jede neue Sozialisationsphase notwendigerweise an die in früheren Phasen erreichten internen Zustände der betreffenden Individuen anknüpfen. ,,Als zustandsdeterminierte geschlossene kognitive Systeme können Menschen konsensuelle Bereiche nur dann konstituieren, wenn Interaktionen in einer neuen Umwelt zu Erfahrungen führen, die im Rahmen des Bekannten zu Verhaltensweisen führen, die ihrerseits den Gegenstand oder den Partner der Interaktion zu interpretierbarem Verhalten veranlassen."68 Die Fortsetzung des Sozialisationsprozesses setzt also die Anknüpfungsmöglichkeit an vorhandene konsensuelle Bereiche voraus. Gelingt diese Anknüpfung nicht, so entstehen aus der Perspektive des Beobachters "inadäquate" Verhaltensweisen. Wir werden diesen Gesichtspunkt zu beachten haben, wenn wir uns dem wird. Kein Pädagoge würde sich eine solch extreme Festlegung gefallen lassen; im übrigen wohl auch kaum ein Jurist, der von Gesetzes wegen an externe Vorgaben gebunden ist. Daß nun ausgerechnet ein Autor, der das Erziehungssystem als ein autopoietisches System konzipiert, eben jenes System in die totale Abhängigkeit theoretisiert, dürfte eine derwunderlichsten Pointen der soziologischen Wissenschaftsgeschichte sein. Man kann eben nicht alles und jedes zu Elementen eines autopoietischen Systems erklären, ohne den Grundgedanken solcher Systeme, nämlich deren Selbsterhaltung, zu verraten. Siehe auch die Kritik Wielands am Autopoiesekonzept der Ökonomie von Luhmann, Replik 1989, 92. 66 Vgl. Lorenzer, Sozialisationstheorie 1972. 67 Vgl. zur historischen Relativität der Entwicklungsphasen von Kindern Aries, Kindheit 1976; zum Forschungsstand vgl. Lüscher, Sozialisation 1975,359; Geulen, Subjekt 1989. 68 Hejl, Selbstrejerentielle Systeme 1982,296. Zu den wichtigsten Elementen, die bei der Definition des Sozialisationsbegriffs zu berücksichtigen sind, zählt Hejl: (1) Der Begriff sollte so weit gefaßt sein, daß er alle sozial wirksamen kognitiven Entwicklungen von Individuen als Resultat ihrer Interaktionen mit ihren Umwelten erfaßt. (2) Der zu verwendende Umweltbegriff muß die soziale und die dingliche Umwelt umfassen. Dabei ist die Individuenabhängigkeit konkreter Umwelten zu berücksichtigen. (3) Sozialisationstheorie ist Teil der Beschreibung des Prozesses, in dem Menschen Gesellschaft und sich selbst produzieren. Ihr systematischer Platz ist demnach nicht durch die Zugehörigkeit zu einer Disziplin zu kennzeichnen. Dieser ,.platz" ist vielmehr auf allen Ebenen sozialer Prozesse gegeben. (4) Bei der Konzipierung theoretischer Konstrukte ist die Beobachterproblematik zu berücksichtigen (ebd. 295).

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Ordnungsproblem zuwenden, wo es um den Versuch geht, autonome Systeme auf soziale Festlegungen hin zu orientieren. Erziehung, Therapie und Strafe müssen als spezialisierte Veranstaltungen sozialer Systeme zur Veränderung von Personen scheitern, wenn sie nicht beachten, daß jede Intervention in die interne Semantik des Systems transformiert werden muß. Diese Leistung hat das System selbst zu vollbringen, weshalb Sozialisation und Erziehung bestenfalls autonome Problemlösungen stimulieren können. d) Synreferentialität sozialer Systeme Aus sozialen Interaktionen resultieren konsensuelle Bereiche, die wiederum Bedingung für soziale Systeme sind. Mit dieser Beschreibung ist deutlich geworden, daß das entscheidende Charakteristikum sozialer Systeme die Ausbildung von parallelisierten Zuständen in den interagierenden lebenden Systemen ist. Eine Definition sozialer Systeme muß also drei Bedingungen erfüllen: (a) Sie muß das soziale System als eine Gruppe lebender Systeme verstehen; (b) sie muß davon ausgehen, daß jedes der lebenden Systeme mindestens einen Zustand des affektlogischen Bezugssystems ausgebildet hat, der mit mindestens einem Zustand der anderen Gruppenmitglieder verglichen werden kann; 69 (c) sie muß akzeptieren, daß die Gruppenmitglieder nur mit Bezug auf diese parallelisierten Zustände interagieren können. 70 Diese parallelisierten Zustände sind sozial, weil sie von einer Vielzahl von Individuen ausgebildet werden. Sie können nur durch Angabe der entsprechenden sozialen Prozesse erklärt werden. In den Abschnitten über Interaktion und Sozialisation haben wir Kommunikation als ein allgemeines Phänomen von Verhaltensweisen geschildert, durch die Individuen sich gegenseitig orientieren auf Ereignisse in ihren gemeinsamen Umwelten oder auf Zustände der Kommunizierenden selber. Die dabei entstehenden Realitätskonstrukte und Zeichensysteme können nicht durch Betrachtung der isolierten Individuen geklärt werden. 71 Infolgedessen 69 Schon hier sei darauf hingewiesen, daß entsprechend dieser Definition Individuen nicht vollständige Komponenten sozialer Systeme sind, sondern nur im Ausmaß der Ausbildung entsprechender Zustände ihrer kognitiven Systeme. Im Folgenden ist also die Rede von Individuen als Systemkomponenten immer in diesem Sinne zu verstehen. Zum Problem des Individuenbegriffs vgl. die ausführliche Diskussion bei Hejl, Individuum 1987, 115; siehe auch Kargl Gesellschaft 1990 b, 10. 70 Diese Definition sozialer Systeme ist restriktiv, wie einige von Hejls Beispielen deutlich machen: In Europa dürften sich einige Millionen Menschen für Fußball interessieren. Sie kennen die Regeln und wissen, welche Meisterschaften ausgetragen werden etc. Entsprechend der Defmition konstituieren sie einen sozialen Bereich, sie bilden aber kein soziales System, da sie nicht interagieren. Eine Fußballmannschaft dagegen gehört zu einem sozialen Bereich und ist im Sinne der Definition ein soziales System. Ein anderes Beispiel: Wir haben alle Erfahrungen in Familien, wissen also, was Väter und Mütter sind usw. Trotzdem bilden wir kein soziales System Familie, solange wir uns nicht entsprechend verhalten. Dieses entsteht erst, wenn die betreffenden Individuen die Möglichkeit haben, an der sozialen Konstruktion der Realität mitzuwirken, die für eine spezifische Familie typisch ist (vgl. Hejl, Soziale Konstruktion 1987, 320).

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ist eine Analyse sozialer Phänomene durch Rückgriff allein auf die individuelle Psyche ausgeschlossen. Da Bedeutungen Ergebnisse unserer Interaktionen und gemeinsamen Erfahrungen sind, ist jeder Reduktionismus auf eine Einzelerfahrung ausgeschlossen. Wenn wir also Genaueres über bestimmte soziale Phänomene wissen wollen, müssen wir jene Interaktionen zwischen einer Mehrzahl von Individuen rekonstruieren, die den betreffenden Sozialbereich konstituiert haben. 72 Dies kann aber nicht heißen, daß beim Prozeß der Entstehung sozialer Systeme die Individuen nicht zu berücksichtigen seien. 73 Sie sind vielmehr der "Ort", an dem die Prozesse der Bedeutungsgebung und der Zeichenauswahl stattfinden. Sie bilden die parallelisierten Zustände und damit die Realitätskonstruktionen aus. Wenn wir nun in diesen parallelisierten Zuständen das zentrale Charakteristikum sozialer Systeme erblicken, dann folgt konsequenterweise daraus, daß es allein die lebenden Systeme als Produzenten dieser Zustände sein können, die das betreffende soziale System erzeugen. Systemtheoretisch gesprochen bedeutet dies: Nur Menschen kommen als Komponenten sozialer Systeme in Betracht. Da wir Menschen als selbstreferentielle Systeme bezeichnet haben, und da diese Menschen durch wechselseitige Interaktionen gemeinsame Realitäten hervorbringen, ist es weiterhin konsequent, diese gemeinsame Realität als "synreferentiell" zu charakterisieren. 74 71 "Wir haben also eine Situation, in der wir unter der Menge von Zuständen, durch die wir Individuen charakterisieren, eine Teilmenge ausgrenzen können, die nur durch Rekonstruktion der Interaktionen zwischen einer Mehrzahl von Individuen erklärt werden kann. Diese Zustände sind ,sozial' in dem Sinne, daß sie von einer Vielzahl von Individuen in Interaktionen ausgebildet wurden und werden . . . In diesem Sinne kann man auch die Durkheimsche Forderung: ,expliquer le social par le social' verstehen" (Hejl, Soziale Systeme 1986, 60). 72 In der Terminologie Maturanas: Wir müssen die strukturellen Koppelungen der lebenden Systeme untereinander rekonstruieren. 73 Deshalb wäre die Durkheimsche Forderung falsch verstanden, wenn man sie so auffaßt, daß in ein Erklärungsmodell des sozialen Handeins gar keine bio-psychologischen, sondern nur auf soziale Phänomene bezogene Variablen aufgenommen werden dürften. Die korrekte Interpretation des Postulates müßte demgegenüber lauten, daß in einem solchen Erklärungsmodell die unabhängigen Variablen auf Gesellschaftliches bezogen sein müssen und psychologische Größen nur als intervenierende und gegebenenfalls als abhängige Variablen angesetzt werden dürfen; vgl. Geulen, Subjekt 1989, 65. 74 "Wenn man über die Charakteristika sozialer Systeme nachdenkt, dann wird deutlich, daß das Merkmal, das sie am stärksten von anderen Systemen unterscheidet, die notwendige Ausbildung von parallelisierten Zuständen in den interagierenden lebenden Systemen ist. Diese parallelisierten Zustände lebender Systeme, die man als physiologische Basis sozial erzeugter Realitäten, von Sinn und Bedeutung, annehmen kann, sind Resultat sozialer Interaktionen und die Bedingung weiterer Interaktionen der gleichen Art. Obwohl es nicht möglich ist, die Entstehung dieser Zustände dadurch zu rekonstruieren, daß man isolierte Individuen betrachtet, weshalb jeder Reduktionismus ausgeschlossen ist, können diese Zustände auch nicht erklärt werden, wenn die Individuen nicht berücksichtigt werden. Wegen dieser zentralen Rolle sozial ausgebildeter Zustände der lebenden Systeme schlage ich vor, soziale Systeme als ,synreferentiell' zu bezeichnen (Hejl, Soziale Konstruktion 1987, 327.

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Aus dieser Definition geht hervor, daß Menschen nur in dem Ausmaß Komponenten sozialer Systeme sind, als sie die entsprechenden Kognitionen ausgebildet haben. Soweit diese Bedingung nicht erfüllt ist, gehören sie auch nicht zu dem betreffenden sozialen System. Als synreferentiell ist also jene Teilmenge selbstreferentiell erzeugter Kognitionen zu bezeichnen, die die Individuen in bestimmten sozialen Bereichen miteinander teilen. Da es eine Vielzahl sozialer Bereiche gibt, die das Individuum mitkonstituiert, ist es Komponente in jedem dieser sozialen Systeme, freilich nie die gleiche. In jedem dieser Bereiche gelten andere Realitätsdefinitionen und andere Verhaltensweisen als "adäquat". Dementsprechend wechselt auch von Bereich zu Bereich unser Repertoire an Wahrnehmungen und mit ihnen verbundenen Handlungen. Das Gesamt dieser in unterschiedlichen sozialen Systemen erzeugten Kognitionen macht unsere Individualität aus. 75 Soziologisch gesehen können daher Individuen als "Schnittpunkte" oder "Berührungspunkte" sozialer Systeme verstanden werden. Mehrere soziale Systeme wiederum sind durch Individuen verbunden, die in den jeweiligen Systemen als Komponenten agieren. Verändern sich die Komponenten und damit die zwischen ihnen stattfindenden Interaktionen, dann verändern sich die sozialen Systeme. Das kann von einem Beobachterstandpunkt aus so aussehen, als würde ein soziales System auf ein anderes einwirken. Tatsächlich aber interagieren soziale Systeme wie alle Systeme über die Interaktionen ihrer Komponenten. Mit denInteraktionen verändern die Komponenten aber nicht nur das System, sondern setzen ihm andererseits auch Grenzen. 76 Es sind also die Individuen, die mit ihrer Realitäts75 Dieser Ansatz läßt zahlreiche Berührungspunkte mit jener materialistischen SubjektWissenschaft erkennnen, die vor zwanzig Jahren als Antwort auf das naturwissenschaftlich-mechanistische Paradigma entstanden ist und seither unter dem Namen "Kritische Psychologie" versucht, den ,,Nachweis von Zusammenhängen zwischen dem Verhalten, dem Denken und dem Leiden der einzelnen Menschen mit wirtschaftlichen Prozessen, politischen Strukturen und sozialen Handlungsmustem" zu erbringen. In einer Standortbestimmung der kritischen Psychologie sagt Günter Rexilius: "Die existentiellen Bedingungen, unter denen Menschen - Wissenschaftler, Psychologen eingeschlossen - leben und an denen viele von ihnen zerbrechen, wurden nicht mehr fatalistisch oder positivistisch als gegeben hingenommen, gewissennaßen als Konstante in Rechnung gestellt; ~ie wurden auf ihren irritierenden und bedrohlichen Charakter hin untersucht und als veränderbar für den einzelnen und durch sein Handeln kenntlich gemacht ... Psychologie zu betreiben hieß von diesen Ausgangspunkten her, Kenntnisse über die Funktionsmechanismen und die Entwicklungslogik gesellschaftlicher Verhältnisse zu haben, um psychologische Erkenntnisse gewinnen und psychologisches Wissen akkumulieren zu können ... Kritische Psychologie kann den Anspruch vertreten, kritische Gesellschaftstheorie auf erweiterte und gefestigte Grundlagen gestellt zu haben ... Sie verfolgt das Ziel, ihre Einsichten, daß die Erklärung für die Auffälligkeiten und Besonderheiten individuellen Verhaltens in der schlechten Wirklichkeit zugrundeliegender Verhältnisse zu finden ist, zur Aufklärung ihrer Klienten und Adressaten über sich und ihre Lebensbedingungen zu nützen" (Kritische Psychologie 1988, 16; ders., Abriß 1988, 373; vgl. hierzu auch Lorenz, Kritischer Psychologe 1988, 116; Zurek, Kritisch-psychologische Arbeit 1988, 132; Groskurth, Psychologiekritik 1988, 190; Holzkamp, Kritische Psychologie 1988,298; Oestmann, Politische Psychologie 1988,276. 76 Wenn soziale Systeme aus selbstreferentiellen Systemen (Menschen) bestehen, ist einsichtig, daß sie deren zentrale Merkmale teilen. Zu diesen Merkmalen zählen Konser-

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konstruktion darüber entscheiden, was zu ihrer gemeinsamen Realität gehört und was nicht. Überträgt man diesen Gedanken von der Ebene sozialer Systeme auf die Ebene der Gesellschaft, so wird rasch deutlich, daß eine Festlegung von deren Interaktionsgrenzen äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich ist. Zumindest bei den westlichen Industrieländern dürfte aufgrund ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Verflochtenheit die Angabe einer Grenze wenig sinnvoll sein. 77 Aus diesem Grunde zieht es eine Reihe von Autoren vor, Gesellschaften nicht als Systeme zu definieren. Insbesondere Hejl will Sozialsysteme von Gesellschaften unterscheiden, weil bei letzteren Grenzen fehlten. Unter Gesellschaft versteht er denn auch konsequent "ein Netzwerk sozialer Systeme mit den Individuen als ,Knoten· ... 78 Neben der Ausräumung des Problems der Grenzen von Gesellschaften

vatismus und Wandel. Der Konservatismus ergibt sich aus der selbstreferentiellen Operationsweise kognitiver Systeme: Sie präferieren in der Vergangenheit erfolgreiche Verhaltensweisen. Dabei ist zu beachten, daß dieses beharrende Moment aus der Funktionsweise selber resultiert und nicht etwa primär aus bewußt ablaufenden Prozessen erfolgt. Bewußtsein (Wissen, Lernen, Aufklärung etc.) verringert selbstverständlich die konservative Natur der Selbstreferentialität. Daran ändert aber nichts, daß selbstreferentielle Systeme nur auf der Grundlage ihrer eigenen Struktur und ihrer eigenen Zustände wahrnehmen und konstruieren können. Damit wird die von Maturana und Varela betonte Differenz von Organisation und Struktur aufgenommen, die wir in dieser Arbeit bereits eingehender charakterisiert haben (vgl. Kap. 1 11 2). Die (autopoietische) Organisation kann auf vielerlei Weise konkretisiert werden. Die jeweilige Konkretisierung hängt von der Systemvergangenheit ab, was künftige Änderungen nicht ausschließt, wenn die Umweltkontakte als Deformationen erlebt werden. Zur Erklärung des Konservatismus in synreferentiellen Systemen können noch zusätzliche, spezifisch soziale Ursachen herangezogen werden. Die Basis dieser Systeme ist die Existenz einer gemeinsamen Realität und eines auf sie bezogenen Handlungsrepertoires. Dementsprechend kann jedes Mitglied erwarten, daß seine Erfahrungen bis zu einem gewissen Grade von den anderen geteilt werden (wir sprechen nicht von Gesellschaft!). Umgekehrt wird einem Mitglied durch das Auftreten von bislang nicht erlebten Kommunikationsproblemen rasch signalisiert, daß es im Begriff ist, den synreferentiellen Bereich zu verlassen (vgl. zur Fülle der dann zur Verfügung stehenden sozialen Kontrollen Black, Social Control 1984). Was die Veränderung synreferentieller Systeme anbetrifft, so kann diese - wenn sie ohne Mitgliederverlust erfolgt - nur ein Prozeß der Ko-Evolution der sie konstituierenden Individuen sein (zur Unterscheidung eher bewußter und eher unbewußter ko-evolutiver Prozesse vgl. Hejl, Soziale Konstruktion 1987, 331). 77 Eine Gesellschaft wie die der Bundesrepublik ,,hat" eine Vielfalt von Grenzen. So konstituieren etwa Vorstellungen über die Ausdehnung von Nationalstaaten "andere" Grenzen als der Blickwinkel des Wirtschaftsbereiches. Jede Sichtweise bestimmt die Grenzen - wie sollte es auch anders sein - nach systemeigenen Kriterien. Der Vorteil, Gesellschaften nicht als Systeme zu begreifen, liegt also u. a. darin, daß das Problem der Grenzen von Gesellschaften nicht gestellt zu werden braucht. ,,Hier reicht der Verweis auf die Weltgesellschaft als (räumlich angesprochen) größte Ausdehnung des Netzwerkes" (Hejl, ebd. 333). Vgl. auch Kargi, Gesellschaft 1990 b, 19. 78 Hejl, ebd. 332; ders., Soziale Systeme 1986, 62; siehe auch Roth, Kognitive Selbstre/erentialität 1987, 398; gg. Gesellschaft als autopoietisches System auch WiIlke, Autonome Systeme 1987, 337; krit. auch Ritsert, Gesellschaft 1988, 160; zu Recht verweist Lüderssen darauf, daß "die Reinheit des Selbstreferentiellen ... die geschichtlichen Perspektiven zum Blick in künstlich getrennte Schubladen" reduziert (" Wär' der Gedanke" 1986,347).

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bietet diese Definition den Vorteil, daß sie nicht länger den Gedanken nahelegt, Gesellschaften seien überindividuelle Akteure. An der Nähe zu diesem Gedanken laborieren alle Konzeptionen, die Gesellschaften als soziale Systeme bezeichnen, besonders aber jene, die Gesellschaften als autopoietische Systeme konstruieren wollen. 79 Der bekannteste Vertreter eines Modells autopoietischer Gesellschaften ist Luhmann. Bevor ich auf die wichtigsten Implikationen seiner Sozialtheorie eingehe, seien die bisherigen Überlegungen zum Systemtypus von Gesellschaft und Sozialsystem in Thesenform bilanziert: (1) Lebewesen erhalten ihre Organisation und ,,Angepaßtheit" durch den Prozeß der Integrierung eines sozialen Systems. Daher ist für soziale Systeme konstitutiv, daß ihre Komponenten Lebewesen sind und daß ein Teil der Definition ihres Funktionierens in der Erhaltung des Lebens ihrer Mitglieder besteht. (2) Obwohl also soziale Systeme der Verwirklichung ihrer Komponenten dienen, produzieren sie nicht ihre Komponenten selber. Daher sind soziale Systeme keine autopoietischen Systeme. Sie sind vielmehr synreferentielle Systeme, weil sie als ein Netzwerk der menschlichen Koordination von Kognitionen und Handlungen konstituiert sind. In dem Maße, in dem die Individuen selbstreferentiell ihre psychischen Zustände parallelisieren, bilden sich soziale Bereiche als synreferentielle Systeme aus. (3) Ein soziales System unterscheidet sich von einem anderen sozialen System in den charakteristischen Eigenschaften jenes Netzwerkes von Kognitionen und Interaktionen, durch das es sich realisiert. Ein Verein, eine religiöse Gemeinschaft und eine Familie sind in dem Maße verschiedene soziale Systeme, in dem sie bei ihren Mitgliedern unterschiedliche kognitive Zustände ausgebildet haben und ihre Mitglieder jeweils dementsprechend ganz andere Verhaltensweisen zeigen. Um Mitglied eines sozialen Systems zu sein, genügt es daher, dasjenige Verhalten auszuführen, durch das die Mitgliedschaft in dem entsprechenden Sozialsystem definiert ist. (4) Wenn Systeme unter anderem dadurch charakterisiert sind, daß sie genau angebbare Grenzen haben, dann ist Gesellschaft kein Sozialsystem. Zumindest bei den westlichen Industriegesellschaften läßt sich die Menge der Komponenten und Interaktionen weder theoretisch noch empirisch von dem 79 Den Standardverdacht einer systemtheoretischen Planierung von Subjektivität und einer Hypostasierung von Gesellschaft als einem überindividuellen Aktor drückt Lyotard äußerst herb so aus: ,,Bei den heutigen deutschen Theoretikern ist die Systemtheorie technokratisch, eigentlich sogar zynisch, um nicht zu sagen: hoffnungslos" (Wissen 1982, 26). Einen solchen Eindruck vermittelt freilich nur jene Seite bei Luhrnann, die gegen die "ganze Simmelei" zu Feld zieht (vgl. Gesellschaftsstruktur 1982,244); sie vernachlässigt den anderen Luhrnann, der seine Verbeugung vor der Philosophie in Streicheleinheiten für Subjektivität ausdrückt: ,,Natürlich behaupten wir nicht, daß es ohne vorliegendes Bewußtsein soziale Systeme geben könnte" (Soziale Systeme 1985,234). Dennoch im Anschluß werden wir das näher belegen - , Luhrnanns Systemtheorie läuft auf eine Apotheose der verwalteten Welt, auf eine Ideologie der bürokratischen Planung und Zentralisierung hinaus.

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abgrenzen, was nicht zum System gehört. Vorzuziehen ist demnach eine Auffassung, die Gesellschaften nicht als Systeme, sondern als Netzwerke sozialer Systeme definiert. (5) Wenn ein soziales System von Lebewesen konstituiert wird, sind es all die einzelnen, gemeinsam das System integrierenden Lebewesen, die das System durch das Zusammenwirken ihrer Eigenschaften bilden. 80 Infolgedessen verändert sich das soziale System mit der Veränderung der Eigenschaften seiner Lebewesen. Da diese durch die Struktur der Lebewesen bestimmt sind, und da sich diese Struktur mit jeder Interaktion verändern kann, befindet sich auch das soziale System in einem beständigen Wandel. Infolgedessen kann die Veränderung synreferentieller Systeme nur ein Prozeß der Ko-Evolution der sie konstituierenden Individuen sein. (6) Lebewesen können auch an Interaktionen außerhalb des sozialen Systems, dessen Mitgli~der sie sind, teilnehmen. Wenn sich infolge solcher Interaktionen die Lebewesen strukturell verändern, so verändert sich auch die Struktur des sozialen Systems. Dasselbe kann auch infolge der Eingliederung neuer Mitglieder oder durch den Tod von Mitgliedern geschehen. (7) Da die Mitglieder das soziale System durch ihre Kognitionen und ihr Verhalten verwirklichen, selektieren sie sowohl bei ihren alten als auch bei ihren neuen Mitgliedern beständig die gleichen Verhaltensweisen. Dies ergibt sich aus dem Konservatismus kognitiver Systeme: Sie präferieren in der Vergangenheit erfolgreiche Verhaltensweisen. Hinzukommen in synreferentiellen Systemen spezifische soziale Ursachen für deren Konservatismus: Die Einheit wird durch die Existenz einer gemeinsamen Realität hergestellt. Dieses gemeinsame Repertoire von Handlungen, Überzeugungen und systemrelevanten Erfahrungen bietet dem Einzelindiviuum einen Überlebensvorteil: Im synreferentiellen Bereich sind die Ereignisse der Umwelt einigermaßen verläßlich erwartbar. Aus diesem Grunde sind soziale Systeme im Hinblick auf ihre Organisation und auf die charakteristischen Merkmale ihrer Mitglieder konservativ. Da aber andererseits das soziale System aus sich wandelnden Individuen besteht, ist die historische Entwicklung eines jeden Sozialsystems 80 Das macht aus, daß wir letztlich für das Netzwerk sozialer Systeme in dem Maße verantwortlich sind, in dem wir an der Erzeugung gemeinsamer Realität beteiligt sind. Daß Untätigbleiben und Passivität ebenfalls Realität bewirken und damit Verantwortlichkeit für diese Realität einschließen, versteht sich von selbst. Aus diesem Grunde "darf' nach Hejl die Sozialtheorie nicht die Vorstellung von handelnden Menschen eliminieren: "Wir erzeugen unsere Realitäten selber und sind damit letztlich für das dadurch bedingte Glück und Leiden verantwortlich. Eine unserer Erkenntnismöglichkeiten und die damit bei uns liegenden Chancen und Gefahren berücksichtigende Sozialtheorie darf nicht den Bezug auf Individuen verlieren. Wo dies geschieht, werden wir das Resultat höchst spezifischer sozialer Prozesse im Namen von Objektivität oder Modernität aus unserer Verantwortung für unser Handeln und Denken entlassen und der Chancen beraubt, uns eine nach unseren Kriterien bessere Realität zu konstruieren" (Soziale Konstruktion 1987, 33).

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Übersicht 10: Unterscheidung verschiedener Metasysteme nach dem Grad der Autonomie der Komponenten.

Autonomie der Komponenten

Metasysteme

maximale Autonomie

(freie) menschliche Sozialsysteme

Übergänge

zwangsstabilisierte menschliche Sozialsysteme (Sparta); soziale Insekten wie z.B. Ameisen, Termiten, Wespen, Bienen

minimale Autonomie

Einzeller, metazelluläre Einheiten, Organismen

stets durch die komplementären Prozesse des Konservatismus und des Wandels bestimmt. (8) Konservatismus ohne Wandel bedeutet in sozialen Systemen eine einseitige Zustandsveränderung der Individuen und damit eine Zwangsstabilisierung des Systems (mit Verlust der Autonomie der Komponenten; siehe dazu Übersicht 10).81 In solchen Sozialsystemen werden selbstreferentielle Syste81 Was Maturana und Varela unter zwangsstabilisierten Systemen verstehen, erörtern sie am Unterschied zwischen Organismen und menschlichen sozialen Systemen: ,,Der wichtigste Aspekt der Organisation eines Organismus ist seine Weise, Einheit in einem Milieu zu sein, in dem er mit stabilen Eigenschaften operieren muß, welche ihm die Erhaltung der Anpassung im Milieu erlauben ... Bei menschlichen sozialen Systemen liegt der Fall anders. Sie haben zwar auch eine operationale Geschlossenheit, die sich aus der Strukturkoppelung ihrer Mitglieder ergibt, aber menschliche soziale Systeme existieren für ihre Komponenten auch als Einheit im Bereich der Sprache. Die Identität menschlicher sozialer Systeme hängt deshalb von der Erhaltung der Anpassung der Menschen nicht nur als Organismen im allgemeinen Sinne ab, sondern auch als Bestandteile der sprachlichen Bereiche ab ... Und so wie Organismen einer nichtsprachlichen Strukturkoppelung zwischen ihren Komponenten bedürfen, bedürfen menschliche soziale Systeme in sprachlichen Bereichen miteinander strukturgekoppelter Komponenten. Das für die Arbeitsweise eines Organismus Wichtigste ist also der Organismus selbst, bei dessen Bildung die Eigenschaften der beteiligten Komponenten eingeschränkt werden. Hingegen ist das zentrale beim Operieren eines menschlichen sozialen Systems der von den Mitgliedern erzeugte sprachliche Bereich sowie die Erweiterung der Eigenschaften der Mitglieder ... Der Organismus schränkt die individuelle Kreativität der ihn bildenden Einheiten ein, da diese Einheiten}Ur den Organismus existieren. Das menschliche soziale System erweitert die individuelle Kreativität seiner Mitglieder, da das System}Ur die Mitglieder existiert ... Zwangsstabilisierte menschliche Systeme ähneln mehr einem Organismus, wie das zum Beispiel bei dem Stadtstaat Sparta der Fall war. Organismen und menschliche soziale Systeme lassen sich daher nicht vergleichen, ohne daß man die eigentlichen Merkmale ihrer jeweiligen Komponenten verzerrt oder negiert" (Erkenntnis 1987, 217; vgl. zu den sozialen Systemen bei Tieren Tschanz, Merz, Vogel, Rollen 1988, 675).

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

me laufend so behandelt, als ob sie Trivialmaschinen wären. Das Resultat ist letztlich das Gegenteil dessen, was bezweckt wird, nämlich die Auflösung der Synreferentialität: Die Individuen werden die Konstruktion gemeinsam geteilter Realität verlassen und sich auf abweichende Kognitionen retten. Auf diese Weise löst sich der von den Mitgliedern erzeugte sprachliche Bereich auf; dabei gehen Plastizität und Wachstum der Individuen entweder verloren oder die Individuen zerstören das alte Sozialsystem. Bis es zu diesen unausweichlichen Konsequenzen zwangsstabilisierter Systeme kommt, bilden die Mitglieder eine reiche Palette kognitiver Inseln aus, die die Kohärenz des Ich und der Welt notdürftig bewahren. Per definitionem sind Systeme, die die Autonomie ihrer Komponenten mißachten, keine "sozialen" Systeme; sie sind unmenschlich, weil sie ihre Mitglieder depersonalisieren.

e) Einwände gegen Luhmanns Konzeption aa) Theorie autopoietischer Sozialsysteme Im Unterschied zu der hier vorgestellten Konzeption synreferentieller Sozialsysteme entwirft Luhmann die Gesellschaft und ihre Subsysteme als autopoietische Systeme. Da Luhmann selbstverständlich keine Äquivalenz zwischen biologischen, psychischen und sozialen Systemen behaupten will, muß er für diese Systeme eine je unterschiedliche autopoietische Organisation annehmen. Zu diesem Zweck muß er Maturanas Definition der autopoietischen Organisation als einem Netzwerk, das die Komponenten produziert, aus denen es besteht, enorm ausweiten. Während die "Produktion der Komponenten" bei Maturana auf biologische Systeme beschränkt bleibt und insofern lediglich die zirkuläre Produktion physiko-chemischer Strukturen umfaßt,82 versteht Luhmann den Produktionsbe-

82 Vgl. z. B. Maturana, Grundkonzepte 1987, 10: "Das Wort Autopoiese bezeichnet eine besondere Organisation, die eine besondere (!) Art von Systemen definiert: autopoietische Systeme. Was autopoietische Systeme auszeichnet, ist, daß sie als Einheiten abgeschlossene Netzwerke der Produktion von Komponenten konstituieren, in denen die produzierten Komponenten das Netzwerk der Produktion selbst hervorbringen ... Lebende Systeme als molekulare (!) autopoietische Systeme sind diejenigen besonderen autopoietischen Systeme, die im molekularen Bereich existieren. In diesem Kontext sind Zellen einfache molekulare autopoietische Systeme, und Organismen, als autonome Zellaggregate, sind zusammengesetzte molekulare autopoietische Systeme, in denen alles der Autopoiese der Zellen untergeordnet ist, die sie integrieren." Das Zitat läßt zwar offen, ob es neben lebenden Systemen noch andere autopoietische Systeme gibt. Da Maturana aber soziale Systeme als autopoietische Systeme explizit ablehnt, ist nicht ersichtlich, welche Systeme überhaupt noch als autopoietische Systeme in Betracht kommen könnten. Von Menschen hergestellte Maschinen sind jedenfalls per definitionem ausgeschlossen, da sie sich nicht selbstherstellen. Verzichtet man auf das zentrale Charakteristikum der "Selbstherstellung", dann können alle möglichen Systeme zu autopoietischen Systemen erklärt werden. Will man auf dieses Charakteristikum nicht verzichten - weil "Selbstherstellung" das eigentliche Wesen der Autopoiese ausmacht - , dann muß man sich Komponenten konstruieren, die in dem betreffenden System durch das

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griff in einem viel allgemeineren Sinne als Produktion von Teilen, Elementen oder Komponenten in operational abgeschlossener Weise. 83 Damit nähert sich Luhmann's Definition von autopoietischen Systemen unserem Begriff von Selbstreferentialität. Aber die Rekursivität interner Prozesse allein kann es wohl nicht sein, die die Komponenten des Systems produziert. Dies ist der Grund, weshalb sinnvollerweise zwischen Autopoiese als Selbsterhaltung und Selbstreferentialität als zirkuläre Selbstbeobachtung unterschieden wird. 84 Welche Komponenten oder Entitäten werden in den unterschiedlichen Typen von Autopoiese "produziert", wenn es nicht nur biologische Organismen sein können? Für Luhmann bestehen die Komponenten in den Lebewesen aus Molekülen und Zellen, in Bewußtseinssystemen aus Gedanken und in sozialen Systemen aus Kommunikationen. 85 Auf die Schwierigkeiten, die in einer "BewußtseinsAutopoiese" entstehen, wenn man Gedanken durch Gedanken produziert sieht, haben wir bereits bei der Rekonstruktion kognitiver Systeme hingewiesen. 86 Ähnliche Probleme tauchen auf, wenn man Kommunikationen als Basiseinheiten sozialer Systeme begreift und weiter annimmt, daß die Kommunikationen sich gegenseitig "autopoietisch" produzieren. Sehen wir uns genauer an, wie Luhmann soziale Systeme als kommunikative Systeme beschreibt: 87 betreffende System selbsthergestellt sein könnten. Diesen Weg ist Luhmann gegangen. Für ihn gibt es demnach verschiedene Arten autopoietischer Systeme: Sie unterscheiden sich nach der Art der Komponenten, die im System autopoietisch erzeugt werden. 83 Vgl. Luhmann, Bewußtsein 1987,26; ders., Individuum 1989,6. 84 Siehe Roth, Autopoiese 1987,256; ders., Kognitive SelbstreJerentialität 1987, 399. 85 Luhmann argumentiert, er halte es "theoriebautechnisch" für besser, die Autopoiese des Lebens und die Autopoiese der Gesellschaft strikt zu unterscheiden (vgl. Grundkonzepte 1987, 8). Dazu zwingen freilich schon die vorläufigsten Beobachtungen: Ganz offensichtlich sind die basalen Operationen der Lebewesen grundverschieden von jenen der Gesellschaften. Die Frage ist, warum die Organisation dieser unterschiedlichen Phänomenbereiche mit demselben Begriff, nämlich Autopoiese, belegt werden soll. Da scheint es doch "theoriebautechnisch" noch besser zu sein, der augenflilligen Divergenz der betreffenden Systeme dadurch Rechnung zu tragen, daß man den Begriff ,,Autopoiese" ausschließlich auf Lebewesen erster Ordnung (Zellen) und zweiter Ordnung (biologische Organismen) anwendet. Dann muß man nicht erklären, warum die Gesellschaft obwohl sie strikt abgeschlossen und bloße Umwelt der Menschen sein soll - dennoch vollkommen offen, von Menschen erzeugt und damit fremdbestimmt (allopoietisch) ist. Luhmann ist nun allen Ernstes der Überzeugung, daß er mit der Anwendung des Autopoiesebegriffs auf die Gesellschaft einer Tendenz zur Biologisierung der Soziologie und zur Soziologisierung der Biologie entgegenwirkt (vgl. Grundkonzepte 1987, 10). Wenn dies zuträfe, dann genügt es, biologische Begriffe (vermeintlich) soziologisch umzudeuten und das so geSäuberte Produkt auf gesellschaftliche Sachverhalte anzuwenden (vgl. zur Kritik an Luhmanns Autopoiesebegriff auch Haferkamp, Autopoietisches soziales System 1987, 64; Schmid, Autopoiesis 1987, 29; Berger, Autopoiesis 1987, 134; Lohmann, Autopoiesis 1987, 170; Miller, SelbstreJerenz 1987, 187; Giegel, Interpenetration 1987, 212; zum ,,hobbesianisch-pessimistischen" Menschenbild bei Luhmann vgl. Lüderssen, "Wär' der Gedank'" 1986, 349). 86 Vgl. Kap. 3 I 2. 87 Vgl. zu den Vorarbeiten Luhmann, Sinn 1971,25; ders., Aufklärung 2 1975,21; ders., Aufklärung 3 1981, 11,25,35; ders., Soziale Systeme 1985,498. 17 Kargl

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"Die Gesellschaft ist ein autopoietisches System auf der Basis von sinnhafter Kommunikation. Sie besteht aus Kommunikation, sie besteht nur aus Kommunikation. Sie reproduziert Kommunikation durch Kommunikation. Was immer sich als Kommunikation ereignet, ist dadurch Vollzug und zugleich Reproduktion der Gesellschaft. Weder in der Umwelt, noch mit der Umwelt der Gesellschaft kann es daher Kommunikation geben. Insofern ist das Kommunikationssystem Gesellschaft ein geschlossenes System. Sie ist aber nur in einer Umwelt, vor allem nur dank psychischen Bewußtseins, dank organischen Lebens, dank psychischer Materialisierungen, dank der Evolution von Sinnen und Atomen möglich. Die Gesellschaft registriert diese Lage, indem sie sich als offenes System etabliert. Sie kommuniziert über etwas - über Themen, die ihre Umwelt oder sie selbst oder die gerade ablaufende Kommunikation betreffen. Gesellschaft ist also ein geschlossenes und ein offenes System zugleich, und Kommunikation ist die Form der elementaren Operation, die diese Kommunikation laufend leistet und reproduziert."88 Nach dieser Definition verdanken soziale Systeme ihren autopoietischen Charakter ausschließlich kommunikativ-sinnhaften Operationsmodalitäten. Hierunter ist vor allem zu verstehen, daß nur solche Ereignisse Bedeutung für die Selbstproduktion sozialer Systeme gewinnen, die sich als kommunikationsverarbeitbar erweisen. Dazu müssen sie Sinn gewinnen. 89 Nur die Sinnhaftigkeit von Ereignis-

88 Luhmann, Wirtschaft 1984, 311. Obwohl Luhmann stets betont, daß er eine allgemeine Theorie der Autopoiesis anvisiert, um sie aus der Nähe der Biologie zu TÜcken, verwendet er in dem obigen Zitat doch genau die Defmition der Autopoiese, die Maturana für lebende Systeme vorschlägt. Es ist daher zulässig, die Luhmannsche Beschreibung von Gesellschaft dem Fragenkatalog gegenüberzustellen, den Maturana, Varela, Uribe (Autopoiese 1985, 164) entwickelt haben, um festzustellen, ob ein System autopoietisch ist oder nicht. Der Schlüssel lautet: (1) Stelle durch Interaktionen fest, ob die Einheit genau angebbare Grenzen hat. Wenn nicht, ist die Einheit unbeschreibbar. (2) Stelle fest, ob die Einheit Komponenten aufweist. Wenn nicht, dann ist die Einheit nicht analysierbar. (3) Stelle fest, ob die Einheit ein mechanistisches System ist, d. h. ob die Eigenschaften der Komponenten deren Interaktionen determinieren. Wenn nicht, dann ist die Einheit nicht autopoietisch. (4) Stelle fest, ob die Komponenten durch ihre Interaktionen die Grenze des Systems konstituieren. Wenn nicht, dann werden die Grenzen durch den Beobachter determiniert. (5) Stelle fest, ob die Komponenten durch die Interaktionen der in der Einheit erzeugten Komponenten (bzw. der Interaktionen von außen eingedrungener, aber transformierter und / oder verkoppelter Elemente) erzeugt wurden. Wenn nicht: kein autopoietisches System. (6) Stelle fest, ob alle Komponenten durch Interaktionen erzeugt bzw., soweit eingedrungen, notwendige, permanente und konstitutive Komponenten bei der Erzeugung anderer Komponenten sind. Wenn nicht, dann handelt es sich nicht um ein autopoietisches System. Der Vergleich des Schlüssels von Maturana mit der Defmition Luhmanns ergibt, daß die für autopoietische Systeme konstitutiven Prozesse in sozialen Systemen nicht nachweisbar sind (vgl. hierzu detailliert Hejl, Soziale Systeme 1986, 64). Besonders vom dritten Kriterium an gerät man mit Luhmanns Definition in erhebliche Schwierigkeiten. Sie hängen mit dem oben näher skizzierten Produktionsbegriff der Autopoiese zusammen.

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sen stellt sicher, daß sie mittels kommunikativer Prozesse miteinander verknüpft werden können. Ereignisse wiederum lassen sich nur dann aneinander anschließen, wenn sie entlang zentraler binärer Schemata organisiert werden: Zustimmung vs. Ablehnung, Rechtmäßigkeit vs. Unrecht, Bestätigung vs. Negation etc. Damit stellt sich die systemische Kommunikation als ein beständiges Prozessieren von Selektion auf der Basis von sinnhaft erfahrbaren Differenzen dar. Man begreift die Funktionsweise von Sinn jedoch ,,nicht ausreichend, wenn man sie auf eine Sinnvolles legitimierende Identität bezieht - sei es den an sich perfekten Kosmos, sei es das Subjekt, sei es den sinngebenden Kontext"; statt dessen ist davon auszugehen, "daß in aller Sinnerfahrung zunächst eine Differenz vorliegt, nämlich die Differenz von aktual Gegebenem und auf Grund dieser Gegebenheit Möglichem".90 Auf der Gesellschaftsebene erfordert das selbstreferentielle Prozessieren von Sinn symbolische Generalisierungen, die die Verweisungsstruktur jeden Sinns zu ,,Erwartungen" verdichten. Ohne solche Erwartungen wäre nach Ansicht Luhmanns die Selektionslast für Anschlußoperationen zu hoch. Einerseits schränken sie das Mögliche ein, andererseits machen sie zugleich weitere Möglichkeiten sichtbar. Erst die Einheit dieser zwei Aspekte läßt strukturierte Komplexität entstehen. 91 Welche Funktion kommt nun einer strukturierten Komplexität zu, die soziales System genannt wird? Die Antwort gibt Luhmann mit seiner funktionalistischen Interpretation der Sinnfrage. Der Sinn jeder Systembildung liegt hiernach in der Erfassung und Reduktion von Komplexität. Was soziale Systeme anbetrifft, dienen sie der Vennittlung zwischen der äußersten Komplexität der Welt und der sehr geringen Fähigkeit des Menschen zu bewußter Erlebnisverarbeitung. 92 Sie sollen Weltkomplexität als Gesamtheit möglicher Ereignisse auf ein Ausmaß reduzieren, in dem menschliches Erleben und Handeln sich orientieren kann, und nur durch 89 Luhmann übt mit Hilfe des Sinnbegriffs konstruktive Kritik an Parsons "strukturellfunktionaler Theorie", die den Strukturbegriff dem Funktionsbegriff vorordnet: "Sie setzt soziale Systeme mit bestimmten Strukturen voraus und fragt nach funktionalen Leistungen, die erbracht werden müssen, damit die Systeme erhalten bleiben. Dadurch nimmt die strukturell-funktionale Theorie sich die Möglichkeit, Strukturen schlechthin zu problematisieren und nach dem Sinn von Systembildung überhaupt zu fragen. Eine solche Möglichkeit ergibt sich jedoch, wenn man das Verhältnis dieser Grundbegriffe umkehrt, also den Funktionsbegriff dem Strukturbegriff vorordnet" (Soziologie 1974, 114). Als Bezugseinheit, die keine systemstrukturellen Voraussetzungen hat, nennt Luhmann "die Welt" unter dem Gesichtspunkt ihrer Komplexität als Gesamtheit möglicher Ereignisse. "Sinn" dient nun der Erfassung und Reduktion von Weltkomplexität. Zur Kritik an der funktionalistisch verstandenen Sinnfrage siehe weiter unten. 90 Luhrnann, Soziale Systeme 1985, 111. 9l Luhmann, ebd. 140: "Die Generalisierung von Erwartungen auf Typisches oder Normatives hin hat mithin eine Doppelfunktion: Sie vollzieht einerseits eine Selektion aus der Gesamtheit angezeigter Möglichkeiten und reproduziert so die im Sinn angelegte Komplexität, ohne sie zu vernichten; und sie überbrückt Diskontinuitäten in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht, so daß eine Erwartung auch dann noch brauchbar ist, wenn die Situation sich geändert hat: Das gebrannte Kind scheut jedes Feuer." 92 Vgl. Habermas, Luhmann, Theorie der Gesellschaft 1971, 16.

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sinnvermittelte Selektion können Systeme sich eine Welt konstituieren; denn: "Sinn dient der Erfassung und Reduktion von Weltkomplexität und erst dadurch der Orientierung des Erlebens und Handelns."93 Gesellschaft ist demnach jenes Sozialsystem, das letzte, grundlegende Reduktionen institutionalisiert. 94 Als institutionalisierte Reduktionen benennt Luhmann Verhaltenserwartungen, die sicherstellen, daß das permanent überforderte Einzelbewußtsein trotz der Überfülle an Möglichkeiten dennoch gesellschaftlichen Konsens ausbildet: "Durch Institutionalisierung werde!! die minimalen, natürlichbegrenzten Chancen zu aktuellem Konsens ausgeweitet: Ähnlich wie schon durch die Sprache, die bei Bejahung gleicher Werte Konsens suggeriert, wird durch Institutionalisierung der Konsenswert aktuellen Erlebens im Hinblick auf Erwartung von Verhaltenserwartungen überzogen. Man könnte auch formulieren: Institutionalisierung dient dazu, Konsens erfolgreich zu überschätzen."95 Jedenfalls dienen Institutionen als Resultate von Institutionalisierungen dazu, den Abstand des Möglichen vom Wirklichen dadurch zu überwinden, daß Handeln auf einige wenige realisierbare Problemlösungen heruntergestuft wird. 96 Die zentrale Logik von Luhmanns Gesellschaftsinterpretation dürfte somit darin bestehen, daß über Kommunikationsprozesse Handlungen aneinander angeschlossen werden und zwar dadurch, daß sich über binäre Schematismen gemeinsame Selektionen ausbilden. Kommunikation ist dann "koordinierte Selektivität".97 Und sie ist zugleich Informationsverarbeitung durch eine gelungene Koppelung von Selektionen, die insbesondere durch Sprache, Schrift und Symbole vermittelt sind. Diese gekoppelten Selektionen wiederum strahlen auf die ,,Le93 Luhmann, Soziologie 1974, 116. Diese Komplexitätsreduktion ist ständige System~ aufgabe auf allen Ebenen der Gesellschaft. Sie ist - in den Worten von Bühl (Theorie 1973, 54, 57) - die ,,zauberformel" und der ,,mystische Schleier" aller weiteren Überlegungen und Untersuchungen Luhmanns. 94 Habermas, Luhmann, Theorie der Gesellschaft 1971, 16. 95 Luhmann,Institutionalisierung 1970, 30; vgl. hierzu auch Giesecke (Institutionelle Kommunikation 1988,31), der Luhmanns Theorie weitgehend adaptiert hat. 96 Machen wir uns diese ,,Problernreduktion" am Beispiel der lnstitutionalisierung des Rechtssystems klar, über die Luhmann häufig gearbeitet hat (vgl. aus der letzten Zeit: Recht 1989; Positivität 1989; Rechtssystem 1989; Analyse des Rechts 1989). Funktionale Differenzierung des Sozialsystems meint bei Luhmann immer Ausdifferenzierung autopoietischer Subsysteme, die eine spezifische Funktion für das umfassende System, die Gesellschaft, erfüllen. Diese Subsysteme produzieren die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen. Im Falle des Rechtssystems bezieht sich diese autopoietische Selbstreferenz auf Rechtsentscheidungen und alle Kommunikationen, welche zum Rechtssystem gehören bzw. dort ihre Bedeutung erlangen (vgl. Rechtssystem 1989, 1). Damit ist das Rechtssystem als ein geschlossenes System konzipiert. Weder Input noch Output ist möglich. Die autopoietische Reproduktion von Elementen durch Elemente bleibt eine rein interne Angelegenheit. Was also von der Umwelt an das Rechtssystem herangetragen wird, sind folgerichtig "Geräusche, Perturbationen, Interpretationsprobleme" (vgl. Gesellschaftliche Differenzierung 1989, 5; näher zum Geschlossenheitspostulat Kargl, Kommunikation 1990 a; ders., Gesellschaft 1990 b). 97 Luhmann, Soziale Systeme 1985,212.

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benswelt" zurück, so daß sie nicht über Individuen, sondern nur über Kommunikationszusammenhänge erschlossen werden können. Ich werde mich im folgenden vor allem mit zwei Konsequenzen der Luhmannschen Beschreibung der Gesellschaft befassen, die nicht nur die soziologische Kritik besonders herausgefordert haben, sondern meines Erachtens auch im Widerspruch zu Maturanas Erkenntnisbiologie stehen. Es ist dies zum einen die Vorstellung, daß allein das soziale System Anschlußhandlungen erzeugt. Ich werde diese Auffassung unter dem Stichwort "Subjektivierung des Gesellschaftsbegriffs " diskutieren. Zum anderen schreibt Luhmann der Gesellschaft jene "Geschlossenheit" zu, die wir in biologischen Systemen beobachtet haben. Dieser Standpunkt betrifft den Systemtypus der Gesellschaft; er soll als "Objektivierung des Sinnbegriffs" kritisiert werden. Beide Fragen suchen eine Antwort auf das zentrale Problem der Soziologie: Was ist als Bezugseinheit für die Konstruktion sozialer Systeme einzusetzen? bb) Kritik autopoietischer Sozialsysteme (1) Subjektivierung des Gesellschaftsbegriffs Luhmann selbst hat seine Position auf die Aussage zugespitzt: Soziale Systeme konstituieren über Institutionen Handlungen. Es ist also nicht das Individuum, es ist auch nicht ein Wechselverhältnis von Sozialsystem und Individuum, das die Gesellschaft konstituiert. Es ist vielmehr umgekehrt die Gesellschaft, die das Individuum hervorbringt. Die Gesellschaft bringt es hervor, indem sie Komplexität reduziert und Selektivitäten institutionalisiert. 98 98 Luhmann behauptet neuerdings, den Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus, die "zwei Soziologien" gebe es nur als Resultat von Polemik und nicht als Theorie: ,Jede anspruchsvolle soziologische Theorie wird den ,Gegensatz' von Individuum und Gesellschaft in ein Konditionierungs- oder Steigerungsverhältnis übersetzen; und nur die Art, wie das geschieht, kann noch fruchtbare Meinungsverschiedenheiten erzeugen" (Individuum 1989, 1). Dem kann man nur beipflichten. Welcher Soziologie entspringen dann aber die folgenden Zitate? So heißt es bei Luhmann etwa, die Systemtheorie habe keine "Verwendung für den Subjektbegriff' (Soziale Systeme 1985, 51) und "der Mensch ist nicht mehr das Maß der Gesellschaft. Diese Idee des Humanismus kann nicht kontinuieren" (ebd. 289). Also befasse sich die Systemtheorie nicht mit dem "Thema des Menschen und seines Verhältnisses zur sozialen Ordnung", wobei die Traditionen, welche dies tun, nur ,,in humanistischen Norm- und Wertvorstellungen" erstarrten (ebd. 286). Loszukommen sei insbesondere von der ganzen alteuropäischen Simmelei, denn auch Simmel nehme "das Individuum als Subjekt'. Schlimmer noch: " ... er nimmt es zugleich als dasjenige Element, aus dem Gesellschaften bestehen" (Gesellschaftsstruktur 1981, 252). Schließlich gibt es kaum einen schwereren Verstoß im Luhmannschen Theoriespiel als den einer ,,zurechnung des Handeins auf konkrete Einzelmenschen - so als ob als ,Agent' der Handlung immer ein Mensch und immer ein ganzer Mensch erforderlich sei" (Soziale Systeme 1985, 229). Abgesehen davon, daß sozialen Systemen überhaupt kein Subjekt, sondern nur die Umwelt zugrunde liege, folge aus dem Umweltcharakter der menschlichen Einzelwesen überhaupt ,,keine Gewichtung der Bedeutung von Personen für sich selbst und für anderes" (ebd. 244). "Das

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Gegen diese Konzeption ist eingewendet worden, daß sie die Gesellschaft von jeglichem Bezug auf ein Subjekt loslöse 99 , daß sie den "menschlich-subjektiven Faktor" vernachlässige 100, daß sie eine "antipersonale systemfunktionale Analyse" fördere 101, daß sie "herrschaftslegitimierende Funktionen" übernehme 102 etc. Vermutlich treffen diese starken Verdikte das Luhmannsche Ideengebäude nicht mehr in demselben Umfang wie vor der Einführung des Begriffs der Interpenetration. Von Interpenetration soll nach Luhmann dann die Rede sein, "wenn beide Systeme sich wechselseitig dadurch ermöglichen, daß sie in das jeweils andere ihre vorkonstituierte Eigenkomplexität einbringen". 103 Damit wird nunmehr im Gegensatz zu früheren Schriften zumindest ein wechselseitiges Verhältnis von Menschen und sozialen Systemen zugestanden; zugleich werden alte soziologische Ansätze wie Rollen-, Bedürfnis- und Sozialisationstheorien in die Systemtheorie hereingeholt. Für Luhmann bleibt freilich nach wie vor entscheidend, "daß die Komplexität des Menschen sich erst im Hinblick auf soziale Systeme entwickeln kann ...".104 Die interpenetrierenden Systeme bleiben nach wie vor füreinander Umwelten. Im Klartext heißt dies, daß Menschen auch nach neuer Lesart nicht als Teile oder Komponenten des sozialen Systems, sondern als dessen problematische Umwelten erfaßt werden. 105 Individuum kann nur außerhalb der Gesellschaft leben. Es kann nur durch Exklusion definiert werden" (Individuum 1989,5). Nachdem das Individuum aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde, geht es der Systemtheorie vorwiegend nur um die ,,Funktionsprobleme (!) des Gesellschaftssystems selbst" (Soziale Systeme 1985,264). Die alte humanistische Vorstellung, "daß gerade die Geselligkeit unter den Gleichen der Realisation des Menschen als Menschen dienen könne", erweist sich letztendlich "als eine Illusion, die bezeichnend ist für die modeme, von Sachforderungen (!) beherrschte Gesellschaft" (Gesellschaftsstruktur 1982, 255). 99 Vgl. Gripp, Lebensstil 1978, 255. 100 Waschkuhn, Systemtheorie 1987, 106; vgl. zu diesem Vorwurf schon Hondrich, Systemtheorie 1973, 98; Rottleuthner, Biologische Metaphern 1985; Lüderssen, "Wär ,der Gedank'" 1986, 346; diff. Karg!, Gesellschaft 1990 b. 101 Sche1sky (Rechtssoziologie 1980,95) hielt demgegenüber an einem Handlungsbegriff fest, der auf eine "Intersubjektivität der Verständigung" abzielte. 102 Haberrnas, Luhmann, Theorie der Gesellschaft 1971, 144. 103 Luhmann, Soziale Systeme 1985,290. Unter stärkerer Berücksichtigung des Autopoiese-Konzeptes heißt es nunmehr: "Interpenetration kann nicht bedeuten, daß Elemente der interpenetrierenden Systeme partiell identisch sind; oder in anderen Worten: daß die Systeme sich auf der Ebene ihrer Elemente überschneiden. Das würde der These der geschlossenen Autonomie selbstreferentieller Reproduktion widersprechen. Statt dessen könnte man immer dann von Interpenetration sprechen, wenn die strukturelle Komplexität eines Systems sich für den Aufbau der strukturellen Komplexität eines anderen Systems zur Verfügung stellt. In dieser Fassung verweist der Begriff auf Co-Evolution" (Individuum 1989,7). 104 Luhmann, Soziale Systeme 1985,293. 105 Das macht Luhmann jetzt mit dem Begriff Inklusion klar: "Inklusion liegt immer dann vor, wenn ein autopoietisches psychisches System, das auf der Basis von Bewußtheit operiert, seine Eigenkomplexität zum Aufbau sozialer Systeme zur Verfügung stellt. Das psychische System wird dadurch nicht Teil (auch nicht: teilweise) des sozialen Systems. Aber es begründet die Möglichkeit, daß Kommunikation verstanden (!) und

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Warum muß demgegenüber so nachdrücklich darauf bestanden werden, daß nicht Kommunikationen, sondern Individuen Komponenten sozialer Systeme sind? Die Antwort ergibt sich aus Luhmanns theorieimmanenter Zwangsläufigkeit, die sozialen Systeme subjektivieren und die konkreten Subjekte objektivieren zu müssen. 106 Geht man den Weg, als Komponenten sozialer Systeme Kommuni'kationen zu wählen, so muß gezeigt werden, wie Kommunikationen zu Kommunikationen führen. Denn die Autopoiesedefinition stellt ja die Forderung auf, daß die zu erklärenden Phänomene ausschließlich aus den Interaktionen der Systemkomponenten erklärt werden. Was aber kann über eine Kommunikation gesagt werden, wenn die sie konstituierenden Reflexionssubjekte außer Betracht bleiben? Eine Kommunikation ist eine Kommunikation. Jede weitere konkretisierende Aussage benötigt zumindest ein kognitives System, das der Kommunikation Bedeutung verleiht. 107 Ohne die kognitive Tätigkeit der einzelnen Organismen kann es nicht zu jener sozialen Koppelung und damit zu jener Koordination des Verhaltens kommen, die wir Kommunikation nennen.

Handlung zugerechnet (!) wird" (Individuum 1989,7). Und schließlich dann doch das Zugeständnis: ,,Psychische Systeme sind als Umwelt sozialer Systeme an deren Konstitution beteiligt" (ebd. 7). Also erzeugen Menschen die sozialen Systeme. Weshalb sie dennoch nicht Bestandteile dieser Systeme sein sollen, ist nicht nachvollziehbar und wird auch nicht begründet. 106 Die Subjektivierung des Systembegriffs resultiert aus der peripheren Behandlung der Motivations- und Interessenlagen interagierender Subjekte. Also sind es die Institutionen, die zielgerichtet und zweckbezogen handeln, die die soziale Differenzierung vorantreiben, interpenetrieren und mittels Unterscheidungen Sinn erzeugen. Luhmanns Theoriesubjekt ist allenthalben das System, der Mensch eine (philosophische) Residualkategorie (Horn, Schülein, Legitimationskrise 1976, 123). Mit der supraindivuellen Ausstattung der Gesellschaft geht "eine nahezu totale Entsubjektivierung konkreter Subjekte" einher (Narr, Runze, Politische Soziologie 1974,58). Dieser "eigentümliche Ausfall des konstitutiven Reflexionssubjektes" (Waschkuhn, Systemtheorie 1987, 103) kommt - wie gesagt - darin zum Ausdruck, daß der Mensch nicht Teil des sozialen Systems, sondern dessen "problematische Umwelt" (Luhmann, Politische Planung 1975,36) sein soll. Es ist die entscheidende Schwäche dieses Ansatzes, "das personale System als Bedürfnissystem nicht explizit als Bezugseinheit für die Konstruktion sozialer Systeme eingesetzt zu haben" (Hondrich, Systemtheorie 1973,98). Dagegen soll darauf bestanden werden, daß der Mensch sowohl Teil des sozialen Systems als auch dessen Umwelt oder Bezugseinheit als Personsystem ist. 107 Unter dem Produktionsbegriff der Autopoiese ist bei Maturana eine direkte, mechanisch gedachte und damit determinierte Interaktion der Komponenten gemeint. Wie soll aber eine kommunikative Einheit (z. B.: ,,Es ist glatt, fahr vorsichtig") mit einer anderen interagieren und dabei weitere kommunikative Einheiten produzieren? Wenn sich nun der Adressat für den Hinweis bedankt, dann haben nicht nur Schallwellen miteinander kommuniziert, sondern Individuen, die kommunikative Einheiten produzieren und verstehen. Verstanden werden die "Kommunikationen", weil die Teilnehmer eine gemeinsame Realitätsdefmition aufgebaut haben. "Bedeutungen" werden also in einem selbstreferentiellen Prozeß auf der Grundlage früherer Erfahrungen erzeugt, sie sind nicht in den Schallwellen enthalten. Damit dürfte erwiesen sein, daß Luhmann den Produktionsbegriff nur metaphorisch verwendet. Bei sozialen Systemen handelt es sich somit nicht um aktive Systeme im Sinne der Autopoiese, sondern um klassifikatorische Systeme.

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Was aber bleibt von dem Netzwerk der Kommunikation übrig, wenn die konstitutiven ,,Knoten" herausgeschnitten werden? Es sind Systeme ohne Gehirne oder - falls man den Kommunikationen apriori Bedeutungen unterstellt Gehirne ohne Körper, Kognitionen ohne biologische Basis. \08 Kognitionen so haben wir ausführlich dargelegt - werden von Menschen kommunikativ produziert. Infolgedessen sind es nicht Kommunikationen, die Kommunikationen erzeugen, sondern Individuen, die eine gemeinsame Realitätsdefinition aufgebaut haben. Es ist diese parallelisierte Wirklichkeit, die Interaktionen und d. h. über Symbole laufende Aktualisierung von Erfahrungen gestattet. Aus diesem Grunde muß eine kognitivistische Sozialtheorie die am sozialen Prozeß beteiligte Vielzahl von selbstreferentiell operierenden Gehirnen berücksichtigen. Blendet man dagegen die beteiligten Gehirne aus, so werden notwendigerweise den sozialen Systemen Eigenschaften zugesprochen, die traditionellerweise den kognitiven Systemen vorbehalten sind: Sie nehmen wahr, sie denken, sie entscheiden und lösen Probleme. I09 Insbesondere reduzieren sie bei Luhmann Komplexität, schaffen über binäre Mechanismen Sinn und ermöglichen so Anschlußhandlungen. Hejl, Soziale Systeme 1986, 66. Mit der durchgehenden Parallelisierung der konzeptuellen Grundannahmen von kognitiven und sozialen Systemen handelt man sich weiterhin das Problem ein, auf sozialer Ebene ein Äquivalent für die operationale Geschlossenheit biologischer Systeme angeben zu müssen. Luhmann erläutert das Problem anband der gesellschaftlichen Differenzierung, die zu autonomen, selbstreferentiellen Teilsystemen führe. Solche Systeme müßten die eigenen elementaren Operationen selbst produzieren: "So sind politische Entscheidungen nur (!) aufgrund von vorherigen politischen Entscheidungen möglich, und kein Beobachter würde die entsprechenden Kommunikationen als Politik erkennen, wenn er nicht in der Lage wäre, sie einem entsprechenden Netzwerk von Entscheidungen zuzuordnen" (Gesellschaftliche Differenzierungen 1989,4). In diese politischen Entscheidungen darf die Umwelt nicht einbezogen sein, da sie sonst nicht autonom wäre: "Sie können weder importiert noch exportiert werden ... So können wissenschaftliche Leistungen nur innerhalb des Wissenschaftssystems und politische Leistungen nur innerhalb des politischen Systems, wirtschaftliche Leistungen nur innerhalb des Wirtschaftssystems, rechtliche Leistungen nur innerhalb des Rechtssystems produziert werden" (ebd. 5). Aber wie häufig bei Luhmann, es ist dann doch nicht so gemeint, wie die apodiktischen Äußerungen vorgeben: "Es muß klargestellt werden, daß damit keineswegs wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den Systemen bestritten werden. Im Gegenteil: Als Folge von Differenzierungen nehmen die Abhängigkeiten und die Unabhängigkeiten der Systeme im Verhältnis zueinander gleichzeitig zu, da die Gesellschaft insgesamt komplexer wird" (ebd. 5). Wie diese Gleichzeitigkeit von Geschlossenheit und Offenheit sozialer Systeme am Beispiel der Beziehung des Rechtssystems zur Gesellschaft aussieht, erläutert Luhmann in höchst konventioneller Weise so, daß von der autopoietischen Autonomie sozialer Subsysteme nicht viel übrigbleibt: "Vor allem muß man Formulierungen wie die vermeiden, daß es Beziehungen zwischen Recht und Gesellschaft gebe. Das Rechtssystem ist ein ausdifferenziertes Funktionssystem in der Gesellschaft. Es vollzieht also mit den eigenen Operationen immer auch die Selbstproduktion (Autopoiesis) des Gesellschaftssystems. Es benützt hierfür Kommunikationen, die bei aller Esoterik der Begrifflichkeit von einem normal verständlichen Sinn nie ganz abstrahieren können. Das heißt nicht nur, daß das Rechtssystem eine Funktion für die Gesellschaft erfüllt, daß es ihr ,dient', sondern auch, daß das Rechtssystem an der Realitätskonstruktion der Gesellschaft partizipiert ... " (Recht 1989, 4). Wenn das Recht der Autopoiese der Gesellschaft (richtig müßte es heißen: der Gesellschaftsmitglieder) "dient", dann ist es doch ganz lOS

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(2) Objektivierung des Sinnbegriffs Abgesehen davon, daß aus kognitivistischer Sicht nur Individuen Sinn stiften können, rallt als weiterer Kritikpunkt die extrem funktionalistische Fassung des Sinnbegriffs auf. Sinn erschöpft sich bei Luhmann in dem Selektionsmechanismus der Reduktion von Komplexität. Alles hat hiernach Sinn, was eine Differenz prozessiert. Da jede Differenzbearbeitung nur als sinnhafte vorstellbar ist, ist auch jeder gesellschaftliche Selektionsmechanismus ein sinnhafter. Auf diese Weise avanciert der Selektionszwang von komplexen Handlungssystemen automatisch zu ,,sinn". Ein solcher Begriff bedarf denn auch nicht mehr der Analyse der Motivations- und Interessenlage interagierender Subjekte, es genügt der Aufweis, daß sich inmitten der Umweltkontingenz eine Handlungsmöglichkeit realisiert hat. In der Logik einer solchen Defmition liegt auch, daß Sinn sozusagen "von selbst" abläuft, daß dem Sinngeschehen "Selbstbeweglichkeit" attestiert wird. 1 \0 Dem entspricht auf der Ebene gesellschaftlicher Subsysteme wie der Politik oder der Justiz die Vorstellung, daß diese gegenüber ihren Umwelten "autonom" sind, daß sie ihren Sinn autopoietisch erzeugen. Aus der Konstruktion sozialer Systeme als Individuen resultiert so ein objektivistischer Sinnbegriff. 111 Man kann auch sagen: Der Subjektivierung der Gesellschaft entspricht als deren offensichtlich allopoietisch wie ein Auto, das der Fortbewegung "dient". Luhmann kann den autopoietischen Charakter der Sozialsysteme begrifflich nur dadurch retten, daß er sie von den Menschen abkoppelt. Deshalb "dienen" sie bei ihm auch nicht Menschen, sondern der Gesellschaft. Damit ist über Luhmanns Politik- und Gesellschaftstheorie das Wesentliche gesagt. 1\0 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme 1985, 101. 111 Der "Objektivismus" des Sinnbegriffs ergibt sich daraus, daß es nach Luhmann für das Sinngeschehen keinen "Träger" etwa in Form eines Bewußtseins gibt: "Sinn trägt sich selbst, indem er seine eigene Reproduktion selbstreferentiell ermöglicht" (Soziale Systeme 1985, 141). Damit liegen die Bedingungen der Möglichkeit einer Differenzerfahrung (System/Umwelt-Differenz) nicht ausschließlich im Subjekt, sondern in einem System und Umwelt übergreifenden Sinngeschehen, das seinerseits auf einer Relationierung der Begriffe ,,Aktualität" und "Möglichkeit" basiert. Willke (Selbstreferentialität 1987, 198) weist darauf hin, daß das Relationierungskonzept Luhmanns dem "extremen Realismus" der "possible world semanties" von David Lewis (z. B. Counterjactuals 1973) entspricht. Danach ist das Mögliche genau so real wie das Aktuelle. Das Aktuelle ist nur eine unter vielen anderen existierenden möglichen Welten. Ähnlich faßt Luhmann das Mögliche als etwas real Existierendes auf, als eine Selbstbeschreibung der Welt als einem Letzthorizont allen Sinns (ebd. 100). Daraus folgt dann für Luhmann, daß man sich "von jedem Ausgangspunkt ... zu allen anderen Möglichkeiten der Welt fortbewegen kann" (ebd. 106). Im Anschluß wird zu erläutern sein, daß diese objektivistische Sinnkonzeption der kognitions-biologischen Erkenntnistheorie - auf die sich auch Luhmann beruft (vgl. Erkenntnisprogramm 1989) - widerspricht. Für den Konstruktivisten gibt es weder eine objektiv vorhandene Aktualität noch eine objektiv vorhandene Vielfalt von Möglichkeiten. Mit dieser Bemerkung sind wir zum Beobachter (Konstrukteur) zurückgekehrt. Ihm allein können alle Prädikate wie "beschreiben", "thematisieren", "unterscheiden" etc. zugerechnet werden. Diese mentalen Prädikate setzen also einen bewußtseinsfahigen Träger voraus. Infolge der strukturellen Koppelung der kognitiven Systeme können als Träger von Sinn auch ,,kollektive Reflexionsprozesse" angegeben werden (vgl. hierzu Miller, Lernprozesse 1986).

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Kehrseite eine Objektivierung konkreter Individuen. Mit der Projektion menschlicher Eigenschaften auf soziale Systeme werden diese zum alles beherrschenden Theoriesubjekt, der Mensch sinkt zur Randerscheinung im Vollzug der Kommunikationen ab. Der Autonomie des Sozialsystems korrespondiert aufs engste wie man sieht - die Heteronomie der Akteure. Eine letzte Bemerkung gilt der Verknüpfung der Sinnproblematik mit der Formel von der Komplexitätsreduktion. Es muß nämlich verwundern, daß Luhmann zwar einerseits die Theorie autopoietischer Systeme übernimmt, andererseits aber deren unabweisbare erkenntnistheoretische Implikationen ignoriert. 112 Wenn "Sinn" der Erfassung und Reduktion von Weltkomplexität dient und Weltkomplexität als Gesamtheit möglicher Ereignisse definiert ist, dann erhebt sich die Frage, welchen erkenntnistheoretischen Status "die möglichen Ereignisse" besitzen. Für Kognitivisten, die sich auf Maturanas Erkenntnisbiologie stützen, ist die Annahme eines ontologischen Status der Weltkomplexität ausgeschlossen. Weltkomplexität ist hiernach eine Kognition, die von Individuen zur Erhaltung der Autopoiese geschaffen wird und die bei jedem Individuum infolge unterschiedlicher Erfahrung und Geschichte anders ausfällt. Daraus folgt, daßWeltkomplexität und die in ihr schlummernden Möglichkeiten nichts sein kann, was "existiert", vom Individuum wahrgenommen und dann zur Grundlage von Entscheidungen gemacht wird. Jeder andere Standpunkt entspricht im wesentlichen stets der "Röhren-Metapher", nach welcher an einer Stelle "Informationen" entstehen und durch eine Leitung zum anderen Ende übermittelt werden. Hat dementsprechend das Individuum über die Sinnesorgane die Informationen aufgenommen, so braucht es diese nur zu speichern, nach verinnerlichten Erwartungsstrukturen zu gewichten und sich gegebenenfalls für eine der widerstreitenden Informationen als Basis von Anschlußhandlungen zu entscheiden. In der. Konsequenz einer derartigen Auffassung liegt es, diesen Vorgang als einen Reduktionsmechanismus zu begreifen: Aus der Überfülle des Existierenden wird selektiert. Da um der 112 Möglicherweise trifft der Vorwurf nicht mehr die jüngste Produktion aus Luhmanns reichem Schaffen. Jedenfalls taucht in den explizit "erkenntnistheoretischen" Arbeiten der letzten Zeit der Begriff ,,Komplexitätsreduktion" m. E. nicht mehr auf (vgl. Erkenntnisprogramm 1989; Erkenntnis 1989). Luhmann spricht nun von der De-Ontologisierung der Realität und davon, daß es für die Beobachtungen in der Umwelt des Systems keine Korrelate gebe. Auffällig ist jedoch, daß er immer wieder die Realität der Außenwelt beteuert, z. B.: "Das heißt nicht, daß die Realität geleugnet würde, denn sonst gäbe es nichts, was operieren, nichts, was beobachten, und nichts, was man mit Unterscheidungen greifen könnte ... Wenn ein erkennendes System keinerlei Zugang zu seiner Außenwelt gewinnen kann, können wir deren Existenz bestreiten, aber ebensogut und mit mehr (!) Plausibilität daran festhalten, daß die Außenwelt so ist, wie sie ist" (Erkenntnisprogramm 1989,4). Vom Standpunkt der "Komplexitätsreduktion" aus machen diese Beteuerungen natürlich Sinn: Die Außenwelt darf nicht fragwürdig werden, wenn die Reduktionsleistung sozialer Institutionen ihre segensreiche Funktion erfüllen soll. Um die Autonomie der sozialen Systeme behaupten zu können, muß Luhmann die Kröte der "operativen Erkenntnistheorie" schlucken. Aber man merkt allenthalben: Sie schmeckt ihm nicht.

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Selbsterhaltung willen gehandelt werden muß, liegt es desweiteren in der Logik dieser Auffassung, den Selektionsvorgang unter allen Umständen affirmativ zu bewerten: Ohne Reduktion des handlungsblockierenden Reichtums an virtuellen Ereignissen auf eine realisierbare Handlung gibt es kein Überleben. Auf die Gesellschaft übertragen, zeigen sich die "ideologieanfälligen" Konsequenzen der Luhmannschen Reduktionsfonnel noch deutlicher. Ist Gesellschaft als jenes Sozialsystem gedacht, das grundlegende Reduktionen institutionalisiert, und sind Reduktionen überlebensnotwendig, so sind die konkreten Institutionen einer jeden Gesellschaft per se und vor allen anderen Überlegungen in diesem positiven Funktionszusammenhang lokalisiert. 113 Auf dieser konzeptionellen Ebene ist Gesellschaft ein überindividueller Akteur, dem alle Eigenschaften zukommen, die sonst Menschen zugesprochen werden. Luhmann hält denn auch Sozialsysteme für eine schöpferische Instanz, die weit über die der Akteure hinausgeht. Er begründet dies mit der unglaublichen Komplexität von sozialen Systemen, die von niemandem ersonnen oder im Ernst als hergestellt gedacht werden könne. Allein die Zahl von etwa fünf Milliarden Akteuren auf der Welt mache den Einbau der Akteure in eine soziologische Theorie und damit die Zurechnung der beobachtbaren Reduktion von Komplexität zu den Akteuren nicht möglich. 114 Was die Zurechnungsfrage anbetrifft, hat schon Max Weber 113 Kritik wird man bei Luhmann vergeblich suchen. Ihm genügt die Feststellung einer beliebigen Art von Codierung, um sie mit der Funktion der Verhaltensstabilisierung auszeichnen zu können. Diese Funktion kann man sicher auch den "furchtbaren Juristen" des Dritten Reiches nicht absprechen (vgl. Ingo Müller, Juristen 1987). Auch sie haben das binäre Schema angewandt, das einen positiven Wert (Recht) und einen negativen Wert (Unrecht) enthält. Auch sie haben mit Hilfe dieser Codierung ,,Erwartungen kontrafaktisch stabilisiert" und damit "eine besonders anspruchsvolle Art von Faktizität" geschaffen (vgl. Recht 1989, 6). Oder anders formuliert: "das Recht befreit, so weit es Erwartungen schützt, von der Zumutung, aus Enttäuschungen zu lernen und sich ihnen anzupassen. Es stellt damit Konfliktlösungen in Aussicht, denn es enthält eine Vorentscheidung darüber, wer lernen muß und wer nicht" (ebd. 6). Wie im Konkreten die Konfliktlösung aussieht, interessiert Luhmann nicht mehr. Auch Todesurteile sind Konfliktlösungen; sie schützen freilich eher den Staat als seine Bürger vor der Zumutung, aus Enttäuschungen zu lernen. Man vermißt also mindestens zweierlei: erstens eine Begründung dessen, was als "Erwartung" geschützt werden soll, und zweitens eine nähere Konkretisierung der Art und Weise des Schutzes, also eine Beschreibung und Legitimation der Mittel (vgl. hierzu unsere eigene Defmition des Rechts in Kap. 4 I 3.). 114 Vgl. Luhmann, Erkenntnisprogramm 1989, 15: ",Den Menschen' gibt es nicht, noch nie hat ihn jemand gesehen ... Psychische Systeme gibt es jetzt annähernd fünf Milliarden. Eine Erkenntnistheorie, die mit psychischer Systemreferenz arbeitet und meint, Begriffe wie Beobachten und Erkennen auf Bewußtsein beziehen zu müssen, muß daher gefragt werden, welches von diesen fünf Milliarden sie meint." Für Luhmann sind also Beobachtungssysteme und Erkenntnis Produkte des Kommunikationssystems Gesellschaft. Das stimmt aus unserer Sicht nur, wenn man den Begriff "Kommunikationssystem Gesellschaft" nicht mit falschen Abstraktionen belastet, sondern mit handelnden Individuen in Verbindung bringt. Ohne Menschen kann es keinen "Wissensbestand der modernen Gesellschaft" geben. Das gilt auch dann, wenn das einzelne Bewußtsein an diesem Wissen nur in minimalen Bruchteilen teilhat. Sollte die Menschheit von der Erdoberfläche verschwunden sein, wird dieses Wissen nicht mehr existieren, auch wenn

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mit dem Konzept der Entstehung von Makroakteuren, vom charismatischen Führern oder bürokratischen Herrschern geantwortet, die durch ihre Macht und ihren Einfluß die Zahl der Handelnden, denen Ordnungsleistungen zugerechnet werden, stark reduziert. 115 Was das Komplexitätsargument angeht, das gegen Individuen als Handelnde in Sozialsystemen angeführt wird: Es steht offensichtlich in einem massiven Widerspruch zur Reduktionsformel. Einerseits sollen Sozialsysteme Reduktionen institutionalisiert haben, andererseits sind sie so unglaublich komplex, daß sie von Individuen nicht erfunden sein können. II6 Was ist nun richtig? Ich meine, solange Luhmann das Individuum als Bezugseinheit der Gesellschaft ignoriert und damit Sinn objektivistisch umdeutet, kann er das Rätsel nicht lösen. Er wird gezwungen bleiben, einerseits die Komplexität des Sozialen zur Kenntnis zu nehmen und zugleich andererseits diese Komplexität als eine Reduktionsleistung zu preisen. Die Zauberformel von der Reduktion der Komplexität impliziert also einen Popanz von Weltkomplexität, an der gemessen die allenthalben beobachtbaren Problempotenzierungen immer noch als Kandidaten für ,,Lösungen", Anschlußhandlungen oder Systemrationalität gelten können. Gegen Luhmanns Reduktionskonzept ist vom kognitivistischen Standpunkt aus primär einzuwenden, daß Menschen Realität nicht reduzieren, sondern produzieren. Demgemäß sind auch soziale Systeme nicht primär Veranstaltungen der Komplexitätsreduktion, sondern der Komplexitätserzeugung. Gesellschaft ist der Prozeß der Erzeugung von gemeinsamer Realität. 117 Dies gelingt nur in dem es in Panzerschränken verwahrt sein sollte. Worauf also immer wieder der Dissens mit Luhrnann hinausläuft: Kommunizieren Kommunikationen oder kommunizieren Menschen? Im ersteren Fall ist das Individuum bestenfalls eine Komponente des Kommunikationssysterns, im zweiten Fall ist das Kommunikationssystem eine allopoietische Maschine des Individuums. Da Luhmann für die erste Alternative votiert, dürfte er das Einzelbewußtsein nicht ':Ilit jener Autonomie ausstatten, die autopoietischen Systemen zukommt. IIS VgI. Haferkamp, Handlungstheorie 1972, 71, 103; ders. Soziales System 1987, 65; ders. Soziales Handeln 1987; zur Entstehung von Makroakteuren vgI. Callon, Latour, Leviathan 1981, 277. 116 Bei diesem Argument wird oft übersehen, daß die Subjekte die Integration sozialer Handlungen nicht nur bewußt, sondern auch unbeabsichtigt, undurehschaut und zwangsläufig herstellen. Luhmann bindet demgegenüber den System- wie den Personbegriff an das Sinnkonzept, d. h. er kann soziale Ereignisse nur als sinnhafte (als bewußtes Prozessieren von Unterscheidungen) entziffern. Demgegenüber wird in jüngster Zeit verstärkt ein Wirklichkeitsbereich beachtet, der nicht mit dem traditionellen Konzept der "Verdinglichung" erschlossen werden kann, da die Akteure auch in der Phase ihrer Erzeugung dieser Strukturen diesen Prozeß selbst nicht begreifen (insb. Haferkamp, Soziales Handeln 1987). II7 Es geht also um die Gestaltung zukünftiger Wirklichkeiten, nicht um die Selektion objektiv existierender Realität. Luhrnann meint, es sei gleichgültig, ob es sich dabei um Realmöglichkeiten handelt oder um solche, die nur gedacht sind oder nur fiktional vorgestellt werden (Erkenntnis 1989, 10). Aber was bedeuten auf der Grundlage der operativen Erkenntnistheorie ,,Realmöglichkeiten", und worin unterscheiden sich diese von "vorgestellten" Möglichkeiten? Luhrnann sucht also stets, "wirkliche Wirklichkeit" in den Konstruktivismus einzuschleusen, um diese dann in der formalistischen Mechanik

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Maße, in dem Menschen ihre kognitiven Zustände parallelisieren und damit Strukturkoppelungen eingehen. Die Identität sozialer Systeme hängt deshalb nicht nur von der Erhaltung der Menschen als Organismen im allgemeinen Sinne ab, sondern auch von der Erhaltung der sprachlichen Bereiche, die von ihnen gebildet werden. Über die Anbindung an das Sprachverhalten wird in der Ontogenese der Individuen jene operationale Plastizität selektiert, die letztlich die operationale Stabilität der Individuen als Organismen gewährleistet. Infolge des gemeinsamen Operierens im Sprachbereich erweitern sich in grandiosem Ausmaß die Eigenschaften der Mitglieder. Anders als bei der Bildung von Organismen oder Metazellern werden durch die strukturelle Koppelung die Eigenschaften der beteiligten Komponenten gerade nicht eingeschränkt, da das System für die Mitglieder existiert. 118 In Luhmanns Konzeption existiert hingegen das Sozialsystemfür die Kommunikation und deren unendlicher Geschichte. Um den Faden nicht abreißen zu

lassen, muß einer ontologisch gedachten Wirklichkeit das binäre Ja-Nein-Schema übergestülpt, müssen Ereignisse in dualistische Muster gepreßt werden. Das Sozialsystem ist für Luhmannjene gigantische Institution, die genormte Semantider binären Schemata sozialer Systeme ,,reduzieren" zu können. Tatsächlich aber muß auf dem Boden des Konstruktivismus gefordert werden, daß die psychischen und sozialen Systeme immer neue Problemstellungen hervorbringen, daß sie eben nicht in binären Codes erstarren. Es handelt sich also geradezu um eine Überlebensnotwendigkeit, daß verschiedenartige Betrachtungsweisen derselben Situation angeboten werden, um den Gefahren einer reduktiven, eindimensionalen Lebenspraxis entgegenzuwirken. Zu demselben Ergebnis gelangt Gilbert Probst, der Maturanas Theorie für die Managementwissenschaft fruchtbar zu machen sucht: ,,Aus diesen Erkenntnissen entsteht m. E. die Verantwortung für die Manager, neuartige Perspektiven, Sinnzusammenhänge, zu vermitteln, die befähigen, selbst neue Problemstellungen zu konstruieren. Damit wäre es weniger eine Aufgabe von Führungskräften, Komplexität durch eine Reduktion der Möglichkeiten zu bewältigen, als vielmehr einen Kontext zu schaffen, in dem neue Wirklichkeiten erfunden oder generiert werden können" (Management 1986,62). Denselben Gedanken formuliert Heinz von Foerster in seinem kritischen Imperativ so: ,,Handle stets so, daß weitere Möglichkeiten entstehen" (Wirklichkeit 1981, 60). Damit ist automatisch die Basis für Toleranz gegeben: "Was wäre das Weiterleben eines Menschen, der es fertigbrächte, ganz konsequenterweise seine Welt als seine eigene Konstruktion zu sehen? Dieser Mensch wäre ... vor allem tolerant. Wer erfaßt hat, daß seine Welt seine eigene Erfindung ist, muß dies den Welten seiner Mitmenschen zubilligen" (Watzlawick, Wirklichkeit 1981, 311). Zu dieser Ethik der Toleranz paßt nicht, soziale Systeme nur über die Zementierung von Erwartungen und die damit verbundene Selektierung von Menschen (Erziehungssystem) zu defmieren, Handlungen auf die Realisierung vorhandener (traditioneller, konservativer) Möglichkeiten festzulegen, das Recht allein auf das polarisierende Schema Recht / Unrecht zu reduzieren. Die Rechtspraxis kennt durchaus andere Codes, die sich z. B. im Wegsehen, in der Selektion der Daten, im Komprorniß, im Aushandeln, in der sog. "Gnade" usw. ausdrücken (vgl. Popitz, Nichtwissen 1968; zur "Selektivität" vgl. Sack, Normen 1975,37; Opp, Gesetze 1975,214; Lüderssen, Dunkelziffer 1975, 244; Hasserner, Strafrecht 1981, 75). 118 Maturana, Varela, Erkenntnis 1987: "Kohärenz und Harmonie in den Beziehungen zwischen den interagierenden Bestandteilen eines menschlichen sozialen Systems gehen auf die Kohärenz und Harmonie des Wachstums seiner Mitglieder im Prozeß des sozialen Lemens im System zurück."

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ken für die gefräßige Reduktionsarbeit zur Verfügung stellt. Allein hierin erfüllt sich ihre Funktion: Die Gesellschaft dient der Erhaltung der Kommunikation. 119 Als Konstruktivist ist Luhmann natürlich frei, den Strom der Kommunikation wie das endlose Mahlen unförmiger Steine zu beschreiben. Aber ich denke, man wird der einzigartigen Kreativität des Menschen gerechter, wenn man vor dem Selektionsprozeß die Produktion dessen, was zur Unterscheidung und zur Unterscheidung weiterer Unterscheidung führt, in das Zentrum der kognitionstheoretischen Erörterung rückt. 120 Dann ist rasch einsichtig zu machen, daß nicht die Kommunikation Unterscheidungen produziert, sondern der Mensch als Produzent von Kommunikation. Ist dieser einfache Sachverhalt anerkannt, dann dürfte es nicht schwerfallen, ein weiteres zu akzeptieren: Die Gesellschaft dient nicht der Erhaltung der Kommunikation, sondern der Erhaltung der menschlichen Verwirklichung. Setzt man als Komponenten des Sozialsystems Kommunikationen, so kann man der Implikation nicht entrinnen, daß die Menschen der durch Rollen, Institutionen und Normen vermittelten Kommunikation untergeordnet werden. In diesem Fall gewinnen die Sozialsysteme jene sonderbare Autonomie, derzufolge Menschen nur noch Systemfunktionen zu erfüllen haben. Faßt man hingegen Menschen als Komponenten von Sozialsystemen, dann beinhaltet die Erhaltung des Systems die Unterordnung der Rollen, Institutionen und Handlungen unter die Verwirkli119 Oder wie Lüderssen sagt "Ordnung um der Ordnung willen" (" W är' der Gedank' .. 1986, 349). Denselben Überhang vermutet Naucke: "Sollte es Zufall oder Erkenntnis sein, daß die soziobiologischen Lösungen für rechtliche Einzelheiten im Bereich des status quo, von Ruhe und (irgendeiner) Ordnung liegen?" (Literaturbericht 1985, 559; hierzu auch Literaturbericht 1990, 80). 120 Es soll mit dieser Aussage nicht positivistisch argumentiert werden. Entscheidend bleibt letztlich immer, was der Beobachter will. Er muß sich darüber im klaren sein, daß ein System (Mensch, Gesellschaft) kein Ding ist, das wirklich existiert, sondern eine Liste von Variablen, die er zusammenstellt, um ein Problem zu formulieren und zu verstehen, über das er bereits Vorentscheidungen getroffen hat. Das beobachtete System ist also niemals das Ganze, sondern immer nur, was der Beobachter im Moment für bedeutsam hält. Das Ziel des Beobachters ist es folglich nicht, das System zu verstehen, sondern seinen Untersuchungsgegenstand auf eine Weise zu sehen, daß er Antworten auf sein Problem erhält. Solange bis eine für ihn nützliche Lösung gefunden ist, wird er seine Vorstellung von dem betreffenden System modifizieren (vgl. HerwigLempp, System 1987,5). Unsere Position ist dem Gedanken der Aufklärung verpflichtet und sucht daher Antwort auf die Frage, wie das Individuum aus der Unmündigkeit, in die ihn sein eigenes Kommunikationssystem gebracht hat, befreit werden könnte. Dieser Position entspricht das verständliche Interesse, die sozialen Systeme nicht als autopoietische Systeme zu sehen: Als solche würden sie keine befriedigende Antwort auf das selbstgestellte Problem zulassen. Anders liegen offensichtlich die Dinge bei Luhmann. Sein Interesse gilt dem reibungslosen Funktionieren der sozialen Systeme. Infolgedessen sieht er in ihnen nur anschlußfähige Kommunikationsprozesse (Themen) ablaufen, die der "subjektive Faktor" stören müßte. Luhmann muß soziale Systeme als "abgeschlossen" beobachten, um sie nicht als von Menschen abhängig zu sehen, unsere Position muß den Menschen als abgeschlossen betrachten, um ihn nicht gänzlich der Gesellschaft auszuliefern. Keine der beiden Standpunkte ist "wahr" oder ,,real". Selbst die Frage der ,,Nützlichkeit" hängt vom Standpunkt (Zweck) ab. Also muß man sich entscheiden.

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chung der Menschen, die das System konstituieren. 121 In diesem Fall korrespondiert der vollen Autonomie der Komponenten eine nur relative Autonomie des Sozialsystems. Denn die autopoietisch operierenden Individuen produzieren sich durch ihre sprachlichen Koppelungen nicht selbst, sondern etwas von sich selber verschiedenes: nämlich Themen. Daraus folgt zwingend, daß das über die Interaktionen sozial Produzierte nicht selbst ein autopoietisches System sein kann. Es ist vielmehr ein allopoietisches System, eine Maschine. Als Maschinen sind Sozialsysteme von ihren Produzenten abhängig. Infolgedessen erlangen sie nur insoweit Autonomie, als ihnen die Produzenten im Interesse ihrer Selbsterhaltung Spezialsemantiken zubilligen, die halbwegs selbstreferentiell und damit operativ geschlossen operieren. 122 Mißlingt die Koppelung der kognitiven Strukturen, wird die "Zustimmung" zur Spezialsemantik des Sozialsystems also verweigert, so entsteht ein Zwangssystem, in dem einzelne Individuen ihre Realitätsdefinition gewaltsam durchsetzen. In solchen Systemen handeln die widerstreitenden Mitglieder nicht im Rahmen sozialer Koppelung; sie interagieren, aber sie kommunizieren nicht. Es sind dies die Systeme, von denen man sinnvollerweise sagen kann, daß in ihnen Komplexität reduziert wird. Reduziert wird die Komplexität ihrer Mitglieder. Gesellschaften dieses Typs organisieren sich wie Metazeller, indem sie die Autonomie der Komponenten minimieren und die institutionalisierte Interaktion maximieren. Dadurch mögen sie sich den Anschein von autopoietischen Systemen geben. Offensichtlich hat sich Luhmann von diesen Systemen inspirieren lassen, als er der Umwelt stets mehr Möglichkeiten als dem Individuum attestierte. In zwangsstabilisierten Systemen ist diese Beobachtung sicher zutreffend. Aber auf ihr eine allgemeine Theorie sozialer Systeme zu gründen, heißt Komplexität auf eine Kognition zu reduzieren, die vom Individuum nur seine Anschlußflihigkeit ans System übrigläßt.

121 Maturana (Grundkonzepte 1987,9) weist in diesem Zusammenhang auf die Verantwortung dessen hin, der mit seinen Unterscheidungen "Wirklichkeit" schafft: "Ich behaupte auch, daß ein System nur in der Unterscheidung durch einen Beobachter existiert und daß der Beobachter an der Erhaltung des jeweiligen Systems, das er durch eben diesen Akt unterscheidet, beteiligt ist. Wenn wir daher sagen, daß ein soziales System durch Kommunikationen definiert ist, und ein System unterscheiden, das durch Kommunikation konstituiert ist, dann tragen wir mit unserem Verhalten als Beobachter zu der fortlaufenden Negation derjenigen Menschen bei, die es verwirklichen." Zur wissenschaftlichen Verantwortung vgl. Maturana, Wissenschaft 1990, 107. 122 Wir leugnen also keinesfalls, daß es soziale Systeme gibt. TImen wird - wie z. B. dem Rechtssystem - eine relative Autonomie zugestanden (vgl. hierzu weiter unten ausführlich). Aber sie bleiben bei aller Ausdifferenzierung ihrer Organisation, ihrer Sprache und ihrer Verfahrensweisen triviale Maschinen: Sie erfüllen nicht für das Ganze (Gesellschaft), sondern für die Teile (Mitglieder) einen jeweils angebbaren Zweck.

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. 11. Ordnungstypen 1. Handlungsbezugsrahmen a) Konzept der funktionalen Differenzierung

Nachdem geklärt ist, daß Gesellschaften keine autopoietischen Systeme sind, ist zugleich dargelegt, daß nur Individuen als Bezugseinheiten für die Konstruktion sozialer Systeme in Betracht kommen. Wenn es die Individuen sind, die durch ihr Handeln die Gemeinschaft konstituieren, dann bedarf die Erklärung des gesellschaftlichen Zusammenhangs einer Theorie, die das Entstehen von Ordnung aus dem Blickwinkel menschlicher Handlungen beschreibt. 1 Erforderlich ist also die Konstruktion eines Handlungsbezugsrahrnens, der alle Grundelemente umfaßt, aus denen sich jedes Handeln zusammensetzt. Wenn jede kleinste Handlungseinheit nur als eine bestimmte Konkretisierung dieser Grundelemente denkbar ist, kann auch soziales oder institutionalisiertes Handeln nur als eine Variante des Grundmusters begriffen werden. Soll nicht von vornherein ein Element isoliert und mit alleiniger Erklärungskraft ausgestattet werden, muß infolgedessen ein umfassendes Paradigma im Sinn einer allgemeinen Handlungstheorie ins Auge gefaßt werden. Eine solche Theorie muß vor allem in der Lage sein, die Spannung zwischen individualistischen und kollektivistischen Ansätzen, zwischen Positivismus und Idealismus, zwischen Theorien der sozialen 1 Eine solche Handlungstheorie muß sich natürlich auch als ein normativ-kritischer Leitfaden für die zukünftige Entwicklung der modemen Institutionen bewähren. Auch das dürfte ein Vorzug der Idee einer Ordnung sein, die auf erkenntnisbiologischen Grundlagen konzipiert und die zugleich darauf bedacht ist, nicht hinter den Fortschritt der immer noch bedeutendsten Handlungs- und Gesellschaftstheorie, nämlich der von Parsons, zurückzufallen. Ich werde im folgenden die Theorie, die die Ansätze von Maturana und Parsons integriert, eine kognitive Theorie nennen. Soweit die Interaktionen von Individuen im Vordergrund stehen, soll von "kognitiver Handlungstheorie" gesprochen werden. Soweit sich die Betrachtung vorrangig auf die Interpenetration von sozialen Systemen bezieht, soll das theoretische Konstrukt "kognitive Ordnungstheorie" heißen. Es wird sich zeigen, daß diese Kognitionstheorie, die Handlung und Gesellschaft zusammenbringt, einen Weg aufweist, den Skeptizismus hinsichtlich der zukünftigen Möglichkeiten von individueller Freiheit und sozialer Ordnung zu überwinden. Dieser Skeptizismus liegt in der Logik der Rationalisierungstheorie, die von Max Weber zu Ende gedacht wurde und die im systemtheoretischen Gewande als Ausdifferenzierung sozialer Systeme wieder auflebt. Das folgende ist demnach über weite Strecken zugleich als Kritik an einem Rationalitätsverständnis der Moderne zu lesen, das über der unbestreitbaren Zweckbezogenheit und Ökonomisierung des Handeins die ebenso unbestreitbaren normativen und symbolischen Grundlagen des Handelns vernachlässigt hat. Auf dem Wege dieser Kritik haben mich vor allem die Arbeiten von Robert Münch angeleitet (vgl. Handeln 1982; Moderne 1984; Kultur 1986). Daß ich seine zentralen Begriffe "voluntaristische Handlung" und "voluntaristische Ordnung" nicht übernehmen konnte, resultiert aus deren bedenklicher Nähe zum Konzept der "Willensfreiheit", das Münch ohne ModifIkation von Talcott Parsons übernommen hat. In der Sache wirkt sich dieser "idealistische" Einschlag weder bei Parsons noch bei Münch gravierend aus, da anderen Handlungsfaktoren letztlich mehr Gewicht eingeräumt wird.

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Stabilität und Theorien des sozialen Wandels, zwischen Handlungstheorie und Systemtheorie in sich aufzunehmen. 2 Wie dringlich eine derartige umfassende Handlungstheorie ist, zeigen die perspektivischen Verkürzungen, mit denen gewöhnlich die Entwicklung moderner Gesellschaften charakterisiert wird. Diesen Sichtweisen ist gemeinsam, daß sie aus dem Handlungsbezugsrahmen einzelne Elemente herausbrechen und verabsolutieren. So kann man in der Entwicklung moderner Gesellschaften im wesentlichen die Entfaltung des Kapitalismus sehen. Oder man kann die Durchsetzungskraft einer zentralen Sanktionsinstanz als den Kern der Herausbildung der Modeme verstehen. Man kann aber auch den Prozeß der Rationalisierung und damit die Vernunft in den Mittelpunkt TÜcken. Ebenso kann man den Akzent auf die Institutionalisierung von Normen legen. Diesen Konzeptionen liegen jeweils unterschiedliche Orientierungstypen oder Handlungsprinzipien zugrunde: (a) das ökonomische Handeln, das dem Optimierungsprinzip folgt, (b) das situationsgebundene Handeln, das dem Realisierungsprinzip folgt, (c) das rationale Handeln, das dem Konsistenzprinzip folgt, und schließlich (d) das normorientierte Handeln, das dem Konformitätsprinzip folgt. 3 Bevor wir diesen Handlungstypen jeweils korrespondierende Ordnungsmodelle zuordnen, sei am Beispiel der These vom Prozeß der Rationalisierung die Einseitigkeit einer die Handlungssphären von einander isolierenden Betrachtung demonstriert.

2 Die Überwindung idealistischer und positivistischer Handlungstheorien bedeutet auf objekttheoretischer Ebene vor allem die Integration rein ideeller und rein Jatalistischnaturalistischer Ordnungen. Sowohl die ideelle wie auch die positivistische Lösung werden in einer freiheitlichen und in einer zwanghaften Variante vertreten. Nach der freiheitlichen Sicht des Positivismus entspringt Ordnung dem Zufall (siehe u. a. J. Locke, Regierung 1967; Buchanan, Liberty 1975), die Zwangsordnung folgt aus kausaler Determination durch äußeren Zwang (siehe Hobbes, Leviathan 1966; Coleman, Power 1974). Die freiheitliche Ordnung des Idealismus ergibt sich aus der Rationalität allgemeingültiger Prinzipien (siehe tendenziell Kant, Praktische Vernunft 1967; Schwemmer, Praxis 1980). Die zwanghafte Ordnung entsteht durch gemeinschaftlichen Konsens und bedeutet inneren Zwang (siehe z. B. Rousseau, Gesellschaftsvertrag 1971; auch Schütz, Luckmann, Lebenswelt 1979, deren Phänomenologie zumindest einen impliziten Konformismus enthält; siehe auch die individualistische Wendung der amerikanischen Ethnomethodologie z. B. bei Garfmkel, Ethnomethodology 1976). Komplementär dazu ist das Kennzeichen der Handlungstheorien, auf denen die Ordnungsmodelle beruhen, die einseitige Reduktion ihres Erklärungsprogramms auf besondere Handlungsfelder. So reduzieren der symbolische Interaktionismus und die Kommun~ationstheorie die Erklärung von Handeln auf reines Sinnverstehen, die Neue Politische Okonomie reduziert auf Situationsverstehen, die Austauschtheorie auf eine Kombination der Erklärung durch adaptive Lemgesetze mit Situationsverstehen, die Verhaltenstheorie auf die Erklärung durch adaptive Lemgesetze, der orthodoxe Historische Materialismus auf kausale Erklärung, die Konflikt- und Machttheorie auf eine Kombination von Sinnverstehen und Erklärung durch natürliche Selektion, die funktionalistische Systemtheorie auf teleonomische Erklärungen und die Soziobiologie auf Erklärung durch natürliche Selektion (vgl. hierzu Münch, Handeln 1982,237). 3 Vgl. MÜDCh, Moderne 1984,617.

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Spätestens seit Max Weber gilt die funktionale Differenzierung in relativ unabhängige Sphären des Handeins als das signifikanteste Charakteristikum der modernen Gesellschaften. 4 Die Ausdifferenzierung in funktional getrennte Sozialbereiche soll das Ergebnis des zivilisatorischen Prozesses der Rationalisierung sein. Gemäß der Logik dieser Idee bilden die verschiedenen Handlungssphären eine immer stringentere Eigengesetzlichkeit aus. Am Ende der Rationalisierungsentwicklung zerfällt dann die Gesellschaft in Sphären, die außer dem Operationsmodus der Eigenlogik nichts mehr gemeinsam haben. Solche Sphären des Handelns erinnern an die operationale Geschlossenheit autopoietischer Systeme. Sie sind autonom, weil die in ihnen ablaufenden Kommunikationen sich an selbstkonstruierten Codes und Programmen orientieren. Sie sind von ihrer Umwelt unabhängig, weil sie in ihrer Tiefenstruktur eine Selbststeuerung ausgebildet haben, die keiner Brücke zu anderen, nach eigenen Gesetzen rationalisierten Sphären bedarf. 5 Zu welcher Konsequenz der reine Gedanke der Selbstbezüglichkeit sozialer Systeme führt, hat Richard Münch deutlich ausgemalt: 4 M. Weber, Religionssoziologie 1972, 1-16, 237-275, 536-573; Wissenschaftslehre 1973,151-156,505-508,593-613; Politische Schriften 1971, 142; Wirtschaft 1976, 348367; Schluchter, Rationalisierung 1976, 256; Rationalismus 1979, 104; Tenbruck, Weber 1975,663; Habennas, Kommunikatives Handeln 1981, Bd. 1,225, Bd. 2, 229, 352. Die Anfänge der Theorie gesellschaftlicher Differenzierung reichen weiter zurück (vgl. zur Theoriegeschichte Luhmann, Differenzierung 1985). So hatte sich Georg Simmel früh mit diesem Thema beschäftigt (Differenzierung 1890), Emile Durkheim hat der sozialen Differenzierung eines der Hauptwerke gewidmet (Arbeit 1977). Zur Kritik siehe etwa Kalberg, Rationalität 1981,9; Levine, Rationality 1981,5; Münch, Handeln 1982,487; Moderne 1984, 11; Kultur 1986, 12. 5 Daß ein Autor wie Luhmann, der soziale Systeme als autopoietische Systeme beschreibt, ein besonderes Interesse am Begriff der sozialen Differenzierung hat, leuchtet ein; vgl. z. B. Soziale Systeme 1970, 113; Evolution 1976, 284; Gesellschaftsstruktur 1980; Differenzierung 1985. Er bezeichnete ihn noch jüngst als für die soziologische Theoriebildung "unersetzbar" (vgl. Systemdifferenzierung 1989, 1). An anderer Stelle sagt er: "Begriffe wie Differenzierung und Komplexität sind für die Beschreibung der modemen Gesellschaft nach wie vor unentbehrlich" (Gesellschaftliche Differenzierung 1982,2). Freilich müsse heute Differenzierung streng als Systemdifferenzierung aufgefaßt werden. Damit würde die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung an den Fortschritten auf dem Gebiet der allgemeinen Systemtheorie teilnehmen. Die wichtigsten Fortschritte beträfen die Beziehungen zwischen System und Umwelt und die Einsicht, daß Systeme nur als selbstreferentielle Systeme ausdifferenziert werden können. Im einzelnen führt Luhmann dann zu den systemtheoretischen Instrumenten der gesellschaftlichen Differenzierung aus: "Da Systeme stets in Unterscheidung zu einer Umwelt gebildet werden, kann Systemdifferenzierung nur heißen, daß in ein System wiederum eine Unterscheidung von System und Umwelt eingeführt wird. Es werden Teilsysteme gebildet, für die dann der Rest des Systems eine ,interne' Umwelt ist. So gehört das politische System zur Umwelt des Wissenschaftssystems, während umgekehrt das Wissensehaftssystem zur Umwelt des politischen Systems gehört ... Auf diese Weise multipliziert sich die Gesellschaft in sich selbst, sie gliedert sich in eine Vielzahl von System / Umwelt-Perspektiven. Jede einzelne Differenz von System und Umwelt rekonstruiert, beides zusammengenommen, die Einheit des Gesamtsystems (im Unterschied zu dessen äußerer Umwelt); aber da es innerhalb einer Gesellschaft eine Vielzahl solcher Möglichkeiten gibt, kommt die Einheit des Systems im System mehrfach vor. Die daraus folgenden Probleme der Reflexion der Einheit des Systems im System beschäftigen heute die

1I.0rdnungstypen

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"In diesem vor allem im Anschluß an Max Weber vertretenen Verständnis von Modernisierung müßte Rationalisierung die reine Ökonomisierung und die Ausscheidung jeglicher ökonomiefremder Elemente aus dem Wirtschaftshandeln bedeuten, die reine Politisierung im Sinne einer machiavellistischen Machttechnik und die Aussonderung jeglicher politikfremder Elemente aus der Politik, die reine Intellektualisierung der Kultur im Sinne von kritischer Hinterfragung und Entzauberung jedes Gültigkeitsanspruchs und die Ausblendung jeglicher nichtintellektueller Elemente, die Formalisierung der Kunst zur L'art pour l'art ohne jeglichen Inhalt, die reine Solidarisierung und die Entfernung jeglicher nichtsolidarischer Elemente aus dem Gemeinschaftshandeln, das sich dementsprechend aus der Öffentlichkeit in die privaten Bereiche kleinster Freundeskreise zurückziehen muß." 6 b) Konzept der Interpenetration Münch legt desweiteren ausführlich dar, inwiefern das Verständnis von Rationalisierung als reine Entfaltung der Eigengesetzlichkeit von Handlungssphären mit der Realität der modemen Gesellschaften in erhebliche Kollision gerät. Nach seiner Auffassung zeigt ein interkultureller Vergleich, daß man außerhalb der modemen westlichen Gesellschaften sehr viel häufiger den ausdifferenzierten Handlungssphären begegnet als in unseren Sozialsystemen, die eher dadurch gekennzeichnet sind, daß sich die unterschiedlichen Handlungssphären durchdringen. Infolgedessen sei der Unterschied der modemen Institutionen zu vormodernen Gesellschaften nicht durch die eigengesetzliche Rationalisierung von Sphären, sondern durch deren Verknüpfung bzw. Interpenetration zu erklären. 7 Interpenetration meint hier eine Form der geregelten wechselseitigen Beeinflussung unter Erhaltung der Eigenart der Systeme und der Spannung zwischen den Systemen. 8 Im Unterschied zu diesem geregelten Austausch der Sphären in der westliallgemeine Theorie selbstreferentieller Systeme, sie sind zugleich diejenigen logischen und theoretischen Probleme, die die Soziologie lösen muß, wenn sie ... die Gesellschaft als Ganzes beschreiben will" (Gesellschaftliche Differenzierung 1989,4). Luhmann hat hier seine eigene Problemlage geschildert: Wie kann man an der Einheit der Gesellschaft festhalten, nachdem man die Autonomie der Teilsysteme ins äußerste Extrem, nämlich in diejenige der Autopoiese, getrieben hat. Münch bemerkt dazu, daß die Vorstellung der radikalen Ausdifferenzierung der Subsysteme der Realität der modemen Gesellschaften erheblich widerspricht: Das gilt auf jeden Fall für die Herausbildung der institutionellen Ordnungen im interkulturellen Vergleich (vgl. dazu Münch mit zahlreichen Hinweisen auf Max Weber: Kultur 1986, 11). 6 Münch, Moderne 1984, 12. 7 Mit dem Begriff der Interpenetration hat Parsons zunächst das Interesse der klassischen Soziologie an der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft formuliert. Später hat er ihn auf die wechselseitige Beeinflussung sozialer Systeme ausgedehnt. 8 Münch (Handeln 1982, 112) bezeichnet Interpenetration als einen Vorgang, ,,in dem ein (kollektiver) Akteur so in die Umwelt hineinwirkt und die Umwelt so in das Handeln des (kollektiven) Akteurs, daß sich beide gegenseitig an den Randzonen umformen, ohne ihren Kern gegenseitig zu verändern. Je stärker die Randzonen ausgeprägt sind, um so mehr bilden sie abgrenzbare Subsysteme, die zwischen (kollektivem) Akteur und Umwelt vermitteln. Je enger sie selbst miteinander verbunden sind, um so mehr formen sie zusammen ein Subsystem, das Aspekte des (kollektiven) Akteurs und Aspekte 18*

276

Kap. 3: Soziologie der Kognition

chen Modeme ist für "primitive" Gesellschaften die Dominanz einzelner Systeme über andere typisch, so z. B. kann das steuernde System der Gemeinschaft das dynamisierende System der Wirtschaft beherrschen; umgekehrt kann die Wirtschaft die übrigen Systeme dominieren. Im traditionalen China etwa findet man eine Anpassung der Ordnung an die ökonomischen Interessen; 9 Formen der gegenseitigen Isolierung der Handlungssphären sind mit ausgeprägter Machtstruktur wiederum für das traditionale Indien typisch. \0 Greifen wir als Beleg für die Interpenetrationsthese das ökonomische System des modemen Kapitalismus heraus. Es war überraschenderweise Max Weber, der Gewährsmann der Ausdifferenzierungshypothese, der in seinen vergleichenden religionssoziologischen Studien der reinen Ökonomisierung der Ökonomie den Boden entzogen hat. Il Nach Weber unterscheidet sich der rationale Kapitalismus des Okzidents von allen nichtwestlichen Formen des Kapitalismus durch die Herausbildung einer nur ihm eigenen ökonomischen Ordnung, d. h. durch die Bindung des ökonomischen Handeins an allgemein-verbindliche Normen. Auf diese Weise wurde das Wirtschaftshandeln reguliert und berechenbar. Das Kennzeichen des westlichen Kapitalismus ist also nicht die eigengesetzliche Differenzierung, sondern die Verbindung mit einem nicht-ökonomischen Element: mit der normativen Strukturierung. Eine solche normative Selbstbindung kann nicht aus der Eigenlogik ökonomischen Handeins heraus entstehen. Würde der ökonomischen Nutzenkalkulation freier Lauf gewährt, könnte es keine normative Begrenzung geben. 12 der Umwelt in sich vereinigt." Nehmen wir an, der kollektive Akteur sei eine Regierung, die einen Haushaltsplan aufstellt, der vom Parlament genehmigt wurde. Die Entscheidungen der Regierung beruhen auf einer politischen Struktur, nämlich auf der Mobilisierung legitimer Macht im Rahmen einer Herrschaftsstruktur. Das heißt allerdings nicht, daß das politische System von den übrigen sozialen Systemen "abgeschlossen" sei oder daß es die übrigen Systeme völlig dominiere. Die Entscheidungen des Haushaltsplanes bedürfen einer kollektiven Verbindlichkeit, damit sie in die Tat umgesetzt werden können. Also sind politische Aktionen auf weitere Voraussetzungen angewiesen: Es müssen materielle Ressourcen, kulturelle Legitimationen, kollektive Solidarität und individuelle Motivationen mobilisiert werden. ,,Nur soweit diese verschiedenen Ressourcen tatsächlich zustandekommen, fmdet kollektives Handeln statt, und nur in diesem Falle kann auch von der Existenz eines Kollektivs gesprochen werden. Eine Gesellschaft ist ein Kollektiv, das in diesem Sinne kollektiv handeln kann und unter allen vergleichbaren Kollektiven die größte Reichweite kollektiven Handeins besitzt" (MÜDCh, Handeln 1982, 110). 9 Bei Max Weber können wir nachlesen, daß es in China weit mehr als im modemen Okzident eine Sphäre des rein utilitaristischen kapitalistischen Gewinnstrebens ohne jede normative Kontrolle gegeben hat. Vgl. Weber, Religionssoziologie 1972,373,518; Wirtschaft 1976, 378. 10 Nach Weber ist für Indien die Ausdifferenzierung einer machiavellistischen Machtpolitik und eine scharfe Diffenzierung der Sphären mit der Entfaltung ihrer inneren Eigengesetzlichkeit kennzeichnend; vgl. Weber, Religionssoziologie 1972, 412, 439. Anders im westlichen Kapitalismus, wo die Verflechtung und Überlagerung von Teilsystemen die Regel ist, wie Prisching am Beispiel des Arbeitsmarktes, der Versicherungen und des Wohnungsmarktes gezeigt hat (Regeln 1987, 177). 11 Weber, ebd. 4, 30, 512.

II. Ordnungstypen

277

Um zur normativen Limitierung des ökonomischen Handeins zu gelangen, bedarf es der Bindung der ökonomischen Interessenten an eine Gemeinschaft, an gemeinschaftliche Konsensbildung, an die kollektive Zielsetzung der Wirtschaftspolitik, an den Zwang zur rationalen Rechtfertigung in sozial-kulturellen Diskursen. 13 Insofern ist für den westlichen Kapitalismus konstitutiv, daß die ökonomische Nutzenerwägung mit Prozessen der sozial-kulturellen Steuerung des Handeins, mit der normativen Kontrolle durch Vergemeinschaftung und mit der kollektiven Zwecksetzung in politischen Entscheidungsverfahren verknüpft ist (zur inneren Struktur der sozialen Subsysteme vgl. Übersicht 11). Münch sieht die Besonderheit dieser Beziehung des ökonomischen mit nichtökonomischen Sphären des Handeins darin, daß sie nicht einseitig verläuft. Die Handlungssphären durchdringen sich gegenseitig und "schaffen dadurch in den Zonen ihrer Interpenetration Subsysteme, die Elemente verschiedener Systeme in sich aufnehmen".14 12 Wichtiges Kennzeichen dieser normativen Selbstbindung ist die Aufhebung der Differenzierung von Binnen- und Außenmoral durch die Herausbildung einer Marktgemeinschaft aller Tauschpartner als Träger einer normativen Marktordnung. Dazu Münch im Anschluß an Max Weber: "Die Markttauschpartner übertragen hier das Gefühl der Solidarität der ursprünglichen Sippengemeinschaft auf ihre über diese Grenzen hinausgehenden Beziehungen untereinander. In der umgekehrten Richtung begrenzt die Orientierung am Markttausch die Solidarität der Marktgemeinschaft auf die gegenseitige Verbundenheit in der Erhaltung der Tauschregeln. Die Marktgemeinschaft ist solidarisch in der Wahrung der Marktordnung. Dadurch werden die sozialen Beziehungen versachlicht und der ursprünglichen Brüderlichkeit beraubt. Marktgemeinschaft und Marktordnung formen in diesem Sinne ein ökonomisches Subsystem, das ökonomische Nutzenorientierung und normative Steuerung in sich vereinigt und die Interpenetration beider Orientierungen des Handeins aufrechterhält" (Moderne 1984, 14). 13 Mit dem Hinweis auf Gemeinschaft, kollektive Entscheidungsbildung und diskursive Rechtfertigung sind weitere soziale Subsysteme genannt, die neben der Wirtschaft existieren. Sie unterscheiden sich durch die Struktur der sozialen Interaktion sowie durch entsprechende generalisierte Medien der sozialen Handlungssteuerung (vgl. zur folgenden Auflistung Parsons, Politics 1969,352,405,439; Soziale Systeme 1976, 161; Social Systems 1977; zu Parsons Medientheorie vgl. Habermas, Handlung 1979, 68; ders., Kommunikatives Handeln 1981, 195). hn einzelnen werden von Parsons aufgezählt: - Das ökonomische System wird durch Tauschhandein bestimmt. Das ökonomische Handeln wird durch Geld gesteuert. Es erfüllt die Funktion der Allokation von Ressourcen und Präferenzen als eine Konkretisierung der Funktion der Anpassung und der Öffnung des Handlungsspielraums. Das Wertprinzip des Geldes ist Nützlichkeit. - Das politische System ist auf Herrschaft begründet. Das politische Handeln wird durch Macht gesteuert. Es erfüllt die Funktion der kollektiven Entscheidungsbildung als eine Konkretisierung der Zielverwirklichung und der Spezifikation des Handlungsspielraums. Das Wertprinzip ist politische Effektivität im Sinne von Entscheidungsfähigkeit. - Das sozial-kulturelle System ergibt sich aus Diskursen, die mit Argument (Wertcommitrnents) geführt werden. Es erfüllt die Funktion der sozial verbindlichen Symbolkonstruktion als eine Konkretisierung latenter Strukturen und der Generalisierung des Handlungsspielraums. Das Wertprinzip ist die Integrität von Symbolmustern. - Das Gemeinschajtssystem ist auf gegenseitige Verbundenheit gegründet, die durch Normen (Einfluß) gesteuert wird. Es erfüllt die Funktion der Solidaritätserhaltung als Konkretisierung der Funktion der Integration und Schließung des Handlungsraums. Das Wertprinzip von Einfluß ist die Solidarität der Gemeinschaftsmitglieder (vgl. hierzu auch die Übersicht 11).

Kap. 3: Soziologie der Kognition

278

Übersicht 11: Subsysteme der Gesamtgesellschaft.

Ökonomie

Politik

Gemeinschaft

Kultur

Funktion

Allokation von Ressourcen und Präferenzen

Kollektive Entscheidung

Solidaritätserhaltung

Verbindliche Symbolkonstruktion

Verhaltenssystem (Handlungsspielraum)

Anpassung und Öffnung des Handlungsspielraums: höchste Symbolkomplexität und höchste Handlungskontingenz

Zielverwirklichung und Spezifikation des Handlungsspielraums: höchste Symbolkomplexität und niedrigste Handlungskontingenz

Integration und Schließung des Handlungsspielraums: niedrigste Symbolkomplexität und niedrigste Handlungskontingenz

Generalisierung des Handlungsraums: niedrigste Symbolkomplexität und höchste Handlungskontingenz

Medium

Geld

Macht

Normen (Einfluß)

Argumente (Wertcommitments)

Wertprinzip

Nützlichkeit des Geldes

Entscheidungsfähigkeit

Solidarität der Mitglieder

Integrität von Symbolmustern

Koordinationsstandard

Solvenz von Unternehmen

Akzeptanz von Entscheidungen

sozialer Konsens

Konsistenz von Symbolsystemen

Subsysteme z. B. der Politik

Politischer Austausch

Verwaltung

Verfassung

Recht

Damit wird gesagt, daß die modernen westlichen Gesellschaften eine stärkere Interpenetration von unterschiedlichen Handlungssphären und eine deutlichere Integration von verschiedenen Subsystemen als die vormodernen und nichtwestlichen traditionalen Gesellschaften aufweisen. Nicht gesagt wird, daß es in der Realität der modernen Gesellschaften keine Verselbständigungen und Kon14

Münch, Moderne 1984, 14.

11. Ordnungstypen

279

flikte zwischen den Sphären des HandeIns gäbe. 15 Aber die beobachtbaren Friktionen oder Autonomisierungen der sozialen Systeme rechtfertigen weder die Rede von autopoietischen Ordnungen, noch widerlegen sie die interkulturelle Betrachtung. Wie Max Weber gezeigt hat, besteht außerhalb des Okzidents eine scharfe Trennung zwischen der Binnen- und Außenmoral. 16 Innerhalb des Gemeinschaftshandelns herrschen die Normen der Brüderlichkeit und der Pietät. Gefeilscht und gerechnet, getäuscht und übervorteilt wird nur außerhalb der Sippengemeinschaft. In der Sphäre des ökonomischen Tausches gibt es keine Normen. Eine reinere Verwirklichung der Differenzierung von Eigengesetzlichkeiten kann man, sich kaum vorstellen. In der rigiden Trennung von ~innen- und Außenmoral zeigt sich in aller Schärfe die Solidarisierung der Gemeinschaft und die Ökonomisierung der Wirtschaft. Nach Max Weber ist es dagegen die Durchdringung von Gemeinschaft und Wirtschaft, die den rationalen Kapitalismus ausmacht. Das Gemeinschaftshandeln nimmt in sich ökonomische Sachlichkeit und formale Rechtlichkeit auf. Andererseits werden die Begrenzungen der Sippenmoral zugunsten des ethischen Universalismus aufgebrochen. Die reinen Formen des ökonomischen und des gemeinschaftlichen HandeIns werden so durch Mischformen ersetzt. 17 Dieselbe wechselseitige Durchdringung der verschiedenen Handlungssphären ließe sich auch in den Subsystemen der Wissenschaft, der Politik, der Kultur usw. nachweisen. Jedesmal ist nicht die Eigenlogik oder Selektivität eines Hand15 Wir haben es bei den angesprochenen sozialen Subsystemen mit institutionellen Mustern zu tun, die nicht zufällig auftreten und wieder verschwinden. Sie bilden vielmehr ein relativ überdauerndes Muster, das als Tiefenstruktur dem sich wandelnden Strom des konkreten Handeins zugrunde liegt. Dieses Muster gibt dem wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Handeln den Rahmen vor. Es ist also mit dem konkreten Handeln nicht deckungsgleich, aber es ist ein normativer Maßstab, an dessen Geltung sich die Akteure orientieren. Wenn sich Soziologen mit den Institutionen moderner Gesellschaften befassen, dann erfahren sie etwas über regelmäßig auftretendes Handeln, über Muster des Handelns, die dem chaotisch erscheinenden Alltagshandeln eine dauerhafte Form verleihen. In diesem Bemühen kann freilich der Blick für die Einheit des Gesamtsystems, für die Interpenetrationen der Subsysteme verlorengehen. Dann sieht man einzelne gesellschaftliche Sphären nur noch in Autonomisierung und Kolonialisierung verstrickt, dann verselbständigen sich Themen wie ,,Politisierung des Rechts" oder "Verrechtlichung der Politik". Wird in einer solchen Diskussion außer acht gelassen, daß die Interpenetration moderner Institutionen eine gegenseitige Durchdringung geradezu erfordert, dann hat man sich des Maßstabs entschlagen, von dem aus man etwaige Fehlentwicklungen kritisch beurteilen kann. Hält man demgegenüber von vornherein eine Verrechtlichung, Ökonomisierung oder Kulturation der Politik für falsch, dann redet man einer reinen Politisierung der Politik und damit der Diktatur das Wort. Ein solcher politischer Zustand könnte dann eine Weile als autopoietisches System reflektiert werden. Vgl. Kargi, Gesellschaft 1990 b, 19. 16 Weber, Religionssoziologie 1972 (Bd. 11), 363. 17 Die Wurzel der Kultur des modernen Okzidents ist in der Religion des antiken Judentums zu sehen. Die Entwicklung und Ausbreitung des in der Jahwe-Religion enthaltenen kulturellen Codes war das Werk des Christentums, insbesondere schließlich des asketischen Protestantismus; vgl. Weber, Wirtschaftsgeschichte 1924, 303; Religionssoziologie 1972,373; Wirtschaft 1976, 369.

280

Kap. 3: Soziologie der Kognition

lungselementes am Werk, sondern umgekehrt die Verbindung der Sphären unter Herausbildung einer je besonderen Form von Gemeinschaft, Solidarität, Universalismus, Pluralismus und formaler Rechtlichkeit. 18 Infolgedessen bedeutet der Prozeß der Rationalisierung keine Reduktion von Komplexität, keine Verengung auf Eigengesetzlichkeiten und kein von Umwelten abgeschlossener, selbstreferentieller Operationsmodus. ,,Rationalität" heißt im Verständnis unserer erkenntnisbiologischen Sicht: Koevolution, Wachstum, Anreicherung mit neuen Elementen, unaufhörliche Komplexitätssteigerung, Veränderung infolge der Lernfähigkeit, Stabilität infolge der strukturellen Determination. Im aufklärerischen Sinn heißt dann ,,Rationalität": Erweiterung von Sinn-, Normen-, Expressions- und Kognitionssystemen. Damit wird nicht geleugnet, daß sich in Institutionen "eigen-sinnige" Strukturen ausbilden. 19 Aber es trifft nicht zu, daß sich nur ein einziges Handlungsmuster verfestigt und auf Dauer stellt. Als "eigensinnig" kann institutionelles Handeln stets deshalb bezeichnet werden, weil seine Aufgabe darin besteht, Regelmäßigkeiten zu erzeugen. Dies muß über Handlungsmuster bewerkstelligt werden, deren Gültigkeit die einzelnen Akteure wechselseitig erwarten. Falls ein Akteur das institutionelle Muster ablehnt, muß er entweder sein abweichendes Handeln verbergen und gegebenenfalls mit Sanktionierung rechnen, oder er muß die Illegitimität des Musters mit Hilfe übergeordneter Normen nachweisen. 20 In jedem Fall gibt das institutionelle Muster dem konkreten Handeln den Rahmen vor und offenbart sich dadurch als ein normativer Maßstab, an dessen Geltung sich die Akteure orientieren. Wollen die Akteure die spezifische Norm der Institution bewerten, bedürfen sie ihrerseits eines normativen Maßstabs, an dem sich die Annäherung an ein kulturelles Ideal oder die Defizite der institutionellen 18 Münch faßt seine Überlegungen zum Prozeß der Rationalisierung folgendermaßen zusammen: ,,Im Lichte der vorausgehenden Überlegungen können wir im Unterschied zum Verständnis von Rationalisierung als reine Entfaltung der Eigengesetzlichkeit von Handlungssphären die Rationalisierung als eine Ausstrahlung der kulturellen Rationalität auf die nicht-kulturellen Handlungssphären deuten, als eine Richtung der Interpenetration sozial-kultureller Diskurse mit dem gemeinschaftlichen, politischen und ökonomischen Handeln. In diesem Falle bedeutet die Rationalisierung der nicht-kulturellen Sphären jedoch gerade nicht die reine Entfaltung ihrer Eigengesetzlichkeiten, sondern im Gegenteil ihre sozial-kulturelle Begrenzung. Die Partikularisierungstendenz der solidarischen Vergemeinschaftung mit ihrer partikularen Lebenswelt wird dem Druck der Universalisierung unterworfen, die Machtpolitik dem Druck der rationalen Rechtfertigung durch Subsumtion unter allgemeingültige symbolische Konstrukte, die ökonomische Nutzenkalkulation dem Druck der generellen sozial-kulturellen Begründung. Handelt es sich nicht nur um eine einseitige kulturelle Durchdringung der nicht-kulturellen Handlungssphären, sondern um eine gegenseitige Durchdringung, dann wird auch die soziale Kultur an ihren Randzonen durch die nicht-kulturellen Handlungssphären geformt. Sie wird durch gemeinschaftliche Definition verbindlich gemacht, durch Autoritätsstrukturen professionalisiert und durch ökonomisch-adaptive Orientierung fürInnovationen geöffnet." 19 Vgl. zur funktionalen Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Teilsystemen wie Religion, kulturelle Semantik und Politik im Prozeß der Zivilisation: Hahn, Differenzierung 1986,214; Prisching, Regeln 1987, 154. 20 Weber, Wissenschaftslehre 1973, 441.

II. Ordnungstypen

281

Ordnung, deren Vereinseitigung oder extreme Autonomisierung messen lassen. Dabei kann es sich nur um einen Maßstab handeln, der die Grundelemente des Handeins integriert und dadurch Übergriffe aus partikularen Handlungssphären abwehrt. 21 Ein solch übergreifender Maßstab, der imstande ist, die verschiedensten Handlungsbereiche in eine zusammenhängende Ordnung zu integrieren, läßt sich aus der Perspektive einer kognitiven Handlungstheorie heraus formulieren. Zentral ist dabei die Idee, daß die in jeder Handlungseinheit vorhandenen Elemente nicht als Steinbruch für willkürliche Modellsetzungen benützt, sondern stets in das Konzept der Interpenetration überführt werden. Im Kontext der kritischen Analyse von Ordnungsmodellen erweist sich somit das Konzept der Interpenetration als eine normative Idee, mit deren Hilfe ideale Muster von Institutionen entworfen werden können. 22 Wie hat nun eine Handlungstheorie auszusehen, die als Basis für die Integration gegensätzlicher Wertideen in Betracht kommt? Die wichtigsten Hinweise liefert das handlungstheoretisch noch immer unübertroffene Werk von Talcott Parsons. Wir werden daher im folgenden den allgemeinen Handlungsbezugsrahmen in 21 Soweit hier empirisch behauptet wird, daß die modernen Institutionen unterschiedliche Strukturkomponenten vereinigen, so bezieht sich diese Behauptung in erster Linie auf einen Vergleich mit den vonnodernen und nicht-westlichen traditionalen Gesellschaften. Es wird selbstverständlich nicht behauptet, daß die Realität der modernen Gesellschaften keine Konflikte zwischen den Sphären aufwiesen. Diese absolute Feststellung beeinträchtigt allerdings nicht die Tatsache, daß der Unterschied der modernen westlichen Institutionen zu den vonnodernen und nicht-westlichen Gesellschaften nicht durch die eigengesetzliche Rationalisierung von Sphären, sondern durch deren Interpenetration zu erklären ist. Münch hat über die interkulturelle Betrachtung hinaus die Analyse moderner Institutionen weiter präzisiert, indem er die Unterschiede der Gewichte, Vereinigungen und Friktionen von Sphären auch zwischen einzelnen Gesellschaften innerhalb des modernen westlichen Kulturkreises aufzeigte. Solche Unterschiede hat er zwischen England, Amerika, Frankreich und Deutschland deutlich gemacht (vgl. Kultur 1986,2 Bde.). 22 Nach Parsons ist die nonnative Idee, die hinter dem Konzept der Interpenetration steht, die Idee der Moderne (vgl. Parsons, White, Character 1964, 183; Parsons, Platt, University 1973,40; Bourricaud, L'individualisme 1977). Sie vereinigt gegensätzliche Wertideen in einem zusammenhängenden Wertmuster. Die konstitutiven Ideen sind diejenigen der Solidarität, Freiheit, Rationalität und aktiven Weltgestaltung. Dieses Wertmuster verknüpft die Traditionsstränge der aufklärerischen Rationalität, der bürgerlichen Freiheit, des protestantischen innerweltlichen Asketismus und des angelsächsischen Konstitutionalismus. Die Verbindung von Solidarität und individueller Freiheifbezeichnet Parsons als institutionalisierten Individualismus, diejenig~ von Rationalität und aktiver Weltgestaltung als methodisch-rationalen Aktivismus. Uber die Richtigkeit dieses modernen Wertmusters entscheidet im Sinne der operativen Erkenntnistheorie allein dessen Nutzen: "Die allgemeine Gültigkeit dieses nonnativen Musters muß sich darin erweisen, daß dessen korrekte Anwendung eine Ordnung des Handelns und eine entsprechende Regelung von Konflikten mit größerer Reichweite gewährleistet als jedes andere nonnative Muster. Seine Überlegenheit gegenüber Alternativen muß sich in der größeren Fähigkeit äußern, die verschiedensten Handlungsbereiche in eine zusammenhängende Ordnung zu integrieren. FalsifIkationsinstanzen sind hier Fälle, in denen die korrekte Anwendung des nonnativen Musters selbst Konflikte erzeugen und ordnungsauflösend wirken würde" (Münch, Moderne 1984,25).

282

Kap. 3: Soziologie der Kognition

der Formulierung von Parsons darstellen. Anschließend sollen die wichtigsten Ordnungstypen auf ihre Übereinstimmung mit dem Handlungsmodell befragt werden. Das Konzept einer ,,kognitiven Ordnung" soll die erkenntnis biologischen Überlegungen, die für die Soziologie fruchtbar gemacht werden können, abschließen. c) Vierfunktionenschema

In "The Structure 0/ Social Action" hat Parsons einen Bezugsrahmen von Faktoren eingeführt, aus denen nach seiner Auffassung jedes Handeln besteht. 23 Wie die naturwissenschaftliche Kognition für psysikalische Vorgänge den Bezugsrahmen von Raum, Zeit, Substanz, Kausalität und Wechselwirkung geschaffen hat und dementsprechend physikalische Ereignisse nur in diesem Rahmen vorstellbar sind, so hat Parsons für menschliche Handlungen Kategorien aufgestellt, aus denen sich jede kleinste Handlungseinheit zusammensetzt. Deshalb definieren diese Kategorien einen Bezugsrahmen, in dem Handeln erst begriffen, analysiert und prognostiziert werden kann. In diesem Sinne wendet Parsons eine konstruktivistische Methode an: Sie erlaubt, eine analytische Ordnung in das Geflecht der Handlungsfaktoren zu bringen. Und sie ermöglicht eine empirische Anwendung dieses konstruktiven Modells, in dem sich die Wirkung bestimmter Faktoren auf das Handeln präziser formulieren läßt. 24 Folgende Kategorien sind nach Parsons in jedem Handeln wirksam: 23 Parsons, Structure 1968 (1937), 43. Dieser Bezugsrahmen wurde später im AGILSchema (Adaptation, Goal, Integration, Latent pattern), das Parsons zusammen mit Bales und Shils in den Working Papers in the Theory 0/ Action (1953, 172) verfaßt hat, erweitert und verfeinert. Das Vierfunktionenschema ergab sich aus der Verbindung von Bales' Kategorisierung von Systemproblemen bei der Bewältigung von Aufgaben in Kleingruppen mit Parsons' Orientierungsalternativen, die zunächst am Beispiel der Bildung von Typen der Abweichung von Normen und der Typen der sozialen Kontrolle aufgezeigt wurde. Die Autoren gingen so vor, daß zunächst Systemprobleme (Anpassung, Zielverwirklichung, Integration, Identität) definiert wurden. Sodann wurde auf ein jeweiliges Systemproblem die adäquate Kombination von Handlungsorientierungen bezogen. Die Handlungsorientierungen wurden in Objektkategorisierungen und Einstellungen differenziert. Objektkategorisierungen drücken aus, wie ein Handelnder die Objekte seines Handeins in ihrer Beziehung untereinander und in Beziehung zu seinen Zielen kognitiv wahrnimmt. Diese Wahrnehmung kann universalistisch oder partikularistisch, performativ oder qualitativ sein. Einstellungen können spezifisch oder diffus, neutral oder affektiv sein. Das AGIL-Schema postuliert nun eine spezifische Verknüpfung von Systemproblemen und Handlungsorientierungen. 24 Parsons war freilich kein Konstruktivist im Sinne von Maturana, v. Foerster oder v. Glasersfeld. Wir sind deshalb gehalten, seinen Handlungsbezugsrahmen im Lichte der operativen Erkenntnistheorie zu rekonstruieren. Infolgedessen kann das Parsonssche AGIL-Schema nicht lediglich als Artikulation des (!) Begriffs von Handlung oder als ,,nur analytische" Unterscheidung, wie Parsons meint, angesehen werden. Analyse und Begriff sind weder subjektunabhängig noch gesellschaftsunabhängig. Auch Parsons Unterscheidungen sind Unterscheidungen eines Beobachters. Man muß also nach der hier explizierten Sichtweise davon ausgehen, daß es sich bei Parsons Handlungskategorien um Schematismen handelt, mit deren Hilfe Handelnde sich selbst beobachten und beschreiben. Das heißt, wenn Akteure ihre eigene Rekursivität nach Maßgabe dieser Unter-

11. Ordnungs typen

283

(1) Ziele

Jedes Handeln ist auf Ziele gerichtet und bewegt sich von einem Zeitpunkt des Entferntseins von einem Ziel bis zu einem Zeitpunkt der Erreichung eines Ziels. 25 Durch ein Ziel wird das Handeln in einer bestimmten Richtung vorangetrieben. Es erhält dadurch eine bestimmte Gerichtetheit. Infolge dieser Gerichtetheit reduziert sich die Unvorhersagbarkeit (Kontingenz) des Handelns: Der Akteur wird sein Ziel nicht nur erreichen, sondern optimieren wollen. Im Feld der Gerichtetheit bestimmt sich also das Handeln nach dem Optimierungsprinzip. Wer dieses Handlungsfeld isoliert und das Optimierungsprinzip zum beherrschenden Faktor des Handeins erklärt, wird auf der Ebene sozialer Systeme den Utilitarismus und eine entsprechende ökonomische Theorie bevorzugen. (2) Situation Jedes Handeln findet in einer Situation statt. Die Situation ist durch vorgegebene Bedingungen sowie durch die verfügbaren Mittel zur Realisierung des Ziels bestimmt. Durch die Mobilisierung von Mitteln muß sich das Handeln an die Bedingungen und Gegebenheiten anpassen. 26 Infolgedessen erhöht der Einsatz von Mitteln die Variabilität des Handeins: Von Situation zu Situation kann es sich verändern. In diesem Feld der Anpassung oder Adaptivität des Handeins an die Situation herrscht das Realisierungsprinzip: Das Handeln folgt aus der logischen Ableitung aus Zielen, gegebener Macht und besonderen Anfangsbedingunscheidungen prozessieren, entsteht eine Differenzierung nach dem AGIL-Schema. Auf diese Weise kann das begrifflich-deduktive Theoriearrangement von Parsons auf eine Theorie selbstreferentiellen Handelns und damit auf eine induktive Theoriesicht umgestellt werden. Luhmann will dagegen das AGIL-Schema als eine Differenzierung des Handlungssystems verstanden wissen (AGIL 1989, 9). 25 Als Systemproblem sind hier Zielverwirklichung und Zielselektion (Goal-Attainment und Goal-Selektion) definiert. Dieses Problem erfordert Mechanismen der Zielhierarchisierung in spezifischen Entscheidungssituationen. Die adäquate Kombination von Handlungsorientierungen ist hier die Verbindung von performativer und partikularistischer Objektkategorisierung mit spezifischer und affektiver Einstellung; vgl. hierzu Münch, Handeln 1982,234; Jensen, Parsons 1980,75; Alexander, Sociology 1984,73. 26 Anpassung (Adaptation) ist hier als Systemproblem definiert. Es erfodert die Bildung von Ressourcen als Basis der Realisierung von Zielen. Die Lösung dieses Problems setzt die Kombination universalistischer und performativer Objektkategorisierungen sowie spezifischer und neutraler Einstellungen voraus. Im einzelnen: Die maximale Anpassung verlangt eine vollkommene performative Leistungsorientierung. Qualitative Orientierung bedeutet eine Beschränkung der Mittelwahl durch Gewohnheit und Tradition. Dadurch wird die Anpassung an veränderte Situationen erheblich beeinträchtigt. Um die Leistungsfähigkeit der Mittel überhaupt beurteilen zu können, müssen sie möglichst eindeutig spezifiziert sein. Unbestimmte, diffuse Mittelverwendung erlaubt keine Lernfortschritte. Die Akteure dürfen nicht affektiv an "liebgewordene" Mittel gebunden sein. Ihr Verhältnis zu den Mitteln muß neutral sein. Der Bezugsrahmen, innerhalb dessen Mittel variiert werden, muß möglichst weit gesteckt sein. Nur ein universeller Bezugsrahmen ermöglicht eine intelligente und vorausdauemde Anpassung an neue Situationen (vgl. Münch, Handeln 1982,87).

284

Kap. 3: Soziologie der Kognition

gen. Je nach Ausgangssituation und vorhandener Mittel ist das Verhalten daher entweder höchst kontingent oder höchst vorhersagbar. Auf gesellschaftstheoretischer Ebene folgt aus der Hypostasierung dieses Handlungsfeldes eine Machtoder Konflikttheorie. Das soziale Handeln wird hiernach durch eine extreme Strukturierung der Situation, z. B. durch die Machtverteilung oder durch die Vorherrschaft bestimmter Ziele, determiniert. (3) Normen Jedes Handeln wird in seinem Ablauf durch Normen und Selektionsstandards geordnet. Sie bestimmen, welche Ziele und welche Mittel sowie welche Mittel für welche Zwecke gewählt werden dürfen. Normen ergeben somit die Regelhaftigkeit von Handeln über Situationen hinweg. 27 Aus der Strukturiertheit des nornativen Feldes folgt eine hohe Vorhersagbarkeit des Handeins. Der Handelnde gehorcht hier dem Prinzip der Konformität: Sein Verhalten ist Folge der logischen Deduktion aus Normen und der Verpflichtung auf diese Normen. Bezogen auf sozialtheoretische Überlegungen bedeutet eine Verabsolutierung des Konformitätsprinzips die Konstruktion eines Normativismus, der das Handeln völlig beherrscht sieht durch die gemeinschaftliche Solidarität. (4) Symbolischer Bezugsrahmen Im Unterschied zum Handeln als Normerfüllung orientiert sich das Handeln im symbolischen Bezugsrahmen an der Konstitution von Sinn aufgrund des Gebrauchs der Vernunft. Ziele, Gegebenheiten und spezifische Normen sind nicht in diesen Bezugsrahmen integriert. Dementsprechend wird Handeln allein aus dem sinnstiftenden Bezugsrahmen abgeleitet. 28 Da die Sinnstiftung über 27 Als Systemproblem werden also die Regelhajtigkeit, Integration oder Strukturiertheit des Handelns definiert. Integration erfordert die Bindung der Einheiten eines Systems aneinander: soziales Handeln im sozialen System, Bedürfnisdispositionen im Persönlichkeitssystem, Symbole im kulturellen System. Im sozialen System ist die Solidarität der Akteure erforderlich. Die entsprechenden Handlungsorientierungen bedeuten partikularistische und qualitative Objektkategorisierungen sowie diffuse und affektive Einstellungen zum Objekt (vgl. Münch, Handeln 1982, 89). 28 Bewahrung latenter Strukturen (Latent pattern maintenance) erfordert die Fähigkeit zur Bewahrung der Grundstruktur eines Systems in Verbindung mit der Fähigkeit der Anpassung an veränderte Bedingungen im Rahmen der Grundstruktur. Die Lösung dieses Problems setzt die Kombination von qualitativen und universalistischen Objektkategorisierungen sowie neutralen und diffusen Einstellungen voraus (vgl. Münch, ebd. 88). Diese Verknüpfung von Systemproblemen und Handlungsorientierungen hat Parsons in einer Antwort auf Robert Dubin (Parsons Actor 1967,521) noch weiter in Subdimensionen differenziert (vgl. Pattern Variables 1967, 192). Für die Differenzierung der vier Grundfunktionen führt er zwei Achsen der Handlungsorientierung ein: die Achse der externen oder internen Orientierung des Handelns und die Achse der instrumentellen oder konsumatorischen Orientierung. Extern ist ein Handeln durch äußere Bedingungen gesteuert, intern durch innere normative Orientierungen (vgl. hierzu unsere Ausführungen zur "Kontrollüberzeugung", Kap. 2 I 3.). Die konsumatorische Orientierung bedeutet,

11. Ordnungstypen

285

Übersicht 12,' Der Handlungsbezugsrahmen und auf ihn bezogene Ordnungstheorien (nach Parsons, Structure 1968,43, und Parsons, Shils, Action 1951,53, sowie Parsons, Bales, Shils, Working Papers 1953, 172). Handlungsraum

Handlungsorientierung

Handlungsprinzipien

Ordnungstheorien

Ziele

Gerichtetheit: erweiterte Symbolkomplexität und reduzierte Handlungskontingenz

Realisierung und Maximierung von Zielen

Ökonomische Theorie (Utilitarismus)

Mittel

Anpassung: erweiterte Symbolkomplexität und erweiterte Handlungskontingenz

Optimierungsprinzip

Macht- oder Konflikttheorie

Normen

Strukturiertheit: reduzierte Symbolkomplexität und reduzierte Handlungskontingenz

Konformitätsprinzip

Normativismus

Symbolischer Bezugsrahmen

Identität: reduzierte Symbolkomplexität und erweiterte Handlungskontingenz

Konsistenzprinzip

Idealistische Kulturtheorie

höchst abstrakte, allgemein gültige Normen erfolgt, kann konkretes Handeln weder gesteuert noch vorhergesagt werden. Die Akteure orientieren ihr Handeln allein an der Bewahrung der Konsistenz des Bezugsrahmens. Mit Hilfe des Konsistenzprinzips können sie ihre Identität bewahren trotz erheblicher Variation des konkreten Verhaltens. Werden die übrigen Handlungsprinzipien ausgeschaltet, ergibt sich eine idealistische Kulturtheorie, die das soziale Handeln als daß ein Zielzustand um seiner selbst willen gesucht wird, die instrumentelle, daß ein Handeln als Mittel für weitere Ziele gewählt wird. Man kann in den beiden Achsen der Handlungsorientierung eine Parallele zu den Grundkategorien des Handlungsbezugsrahmens sehen. Die Achse der externen oder internen Orientierung entspricht der Entgegensetzung von Bedingungen und Normen, die Achse der instrumentellen oder konsumatorisehen Orientierung der Unterscheidung von Mitteln und Zielen (vgl. hienu Adriaansens, Parsons 1980,58; Loubser, Generallntroduction 1976, 1).

286

Kap. 3: Soziologie der Kognition

Konsequenz von Prozessen symbolischer Verständigung innerhalb eines gemeinsamen generellen Bezugsrahmens versteht. Zusammenfassend läßt sich demgemäß das Handeln als eine Funktion von Zielen, Situationen, Normen und symbolischen Bezugsrahmen betrachten. Diese Kategorien bestimmen einen Handlungsraum, in dem jedes Handeln abläuft. Innerhalb dieses Raumes kann das Handeln in seinem Ablauf mehr oder weniger stark durch die einzelnen Faktoren determiniert werden. Dennoch gibt es keine Handlung, die nicht wenigstens in Ansätzen auf ein Ziel gerichtet, durch die Situation von Gegebenheiten und Mitteln dynamisiert und durch Normen gesteuert ist. Infolgedessen bedeutet die Isolierung einzelner Faktoren die Formulierung extremer theoretischer Positionen. Sie laufen stets darauf hinaus, das Handeln vorwiegend aus dem Blickwinkel nur einer Komponente des Handlungsraumes zu begreifen. Als derartige Extrempositionen sind der Positivismus und der Idealismus zu unterscheiden. 29 Ich werde auf die beiden gegensätzlichen Grundströmungen des westlichen Denkens nur insoweit eingehen, als sie auf meta- und objekttheoretischer Ebene Auskunft über die Konstruktion rein faktisch-naturalistischer und rein ideeller Ordnungen geben. Objekttheoretisch 30 sieht der Positivismus das Handeln als eine Funktion von konditionalen Faktoren: der Situation und der Ziele. Soweit die Situation als 29 Das westliche Denken ist seit dem Entstehen der modemen Naturwissenschaft in die zwei konkurrierenden Grundströmungen des Idealismus der Geisteswissenschaften einerseits und des Positivismus der technisch orientierten Disziplinen andererseits gespalten. Der Idealismus variiert zwischen dem reinen rationalistischen Idealismus, dessen Höhepunkt Descartes repräsentiert, und dem historischen Idealismus, wie er z. B. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschen Historismus seinen Höhepunkt erlebte. Der Positivismus bewegt sich zwischen dem rationalistischen Positivismus, mit der Betonung auf theoretischer Abstraktion und deduktiver Vorgehensweise, und dem empiristischen Positivismus, der von empirischer Wahrnehmung ausgeht und auf Induktion abzielt. Trotz dieser antithetischen Grundsituation hat es in der modemen westlichen Wissenschaft stets erhebliche Ansätze zur Überwindung der Kluft zwischen beiden Denkrichtungen gegeben. Die Tatsache, daß sich tendenziell die beiden Richtungen gegenseitig durchdringen, unterscheidet nach Auffassung Max Webers die westlichen von den nicht-westlichen Wissenschaften (vgl. Wissenschaftslehre 1973,596; Religionssoziologie 1972,439). Parsons vertrat explizit den Anspruch, daß seine Handlungstheorie eine Synthese der Denkströmungen des Positivismus und des Idealismus darstelle, die ihrerseits zusammen alle spezielleren Ansätze in sich vereinigen.Im Hinblick auf die modeme Soziologie formuliert denn auch Parsons: "Die Sozialwissenschaften müssen als eine völlig autonome Kategorie behandelt werden. Sie sind nicht Naturwissenschaften im Sinne des Ausschließens der Kategorie des subjektiven Sinnes, d. h., sie müssen wissende Subjekte als Objekte betrachten. Noch sind sie humanistisch-kulturell in dem Sinne, daß die Individualität besonderer Bedeutungen einen vollständigen Vorrang vor analytischer Allgemeinheit und solchen Kategorien wie Kausalität einnehmen muß. Das Entstehen soziologischer Theoriebildung im aufgezeigten Sinn kristallisierte diese Synthese deutlicher als jedes andere intellektuelle Ereignis der jüngsten Zeit" (Parsons, Intellectual Disciplines 1967, 190; ders., Humanities 1970, 495). Dennoch blieb bis heute das Zusammentreffen unterschiedlicher Erkenntnisweisen die Basis für die Konkurrenz unterschiedlicher Paradigmen für die Soziologie. Zur Paradigmenkonkurrenz vgl. Sztompka, Sociological Dilemmas 1979; Luhmann, General Theory 1988.

II. Ordnungstypen

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dominant betrachtet wird, ist Handeln das Resultat feststehender äußerer Gegebenheiten. Soweit Ziele in den Vordergrund geruckt werden, ist Handeln bei beliebiger Wählbarkeit der Ziele das Resultat der reinen Zufälligkeit. Normen und symbolischer Bezugsrahmen sind als Steuerungsfaktoren ausgeschaltet oder auf das Minimum der rationalen Zweck-Mittel-Wahl als einziger Norm reduziert. Demgemäß reicht der Positivismus von den Positionen der vollkommenen Determiniertheit bis zur reinen Zufalligkeit des Handeins, Was auf den Positivismus gestützte Sozialtheorien betrifft, so schwanken diese folgerichtig zwischen anarchistisch-utilitaristischen Ordnungen, in denen der Zufall herrscht, und kausal determinierten Ordnungen, in denen strikte Anpassung herrscht. 31 Metatheoretisch 32 ist der Positivismus am kausalen Erklären von Handeln interessiert. Dabei variiert das methodische Vorgehen zwischen mehr abstrahierend-deduktiver und mehr empiristisch-induktiver Arbeitsweise. 30 Nach Münch (Handeln 1982, 12) lautet die objekttheoretische Frage: "Wie ist menschliches Handeln möglich, das Geordnetheit und individuelle Autonomie miteinander verknüpft?" 31 Als mögliche Extreme positivistischer Ordnungsmodelle nennt Münch (Handeln 1982, 238): - Für den Anarchismus ist das Handeln dem reinen Zufall unterworfen. - Nach dem Utilitarismus ergibt sich aus beliebig wählbaren Zielen und veränderbaren Situationen eine spontane Ordnung. - Der radikale Positivismus sieht das Handeln determiniert durch feststehende Ziele und extrem strukturierte äußere Bedingungen, und zwar in vererbten organischen Anlagen oder in der Umwelt. - Der radikale rationalistische Positivismus betrachtet das Handeln als eine rationale Anpassung an äußere Gegebenheiten. - Der radikale anti-intellektualistische Positivismus begreift Handeln als einen Prozeß der biologischen Auslese durch äußere Gegebenheiten. - Für die individualistische Variante des Positivismus erfolgen rationale Anpassung oder Auslese spontan. - Nach der soziologischen Variante des Positivismus finden rationale Anpassung oder Auslese durch kollektiven Zwang als äußere Gegebenheit statt. 32 Die metatheoretische Frage lautet: "Wie ist eine Theorie des Handelns möglich, die theoretische Abstraktion und historisch-empirische Spezifikation, kausales Erklären und hermeneutisches Verstehen miteinander verbindet?" Auf der metatheoretischen Ebene geht es also um die Synthese folgender vier Typen von Erklärungsweisen: - Kausales Erklären wendet unabhängig von der Komplexität der Symbolwelt und der Kontingenz des Handelns latente kausale Gesetzmäßigkeiten zur Erklärung des Handelns an. - Teleonomisches Erklären versucht, unabhängig von der Komplexität der Symbolwelt eine latente Gerichtetheit und entsprechend eingeschränkte Kontingenz des Handeins zu erklären. - Rationales Verstehen interpretiert das Handeln als eine nach einfachen und allgemeinen Prämissen erfolgende Deduktion des Handelns aus Prämissen und Anfangsbedingungen für die Prämissen. Die allgemeinen Prinzipien (niedrige Symbolkomplexität) lassen dabei in Abhängigkeit von den konkreten Umständen sehr viele verschiedene Handlungen zu (hohe Handlungskontingenz). - Normatives Verstehen deutet das Handeln als eine Ausführung eines festliegenden normativen symbolischen Musters. Die Kenntnis einer partikularen Lebenswelt (niedrige Symbolkomplexität) ermöglicht eine eindeutige Voraussage des Handelns (niedrige Handlungskontingenz).

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

Objekttheoretisch versteht der Idealismus das Handeln als durch nonnative Faktoren motiviert. Soweit zentral auf Nonnen Bezug genommen wird, ist das Resultat konfonnistisches Handeln. Soweit man Handeln aus dem symbolischen Bezugsrahmen ableitet, ist Handeln durch völlige Autonomie und Offenheit gekennzeichnet. Da die Wirkung von Zielen und Situationen in diesen Bezugsrahmen nicht integriert ist, schwankt der Idealismus zwischen den Gegensätzen der Konfonnität und der Autonomie. Soziale Ordnung kann dementsprechend nur als eine rein konfonnistische oder eine rein ideelle Ordnung konzipiert werden. 33 Metatheoretisch beabsichtigt der Idealismus das Verstehen des Handelns. Seine Methoden reichen von rationalistischer Entwicklungslogik bis zum empiristischen Historismus. Bisher haben wir festgestellt, daß der Positivismus die Handlungsfelder Ziele und Situationen, der Idealismus diejenigen der Nonnen und des symbolischen Bezugsrahmens thematisiert. Kennzeichnend für die einzelnen theoretischen Ansätze ist, daß sie von der Geltung eines bestimmten Handlungsprinzips für alle Handlungsfelder ausgehen. Diesen vier reinen Handlungsprinzipien korrespondieren vier analytisch reine Ordnungsmodelle, die zwei Varianten des Positivismus und des Idealismus verkörpern. Es handelt sich bei den Varianten des Positivismus einerseits um eine zufällige Ordnung. die sich aus der spontanen Interessenkomplementarität freier Individuen ergibt, zum anderen um eine Zwangsordnung , die aus der überlegenen Macht einer Sanktionsinstanz folgt. Bei den Varianten des Idealismus kann eine konformistische Ordnung von einer ideellen Ordnung unterschieden werden (vgl. hierzu Übersicht 13). In der ersten stützt sich Handeln auf einen Konsens über Nonnen, in der zweiten gründet Handeln auf allgemein-gültigen Prinzipien. 34 Bei diesen Typen einseitiger Ordnungen handelt es sich nicht nur um eine willkürliche Trennung der zusammengehörenden Handlungsfelder und ihrer Handlungsprinzipien, sondern auch um einseitige Konkretisierungen einzelner Wertideen der modemen westlichen Gesellschaften. Nach Parsons zählen zu den konstitutiven Ideen der Modeme die Solidarität, die Freiheit, die Rationalität und die aktive Weltgestaltung. Alle vier Wertideen zusammen bilden die Grundpfeiler des modemen Wertmusters. 35 Seine Gültigkeit muß sich darin erweisen, die 33 Das idealistische Dilemma besteht demgemäß in dem Gegensatz zwischen Konformität und Autonomie: - Der Konformismus (Normativismus) erfaßt das Handeln als Normerfüllung, ungeachtet von Zielen, Gegebenheiten und Mitteln. - Die Kultur- und Vernunfttheorien verstehen Handeln als eine reine Konstitution von Sinn, unabhängig von Zielen, Gegebenheiten, Mitteln und spezifischen Normen. 34 Vgl. Münch, Moderne 1984,26,617. 35 Parsons, White, Character 1964, 183; Parsons, Platt, University 1973,40. Dieses Wertmuster muß normativer Art sein, soll es nicht im Falle der Enttäuschung revidiert werden. Wie weit die Handelnden tatsächlich an enttäuschten Erwartungen festhalten können, hängt vom Grad der Institutionalisiertheit der Erwartungen ab. Diese Institutionalisiertheit kann sich - wie Münch zutreffend betont (vgl. Handeln 1982,241) - nicht

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11. Ordnungstypen Übersicht 13: Der Handlungsbezugsrahmen und auf ihn bezogene Ordnungsmodelle, Erklärungsweisen und moderne Wertideen.

Handlungsraum

Ziele

Theoretische Ansätze und Ordnungsmodelle

Epistemologie und Methodologie

Modeme Wertideen

Konflikttheorie

Empiristischer Positivismus

Weltgestaltung (Aktivismus)

Zwangsordnung

Teleonomisches Erklären

Utilitarismus

Rationalistischer Positivismus

Zufällige Ordnung

Kausales Erklären

Normativismus

Historistischer Idealismus

Konformistische Ordnung

Normatives Verstehen

Idealistische Kulturtheorie

Rationalistischer Idealismus

Ideelle Ordnung

Rationales Verstehen

Mittel

Normen

Symbolischer Bezugsrahmen

Freiheit

Solidarität

Rationalität

verschiedensten Handlungsbereiche in eine zusammenhängende Ordnung zu integrieren. Die Trennung der Wertideen ergibt partikulare Ordnungen, die Solidarität gegen Freiheit, Rationalität gegen Pragmatismus ausspielen. So finden wir Freiheit in der zufälligen Ordnung, aktive Weltgestaltung in der Zwangsordnung, Solidarität in der konformistischen Ordnung und Rationalität in der ideellen Ordnung jeweils überbetont. Infolgedessen haben diese sozialtheoretischen Exeinfach auf überlegene Macht oder auf Interessenaustausch stützen, wenn sie zeitliche, sachliche und soziale Kontinuität aufweisen soll. Münch fährt fort: "Ego und Alter können nur dann mit der Institutionalisiertheit normativer Erwartungen rechnen, wenn sie sich im Enttäuschungsfall auf die Unterstützung beliebiger Dritter (!) des einbezogenen sozialen Kreises und auf ihre Zustimmung (!) zu Sanktionen zur Aufrechterhaltung der normativen Erwartungen verlassen können. Die letzte Basis der Institutionalisiertheit von Normen kann nur ein normativer Konsens sein, weil anderenfalls stets die Gefahr der Anomie, des Gegenteils von sozialer Ordnung, des Kampfes aller gegen alle droht" (Münch, ebd. 241). Wir haben hier wieder ein Beispiel dafür, daß nur Interpenetration der sozialen Systeme und nicht deren Autopoiese die Einheit des Gesamtsystems ausmacht. !9 Karg!

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

trempositionen nur unter den strikten Rahmenbedingungen ihres favorisierten Handlungsfeldes eine gewisse Aussagekraft. Sobald andere Handlungsbereiche und deren ordnende Prinzipien involviert sind, geht auch diese verloren. Die Grenzen dieser Ordnungstypen sollen nun im einzelnen aufgezeigt werden. Das Ziel ist, an den Vereinseitigungen der traditionellen Sozialmodelle die Notwendigkeit einer allgemeinen Ordnung zu demonstrieren, die die konstitutiven Wertideen der Moderne in ein kohärentes Gefüge zu implementieren in der Lage ist. 36 Auf diese Weise wird auch deutlich, daß hinter dem Konzept der Interpenetration die normative Idee der Moderne steht. Sie wird als ein hypothetisch gültiger Leitfaden für die Konstruktion von konkreten Handlungsmustern und damit konkreten Institutionen benutzt.

2. Extrempositionen a) Zufällige Ordnung (Ökonomische Theorie) aa) Das Rationalitätsaxiom Die erste Variante des Positivismus, die zufällige Ordnung, ist durch ein kollektives Handeln bestimmt, das durch den Zufall der Ziele und durch das Optimierungsprinzip geleitet wird. Als zufällig kann eine solche Ordnung deshalb bezeichnet werden, weil der Positivismus die je gegebene Handlungssituation weder durch Normen noch durch den symbolischen Bezugsrahmen strukturiert sieht. Stattdessen rückt diese Sichtweise das Verhalten eines rationalen Menschen in den Vordergrund, der sich bei seinen Entscheidungen vom Prinzip der Maximierung des eigenen Nutzens leiten läßt. Der Akteur wählt also diejenige Handlung, von welcher er ein Optimum der Realisierung seiner Ziele erwartet. Sein Handeln ergibt sich aus einer logischen Ableitung der in einer Situation gegebenen positiven und negativen Anreize - vorwiegend der monetären Kategorien Gewinn und Verlust - , sowie aus dem Optimierungsprinzip. Da Ziele, Normen und Bezugsrahmen von den Mitteln und Bedingungen der jeweiligen Situation abhängig sind, kann sich ihre Wirkung auf das Handeln stets wandeln. Sind somit auch die Ziele dem Optimierungskalkül unterworfen und relativieren sich 36 Diese Sicht der westlichen Modeme bedeutet keine Abwertung der nicht-westlichen Kulturen. Sie meint vielmehr, daß das Wertmuster einen umfassenden Bezugsrahmen darstellt, in den sich die besonderen Beiträge der verschiedenen Kulturen integrieren lassen könnten. In diesem Sinne betonen etwa Schluchter (Rationalismus 1979, 19, 34) und Habermas (Kommunikatives Handeln 1981, Bd. 1,72), daß wir von den Leistungen der nicht-westlichen Kulturen weiterhin lernen und auf diese Weise auch Einseitigkeiten westlicher Konkretisierungen der Idee der Moderne kontrollieren können. Erst in dieser Perspektive ist der kulturelle Relativismus in den wirklichen kulturellen Universalismus einer zu entwickelnden Weltkultur aufgehoben (zur kulturellen Evolution vgl. Eder, Vergesellschaftung 1988, 64, 285).

H. Ordnungstypen

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diese je nach den Konsequenzen der Verfolgung eines Ziels für andere Ziele, so kann es keine eindeutige Gerichtetheit des Handeins geben. Das Handeln bewegt sich vielmehr im Feld der Anpassung und erreicht in dieser Auffassung die größte Variabilität. Es wird vom Prinzip der Optimierung der Ziele regiert. Eine auf diesem Handlungsprinzip aufbauende Ordnungstheorie muß demnach die Herausbildung der modemen Institutionen auf die Nutzenkalkulation der involvierten Akteure zurückführen. 37 Dieses schwierige Unterfangen hat die ökonomische Theorie bzw. der utilitaristische Ansatz der Erklärung menschlichen Handeins unternommen. 38 Den unterschiedlichen Sozialentwürfen auf utilitaristischer Basis ist insbesondere die Vorstellung eines Interaktionsprozesses gemeinsam, der allein von der "unsichtbaren Hand" individueller Interessenverfolgung gelenkt wird, im Ergebnis aber doch dem Gemeinwohl dient. 39 Allgemeiner Nutzen entsteht hiernach, ohne von den Akteuren intendiert zu sein; er resultiert als zwangsläufiger Nebeneffekt aus dem individuell motivierten Verhalten. Wie jedoch aus den "privaten Lastern" ein "öffentlicher Nutzen"4O und dainit eine 37 Vgl. u. a. Becker, Ökonomischer Ansatz 1982; Buchanan, Liberty 1975; North, Thomas, Western World 1975; McKenzie, Tullock, Homo oeconomicus 1984; siehe zur Kritik Münch, Sociological Utilitarism 1983, 45; ders., Moderne 1984, 47; Ribhegge, Rationale Erwartungen 1987. 38 Klassische Vertreter des utilitaristischen Ansatzes sind D. Hume, Human Understanding 1963; A. Smith, Moral Sentiments 1966; ders., Wohlstand 1978; J. S. MiIl, On Liberty 1975. Zu modernen utilitaristischen Ansätzen siehe (neben den oben genannten Arbeiten von Becker, Buchanan, McKenzie und Tullock) Coleman, Decisions 1971, 272; Downs, Economic Theory 1957; Vanberg, Kollektive Güter 1978,652. Siehe hierzu die kritische Studie von Dumont, Mandeville 1977. Zur Kritik am Maximierungsansatz der "orthodoxen" Wirtschaftstheorie aus "evolutionärer" Sicht vgl. Steiner, Entscheidungsregeln 1987, 187. 39 Die Vorstellung eines geordneten Interaktionsprozesses, einer "geordneten Anarchie" wurde ursprünglich vor allem von den sogenannten "Britischen Moralisten" diskutiert (vgl. hierzu die Sammlungen von Raphael, Moralists 1969; Schneider, Moralists 1967). Dieses Konstrukt beruhte auf Markterfahrungen, die in modellhaften Teilbereichen der Wirtschaft gemacht wurden. Trotz dieser schmalen empirischen Basis avancierte die Idee einer dezentralen, vorzugsweise ,,marktlichen" Steuerung zum allgemeinen gesellschaftlichen Organisationsideal und konnte - wie Keynes (Laissaz-Faire 1926, 19) mitteilt - als "Dogma ... den Erziehungsapparat erobern". Zur Wirkungsgeschichte dieser Idee sagt Kliemt: "Die bloße Denkmöglichkeit, daß selbstbezogene Verhaltensweisen zum Nutzen aller dienen konnten, schuf gemeinsam mit dem realen Demonstrationsobjekt gewisser marktlicher Prozesse ein neues Bewußtsein, das vor allem in normativer Hinsicht konsequenzenreich werden sollte, indem es die Planung und den Entwurf sozialer Institutionen grundlegend beeinflußte" (Homo oeconomicus 1984, 28). 40 So Mandeville in seiner satirischen "Bienenfabel" von den "öffentlichen Vorteilen privater Laster" (dt. Ausgabe 1968), die der üblichen moralischen Mißbilligung menschlicher Eigennützigkeit die Ansicht entgegenstellt, daß der Eigennutz die grundlegende Triebkraft menschlichen Handeins sei, und daß sich dieser Motor des Handelns eher wohltätig als nachteilig für die Allgemeinheit auswirke, wenn er nur in den entsprechenden Bedingungsrahmen gestellt werde (vgl. Vanberg, Sozialtheorie 1973, 13). Damit setzte sich Mandeville in Gegensatz zu Vorstellungen von der "Sozialnatur" des Menschen (Bienenfabel 1968, 354). Aber er zieht daraus andere Konsequenzen als etwa Hobbes, der von der gleichen Prämisse ausgehend, grundsätzlich sozialschädliche Konse-

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

über den bloßen Zufall hinausreichende Ordnung entsteht, ist bislang nicht zufriedenstellend geklärt. Häufig wird auf das Bild eines "Homo oeconomicus" verwiesen, der sich zwar von egoistischen Zielen leiten läßt, aber seinen Interessen in geordneter Weise Raum gibt und sich im Rahmen dieser Interessenvorgaben rational an wechselnde Umstände anpaßt. 41 Es ist also die Rationalität, die sein Verhalten berechenbar macht und kollektiven Nutzen stiftet. Die Rationalität des Verhaltens wird dabei einerseits unter dem Gesichtspunkt der Nutzenoptimierung, andererseits unter dem Gesichtspunkt des individuellen Austausches gesehen. Hinsichtlich des Aspektes der Nutzenoptimierung gilt vom ökonomischen Standpunkt aus Verhalten dann als rational, wenn Menschen feststellen können, was sie wollen, und wenn sie versuchen werden, so viele dieser Wünsche wie möglich zu erfüllen. Daraus folgt, daß Individuen immer mehr wählen werden von dem, was sie wünschen, als weniger. 42 Diese Wünsche können sich auf quenzen des Selbstinteresses angenommen und daher einen übermächtigen Alleinherrscher (Leviathan) gefordert hat. Auch Parsons systemtheoretischer Ansatz gelangt zu einer prinzipiell negativen Beurteilung eigeninteressierten Handeins für die gesellschaftliche Ordnung. Parsons spricht von der Gefahr kollektiv sich ausdehnender Aggression (vgl. Schwanenberg, Sozioanalyse 1973, 199). 41 Diese DefInition macht klar, daß viele gesellschaftstheoretische Kontroversen am Konzept des homo oeconomicus vorbeizielen. Es geht bei ihm nicht um einen neuen Typ rationalen Verhaltens. Es geht insbesondere nicht um eine Entscheidung zwischen egoistischem und altruistischem Handeln. Diese inhaltlichen Bestimmungen von individuellen Präferenzen sind von sekundärer Bedeutung. Im Konzept des homo oeconomicus wird lediglich vorausgesetzt, daß sich Individuen im Rahmen ihrer einmal entwickelten Präferenzen rational verhalten. Ob die Präferenzen egoistisch oder altruistisch ausgebildet sind, es wird erwartet, daß der Typ des Verhaltens formal weitgehend identisch ist und in formal weitgehend gleicher Weise theoretisch analysiert werden kann. Also lassen sich die Verhaltensweisen erst nach der Präferenzbildung auf der Folie konsistenter, rationaler individueller Alternativenwahl erfassen. Auch aus der Sicht der Individuen geht es in beiden Fällen um die Abwägung von Opportunitätskosten unterschiedlicher Zielerreichung, die zu einer "optimalen" Alternativenwahl führen soll. In jedem Fall geht es also um die "optimale" Auswahl einer Alternative, deren Optimalität sich aus den vorbestimmten (altruistischen oder egoistischen) Wertungen ergibt. In dieser Fassung kann man der ökonomischen Theorie des Handeins weitgehend folgen. Die gängigen Ansätze des homo oeconomicus gehen aber weit darüber hinaus: Sie schreiben dem Individuum nicht nur die Fähigkeit zu rational folgenorientierten Anpassungsentscheidungen zu, sondern eine viel weiterreichende Tendenz zu optimaler, maximierender oder peifekt rationaler Anpassung, welche sich als Extremierung einer einheitlichen Zielfunktion erklären lassen soll (vgl. hierzu Albert, Marktsoziologie 1967,41; Simon, Rational decision-making 1979,493; krit. Streit, Pelzmann, Wirtschaftspsychologie 1983, 36; Kirsch, Individualentscheidung 1983,21; Kliemt, Homo oeconomicus 1983,9). 42 Das entspricht dem Lust:. und Unlust-Kalkül, aus dem das affektlogische Bezugssystem hervorgeht und das den Aquilibrationsvorgängen, die Piaget analysiert hat, zugrundeliegt. Auch Jeremy Bentham wendet dieses Kalkül auf alles menschliche Verhalten an: ,,Die Natur hat die Menschheit der Herrschaft zweier souveräner Herren, Unlust und Lust, unterworfen. Durch sie allein wird sowohl das, was wir tun sollen, wie auch das, was wir tun werden, bestimmt" (Bentham, Principles of Morals 1963). Der Wirtschaftswissenschaftler von Mises sagt über die anthropologische Grundlegung seiner Disziplin:

11. Ordnungstypen

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materielle Dinge, aber auch auf ästhetische, intellektuelle oder religiöse Dinge richten. Insofern sprechen Ökonomen zwar bevorzugt von "Gütern", aber meinen alle diejenigen Dinge, die Menschen positiv einschätzen: "Wir nehmen ja nur an, daß die Motivierungen von Individuen so gelagert sind, daß sie das tun, von dem sie annehmen, daß ihre Lebenslage verbessert wird, nicht, daß ihnen dies stets auch gelingt."43 Wenn somit die allgemeine Annahme lautet, daß ein Individuum seinen Nutzen maximiert, dann sind Voraussagen über sein Verhalten möglich, falls man den Erwartungswert des jeweiligen Gutes kennt. 44 Soweit es sich um konventionelle Güter und Dienstleistungen handelt, sind denn auch Ökonomen in der Lage, Verhalten mit einiger Treffsicherheit zu prognostizieren. So sagt etwa das Gesetz der Nachfrage voraus, daß, wenn der Bierpreis fällt, das Individuum mehr Bier kaufen wird. Das Gesetz der Nachfrage soll auch für solche "Güter" gelten wie Liebe, Ehrlichkeit, Geschwindigkeit auf Autobahnen, Babys oder Kriminalität. Steigen die Kosten für Geschwindigkeitsübertretungen drastisch an, wird ihre Nachfrage sinken. 45

"Der handelnde Mensch ist darauf bedacht, allgemein befriedigendere Umstände an die Stelle von weniger befriedigenden zu setzen. Seine Vorstellung entwirft Bedingungen, die ihm besser entsprechen, und seine Handlungen sind darauf gerichtet, den erwünschten Zustand herbeizuführen ... Jemand, der rundum zufrieden ist mit seiner Lebenslage, hätte gar keinen Ansporn, etwas zu ändern" (Human Action 1949, 13). 43 McKenzie, Tullock, Homo oeconomicus 1984, 29. 44 Der Begriff ,,Erwartungswert" soll der Tatsache Rechnung tragen, daß die meisten Menschen bei ihrer Wahl nur deshalb Fehler machen, weil sie unzureichend informiert sind. 45 McKenzie und Tullock vermuten, daß es sich bei dem Gesetz der Nachfrage "um die sicherste Vorhersage handelt, die Sozial wissenschaftler über menschliches Verhalten machen können ... Die Beziehung kann als so bombensicher gelten, daß ein prominenter Ökonom nachweislich gesagt hat, daß, wenn immer eine empirische Studie zeigt, daß Leute mehr kaufen, wenn der Preis erhöht wird, irgendetwas mit der empirischen Studie nicht stimmen kann" (Homo oeconomicus 1984,36). Dieses Gesetz der Nachfrage sieht Becker im Falle des Angebots an Straftaten bestätigt. Sein Ansatz unterstellt, "daß eine Person eine Straftat begeht, wenn der für ihn erwartete Nutzen größer ist als der Nutzen, den sie realisieren könnte, wenn sie ihre Zeit und sonstigen Ressourcen für andere Aktivitäten einsetzen würde. Daraus folgt, daß Menschen nicht deshalb ,Kriminelle' werden, weil sie sich in ihrer grundlegenden Motivation von anderen Menschen unterscheiden, sondern weil ihre Nutzen und Kosten andere sind ... Dieser Ansatz impliziert, daß es eine Funktion gibt, die die Zahl der Straftaten einer Person in Beziehung setzt zu ihrer Verurteilungswahrscheinlichkeit, ihrer Strafe, falls sie verurteilt wird, und zu anderen Variablen, wie etwa dem Einkommen, das sie durch legale oder illegale Aktivitäten realisieren kann, der Häufigkeit von Haftrnißständen und der Bereitschaft der Person, eine illegale Handlung auszuführen" (Ökonomischer Ansatz 1982,48). Wichtig ist dabei, daß der erwartete Nutzen stets von der Einstellung des Straftäters zum Risiko abhängt und nicht etwa von einer empirischen Größe wie der Effizienz der Polizei oder den Ausgaben für die Bekämpfung der Kriminalität (ebd. 50). Deshalb lassen sich keine direkten Beziehungen zwischen der Risikobereitschaft der Straftäter und generalpräventiven (abschreckenden) Bemühungen herstellen.

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

Die Rationalität des Verhaltens wird auch unter dem Gesichtspunkt des individuellen Austauschs gesehen. 46 Denn natürlich bedeutet die These von der Nutzenmaximierung nicht, daß Individuen ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen handeln. Abgesehen davon, daß Altruismus, Ethik und Moral einen hohen individuellen Erwartungswert besitzen können, sind diese "Güter" in einem elementaren Sinn "nützlich" und daher zu maximieren. So gehen die ökonomischen Klassiker wie Hume und Smith davon aus, daß soziale Interaktion als gegenseitige Kontrolle und gesellschaftliche Integration als gegenseitiger Anpassungsprozeß funktionieren. 47 Nach dieser austauschtheoretischen Konzeption besteht das primäre Bindemittel sozialer Ordnung nicht im Zwang oder in zentralen Sanktionsinstanzen, sondern im Prinzip der Reziprozität von Leistungen. Es ist die gegenseitige Abhängigkeit, die Menschen veraniaßt, ihren Vorteil im Austausch der Leistungen und in der Abstimmung der Interessen zu suchen. Daß Hume seine grundlegenden Aussagen zur Austauschtheorie am Beispiel der Entstehung der Rechtsordnung formulierte, ist nicht verwunderlich. 48 Die Rechtsordnung formalisiert ja nach Hume die Gegenseitigkeitsbeziehungen und weist die mit ihrer Übertretung verbundenen Nachteile auf. Das Recht wird auf diese Weise auf das Austauschprinzip festgelegt, nach welchem jeder Handelnde für den anderen etwas tut mit Blick auf den reziproken Vorteil. Somit gründet die Rechtsregel auf dem Eigeninteresse der Individuen und nicht auf heteronomer Entscheidung. 49 In solchen Überlegungenist erstmals unüberhörbar die Idee einer nicht-autoritären Sozialordnung formuliert. Wir finden in ihr vor allen anderen Kategorien die modernen Wertideen der Freiheit und der Liberalität ausgezeichnet. Vernachlässigt oder gänzlich ignoriert sind jedoch die Handlungsfelder der situativen Anpassung, der normativen Strukturierung und der kulturellen Identität. 50 Eine 46 Vgl. die Darstellung der austauschtheoretischen Konzeption und deren Modifikation in der neueren ökonomischen Sozialtheorie bei Hans-Jochen Otto, Generalprävention 1982,92. Dazu auch Kargi, Positive Generalprävention 1990 c. 47 Nach Albert (Marktsoziologie 1967, 24) gingen die ökonomischen Klassiker bei "ihrer Analyse der Marktprozesse und ihrer Wirkungen ... von einer Idee aus, die sich für die gesamte Soziologie als fruchtbar erweisen sollte, die Idee eines Sanktionsmechanismus, der ohne zentrale Registrierung funktioniert, eines nicht-autoritär organisierten Systems der sozialen Kontrolle" (vgl. auch Vanberg, Zwei Soziologien 1975, 6). 48 Vgl. Hume, Human Nature 1967, 529: Da die Eigeninteressiertheit einer Person der anderer natürlicherweise entgegenstehe, ergebe sich die Notwendigkeit, daß sich die verschiedenen Interessen in einer Weise aufeinander einstellen, die ihre Koexistenz in einem System von Verfahrens- und Verhaltensregeln ermöglicht. Man erinnere sich: Wir haben die Notwendigkeit der strukturellen Koppelung in Sozialsystemen aus der epistemologischen Grundsituation des Menschen, nämlich aus der Subjektabhängigkeit der Wahrnehmung und des Wissens abgeleitet. 49 So auch Ellis, Order 1971, 696. Aber auf die Frage, wie die Menschen, deren eigeninteressiertes Verhalten den Bestand der Rechtsordnung gefährden würde, es bewerkstelligen, daß sie ihr kurzfristiges Interesse auf ein längerfristiges umstellen, gibt Hume keine Antwort (vgl. Vanberg, Kollektive Güter 1978,660). So kommt doch wieder die Hobbessche Lösung, die "sichtbare Hand", ins Spiel. 50 Die neuere ökonomische Sozialtheorie stellt denn auch wieder verstärkt auf das Handlungsfeld der situativen Anpassung ab. Insbesondere die "Theorie kollektiver Gü-

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Konzeption, die allein auf das Eigeninteresse der Akteure und auf die beliebige Wählbarkeit der Ziele abstellt, muß bei konsequenter Anwedung der Prämissen in das Extrem des Anarchismus einmünden. Da die Prämissen auf einem radikal formalistischen Rationalitätsbegriff beruhen, soll dessen Kritik zugleich die Schwächen der utilitaristischen Sichtweise aufzeigen. bb) Kritik des Rationalitätsaxioms Wie dargestellt, erschöpft sich das Rationalitätsaxiom der ökonomischen Theorie in dem Handlungsprinzip der Nutzen- oder Zielmaximierung. 51 Da der Geltungsbereich des Optimierungsprinzips auf jegliches Verhalten ausgedehnt wird, müßte es sich empirisch auch auf den Feldern der Gerichtetheit, der Strukturiertheit und der Identität nachweisen lassen. Ein solcher Nachweis würde eine objektive Fassung des ökonomischen Rationalitätsprinzips gestatten. Betrachten wir der Reihe nach die genannten Handlungsfelder und fragen wir danach, ob sich in ihnen das Optimierungsprinzip durchhalten läßt. (1) Handlungsfeld der Gerichtetheit In diesem Feld wird das Handeln durch ein Ziel in einer bestimmten Richtung vorangetrieben. Nach dem Optimierungsprinzip müßten Situationsveränderungen ter" hat die austauschtheoretischen Konzepte in Richtung auf formale Organisation und zentralisierte Sanktionsinstanz umformuliert (vgl. Olson, Kollektives Handeln 1968; Klingemann, Kosten-Nutzen-Analyse 1978,238; Coleman, Power 1974; Buchanan, Liberty 1975; Feeley, Coercion 1970,505; ders., Concept of Laws 1976,497). Nach der

Theorie des Kollektivgutes werden die ihrem Eigeninteresse folgenden Individuen nicht so handeln, daß ihr Gruppeninteresse verwirklicht wird. Es sei also damit zu rechnen, daß der einzelne Akteur versuchen werde, ohne eigenen Beitrag in den Genuß des Kollektivgutes zu kommen. Die Konsequenz, die Olson für große Gruppen zieht, ist die Notwendigkeit einer Zentralinstanz zur Sicherung des Kollektivgutes (Kollektives Handeln 1968, 45). Bei dieser muß es sich um eine Sanktionsinstanz handeln, die durch den Einsatz selektiver Anreize (positiver oder negativer Art) die Wahlsituation der Akteure so verändert, daß die Beteiligung an der Bereitstellung des Kollektivgutes in ihrem direkten individuellen Interesse liegt (Vanberg, Kollektive Güter 1978, 664). Demzufolge wäre es rational für jeden einzelnen Akteur, darin übereinzustimmen, unter einem System von Sanktionsdrohungen zu handeln. Auf diese Weise könne jeder sicher sein, daß der andere seinen Beitrag leiste. Zur berechtigten Kritik an dieser Rückkehr zur Hobbessehen Lösung vgl. Münch, Parsons 1979,395. 51 Auch der Marxismus muß sich eine Kritik unter dem Gesichtspunkt seiner Rationalitätskonzeption gefallen lassen. Die Kritik lautet, daß Marx den Umgang mit der Natur, das gesellschaftliche Naturverhältnis, auf eine utilitaristische Vernunft reduziert hat. Die sozialen Kämpfe sollten eben diese Vernunft befreien, die es den Menschen erlaubt, die Herrschaft über die Natur anzutreten. ,,Daß dies die Menschen nicht befreit, sondern sie in neue Herrschaftsverhältnisse einbindet, gehört inzwischen zu den negativen historischen Erfahrungen, die wir mit dieser Vernunft gemacht haben" (Eder, Vergesellschaftung 1988,32). Die moderne Systemtheorie erklärt indes diese spezielle Vernunft, die in einer praktischen Unvernunft im Umgang mit der Natur endet, zur Normalität. Sie hat höchstens Probleme mit der Kritik an der utilitaristischen Rationalität (siehe Luhmann, Ökologische Kommunikation 1986).

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stets auf eine Veränderung des Handeins hinwirken. 52 Dieser Hypothese widerspricht die Beobachtung, daß Handeln häufig weniger situations abhängig und eindeutiger auf Ziele gerichtet ist, als die ökonomische Theorie annimmt. Tatsächlich verändern Akteure nicht so schnell ihr Handeln, wie es nach dem Prinzip der Optimalität der Fall sein müßte. Demzufolge kann auf diesem Handlungsfeld der Utilitarismus als falsifiziert gelten. Dem Einwand, daß sich die Mehrheit der Menschen nicht nach dem postulierten Rationalitätsbegriff verhält, begegnen die Ökonomen gewöhnlich mit einer subjektiven Fassung der Optimierungsthese. Sie sagen, daß die Kosten einer rationalen Entscheidung individuell unterschiedlich bewertet werden. Somit lassen sich Unterschiede in der Annäherung an das Ideal des homo oeconomicus auf Unterschiede in den Präferenzen, in der Bewertung von Such-, Infonnations- und Entscheidungskosten zurückführen. Wer z. B. als Konsument scheinbar irrational im erstbesten Laden kauft, statt Angebote zu vergleichen, bewertet eben die Zeitersparnis höher als die Preisersparnis. Dieser Konsument handelt also optimal im Sinne seines Präferenzsystems. 53 Es läßt sich freilich rasch zeigen, daß mit einer derartigen Erweiterung der Rationalitätsbegriff bald jeden Sinn verliert. Wird das Interesse oder der Nutzen einer Person subjektiv gefaßt, dann muß per definitionem jedwedes Verhalten so interpretiert werden, als maximiere die Person ihren eigenen Vorteil. Ob es sich um einen rücksichtslosen Egoisten oder um einen altruistischen Heiligen handelt, beide verfolgen gleichennaßen nur ihr eigenes Interesse. Solange sie an diesem (beliebigen) Interesse orientiert handeln, treffen sie rationale Entschei52 Zu sagen, daß Menschen nur im Rahmen festgelegter Präferenzen nutzenmaximierend handeln, bedeutet bereits eine erhebliche Einschränkung der Optimierungsthese. Es werden theoriefremde Elemente wie Normen- oder Symbolsysteme eingeführt, die das Verhalten eben nicht nach dem größtmöglichen individuellen Nutzen ausrichten. Um zu verläßlichen Aussagen über künftiges Verhalten zu kommen, muß aber der Optimierungstheoretiker davon ausgehen, daß die Präferenzsysteme nicht nur stabil sind, sondern auch für große Gruppen von Menschen gelten. Nach Becker nehmen die Ökonomen an, "daß sich die Präferenzen im Zeitablauf nicht substantiell ändern, und, daß die Präferenzen von Reichen und Armen, oder selbst von Menschen in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen sich nicht sehr voneinander unterscheiden" (Ökonomischer Ansatz 1982, 3). Damit ist der üblichen Subjektivierung der Präferenzen der Boden entzogen; vgl. hierzu auch M. Steiner, Entscheidungsregeln 1987, 188. 53 Die Ökonomen erklären dieses scheinbar nicht-ökonomische Verhalten mit dem Konzept der Alternativkosten: Bei jeder Wahl muß man sich für eine Alternative entscheiden, man muß aber auch auf eine andere verzichten. Dazu McKenzie, Tullock (Homo oeconomicus 1984,31): ,,Auch wenn dies oft in Geldeinheiten gemessen wird, so sind doch die Kosten, eine Sache zu haben, die Kosten der besten Alternative, auf die wir verzichten mußten, wenn wir die Wahl hätten. Deshalb hat auch jede Handlung ihre Kosten, und es sind diese Kosten, die bestimmen, ob und gegebenenfalls wieviel getan wird. Kosten sind in anderen Worten die Bedingungen der Handlungen. Oder anders: Gibt es so etwas wie ein ,Mittagessen umsonst'? Fernsehen frei? Liebe oder Sex frei?" Die Berücksichtigung der Alternativkosten trägt zur Entscheidungsverbesserung bei, aber wenn auch diese Kosten subjektiv interpretiert werden - und daran geht kein Weg vorbei -, dann ändert sich nichts an der Beliebigkeit der Optimierungsthese.

II. Ordnungstypen

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dungen. 54 An diesem Punkt wird die vollkommen fonnale Struktur des Rationalitätsbegriffs sichtbar. Er beinhaltet nämlich nichts weiter als interne Konsistenz. Danach werden die Entscheidungen einer Person nur dann als ,,rational" betrachtet, wenn sie als das Wählen der präferiertesten Alternative gedeutet werden können. 55 Die Methode zum Verständnis der wirklichen Präferenzen besteht in der Prüfung ihrer tatsächlichen Entscheidungen. Das ist ein tenninologischer Kreisverkehr: Verhalten wird in der Tenninologie von Präferenzen erklärt, die ihrerseits wieder allein durch das Verhalten definiert sind. 56 Die Optimierungsthese enthüllt sich somit als tautologisch und damit nichtssagend. 57 Sie kann zwar durch Einführung immer neuer Ziele beliebig vor FalsifIkation geschützt werden, aber sie verliert zugleich ihre Fähigkeit zu präzisen Voraussagen. 58 Denn je größer die Zahl der Ziele ist, desto unbestimmter ist das Handeln. Unter diesen Umständen könnte Handeln überhaupt nicht mehr zielgerichtet sein. Dem widerspricht jedoch wiederum die häufige Beobachtung einer kontinuierliVgl. hierzu Görres, Walrasianisches Paradigma 1983, 109. Die wesentlichen analytischen Ergebnisse tmden sich bei Richter, Rational Choice 1971. 56 Dazu sehr anschaulich Sen (Rationalclowns 1984, 205): "Die Reduzierung des Menschen zu einem selbstsüchtigen Tier hängt in diesem Ansatz von einer, vorsichtigen' Definition ab. Wenn man dich beobachtet, wie du X wählst und Y ablehnst, spricht man davon, daß du deine Präferenz für X gegenüber Y ,gezeigt' hast. Dein persönlicher Nutzen wird dann einfach als eine numerische Repräsentation dieser ,Präferenz' detmiert, indem ein höherer Nutzen der ,vorgezogenen' Präferenz zugeordnet wird. Mit dieser Reihe von Definitionen kannst du kaum umhin, deinen Nutzen zu maximieren, außer durch Inkonsistenz. Wenn du aus einem Anlaß X wählst und Y verwirfst und dich dann unmittelbar daranmachst, genau das Gegenteil zu tun, kannst du den Theoretiker daran hindern, dir eine Präferenzordnung zuzuschreiben. Er wird dann schließen müssen, daß entweder du inkonsistent bist oder deine Präferenzen sich ändern. Aber wenn man nicht widersprüchlich oder inkonsistent ist, dann ist es gleich, ob man ein verbissener Egoist, ein wilder Altruist oder ein klassenbewußter Militanter ist, man wird immer so dastehen, als maximiere man den eigenen Nutzen in dieser Zauberwelt der Definitionen." 57 Zahlreiche Experimente belegen denn auch, daß die Standards für rationales Verhalten, die die Wirtschaftswissenschaften voraussetzen, so niedrig sind, daß Geisteskranke, die in psychiatrischen Anstalten leben, sie erfüllen können. So verhielten sich z. B. die Patienten, nachdem Preisänderungen für die Güter in den Patientenläden durchgeführt wurden, genauso, wie es Ökonomen vorhersagen: Sie steigerten ihre Einkäufe derjenigen Waren, deren Preise man gesenkt hatte, und kauften weniger von den Waren ein, deren Preise erhöht worden waren (vgl. Battalio, Test 1973, 411; Ayllon, Azrin, Behavior 0/ Psychotics 1965, 357). Rationalitätsverhalten wurde auch bei Ratten, Kohlmeisen, Schlangen und beim Stentor Coeruleus, einem Kleinstlebewesen, nachgewiesen (vgl. zu den Experimenten McKenzie, Tullock, Homo oeconomicus 1984,72). 58 Das aber soll gerade der Vorzug der Nutzenmaxirnierungsthese sein. Sie soll nicht nur das Verhalten der Individuen berechenbar machen, sie soll auch das Handeln kollektiver Akteure wie Unternehmen und Nationen so koordinieren, daß sie miteinander in Einklang gebracht werden. Aus dem I):utzenmaximierenden Verhalten wird das Marktgleichgewicht abgeleitet (vgl. Becker, Okonomischer Ansatz 1982,3). Verständlicherweise gibt dieser Ansatz "dem Individuum wenig Raum, im Verlauf des Maximierungsprozesses seine Werte neu zu fassen und neu zu formulieren" (McKenzie, Tullock, ebd. 43). Würde dieser Raum gewährt, müßte das Marktgleichgewicht aus weiteren Voraussetzungen als nur der Nutzenmaximierung gefolgert werden. 54 55

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ehen Zielorientierung des Handelns. Spätestens an dieser Stelle greift der Optimierungstheoretiker auf Handlungsfaktoren zurück, die außerhalb seines Bezugsrahmens liegen. Er muß zugestehen, daß Menschen im Rahmen vorgegebener Ziele ihr Handeln optimieren. Damit aber hat er stillschweigend die Handlungsfelder der Normen und des symbolischen Bezugsrahmens eingeführt. (2) Handlungsfeld der Strukturiertheit Das Optimierungsprinzip verlangt eine ständige Anpassung des Handeins an situative Komponenten. Da sich die Situationen ständig verändern, ist es gar nicht möglich, daß sich ein Ziel und eine entsprechende Handlungsweise verfestigen. Außer dem Optimierungsprinzip hat der Handelnde keine feste Zielsetzung; er ist strenggenommen orientierungslos. 59 Wenn der ökonomische Theoretiker dennoch die Feststellung kontinuierlichen Handeins akzeptiert, muß er auf eine Präferenzordnung zurückgreifen, die außerhalb seines Ansatzes liegt. Er verweist dann etwa auf Tradition und affektuelle Bindung an Dinge oder Personen, die es verhindern, daß der Akteur perfekt seinen Vorteil optimiert. Aber selbst unter der theoriefremden Zugrundelegung einer wie immer gearteten normativen Ordnung, die das Handeln jenseits von Situations schwankungen strukturiert, ist die Utilitarismusthese nicht zu halten. Als klassisches Beispiel für den Fehlschlag der ökomomischen Rationalität wird häufig das sog. "Gefangenendilemma " angeführt. 60 Es ist dies ein Beispiel dafür, daß trotz vorgegebener Präferenzen das strikt optimierende Verhalten nicht immer zum maximalen Ergebnis führt. Die Geschichte, die dem Gefangenendilemma zugrunde liegt, geht von zwei Gefangenen aus, die vor Gericht kommen sollen. Von jedem ist bekannt, daß er zusammen mit dem anderen ein schweres Verbrechen begangen hat. Die Staatsanwaltschaft kann zwar dieses Verbrechen nicht sicher nachweisen, verfügt aber über Beweise hinsichtlich eines ebenfalls gemeinsam begangenen, jedoch weniger 59 Wenn der Handelnde entsprechend der ökonomischen Theorie stets diejenige Handlung wählt, die ein Optimum verspricht, dann kann es außer dem Optimierungsprinzip keine festen Zielsetzungen geben. Dann handelt er rational, wenn er von Philosophie auf Schrotthandel umstellt, sobald dieser mehr Gewinn verspricht. Hält er dennoch an Philosophie fest, so folgt er nicht dem Optimierungsprinzip. Wenn man nun sagt, daß der Gewinn der Philosophie für ihn alle Kosten weit übersteigt, muß man auch noch als rationales ökonomisches Handeln erklären, wenn der betreffende Philosoph über seinen Büchern verhungert, obwohl er im Schrotthandel reich hätte werden können. In diesem Falle wäre der Hungertod ein so ranghohes Ziel gewesen, daß es für den Philosophen der ökonomischste Weg war, philosophische Traktate zu verfassen. Das Optimierungsprinzip widerspricht jedoch solchen Erklärungsstrategien, da es eine so einseitige Orientierung an einem Ziel, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für andere Ziele, gar nicht zuläßt. Will man also dieses Festhalten an einem Ziel erklären, ist spätestens hier auf Prinzipien zurückzugreifen, die das Handeln zumindest in bestimmten Situationen gegenüber Situationsänderungen resistent machen. 60 Das Gefangenendilemma ist dargestellt in Luce und Raiffa, Games 1958, Kap. 5; Rapoport, Game Theory 1966; Rapoport, Chammah, Prisoner' s dilemma 1965; Watkins, Rationality 1970; Runciman und Sen, Games 1965; Howard, Rationality 1971.

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schweren Delikts. Die Gefangenen stehen nun vor dem Problem, ob sie in der getrennt durchgeführten Befragung ein Geständnis ablegen sollen oder nicht. Wenn beide es tun, werden sie beide für das schwere Verbrechen bestraft, bekommen aber relativ milde Urteile von angenommen 10 Jahren Gefängnis. Wenn keiner von beiden gesteht, werden beide nur für das weniger schwere Delikt bestraft, für das die Höchststrafe zwei Jahre betragen soll. Wenn einer gesteht und der andere nicht, d. h. wenn einer bereit ist, die Schuld des anderen zu bezeugen, dann kommt er mit einer äußerst geringen Strafe davon, während der andere die volle Strafe von 20 Jahren Gefängnis erhält. Bei dieser Lage der Dinge entspricht nur das Geständnis dem Optimierungsprinzip. Da sich die Gefangenen nicht beeinflussen können, muß jeder mit dem Geständnis des anderen rechnen. Und falls der andere nicht gesteht, ist ein Geständnis sogar noch günstiger. Also werden sich beide zu gestehen entschließen. Obwohl es für beide ein eindeutiges Ziel gibt, nämlich eine möglichst geringe Strafe zu erhalten, und obwohl beide das Ziel durch Verweigerung des Geständnisses erreichen könnten, werden sie aus Vemunftgründen gestehen und dafür 10 Jahre Gefängnis erhalten. Jeder Gefangene ist also besser gestellt, wenn er unabhängig von der Strategie des anderen die eigeninteressierte Strategie wählt, aber beide würden noch besser abschneiden, wenn sie gemeinsam die unselbstsüchtige Strategie wählen würden. Das individuelle Optimierungsverhalten führt letztlich zu einem ungünstigeren Ergebnis für alle. 61 61 Sen weist darauf hin, daß das Gefangenendilemma auch einen Konflikt zwischen rationalem Verhalten und moralischem Handeln offenbart (vgl. Entscheidungen 1985, 189). Nach Kants "Sittengesetz" (,,Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde"; vgl. Metaphysik 1965) würde keiner der beiden Gefangenen wünschen, daß das Gestehen eine allgemeine Praxis würde. Das Nicht-Gestehen scheint hier also Kants Imperativ zu erfüllen. Es erfüllt auch Rawls' Konzeption von Fairness und Gerechtigkeit (vgl. Gerechtigkeit 1975). In der anfanglichen Gleichheit des "Urzustandes" (original position) hätte jeder ganz eindeutig vorgezogen, daß keiner von beiden gestehen soll. Es würde die Position des am schlechtesten Gestellten verbessern, da es die von beiden verbessert. Die Empfehlung des NichtGestehens scheint auch den zwei "Regeln moralischen Räsonierens" von Hare zu entsprechen: "Wenn wir versuchen, in konkreten Fällen zu entscheiden, was wir tun wollen, dann suchen wir eine Handlungsweise, auf die wir uns festlegen können, aber die wir gleichzeitig als eine zu akzeptieren bereit sind, die beispielhaft für ein Handlungsprinzip ist, welches anderen in entsprechenden Umständen zur Vorschrift gemacht werden kann" (Freedom 1963, 89; ders., Moral 1983). Wieder würde das Nicht-Gestehen als Regel vorgezogen werden. Von Bedeutung ist also, daß alle besser abschneiden, wenn sie der moralischen Vorschrift folgen und nicht rational ihrem Eigeninteresse nachgehen. Das kann nicht überraschen. Schließlich gehört es zu den wichtigsten Aspekten von Moralität, daß ein Opfer an individuellem Gewinn zugunsten einer generellen Regel guten Verhaltens letztlich allen nützt. Warum im Gefangenendilemma dennoch häufig nach der individuellen Vernunft entschieden wird, hängt damit zusammen, daß keiner weiß, was der andere tun wird. Das Ergebnis hängt also entscheidend vom Verhalten ab, das jeder Gefangene vom anderen erwartet. Solange sich der Gefangene nach seiner Erwartung verhält, handelt er im Sinne der Spieltheoretiker rational. Das eigentliche Rätsel für Spieltheoretiker ist demnach, warum sich viele Teilnehmer am Gefangenendilemmaspiel unselbstsüchtig verhalten.

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Das Beispiel des Gefangenendilemmas ist bestens geeignet, die These der Utilitaristen zu widerlegen, daß sich aus der Vielzahl eigeninteressierten Verhal. tens - wie von unsichtbarer Hand gelenkt - eine optimale Ordnung herausbilde. Das rationale Verhalten ist eben nicht das Optimierungsverhalten, wie die Ökonomen annehmen, sondern das kooperative Verhalten. Menschen in wirklichen Lebenslagen schlagen denn auch sehr häufig nichtselbstsüchtige Strategien ein. Sogar in kontrollierten Laborexperimenten verhalten sich die Teilnehmer an dem Gefangenendilemmaspiel häufig unselbstsüchtig,62 was Ökonomen veranlassen müßte, von irrationalem Verhalten zu sprechen. In der Tat interpretieren ökonomisch orientierte Spiel- und Entscheidungstheoretiker die überall beobachtbaren Abweichungen vom Ideal des homo oeconomicus mit kognitiven Beschränkungen der Rationalität oder schlicht mit Mangel an Intelligenz. So resümieren Rapoport und Chammah ihre Studie über das Gefangenendilemma mit den Worten: "Selbstverständlich sind die alltäglichen Spieler strategisch nicht hinlänglich gebildet, um die selbstsüchtige Strategie als die einzig rational haltbare zu erkennen. Diese intellektuelle Schwäche bewahrt sie vor dem Verlieren." 63 Ein weiteres Argument, das den ökonomischen Verhaltenstyp mit dem Gefangenendilemma in Einklang bringen soll, besteht in einer wesentlichen Einschränkung des Rationalitätsbegriffs. Beide Argumente - das der kognitiven Beschränkung wie das der eingeschränkten Rationalität - sind nicht geeignet, das ökonomische Paradigma als einzige Erklärung menschlichen Verhaltens zu stützen. Sie offenbaren vielmehr seine Unhaltbarkeit. Die Rede von der kognitiven Beschränkung der Rationalität meint, daß mangelnde Übersicht über Informationsmöglichkeiten und Informationskosten die rationale Entscheidung behindere. Dahinter steht das Idealbild einer informationsverarbeitenden Maschine, die bei hinreichender Transparenz der Daten nur eine Entscheidung, die einzig richtige und einzig rationale, treffen kann. 64 Die Konzeption der formalen Rationalität fordert die Norm der vollständigen Information, 62 Dies bestätigt z. B. Lave, Prisoner's Dilemma Game 1962. 63 Rapoport, Charnmah, Prisoner's Dilemma 1965, 29. Es läßt sich aber auch die Möglichkeit vorstellen, daß sich die Spieler gefragt haben, welche Art von Präferenzen sie dem anderen Spieler wünschen würden. Sie hätten sich dann im Kantschen Sinne so verhalten, als ob die andere Person diese Präferenzen habe. Die Spieler wären in diesem Fall zweifellos "gebildeter" gewesen, als dies die Theorie von Rapoport und Charnmah gestattet. Werden alternative Verhaltensnormen in Betracht gezogen, die sich aus einer an verantwortlicher Verpflichtung orientierten Handlungsweise ergeben, so handeln die Individuen nach einer Rangordnung von Präferenzen, die mitnichten unintelligent ist (vgl. hierzu Sen, Entscheidungen 1985, 193; ders., Rationalclowns 1984,221). 64 Patzak (Homo oeconomicus 1983, 60) kennzeichnet die Berechenbarkeit des Verhaltens, die in der ökonomischen Theorie angestellt wird, mit dem Begriff "Reaktionsaxiom": "Die Reaktionsbedingung schreibt dem idealen Wirtschaftsmenschen vor, auf eine eigene Zielreflexion zu verzichten und sich in seiner Ziel-Mittel-Zuordnung gemäß formaler Rationalität ausschließlich auf die von außen, also vom Markt vorgegebenen Ziele zu begrenzen. Die dem homo oeconomicus vorgegebene Verhaltensnorm verbietet also die Einbeziehung von Intentionalitäten und somit die Selbstvorgabe von Zielen. Insofern ist auch das Reaktionsaxiom geeignet, den Vergleich mit einer ,Computeranalogie' aufrechtzuerhalten, weil kein ,realer' Mensch im Handlungsvollzug seine Reflexion

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damit die Zuordnung von Zielen und Mitteln überhaupt einlösbar ist. Sie fordert darüber hinaus einen menschlichen Organismus, der fähig ist, auf die Umweltsignale nach dem Modell trivialer Maschinen zu reagieren. 65 Beide Annahmen sind nachweislich unrichtig. Die Erkenntnisbiologie hat uns gelehrt, daß die der Informationstheorie zugrundeliegende Abbild-Theorie in keinster Weise die Funktion des Gehirns angemessen beschreibt. Das Gehirn schafft sich im Rahmen sprachlicher Koppelung mit anderen Gehirnen seine Informationen selbst. Infolgedessen reagiert es nicht wie ein Computer auf vorgegebene, äußere Reize, sondern benutzt selbstentworfene Kognitionen, um in unterschiedlichen Situationen adäquat und "berechenbar" handeln zu können. In keinem Fall wird die lineare Denkweise des idealen Wirtschaftsmenschen der selbstreferentiellen Organisation des menschlichen Gehirns gerecht. Dieses kann sich mit Hilfe des affektlogischen Bezugssystems Präferenzen aufbauen, die den anderen Mitspieler ebenfalls als autopoietisches System erfassen, das zur Erzeugung konsensueller Bereiche befähigt ist. Dann aber löst sich das Rätsel des Gefangenendilemmas auf. Es funktioniert ja nur unter der Voraussetzung, daß der jeweils andere zu einer kurzfristig und situationsabhängig nutzenmaximierenden Maschine verdinglicht wird. 66 Sobald Intersubjektivität, Normen der im Hinblick auf die Ziele, d. h. seine Bewußtheit der Handlung vollkommen auszuschalten vermag." 65 Der formale Charakter der Rationalmaxime bedeutet, daß ihre Anwendung nicht darauf angewiesen ist, von einer Person genutzt zu werden. Die Optimierungsvorschrift versteht auch eine Maschine. Als solche werden die Menschen in der These von der formalen Rationalität konzipiert: depersonalisiert und ohne empirischen Gehalt. "Damit aber sind bei einer Verhaltensanalyse gemäß des Rationalitätsprinzips auch alle Probleme der Identität, der Verantwortung und Moralität des Handelnden ausgegrenzt, weil deren Einbeziehung gerade eine Verletzung des Formalprinzips bedeuten würde" (Patzak, ebd. 60). 66 Es mag sein, daß dieses verkürzte Menschenbild mit den historischen Bedingungen r~~triktiven wirtschaftlichen Handeins in Verbindung zu bringen ist. Streit und Pelzmann (Okonomisches Verhalten 1983,45) sind der Auffassung, daß das rationale Maximierungskalkül des homo oeconomicus aus einer Zeit stamme, in der die wirtschaftlichen Freiräume noch sehr eng waren: ,,Dementsprechend stand auch in der ökonomischen Theorie lange Zeit die Idee im Mittelpunkt, daß die Orientierung des Menschen bei allen wirtschaftlichen Handlungen von dem Wunsch bestimmt sei, die eigenen ökonomischen Bedürfnisse so gut wie möglich zu befriedigen. Dazu wurde nicht viel mehr als erforderlich angesehen als die Absicht, den Einsatz der im eigenen Besitz befmdlichen Güter sorgfältig zu planen ... In der ökonomischen Theorie wurde die Vielzahl menschlicher Bedürfnisse durch das Universalbedürfnis Nutzen ersetzt. Auf eine Erklärung individueller Präferenzen wurde verzichtet: Es wurde vielmehr postuliert, daß jeder Mensch in allen ökonomisch relevanten Lebenssituationen das maximale Element seines Möglichkeitsbereiches wählt, immer und überall ... Inzwischen hat sich aber mit wachsendem wirtschaftlichem Potential und größerem Wohlstand auch die Entscheidungsfreiheit im wirtschaftlichen Handeln für den größten Teil der Bevölkerung in den industrialisierten Ländern erweitert." Das hat dazu geführt, daß sich die Palette der Präferenzen erheblich erweitert und mit nicht-rationalen Motiven und Entscheidungen angefüllt hat (vgl. hierzu die Bestätigung aus der experimentellen Wirtschaftsforschung bei Pelzmann, .9Ptimierungsverhalten 1982, 139; ders., Wirtschajtspsychologie 1983; Stroebe, Frey, Okonomisches Verhaltensmodell 1981).

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Kooperation und Verständigung ins Spiel kommen, lassen sich "uneigennützige" Strategien einschlagen, die das Gesamtergebnis optimieren. Insofern muß die zentrale Kritik am Ökonomismus lauten, d~ seine Optimierungsthese zu kurz greift, nämlich nur auf dem Handlungsfeld der Ziele, allenfalls noch auf dem der Situation angesetzt ist. Erstreckt sich hingegen die Optimierungsthese auf alle Handlungsfelder, insbesondere auf das der Normen und des symbolischen Bezugsrahmens, dann werden Prozesse interpersonaler Orientierung erfaßt. Erst solche Prozesse der Herausbildung parallelisierter kognitiver Zustände generieren Prozesse der interpersonalen Optimierung. 67 Diese Argumentation erfordert von den Akteuren eine Umstellung der Spielstrategie von der Optimierung einzelner struktureller Komponenten zur Optimierung der autopoietischen Organisation. Dies heißt, die Handelnden müssen lernen, alternative Verhaltensnormen im Lichte globalerer Überlebensstrategien zu bewerten. Hierzu ist ein kognitiver Apparat der Rangordnung von Rangordnungen erforderlich, der die Optimierungsthese aus ihrer ökonomistischen Vereinseitigung befreit und der die Rationalität der Pyrrhussiege überwindet. Diese beschränkte Rationalität kann man freilich nicht dadurch überwinden, indem man sie irliiner weiter beschränkt. Die Theorie des "eingeschränkten rationalen Verhaltens" (bounded rationality) geht jedoch offensichtlich den Weg einer fortschreitend halbierten Rationalität. 68 Sie trägt zwar dem Umstand Rechnung, daß sich Menschen sehr häufig eben nicht "optimal" verhalten, aber sie führt dies nicht auf den Beobachter und dessen Rationalität zurück, sondern einerseits auf die begrenzte Rechenkapazität des Gehirns und andererseits auf 67 Der bloße Hinweis auf Vertrag, Konvention, Abmachung usw. kann also die Herausbildung kognitiver struktureller Koppelung nicht ersetzen. Mit anderen Worten: Ein dezisionistischer Standpunkt, der lediglich auf das Verfahren der Normsetzung verweist, kann eine Orientierung an kollektiver, interpersonaler Optimierung nicht hervorbringen. Hierfür ist vielmehr ein ,,kognitivistischer" Standpunkt erforderlich, für den die Bestimmung richtiger Normen ein Problem der Erkenntnis allgemein nützlicher Behauptungen ist (vgl. näher zur Unterscheidung zwischen inhaltlicher und verfahrensmäßiger Richtigkeit Wesche, Wahrheit 1985, 111). 68 Das Modell der "bounded rationality" stammt von Simon (Behavior 1947; Man 1957; Rational decision-making 1979,493), der durch die Beobachtung von Unternehmensentscheidungen von der Optimierungstheorie Abstand genommen und die Kritik an der unbeschränkten Denk- und Rechenfahigkeit des Menschen begründet hat. Der Begriff "bounded rationality" trägt dem Umstand Rechnung, daß weder vollständige und konsistente Präferenzen bei den Akteuren bestehen, noch die komplexe wirtschaftliche Realität von diesen erfaßt werden kann. Wie Maturana mit seinem Konzept des Strukturdeterminismus geht auch Simon davon aus, daß die Entscheidungen des Individuums von seiner bisherigen Entwicklung abhängig sind. Hinzukommen die Restriktionen konkreter nicht-ökonomischer Rahmenbedingungen und Zufallseinflüsse. Folglich wird ein rationaler Akteur, dem realistischerweise (a) nicht alle Informationen kostenlos und ohne eigene Anstrengungen geliefert werden und der (b) kognitiven und sonstigen Beschränkungen der Informationsverarbeitung ausgesetzt ist, nicht nur über die Wahlobjekte optimieren, sondern auch über die Informationskosten (vgl. Stigler, Information 1961, 213; Riker, Ordeshook, Political Theory 1973, 20; Raub, Voss, Handeln 1981; Voss, Rationale Akteure 1983,93).

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die hohen Infonnationskosten, die eine Optimierungs strategie erfordern. Daher verfolge der Mensch bei den meisten Entscheidungen eine "SatisJicing-Strategie":69 Nicht nach der besten Lösung wird gesucht, sondern nach einer, die gewisse Mindestanforderungen erfüllt. Eine solche Strategie macht eine wesentlich geringere kognitive Belastung und einen geringeren Aufwand bei der Informationssuche notwendig. Die handelnde Person geht ihre Handlungsalternativen der Reihe nach durch, bis sie eine findet, die sie zufriedenstellt. 70 69 Das Prinzip des "satisficing" hat Simon als Optimierungsannahme vorgeschlagen, die schwächer ist als die der Maximierung (vgl. Rational choice 1955, 99). 70 Nach Kirsch (Entscheidungsprobleme 1978, Kap. 4) finden sich in der psychologischen Literatur viele Hinweise, daß die Informationsverarbeitung des Individuums nicht einer "objektiven" Entscheidungslogik, sondern eher einer subjektiven Psycho-Logik folgt (vgl. auch Entscheidungsprozesse 1977). Mit besonderem Nachdruck weist e)" desweiteren darauf hin, daß echte Entscheidungen bzw. bewußte Problemlösungsbemühungen relativ selten sind: Normalerweise reagiert das Individuum vergleichsweise gewohnheitsmäßig auf Stimuli aus seiner Umwelt. Seine These lautet: "Probleme werden oftmals lediglich ,gehandhabt', nicht jedoch in einem engeren Sinne des Wortes ,gelöst'" (Individualentscheidung 1983, 28). Als Hauptmerkmale des Entscheidungsverhaltens bzw. des Prozesses der Problemhandhabung werden von Kirsch genannt: (1) Der Entscheider läßt die Probleme normalerweise auf sich zukommen und versucht, seine früheren Entscheidungen so lange als möglich zu rechtfertigen. Das Entstehen neuer Probleme wird möglichst lange geleugnet. (2) Der Entscheidungsprozeß führt nicht zu dem punktuellen Akt einer Finalentscheidung, sondern die Festlegung erfolgt allmählich ("creeping commitment"). Während des Entscheidungsprozesses werden die mit den Vorentscheidungen gegebenen Prämissen abgeschirmt. Das verhindert, daß bei Vorliegen neuer Informationen das bisher Erreichte wieder aufgegeben wird. (3) Der Entscheider gelangt erst im Laufe des Entscheidungsprozesses zu einer Konkretisierung der Merkmale, die sein Problem konstituieren. Zunächst besitzt er nur eine vage Vorstellung davon, was er nicht will. Erst im weiteren Verlauf des Suchverhaltens entstehen daraus Zielsetzungen, die die anzustrebenden zukünftigen Zustände ohne Bezug auf die gegenwärtigen Mängel definieren. (4) Der Entscheider sucht lediglich befriedigende Lösungen für sein Problem. Er will nicht einzelne Ziele maximieren, sondern sein Anspruchsniveau erreichen. Dieses Anspruchsniveau unterliegt im Verlauf des Prozesses Änderungen. Es wird gesenkt, wenn das angezielte Niveau nicht erreicht werden kann. (5) Bei der Suche nach Lösungsmöglichkeiten knüpft der Problemlöser am Status quo an (inkrementalistische Suche). Da er ihn so geringfügig wie nur möglich ändern will, zieht er nur selten völlig neue Alternativen in Betracht. (6) Bei der Suche nach Lösungsmöglichkeiten läßt sich der Entscheider von Faustregeln und heuristischen Prinzipien leiten, die die Suche drastisch begrenzen. Die Alternativen werden also von vornherein auf jene Bereiche gelenkt, wo erfahrungsgemäß am ehesten Lösungen zu fmden sind. (7) Ein generelles heuristisches Problem ist darin zu erblicken, daß der Problern1öser zunächst eine stark vereinfachte Version seines Problems angeht. Nicht selten stellt diese Stufe des Problemlösens eine Aujgabendekomposition dar. Eine Gesamtaufgabe wird zunächst in eine Menge von Teilaufgaben zerlegt, wobei diese dann als isolierte Probleme behandelt werden. (8) Nicht selten ist die Problemhandhabung durch ein "Durchwursteln" (muddling through) charakterisiert. Der Problemlöser begnügt sich mit dem Auffinden eines ersten guten Schrittes, den er sofort verwirklicht. Er wartet dann ab, was dabei herauskommt, und sucht dann den nächsten Schritt. Auf diese Weise wurstelt sich der Problemlöser

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Damit ist das Maximierungsprinzip de facto aufgegeben. Die Menschen suchen in der neuen Fassung des .,ökonomischen" Ansatzes nur die Erfüllung ihres Anspruchsniveaus zu erlangen. Dieses Anspruchsniveau ist nach Ansicht von Thibaut und Kelley das Ergebnis eines Vergleichs zwischen den in ähnlichen Situationen selbst erreichten Resultaten und den Resultaten relevanter Bezugspersonen in vergleichbaren Situationen. So hängt zum Beispiel die Zufriedenheit mit dem eigenen Einkommen sowohl von der Relation des gegenwärtigen zu dem in der Vergangenheit erzielten Einkommens ab als auch von dem Einkommen der Bezugspersonen. 71 Derartige Relativierungen der Ansprüche und Präferenzen durch individuelle Bezugssysteme sieht die klassische ökonomische Theorie nicht vor. Soll die Optimierungshypothese trotz der angeführten psychologischen Theorien dennoch Geltung behalten, muß sie auf das jeweilige Anspruchsniveau des Handelnden bezogen werden. Optimal ist dann zumeist nicht die mögliche, sondern schon irgendwie zufriedenstellende Entscheidung. Die eingeschränkte Rationalität ist also nichts anderes als die oben bereits beschriebene subjektive Fassung des Optimierungsprinzips, womit der terminologische Kreisverkehr wieder geschlossen wäre: Was immer ein Mensch tut, es kann als Optimierungsverhalten interpretiert werden. Da es subjektive Präferenzen sind, die optimiert werden, und diese Präferenzen weder durch Normen noch durch den symbolischen Bezugsrahmen strukturiert sind, müssen die Präferenzen von Situation zu Situation variieren. Als Fazit bleibt daher festzustellen: Das strikt ökonomische Verhalten optimiert den Zufall. Es ist dann reine Glückssache, ob damit auch ein kollektiver Nutzen optimiert wird.

nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum durch das gesamte Problem. (9) Ein Problemlöser fragt normalerweise nach erheblich weniger Informationen, als man aufgrund ,,rationaler" VOfÜberlegungen erwarten könnte. Das gilt auch dann, wenn ein ausreichendes Informationsangebot zur Verfügung steht. (10) Die These von der begrenzten Informationsnachfrage steht in Einklang mit der These, daß das Individuum, statt das Informationsdefizit zu beheben, versucht, die Umwelt zu manipulieren. Dies wird ihm in dem Maße gelingen, in dem ihm Macht zur Verfügung steht. (11) Der durch die Ungewißheit ausgelöste intraindividuelle Konflikt wird häufig nicht durch weiteres Suchverhalten gelöst, sondern durch Veränderung des Anspruchsniveaus (Anspruchsanpassung). (12) Die Defmition des Problems erfahrt während des Prozesses laufend Veränderungen und wird an die bis dato gefundenen Lösungsmöglichkeiten angepaßt. Nicht erreichbare Ziele werden einfach vernachlässigt. Die dann gefundenen Lösungen sind nur Lösungen im Lichte erheblich modifizierter Problemdefinitionen. Jede Problemhandhabung schafft damit Nachfolgeprobleme. Auch das paßt in das generelle Bild des Durchwurstelns (vgl. zum Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität der "Lohhausen-Bericht" von Dörner u. a., der weithin dem von Kirsch geschilderten Prozeßablauf des Entscheidungsverhaltens entspricht); siehe auch von Dörner, Denken 1989,47; Mißlingen 1989. 71 Thibaut, Kelley, Psychology 0/ groups 1959. Zur .,Anspruchsniveautheorie" vgl. Sauermann, Selten, Anspruchsanpassungstheorie 1962,577; Tversky, Elimination 1972, 281.

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(3) Handlungsfeld der Identität Der symbolische Bezugsrahmen erlaubt eine Identität des Handeins, unabhängig von Zielen, Situationen und Normen, die alle in den Bezugsrahmen integriert sind. Wer die Welt als einen Prozeß der Verständigung betrachtet, wird die übrigen Handlungsfelder unter diesen generellen Bezugsrahmen subsumieren. Die Handelnden orientieren dann ihr Handeln an der Konsistenz des Bezugsrahmens. Nach dem Optimierungsgrundsatz ist indes eine Konsistenz des Handelns nicht zu erwarten. Vielmehr müßte das Handeln bei gleicher Situation gleich bleiben und bei veränderter Situation durch eine neue Suche nach dem optimalen Weg gekennzeichnet sein. Daß Handeln trotz gleichbleibender Bedingungen variieren und bei veränderter Situation gleichbleiben kann, ist jedoch ein häufig zu beobachtender Tatbestand, der vom Bezugsrahmen der ökonomischen Theorie nicht erfaßt wird. Will die utilitaristische Sicht diesen Tatbestand nicht leugnen, muß sie mit Ad-hoc-Hypothesen arbeiten, um die Abweichungen von ihrem Standpunkt erklären zu können. Sie kann etwa annehmen, daß sich Handeln ausnahmsweise an allgemeinen Merkmalen orientiert. In diesem Fall besitzen die Akteure die Fähigkeit, ihr Handeln an einem generellen symbolischen Bezugsrahmen auszurichten, unter den sie eine Reihe spezieller Handlungen subsumieren und den sie auf verschiedenste Situationen übertragen können. Verfügen z. B. politische Akteure über einen normativen Bezugsrahmen der demokratischen Meinungsbildung, so können sie trotz veränderter Situationen im wesentlichen die Form ihres Handelns beibehalten und benötigen keine zeitraubenden neuen Lernprozesse. 72 Umgekehrt: Je weniger Strukturen rational-argumentativer Entscheidungsverfahren in die Politik eingeführt sind, um so mehr herrscht im politischen Alltag ein ständiges Versuch-Irrtums-Lernen und die Suche nach dem Optimum partikularer Interessen vor. Werden demgegenüber von der ökonomischen Theorie überdauernde Verhaltensregelmäßigkeiten anerkannt, so bedeutet der Begriff des symbolischen Bezugsrahmens für diese Theorie lediglich eine Residualkategorie, die Abweichungen von der reinen Lehre einfangen soll. 73

72 Solche politischen Akteure können aber auch in gleichbleibenden Situationen ihr Handeln variieren. Es genügt, daß sie sich an allgemeinen Merkmalen des Handeins orientieren, unter die sie mehrere speziellere Handlungen subsumieren. 73 Im Rahmen der kognitiven Handlungstheorie hat der Begriff des symbolischen Bezugsrahmens einen systematischen Stellenwert: Er erklärt die Ausprägung diskursiver Strukturen und den Gebrauch von Argumenten. Je weniger diskursive Strukturen und Argumentengebrauch ausgeprägt sind und statt dessen das Handeln von Tausch und Anreizen beherrscht wird, um so mehr bleibt das Handeln in gleichen Situationen gleich und um so mehr erfordert es neue Anpassungsprozesse in neuen Situationen. Münch gibt folgendes Beispiel: "Wenn der Ehemann mit seiner Frau wenig Gespräche führt, wird er sein Handeln ihr gegenüber kaum variieren können und immer wieder neu lernen müssen" (Handeln 1982,266).

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Eine weitere Kritik am Ökonomismus menschlichen Verhaltens betrifft die Genese und inhaltliche Bestimmung dessen, was als positiv und erstrebenswert bewertet wird. 74 Normen und symbolische Bezugsrahmen gehören zu den Ausgangsdaten, die in der ökonomischen Theorie vorgegeben sind. Die Optimierungshypothese sagt nur: Sowie Werte oder Güter definiert sind, kann man annehmen, daß ein Individuum versucht, den Besitz oder Genuß dieser Güter zu maximieren. In diesem Ansatz reagiert also das Individuum bloß auf gegebene Reize. 75 Es ist dies - wie bereits festgestellt - eine vollkommen anti-kognitivistische Sichtweise. Denn dem Nutzenmaximierer bleibt kein Raum, seine Werte selbst zu formulieren und gegebenenfalls neu zu fassen. Soweit die Werte als "subjektiv" hergestellt begriffen werden, bleibt der gesamte Herstellungsprozeß ungeklärt. Im ersten Fall offenbart sich ein Mangel an Gesellschaftstheorie, im zweiten Fall ein Mangel an Sozialisationstheorie. Beide Male entzieht sich der Produktionsprozeß von Werthaltungen, Identität, Autonomie etc. dem Konzept der Optimierungsthese. Ich fasse zusammen: Eine Ordnung, die gänzlich auf dem eigeninteressierten Verhalten ihrer Mitglieder beruht, muß eine zufällige sein. Unter der alleinigen Herrschaft des Optimierungsprinzips können sich dauerhafte Präferenzen und Wertsysteme nicht herausbilden, da die Ziele den Optimalitätsbedingungen sich verändernder Situationen unterworfen sind. 76 Unter diesen Bedingungen kann Ordnung nur bestehen, solange jede Abweichung von Verhaltensregelmäßigkei74 Siehe dazu McKenzie, Tullock (Homo oeconomicus 1984, 43): "Die Volkswirtschaftslehre kann nun unglücklicherweise nur sehr wenig darüber sagen, was Menschen bewerten und warum sie dies tun. Werte gehören zu jenem Typus von Ausgangsdaten, die vorgegeben sein müssen oder als Teil der Analyse angenommen werden müssen." Auch Becker beklagt, daß "Ökonomen im allgemeinen, besonders aber auch in jüngerer Z!?it, wenig zum Verständnis der Herausbildung von Präferenzen beizutragen hatten" (Okonomischer Ansatz 1982, 3). Ribhegge resümiert: "Der Realitätsgehalt der Theorie rationaler Erwartungen ist oft bezweifelt worden. Dies gilt besonders für die Frage, inwieweit mit dem Erwartungskonzept der Theorie rationaler Erwartungen die tatsächliche Erwartungsbildung der Wirtschaftssubjekte adäquat beschrieben wird" (Rationale . Erwartungen 1987,92). 75 Patzak spricht in diesem Zusammenhang von der Depersonalisierung des Homooeconomicus-Modells, die darin besteht, daß der Wirtschaftende in seiner Bewußtheit des Handelns aus der Modellbetrachtung ausgeschlossen bleibt und im Modell als bloßer Reaktionsmechanismus erscheint: "Wegen einer solchen ,Linearität' des Denkens erschöpft sich die kognitive Leistung des idealen Wirtschaftsmenschen in der Fähigkeit der Problemlösung, wobei ein Problem immer ,das ihm Vorgegebene' und nicht etwas ,von ihm Entworfenes' ist" (Homo oeconomicus 1983,61). 76 Deshalb kann die utilitaristische Sichtweise mit ihrer Betonung der individuellen Nutzenerwägungen auch nichts zu den substantiellen Aspekten der modernen Institutionen, zur Bedeutung kultureller Traditionen und zur diskursiven Argumentation für die Stabilität der Institutionen beitragen. Die Akteure geraten hier immer in das Gefangenendilemma. Das wird regelmäßig übersehen, wenn man - wie Mackie, Ethik 1981, oder Hoerster, Rechtsethik 1982, 265; ders., Moralbegründung 1983,225 - Normensysteme ausschließlich in faktisch vorherrschenden individuellen Eigeninteressen begründet sieht. Dazu Münch: "Institutionen befinden sich nach diesem Ansatz in einem kulturellen und gemeinschaftlichen Vakuum" (Moderne 1984,47).

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ten "teurer" ist als deren Befolgung. Das kann aber nur für sehr kleine soziale Kreise Bedeutung haben. Soweit die sozialen Interdependenzen größere Dimensionen annehmen, ist unter positivistischen Vorzeichen Ordnung nur als eine von Machthabern durchgesetzte zu begreifen. Eine solche Zwangsordnung finden wir im macht- und konflikttheoretischen Positivismus ausformuliert.

b) Zwangsordnung (Machttheorie) Im Unterschied zur ökonomischen Theorie stellt die Macht- und Konflikttheorie eine Variante des Positivismus dar, in der das Handeln nicht durch den Zufall beliebiger Ziele geleitet, sondern durch eine extreme Strukturierung der Situation determiniert wird. 77 Als zentraler Strukturierungsfaktor gilt der Einsatz von Macht. Handeln ist hier eine Folge von Macht, die den Akteuren in bestimmten Situationen und für bestimmte Ziele zur Verfügung steht. Soziale Ordnung wiederum ist die Folge des Handeins derjenigen Akteure, die für ihre Interessen am meisten Macht mobilisieren können. Im Extremfall gelingt es einem Machtüberlegenen, allen übrigen Akteuren bestimmte Handlungsweisen aufzuzwingen. Demzufolge werden die Regelmäßigkeiten des Handeins auf eine konstante Machtüberlegenheit derjenigen Akteure zurückgeführt, für die diese Regelmäßigkeiten von Nutzen sind. Für die Machtunterworfenen sowie für die Machtüberlegenen heißt dies, daß ihr Handeln streng durch ihren Platz in der Machthierarchie determiniert ist. 78 77 Zur Macht und Konflikttheorie siehe als klassische Vertreter: Machiavelli, Fürst 1961; Hobbes, Leviathan 1966. Modeme Varianten der Macht- und Konflikttheorie vertreten z. B. Dahrendorf, Gesellschaft 1961; Bendix, Könige 1980; Collins, Conflict Sociology 1974; Gou1dner, Sociology 1971; Mills, Imagination 1959. Zu den machtund konflikttheoretischen Elementen des Marxismus vgl. z. B. Pou1antzas, Politische Macht 1974. Zu den macht-theoretischen Elementen bei Foucault und Habermas vgl. Honneth, Macht 1989, 113. 78 Diesem Modell einer ,,zwangsordnung" entsprechen die grundlegenden Überzeugungen der klassischen Politikwissenschaft sowie der marxistischen Sozialtheorie. Der ersteren zufolge stellt Macht einen vertraglich geregelten, der letzteren zufolge einen gewaltsam angeeigneten Besitz dar, der den politischen Souverän dazu berechtigt oder ermächtigt, mittels zentral gelenkter Institutionen repressiv Herrschaft auszuüben. Die klassische Politikwissenschaft denkt sich den Besitz der Macht nach einem juristischen Vertragsmodell als eine Übertragung von Rechten, die marxistische Herrschaftstheorie begreift den Besitz der Macht nach einem etatistischen Denkmodell als eine Aneignung des Staatsapparates. Beiden Theorietraditionen setzt Foucault ein strategisches Machtmodell entgegen (ich stütze mich im folgenden auf die Interpretation der Machttheorie Foucaults durch Axel Honneth, Macht 1989, 168). Gegen die These von einem sozialen Aktor, der Macht vertraglich oder gewaltsam besitzt, wendet Foucault ein, daß Macht kein fixierbares Vermögen, keine dauerhafte Eigenschaft eines individuellen Subjekts oder einer sozialen Gruppierung, sondern das prinzipiell labile und unabgeschlossene Produkt der strategischen Auseinandersetzung zwischen Subjekten sei. Der Erwerb und die Behauptung gesellschaftlicher Macht findet daher nicht in Form einer einseitigen Anordnung und Ausübung von Verfügungsrechten oder Zwangsinstrumenten statt, sondern in Gestalt eines andauernden Kampfes sozialer Akteure untereinander: "Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: Die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen,

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die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten - oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren ... " (Sexualität 1977, 113). Den Hintergrund von Foucaults Machttheorie bildet ein handlungstheoretisches Bezugsmodell, in dem die Entstehung sozialer Macht auf die in den gesellschaftlichen Alltag eingelassenen Konflikte zurückgeführt wird: "Man muß davon ausgehen, daß die vielfältigen Kraftverhältnisse, die sich in den Produktionsapparaten, in den Familien, in den einzelnen Gruppen und Institutionen ausbilden und auswirken, als Basis für weitreichende und den gesamten Gesellschaftskörper durchlaufende Spaltungen dienen" (Sexualität 1977, 115). An anderer Stelle heißt es sogar, daß die Macht "immer eine bestimmte Form augenblickhafter und beständig wiederholter Zusammenstöße innerhalb einer bestimmten Anzahl von Individuen" ist (Macht 1976, 114). In dieser Formulierung sieht Honneth den handlungstheoretischen Grundgedanken, der ansonsten in einer Nietzsche-Terminologie (Wille, Mfekte, Begehren etc.) gehüllt ist, unverstellt zutrage treten: "Die Entstehung von Macht kann auf elementarer Ebene an den Handlungssituationen studiert werden, in denen Subjekte mit konkurrierenden Zielsetzungen aufeinandertreffen und sich um die Durchsetzung ihrer Zielsetzungen streiten; soziale Macht ,ist' dann freilich nicht diese strategische Konfrontation selbst, sondern resultiert aus dem Erfolg, mit dem eines der konkurrierenden Subjekte den Streit für sich entscheiden kann . . . Dann befmdet sich jede Gesellschaft, insofern sie als ein Konnex allein von strategischen Beziehungen zwischen individuellen oder kollektiven Akteuren begriffen wird, in einem stetigen und im Prinzip unaufhebbaren Kriegszustand" (Honneth, Macht 1989, 175; vgl. dazu Foucault, Machtverhältnisse 1978, 110; ders., Kämpfe 1978,71). Foucaults Grundmodell des sozialen Handeins ist also die strategische Intersubjektivität des Kampfes. Das unterscheidet seine Gesellschaftstheorie im Ansatz von derjenigen Adornos, die die gesellschaftlichen Strukturen als geronnene Formen der Herrschaftstätigkeit zu verstehen suchte und damit das Handlungsgeschehen zwischen Subjekten übersprang. Aber auch bei Foucault bleibt unklar, ob die sozialen Auseinandersetzungen als Konflikte zwischen Individuen allein oder auch zwischen kollektiven Akteuren aufgefaßt werden. Ebensowenig erhalten wir Auskunft darüber, ob der Konfliktanlaß die prinzipiell unvereinbaren Eigeninteressen der Akteure oder deren nur unter gewissen historischen Voraussetzungen miteinander unvereinbaren Interessenlagen sein soll. Ein expliziter Hinweis auf die Hobbes-Formel des Kampfes aller gegen alle spricht hier eher für die erste der beiden Versionen (vgl. Psychoanalyse 1978, 141). Wie entsteht nun aus dem immerwährenden Prozeß strategischer Auseinandersetzungen eine gesellschaftliche Herrschaftsordnung? Foucaultvertritt hier in Form einer Kritik der marxistischen Staats theorie die These, daß eine soziale Herrschaftsordnung gleich welchen Charakters nicht durch die zentralisierte Tätigkeit eines politischen Machtapparates gesteuert zu werden vermag, weil sie so, wie sie aus einer Reihung von strategischen Handlungserfolgen entstand, auch nur in der erfolgreichen Austragung von situationalen Handlungskonflikten ihren Bestand hat. Dabei geht Foucault von der Vorstellung aus, daß sich die an unterschiedlichen Orten erkämpften Machtpositionen wie ein Netz zu einem zentrumslosen System verknüpfen. In dem Maße, in dem es gelingt, solche Handlungserfolge wiederholbar zu machen, gewinnt ein Machtsystem an Bestand; es ist dann eine zeitlich zu einem System verstetigte Ordnung von situativ erkämpften Machtpositionen (vgl. Psychoanalyse 1978, 125; Wahrheit 1978, 39). Dieser modellhafte Grundgedanke entspricht der Vorstellung des kognitiven Ordnungskonzepts, wonach eine auf staatliche Herrschaftstechniken fixierte Gesellschaftstheorie bereits in ihren Grundannahmen verfehlt ist: Denn ein soziales Machtgefüge wird nicht durch die instrumentalen Eingriffe und manipulativen Prozeduren eines Staatsapparates, sondern nur durch die "dezentrierten", horizontal verknüpften Aktivitäten unterschiedlichster Akteure in vielfältigen Interaktionen gestiftet und aufrechterhalten (vgl. dazu ausführlich die Kapitel ,,kognitive Ordnung" und "Ordnung durch Recht"). Nicht akzeptiert wird hingegen die Annahme der Institutionalisierung von Machtpositionen als eines Prozesses der

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So entstehen faktische, quasi-naturalistische Ordnungen, die durch extreme Strukturierungen der äußeren Bedingungen des Handeins gekennzeichnet sind. Erlauben die äußeren Bedingungen die Realisierung der eigenen Wünsche, Interessen oder Präferenzen, dann besitzt der Akteur hinreichend Macht, um sich gegen andere Akteure durchzusetzen. Besitzt er hierfür nicht genügend Macht, dann sind seine Handlungen durch den Zwang der Situation bestimmt. Was also die positivistische Machttheorie zu erklären vermag, ist die schnurgerade Umsetzung von bestimmten Zielen unter den Bedingungen einer starken Ausdifferenzierung von Machtgebrauch und Herrschaft. Wer seine Wünsche auf dem kürzesten Weg durchsetzen kann, der verfügt über hinreichende Machtmittel, der beherrscht die Situation mit dem Instrument der Sanktionsgewalt. Insofern besteht das grundlegende Handlungsprinzip der positivistischen Macht- und Konflikttheorie in der Realisierung der eigenen Ziele. Mit diesem machttheoretischen Realisierungsprinzip kann man gut das Handeln im Feld der Zielrealisierung, ungeachtet der Umstände des Handeins, erklären. Sobald sich das Handeln jedoch in die Felder der Anpassung, der Normen oder des symbolischen Bezugsrahmens hineinbewegt, versagt das Realisierungsprinzip. (1) Im Feld des auf Adaptivität gerichteten Handeins kann mit Hilfe der Machttheorie nicht erklärt werden, wie Handeln ohne Macht oder nur mit geringer Macht möglich ist. Auch der Erwerb von Macht, der nicht selbst auf vorhandener Macht beruht, läßt sich mit dem Realisierungsprinzip nicht verständlich machen. Denn nach dieser Theorie müßte ein Akteur immer schon mehr Macht als andere besitzen. Wie aber paßt dann die Geschichte des David, der den mächtigen Goliath besiegt, zum machttheoretischen Realisierungsprinzip? Dem Machttheoretiker bleiben wohl nur zwei Möglichkeiten, sich auf die Geschichte des David einzulassen. Entweder er dehnt die Bedeutung des Machtbegriffs aus oder er verwendet Ad-hoc-Hypothesen, die außerhalb seines Bezugssystems liegen.

Im ersten Fall könnte er z. B. List und Intelligenz in den Machtbegriff einschließen. Dann aber müßte er jedes Mittel einbeziehen, das ein Handlungsziel realisiert und nicht nur Mittel, mit denen man den Widerstand anderer überwinden kann. Bei dieser Bedeutungsextension wird Macht mit "Handlungsfähigkeit" schlechthin identifiziert. Verlorengeht dabei die spezifische Wirkung. von Macht, die in dem Realisierungsprinzip enthalten ist, nämlich die schnurgerade Umsetzung von Zielen in Handeln, unabhängig von anderen Situationsfaktoren, Normen und Bezugsrahmen. 79 Werden vom Machtbegriff auch listige Umwege erfaßt, dann ständigen Zwangsausübung. Zu dieser Schlußfolgerung muß kommen, wer den Begriff des "Kampfes" zur Basis seiner Gesellschaftstheorie erhebt. 79 Daß David mehr Umwege gehen muß als Goliath, um sein Handeln durchzuführen, macht offensichtlich, daß andere Determinanten als Macht das Handeln Davids steuern. Er bewegt sich also nicht im Feld der Gerichtetheit des HandeIns durch die für Handlungsziele verfügbare Macht, sondern im Feld der Anpassung des HandeIns, in dem eine viel größere Offenheit herrscht. Wie wir im vorherigen Abschnitt (,,zufällige Ordnung") gesehen haben, werden durch die primäre Orientierung an der Nutzenmaximierung in

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verliert er jegliche Präzision: Es muß dann jedes erfolgreiche Handeln als Funktion von Macht interpretiert werden. 80 Genau dazu ist der konsequente Machttheoeiner gegebenen Situation (= Feld der Anpassung) die Ziele selbst in ihrer RangsteIlung ständig verändert, so daß eine eindeutige Gerichtetheit des Handeins hier gar nicht zustandekommt. David etwa, der erfahren hat, daß er Goliath nicht besiegen kann, wertet dieses Ziel ab und wendet sich realisierbareren Zielen zu. Würde man demnach den Machtbegriff auf das Feld der Anpassung des Handelns ausdehnen, so gingen diese beiden völlig verschiedenen Arten der Handlungssteuerung in der unpräzisen Determinante der "Handlungsfähigkeit" unter. 80 Diesen Weg ist am konsequentesten Foucault gegangen. Er hält nicht einmal Gewalt, List oder Ideologie für ausreichend, um die Funktionsweis.~ der modemen Machtordnungen erklären zu können (vgl. Foucault, Macht 1976, 114; Uberwachen 1976,37). Gewalt und Ideologie gelten schon in der klassischen Sozialphilosophie (dort "force" und "jraud" genannt) als die in strategischen Auseinandersetzungen angewandten Mittel der Beeinflussung des Gegners: Der Gegenspieler im sozialen Kampf wird im ersten Fall durch die Androhung oder den Einsatz von physischer Gewalt, im zweiten Fall durch die kalkulierte und subtile Täuschung über die eigenen Handlungsabsichten gezwungen, von seinen eigenen Zielsetzungen abzulassen und sich dem fremden Willen zu unterwerfen. Gegen diese "plumpen" Techniken der Bedürfnisunterdrückung wendet Foucault ein: "Diese Macht wäre zunächst arm an Ressourcen, haushälterisch in ihrem Vorgehen, monoton in ihren Taktiken, unfähig zur Erfmdung und gleichsam gezwungen, sich beständig zu wiederholen. Sodann wäre es eine Macht, deren Mächtigkeit sich darin erschöpfte, nein zu sagen, außerstande etwas zu produzieren, nur fähig, Grenzen zu ziehen, wesenhaft Anti-Energie; ihre Wirksamkeit bestünde in dem Paradox, daß sie nichts vermag als dafür zu sorgen, daß die von ihr Unterworfenen nichts vermögen, außer dem, was die Macht sie tun läßt" (Sexualität 1977, 108). Dieser repressiven Ideologiebildung setzt Foucault einen neuartigen Typus des Machtmittels entgegen. Dessen Eigenart ist durch den Begriff der "Produktivität", des "strategischen Reichtums" bestimmt: ,,Nun hat das Abendland seit dem klassischen Zeitalter eine tiefgreifende Transformation (der) Machtmechanismen erlebt. Die ,Abschöpfung' tendiert dazu, nicht mehr ihre Hauptform zu sein, sondern nur noch ein Element unter anderen Elementen, die an der Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation der unterworfenen Kräfte arbeiten: Diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten" (Sexualität 1977, 163). Das Ziel jener neuartigen, auf produktive Wirkungen abstellenden Machtmittel ist die " Norm". Sie bezweckt, die Verhaltensweisen des sozialen Gegenspielers durch unentwegte Disziplinierungen zu routinisieren und dadurch erstarren zu lassen. Jede Art solchen zwanghaft fixierten Verhaltens nennt Foucault ein ,,normiertes" Verhalten, starr reproduzierte Handlungsschemata oder sozial oktroyierte "Gewohnheiten". Foucault spielt also nicht auf eine Dimension moralischer Handlungsverpflichtungen an - wie sie im Handlungsbezugsrahmen auf der Basis gemeinsam anerkannter Werte zum Ausdruck kommt - , wenn er von der Erzeugung von "Verhaltensnormen" spricht: "Seit dem 19. Jahrhundert haben sich eine Reihe von Apparaten entwickelt ... , deren Zweck es war, Disziplin zu fabrizieren, Zwänge aufzuerlegen, Gewohnheiten auszubilden. Was im Zuge dieser Entwicklung geschah, stellte also die Vorgeschichte der Machtapparate dar, die als Sockel zum Erwerb von Gewohnheiten als soziale Normen dienten" (Macht 1976, 121). Zentrales Ziel der Erzeugung von Verhaltensnormen ist der "Körper". Dazu Honneth (Macht 1989, 186): ,,Die Kategorie des ,Körpers' übernimmt eine wesentliche Funktion in der Theorie Foucaults erst in dem Augenblick, in dem er mit dem Ansatz einer historischen Diskursanalyse auch die Vorstellung fallen läßt, daß sich die Ordnung einer Gesellschaft primär auf dem Weg einer unbewußten Regulierung von sprachlichen Äußerungen oder von sozialen Wissensformen herstellt. Denn mit der Wendung zur Machttheorie setzt sich bei Foucault zugleich die naturalistisch anmutende Überzeugung durch, daß es weniger die kulturellen Denkweisen als die körpergebundenen Lebensäußerungen sind, über die Gesellschaften verfü-

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retiker gezwungen, will er nicht die Augen vor anderen Determinanten des Handeins verschließen. Ist der Machttheoretiker im Hinblick auf die Geschlossenheit seines Aussagesystems weniger konsequent, so muß er auf Residualkategorien und auf Ad-hocHypothesen zurückgreifen. Er wird dann für den ,,Ausnahmefall", daß der weniger Mächtige erfolgreicher als der Mächtigere gehandelt hat, die Residualkategorien der Intelligenz, der Lernfahigkeit oder der List einführen. Da er den präziseren Machtbegriff verwendet, liegen diese Kategorien außerhalb seines Bezugssystems und können von ihm nicht erklärt werden. Das Scheitern der Machttheorie ist also dort offenkundig, wo Handlungsweisen auf Lernvorgänge zurückgehen und dem Handeln ein Umgehen der Hindernisse unabhängig von Macht erlauben. Diesem Scheitern entrinnt auch der extensive Machtbegriff nicht: Würde er zutreffen, müßten die Mächtigeren immer auch die Listigeren sein. (2) Im Falle der Strukturiertheit des Handeins führt die Machttheorie ebenfalls zu unrichtigen Prognosen. Nach ihr kann regelgeleitetes Handeln nur aus einer einseitigen Machtverteilung resultieren. Träfe diese Auffassung zu, müßte regelgeleitetes Handeln stets verändert werden, wenn es seine Funktionalität für den Mächtigeren einbüßt. Dem widerspricht die alltägliche Beobachtung, daß Regelmäßigkeiten des Handeins häufig auch dann bestehen bleiben, wenn sie für die Zielrealisierung der mächtigeren Akteure dysfunktional geworden sind. Der gen können müssen, um die eigene Instabilität zu verringern." Entscheidend ist nun, daß laut Foucault diesem Prozeß der Körperdisziplinierung jeweils Regeln unterstellt sind, die das Ergebnis der wissenschaftlichen Erschließung der entsprechenden Körpervorgänge sind. Wissenschaft wird demnach unter dem leitenden Gesichtspunkt der strategischen Verfügung über Menschen gesehen und damit als zentrale Produktivkraft moderner Machttechniken konzipiert: "Man muß wohl auch einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind ... Eher ist wohl anzunehmen, daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert un.~ kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert" (Uberwachen 1976, 39). Mit dieser zugespitzten Wissenschaftskritik geht Foucault weit über die Ansicht hinaus, Wissenschaft sei ein Instrument sozialer Herrschaft (so die Herrschaftstheorien etwa von Galtung, Konzerne 1973, oder von Bourdieu, Sozialer Sinn 1987). Für ihn gibt es keine wissenschaftliche Tätigkeit außerhalb des Feldes strategischer Auseinandersetzungen. Wissenschaft ist für ihn die Reflexionsform strategischen Handelns. Diese Herkunft hält Foucault dem emanzipatorischen Selbstverständnis der Humanwissenschaften entgegen: "Diese Wissenschaften, an denen sich unsere ,Menschlichkeit' seit über einem Jahrhundert begeistert, haben ihren Mutterboden und ihre Muster in der kleinlichen und boshaften Gründlichkeit der Disziplinen und ihren Nachforschungen. Diese spielen vielleicht für die Psychologie, die Psychiatrie, die Pädagogik, die Kriminologie und so viele andere seltsame Kenntnisse eben die Rolle, die einst die so schreckliche Macht der Inquisition für das ruhige Wissen von den Tieren, den Pflanzen, der Erde gespielt hat. Andere Macht, anderes Wissen" (Überwachen 1976, 290). Foucault leitet somit die Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis nicht aus einem mit der instrumentalen Verfügung über die Natur gesetzten Bezugsrahmen ab (so etwa Adomo oder Eder, Vergesellschaftung 1988), sondern aus einem mit den strategischen Anforderungen des sozialen Kampfes gesetzten Bezugsrahmen ab (vgl. Honneth, Macht 1989, 191).

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Machttheoretiker muß für diesen Fall wieder zu Ad-hoc-Hypothesen greifen und etwa auf die Zählebigkeit von Traditionen und Normen verweisen. Im machttheoretischen Bezugsrahmen existieren indes keine Bindungen der Akteure an eine übergeordnete Gemeinschaft und eine daraus folgende Verpflichtung zu gemeinsamen Normen. 81 Diese affektuelle Verbundenheit der Akteure auf der Grundlage kollektiver Normen gerät dem Machttheoretiker nur insoweit ins Blickfeld, als diese dem Machtgebrauch Grenzen setzt. In seinem Bezugsrahmen muß Vergemeinschaftung daher als Anomalie begriffen werden, die sich ausnahmsweise der Wirkung mobilisierbarer Macht entzieht. Eine Erklärung für die Anomalie müßte wieder die Einführung von Residualkategorien nach sich ziehen. Im Konzept der Machttheorie gibt es keine Kategorie für die Limitierung der Macht. (3) Auf dem Feld der Identität des Handeins ist die Machttheorie ebensowenig erfolgreich. Während sie auf dem Handlungsfeld der Strukturiertheit Regelmäßigkeiten nicht zu erfassen vermag, kann sie nun vor allem Innovationen nicht erklären. Nach der Machttheorie wäre zu erwarten, daß nur solche Innovationen Erfolg haben, für die mehr Macht als für das Bestehende und für Alternativen mobilisiert werden kann. Diese Hypothese widerlegt der Umstand, daß weniger Mächtige gelegentlich ihre Innovationen in Handeln umsetzen können. Also muß auch hier die Machttheorie als falsifiziert gelten. Ad-hoc-Hypothesen bestätigen die Falsifikation. Wenn nämlich darauf verwiesen wird, daß das Handeln des weniger mächtigen Innovators schon vorher akzeptierten allgemeineren Werten besser entspricht als bisherige Handlungsweisen, dann wird die Machttheorie unter bestimmten Bedingungen außer Kraft gesetzt. Die Bedingung ist hier die Subsumierbarkeit einer Handlungsänderung unter generelle symbolische Ziele. Somit gilt die Machttheorie nicht auf dem Feld der Identität des Handeins. 82 Sie trifft umso weniger zu, je mehr sich die Akteure an einen gemeinsamen generellen symbolischen Bezugsrahmen halten. Dieser erlaubt eine hohe Variabilität des Handeins bei gleichzeitiger Bewahrung der Identität des Handeins. Andererseits trifft die Machttheorie umso eher zu, je weniger Argumente und diskursive Verfahren im sozialen Bereich institutionalisiert sind. In diesem Fall wird Macht bei der Durchsetzung von Innovationen eine große Rolle spielen. Demnach 81 Wie kann der Machttheoretiker erklären, daß die Wahlsieger in Demokratien ihre Machtpositionen nicht in der Weise ausnutzen, daß alle ihnen lästige Regeln des HandeIns umgestoßen werden. Zwar dürfte schon die weise Voraussicht ein solches Handeln geraten sein lassen, aber in stabilen Demokratien ist eine Verpflichtung auf demokratische Institutionen nicht zu leugnen. Selbstbegrenzung der Macht liegt nicht in der Logik unbedingter Zielrealisierung. 82 Wäre nämlich Macht die Grunddeterminante des Handeins, dann könnte es Innovationen ohne vorausgehende Machtveränderungen nicht geben. Diese Behauptung ist nur dann nicht falsch, wenn man unter Macht jeglichen Handlungserfolg subsumiert. Will man dagegen dem Begriff "Macht" eine eigenständige Bedeutung belassen, ist die Behauptung offensichtlich unrichtig. Verfügen die Akteure über einen symbolischen Bezugsrahmen, bedarf es nicht notwendigerweise eines Machtkampfes, um Veränderungen des Handelns durchzusetzen. Die Akteure bedürfen hier allein der rational-argumentatorischen Subsumierung unter einen gemeinsam akzeptierten generellen Bezugsrahmen.

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hängen die Bedingungen der Gültigkeit oder der Ungültigkeit der Machttheorie von der Existenz bzw. Nichtexistenz einer demokratischen Gemeinschaft ab. 83 Ich fasse zusammen: Für den machttheoretischen Positivismus ist soziale Ordnung nur möglich, wenn es eine einseitige Machtverteilung gibt. Handeln wird hier als vollkommen durch äußere Gegebenheiten determiniert gesehen. Damit bietet diese Theorie eine Erklärung auf dem Handlungsfeld einer durch Macht geprägten Situation. Sie vernachlässigt hingegen die Ausdifferenzierung von Lernprozessen, ökonomischem Tausch und Anreiz, von Symbolisierungen und Argumentengebrauch, von affektueller Bindung an Normen und affektueller Vergemeinschaftung. Auf diese Weise führt die Machttheorie zu einer Übersteuerung aller Sozialsysteme durch das politische Subsystem: Sie bescheinigt der politischen Struktur eine völlige Dominanz in allen übrigen Handlungsfeldern. c) Konformistische Ordnung (Normativismus)

Die normative Theorie vertritt eine Variante des Idealismus, bei der das Handeln nur durch Normen und durch das Konformitätsprinzip bestimmt wird. 84 Das 83 Auf diese Weise zeigt uns die allgemeine Handlungstheorie von Parsons die Bedingung, unter der die Machttheorie ansatzweise gültig sein kann: Sind die sozialen Institutionen schwach, haben sich die Machtpositionen nicht hinreichend verstetigt, so kann der ,,Kampf' bzw. die "immerwährende Schlacht" einen grundbegrifflichen Sinn haben. Der Begriff ,,Kampf' wird aber widersprüchlich verwendet, wenn man auf der gesellschaftstheoretischen Ebene von der unbegrenzten Effektivität der Institutionen bzw. der modernen Disziplinargewalt ausgeht. Exakt diese Diskrepanz zwischen Handlungsmodell und Sozialtheorie weist das von Foucault beschworene Konzept der "Mikrophysik der Macht" auf: Einerseits wird der stete Prozeß sozialen Kampfes, andererseits die gigantische Funktionsweise administrativer Zwangseinrichtungen behauptet. Nur zur ersten These paßt die Vorstellung einer Pluralität sozial konkurrierender Akteure, allein mit der zweiten These stimmt die Vorstellung einer unbegrenzten Manipulation überein. Den systematischen Charakter dieses Mißverhältnisses in der Theoriebildung Foucaults schildert Honneth folgendermaßen: ,,Jede soziale Verstetigung einer Machtposition ... setzt bereits die Unterbrechung des Kampfes entweder in Form einer normativ motivierten Verständigung oder einer pragmatisch bezweckten Kompromißbildung oder schließlich einer auf Dauer gestellten Zwangsausübung voraus. Während die beiden ersten Lösungswege einer strategischen Auseinandersetzung die Fälle einer zweiseitigen Verstetigung sozialer Herrschaft darstellen, repräsentiert der dritte Lösungsweg den unwahrscheinlichen Fall einer bloß einseitigen Verstetigung sozialer Machtpositionen. Foucault schließt auf kategorialer Ebene ... jede Möglichkeit einer zweiseitigen Überführung des Kampfes in den provisorischen Zustand verstetigter Herrschaft aus; daher bleibt ihm zwangsläufig nur die Möglichkeit, die Institutionalisierung von Machtpositionen als einen Prozeß ständiger Zwangsausübung aufzufassen ... er begreift nun soziale Machtverhältnisse als die durch permanente, technisch hochperfekte Zwangsausübungen erwirkten Aggregatzustände strategischen Handelns; jetzt erscheinen ihm soziale Institutionen . . . als bloße Mittel einseitiger Zwangsherrschaft" (Macht 1989, 194). 84 Die klassische Formulierung des idealistischen Normativismus fmdet sich bei Rousseau, Gesellschaftsvertrag 1971. Besonders ausgeprägt ist die normative Theorie, welche die Gemeinschaftsbildung im menschlichen Handeln betont, in der Tradition des deutschen Idealismus; vgl. Schäffle, Sozialer Körper 1884; Tönnies, Gemeinschaft 1963. Ein impliziter Normativismus ist auch in vielen Arbeiten der "Lebensweltsoziologie",

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

Handeln läßt sich somit aus einer logischen Ableitung aus der Verpflichtung auf Nonnen und aus konkreten Situationsbedingungen für die Nonnen begreifen. Das Konfonnitätsprinzip erklärt dabei vor allem solches norrnkonfonnes Handeln, das ohne Nutzenkalkül und ohne Furcht vor Sanktionen ausgeführt wird. Die Regelmäßigkeit des Handeins ergibt sich also allein aus der Verpflichtung auf Nonnen, die sich wiederum auf die affektuelle Bindung an die Nonnen durch die Sozialisation stützt. Auf die Stabilität der äußeren Bedingungen und auf die Rationalität von Optimierungserwägungen kommt es bei dieser Strukturierung des Handeins nicht an. So geht der Gläubige nicht deshalb in die Kirche, weil schönes Wetter ist oder weil ihn die Gemeinde mit Anerkennung belohnt, er erfüllt das Gebot auch unter widrigen Umständen aus einer inneren Verpflichtung heraus. Das Konfonnitätsprinzip gilt der nonnativen Theorie somit als ausschließliches Handlungsprinzip. Auf der Ebene komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge führt dieses Handlungsprinzip zu einer Ordnung, in der eine vollkommene Verpflichtung aller Individuen auf die Nonnen der Gemeinschaft herrscht. Ordnung ist in dieser nonnativistischen Sicht nur als eine geschlossene und das heißt als eine konfonnistische möglich. Da die Individuen in der Gemeinschaft aufgehen, besitzen sie weder Autonomie noch Selbstverantwortung. Nach Auffassung Parsons existieren die bloß nonnorientierten Akteure überhaupt nicht als Individuen, sondern nur als Gemeinschaftsmitglieder. 85 Ihre Institutionen werden folgerichtig als Ausdruck in sich geschlossener partikularer Lebenszusammenhänge begriffen. 86 Nicht zufallig beschränken sich deshalb die Arbeiten aus dem Umkreis der nonnativen Theorie zumeist auf kleine, überschaubare soziale Kontexte, in denen das Handeln eindeutig durch die ,,Lebenswelt" , das "Milieu" oder eine "objektive Sinnstruktur" bestimmt ist. In diesen relativ geschlossenen Welten wird Handeln als Erfüllung von Nonnen gedeutet, werden Institutionen auf den Konsens über Nonnen zurückgeführt. Übersehen wird dabei, daß eine Institution, die sich nur auf die nonnative Geregeltheit des Handeins stützt, im Stillstand erstickt. 87 Sie wird zur bloßen insbesondere der Ethnomethodologie enthalten. Ein großer Teil der im Abschnitt "ideelle Ordnung" genannten Literatur gehört deshalb auch in den Bezugsrahmen der normativen Theorie. Vgl. z. B. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Alltagswissen 1972; Douglas, Everyday Life 1970; Schütz, Luckmann, Lebenswelt 1979. Zur kritischen Diskussion vgl. Habermas, Kommunikatives Handeln 1981, Bd. 2, 182; Münch, Soziologie 1982; Tiryakin, Parsons 1981, 36, der Stellung bezieht zu Parsons Verdikt der Ethnomethodo1ogie als "Gemeinschaftsromantizismus". 85 Parsons, Social Action 1968, 686. 86 Zur normativistischen Lebensweltsoziologie vgl. Berger, Luckmann, Wirklichkeit 1972. Zu einer Verknüpfung von normativ-1ebensweltlichem Ansatz und konflikttheoretisehern Ansatz vgl. Haferkamp, Herrschaft 1980; ders., Normen 1981,217. 87 Andererseits ist das normorientierte Handeln, das in relativ geschlossenen Gemeinschaften wie der Familie gilt, auf der Ebene komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge unbestimmt, weil es die unterschiedlichsten Möglichkeiten der Ausgestaltung des

11. Ordnungs typen

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Gewohnheit. Ungeklärt bleibt die Erfassung eines allgemeinen Sinnes, das Verstehen der Wandelbarkeit und der Durchsetzungskraft in den Sphären außerhalb des gewohnheitsmäßig Geltenden. Wer auf diese Weise das Konformitätsprinzip hypostasiert, der besitzt für die theoretische Integration nichtnormativer Faktoren des Handeins keinen Bezugsrahmen. Er ist gezwungen, die Abweichungen von der Theorie mit Residualkategorien zu erklären. 88 Solche Kategorien sind für die Felder der Gerichtetheit, der Adaptivität und der Identität rasch aufgezählt. (1) Im Feld der Anpassung des Handeins ist nach der normativen Theorie in Situationen, in denen die Anfangsbedingungen einer Norm gegeben sind, stets auch das entsprechende normgerechte Handeln zu erwarten. Dem widerspricht jedes Handeln in den genannten Situationen, das nicht die anzuwendende Norm ausführt. 89 Will der Normtheoretiker die häufige Konstellation der situativen Abweichung von Normen nicht leugnen, dann muß er auf Erklärungen zurückgreifen, die in seinem Bezugsrahmen keinen Platz haben. Er kann annehmen, daß in bestimmten Situationen der Handelnde mit der Normabweichung besser zurechtkommt als mit der Normbefolgung. Er wird also eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen, wie sie die oben beschriebene ökonomische Theorie vornimmt. Aber die Nützlichkeitserwägung und das Optimierungsprinzip wären für die normative Theorie Residualkategorien, die in Ad-hoc-Hypothesen eingeführt werden müßten. (2) Im Feld der Gerichtetheit des Handeins hat die normative Theorie nicht weniger Erklärungsprobleme. Sie geht davon aus, daß ohne eine normative Beschränkung des Erwartungshorizontes gleichbleibendes Verhalten nicht zu erwarten ist. Fehlt die normative Festlegung, müßte Handeln von Situation zu Situation variieren. Diese Hypothese wird durch den häufig auftretenden Tatbestand der Gleichmäßigkeit des Handeins über verschiedene Situationen hinweg falsifiziert. Als Ad-hoc-Hypothese bietet sich die Machttheorie des Verhaltens an: Politik setzt eine bestimmte Festlegung des Handeins durch, ohne daß es zuvor durchweg einer normativen Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten bedürfte. Somit steht auch das machttheoretische Realisierungsprinzip nicht mit der normativen Theorie in Einklang. Bezugsrahmens gibt. Aus dem partikularen Normensystem moderner Gesellschaften folgen noch keine konkreten fustitutionen und Handlungen. Der normativistischen Perspektive ist also keinerlei Erklärung der Entwicklung zu universellen Institutionenmustern zu entnehmen, allenfalls kann die fustitution aus ihrem partikularen Lebenszusammenhang heraus begriffen werden. 88 fu diesem Sinne kann nach Münch (Handeln 1982,277) ein großer Teil der Literatur, die sich der idealistischen Kulturtheorie zurechnet, in ihren objektiven Konsequenzen auch der normativen Theorie zugeordnet werden. Auch in der Kulturtheorie kommt häufig das idealistische Dilemma des Gegensatzes zwischen Autonomie und Konformität zum Ausdruck. 89 Der normativistischen Hypothese widerspricht überhaupt die Variation des Handelns nach der jeweiligen Situation. Dieser Tatbestand ist natürlich immer dann gegeben, wenn situative Abweichungen von Normen auftreten.

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

(3) Schließlich ist das Feld der Identität mit dem Konformitätsprinzip nicht angemessen beschrieben. Nach ihm müßte einer Verhaltensänderung stets eine Normänderung vorausgehen. Daß jedoch Innovationen ohne Auflösung der entsprechenden Normen generell unmöglich seien, kann niemand ernstlich behaupten. 9O Infolgedessen muß der Normtheoretiker für den Fall, daß Handeln durch universelle Prinzipien geleitet wird, seinen Bezugsrahmen überschreiten und auf die ResiduaIkategorie des Konsistenzprinzips zurückgreifen. Er wird zugestehen, daß etwa die allgemeinen Regeln des Vertragsrechts einen so weiten Spielraum für Innovationen belassen, daß Normänderungen nicht erforderlich sind. Solange sich das Handeln im Rahmen genereller normativer Prinzipien bewegt, sind hiernach Verhaltensänderungen ohne vorausgehende normative SpezifIkationen durchaus möglich. Solche Innovationen sind nur zu erklären durch eine diskursive Argumentation, die die Konsistenz zwischen einem bestimmten Handeln und einer generellen Norm nachweist. Diskursivität liegt freilich schon jenseits des normativen Bezugsrahmens. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Das Konformitätsprinzip der normativen Theorie vermag Handeln allein im Feld der Strukturiertheit des Handeins zu erklären. Es erfaßt Handeln als normgeleitetes Verhalten und Ordnung als institutionalisierten Konsensus über die Normen. Damit wird nur der gemeinschaftlichen Verankerung in den Normen die Kraft beigemessen, Regelmäßigkeiten im Handeln zu stiften. Die übrigen Handlungsfaktoren der Ziele, der Situation und des symbolischen Bezugsrahmens bleiben außer Betracht. Daher kann die normative Theorie jene Phänomene nicht erklären, die den Wandel von Institutionen oder gar den Bruch von Traditionen bewirken. 91 Ebensowenig vermag sie etwas zur Entwicklung von universellen Institutionenmustern oder zur Kritik von Institutionen aus der Perspektive genereller Muster zu sagen. Sie erklärt die Regelhaftigkeit, aber nicht die Kontinuität und Legitimität von Institutionen, die aus der Generalisierung von Normen in diskursiven Argumentationsverfahren folgen. 92 In letzterem Bereich ist der rationalistische Idealismus erklärungskräftig. 90 Der genannte Fall ist immer dann gegeben, wenn das Handeln durch generelle normative Prinzipien geleitet ist, die dem Handelnden einen weiten Spielraum für Veränderungen des Handelns belassen, ohne daß Normänderungen vorausgehen müßten. Das trifft in prägnanter Weise auf Normen für professionelles Handeln zu. Innerhalb einer professionellen Ethik sind die verschiedensten professionellen Problemlösungen möglich. 91 Z. B. infolge Machtmobilisierung und Charisma. Infolgedessen sind Bedürfnisse, Interessen und Macht Grenzen jeglicher Vergemeinschaftung durch Normen. Der gemeinschaftliche Konsens ist nur innerhalb der vergemeinschafteten Genossen wirksam. Von einer solchen Binnenmoral haben wir gesprochen, als wir die sozialen Systeme als die parallelisierten kognitiven Zustände ihrer Mitglieder beschrieben haben. Auf der Ebene der Gesamtgesellschaft können wir dem gemeinschaftlichen Konsens keine hinreichende motivierende Kraft für das konkrete Handeln zuschreiben. 92 Die normative Theorie ist demgemäß folgendermaßen einzuschränken: Je mehr affektuelle Bindung an Normen und Gemeinschaft stark ausdifferenziert und Bedürfnisdispositionen, Macht, Intelligenz, Anreize, Symbolisierungen und Diskurse schwach ausdifferenziert sind, um so mehr ist das Handeln eine Funktion des Konformitätsprinzips,

11. Ordnungstypen

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d) Ideelle Ordnung (idealistische Kulturtheorie)

Für den rationalistischen oder vernunfttheoretischen Idealismus ist Handeln durch einen generellen Bezugsrahmen und das Konsistenzprinzip gesteuert. 93 Der Bezugsrahmen kann je nach Einstellung des Vernunfttheoretikers einen sinnstiftenden, normativen, expressiven oder kognitiven Charakter haben. Die Akteure orientieren ihr Handeln an der Bewahrung der Konsistenz des Bezugsrahmens. Da nur solche Handlungen zulässig sind, die innerhalb der Sinnstiftungen, Normorientierungen, Expressionen oder Kognitionen liegen, erlaubt der Bezugsrahmen eine Identität des Handelns und zwar unabhängig von Zielen, Situationen und speziellen Normen. Aufgrund der Weite des Bezugsrahmens und seiner Integrationskraft können die Akteure ihr Handeln von Fall zu Fall beträchtlich variieren. So bewahren etwa politische Akteure trotz aller Verschiedenheit des konkreten Handeins stets ein übergeordnetes Grundmerkmal, wenn sie ihr Handeln als Konsequenz von Prozessen symbolischer Verständigung verstehen. Für den vernunfttheoretischen Idealismus ist also Handeln insgesamt eine Frage rational-argumentativer Subsumtion spezieller Handlungen unter einen generellen Bezugsrahmen: Soziale Ordnung ergibt sich für diese Variante des Idealismus nur aus der vernünftigen, diskursiven Argumentation, die den allgemeinen Rahmen absteckt. 94 Voraussetzung für jegliche Ordnung ist dann, daß um so mehr ist es eindeutig strukturiert und um so weniger zeigt es Anpassung, Gerichtetheit und Identität. 93 Die idealistische Kulturtheorie bzw. die Vernunfttheorie ist besonders in der Denktradition des deutschen Idealismus verankert. Vgl. Hegel, Philosophie des Rechts 1964; Dilthey, Geschichtliche Welt 1970; Husserl, Logische Untersuchungen 1928; Schütz, Aufsätze 1971; Habermas, Erkenntnis 1968; ders., Theorie 1971; Apel, Philosophie 1976. In diesen Kontext sind auch die Ansätze der phänomenologischen Soziologie, der objektiven Hermeneutik und der Symbolische Interaktionismus einzuordnen. Vgl. z. B. Berger, Luckmann, Konstruktion der Wirklichkeit 1972; Cicourel, Cognitive Sociology 1974; Goffman, Interaktionsrituale 1971; Schütz, Luckmann, Lebenswelt 1979; Grathoff, Sprondel, Schütz 1976; siehe hierzu die Diskussion zwischen Parsons und Schütz: Schütz, Parsons, Soziales Handeln 1977. Auch die normative Theorie gehört in den Kontext der idealistischen Kulturtheorie und zwar umso mehr, je stärker bei ihr die Tendenz zur Generalisierung ausgeprägt ist. Das gilt besonders für idealistische Entwicklungslogiken, z. B. für manche Interpretationen von Max Webers religionssoziologischer Entzauberungsthese. Siehe z. B. Tenbruck, Max Weber 1975, 663; Schluchter, Rationalismus 1979; zum Teil auch Eder, Organisierte Gesellschaften 1980; ders., Geschichte 1985; ders., Gesellschaftsvertrag 1986,67; ders. mit erheblicher Einschränkung der ,,Entwicklungslogik" moderner Gesellschaften: Vergesellschaftung 1988. 94 Vgl. Parsons, Social Action 1968,82. Entscheidend ist die Konsistenz des Bezugsrahrnens, nicht die inhaltliche Ausgestaltung des Bezugsrahrnens: "Wer die Welt ökonomisch sieht, wird die verschiedensten Handlungsweisen ausführen, und dennoch bewahrt das Handeln ökonomischen Charakter. Wer die Welt als Objekt der Liebe sieht, wird bei aller Verschiedenheit des Handeins jedes konkrete Handeln als Liebeszuwendung verstehen. Wer die Welt als Machtkampf sieht, wird überall in seinem Handeln Machtunterworfenheit oder Machtüberlegenheit wahrnehmen. Wenn alle Akteure eines Interaktionskontextes die Welt in einem solchen Bezugsrahrnen wahrnehmen, dann können sie auch in der gegenseitigen Handlungsdeutung im Handeln stets dasselbe erkennen" (Münch, Handeln 1982,270).

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

alle Akteure gleichberechtigt Argumente einbringen und Argumente anhören sowie Konsens in der Argumentation bilden. Dies wiederum setzt die Ablehnung aller partikularistischen Standpunkte durch die Akteure voraus. Denn sobald solche Partikularismen einbrechen, kann sich kein Konsens und damit keine soziale Ordnung bilden. In diesem Bezugsrahmen ist Ordnung ganz offensichtlich eine weitgehend ideelle Ordnung, eine - wie Parsons sagt - faktisch nicht besonders wirksame Ordnung. 95 Außerhalb des Bezugsrahmens der symbolischen Verständigung muß demnach die strikte Anwendung des Konsistenzprinzips scheitern. Gehenwir zum Nachweis dieser Behauptung die Handlungsfelder der Gerichtetheit, der Adaptivität und der Strukturiertheit in aller Kürze durch. (1) Im Feld des adaptiven Handeins ist nach dem Konsistenzprinzip ein gleichbleibendes Handeln auch dann zu erwarten, wenn sich die Ziele und Interessen situativ verändern. Dennoch kommt es nicht gerade selten vor, daß Akteure von ihren generellen Grundprinzipien abweichen; selbst Wissenschaftler revidieren gelegentlich unter dem Druck von Beobachtungen ihre allgemeine Theorie. Derartige Tatbestände kann man nur auf Lernprozesse zurückführen. % Sowohl der

Parsons, Sodal Action 1968,473. Ein Blick auf Habennas' Theorie des kommunikativen HandeIns zeigt, daß diese Theorie Lernprozesse, die auf Veränderungen der Situation, der Machtverhältnisse, der Bedürfnisdispositionen etc. beruhen, nur unzureichend erfaßt. Das hängt mit dem stark an Max Weber angelehnten Rationalitätsbegriff zusammen, der evolutionären Fortschritt und universelle Geltung beansprucht. Zwar sollen nach Habennas im Begriff der kommunikativen Rationalität die instrumentelle Rationalität, die Rationalität nonnenregulierter Handlungen und die Rationalität expressiver Selbstdarstellungen eingeschlossen sein (vgl. Habennas, Kommunikatives Handeln 1981, Bd. I, 28, 105, 143, 196, 316, 435; Diskursethik 1983,53). Das Gemeinsame dieser Typen des Handeins besteht aber darin, daß sie implizit Geltungsansprüche anmelden, die durch Gründe argumentativ gerechtfertigt werden müssen. Instrumentelle Handlungen verkörpern ein technisches Wissen, das sich auf die ..objektive" Welt bezieht und einen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Nonnenregulierte Handlungen drücken ein moralisch-praktisches Wissen aus, das auf die soziale Welt gerichtet ist und Richtigkeit beansprucht. Expressive Handlungen verweisen auf eine subjektive Welt und werden am Anspruch der Wahrhaftigkeit bemessen. Werden diese Geltungsansprüche problematisch, so müssen sie zum Gegenstand von Diskursen gemacht werden. In den Diskursen werden allein die formalen Regeln der Argumentation vorausgesetzt. Die erste Regel besagt, daß jeder, der sprechen kann, teilnehmen, Geltungsansprüche aufstellen und kritisieren darf. Dabei darf er durch keinerlei externen oder internen Zwang daran gehindert werden (vgl. Habennas, Kommunikative Kompetenz 1971, 136; ders., Wahrheitstheorien 1973,252; ders., Diskursethik 1983, 96). Desweiteren besagt die fonnale Grundregel der Argumentation, daß die partikularen Geltungsansprüche auf universelle Gründe zurückgeführt werden müssen. Ein universeller Grund ist ein solcher, dem jeder, unabhängig von konkreten Umständen, zustimmen muß. An dieser Stelle setzt nun unsere Kritik ein. Wir müssen fragen, welchen erkenntnistheoretischen Status haben solche universellen Gründe? Unsere kognitionstheoretische Position schließt von vornherein die Annahme einer universellen Gültigkeit einer Aussage aus. Objektive Gültigkeit ist keine Eigenschaft einer sprachlichen Äußerung (anders hier Parsons, der die Gültigkeit dem kulturellen System zuordnet, v.gl. Parsons, Platt, University 1973, 7; ders., Introduction 1961,963). Eine sprachliche Außerung erlangt allenfalls intersubjektive Geltung (zur Unterscheidung von Gültigkeit und Geltung vgl. Popper, Erkenntnis 1973, Kap. III und IV). Da Intersubjektivität nur sozial konstituiert werden kann, ist Konsens kein Grund der universellen Gültigkeit, sondern nur ein Grund überein95

96

II. Ordnungstypen

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Wissenschaftler als auch der Moralist haben herausgefunden, daß es in bestimmten Situationen "nützlicher" sein kann, ohne ihre Handlungsmaximen zu agieren. Es kann sich im Einzelfall sogar als sinnvoll erweisen, die bisherigen Grundprinzipien aufzugeben und neue hervorzubringen. Lernhypothesen liegen allerdings außerhalb des Bezugsrahrnens der idealistischen Vernunfttheorie. Sie sind für diese Ad-hoc-Hypothesen. (2) Auch im Feld des gerichteten Handeins erlaubt das Konsistenzprinzip häufig keine zutreffenden Prognosen. Nach dem Konsistenzprinzip müßte ein Akteur, der nur über einen Bezugsrahrnen verfügt, dann zufallsbestimmt handeln, wenn es in einer Situation verschiedene Alternativen gibt. Aus dem generellen Bezugsrahrnen läßt sich nämlich für die Ebene spezifischer Handlungsweisen stimmender Geltung. Weiterhin ist damit gesagt, daß jeder Konsens immer nur ein partikularer und temporärer sein kann. Denn keine Aussage entrinnt der Subjektabhängigkeit des Wissens, auch dann nicht, wenn die Bedingungen einer idealen Sprechsituation erfüllt sind. Es sind also nicht nur die Vorurteile und Zwänge, die uns von gültigem Wissen abhalten, sondern bereits die epistemischen Bedingungen des menschlichen Erkenntnisvermögens. Somit kann Konsens nicht einmal Grund einer universellen Geltung sein; er gilt nur für jenen Mitgliederkreis, der in Bezug auf ein bestimmtes Thema parallelisierte kognitive Zustände herbeigeführt hat. Keinesfalls kann der Konsens Gültigkeit im Sinne von Objektivität oder Wahrheit erhalten. Die intersubjektive Geltung basiert auf der gemeinsamen Erzeugung bestimmter konsensueller Unterscheidungen und dem gemeinsamen Ausschluß potentiell möglicher Unterscheidungen. Insofern besteht kein Anlaß zu der Annahme, daß es einen universellen Grund geben könnte, dem jeder zustimmen müßte. Ein solcher Grund kann auch nicht im Argumentengebrauch und in der idealen Sprechsituation liegen. Denn die Anerkennung der Diskursregeln beruht auf vorgängigen nicht-diskursiven Voraussetzungen etwa der normativen Vergemeinschaftung oder der traditionellen Lebenswelt. Ohne die Verankerung in den übrigen Handlungsfeldem erlangt auch der symbolische Bezugsrahmen der Diskursethik keine intersubjektive Geltung. Um es noch einmal zu sagen, der Konsens über den Gebrauch von Argumenten in zwanglosen Sprechsituationen kann kein Grund der universellen Gültigkeit einer Aussage sein, er kann einer Aussage nur intersubjektive Geltung verschaffen. Das aber kann ein Konsens über andere Verfahrensregeln oder über die Offenbarung von Aussagen etc. ebenso. Der Konsenstheorie der Wahrheit ist also entgegenzuhalten, daß sie den immerwährenden Erkenntnisprozeß rationalistisch zum Abschluß bringen will, indem sie das Erreichen der absoluten Wahrheit (Diskursethik) für möglich hält. Gegen die Universalität und objektive Gültigkeit der Konsenstheorie ist deren Viabilität zu behaupten. Sie "paßt", ist nützlich und löst Probleme, weil der Basiskonsens eines Common sense schon vorhanden ist, auf den man einen Geltungsanspruch argumentativ zurückführen kann. Das beweisen auch Habermas' Darstellungen der Argumentationstheorie (z. B. Wahrheitstheorien 1973,238; Kommunikatives Handeln 1981, Bd. 1,30, 44). Danach kann sich das Einverständnis zwischen Sprecher und Hörer in der rationalen Argumentation nur dann einstellen, wenn schon ein vorausgehendes Einverständnis zwischen ihnen existiert. Dieses Vor-Einverständnis kann sich nicht selbst auf rationale Argumentation gründen, weil Sprecher und Hörer anderenfalls in einen unendlichen Regreß geraten würden. Rationale Motivation ist deshalb ohne vorrationale Intersubjektivität von Überzeugungen nicht möglich. Dies verweist auf die Handlungsfelder der affektuellen Komponente der Gemeinschaft und auf die empirisch-historische Komponente des Zwangs bzw. der Macht. Habermas integriert in seinem Konzept jeweils also das rationalistische Moment des Positivismus (zufällige Ordnung) und des Idealismus (ideelle Ordnung). Seine Handlungstheorie reduziert sich - mit anderen Worten - auf einen idealistisch-positivistischen Rationalismus (vgl. Münch, Handeln 1982, 21; M oderne 1984, 77).

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

kein bestimmtes Verhalten ableiten. Konsistent handelt schon, wer im Einklang mit den allgemeinen Maximen steht. Für den konkreten Einzelfall ergibt sich hieraus häufig keine verbindliche Orientierung. Werden dennoch konkretisierende Einschränkungen des generellen Bezugsrahmens anerkannt, so muß sich der Vernunfttheoretiker auf Handlungsfelder und Handlungsprinzipien beziehen, die er nicht mehr erklären kann. Er wird dann die Abweichung vom Zufallsprinzip auf feste Zielsetzungen und auf die Macht der Akteure zurückführen. Anders kann z. B. nicht der verbindliche Charakter der Gesetze erklärt werden. So schränkt die Gesetzgebung den weiten Spielraum der Verfassung auf bestimmte Handlungsweisen ein, obwohl innerhalb der Verfassung durchaus andere Alternativen möglich wären. Das Mittel, das die Gesetzgebung für die betreffende Einschränkung einsetzt, ist Macht: eine Residualkategorie im Rahmen der idealistischen Vernunfttheorie. (3) Im Felde der Strukturiertheit des Handeins wäre nach dem Konsistenzprinzip eine weitaus größere Variation der konkreten Handlungsweisen zu erwarten, als dies tatsächlich der Fall ist. Da die Akteure in der ideellen Ordnung über einen weiten Bezugsrahmen verfügen, müßte auf der konkreten Ebene wiederkehrender Handlungsweisen mit raschem Wandel gerechnet werden. Dieser Annahme widerspricht die häufige Beobachtung der Kontinuität einer Handlungsweise, obwohl der Bezugsrahmen auch andere Verhaltensweisen zuließe. So gewähren etwa die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit sehr viel mehr Spielraum, als im konkreten Handeln realisiert ist. Noch immer wird der Gleichheitsbegriff vorwiegend auf die bürgerliche Rechtsgleichheit eingeschränkt. Nur langsam setzt sich eine Ausdehnung des Gleichheitsprinzips auf politische, soziale und kulturelle Teilnahme durch. 97 Um solche Selektionen innerhalb weiter Handlungsspielräume erklären zu können, müßte auf den Machtfaktor und auf die affektuelle Bindung an Normen durch die Sozialisation zurückgegriffen werden. Diese Faktoren sind jedoch in der idealistischen Kulturtheorie nicht mehr integriert. Wir fassen zusammen: Das Konsistenzprinzip des rationalistischen Idealismus erklärt nur die Identität des Handeins bei hoher Variabilität konkreter Verhaltensweisen. Es scheitert dagegen auf den Feldern der Gerichtetheit, der Adaptivität 97 Bei Henke (Recht 1988, 257) erfahren wir, warum die Angleichung der äußeren Lebensbedingungen gegenüber der formalen Rechtsgleichheit "durchaus sekundär" ist: "Eine bewußt oder unbewußt materialistische Sicht mißversteht das Gleichheitspathos, das aus der Frage nach der menschlichen und nichtmenschlichen Existenz erwächst, als könne es durch Umverteilung äußerer Güter befriedigt werden. Der bei dieser Umverteilung Bedachte erhält nicht, was ihm zusteht. Die Gleichheit ist nur dann richtig zu verstehen, wenn man Gleichheit des Seins und Gleichheit des Habens unterscheidet und zum Haben nicht nur die äußeren Güter, sondern auch die inneren Gaben und Eigenschaften rechnet, die die ungleiche, besondere Stellung jedes einzelnen begründen. Wenn die Menschen auch alle im Haben ungleich sind, so können sie doch gleich sein im Sein. Deshalb schien den Griechen die Gleichheit von Natur und dem Mittelalter die Gleichheit als Vernunftwesen und die Gleichheit vor Gott, verstanden jeweils als Gleichheit im Sein, mit der Ungleichheit im Haben vereinbar, und darin lag ihr Sinn."

i

~

Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände

Produzenten, Konsumenten, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Verkäufer, Käufer etc. Regierungsmitglieder, Abgeordnete, Wähler, 10teressenvertreter

Marktordnung

parlamentarischpolitischer Entscheidungsprozeß

Kompromißbildung und Streitschlichtung

Diskurse

ökonomische Rationalität

Demokratie

Menschen- und Bürgerrecht

intellektuelle Rationalität

instrumentellökonomisches System (A) (adaption)

politisches System (goalattainment, goal-selection) (G)

"Gemeinschaftssystem" (integra(I) tion)

sozial-kulturelles System (latent pattern maintenance, tension management) (L)

Klassen, Schichten, religiöse, berufliche, ethnische, sprachliche, regionale Gruppen Intellektuellenund Professionellenverbände

Bürger (citizen)

intellektuelle Experten, Klienten, Laien usw.

Parteien, Interessenverbände

tragende Kollektive

Rollen

Subsystemspezifische

Normen

Werte

Subsysteme der Gesamtgesellschaft (und dominante Funktionszuschreibung)

Deutungssysteme, Symbolismus der Religion/transzendentale Bedingungen sinnhafter menschlicher Existenz

affektuelle Gemeinschaft/partikulare Gruppen

exekutive Administration/innere und äußere Entscheidungskonflikte

Markt/ökonomische Ressourcen

Interpenetrationszonen/spezifische Umwelten

Übersicht 14: Die Interpenetration gesellschaftlicher Subsysteme (nach MÜDch, Handeln 1982, 115).

Wertcommitments, Argumente

Einfluß

politische Macht

Geld

generalisiertes Medium ("Steuerungssprache")

N

w

I

t=

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

und Strukturiertheit des Handelns. Regelmäßigkeiten zu stiften, wird nur dem Austausch von Argumenten zugestanden. Ordnung ist danach die Folge von Diskurs, Unordnung die Konsequenz des Fehlens diskursiver Verfahren, des Einsatzes nichtlegitimierter Macht und unbegründeter Normen. Nicht greifbar im Bezugsrahmen dieses Ansatzes sind die institutionellen Partikularismen, die sich aus der lebensweltlichen Tradition der Gesellschaften ergeben, ebensowenig die situativen Veränderungen, denen Institutionen durch Interessenartikulation und Lernprozessen unterworfen sind. Die gemeinsame Schwäche der vorgestellten soziologischen Ansätze besteht darin, daß sie entweder nur den Wandel der gesellschaftlichen Institution oder nur deren Stabilität und Verfestigung erklären können. Um die Einschränkungen einer solchen Sicht zu überwinden, benötigen wir ein umfassendes Paradigma, in dessen Bezugsrahmen die zutreffenden Annahmen der Ansätze aufgehoben und zugleich deren Grenzen erkannt werden können. Als ein derartiges Paradigma, das die vier Handlungsfelder und Handlungsprinzipien integriert, soll im folgenden die ,,kognitivistische Ordnung" vorgestellt werden.

3. Kognitive Ordnung a) Erkenntnisbiologische Bausteine aa) Einleitung Das wichtigste Charakteristikum von sozialer Ordnung ist ihre Kraft, Regelmäßigkeit im Handeln zu erzeugen. Dieser Aufgabe waren die bisher genannten Ordnungen des Positivismus und des Idealismus nicht gewachsen. 98 Die rationalistisch-freiheitliche Variante des Positivismus erklärt Ordnung aus dem Optimierungsverhalten individueller Akteure. Sie beschränkt konformes Verhalten somit auf den eher seltenen Fall, daß dieses für alle Akteure ,,nutzbringender" ist als deviantes Verhalten. In einer solchen Ordnung besitzt die modeme Wertidee der 98 Bei den einzelnen theoretischen Ansätzen handelt es sich natürlich um analytische Konstruktionen, die nicht nur in diesen reinen Formen, sondern auch in Mischformen vertreten werden. Eine häufig vorkommende Mischform ist die Verbindung eines rationalistischen Positivismus (ökonomische Theorie) mit einem rationalistischen Idealismus (Vemunfttheorie). Dabei wird das Erklärungsinstrumentarium auf die Kombination von ethischen Rationalisierungen der Kultur und instrumentell-systemischen Rationalisierungen der ökonomischen und politischen Sphären reduziert. Da die historisch-empirische Ebene (Machnheorie) und die Komponente einer Theorie der Solidaritä.~sbildung (Normativismus) ausgeblendet bleiben, können die behandelten Ebenen der Okonomie und der Kultur nicht wirklich integriert werden. Der Kommunikationsstil der beiden Ebenen nimmt dann für die jeweils andere Ebene die Gestalt der Bedrohung, Usurpation oder Kolonialisierung an. Beispiele einer solchen unintegrierten Mischform sind von Habermas (Kommunikatives Handeln 1981) und von Schluchter (Rationalismus 1979) formuliert. Die Grenzen einseitiger Ansätze sind von Münch am Beispiel klassischer Theorien der Politik erläutert worden, vgl. Soziologie 1982.

11. Ordnungstypen

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Freiheit einen hohen Stellenwert, aber sie ist nur so lange zu verwirklichen, als die Interessenkomplementarität der freien Individuen anhält. Darüber entscheidet letztlich der Zufall. Eine Ordnung hingegen, die einerseits den Zufall ausschließen und sich andererseits nicht an Normen binden will, muß eine Zwangsordnung sein. Diese zweite, die empiristisch-herrschaftliche Variante des Positivismus hält Macht für den entscheidenden ordnungsstiftenden Faktor. Soll in dieser Ordnung das Wertmuster der Gleichheit verwirklicht werden, müßten alle Akteure über dasselbe Machtquantum verfügen. Nur unter dieser höchst seltenen Voraussetzung ließe sich also eine machttheoretische Position legitimieren. In allen anderen, realistischeren Fällen wären Regelmäßigkeiten des Handeins allein durch den zügellosen Einsatz von Macht zu erklären. Auch die idealistischen Varianten des Ordnungsproblems zentrieren sich um eine eher freiheitliche und um eine eher herrschaftliche Lösung. Als letztere kann die konformistische Ordnung gelten, die im historischen Idealismus verankert ist. In ihr herrscht die Kontrolle des Handeins durch eine gemeinschaftliche Verankerung in Normen vor. Derartige Ordnungen gründen auf den Wertideen der Solidarität und Berechenbarkeit des Handeins. Ihre Erklärungsbasis beschränkt sich infolgedessen auf konsensuelle Bereiche, die auf der Ebene konkreten Handeins jedoch nicht allzu häufig anzutreffen sind. Im Bereich des symbolischen Bezugsrahmens bzw. des rationalistischen Idealismus dürfte der Konsens unter den Gesellschaftsmitgliedern verbreiteter sein, aber er ist viel zu abstrakt, um das konkrete Handeln genügend regeln zu können. Diskursivität als alleiniges Wertmuster macht eine solche Ordnung zu einer vollkommen ideellen Ordnung. Sie ist praktisch wirkungslos. Alle diese soweit charakterisierten extremen Ordnungen haben nur eine begrenzte Aussagekraft. Ihre Reichweite erstreckt sich lediglich auf jeweils eine Komponente des Handlungsraumes: Nutzenkomplementarität, Machtinstanz, solidarische Vergemeinschaft und diskursive Vernünftigkeit. Die regulative Kraft dieser Beschreibungen und Erklärungen geht verloren, sobald Handlungsbereiche involviert sind, die außerhalb der entsprechenden ordnenden Prinzipien liegen. Will man dagegen ein umfassendes Ordnungsschema entwerfen, das über die eingeschränkteren Ansätze hinausgeht, dann muß man alle vier Extremtypen miteinander verknüpfen. Metatheoretisch bedeutet dies die Vereinigung des kausalen Erklärens mit Aspekten des Verstehens. Objekttheoretisch heißt dies, jede Ordnung aus der Art der Relation oder Interpenetration der konditionalen (positivistischen) und der normativen (idealistischen) Faktoren zu begreifen. 99 Im Be99 Im Unterschied zum Positivismus rechnet die kognitive Handlungstheorie mit der Fähigkeit des Menschen zur Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung. Menschliches Handeln unterliegt demgemäß keiner Außendetermination: Es ist weder vom Zufall noch vom Zwang äußerer Umstände direkt bestimmt. Infolgedessen kann auch die Ordnung nicht allein auf Zufall oder auf kausaler Außendetermination beruhen. Von den idealistischen Lösungen des Ordnungsproblems grenzt sich die kognitive Handlungstheorie dadurch ab, daß sie weder den allgemeingültigen Prinzipien noch dem gemeinschaftlichen

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zugsrahmen einer solchermaßen erweiterten Handlungstheorie steht Handeln somit stets im Spannungsfeld zwischen den situationalen und den sinnhaft-normativen Polen. Zwischen diesen beiden Polen sind zahlreiche Abstufungen z. B. zwischen instrumentellem und sinnhaftem Verhalten, zwischen strategischem und kommunikativem Handeln, zwischen Gemeinschaftshandeln und symbolischer Verständigung denkbar. 100 Auf diese Weise kann die Relation zwischen der externen Verflechtung und der inneren Struktur des menschlichen Handeins bestimmt werden. Eine Ordnung, die die situationalen und die normativen Handlungsfaktoren in sich aufnimmt, wollen wir eine kognitivistische oder abgekürzt eine kognitive Ordnung nennen. Die Theorie, mit der das Entstehen einer solchen Ordnung erklärt werden kann, ist die auf Maturanas Erkenntnisbiologie aufgebaute kognitive Handlungstheorie. Nur diese dürfte jene epistemologische Sensibilität aufbringen, die notwendig ist, um die Komplementarität von Zufall und Zwang, von Konformität und Rationalität, letztlich also das Zugleich von Notwendigkeit und Freiheit verstehen zu können. Eine voluntaristische Ordnung, wie sie von Parsons \01 konzipiert und von Münch 102 weitergeführt wurde, ist hierzu jedenfalls nicht imstande. Sie vermag die alten Dichotomien nicht zu überwinden. Wenn sie dem Positivismus "Willensfreiheit" und dem Idealismus biologische und soziale "Realität" entgegenhält, dann bestätigt sie gerade jenen Dualismus, den sie mit Hilfe des Konzepts der Interpenetration überwinden wollte. \03 Damit konzipiert sie Polaritäten und nicht Konsens hinreichende motivierende Kraft für das konkrete Handeln zuschreibt. Der symbolische Bezugsrahrnen ist zu unbestimmt, und der gemeinschaftliche Konsens ist zu vorläufiger Natur. Wegen der Interessenbestimmtheit, der Abhängigkeit von situationalen Faktoren und spezifischen Bedürfnisdispositionen bedürfen die Durchführung und die Durchsetzung der generellen Werte und der spezielleren Normen der Androhung und der Anwendung negativer Sanktionen. Solche Sanktionsmittel müssen nicht notwendigerweise - wie wir im Kapitel über das Recht in vorstaatlichen Gesellschaften sehen werden - von einer zentralisierten Instanz eingesetzt oder von der Gemeinschaft monopolisiert werden. Auf jeden Fall muß die Androhung und die Anwendung der Sanktionen selbst nach gemeinschaftlich getragenen Verfahrensregeln erfolgen. Desweiteren muß der Wandel der spezifischen Normen gewährleistet sein. Dazu ist erforderlich, daß sich das rechtliche Subsystem nicht abschließt oder gänzlich autonomisiert, sondern für neue Informationen und veränderte Interessenlagen öffnet. Dies gelingt ihm nur dann, wenn seine Strukturen die vier Handlungsfelder widerspiegeln. 100 Zu den Differenzierungen im einzelnen vgl. Habermas, Kommunikatives Handeln 1981, Bd. 1,369. \01 Siehe hierzu Parsons' erste Synthese sowie seine Synthese im Spätwerk: Parsons, Social Action 1968,81,396,439,448,572,753; ders., Comparative Studies 1977,279; ders., Equality 1977,321. \02 Vgl. Müoch, Handeln 1982,635; ders., Moderne 1984,27,54,617; ders., Kultur 1986, 15. Dazu kritisch Luhmann, AGIL 1989, 4, 8. \03 Nach der voluntaristischen Handlungstheorie besitzt der Mensch die grundSätzliche Fähigkeit, "sowohl seine organischen Triebe als auch seine äußere Situation nach freiem Willen zu kontrollieren" (Müoch, Moderne 1984,619) und "Wie der Begriff ,voluntaris-

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Komplementaritäten. Mit der Anerkennung der Welt als einer objektiven Größe, der das Subjekt gegenübertritt, setzt sie die Tradition der Spaltung des Denkens in Subjekt und Objekt, in Freiheit und Notwendigkeit fort. Ein wie immer gedachtes Mischungsverhältnis der beiden Größen vermag an dem Erklärungsmuster ihrer apriorischen Trennung nichts mehr zu ändern. Infolgedessen greift die Kritik der voluntaristischen Ordnungsidee an den Positionen des Positivismus und des Idealismus zu kurz. Andererseits nimmt sie diese nicht ernst genug. Sie wirft ihnen lediglich Übertreibungen an sich richtiger Annahmen vor. Sie meint, man brauche diese Annahmen lediglich zu kombinieren, um ein umfassendes neues Paradigma zu erhalten. 104 Das Ergebnis ist Unverbindlichkeit. Jederzeit kann der Determinismus mit der Willensfreiheit, die Norm mit der Macht, das Prinzip mit der Norm etc. paralysiert werden. Diese Unverbindlichkeit resultiert aus der erkenntnistheoretischen Naivität des Voluntarismus, der meint, daß die Handlungssphären einander instruieren. Das ist die alte ontologische Position, die es in einem neuen Paradigma zu überwinden gilt. Im Unterschied zum Voluntarismus rechnet die konstruktivistische Kognitionstheorie einerseits mit der Strukturdeterminiertheit allen Handelns, andererseits mit der grundsätzlichen Fähigkeit des Menschen zur strukturellen Koppelung. Das erste Phänomen verkennt der Positivismus, das zweite der Idealismus. Um dies näher zu begründen, wollen wir die Handlungstheorien des Positivismus und des Idealismus mit den konstruktivistischen Grundannahmen konfrontieren. Es wird zu zeigen sein, daß die Vereinseitigungen der vier Ordnungstypen auf epistemologischen Fehlern beruhen, die im Voluntarismus fortbestehen. bb) Strukturdeterminismus gegen Zufall und Freiheit Der Utilitarismus erklärt menschliches Handeln - wie wir gesehen habenletztlich für zufallsbestimmt. Der Zufall resultiert dabei aus der Beliebigkeit der durch keine Normen und durch keine Macht gesteuerten Ziele. lOS Dieser Standtisch' anzeigt, muß eine voluntaristische Ordnung die menschliche Willensfreiheit in das Ordnungskonzept einschließen" (Münch, ebd. 27). 104 Beispielhaft hierzu Münch: ,,Es kommt auf eine Integration der gegensätzlichen Schichten des Handeins an, die ihre Eigenständigkeit und die Spannung zwischen ihnen nicht beseitigt, sondern bewahrt. Die Lösung dafür ist die Interpenetration der gegensätzlichen Schichten und die Herausbildung vermittelnder Subsysteme in den Interpenetrationszonen. In diesem Sinne werden individuelle Autonomie und kulturelle Allgemeingültigkeit, individuelle Bedürfnisentfaltung und soziale Geordnetheit des Handelns miteinander vereinigt, ohne daß eine Seite der anderen untergeordnet würde. Thre Spannung bleibt grundsätzlich erhalten. In der voluntaristischen Ordnung von Institutionen werden Idealität und Konformität, Utilität und Zwang ,dialektisch' aufgehoben" (Moderne 1984, 621). Zur Formulierung dieser Idee bereits bei Durkheim vgl. Le dualisme 1970,314. 105 Der Einwand der Beliebigkeit der Normen gilt auch für den sogenannten Regelutilitarismus, der nicht nur die Handlungen, sondern auch die Geltung der normativen Ordnung durch rationale Nutzenkalkulation erklären will (vgl. z. B. Ellis, Order 1971, 695; Buchanan, Liberty 1975,26,58). Wie wir bereits am Gefangenendilemma dargelegt

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punkt ist aus konstruktivistischer Sicht unhaltbar; dies aber nicht allein deshalb, weil er die übrigen Handlungsfelder außer Betracht läßt, sondern vor allem, weil er die Natur lebender Systeme mißversteht. Lebewesen sind zirkulär organisiert, was sie zu operational geschlossenen und damit autonomen Systemen macht. Wir haben gründlich dargelegt, daß zwischen Gehirnfunktionen und Umweltreizen keine eindeutigen Beziehungen bestehen. 106 Somit gibt es keine Korrespondenz von physikalischen und erlebten Reizen. Das Erleben von Reizqualitäten hängt von internen Verarbeitungsmechanismen ab. Daraus ergibt sich die epistemologische Unmöglichkeit von objektiven Informationen. Die Einflüsse aus der Außenwelt sind lediglich Auslöser für interne Zustandsveränderungen, sie determinieren diese nicht. Was also Handeln bestimmt, wird nicht durch Informationen oder sonstige externe Ereignisse festgelegt, sondern durch die aktuelle Systemstruktur des Lebewesens. Und diese Struktur ist immer das Resultat einer Geschichte, in der die strukturellen Veränderungen stets kongruent mit den strukturellen Veränderungen des Mediums gewesen sind. Im Hinblick auf den Utilitarismus bedeuten diese Annahmen die strikte Zurückweisung des ökonomischen Zufallsprinzips. Handeln ist strukturdeterminiert und nicht etwa extern durch beliebige Ziele gesteuert. Die Ziele sind als Bestandteil des affektlogischen Bezugssystems das Ergebnis der Geschichte der strukturellen Koppelungen der Lebewesen. 107 Ebensowenig wie Handeln darf also deren Zielhaben, würde die Annahme des Regelutilitarismus die normative Ordnung auf irrationales Handeln der Akteure stützen. In vielen Fällen ist nämlich die Einhaltung der Tauschordnung für einen Akteur weniger nützlich als ihre Verletzung. Nicht wissend, ob die anderen die Regeln einhalten werden, wäre es für jeden einzelnen irrational, sich an Regeln zu halten. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg für die Akteure, solange jeder nur nach der Maximierung seines individuellen Nutzens streben kann. Die Verbindlichkeit der Regeln durch bloße Interessenkomplementarität hat schon Durkheim in seiner Auseinandersetzung mit Herbert Spencers Theorie der industriellen Gesellschaft kritisiert: "Denn wenn das Interesse die Individuen auch (einander) näher bringt, so doch nur für einige Augenblicke; es kann aber zwischen ihnen nur ein äußerliches Band knüpfen. Im Tausch selbst bleiben die verschiedenen Träger außerhalb einander und jeder bleibt derselbe und zur Gänze Herr über sich, wenn das Geschäft beendet ist. Ihr Bewußtsein berührt sich nur oberflächlich, durchdringt einander nicht, noch verbindet es sich ... Das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige auf der Welt. Eine derartige Ursache kann nur zu vorübergehenden Annäherungen und zu flüchtigen Verbindungen führen. Daraus ersieht man die Notwendigkeit der Untersuchung, ob das wirklich die Natur der organischen Solidarität ist" (Durkheirn, Arbeit 1977, 243). Aus dem Gesagten folgt notwendigerweise, daß die Akteure voraussetzen können müssen, daß die Vertragspartner die Einhaltung eines Vertrages nicht zum Gegenstand ihrer weiteren Kosten-Nutzen-Kalkulation machen werden. 106 Vgl. zur Selbstreferentialität des Gehirns Kap. 3 I 2. 107 Aus der Geschichte der strukturellen Koppelung der Menschen erklärt sich, wie Individuen zu gemeinsamen kategorisch gültigen Normen gelangen, deren Einhaltung in jeder Situation Priorität vor allen anderen Handlungsaltemativen besitzt und zwar ungeachtet ihrer Konsequenzen für die Realisierung anderer Präferenzen. Wenn wir also danach fragen, was uns verpflichtet, den kategorischen Imperativ zu akzeptieren, so müssen wir weiter fragen, wie es kommt, daß bestimmte Präferenzen zu gemeinsamen Präferenzen werden. Die Antwort hat wiederum schon Durkheim gegeben, der als wesent-

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setzung als zufällig und optimierend gelten. Was jedoch der Utilitarismus implizit richtig erfaßt, ist die erkenntnistheoretische Unmöglichkeit, objektive Gewißheit über andere Subjekte zu erlangen. Aus diesem Grunde kann ein Beobachter das Verhalten eines Individuums durchaus als zufällig, als nutzenmaximierend oder als eigeninteressiert beschreiben. Aber er muß sich stets bewußt bleiben, daß er sich im Bereich synthetisierender Beschreibungen und nicht im Bereich der "Wirklichkeit", der "Objektivität" oder gar der "Wahrheit" bewegt. In der konstruktivistischen Erkenntnistheorie folgt dieses Wissen notwendig aus der Strukturdeterminiertheit des Organismus und ist dort explizit formuliert. Hinsichtlich des Voluntarismus ist klar, daß das Konzept der Willensfreiheit gegenüber der Annahme des Strukturdeterminismus keinen Bestand hat. Wenn sich das Lebewesen in jeder einzelnen Situation nur so verhalten kann, wie es sein innerer Zustand zuläßt, dann hat es keine Wahl. Begriffe wie Vorhersagbarkeit und freie Wahl entstammen der Beobachtersprache und drücken das Eintreffen oder Ausbleiben von Erwartungen aus. 108 Auch der Voluntarismus verkennt liche Voraussetzung für das Zustandekommen des Nonnensystems die Vergemeinschaftung auf der Basis affektueller Verbundenheit genannt hat (vgl. Durkheim, Soziologie 1976, 105; ders., Erziehung 1973, 109; Formen 1981, 260, 498, 556). Daß diese affektive Verbundenheit im Prozeß der Sozialisation aufgebaut wird, haben wir an der Ontogenese des affektlogischen Bezugssystems gezeigt. Wichtigste Erkenntnis unserer Überlegungen war, daß es keinen Logos ohne Affekt, keine Rationalität ohne emotionale Bindung geben kann. Somit bedarf eine auf rationale Begründung aufgebaute Moralordnung auch einer nichtrationalen Abstützung. Diese Abstützung erfordert die Entwicklung eines affektiv-kognitiven Bezugssystems, in dem sich die Akteure affektuell verbunden wissen. Soziale Ordnung fundiert also nicht in den Standards der Rationalität, sondern in der affektiven Verankerung dieser Rationalität. In diesem Punkt unterscheiden wir uns von jener Variante kognitivistischer Sozialisationstheorien, in deren Rahmen der Versuch einer rein rationalen Begründung sozialer Ordnung unternommen wird (vgl. z. B. Kohlberg, Turiel, Moralische Entwicklung 1978, 13; Habennas, Moralentwicklung 1976,63). Mit dieser Kritik sind die Grenzen der utilitaristischen Paradigmen aufgezeigt. Daß sie innerhalb dieser Grenzen (Nutzenmaximierung im Rahmen der Präferenzen) eine gewisse Erklärungskraft besitzt, wird keinesfalls bestritten. 108 Siehe dazu Luhmann (Soziale Systeme 1985, 171): "Verhalten ist nicht an sich unbestimmbar, nicht von ,Natur' aus ,frei' im Sinne von: offen für willkürliche Bestimmung. Unbestimmbar wird das Verhalten anderer erst in der Situation doppelter Kontingenz und speziell für den, der es vorauszusagen versucht, um eigene Verhaltensbestimmungen anhängen zu können. In der Metaperspektive der doppelten Kontingenz ergibt sich dann eine durch Voraussage erzeugte Unbestimmbarkeit." An anderer Stelle bindet Luhmann den Begriff der Freiheit weniger konsequent an den voraussagenden Beobachter. Freiheit soll danach in der Notwendigkeit und Möglichkeit des Unterscheidens begründet sein, wobei die Wahl einer Option die nächste Wahl bindet. Dieser Zusammenhang von Freiheit und Bindung ist dann das, was wir Verantwortung nennen: Verantwortung liegt schon in der Wahl des Unterscheidens. Zum Verständnis des Ganzen zitiert Luhmann ein Gleichnis: ,,Ein Gärtner sah, daß ein Mann in einen seiner Bäume gestiegen war und von den Früchten aß. Er machte ihm Vorwürfe. Der Mann aber erklärte: Ohne den Willen Gottes hätte ich weder Appetit auf Früchte noch wäre ich auf diesen Baum gestiegen. Es geschieht alles mit Gottes Wille, und Du hast keinen Anlaß, Gott Vorwürfe zu machen. Darautbin nahm der Gärtner den ,Stock Gottes' und drosch auf den Mann ein, bis dieser sich bereitfand, von seiner Theologie zu lassen und zuzugeben, daß es

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also, daß ontologisches Wissen unmöglich ist. Dennoch nimmt der Voluntarismus in der Rede von der freien Wahl einen wichtigen Aspekt des Strukturdeterminismus zur Kenntnis: die Ablehnung des Umweltdeterminismus, nach der kein Medium ein System veranlassen kann, etwas zu tun, wozu es nicht fähig ist. Aber er verwechselt diese Autonomie, die aus der organisatorischen Geschlossenheit lebender Systeme folgt, mit freiem Willen und freier Wahl. cc) Zirkularität vs. Kontrolle Auch die Machttheorie erweist sich aus der Sicht der biologischen Erkenntnistheorie als viel zu vordergründig, um die Phänomene von Herrschaft und Zwang zu erklären. Wieder soll das Konzept des Strukturdeterminismus als Wegweiser dienen. Danach bestimmen nicht Kräfte und sonstige Einflußfaktoren das Verhalten, sondern die internen Strukturen des Handelnden. Wie ist aber dann unsere Überzeugung von Kausalität zu verstehen, wonach eine Sache tatsächlich eine andere eintreten läßt? Offensichtlich existieren ja für unsere Erfahrung kausale Interaktionen zwischen zwei Objekten: Eine Billardkugel "veranlaßt" eine andere Billardkugel zurückzuprallen. Die Antwort ist, daß zwei Objekte nur dann interagieren können, wenn sie sich gegenseitig Merkmale zeigen, die es ihnen ermöglichen, für den jeweils anderen eine Störung Zu sein, d. h. wenn ihre entsprechenden Strukturen die Interaktionen "erlauben". So spezifiziert die Struktur der liegenden Billardkugel, ob und wie sie durch andere Objekte gestört werden kann. Daher beruht die Tatsache, daß ein Objekt offenbar ein anderes "veranlassen" kann, etwas zu tun, zuallererst auf den Geboten des Strukturdeterminismus. 109 seine freie Entscheidung gewesen sei. Wir ergänzen und interpretieren: An die Stelle der gemeinsamen Berufung auf einen Willen setzen die Beteiligten, nachdem sie damit üble Erfahrungen gemacht haben, eine Unterscheidung, nämlich den Code von Recht und Unrecht, der es ermöglicht, das Verhalten differentiell zu konditionieren. So entsteht Freiheit als Möglichkeit der Option auf eine Seite der Unterscheidung" (Luhmann, Freiheit 1989, 1). Gegen diese Interpretation läßt sich einwenden, daß das Gleichnis doch wohl weniger die Entstehung von ,,Freiheit" als die Entstehung von Herrschaft "erklärt", wie der "Stock Gottes" deutlich nahelegt. Abgesehen davon, trägt die Tatsache, daß wir Unterscheidungen treffen, nichts zu der Frage bei, welche Unterscheidungen und mit welchem Anteil an Freiheit wir diese treffen. Auch Tiere müssen unterscheiden, das gilt sogar für so einfache Maschinen wie den Thermostaten. Niemand würde ihnen deshalb Freiheit zusprechen. Zu differenzieren, ist aber kein Privileg des Menschen, wohl aber lassen sich beim Menschen die Unterscheidungsmöglichkeiten aufgrund der sprachlichen Selbstreferentialität ins Unendliche steigern. Die damit gegebene lebenslange Chance des Lernens schafft ein tragfähiges Fundament für eine spezifische soziale Verantwortlichkeit, sie ist jedoch keine Bedingung der Freiheit. Die Fähigkeit, Rückmeldungen in die künftigen Motivationen einbauen zu können, steht nicht außerhalb der deterministischen Gesetzmäßigkeit des autopoietischen lebenden Systems. 109 Als Beobachter haben wir freilich kaum eine andere Wahl, als dem aktiv Handelnden kausale Priorität zuzusprechen. Wir "sehen", daß ein Objekt ein anderes zu einer Zustandsveränderung "veranlaßt". Auf diese Weise interpunktieren wir eine Interaktion, aber wir ignorieren gleichzeitig, daß es eben die Struktur des anderen Objektes ist, die bestimmt, ob und wie es gestört werden kann. Bateson (Geist 1982, 85) nannte diese

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Nach diesem Verständnis sind alle Interaktionen ein Anpassen, ein Verbinden oder eine Komplementarität zwischen zwei Objekten. Das Ereignis, von dem wir als "verursacht" sprechen, ist einfach die Art, wie sich die beiden Objekte anpassen. Normalerweise nehmen wir die Struktur der uns vertrauten Objekte so selbstverständlich hin, daß wir die Interaktionen nicht mehr als komplementäre Ereignisse erkennen. Wir machen dann die psychologische Erfahrung der Kausali tät, wenn wir vorhergesagte oder erwünschte Ergebnisse bei anderen Objekten hervorbringen können. Aber diese Erfahrung entspricht nicht der Realität der Anpassung. Damit also die psychologische Illusion der einseitigen Verursachung möglich ist, müssen wir uns selbst der Situation anpassen. Wir müssen z. B. als Erzieher herausbekommen, welche Methoden zu welchen Kindern "passen". Denn die Struktur des Kindes determiniert, wie es sich verhalten wird, und nicht die Techniken der Erzieher. Da aber das Entdecken der Erziehungstechniken, die den Dispositionen des Kindes angeglichen sind, zumeist unbewußt erfolgt, nehmen wir an, daß unsere Methoden das gute Betragen "verursacht" hätten. 110 Aus der strukturdeterministischen Annahme, daß Kausalität im Sinne instruktiver Interaktion unmöglich ist, folgt zwingend, daß auch Kontrolle im Sinne eines einfachen Machteinsatzes unmöglich ist.!!! Systeme mögen parallele Strukturen, einseitigen Erklärungen von ,,kausaler" Interaktion ein "einschläferndes Prinzip". Der Fokus auf Handlung und Kausalität wirkt in dem Sinne einschläfernd, daß wir die Objekte in ihrer Eige~,gesetzlichkeit nicht mehr wahrnehmen. Wir sehen nicht, daß jedes Objekt verschiedene Anderungen seines Zustands in einer strukturdeterminierten Weise vollzieht, d. h. wir erkennen nicht, daß jede Störung dem System die historische Gelegenheit bietet, seine strukturdeterminierten Zustandsänderungen fortzuführen (vgl. Maturana, Strategien 1985,314). An diesem Konzept ändert sich nichts, wenn sich strukturdeterminierte Systeme in Interaktionen verbinden. Eine solche Interaktion stellt ein komplementäres Verhalten dar: Das Ereignis, von dem wir als "verursacht" sprechen, ist einfach die Art, wie sich die beiden Objekte anpassen. Bateson ist nun der Auffassung, daß nicht nur Interaktionen zwischen Individuen, sondern die Welt, ja das gesamte Universum, in Begriffen zirkulärer Kausalität organisiert, d. h. systemisch oder kybernetisch ist. Bateson behauptet, jedes soziale und jedes ökologische System ist zirkulär organisiert und zirkulär mit immer urnfassenderen Systemen verbunden. Wenn dies zutrifft, dann impliziert eine solche kybernetische Verbundenheit, daß ,,kein Teil eines solchen in sich interaktiven Systems eine einseitig~. Kontrolle über den Rest oder über irgendeinen anderen Teil haben kann" (Bateson, Okologie 1983,315). Wer es in seinen Beschreibungen interaktiver Prozesse versäumt, das System als ein Ganzes wiederzugeben, begeht nach Bateson daher epistemologische Irrtümer. Anstatt zu sagen, "der Mann fällte den Baum", sagt Bateson: ,,Jeder Hieb der Axt wird entsprechend dem Aussehen der Schnittkerbe des Baumes, die durch den vorherigen Schlag hinterlassen wurde, modifiziert oder korrigiert. Dieser selbstregulierende Prozeß wird her~~geführt durch ein Gesamtsystem - Baum-Augen-Gehirn-Muskeln-Axt-Hieb-Baum" (Okologie 1983,317). Diese Interpretation läßt durchaus lineares Denken zu, solange man es als Annäherung an umfassendere rekursive Muster versteht. Dasselbe gilt für lineare Interventionen und Strategien in Bereichen der Erziehung und Therapie. !1O Vgl. hierzu DelI, Epistemologie 1984, 158. !11 Nach DelI (Homöostase 1986,72) gibt es nur zwei grundlegende epistemologische Irrtümer: ,,Der eine ist passiv, der andere aktiv. Der passive Irrtum besteht darin, die Anerkennung der Realität zu verweigern. Das ist eine Verletzung des Realitätsprinzips. ,Was ist, ist; was nicht ist, ist nicht.' ... Der aktive epistemologische Irrtum besteht

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konsensuelle Bereiche wie gemeinsame Sprache hervorbringen, sie mögen sich in komplementären Interaktionen verbinden, aber sie kontrollieren einander nicht in einer Weise, wie es der Konstrukteur mit trivialen Maschinen vennag. Daß geradlinige Einflußnahme unter Menschen ausgeschlossen ist, haben Therapeuten vor allen anderen professionellen Helfern zu akzeptieren gelernt. Immer mehr Therapeuten schließen sich der Erkenntnis an, daß therapeutische Interventionen nicht verursachen, daß Patienten sich ändern; diese würden selbst bestimmen, was geschehen wird. l12 Bateson umschreibt denselben Sachverhalt mit den Worten: "Der Mensch schlägt vor, aber das System entscheidet; Kontrolle schafft Zerstörung." 113 Ähnlich Schiepek: "Therapie kann nicht verlangen, sich zu bessern oder ein anderer Mensch zu werden. Der Patient soll bereits existierende Strukturen in anderer als der bisherigen Weise verwirklichen." 114 Diese therapeutischen Beobachtungen reflektieren auf ihrem besonderen Gebiet die allgemeine Operationsweise autopoietischer Systeme: den Strukturdetenninismus. Mit ihm ist eine einseitige Kontrolle unvereinbar, mit ihm ist die Vorstellung einer hierardarin zu versuchen, andere zu kontrollieren und sie zu veranlassen, das zu tun, was man will. Dies ist ein Irrtum, weil Menschen (und alle anderen Organismen) das sind, was Maturana strukturdeterminiert nennt." 112 Diese Erkenntnis ist selbstverständlich seit langem auch in der Pädagogik verbreitet. Insbesondere die Gestaltpädagogik hat das Prinzip der Freiwilligkeit zu einem grundlegenden Charakteristikum der eigenen Arbeit erklärt. Nur so könne die Fähigkeit zur spontanen Selbstregulation gefördert und Zwang bewußt gemacht werden; vgl. hierzu eindringlich Burow, Gestaltpädagogik 1988, 116. 113 Bateson, Ökologie 1983, 566. 114 Schiepek, Diagnostik 1986,93. Den Gedanken, daß nur solche strukturellen Veränderungen möglich sind, die die aktuelle Struktur des Systems zuläßt, konfrontiert Watzlawiek mit dem Kriterium der Wirklichkeitsanpassung als dem gängigen Gradmesser der geistigen Gesundheit. In diesem Zusammenhang berichtet er von einer Patientin, die am Ende einer erfolgreichen Behandlung der konflikthaften Beziehung zu ihrer Mutter äußerte: "So wie ich die Lage sah, war es ein Problem; nun sehe ich sie anders, und es ist kein Problem mehr." Watzlawick bezeichnet diese Äußerung als die Quintessenz therapeutischen Wandels, obwohl sich nichts "wirklich" verändert habe, außer einer ,,Ansicht", einer ,,Einschätzung" (Münchhausen 1988, 103). Was sich verändert hatte, war die Zuschreibung von Sinn bezüglich ihrer Beziehung zur Mutter. Derartige Sinnzuschreibungen sind aber nicht Abbild objektiv bestehender Wahrheiten, sondern sind überhaupt nur innerhalb eines bestimmten Kontextes denkbar. Infolgedessen ist weder die frühere noch die neue Sichtweise der Frau in irgendeinem objektiven Sinne "wahrer" oder ,,richtiger" als die andere. Was man jedoch zuverlässig sagen kann: Die neue Sicht verursacht weniger Leid. Diese Sichtweise "paßt" nunmehr, d. h. sie stößt nirgends mehr schmerzlich an. Der Konstruktivismus legt also nahe, daß die leidvollen Auswirkungen einer bestimmten gegenwärtigen Als-ob-Fiktion durch jene einer anderen Als-ob-Fiktion ersetzt werden müssen, die eine erträgliche Wirklichkeit erschaffen. ,,An die Stelle von Wirklichkeitsanpassung an die vermeintliche ,wirkliche' Wirklichkeit tritt also die bessere Anpassung der jeweiligen WirklichkeitsfIktion an die zu erreichenden, konkreten Ziele" (Münchhausen 1988, 111). Die bestürzende Konsequenz aus diesen Überlegungen besteht darin, daß es auf die Erklärungen als solche nicht ankommt, daß Hypothesen und Theorien nur insofern Bedeutung haben, als sie fIktive Brücken zu praktischen Resultaten sind. Dem Therapeuten kommt die Aufgabe zu, neue fIktive Brücken anzubieten.

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chischen Organisation der Systeme ausgeschlossen. Hierarchie verträgt sich per definitionem nicht mit der zirkulären Organisation der autopoietischen Systeme. Bisher haben wir den strukturdeterministischen Nachweis geführt, daß Ordnungen mit Begriffen wie Kausalität und Kontrolle nur höchst unzureichend beschrieben sind. Machtüberlegene und Machtunterlegene interagieren komplementär, stellen wechselseitig ihre Strukturen zum Aufbau ihrer Ordnung zur Verfügung. Mit diesen Überlegungen ist einer Machttheorie, die vom Umweltdeterminismus ausgeht, der Boden entzogen. Nunmehr soll danach gefragt werden, ob diese Überlegungen nicht zur Relativierung oder sogar zur Leugnung von Zwangsordnungen beitragen? Kann jetzt nicht behauptet werden, daß die Machtunterlegenen durch ihr freiwilliges Verhalten das soziale Zwangssystem erst ermöglichen? 115 Eine derartige Argumentation liegt auf der Linie des Voluntarismus, keinesfalls ist sie vom Boden des Strukturdeterminismus aus schlüssig. Von der voluntaristischen Behauptung, daß die Menschen ihre äußere Situation nach freiem Willen zu kontrollieren imstande sind, ist es nicht sehr weit zu der Vorstellung, daß sie sich den Machtüberlegenenfreiwillig unterwerfen. Der Voluntarismus, der diesen argumentativen Weg nicht gehen will, hat eigentlich keine Erklärung dafür, warum sich Menschen in Zwangsordnungen arrangieren, fügen und stillhalten. Es ist vom voluntaristischen Standpunkt aus nicht recht einzusehen, weshalb einer Zwangsordnung unterworfene Menschen nicht rebellieren sollten. Wer jegliche Determination leugnet, kann wohl nur Widerstand, nicht jedoch Anpassung und Gefügigkeit begreiflich machen. Der Konstruktivismus hingegen besitzt mit dem Konzept der strukturellen Koppelung ein Erklärungsmuster für Anpassung, das weit über die gewöhnlichen machttheoretischen, aber auch normativen Vorstellungen hinausgreift. Dieses Konzept soll anschließend mit den handlungstheoretischen Varianten des Idealismus konfrontiert werden. 115 Dann nämlich träfe zu, daß ,,Faulheit und Feigheit" der Menschen die Ursachen von Zwangsherrschaft wären. Diesen Bequemlichkeiten hat Immanuel Kant die Aufklärung entgegengehalten: ,,Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist die Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude, habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen - ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unniündig zu sein" (zit. bei Langer, Herrschaft 1988, 198). Die nachfolgenden Ausführungen zum Aufbau parallelisierter Bewußtseinszustände, zur Entwicklung konsensueller Bereiche in der Sprache sollen zeigen, daß es nicht Feigheit und Faulheit alleine sind, die Herrschaft und Unmündigkeit hervorbringen. Neben der Gewalt ist es vor allem die Täuschung, die im Bereich des sprachlichen Verhaltens eine unbegrenzte Entfaltungsmöglichkeit besitzt. Ist die Täuschung (Ideologie) in die Sprache eingedrungen, bedeutet Aufklärung vor allem Wissen um Selbsttäuschung.

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Kap. 3: Soziologie der Kognition dd) Strukturelle Koppelung vs. Gehorsam

Für den npnnativistischen Idealismus ist Gesellschaft nur als konfonnistische Ordnung möglich, in der eine vollkommene Verpflichtung aller Individuen auf die Nonnen der Gesellschaft herrscht. Wie schon im machttheoretischen Positivismus besitzen auch nach nonnativistischer Auffassung die Individuen keine Autonomie und keine Selbstverantwortung. Sie handeln als reine Gemeinschaftswesen bloß nonnorientiert und regelgeleitet. Nicht anders als zuvor die Machtfaktoren wirken diesmal Nonnen detenninistisch auf die Individuen ein. Da somit das fonnale Modell der Kausalität und der Kontrolle auch im machttheoretischen Positivismus wirksam ist, treffen ihn dieselben Einwände, die von der Kognitionstheorie gegen konfonnistische Ordnungsvorstellungen erhoben wurden. Insbesondere muß verstanden werden, daß die Struktur des Systems bestimmt, wie es auf eine spezifische Störung zu einem bestimmten Zeitpunkt reagieren wird. Nur wenn System und Medium eine Einheit bilden, ist mit konfonnem Verhalten zu rechnen. Nur wenn die Nonn zur Struktur des Handelnden "paßt", kann es eine Interaktion geben, die dem Beobachter als UrsacheWirkungs-Verhältnis erscheint. Das Phänomen des "Passens" erklärt Maturana mit der Annahme der strukturellen Koppelung von System und Umgebung. Sie ist eine zwangsläufige Folge des Strukturdetenninismus und ennöglicht dem System, durch Lernen zu überleben. Aber sie bietet insbesondere unter den Bedingungen von Gesellschaft und Sprache auch hinreichend Möglichkeiten zur Etablierung von Herrschaft und Zwang. 116 Insofern Macht auf dem Mechanismus 116 Versprachlichung ist also nicht nur Freiheitsgewinn, sondern auch Beschränkung: Einpassung in ein bestimmtes Bewußtsein. Die Dauerhaftigkeit eines einsozialisierten Bewußtseins ergibt sich aus der Verbindung zwischen den frühesten, affektiv besetzten Interaktionen und der Sprache. Alfred Lorenzer schildert ganz im Sinne des Konzepts der Affektlogik die Spracheinführung als eine Verschmelzung von dyadisch eingeübten Verhaltens/ormen und Sprachjiguren, d. h. von Affekt und Logik, von Emotion und Kognition. In der Spracheinführung werden demnach zwei verhaltensanweisende Systeme vermittelt: das System der nicht bewußt einsozialisierten Interaktions/ormen, die wir Triebe nennen, und das System der Sprachjiguren, die als Namen mit den Interaktionsformen verbunden werden und von denen jede einzelne den Anspruch des ganzen Sprachsystems festhält, das Verhalten dem bewußten Konsens der Normen zu unterwerfen. Das Resultat sind symbolische Interaktions/ormen, die die beiden Anweisungssysteme vereinen und somit die Triebmatrix und das normative Sprachsystem in eine Synthese bringen. Gelingt die Synthese der Triebwünsche und der sozialen Gebote nicht, so zerfällt der mühsam aufgebaute symbolische Komplex in seine beiden Teile: in die nun wieder sprachlos gewordenen Interaktionsformen und in die von den Emotionen abgetrennten Sprachfiguren. Lorenzer nennt diese rückläufige Entwicklung des seelischen Konflikts "Desymbolisierung" (vgl. ausführlich dazu Lorenzer, Sozialisationstheorie 1972; zur Methode der psychoanalytischen Aufarbeitung dieses Konflikts vgl. Lorenzer, Sprachzerstörung 1970; ders., Psychoanalyse 1973; ders., Psychoanalytische Erkenntnis 1974; ders., Sprachspiel 1976; ders., Intimität 1984). Im Prozeß der Desymbolisierung gehen die Vorteile der Bildung der Symbolisierungen wieder verloren: Verhalten folgt erneut dem alten Reiz-Reaktions-Spiel. Solange die Situation keine entsprechenden ,,Reize" oder Versuchungen bereithält, kann der "Triebkonflikt" latent bleiben. Das ändert sich, wenn Situationen das Verdrängte provokativ anreizen. Dann kommt es zum zweiten

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der strukturellen Koppelung beruht, ist sie um vieles tiefgreifender, hartnäckiger und undurchschaubarer, als sich dies jede kausalistische Kontrollhypothese ausmalen kann. Andererseits kann sich gerade wegen dieses Mechanismus keine Macht auf Dauer einrichten. Wenn es stimmt, daß dieses Phänomen der strukturelAkt der Desymbolisierung, zur "Wiederkehr des Verdrängten". Diese "Wiederkehr" verschafft jedoch den abgewehrten Triebwünschen keineswegs ihr Recht, sondern zwingt diese zum schlechten Komprorniß im Symptom. Anders als bei der geglückten Versöhnung in den symbolischen Interaktionsformen setzt sich nunmehr beim "aktuellen Konflikt" der Triebanspruch unvermittelt durch. Aber anstatt zur Befriedigung des ursprünglichen Impulses, kommt es zur Ersatzbefriedigung. Der Wunsch wird verstümmelt: Er muß einen sozialen Komprorniß eingehen. Unter dem Druck der wieder unbewußt gewordenen Interaktionsformen ("Klischees") kommt es zur falschen Wunscherfüllung. Wie in der Charakterbildung verkehren sich dann Verschwendungslust in Sparsamkeit, Spontaneität in Ordnungsrituale etc. Diese falsche Wunscherfüllung darf und kann natürlich nicht beim richtigen Namen genannt werden. Das Symptom wird vielmehr mit falschem Namen verkleidet, mit Sprachschablonen, die von der Psychoanalyse ,,Rationalisierungen" genannt werden. Wie die symbolischen Interaktionsformen die Einheit von Trieb und Norm verkörpern, so verklammert die neue Einheit Symptom und Sprachschablone. Wenn wir uns den "faulen Kompromiß" der Symptombildung genauer betrachten, dann fällt auf, daß er häufig sozial zugelassen, also sozial tolerabel ist. Entspricht das Symptom den gängigen Lebensstilen, so kann sich der Triebwunsch sozial angepaßt entladen, aber eben doch verkürzt, denn an der Sprachschablone zeigt sich, daß das Normensystem den authentischen Wunsch unterworfen hat. An diesem Punkt zeigt sich die Doppelnatur der Spracheinführung: Sie kann die Triebmatrix bewußt machen und damit Selbstverfügung, Subjektivierung und Autonomie des Individuums eigentlich erst herstellen, sie kann andererseits zur punktuellen Subjektlosigkeit in der Form der Symptombildung als Einheit von Ersatzbefriedigung und Sprachschablone entscheidend beitragen. Im letzteren Fall ist der ursprüngliche Wunsch der Selbstbestimmung entzogen, er offenbart sich nur noch in sprachlichen Versatzstücken, versteinerten Einstellungen und Schablonen. Es läßt sich nun leicht zeigen, daß die Liaison von Ersatzbefriedigung und Schablone eine entscheidende Verstärkung durch die Vergesellschaftungsprozesse der nachinfantilen Sozialisation empfangt. Diese Vergesellschaftung verläuft in einem Doppelzugriff aufs Individuum (a) über kollektivspezifische Interaktionen und (b) über kollektivspezifische Sprachfiguren, die die besondere "Weitsicht" des jeweiligen kulturellen Systems ausmachen. Setzt diese Gemeinschaftsbildung an den symbolischen Interaktionsformen (geglückte Einheit von Sinnlichkeit und Bewußtsein) an, so ist der Einzelne zwar befangen im Netz des herrschenden Bewußtseins, aber er bleibt erreichbar für Erfahrungen, die sich aus· den Widersprüchen zwischen seinen Bedürfnissen und den Normen der Gesellschaft ergeben. Anders ist es, wenn die kulturelle Organisation an den Symptomen ansetzt. Dann nämlich gehen Persönlichkeitsdefekte und objektive gesellschaftliche Struktur eine Verbindung ein, die zwar der seelischen Stabilisierung dient, die aber andererseits gegen Einsprüche der Vernunft und der Triebe völlig immunisiert. So kann es zu einer Massenbildung kommen, in der "Weltanschauung" und ,,Persönlichkeit" ein festes Wechselverhältnis eingehen. Lorenzer findet die subjektive Lage der Individuen im Fall von Massenbildung von zwei Merkmalen bestimmt: (1) Die objektive Situation wird als Konflikt erlebt, dessen gesellschaftliche Bedingtheit den Individuen verborgen bleibt. Dieser Konflikt fmdet Anschluß an die falschen Lösungsformeln in der Einheit von Symptom und Schablone. (2) Die weltanschauliche Idee, die kollektive Sprachschablone löst die Spannung des individuell erlebten Konflikts. Sie hebt die Isolierung des Einzelnen auf und überführt den Konflikt in ein kulturelles Deutungsmuster, das ebenso undurchschaubar wie unangreifbar ist. Die "Weltanschauung" verquickt den Triebwunsch und die soziale Handlungsanweisung zu einer stabilen und darum falschen Einheit. Sie erstickt die soziale Irritation, wie das Symptom die individuelle Irritation erstickt (vgl. die ausführliche Darstellung bei Lorenzer, Konzil 1981, 109).

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

len Koppelung sowohl die Entstehung von Herrschaft als auch deren Überwindung zu erklären vermag, dann dürfte sie die allerwichtigste soziologische Implikation des Strukturdeterminismus sein. Nach Maturana ist strukturelle Koppelung nichts anderes als die komplementäre Beziehung zwischen einer strukturdeterminierten Einheit und deren Medium. Sie ist damit eine konstituierende Bedingung der Existenz jeder Einheit. Ohne an die Welt, in der sie lebt, gekoppelt zu sein, müßte die Einheit zerfallen. Führen dagegen die Interaktionen mit dem Medium nicht zum Zerfall des Objektes, dann ist es an eben dieses Medium gekoppelt. Das klingt zunächst überaus trivial, hat aber bedeutsame Implikationen, wenn es sich bei den Objekten um komplexe, strukturell plastische Systeme handelt. Denn bei solchen Systemen führt jede Interaktion mit sich selbst, mit der Umgebung oder anderen plastischen Systemen zu strukturellen Änderungen, die das zukünftige Verhalten des Systems verändern wird. Aus diesem Grunde ist ein strukturell plastisches System ein lernendes System: Sein Verhalten paßt defmitionsgemäß zu seiner Umgebung. Besteht die Umgebung ihrerseits aus strukturell plastischen Systemen, so folgt daraus, daß diese Systeme sehr schnell und umfassend aneinander gekoppelt sein werden. Immer, wenn sie interagieren, beginnen sie mit der Ko-Evolution ihrer Strukturen. Sie bilden ein System, das nichts weiter als die spezifische Art ist, in der die strukturell plastischen Komponenten zusammenpassen. Sie können sich - mit anderen Worten - nicht zueinander verhalten und gemeinsam ihre Organisation erhalten, ohne daß ihre Strukturen kongruent sind. Geht die strukturelle Kongruenz der beteiligten Individuen verloren, führen die dadurch bewirkten Veränderungen zum Ende des Systems und schließlich zum Tod der Individuen. Maturana schildert die universelle Beziehung von System und Medium so: ,,Jedes lebende System existiert nur unter Erhaltung seiner Angepaßtheit und seiner Organisation, so daß die Erhaltung des einen die Erhaltung des anderen unter gewissen Umständen einschließt. Infolgedessen und weil das Medium die Aufeinanderfolge der strukturellen Veränderungen des Systems, die an dessen Interaktionen im Medium gekoppelt sind, selektiert, ist der Lebensprozeß bei Erhaltung der Angepaßtheit des lebenden Systems stets auch ein Prozeß kongruenter Veränderungen von System und Medium. Weder verändert sich nur das lebende System allein, noch bleibt nur das lebende System unverändert. System und Medium bilden vielmehr stets eine Einheit und befinden sich sozusagen automatisch in Kongruenz, solange das System lebt." 117 Diese Äußerungen fassen auf gedrängtestem Raum die systemische Sichtweise des Strukturdeterminismus zusammen. Für unser Interesse an der Konstitution menschlicher Ordnungen steht dabei die Aussage von der strukturellen Kongruenz im Vordergrund. Sie ist in Wirklichkeit eine Aussage über die Natur der Verursachung im Kontext der Interaktionen strukturdeterminierter lebender Systeme. Wie schon dargelegt, führen diese Interaktionen nicht zu Instruktionen oder einseitigen Einwirkungen, sondern zu strukturellen Koppelungen der beteiligten 117

Maturana, Sozialität 1985, 8.

11. Ordnungstypen

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Individuen. Sie bilden dabei eine systemische Organisation, in der kein Aspekt losgelöst vom übrigen System existiert, in der vor allem kein Einzelfaktor kausal auf andere Teile des Systems einwirkt. Eine linear-kausale Betrachtung ignoriert die Struktur des Elements, auf das eingewirkt wird, und verkennt infolgedessen die zirkulären oder wechselseitig kausalen Prozesse, die durch die strukturelle Koppelung der Elemente erzeugt werden. Bestehen zwischen den Elementen rückgekoppelte Zusammenhänge, dann konstituieren sich die Elemente gegenseitig, und Kausalität verflüchtigt sich in ein Netzwerk von Relationen, dessen Ordnung nicht von durchgehenden Kausalitäten, sondern von Reproduktionszwängen bestimmt wird. 118 118 Trotz des Wissens um kreiskausale Prozesse kommen wir als Beobachter nicht umhin, die Ereignisse, die wir sehen, linear zu interpunktieren, in einen Raum zu stellen und Relationen zwischen den Ereignissen herzustellen. Damit zeichnen wir Objekte vor einem Hintergrund aus und nennen die Beziehungen zwischen den Objekten Kausalität und Zeit. Daß jedoch Zuschreibungen wie Vorher und Nachher, Aktiv und Passiv, Anstoß und Reaktion, gänzlich ungenügend die zu beurteilende Situation kennzeichnen, weiß jeder Familientherapeut, der mit dem Nörgeln-Zurückziehen-Zyklus seiner Klienten konfrontiert wird: ,,Er zieht sich zurück, weil sie nörgelt" versus "Sie nörgelt, weil er sich zurückzieht". Dem Dilemma gegensätzlicher Interpunktionsbehauptungen wird der Therapeut dadurch zu entkommen versuchen, daß er einen Standpunkt einnimmt, der entweder beide Interpunktionen umgreift oder eine gänzlich neue Deutung der Situation anbietet. Kommen auf diese Weise die Klienten aus ihrem Teufelskreis heraus, so können wir nur sagen, daß die Interpunktion des Therapeuten "gewirkt" hat, daß sie eine erfolgreiche Intervention begünstigt hat; wir können nicht sagen, daß sie zutreffend oder wahr ist. In vielen therapeutischen Fällen scheint es nützlich zu sein, die zirkuläre Natur von Beschuldigung und Gegenbeschuldigung offenzulegen. Nehmen wir nun an, der Zyklus lautet: "Sie zieht sich zurück, weil er sie verprügelt" versus ,,Er verprügelt sie, weil sie sich zurückzieht". Offensichtlich kommen wir in einem solchen Fall- bei allem Wissen um die Zirkularität und Komplementarität der beiderseitigen Verhaltensweisen - mit der bloßen Offenlegung und Reflexion des komplexen Geschehens nicht mehr aus. Dies vor allem dann nicht, wenn sich die Häufigkeit und Stärke der Prügel steigern. Wir werden gezwungen sein, eine Interpunktion vor der anderen auszuzeichnen. Wir werden zunächst das Geschehen auf die Sequenz des Schlagens reduzieren und damit dem Mann vor Augen führen, daß sein Verhalten - wie es auch immer zum Verhalten der Frau "passen" mag - keinesfalls geduldet wird. Eine Berufung auf die systemische Betrachtungsweise werden wir auf der Ebene des abstrakten Verbots der Körperverletzung nicht zulasssen. Das ändert sich, sobald soziale Konsequenzen für das Verhalten des Mannes in Betracht zu ziehen sind. Dann wird man von dem zirkulären Beziehungsgeflecht, in dem der Mann zu seiner Frau und seiner Umgebung steht, nicht absehen können. Dies bedeutet die Zumutung der Ko-Evolution für alle Beteiligten. Wenn wir diese Gedanken auf das Strafrecht übertragen, so scheint es sinnvoll zu sein, auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit des Handelns mit der Interpunktion einer objektiven Zurechnung, zu der vor allem die lineare Kausalität gehört, zu arbeiten. Auf dieser Ebene geht es um die Konstruktion von Erwartungssicherheit: Die körperliche Integrität darf nicht angetastet werden. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, aus dem inf"miten Regreß zirkulären Geschehens eine spezifische Interpunktion zu wählen, nämlich die Interpunktion der Zurechnung eines bestimmtes Erfolgs zu einer bestimmten Person. Es geht hier also um die Konstruktion von Standardsituationen, die nur wegen der groben Vereinfachung in biologischer, psychologischer und soziologischer Hinsicht normative Wirkung entfalten kann. Würde diese reduktionistische Sicht bei der Beurteilung der strafrechtlichen Folgen beibehalten - was in der Praxis überwiegend geschieht - , dann würden wir den

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

Als Fazit halten wir fest: In einer strukturdeterminierten Welt kann es keine lineare Kausalität geben. Da jede Interaktion strukturdeterminiert ist, ist es keinem Element des Systems möglich, das Verhalten eines anderen vorzuschreiben. Der epistemologische Irrtum der Machttheorie liegt damit auf der Hand: Sie trennt aus dem Kreisgefüge einen Teil, nämlich die Macht, heraus und glaubt, daß diese das Ganze kontrolliere. Sie übersieht dabei, daß Macht nicht nur genommen, sondern auch gewährt wird. Die komplementäre Seite der Interaktion in Zwangsordnungen ist der Gehorsam. Weil dieser Aspekt in der Machttheorie außer Betracht bleibt, kann nicht gesehen werden, daß aufMacht-Gehorsam gegründete Ordnungen ihrem Wesen nach instabil sind. Sie basieren auf Mißtrauen und wechselseitiger Negation. Auf Seiten der Mächtigen erzeugen sie die Vorstellung, ein transzendentales Recht auf Gehorsam zu besitzen, was unweigerlich bei den Untergebenen zu emotionalen Widersprüchen im Bereich der Selbstachtung und infolgedessen zu Leiden führt. Der Normativismus thematisiert im Unterschied zur Machttheorie einseitig den Gehorsam, wobei der Komplementäraspekt der Herrschaft und des Zwanges ausgeblendet bleibt. Das führt zu der verkürzten Sicht vom normativen Konsens in modemen Gesellschaften und zu dem Irrglauben einer quasi überzeitlichen Stabilität dieser Sozialsysteme. Die Stabilität soll dabei aus der Freiwilligkeit der Anerkennung gemeinsamer Normen resultieren. Dem hält der strukturdeterministische Standpunkt entgegen, daß die Stabilität aus der konservativen Natur des Sozialsystems und dieses aus der induktiven Operationsweise der Lebewesen resultiert. So verwirklichen die konkreten Verhaltensweisen der Mitglieder das soziale System, das seinerseits die konkrete Struktur der Mitglieder selektiert, ohne daß es determinierend eingreift. Was dem Beobachter als Stabilität imponiert, ist also die strukturelle Korrespondenz zwischen den Lebewesen und ihrem Medium, ist nichts anderes als der Bereich der Konsensualität, in dem bestimmte Zustandsveränderungen der gekoppelten Mitglieder aufeinander abgestimmt werden. Dieser Prozeß des Abstimmens erfolgt in menschlichen sozialen Systemen durch die Sprache. Sie ist der fundamentale Interaktionsmechanismus, durch den gemeinsame Wirklichkeiten, Deutungen und Normen erzeugt werden. Solange sich die Mitglieder der Gesellschaft in der durch ihre gemeinsame Sprache defmierten Welt bewegen, handeln sie entspreStraftäter - in den Worten Hegels - wie einen Hund behandeln, gegen den man den Stock erhebt. Tatsächlich bietet das Strafrecht jedoch gesetzliche Handhaben, die systemisehe Betrachtungsweise in die Konstruktion von Straftat und Straftatfolgen einzubeziehen. Beispielhaft seien hier nur die Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, die Strafbemessung und die konkrete Strafgestaltung genannt. Der Gedanke, daß in systemisch-konstruktivistischer Sicht das Strafrecht selber Bestandteil jenes umfassenderen zirkulären Systems ist, das Kriminalität produziert, ist in der deutschen Strafrechtsreformdebatte noch nicht verankert. Erst dieser Gedanke würde das Gebot der individuellen Resozialisierung auf das Prinzip des kollektiven Wandels verpflichten, würde die erfolglose zwangsweise Disziplinierung durch die gesellschaftliche Dimension der Ko-Evolution ablösen.

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chend ihres Bezugsrahmens, also "adäquat", ,,richtig" oder "perfekt". Sie handeln ihrer Struktur gemäß und daher nicht - wie es der Normativist gerne haben möchte - freiwillig. 119 An diesem Punkt wird deutlich, in welchem Ausmaß die Menschen in der Geschichte ihrer Koppelungen gefangen sein können. Sind ihnen Erfahrungen verwehrt, die außerhalb ihrer Weltanschauung und ihres sozialen Systems liegen, können sich ihre Zustände nur in konservativer Richtung verändern. Sie werden in dieser Situation jene Art des Konformismus zeigen, die die normative Idee als normalen menschlichen Zustand voraussetzt. Tatsächlich aber reflektiert der Normativismus nur jenen Aspekt der Sprache, der in der Erzeugung einer gemeinsamen Welt von Handlungen und Objekten besteht. Dieser konstruktivistische Aspekt der Sprache kann unter der Bedingung ungleicher Interaktionen entweder als Macht oder als Gehorsam thematisiert werden. 120

Die andere Seite der Sprache verleiht der Gesellschaft jene Öffnung und Variation, ohne die Ordnung auf Dauer nicht möglich ist. Es handelt sich dabei um die Fähigkeit zur Ausbildung von Selbstbeobachtung und Selbstbewußtsein. Über Reflexion werden wir in die Lage versetzt, uns selber und die Umgebung unserer selbst als Objekte voneinander zu unterscheiden. Wir lernen Beschreibungen von unseren Interaktionen mit dem Medium anzufertigen und uns als autonome Einheiten zu begreifen, indem wir bestimmte Erfahrungen als "innere" oder "äußere" klassifizieren. Auf diese Weise bringen wir über internale wie über externale Selbstbilder "Ordnung" in eine Welt, die durch die Konstruktion von Invarianzen für das Individuum erst entsteht. Aber es ist eine "Ordnung in Fluktuation", denn die Selbstbeschreibung ändert die Handlungsbedingungen, 119 Um den Sprachgebrauch von Paul Dell zu verwenden: Die Individuen handeln "kohärent". Danach ist jedes Verhalten kein unabhängiges Atom der Funktionsweise eines Individuums, sondern ist in dessen systemische Kohärenz eingebettet (vgl. Erkenntnis 1986, 62). Das bedeutet: Ein System kann sich nicht verhalten, ohne sich selbst als Ganzes zu ändern. An folgenden Beispielen erläutert Dell seine Auffassung: ,,Eine Frau, die regelmäßig läuft, wird entsprechend sowohl hinsichtlich ihrer Figur als auch ihrer Physiologie mit ihrem Verhalten kohärent werden. Desweiteren wird selbst ihr Sozialverhalten und ihr Alltag mit ihrem Laufen kohärent werden. Wenn ein sehr mißtrauischer Mann immer sehr mißtrauisch bleibt, werden sein kognitiver Stil, seine sozialen Haltungen und seine politischen Überzeugungen mit seinem zunehmen4 paranoiden Verhalten kohärent werden. Es ist klar, daß sowohl ,Lauf-Kohärenz' als auch ,paranoide Kohärenz' enorme interpersonelle Folgen haben, die rekursiv auf das Individuum und dessen evolvierende Kohärenz rückkoppeln. Es gibt daher eine Ko-Evolution der Kohärenz des Einzelnen und der Kohärenz des familiären Netzwerkes und anderer sozialer Systeme, denen er angehört. Die ko-evolvierenden Kohärenzen des Einzelnen und der umfassenderen Systeme sind komplementär und lassen sich weder in ihre einzelnen Komponenten aufteilen, noch läßt sich das eine auf das andere reduzieren" (ebd. 63). 120 Maturana unterscheidet soziale Beziehungen der gegenseitigen Anerkennung in Koexistenz von Machtrelationen, die durch Gehorsam defmiert sind (vgl. Grundkonzepte 1987, 20). Zu den letzteren zählt er auch Arbeitsbeziehungen, "weil sie ausschließlich in Bezug auf der Verwirklichung der Aufgabe definiert sind, nicht aber in Bezug auf die Verwirklichung der Menschlichkeit der Betroffenen."

22 Kargl

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

die durch die Beobachterperspektive definiert ist. 121 Erinnern wir uns, was wir über den "epistemischen Indeterminismus" gesagt haben: Der Handelnde verändert mit jeder Reflexion über sich und das Medium seinen eigenen Zustand. Infolgedessen verändert er auch sein Handeln, ohne es konkret voraussagen zu können, da die Voraussage seine interne Zustandsdynamik verändert. Dies aber heißt, daß die Stabilität der sozial-kognitiven Welt davon abhängt, ob ein Sozialsystem Erfahrungen zuläßt, die die Reflexionsmöglichkeiten seiner Mitglieder erweitern. Beschränkt hingegen das Sozialsystem entsprechende Erfahrungen, etwa durch Reglementierung der freien Meinungsäußerung und Kritik, durch Überbetonung des ökonomischen Handeins und Vernachlässigung ethischer Prinzipien oder durch normativen Rigorismus und Hierarchisierung, dann erliegt es seinem konservativen Charakter und die Stabilität ist gefährdet. Denn trotz restriktiver sozialer Bedingungen wird sich Reflexion auf die Dauer nicht unterdrücken lassen. Maturana nennt zwei Faktoren, welche die sprachliche Reflexion und damit strukturelle Veränderungen anstoßen: ,,Dies kann im Prinzip dann geschehen, wenn a.) der Fluß unserer Handlungen in irgendeinem Bereich unserer kulturellen Welt unterbrochen, unsere strukturelle Kongruenz mit diesem Bereich gestört ist, oder wenn b.) Liebe, Emphase, Affekte oder Vorlieben uns auf die Lage aufmerksam werden lassen, in der sich ein geliebtes Wesen oder ein bevorzugtes Objekt befmden, und wenn wir beginnen, diese Umstände in Bezug auf unser Verlangen oder in Bezug auf unsere Wünsche einzuschätzen. Die erste Art des Überganges zur sprachlichen Reflexion ist nicht unbedingt sozial; die zweite jedoch, die Liebe in einer ihrer Formen, schließt die Quellen der menschlichen Sozialisation und daher die Grundlage des Menschlichen ein. Das Bezeichnende an der sprachlichen Reflexion ist, daß sie uns ermöglicht, unsere eigene Welt und die Welt der anderen zu betrachten, unsere eigene Lage und die der anderen Elemente unseres Mediums zu beschreiben, indem wir unsere Organisation und Angepaßtheit aufrechterhalten. Die sprachliche Reflexion läßt uns die Welt, in der wir leben, sehen und sie bewußt annehmen oder ablehnen." 122

121 Man kann durch entsprechende soziale Vorkehrungen die ,,Fluktuationen" begrenzen und damit deren innovative, öffnende Funktion bremsen. Erich Jantsch sieht den notwendigen Spielraum für Fluktuationen auch in den westlichen Repräsentationsdemokratien eingeengt: ,,Aber die heutige Form der Demokratie weist zumindest zwei Charakteristika auf, die den Gesetzen der natürlichen Evolution sehr schlecht entsprechen. Zum einen hält sie starr am Gesetz der großen Zahl fest und leugnet die Rollen der Fluktuationen. Die absolute Mehrheit entscheidet, oft noch bevor eine Fluktuation Gelegenheit hatte, Resonanz zu stimulieren. Zum anderen ist sie gegenüber längerfristigen Entwicklungen blind. Zukünftige Strukturen werden in kleinen Schritten ausgehandelt, wobei jede überspielte Partei sich das Ziel setzt, einen widerwillig mitgemachten Schritt möglichst im nächsten Jahr durch zwei Schritte in der entgegengesetzten Richtung zu kompensieren" (Selbstorganisation 1986, 354). Der Befund ist zweifellos richtig: Gesellschaften müssen Fluktuationen nicht nur zulassen, sondern sogar fördern. Falsch ist jedoch, deshalb das Demokratieprinzip in Frage zu stellen. Das Problem ist nicht die große Zahl, sondern die Manipulation der großen Zahl. Die Behinderung der Innovation geht aus diesem Grunde nicht von der Mehrheit aus, sondern von jener Minderheit, die über die Ressourcen der Manipulation verfügt.

11. Ordnungstypen

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Was hier Maturana über die Grundlagen sprachlicher Reflexion sagt, sind zugleich die biologischen Grundlagen der Ethik. Denn jede sprachliche Handlung ist ein Resultat der strukturellen Koppelung mit anderen und damit ein Zeugnis für die Berechtigung der Anwesenheit des anderen. Dieses "Wissen" entspringt unmittelbar der biologischen Erkenntnistheorie und hat unabweisbare Konsequenzen für das Überleben des Menschen in sozialen Systemen. Wenn wir im folgenden einige der ethischen Forderungen der Kognitionstheorie darstellen, dann vor allem deshalb, weil sie das Kernstück einer kognitivistischen Ordnung ausmachen. b) Ethische Implikationen

aa) Biologische Grundlagen der Ethik In den voraufgegangenen Abschnitten waren die strukturdeterministischen Aspekte einer kognitivistischen Ordnung in aller Kürze vorgestellt worden. Dabei stand zwar die Auseinandersetzung mit den positivistischen und idealistischen Extrempositionen im Vordergrund, aber gelegentlich sind bereits ethische und gesellschaftspolitische Konsequenzen dieser neuen Konzeptualisierung von Wissen und Wirklichkeit angedeutet worden. In diesem Abschnitt will ich zunächst die erkenntnistheoretischen Prämissen des radikalen Konstruktivismus kurz zusammenfassen und dann etwas ausführlicher auf deren ethische Schlußfolgerungen eingehen.

Die Kernthese der biologischen Erkenntnistheorie von Maturana besagt, daß wir als autopoietische, geschlossene, strukturdeterminierte Systeme keinerlei Möglichkeit haben, irgendeine kognitive Aussage über eine absolute Realität zu machen. Was wir aussagen, drücken wir mit Hilfe der Sprache aus, und diese gehört zu einem konsensuellen Bereich. Jede Beschreibung ist eine Operation 122 Maturana, Sozialität 1985, 12. Zur großen Bedeutung, die Maturana der Liebe bei der Vergemeinschaftung zuschreibt, vgl. das folgende Zitat: "Im menschlichen Bereich ist das Zustandekommen von Gemeinschaftlichkeit der Faktor, der spontan zur Rekurrenz von Interaktionen führt, d. h., es ist die Liebe in irgendeiner ihrer Dimensionen. Ohne Liebe gibt es keine menschliche Sozialisation, und jede Gesellschaft, in der die Liebe erlischt, zerf1illt. Diese Bedingung streng biologischer Natur bestimmte als grundlegende Größe in der Evolution der Hominiden den Verlauf der menschlichen sozialen Drift, die zur Entwicklung der Sprache und im Zusammenhang damit in kooperativen und nicht in Wettbewerbsformen zum Ursprung der Ausprägung der typischen menschlichen Intelligenz wurde" (ebd. 11). Noch expliziter an anderer Stelle: "Ich bezeichne Liebe als die grundlegende Emotion (Handlungsdisposition) lebender Systeme, die zu jener Art von rekurrierenden Interaktionen führt, die ihre Koexistenz in wechselseitiger Anerkennung als lebende Systeme im Bereich ihrer Interaktionen bedingt. Ich sage auch, daß Liebe die emotionale Grundlage aller sozialen Phänomene ist, und daß ein System, das von lebenden, in rekurrierenden Interaktionen stehenden Systemen gebildet wird, nur dann ein soziales System ist, wenn die rekurrierenden Interaktionen im Rahmen der impliziten Emotion von gegenseitiger Anerkennung (Liebe) stattrmdet" (Grundkonzepte 1987, 21).

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

in einem Konsensbereich, deren Gültigkeit allein durch jene Menschen hergestellt wird, die sie durch ihr gekoppeltes Verhalten validieren. 123 Demzufolge kann der Beobacl:lter seine Kognition nicht an der "Realität" überprüfen, er kann prinzipiell nicht zwischen W ahmehmung und Illusion unterscheiden. 124 Hieraus wiederum folgert, daß es der Beobachter ist, der die "Wirklichkeit" von allem, was er beschreibt, hervorbringt. Eine von ihm unabhängige Realität gibt es für ihn nicht. Diese Auffassung beinhaltet keine Leugnung der ,,Realität", sondern eine Ablehnung der These von der Erkennbarkeit der Welt. Sie besagt nur, "daß alle meine Aussagen über diese Wirklichkeit zu hundert Prozent mein Erleben sind. Daß dieses Erleben dann zusammenstimmt, das kommt natürlich aus der Wirklichkeit".I25 Mit "Wirklichkeit" sind jene Bedingungen des Mediums gemeint, denen die Menschen als lebende Systeme unterworfen sind. Aber diese Bedingungen werden nicht unmittelbar, sondern nur im kognitiven Bereich als "Störungen" erfahren. 126 Um im Medium zu überleben, entwickeln die Menschen die oben geschilderten affektlogischen Bezugs- und Orientierungs systeme. Ob diese "passen", ,,nützlich" sind oder geändert werden müssen, entscheidet sich dabei ausschließlich im kognitiven Bereich. Demzufolge sind Realität und Objektivität durch die sprachlichen Unterscheidungsoperationen des Beobachters bestimmt und an dessen Existenz gebunden. 127 Maturana, Einleitung 1985, 29. In traditionellen Verhaltensmodellen bezieht sich "Wahrnehmung" und ,,Erkennen" auf den Zugang des Organismus zu "Stimuli" und wird deshalb getrennt von den "Antworten" des Organismus, die als "Verhalten" angesehen werden. Diese Annahme weist Powers, einer der Väter des Konstruktivismus, explizit zurück: "Verhalten ist der Prozeß, durch den Organismen ihre Sinneseingangsgrößen (Inputdaten) kontrollieren. Beim Menschen besteht Verhalten in der Steuerung der Wahrnehmung" (Perceptions 1973, X). Powers nimmt an, daß das, was wahrgenommen wird, eine Folge des Verhaltens eines Organismus ist. Das Verhalten wird geändert, um das zu modifizieren, was wahrgenommen wird. Dieses Bild von der Welt ist eine Konstruktion unseres Gehirns: "Das Modell, das unser Gehirn von der Realität entwirft, soweit es sich um das handelt, was unser Bewußtsein erfaßt, ist Realität, - etwas anderes gibt es nicht wahrzunehmen" (Powers, ebd. 24, 152). Handlungen dienen dazu, dieses Modell der Realität, die Erfahrungswelt, beständig und erkennbar zu halten. Die Aktivität des Wahrnehmens besteht darin, Invarianzen zu konstruieren. Diesen Prozeß haben die entwicklungspsy'chologischen Studien von Piaget bis ins kleinste Detail aufgespürt (vgl. hierzu die Ubersicht bei Flammer sowie dessen Ansätze zu einer systemischen Entwicklungstheorie: Entwicklungstheorien 1988, 129, 274). 125 Richards, v. Glasersfeld, Wahrnehmung 1987, 196. 126 Diese "Störungen" werden nie diskret erfahren, sondern schaffen lediglich ,,Fluktuationen" im gesamten Nervensy'stem. Dementsprechend kann der Organismus nie entscheiden, bis zu welchem Maß die Fluktuation von der Störung herrührt und inwieweit sie aus den eigenen Handlungen folgt. Daher gibt es keine Trennung von Wahrnehmung und Interpretation (vgl. Ashby, Brain 1967, 95). 127 Die Konstruktion von Invarianzen im kognitiven Bezugssystem kann nicht bedeuten, daß ein starrer Gleichgewichtszustand, daß unveränderliche Relationen aufgebaut würden. Dies würde auf eine Einebnung von Unterschieden, auf einen Abbau von Strukturen, auf Ruhe, Homogenisierung,ja auf Entropie im kognitiven Bereich hinauslaufen. Das Leben widerspricht jedoch dem zweiten thermodynamischen Satz: Es repräsen123

124

II. Ordnungstypen

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Wenn man in diesem Sinne Erkenntnis an das Individuum bindet, dann ergeben sich wichtige philosophische, wissenschaftstheoretische und soziopolitische Konsequenzen, die mit den zentralen Prämissen ,,realistischer" Erkenntnistheorien radikal brechen. Mit keiner der nachfolgenden, in allen dualistischen und strukturalistischen Positionen prinzipiell vertretenen Hypothesen stimmt die konstruktivistische Kognitionstheorie überein: -

Das Subjekt hat durch seine Sinne Zugang zur Welt.

-

Die Welt ist daher eine vom Menschen, seinem Denken und Handeln weithin unabhängige objektive Größe, der der Mensch als Subjekt gegenübersteht.

-

Sprache bildet die Welt deskriptiv ab.

-

Empirische Erfahrung ist Sinneserfahrung, und nur empirische Erfahrung liefert eine richtige Erkenntnis der Wirklichkeit.

Gegen diese ,,realistischen" Positionen einer durchgängig dualistisch aufgebauten Welt setzt die biologische Kognitionstheorie ein "monistisch" oder ,,holistisch" orientiertes Modell. 128 Danach leben wir nicht in der Welt, die wir als Medium von unserem Körper unterscheiden, sondern mit dieser Welt, zu der unsere Körper und unser Selbst gehören. Die Annahme, daß Realität durch das Handeln des Beobachters konstituiert wird, läßt keine andere Wahl, als die alte transzendentale Ontologie zu verabschieden. Damit entfällt eine Reihe von harttiert Bewegung, Differenzen, Ordnung. Allerdings, und darum erschüttert das Leben den Entropie-Satz nicht eigentlich: Es baut Struktur auf Kosten der Umgebung auf. Man kann sagen, der Entropie-Satz gelte für thermodynamisch isolierte Systeme, nicht aber für thermodynamisch offene Systeme, d. h. er gilt für das Universum als Ganzes, nicht aber für jede einzelne Region davon (Brent, Prigogine' s model 1978, 374). Prigogine hat diese Ungleichgewichtsdynamik mit dem Begriff" dissipative Strukturen" bezeichnet (vgl. dazu die Hinweise in Kap. 1 11 2.). Das sind Strukturen, bei denen innerstrukturelle Prozesse ein solches Maß erreichen, daß das System in eine Ordnung auf einer höheren Ebene ,,kippt" (vgl. Prigogine, Dialogue 1982, 11). Flammer (Entwicklungstheorien 1988,284) hat den Versuch unternommen, diese Theorie der dissipativen Strukturen in kognitionstheoretische Äquivalente, d. h. ins Psychologische zu übersetzen. Die nachfolgende Übertragung zeigt, daß die früheren Entwicklungstheorien das Prinzip der dissipativen Strukturen durchaus kennen; auch sie rechneten stets mit einer Ordnung fern vom Gleichgewicht: - Reaktanz: Mit zunehmender Kontrollverlustdrohung kommt der Punkt, an dem das Individuum sich wehrt und um mehr Kontrolle kämpft. - Majorisierende Äquilibration: Nach Piagets Interpretation können kognitive Widersprüche zu einer Synthese auf höherer Ebene führen. - Das Wechselspiel zwischen Neugier und Ordnungsmotivation: Wenn die Informationszufuhr über längere Zeit gering gewesen ist, sucht der Mensch Information; wenn er zuviel kriegt, baut er sie ab durch Strukturbildung, Selektion, Assimilation. - Altruismus: Wenn einzelne einer Gruppe gefährdet sind, kann sich jemand zu seinem eigenen Nachteil, aber zum Vorteil der Gruppe für einen anderen einsetzen. 128 Zum Wechsel vom eher mechanistischen zum eher organischen, ganzheitlichen Bewußtsein Graf, Weisheit 1986; Walsh, Vaughan, Psychologie 1987; Schaeffer, Bachmann, Bewußtsein 1988; Bohm, Implizite Ordnung 1988, 152; Spretnak, Ganzheitliche Spiritualität 1988, 405; v. Franz, Psyche 1988; Wilber, Erkenntnis 1988; Krüger, Selbst 1990, 139.

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

näckigen erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Problemen wie z. B. VerifIkation und Falsifikation, Adäquatheit und Approximativität. Denn nunmehr ist die Einsicht unabweisbar, daß niemand einen bevorzugten Zugang zu einer objektiven Realität beanspruchen kann. 129 Wenn Materie und Geist, Medium und Individuum nicht mehr kategorial voneinander getrennt werden können, wenn also niemand einer apriorischen Wirklichkeit ,,näher" kommen kann, dann sind die von den Individuen hervorgebrachten Realitätsbereiche zwar häufig verschieden, aber gleichermaßen gültig. 130 Ob sie auch legitim sind, darüber entscheiden Diskurse, deren Kohärenzen auf den affektlogischen Präferenzen der Teilnehmer basieren. Zur wichtigsten Umorientierung der Kognitionsstile zählt somit der konstruktivistische Wechsel von der dualistischen zur monistischen Weltauffassung und damit zusammenhängend der Wechsel von der Annahme der Objektivität zur Annahme der Intersubjektivität, von der Ontologie zur kognitiven Methodologie. 13I Ein weiterer Aspekt dieser grundlegenden kognitivistischen Umorientierung betrifft unsere tiefverwurzelte Suche nach der Wahrheit, nach dem Absoluten, nach ewigen Werten. Solange man davon ausgehen konnte, daß die Übereinstimmung unserer Wirklichkeitskonstruktionen auf einer Realitätsübereinstimmung beruht, war es zumindest logisch konsistent, Meinungsverschiedenheiten mit Berufung auf die "Wahrheit" der Wirklichkeit lösen zu wollen. Das führte in fundamentalen Fragen notwendigerweise dazu, daß Letztbegründung gegen Letztbegründung ins Feld geführt wurde. Da man gegen derartige Reduktionismen 129 In diesem Sinne bezeichnet Rusch die Annahme als monistisch, " ... daß menschliches Erkennen in seiner Qualität und in seinem Umfang als ein Phänomen in einem chemophysikalischen Universum (Medium) vollständig abhängig ist von den Selbstorganisationskapazitäten dieses Universums, von den anatomischen und funktionalen Eigenschaften der autopoietischen Systeme, die in diesem Universum entstehen können, und als deren eine Realisation auch der Mensch angesehen werden muß, und schließlich abhängig ist von den Eigenschaften, die diese Systeme in ihren Ontogenesen und Phylogenesen entwickeln" (Erkenntnis 1987, 210). 130 Damit verlieren auch die bislang gängigen Modelle von absolutem qualitativem Erkenntnisfortschritt ihre Plausibilität (vgl. hierzu z. B. Eder, Vergesellschaftung 1988, 285). Die Fortschritte in der Anhäufung "empirischen" Wissens haben uns nicht der "Wirklichkeit" nähergebracht, sondern haben eine Veränderung der Gesellschaften bewirkt, zu denen die Veränderung des Wissens "paßte". 131 Hinsichtlich der wissenschaftlichen Forschung erfordert die biologische Kognitionstheorie eine Umorientierung von wahrem auf nützliches Wissen, von Deskriptivität auf Problemlösungskapazität, von Ontologie auf kognitive Methodologie. Damit leistet der Radikale Konstruktivismus eine Depotenzierung überzogener Ansprüche an die Wissenschaft, ohne in eine modische Wissenschaftsschelte auszuweichen. Schmidt kennzeichnet als seine wichtigste erkenntnistheoretische Leistung: "Konstruktivistisches Denken löst eine Fixierung auf, die in allen realistischen, dualistischen und strukturalistischen Philosophien besteht und die sich ausdrückt in einer Denk- und Stilfigur des Typs, ... es muß aber doch X sein / geben / gelten'. Sie ersetzt diese zwanghafte Denk- und Stilfigur durch ein , ... es kann für uns so sein, daß ... und damit können wir ... tun'. Dieser Wechsel drückt nicht bloß den Erwerb einer neuen Doktrin aus: Er ist Ausdruck dafür, daß sich für den Radikalen Konstruktivisten die Welt und sein Leben geändert haben" (Schmidt, Konstruktivismus 1987,43). Dazu siehe Maturana, Wissenschaft 1990, 107.

11. Ordnungstypen

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Übersicht J5,'

Kognitive Stile von ,,Realisten" und "Konstruktivisten". ,,Realisten"

"Konstruktivisten"

Objektivität, Realität

Intersubjektivität, konsensuelle Wirklichkeit

Wahrheit

Nützlichkeit, Glaubwürdigkeit

lineare Kausalität

zirkuläre Kausalität

Dualismus

Monismus, Holismus

Abbildung

Erfindung, Errechnung

Hierarchie

Vernetzung

Konkurrenz

Kooperation

Situationsorientierung

Ziel orientierung

Ergebnisorientierung

Folgeorientierung

Impulsivität

Reflexivität

Rigide Ethik:

Flexible Ethik

nicht argumentieren kann, muß man sie bekämpfen. Dem Anspruch auf Wissen korrespondiert in dieser Form der Auseinandersetzung die Forderung nach Gehorsam. So mündet der Glaube an absolute Wahrheiten in menschliche Beziehungen ein, die von Unterdrückung gekennzeichnet sind. Maturana nennt diesen Glauben "die stärkste Art der Entfremdung: unsere Blindheit gegenüber der Welt relativer Wahrheiten, die wir selbst erzeugen und für die daher der Mensch allein den absoluten Bezugspunkt darstellt, und unsere Hingabe an eine Ideologie, die diese Blindheit rechtfertigt." I32 Folgt aus dieser kognitionsbiologischen Zurückweisung jedes subjektunabhängigen Erkenntnis-, Wahrheits- und Wertanspruchs zwangsläufig die Einebnung jeglichen Unterschieds hinsichtlich Gut und Böse, Wahrheit und Falschheit? Ist alles Handeln damit gerechtfertigt, gleichbedeutend oder gleichwertig? 133 Dies Maturana, Einleitung 1985, 29. Man könnte als Konstruktivist den Spieß leicht umdrehen und sagen, daß bei Meinungsverschiedenheiten gerade die Berufung auf eine objektive Wahrheit zu einer gegenseitigen Negation der Parteien führt. Die Folge ist, daß jedes Mittel gerechtfertigt scheint, um der eigenen Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. In einer solchen Situation entfernt sich gewöhnlich das praktische Handeln mit rasender Geschwindigkeit von der Basis abstrakter Wahrheiten. So verwandelt sich eine Liebesethik in einen Anspruch auf Gehorsam, eine kommunikative Interaktion in eine instrumentelle Beziehung, Freiheit in Tyrannei. Nicht daß wir Differenzen haben, ist das Problem, sondern daß wir die Differenzen auf eine unterschiedliche Annäherung an die Wahrheit zurückführen. Denn die Wahrheit ist nicht probabilistisch, sie ist axiomatisch und duldet keinen Zweifel. 132 133

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

ist nicht der Fall, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil in einer konsensuellen Realität buchstäblich alles vom Subjekt abhängt. Das Subjekt ist die generative invariante Bezugsgröße und einzig legitime Quelle jeder Ethik: "Es gibt" - wie Maturana sagt - ,,keinen anderen Maßstab für das Wohlergehen des Menschen als den Menschen, wenn wir menschliches Wohlergehen wünschen."134 Das solchermaßen in die Mitte gerückte Individuum akzeptiert keine apriorischen Differenzen, wohl aber solche, die das gemeinsame Überleben fördern. Insofern sind Gut und Böse nicht beliebig, sondern vielmehr absolut vom Individuum abhängig, das in seinem Verlangen nach einer festen Welt die Erfahrung von Ausbeutung und Empathie macht. Was er über sein Verhalten beobachtet, kommentiert er in Form von Ethik und Moral. Als Maßstab für gültiges Verhalten und folglich für "Wahrheit" kommen einzig "erfolgreiche" Interaktionen in Betracht. Das sind solche, die direkt oder indirekt zur Erhaltung der Organisation des menschlichen Lebens beitragen. Da jedoch die Menschen organisationell geschlossene Systeme sind, ist jeder ethische Bezugsrahmen notwendigerweise ein relativer. 135 Aus diesem Grunde können Wahrheit und Falschheit aus keinem absoluten Wertsystem abgeleitet werden. Aus dem gleichen Grunde sind Werte im Bereich der Beschreibungen nicht beliebig: Sie zeugen von der Einzigartigkeit und Unentbehrlichkeit des Individuums, und sie zeugen nicht weniger von der Anwesenheit bzw. der Anerkennung des anderen; denn konsensuelle Realität kann der Beobachter nur mit anderen Beobachtern erzeugen. Wir haben das ausführlich an der Konstruktion der Wirklichkeit und des Ichs im sozialisatorischen Prozeß dargeEndgültige Weltsichten sind sich denn auch bei aller Verschiedenheit der Inhalte in der Unduldsamkeit gegenüber dem Häretiker gleich. Der Vergleich der Praxis der Inquisition, der Konzentrationslager, des Archipel Gulag, der Terroristenszene oder des Schießbefehls auf den Schriftsteller Rushdie bestätigt die These Watzlawicks: "Was die durch die Setzung einer bestimmten Ideologie erfundene Wirklichkeit betrifft, ist ihr Inhalt gleichgültig und mag jenem einer anderen Ideologie total widersprechen; die Auswirkungen dagegen sind von einer erschreckenden Stereotypie" (Münchhausen 1988, 156). 134 Maturana, Einleitung 1985, 31. Maturana leitet also das Bedürfnis nach gegenseitigem Respekt oder Freiheit nicht aus einem System von Werten ab, sondern aus der Biologie: ,,Dieses Bedürfnis ist ein biologisches Bedürfnis, das für die menschliche Situation konstitutiv ist und das befriedigt werden muß, wenn der Mensch Mensch bleiben soll: Es ist die einzig legitime Quelle jeder Ethik und gleichzeitig deren invariante Bezugsgröße" (ebd. 31). 135 Dort, wo ein bestimmter ethischer Bezugsrahmen extrem wird, sind am ehesten die Voraussetzungen für das "Umkippen" in einen gegenteiligen Bezugsrahmen gegeben. Eine derartige Gesetzmäßigkeit folgt - wie mehrfach erwähnt - dem Prinzip der dissipativen Strukturen. Das Phänomen als solches ist seit Heraklit unter dem Namen "Enantiodromie" bekannt: "Sich in ihr Gegenteil wendend ist die Harmonie, welche durch die Gegensätze schießt", lautet das45. Fragment (übers. von Schadewaldt, Philosophie 1978,351). Dieses Umschlagen der Dinge in ihr Gegenteil beschrieb Freud als ,,Rückkehr des Verdrängten"; für Jung enthält jedes psychologische Extrem "im Geheimen seinen Gegensatz oder steht sonstwie mit diesem in nächster und wesentlichster Beziehung" (Wandlung 1952, 654). Will man daraus eine Lehre ziehen, so muß die Negation im Bezugsrahmen integriert sein, soll sie nicht die Oberhand gewinnen.

11. Ordnungstypen

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stellt: Stets war der Andere bei der Herausbildung affektlogischer Schemata unverziehtbar anwesend. Somit muß der Andere bereits aus erkenntnistheoretisehen Gründen in Betracht gezogen werden. Nicht nur um besser, angenehmer, erfolgreicher leben zu können, sind wir auf Kooperation angewiesen, sondern schon um die erste Stufe der Wirklichkeitskonstruktion zu erreichen. 136 Damit wird die Grundfrage jeder Ethik, nämlich die Frage nach der Notwendigkeit der Berücksichtigung des Anderen, aus der Epistemologie heraus beantwortet: Der Kant'sche Imperativ wurzelt demnach in den biologischen Grundlagen der Erkenntnis. Wir brauchen den Anderen, um die "Welt" und uns selbst erkennen zu können. Denn "Welt"- und Selbst-Erkenntnis sind nur in den Interaktionen eines konsensuellen Bereiches möglich: "Wir können uns nicht sehen, wenn wir uns nicht in unseren Interaktionen mit anderen sehen lernen und dadurch, daß wir die anderen als Spiegelungen unserer selbst sehen, auch uns selbst als Spiegelung der anderen sehen." \37 Daraus ergibt sich, daß menschliches Verhalten, insofern es das Leben anderer Menschen beeinflußt, ein ethisches Verhalten ist. Es entspringt nicht irgendeinem System absoluter Werte, sondern dem biologischen Bedürfnis nach gegenseitigem Respekt und Vertrauen. Dieses Bedürfnis erwies sich in der Evolution des Menschen als die elementare Kraft für die Bildung sozialer Systeme. Es verleiht durch die Schaffung zwischenmenschlicher Sicherheit und Zusammenarbeit jene Stabilität, die Wandel und Veränderung erst ermöglicht. Haß und Ausbeutung hingegen erzeugen eine Ordnung, die den Wandel mit Hilfe von Gewalt ausschließen will und gerade dadurch ihre Vergänglichkeit beschleunigt. Eben diese selbstzerstörerischen Folgen von sozialer Aus136 Vgl. dazu v. Glasersfeld, der durch diese Verschiebung des Anfangspunktes ethischer Überlegungen neue Perspektiven eröffnet sieht (Siegener Gespräche 1987, 417). Klar ist, daß der kognitionstheoretische Gesichtspunkt die Ethik der Kooperation, der Gegenseitigkeit und des Respekts um einiges fundamentaler, nämlich buchstäblich im biologischen Fundament, verankert, als dies bisher der Fall war. Andererseits verschweigt Maturana den Zwiespalt nicht, in dem der Mensch über den gesamten Verlauf der Evolution ausgesetzt war: Die erkenntnistheoretische Grundsituation des Menschen benötigt - um der Konstruktion konsensueller Bereiche willen - den Anderen, aber sie erzeugt auch das Verlangen nach einer stabilen Welt mit festen Werten, und eben diese stabile Welt der Normen und Institutionen führt allzu leicht zu Ausbeutung und Tyrannei. Die Tyrannei aber erzeugt langfristig soziale Instabilität, weil der Mensch sich selbst und seine Lage beobachten kann: "Sein Leben wird dadurch unvorhersagbar, denn sein Verhalten als Beobachter wirkt rekursiv und notwendig selektiv auf den Verlauf seiner Strukturveränderung ein, das Wissen um seine Pläne verhindert deren vollständige Verwirklichung. Aus diesem Grunde können menschliche Sozialsysteme niemals völlig stabil sein ..." (Maturana, Einleitung 1985,31). Diese Einsicht öffnet die Augen dafür, daß völlige Stabilität der Gesellschaft, etwa über die informationelle Transparenz der Gesellschaftsmitglieder oder gar über Gewaltmaßnahmen, unweigerlich die soziale Instabilität beschleunigt. Ein solches Vorgehen übersieht, daß Vernunft eine irrationale Basis in der Erfahrung menschlicher Kommunikation und menschlicher Empathie braucht. Wird diese Erfahrungsbasis über Gebühr vorenthalten, so entwickeln sich Logos und Affekt auseinander, und es kommt zu jenen Desymbolisierungen in der Massenbildung, die Lorenzer beschrieben hat (vgl. Konzil 1981). \37 Maturana, Kognition 1987, 117.

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

beutung geben der Ethik eine biologische Grundlage. Ohne Koexistenz und wechselseitiges Vertrauen läßt sich eine konsensuelle Welt nicht hervorbringen. Letztlich also ist es diese Verknüpfung der Menschen als strukturell gekoppelte Wesen, die aller Ethik zugrundeliegt. \38 Wenn in diesem Sinne die Ethik eine Reflexion über die Berechtigung der Anwesenheit des Anderen ist, dann verwundert es nicht, daß Maturana seine Aufsätze zur Kognitionsbiologie häufig mit einem Appell an die Liebe schließt. So sagt er in seiner Arbeit über die "Biologie der Sprache": ,,Jeder Mensch steht als autopoietisches System allein auf der Welt. Wir wollen jedoch nicht beklagen, daß wir in einer subjektabhängigen Welt existieren müssen. Auf diese Weise ist das Leben interessanter, denn die einzige Transzendenz unserer individuellen Einsamkeit, die wir erfahren können, entsteht durch die konsensuelle Realität, die wir mit anderen schaffen, d. h. durch die Liebe zueinander."139 Wenn wir dies erkennen, dann haben wir verstanden, daß es ohne Annahme Anderer keinen sozialen Prozeß, keine Sozialisation und damit keine Menschlichkeit gibt. Das Wissen um dieses Wissen verpflichtet. Aus der Erkenntnis, wie lebende Wesen erkennen und sich dadurch gemeinsam selbst hervorbringen, erwächst eine Verantwortung für den einzelnen, wie sie in Ordnungen, die nach dem Muster objektiver Erkenntnis und absoluter Wahrheit verfahren, undenkbar ist. In Gesellschaften mit Wahrheitsanspruch muß die ethische bzw. kulturelle Einheit der Individuen durch religiöse und politische Doktrinen erzwungen werden. 140 138 Varela sagt, "daß Kognition eine Geschichte von Koppelungen ist, die eine Welt hervorbringt" (Erkenntnis 1988, 39). Diese Geschichte der Koppelungen bringt auch die Ethik hervor. Außer dieser Geschichte rekursiver Interaktionen gibt es keinen Bezugspunkt für ein Fundament der Ethik. Die Interaktionspartner sind in einem Zirkel der wechselseitigen Ko-Spezijizierung und des ko-abhängigen Entstehens gebunden. Dieses wegen jenem, jenes wegen diesem ... ko-abhängiges Entstehen. Das bedeutet logischerweise: Es gibt keinen Bezugspunkt, weder innen noch außen (siehe Varela, ebd. 39). 139 Maturana, Sprache 1985, 271. Nur Koexistenz läßt uns Konflikte überwinden: "Was die Biologie uns zeigt, ist, daß die Einzigartigkeit des Menschen ausschließlich in einer sozialen Strukturkoppelung besteht, die durch das In-der-Sprache-Sein zustande kommt. Dadurch werden einerseits die Regelmäßigkeiten erzeugt ... Andererseits wird die rekursive soziale Dynamik des menschlichen Lebens erzeugt, zu der die Reflexion gehört ... " (Maturana, Varela, Erkenntnis 1987,265). 140 Wie wir weiter unten näher darlegen, liegt der Grund dafür in der üblichen Vorstellung einer objektiven Realität. Geht man davon aus, daß unterschiedliche Kulturen nur verschiedene Weisen der Bearbeitung einer objektiv gegebenen Realität widerspiegeln, dann haben kulturelle Unterschiede lediglich eine Rechtfertigung durch ihren unterschiedlichen historischen Ursprung. Die Verschiedenheit bedeutet dann keine wesentliche Verschiedenheit in den kognitiven Bereichen unterschiedlicher Menschen, sondern lediglich eine zuflillige Verschiedenheit hinsichtlich ihres Zugangs zu dieser objektiven Realität. "Die Beziehung zwischen Ontogenese und Kognition oder zwischen Erfahrung und Kognition wäre in dieser Auffassung lediglich eine kontingente und keine deterministische" (Maturana, Kognitive Strategien 1985, 3(0). Wer also glaubt, daß ihm Religion oder Wissenschaft den Besitz objektiver Wahrheit verschafft, der wird in allen politischen und sozialen Konflikten das Argument der Objektivität verwenden, um die Kontingenzen der kulturellen und politischen Verschiedenheit einzuebnen.

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Dies hat Entfremdung, Intoleranz und schließlich Verantwortungslosigkeit zur Folge. Denn der Glaube an Objektivität und deren Erkennbarkeit schränkt unweigerlich die individuelle Variabilität der Gesellschaftsmitglieder ein, sucht ihnen Erfahrungsbereiche vorzuschreiben und sie in hierarchische Relationen zu zwängen, die zur Unterordnung des Menschen unter den Menschen führen, die aber auch die Verantwortung für das eigene Tun auf andere Menschen oder auf Wahrheitssysteme übertragen helfen. So wird deutlich, daß ausepistemologischen Irrtümern zwangsläufig ethische Fehler erwachsen. Aus dem Verkennen der Subjektabhängigkeit der Realität folgen alle jene Probleme, die wir unter den Stichworten Objektivität, Wahrheit, Kausalität, Realität, Dualismus, Abbildung, Hierarchie etc. diskutiert haben. Somit besteht der Kern aller Schwierigkeiten, mit denen wir alltäglich zu tun haben, im Nicht-Wissen um das Wissen, in der systematischen Vernachlässigung der biologischen Grundlagen der Erkenntnis. Ist es aber möglich, die genannten epistemologischen Irrtümer zu vermeiden? Wie müßte eine Gesellschaft beschaffen sein, die die Einsicht in die Subjektabhängigkeit der Erkenntnis wachhält und gleichzeitig interpersonelle Kongruenz ermöglicht? Welche Entscheidungen wären dafür erforderlich? Eine Antwort auf diese Fragen muß vor allem der biologischen Einheitlichkeit der Menschen Rechnung tragen. Die biologische Einheit ist die Voraussetzung dafür, daß ein für alle Menschen gemeinsames Grundziel defmiert werden kann, sie ist die Basis für ihre kulturelle bzw. ethische Einheitlichkeit. 141 Maturana hat dieses Grundziel nicht explizit formuliert. Aber aus seinen soziopolitischen Überlegungen zu einer Gesellschaft ohne systematische Unterdrückung läßt sich 141 Unter "ethischer Einheitlichkeit" soll hier die Forderung nach einer Welt ohne Unterdrückung, Ausbeutung und Selbsttäuschung verstanden werden. Was also ethisch verbinden soll, ist die gemeinsame Überzeugung der Notwendigkeit kultureller Verschiedenheit. Einheitsstiftend ist demnach die Anerkennung der Differenz. Allein dieser soziale Imperativ entspricht der biologischen Einheitlichkeit: "Objektive Erkenntnis gibt es nicht, folglich gibt es keine andere Basis für die kulturelle Einheit der Menschen als unseren Wunsch, eben diese Einheit zu erreichen. In unserem subjektabhängigen kognitiven Bereich gibt es Gründe dafür, alle Menschen als äquivalent anzusehen: Wir erfahren einander als Angehörige derselben Spezies. Dies ist unweigerlich Erkenntnis, da es mit unserer Selbstdefmition als Menschen zusammenhängt. Daraus ergibt sich, daß es Menschen gibt, die diese biologische Einheit als Bedingung unserer Existenz auch als kulturelle Einheit verwirklichen wollen. Dann gibt es wieder andere, die es anders haben wollen und die die kulturelle Verschiedenheit als Ausdruck einer biologischen Andersartigkeit ansehen. In jedem Falle treffen wir eine ethische Entscheidung" (Maturana, Kognitive Strategien 1985,310). Wie aber eine kulturelle Einheit in dem genannten Sinne möglich werden kann, darauf fallt die Antwort schwer. Sicher ist, daß wir unsere kognitiven Bereiche durch unsere Erfahrungen erweitern können. Deshalb müssen ethische Veränderungen an neuen (affektiven) Erfahrungen ansetzen. Die Fragestellung lautet also: "Welche Erfahrungen sollten wir für uns wie für andere wählen, so daß wir alle, bewußt oder unbewußt, durch unser Verhalten eine Gesellschaft erzeugen sollen, in der kein Mensch in systematischer Weise durch andere Menschen unterdrückt oder ihnen untergeordnet wird, und daß wir eine derartige Gesellschaft mit Mitteln erreichen, die diesem gewünschten Ziel nicht widersprechen, wie immer komplex und veränderlich diese Gesellschaft auch sein möge?" (Maturana, ebd. 311).

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

schließen, daß es in der Entfaltung und Bewahrung der Autonomie, der Individualität und Identität des Menschen liegen muß. Soziale Systeme dienen hiernach einzig dem Ziel, die autopoietische Organisation des Einzelindividuums zu schützen und die strukturelle Variation seiner Handlungen zu fördern. Ganz auf dieser Linie plädiert denn auch Maturana für ein unterdrückungsfreies System, welches das Individuum nicht negiert: "Ein derartiges System kann lediglich als ein Artefakt menschlicher Kreativität hergestellt werden, und zwar dadurch, daß alle Individuen als bedeutsam angesehen werden und daß sie das soziale System, das sie durch ihre Verkoppelung bilden, zu einem nicht-hierarchischen allopoietisehen System machen, welches ihr Leben in menschlicher Hinsicht erstrebenswert macht."142 Um das Ziel einer nicht-hierarchischen Gesellschaft zu erreichen, müssen wir vor allem unseren kognitiven Bereich ändern. Das aber gelingt nur, wenn wir ihn ändern wollen. Der soziale Wandel ist also zuallererst ein kultureller Wandel, und der kulturelle Wandel ist unentrinnbar verbunden mit dem Bewußtsein der biologischen und sozialen Struktur des Menschen. Wozu dieses Bewußtsein den Einzelnen und die Gesellschaft verpflichtet, soll nachfolgend in einem kurzen Resümee der Ziele einer kognitiven Ethik zusammengefaßt werden. bb) Ziele der kognitiven Ethik (1) Konstruktive Methodologie

Die Erkenntnis der Erkenntnis impliziert die Annahme der Subjektabhängigkeit der Realität und damit das Wissen um die ,,Relativität" von Wahrheit, Objektivität und Wirklichkeit. "Sie verpflichtet uns zu einer Haltung ständiger Wachsamkeit gegenüber der Versuchung der Gewißheit. Sie verpflichtet uns dazu einzusehen, daß unsere Gewißheiten keine Beweise der Wahrheit sind, daß die Welt, die jedermann sieht, nicht die Welt ist, sondern eine Welt, die wir mit anderen hervorbringen." 143 142 Maturana, ebd. 312. 143 Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 263. Die Verunsicherung, die systemisches Denken und konstruktive Methode mit sich bringen, basiert auf der In-Frage-Stellung von Vorannahmen, die unser Alltagsleben ebenso bestimmen wie das etablierte wissenschaftliche Denken. Für die Zunft der Psychotherapeuten und Psychiater formuliert Simon die Verunsicherung, die aus der "Wachsamkeit gegenüber der Versuchung der Gewißheit" resultiert, folgendermaßen: "Die wichtigste Prämisse, von der man sich verabschieden muß, ist die Annahme, man könne irgendwelche von den Bedingungen der Beobachtung unabhängige, d. h. ,objektive' Aussagen über irgendeinen Patienten machen und dementsprechend auch ,objektiv richtige' Therapiestrategien für irgendeine ,objektiv' defInierte ,Störung' entwickeln" (Systemische Therapie 1988,6). Für v.Foerster ist das Phänomen "Gewißheit" bzw. "Gegenstand" eine Folge rekursiver sensomotorischer Aktivität des Beobachters. Infolgedessen führe allein der Formalismus der Rekursion zu einer paradoxiefreien Behandlung der Selbstbezüglichkeit aller Aussagen. Wenn man den Therapeuten in den Kreis seiner Klientel miteinbezieht, "stellt sich oft heraus, daß in vielen Fällen das, was man für die Eigenschaften von Gegenständen gehalten hat, eigentlich die Eigenschaften des Beobachters sind" (Abbau 1988, 31). In dieser

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(2) Ko-Existenz Aus der Subjektabhängigkeit der Realität ergibt sich die Notwendigkeit, mit anderen Personen zu kooperieren. Könnten wir die "Welt" unmittelbar mit unseren Sinnen erkennen, müßten wir nicht unbedingt sprachlich kommunizieren, um parallele kognitive Zustände zu erzeugen. Wenn somit aus erkenntnistheoretischen Gründen die Anwesenheit und Berechtigung des Anderen nachgewiesen ist, so ist damit zugleich die Einheit der biologischen Ausstattung der Menschen anerkannt. Daraus folgt, daß alle Menschen in der Ausbildung subjektabhängiger kognitiver Bereiche äquivalent sind. Wenn wir dies wissen, dann können wir im Falle eines Konflikts mit anderen Personen nicht auf dem beharren, was für uns gewiß ist. Anderenfalls würden wir nicht nur unser Wissen um den Strukturdeterminismus verleugnen, sondern auch die andere Person negieren. Ist die Position des anderen als ebenso legitim und gültig wie die eigene anerkannt, können Meinungsverschiedenheiten nicht mehr mit Berufung auf Objektivität und Wahrheit gelöst werden. Daraus folgt die Verpflichtung zur Suche nach einer umfassenderen Perspektive, einem Existenzbereich, in dem beide Parteien in der Hervorbringung einer gemeinsamen Welt zusammenf"mden. Denn ein Konflikt "läßt sich niemals in dem Bereich lösen, in dem er stattfindet, wenn die beiden Parteien sich ihrer Sache 'sicher'sind. Ein Konflikt ist nur zu überwinden, wenn wir uns in einem anderen Bereich bewegen, in dem Ko-Existenz stattfindet. Das Wissen um dieses Wissen ist der soziale Imperativ jeder auf dem Menschlichen basierenden Ethik." 144

Situation empfiehlt v. Foerster dem Therapeuten sog. "Perturbationsstrategien", wie sie etwa die "zirkuläre Befragung" der Mailänder Schule oder das ,,re-framing" des Mental Research fustitutes von Palo Alto darstellen. Wenn der Therapeut die "objektive" Realität nicht kennen kann, so kann er in der therapeutischen Sitzung doch eine mögliche Realität anbieten. Er kann - wie es Luhmann nennt - "Attributionsangebote " machen, d. h. gegenüber normalen Zurechnungsgepflogenheiten eine Um-Attribution vornehmen. Auf diese Weise werden Vorstellungen erzeugt, die suggerieren: Es könnte auch anders sein (vgl. Luhmann, Diskussion 1988, 86). Daß bereits unsere Sprache allzu häufig der "Versuchung der Gewißheit" erliegt, erläutert Stierlin: "Unsere Sprache ist offenbar wenig geeignet, die zwei Seiten einer Ambivalenz gleichzeitig überzeugend auszudrükken. Wenn eine Familie auf eine ganz bestimmte, ambivalenzfreie Sicht der Welt festgelegt ist, so versuchen wir durch das zirkuläre Fragen, diese ambivalenzfreie, harte Realität zu verflüssigen, indem wir gewissermaßen die andere Seite der Ambivalenz einführen" (Diskussion 1988,88; vgl. ders., Systemische Therapie 1988,54). Ganz ähnlich schildert v. Foerster die Möglichkeiten einer therapeutischen Situation, die ohne Rekurs auf Objektivität auskommt: "Ich sehe in den Schwierigkeiten, die eine Familie um Hilfe fragen läßt, eine unglückliche Entwicklung eines sehr stabilen Eigenverhaltens der Familienmitglieder zueinander, dem sie, wie aus einer eisernen Falle, aus einem kognitiven Krampf, nicht entweichen können. Eine Möglichkeit für den Therapeuten, diesen Krampf zu lösen, wäre, durch eine hinreichende Perturbation die Familienmitglieder über die stabilisierenden Mauem ihres Eigenverhaltens ,hinüberzuheben', so daß sie befreit ein anderes Verhalten suchen können" (Abbau 1988,31). 144 Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 264.

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

(3) Verantwortlichkeit Aus dem Wissen um die Subjektabhängigkeit der Realität und der damit vollzogenen Abkehr von jeglicher transzendentalen Ontologie erwächst die Einsicht in die Verantwortlichkeit des Menschen für den konsensuellen Bereich, den er mitkonstruiert, indem er darin lebt. Der Übernahme der Verantwortung stehen weder historische Umstände, Naturgesetze, ökonomische Zwänge noch Mangel an Intelligenz in prinzipieller Weise entgegen. Insbesondere hindert die strukturdeterministische Verfaßtheit die Menschen nicht daran, im ethischen Bereich Verantwortung zu übernehmen. 145 Der Strukturdeterminismus verweist zwar Begriffe wie Vorhersagbarkeit, freie Wahl und Schuld in den Bereich der Beobachtersprache, aber er schließt ausdrücklieh selbstinduziertes Lernen und Verändern ein. Maturana bekennt sich zu einer "Freiheit", die im Strom lückenloser Determiniertheit bestehen bleibt: "Der Organismus ist frei, obwohl sein Operieren deterministisch ist, wenn er konsensuelle Bereiche zweiter Ordnung generieren kann, er kann nämlich dann als rekursiver Beobachter seiner Verhältnisse operational voneinander unabhängige konsensuelle Gegenstände generieren."I46 Für diese konsensuelle Welt ist niemand verantwortlich außer den Menschen, die sie kommunikativ erzeugen. Keine Objektivität, keine absoluten Werte und keine Wahrheit kann ihnen die Verpflichtung, für die eigenen Handlungen einzustehen, abnehmen. Daher folgt aus der Subjektabhängigkeit der Realität weder Solipsismus, Beliebigkeit noch Anarchie, sondern im Gegenteil die anspruchsvolle Ethik des Kant' sehen Imperativ. 147 Man kann diesen Imperativ mit den Worten von Foersters auch so formulieren: "Handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst." 148 Oder an anderer Stelle: ,,A geht es besser, wenn es B besser geht." 149 Gemeint ist damit, daß für den Kognitions145 Zur ,,Begründung" der (eingeschränkten) Verantwortlichkeit verweise ich auf die Ausführungen zum "Epistemischen Indeterminismus" (vgl. Kap. 2 n 3). 146 Maturana fährt fort: ,,Dies ist in der ganzen Menschheitsgeschichte stets wohl verstanden worden. Wenn ein Mensch das soziale System beobachten kann, das er durch sein Verhalten erzeugt, kann er es ablehnen und so zu einem Auslöser des Wandels werden; kann er jedoch nur Interaktionen durchlaufen, die durch das von ihm mitintegrierte soziale System bestimmt sind, dann kann er kein Beobachter des Systems werden, und sein Verhalten kann dieses System nur bestätigen. Daher zielt alle politische Gewaltherrschaft explizit oder implizit darauf, Kreativität oder Freiheit zu reduzieren, indem sie alle sozialen Interaktionen vorschreibt, um Menschen als Beobachter auszuschalten und die eigene Herrschaft zu stabilisieren. Um dieses Ziel vollständig zu erreichen, muß jedoch die typisch menschliche Lebensweise der Kreativität vollständig unterdrückt werden, und dies ist solange unmöglich, als die Fähigkeit der Erzeugung konsensueller Bereiche zweiter Ordnung gegeben bleibt, wie sie etwa der Gebrauch der menschlichen Sprache erfordert" (Sprache 1985, 270). 147 Vgl. zur Widerlegung des Solipsismus-Vorwurfs v. Foerster, Konstruktivismus 1988, 121.

148 v. Foerster, Sicht 1985,41. Der ästhetische Imperativ lautet: "Willst du sehen, so lerne zu handeln" (ebd. 41). 149 Zit. bei Segal Erfindung 1988, 26.

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biologen das Leben kein Nullsummenspiel ist, bei dem die einen gewinnen, was die anderen verlieren: entweder alle gewinnen, oder alle verlieren. Aus diesem Grunde ist die Vielzahl der Wahlmöglichkeiten und nicht die Reduktion von Komplexität das Gütesiegel "anpassungsflihigen" Lebens. 150 Daher ist auch Kooperation statt Konkurrenz, Verantwortlichkeit statt Objektivität die condicio sine qua non jeglichen sozialen Lebens. Der Preis für diese Weitsicht ist allerdings die Aufgabe letzter Gewißheit. (4) Sozio-politische Evolution Eine Gesellschaft, die von Foersters ethischen Imperativ akzeptiert, ist gehalten, soziale Systeme aufzubauen, die den Mitgliedern mehr Türen öffnen als verschließen. Demnach besteht die gesellschaftspolitische Zielsetzung, die sich dem Schutz individueller Autonomie und Identität verpflichtet weiß, in der Schaffung, Bewahrung und Erweiterung der Handlungs- und Erlebnisspielräume der Gesellschaftsmitglieder. Damit trägt sie der biologischen Erkenntnis der Plastizität lebender Systeme Rechnung. Eine Gesellschaft hingegen, die die Eigenschaften ihrer Mitglieder ontogenetisch zu stabilisieren sucht, ist zwangsläufig eine totalitäre, da sie das Zentrum aller kognitiven Prozesse, nämlich die Erfahrung, gleichschaltet und schließlich zum Stillstand bringt. Derartige Gesellschaften verhärten sich tendenziell zu autopoietischen Systemen: Sie bilden hierarchische Relationen zwischen ihren Bestandteilen aus und behandeln eben dadurch ihre menschlichen Komponenten als allopoietische Systeme. Dieser Prozeß kann sich nicht vollenden, ohne die Menschen als autopoietische Lebewesen zu zerstören, aber eine Veränderung zum Besseren wird sich nicht von selbst einstellen. Daher ist für Maturana der Glaube an eine spontane Transfonnation der Gesellschaft zu einem Sozialsystem, das die menschliche Gleichwertigkeit berücksichtigt, "biologisch eine Illusion". 151 Er hält das Ziel einer nicht-hierarchischen, unterdrückungsfreien Gesellschaft nur für erreichbar, wenn wir es wollen und uns um 150 Legt man v. Foersters Diagnose einer Familie in Not "Verkrüppelung des Zugangs zu ihrer potentiellen Komplexität" - zugrunde, dann kann die Therapie nicht in einer weiteren Reduzierung der schon bis zur Handlungsunflihigkeit reduzierten Komplexität bestehen (vgl. v. Foerster, Abbau 1988, 33). Wer sich in einer psychischen Klaustrophobie, in einem semantischen Gefängnis befindet, dessen kognitive Komplexität muß expandieren, nicht schrumpfen. 151 Begründung: "Der spontane Verlauf der Ontogenese einer biologischen Einheit ist stets auf die Stabilisierung der Relationen gerichtet, die diese Einheit als Einheit aufbauen, d. h. auf die Stabilisierung der hierarchischen Relationen zwischen ihren Bestandteilen. Daraus folgt entweder eine ontogenetische Stabilisierung der Eigenschaften dieser Bestandteile oder eine ontogenetische Entwicklung der Prozesse, die solche Bestandteile entbehrlich machen. Der erste Fall ist nicht anzustreben, da er zur Negation des Menschen als eines Beobachters führt (totalitäre Gesellschaften) ... Auch der zweite Fall ist abzulehnen, da er unsere Erfahrung, das Zentrum aller kognitiven Prozesse zu sein, negiert (merkantile Gesellschaft) ..." (Maturana, Kognitive Strategien 1985,312). Der zweite Fall strebt offenbar an, das soziale System zu einem autopoietischen System zu machen.

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

deren Verwirklichung beständig bemühen. Dazu ist erforderlich, daß wir die gegenwärtigen Sozialstrukturen durch Schritte modifizieren, die dem gewünschten Ziel nicht widersprechen. Auch wenn wir die konkrete Form künftiger Institutionen nicht kennen, sind jedenfalls alle Schritte kontraproduktiv, die die hierarchischen Relationen vermehren. 152 Das Ziel muß sein, neue zwischenmenschliche Relationen und damit neue kognitive Bereiche zu erzeugen. Zur Erreichung dieses Ziels kommt es nach Maturana darauf an, "daß wir uns einigen, ständig daran zu arbeiten, eine Gesellschaft aufzubauen, die jede politische, ökonomische oder kulturelle Institution ablehnt und zerstört, welche in irgendeiner Weise den Menschen dem Menschen unterordnet; eine Gesellschaft aufzubauen, die sich bemüht, ihre Institutionen entsprechend den sich wandelnden materiellen, ästhetischen und spirituellen Vorstellungen und Verfahrensweisen zu verändern, nach denen die biologischen Bedürfnisse und kulturellen Ziele aller Menschen befriedigt werden ... ; -

eine Gesellschaft aufzubauen, die sich ständig bemüht, nicht-hierarchisch zu werden, weil ihre Mitglieder die Möglichkeit des Irrtums akzeptieren ... ;

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eine Gesellschaft aufzubauen, deren Mitglieder verstehen, daß sie auf einer finiten Erde leben und daß ihre biologische Existenz an die ökologische Stabilität dieser finiten Erde gebunden ist; eine Gesellschaft aufzubauen, deren Mitglieder verstehen, daß der natürliche Entwicklungsgang aller plastischen biologischen Systeme auf die Stabilisierung der hierarchischen Relationen gerichtet ist, die ihre Einheit determinieren, und daß eine nicht-hierarchische Gesellschaft ein artifizielles biologisches System ist, das von Menschen gemacht wird, ein System, das nie als stabiles System erreicht werden kann, das jedoch beständig als immer wieder neu gestaltete Approximation dieses Zustands erzeugt werden muß." 153

Maturanas soziopolitisches Programm läuft somit auf allen Fronten Sturm gegen eine soziologische Verzauberung sozialer Institutionen, die den Menschen 152 Wie das Beispiel Nordamerikas zeigt, verhindern auch starke Elemente der direkten Demokratie keineswegs die Existenz eines breiten Spektrums hierarchischer Relationen. Populismus und Patrimonialismus ergänzen sich in den USA zu einer für den Wähler schwer durchschaubaren Allianz. Aus der Schwäche klassischer hierarchischer Relationen wie den Parteien und Bürokratien folgt also noch lange keine nicht-hierarchische Gesellschaft. Vgl. hierzu Günther Roth, Politische Herrschaft 1987, 31. 153 Maturana, Kognitive Strategien 1985, 312. Eine derartige Gesellschaft kann freilich nicht unter der Bedingung unaufhörlichen Bevölkerungswachstums erreicht werden. Deshalb ergänzt Maturana sein Programm einer nicht-hierarchischen Gesellschaft um die Forderungen nach einer Bevölkerungsstabilität und minimalen Bevölkerungsgröße, "die jedermann ein interessantes und abwechslungsreiches Leben auf einer ökologisch stabilen Erde ermöglicht und jedem Gesellschaftsmitglied jederzeit Zugang zu der Information, der Erkenntnis und den Entscheidungsmöglichkeiten gibt, die für das Funktionieren der Gesellschaft, wie sie ständig durch die ethischen Entscheidungen ihrer Mitglieder erzeugt wird, erforderlich sind" (ebd. 313).

11. Ordnungstypen

353

zum Instrument der institutionellen Selbsterhaltung herabdrückt. Maturana will umgekehrt die sozialen Institutionen zu von Menschen gebrauchten Instrumenten formen, die ihre Bedürfnisse und Wünsche befriedigen. (5) Kulturelle Toleranz Das jeweilige Wirklichkeitsmodell prägt nicht nur die konkrete Gestalt unserer Institutionen, sondern auch unsere Einschätzung anderer Kulturen. 154 Postuliert man wie üblich die Vorstellung einer objektiven Realität, die unserer Erkenntnis zugänglich ist, dann spiegeln unterschiedliche Menschen und Kulturen nur verschiedene Weisen der Bearbeitung und des Zugangs zu dieser objektiven Wirklichkeit wider. Nach dieser Auffassung ist die Beziehung zwischen Erfahrung und Kognition eine zufällige und das Resultat lediglich durch seinen spezifischen 154 Vom Standpunkt der methodischen Erkenntnistheorie aus gesehen erscheinen die Kontroversen in der Ethnologie über Authentizität, Wertfreiheit, Neutralität etc. der eigenen Forschungsergebnisse einigermaßen naiv. In dieser Hinsicht besonders aufschlußreich ist die Kritik Derek Freemans an den Ergebnissen der Arbeiten Margaret Meads über Samoa (vgl. Freeman, Samoa 1983). Mead hatte die Samoaner als kooperativ, sexuell freizügig und nicht verklemmt beschrieben. Dem hält nun Freeman eine restudy entgegen, in der die Samoaner als außerordentlich ehrgeizig, voller Konkurrenzneid, besessen von einem Jungfräulichkeitsideal und zu relativ häufigen Gewaltakten neigend gezeichnet werden. Wir wissen, daß Meads Samoa-Bild von ihrem progressiven Interesse an der Rassenfrage und an amerikanischen Ehe- und Scheidungsgesetzen beeinflußt war. Ebenso offensichtlich will Freeman die These der Kulturgebundenheit von emotionalen Handlungen widerlegen und damit den genetisch-biologischen Determinismus mit ethnographischem Material abstützen (vgl. Koepping, Ethnologie 1987, 13). Ungeachtet dieser massiven Selbststeuerung wirft nun Freeman den Arbeiten Meads vor, sie beruhten auf Lüge und Märchenfabrikation. Damit provozierte er eine Kontroverse, die vor allem in den Repliken auf Freeman die Frage aufwarf, wie zuverlässig war die Datensammlung von Mead, d. h. die Kontroverse drehte sich einzig und allein um die Frage der Überprüfbarkeit der Daten (reliability) und der Zuverlässigkeit, Wirklichkeitsnähe, Triftigkeit und Richtigkeit derselben (validity). Dieses positivistische Verständnis von Datenerfassung mußte in den bekannten Zirkel von Beschuldigung und Gegenbeschuldigung führen. Wer die eigenen Daten für "wirklich" hält, kann nicht umhin, abweichende Ergebnisse als "falsch" im Sinne von subjektiv, voreingenommen oder gar betrügerisch zu bezeichnen. Wer andererseits von vornherein die Subjektabhängigkeit allen Wissens in seiner Forschungstätigkeit berücksichtigt, muß nicht auf methodische Vorkehrungen gegen den Einfluß von Idiosynkrasien verzichten, im Gegenteil, sein Wissen um die Erkenntnisproduktion bewahrt ihn gerade vor dem Mißverständnis objektiver Wirklichkeitserfassung. Erkennen heißt Tun. Deshalb hat das Wort von der "teilnehmenden Beobachtung" aus erkenntnisbiologischer Sicht eine tiefere Berechtigung. Teilnahme bedeutet danach Engagement und Sich-zur-Verfügung-Stellen. Sie bewahrt uns vor der Verdinglichung lebender Wesen, vor ihrer Trivialisierung zu allopoietischen Systemen. Beobachtung soll demgegenüber die Vergleichbarkeit der Unterscheidungen, mit denen der Wissenschaftler arbeitet, gewährleisten (vgl. Koepping, Ethnologische Methode 1984,225). Das Ergebnis kann dann ein konsensueller Bereich darüber sein, wie die Ethnologen eine bestimmte Fragestellung gemeinsam sehen. Das Ergebnis kann jedoch niemals die "Wirklichkeit" fremder Kulturen repräsentieren, noch kann es die "wirkliche" Beschreibung der Art und Weise sein, wie die fremden Kulturen sich selber sehen (so eine Forderung von L. Strauss, Naturrecht 1977, 58; siehe dazu auch Duerr, Traumzeit 1978; zur Authentizität in der Ethnologie vgl. z. B. Kramer, Ethno-Fiction 1987,87; Wolff, Authentizität 1987, 95; Geertz, Hopi-Forschung 1987, 111; Peyer,Indianerroman 1987, 137).

23 Kargl

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

historischen Ursprung gerechtfertigt. Das aber bedeutet, daß kulturelle Unterschiede nicht als Ausdruck gleichberechtigter kognitiver Bereiche, sondern als kontingente Differenzen angesehen werden. Solche Divergenzen kann man zwar eine Weile tolerieren, aber sie müssen "unter der Perspektive besseren Wissens" auf die Dauer dann doch. überwunden werden. Denn die Kenntnis der objektiven Realität erfordert einen kulturellen Wandel, der auf eine immer angemessenere Bearbeitung der "Wirklichkeit" hinausläuft. Unter naturwissenschaftlichen Vorzeichen vollzieht sich dann die kulturelle Transformation als ein Kampf zwischen Wahrheit und Falschheit. So enthüllt das Argument der Objektivität jede Toleranz gegenüber anderen Kulturen als eine widersprüchliche, jederzeit revidierbare Geste. Sind wir hingegen der Überzeugung, daß die kulturelle Verschiedenheit nicht in unterschiedlicher Bearbeitung einer unabhängigen Realität, sondern im Aufbau völlig gleichberechtigter unterschiedlicher Wirklichkeitsmodelle besteht, dann ist Toleranz nicht mehr notwendig herablassend, sondern erkenntnistheoretisch begründet und insofern erst glaubwürdig. 155 Ein anderes Problem betrifft die Frage der Legitimität konkurrierender Wirklichkeitsmodelle. Darüber entscheiden Diskurse nach Maßgabe pragmatischer Überlegungen. In keinem Fall gibt es einen objektiven Maßstab, anband dessen eine Kultur als "adäquater" als eine andere erwiesen werden könnte. Der ,,Erfolg" einer Kultur bestimmt sich allein innerhalb jenes Vorhersagebereichs, welchen sie definiert. Daher kann eine Kultur aus der Perspektive einer anderen Kultur auch nicht als erfolglos angeprangert werden. Sie stellt immer einen gültigen kognitiven Bereich dar, der von ihrer jeweiligen Geschichte abhängig ist. (6) Kulturelle Evolution Mit dem Glauben an Objektivität hängt engstens die Vorstellung zusammen, daß lebende Systeme einen inneren Plan besitzen, den ihre strukturelle Organisation verwirklicht. So wird die Phylogenese als eine Geschichte von Transformationen betrachtet, die dem Entwicklungsplan der Spezies 156 folgt. Ebenso wird die 155 In Debatten über die Dritte Welt bzw. über Entwicklungshilfe hört man oft die Ansicht, daß sich die Schwierigkeiten der sog. unterentwickelten Länder erst dann beheben ließen, wenn diese über die richtige (westliche) Anschauung der Wirklichkeit verfügten. Vom Standpunkt des objektiven Wissens aus ist die Auffassung nicht nur konsistent, sondern auch die einzig mögliche. Maturana sagt zu diesem Wahrheitsglauben, der sich entweder aus der Offenbarung oder der wissenschaftlichen Forschung ableitet: ,,In dem Maße, in dem wir in einer objektiven Welt leben, die unserer Erkenntnis zugänglich ist, scheint es legitim zu erwarten, daß alle Verschiedenheiten zwischen Menschen ihre Bedeutung verlieren werden, sobald Menschen gelernt haben, die Welt objektiv zu betrachten und sich entsprechend zu verhalten. Der Glaube daran, daß dies der richtige Weg ist, liegt in der Tat implizit oder explizit allen modemen politischen oder sozialen Auseinandersetzungen zugrunde" (Kognitive Strategien 1985, 300). 156 Dazu gehören neodarwinistische Vorstellungen von der menschlichen Evolution, wonach allein die Selektion durch Umweltfaktoren die Richtung der Evolution bestimmt. Da interne ordnungsstiftende Faktoren dabei eine untergeordnete Rolle spielen, ist es

11. Ordnungstypen

355

Ontogenese als ein Entwicklungsprozeß verstanden, durch den der Erwachsenenzustand gemäß einem angeborenen Plan erreicht wird. In beiden Fällen führt die Annahme der Teleonomie 157 dazu, daß das Individuum den eingeborenen Zielen und Zwecken untergeordnet werden muß. Auf der Ebene sozialer Evolution trägt diese teleonomische Vorstellung zu der Überzeugung einer stetigen Aufwärtsentwicklung bei: Die Wahrnehmung wird besser, das Wissen wahrer und die Moral richtiger. 158 In dem Maße, in dem die Gesellschaften ihre Komplexität und ihre Produktivkräfte gesteigert, also ihre natürliche Evolution vorangetrieben haben, soll auch die soziale und moralische Evolution gewachsen sein. So wird der kulturelle Wandel analog zur natürlichen Evolution der Gesellschaft gedacht; der moralische Standard wird zum Korrelat der Evolution der Komplexität der Gesellschaft. In der Regel werden drei Stufen der Komplexitäts- und damit auch der Moralentwicklung unterschieden:

das Milieu, welches mittels seiner Perturbationen' unter den vielen Möglichkeiten jene Veränderungen "selektiert", die auftreten sollen. Damit wäre in der" natürlichen Auslese" eine Quelle von vorschreibenden Interaktionen durch das Milieu zu sehen. Akezptiert man diese Auffassung, so scheint es logisch, die erfolgreichen Organismen als die an die Umweltbedingungen am besten angepaßten Spezialisten zu sehen. Dieses für den Neodarwinismus zentrale "Adaptationskonzept" legt wiederum die Vermutung nahe, daß der ,,zweck" der Evolution die optimale Lösung der Bestangepaßten sei. Diesem von außen vorgegebenen Zweck haben sich die Individuen völlig unterzuordnen. Von hier ist der Schritt nicht mehr weit, die scheinbar weniger optimalen Lösungen mit dem Etikett des "lebensunwerten Lebens" zu versehen. Universale Zwecksetzungen lassen sich aus systemtheoretischer Sicht leicht als Verfolgung partikularer Interessen entlarven. Aus dem Prinzip der Autopoiese folgt nämlich etwas ganz anderes als die maximale Adaptation: Es kommt nur darauf an, einen dynamischen Gleichgewichtszustand hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Autopoiese zu finden, und die Gleichgewichtszustände können sehr verschieden sein. Roth stellt dazu fest: "Lebewesen müssen am Leben bleiben; wie sie dies bewerkstelligen, ist nebensächlich. Die Umwelt setzt eine minimale Grenze, die von jedem Organismus überschritten werden muß. Es ist gleichgültig, mit welchen Mitteln und in welchem Maße er sie überschreitet. Jede Lösung, die die minimalen Anforderungen erfüllt, ist gleich gut, es gibt keine optimale Lösung" (Selbstorganisation 1986, 163). 157 Unter Teleonomie soll hier eine Lehre verstanden werden, wonach Pläne, Zwecke oder Programme, die der Organisation lebender Systeme zugrundeliegen, als notwendige Merkmale der Bestimmung lebender Systeme aufgefaßt werden. 158 Solange das Ziel dieser Evolution in der Moderne lokalisiert, die Richtung also teleologisch bestimmt wird, ist der Evolutionsbegriff affirmativ und ethnozentrisch. Ein solcher Begriff fmdet sich in empörender Weise sogar noch bei Hegel als "Vernunft in der Geschichte" (vgl. Kramer, Ethnographie 1977,55). Dieser egozentrische Glaube an den Rationalitätsfortschritt hat seit dem 17. Jahrhundert Gegenbewegungen provoziert, die nicht minder haltlos waren wie ihre Feindbilder. Zuerst gab es für die Karibik, dann für Nordamerika eine Hinwendung und Stilisierung des Eingeborenen zum "edlen Wilden". Später verherrlichte die Propaganda der englischen Gegner der Sklaverei den afrikanischen Schwarzen. Und schließlich kam es mit den Reisen Cooks zu einer ästhetisierenden Bewunderung der Südseeinsulaner. So entstanden der glückliche Karibe, der edle Hurone, der friedliche und gutherzige Schwarze und die schönen Südseeinsulaner (zu den europäischen Phantasien über Afrikaner vgl. Bitterli, Entdeckung 1970; zu Castanedas toltekischen Stilisierungen vgl. Sebald, Märchenwelt 1987, 280). 23"

356

Kap. 3: Soziologie der Kognition

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Einfache Gesellschaften, deren Produktivkräfte an bäuerliche Arbeit gebun-

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Traditionale Gesellschaften erweitern ihre Produktivkräfte durch handwerkli-

den sind und deren Komplexität durch segmentäre Differenzierungsformen bestimmt ist. 159 In diesen Gesellschaften wird in Analogie zur Ontogenese 160 eine ,,präkonventionelle,, oder" wilde" Moral lokalisiert, in der die Regeln vor allem zur Vermeidung von Strafe und zur Befriedigung eigener Bedürfnisse befolgt werden. Das Recht bleibt an die eingelebte Lebensform, an die "Sitte", gebunden. Diese moralische Ordnung setzt als ,,natürliche" Ordnung der machtförmigen Organisation sozialer Beziehungen Grenzen. 161 che Fähigkeiten und steigern ihre Komplexität durch stratifIkatorische Differenzierungsformen. In diesen Gesellschaften soll eine "konventionelle" oder "holistische" Moral dominieren, die eine Ordnung jenseits einer natürlichen Ordnung, nämlich eine "übernatürliche" Ordnung etabliert. Diese Moral lenkt soziale Evolution in Richtung auf eine traditional legitimierte hierarchische Ordnung. 162 Die Gesellschaftsmitglieder orientieren sich an den sozialen Normen der subjektunabhängig gerechtfertigten Ordnung.

159 Zur Charakterisierung einfacher Gesellschaften vgl. Sahlins, Stone Age 1972; ders., Kultur 1981; ders., Kapitän Cook 1986; sowie Clastres, StaatsJeinde 1976. 160 Zur Entwicklungslogik moralischen Urteilens vgl. Piaget, Moralisches Urteill973; Kohlberg, Kognitive Entwicklung 1974; Kohiberg /Turiel, Moralische Entwicklung 1978; zur deutschen Rezeption vgl. Eckensberger, Moralisches Urteilen 1978; Eckensberger, Reinshagen, Kohlbergs StuJentheorie 1980, 65; Lind, Hartrnann, Wakenhut, Moralisches Urteilen 1983; Habermas, Moralbewußtsein 1983, 127; Schmidt-Denter, Soziale Entwicklung 1988, 267. 161 Daß die Moral einfacher Gesellschaften an die alltägliche, interaktionsnahe Moralisierung sozialer Beziehungen gebunden bleibt, hat vor allem damit zu tun, daß die Komplexität dieser Gesellschaften durch das Fehlen von Schrift und damit durch eine begrenzte Informations- und Kommunikationskapazität bestimmt ist. Es sind Gesellschaften, deren Produktivität auf Eigenbedarf gerichtet ist und somit keine "Ökonomie" besitzt (vgl. dazu Eder, Vergesellschaftung 1988, 359). 162 Auf dieser Stufe der sozialen Evolution entsteht staatliches Recht. Es ist nunmehr der Staat und nicht wie zuvor die Sippe, die Institution, die rechtliche Normen festschreibt. Recht besteht aus staatlich gesetzten Normen, denen Sippenrecht untergeordnet werden muß. Die gewohnheitsrechtlichen Normen (etwa Blutrache, Gastrecht, Eherecht, Erbrecht) werden von einer organisierten Rechtsprechung und Rechtsfindung verdrängt. Der Eid vor dem Richter, der die Wahrhaftigkeit der Aussagen sichern soll, stellt den Beginn der prozuduralen Rationalität des modernen Rechts dar (vgl. Schilling, Recht 1957); ein Verfahren, das im frühgermanischen Recht zur Rechtsfindung noch nicht notwendig war (dazu Rehfeldt, Recht 1954, 5). Zu dieser Reorganisation des Rechtsfindungsprozesses tritt die Veränderung der Strafbemessung und der Strafverhängung. Wie die Analyse des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften zeigen wird, ist das Strafrecht kein SpezifIkum hochkulturellen Rechts. Bezeichnet man das Strafrecht als Wurzel des Rechts, so verengt man das Recht auf den Aspekt herrschaftlicher und zentralisierter Sanktionierung. Damit aber würde ein bestimmtes historisches Kennzeichen des Rechts zu einem universellen Kennzeichen gemacht. Sicher ist, daß mit der herrschaftlichen Setzung der Normen die kriminalisierten Abweichungen an Zahl erheblich zunehmen. Kriminalisierung und staatliches Recht sind also interdependente Prozesse (diese Ambivalenz betont,Diamond, Law 1973, 188,275).

11. Ordnungstypen

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357

Moderne Gesellschaften treiben ihre Produktivkräfte durch Mechanisierung

voran und bestimmen ihre Komplexität durch funktionale Differenzierungsformen, die dann entstehen, wenn sich das Individuum von vorgegebenen sozialen Ordnungen distanziert, wie dies in der kapitalistischen Ökonomie der Fall ist. 163 In diesen Gesellschaften werden die normativen Prämissen radikal vereinfacht, etwa auf die fIktive Gleichheit der Mitglieder gegründet. Durch diese ,,Enthierarchisierung" der Welt wird der Mechanismus der funktionalen Differenzierung freigesetzt. Das wiederum beschleunigt eine abstrakte prozedurale Moral, die die ,,zwischenräume" zwischen ausdifferenzierten Systemen überspannt. Diese Moral wird als "postkonventionell" oder "individualistisch" bezeichnet, weil die gesellschaftlichen Regeln nur noch befolgt werden, wenn sie mit den übergeordneten Verfahrensprinzipien in Einklang stehen. 164

Wie aus diesem kurzen Überblick (siehe dazu auch die Übersichten 16 und 17) zu ersehen ist, hat die Zuordnung von Stufen der moralischen Evolution zu den Stufen der natürlichen Evolution der Gesellschaften zur Folge, daß ein systematischer Zusammenhang zwischen einem niedrigen Niveau technischer Entwicklung und einem niedrigen Niveau kultureller Entwicklung behauptet wird. Klaus Eder hat in einer weitgespannten Untersuchung nachweisen können, daß dieser Zusammenhang - wenn er existiert - kein systematischer ist und 163 Die Bewegung, die die Distanzierung von vorgegebenen Ordnungen in Gang gesetzt hat, ist die Aujklärungsbewegung gewesen. Diese hat auf alltagspraktischer Ebene, in den bürgerlichen Vereinen und Assoziationen der frühen Modeme, die Destruktion hoheitlicher Autorität und Gewalt forciert. Die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit sind also der Effekt moralischer Lernprozesse in den Alltagspraktiken moderner Gesellschaften. Die modeme Gesellschaft beginnt demnach nicht, wie es die klassische ideengeschichtliche Perspektive will, mit der Formung des Rechtssystems durch eine universalistische Moral, sondern setzt viel früher mit der alltagspraktischen Einübung allgemeiner Prinzipien ein. Mit der Institutionalisierung der Aufklärungsbewegung als bürgerlicher Gesellschaft löste sich die moralische Reflexion aus dem Kontext religiös legitimierter Herrschaft. Nicht mehr der Herrschaftsverband, der "Staat", ist der Ort, wo das ,,Ethische" verkörpert wird. Ein dem Staat vorausgehender und ihn begründender Vertrag, der "Gesellschaftsvertrag", wird der Ort, wo sich der ethische Anspruch der modemen Gesellschaft verkörpert (siehe dazu ausführlich Eder, Geschichte 1985; ders., Gesellschaftsvertrag 1986,67; Vergesellschaftun/? 1988,219). 164 Zu dieser abstrakten prozeduralen Moral vgl. Eder, Evolution 1987, 101. Habermas erläutert die postkonventionelle Stufe u. a. folgendermaßen: "Handlungsnormen werden nun ihrerseits als normierbar vorgestellt, sie werden Prinzipien, d. h. höherstufigen Normen untergeordnet. Der Begriff der Legitimität wird in die Bestandteile der faktischen Anerkennung und der Anerkennungswürdigkeit zerlegt; die soziale Geltung bestehender Normen deckt sich nicht mehr mit der Gültigkeit gerechtfertigter Normen ... Nun zählt nicht mehr die Achtung vor dem Gesetz per se als sittliches Motiv. Der Heteronomie, d. h. der Abhängigkeit von bestehenden Normen, wird die Forderung entgegengesetzt, daß der Handelnde anstelle der sozialen Geltung einer Norm vielmehr deren Gültigkeit zum Bestimmungsgrund seines Handelns erhebt . . . Moralisches Handeln steht uriter dem Anspruch, daß sich die Beilegung von Handlungskonflikten allein auf begründete Urteile stützt - es ist ein durch moralische Einsichten geleitetes Handeln" (Moralbewußt sein 1983, 174).

Kap. 3: Soziologie der Kognition

358

Übersicht 16:

Stufen der natürlichen Evolution. Einfache Gesellschaften

Traditionelle Gesellschaften

Modeme Gesellschaften

Produktivkräfte

Bäuerliche Arbeit

Handwerkliche Fähigkeiten

Mechanisierung

Komplexität

Segmentäre Differenzierung

StratifIkatorische Differenzierung

Funktiomile Differenzierung

Soziale Teilungen (Bourdieu)

Männer/Frauen

Politisch-religiöse Elite / Gesellschaft

Klassen

Natürliche Teilungen (Moscovici)

Organischer Naturzustand (Transformation der Natur)

Mechanischer Naturzustand (Konstruktion der Natur)

Kybernetischer Naturzustand ("Theoretisch" erzeugte Natur)

Moralische Prinzipien

Konkrete Reziprozität

Koordinierung durch staatliches Recht

Integration durch universalistische Ideen

Strukturen

Typen

daß deshalb die Theorie der kulturellen Evolution nicht auf eine Theorie der natürlichen Evolution reduziert werden darf. So zwingen die Unwägbarkeiten der Natur die einfachen Gesellschaften nicht notwendig zu Geisterglauben und Magie, wie umgekehrt die technische Beherrschung der Natur nicht per se zu kulturellem Fortschritt führt. 165 Überhaupt ist die Vorstellung offensichtlich verfehlt, daß die archaische Kultur von vornherein irrationaler sei, als es die modernen kulturellen Symbolisierungen sind. 166 Aus diesem Grunde muß auch die 165 Eder (Vergesellschaftung 1988,67) verweist in seiner Untersuchung auf den modemen "ökologischen Diskurs", der zunehmend dafür sensibilisiert, "daß die Herrschaft über die Natur nicht unbedingt auch moralischen Fortschritt bedeutet, ein Zusammenhang, der für Marx und den Rationalismus des 19. Jahrhunderts und den Szientismus des 20. Jahrhunderts unproblematisch gewesen ist". 166 Wichtig für diesen Problemkreis sind die methodologischen Beiträge zur Rationalität und Irrationalität der Magie von Kippenberg, Luchesi, Magie 1978; Duerr, Traumzeit 1978; ders., Das Irrationale 1981. Ebenso wie diese Autoren bestreitet auch Eder systematische Zusammenhänge zwischen Naturbeherrschung und moralischem Fortschritt. Er unternimmt den Versuch, anband von Prozessen religiöser Evolution in Gesellschaften unterschiedlichen Typs der natürlichen Evolution die Eigenlogik kultureller Symbolisierungen zu demonstrieren. Seine These ist, daß religiöse Symbole nur mehr "gebrochen" die natürliche Welt der Produktivkräfte repräsentieren. Gesellschaften sind eben keine ,,natürlichen Ordnungen", sondern symbolische Ordnungen (vgl. Vergesellschaftung

11. Ordnungstypen

359

Übersicht 17: Stufen der moralischen Evolution.

Präkonventionelle Moral

Konventionelle Moral

Postkonventionelle Moral

Entwicklung des moralischen Bewußtseins (Kohiberg)

Stufe I: Orientierung an Strafe und Gehorsam; Stufe TI: Naivegoistische Orientierung

Stufe ill: ,,BravesKind" -Orientierung; Stufe IV: Autorität und soziale Ordnung aufrechterhaltende Orientierung

Stufe V: Orientierung an sozialen Abmachungen; Stufe VI: Gewissens- oder Prinzipienorientierung

Sozialperspektiven

Egozentrische Perspektive

System- oder Gesellschaftsperspektive

Prinzipien- und prozedurale Perspektive

Handlungstypen

Autoritätsgesteuerte Interaktion; interessengesteuerte Kooperation

Rollenhandeln; nonnengeleitete Interaktion

Diskurs

Autorität

Autorität von Bezugspersonen

Verinnerlichte Autorität

ideale Geltung

Motivation

Loyalität; Orientierung an Belohnung und Bestrafung

Pflicht vs. Neigung

Autonomie vs. Heteronomie

Gerechtigkeitsvorstellung

Komplementarität von Befehl und Gehorsam; Symmetrie der Entschädigungen

Rollenkonfonnität; Konfonnität mit dem bestehenden Nonnensystem

Orientierung an Gerechtigkeitsprinzipien; Orientierung an Verfahren der Normenbegründung

Strukturen

Typen

1988,64). Sie transfonnieren Natur in Kultur, und dies nicht nur strikt nach dem Muster der ökonomischen Ordnung. Eder geht davon aus, daß in religiösen Symbolsystemen die elementaren Regeln gesellschaftlicher Kommunikation festgelegt sind. Sie thematisieren infolgedessen die nicht-kognitiven und nicht-nonnativen Grundlagen kognitiver Kommunikationen in der Gesellschaft (siehe die parallele Konstruktion des "symbolischen Bezugsrahmens" bei Parsons). Legt man das Konzept der Interpenetration der vier Handlungssysteme zugrunde, dann bestätigt sich Eders These: Keine der Handlungsorientierungen kann einseitig, nach dem Muster instruktiver Interaktionen, die übrigen vollständig dominieren. Der ökonomischen Rationalität kann infolgedessen nicht einfach

360

Kap. 3: Soziologie der Kognition

These von einer Universalgeschichte, die quasi naturnotwendig eine bessere Welt hervorbringt, als idealistisches Wunschdenken moderner Rationalität zurückgewiesen werden. In der These von der Universalgeschichte sucht sich der Glaube an die Objektivität und an die Herrschaft über die Natur als moralischen Fortschritt zu überhöhen. 167 Zu den fatalen Konsequenzen dieser Art teleologischer Richtungsidee äußert sich Klaus Eder überaus deutlich: "Gegen die enge Zuordnung von natürlicher und kultureller Evolution soll die These verteidigt werden, daß die Eigenlogik kultureller Evolution von der Eigenlogik natürlicher Evolution unabhängig ist. Kulturelle Evolution ist auf jeder Stufe natürlicher Evolution möglich bzw. kann auf jeder Stufe blockiert werden. Es gibt deshalb keinen notwendigen Zusammenhang zwischen den Stufen natürlicher Evolution und den Stufen kultureller Evolution. Die theoretische Einebnung dieser Differenzen, die Reduktion von Stufen der Evolution religiöser Symbolisierungen auf die klassische Periodisierung von Gesellschaften in einfache, traditionale und moderne Gesellschaften führt vielmehr zu fatalen Konsequenzen. Man schließt von einfachen religiösen Systemen auf primitive Gesellschaften und von ethisch durchrationalisierten Systemen auf die modernen Gesellschaften. Man muß deshalb in diesen Gesellschaften nach Beispielen für die so zugeordneten religiösen Formen suchen und wird sie auch fmden. Letztlich läuft das Unternehmen darauf hinaus, die Stufe natürlicher Evolution, die eine Gesellschaft durch Arbeit und soziale Differenzierung erreicht hat, moralisch zu überhöhen und als höchste Stufe von Sozialität auszuzeichnen. Gerade dies ist aber ,industrielle Ideologie'. die in dem Maße bewußt geworden ist, wie die moralischen Segnungen des modernen Naturzustandes strittig und uneindeutig geworden sind." 168 Eder demonstriert seine Schlußfolgerung von der Eigenlogik kultureller Evolution anband von Prozessen religiöser Evolution (siehe dazu die Übersicht 18), von Eßtabus und Opferriten in Gesellschaften unterschiedlichen TypS.169 Ihm eine gleichgeschaltete kulturelle Rationalität zugeordnet werden. Wohl aber beeinflussen sich beide Bereiche. Infolgedessen entwickeln sie sich nicht unabhängig voneinander. Die soziale Evolution der Gesellschaft basiert vielmehr immer auf einer Ko-Evolution der natürlichen und kulturellen Evolution, wobei wir unter der natürlichen Evolution die Entwicklung des Handlungsraumes der Ziele und Mittel und unter der kulturellen Evolution die Entwicklung der Normen und des symbolischen Bezugsrahmens verstehen wollen. 167 Zu den klassischen Theoremen einer religiösen Evolution, die den Periodisierungen der universalgeschichtlichen Klassifikationen des 19. Jahrhunderts entsprechen. vgl. Döbert, Evolutionstheorien 1972; Luhmann, Religion 1977. Zu einer vehementen Kritik an diesen Ansätzen vgl. Cochetti, Aufklärung 1985; Bourdieu, Unterschiede 1982; ders., Sozialer Raum 1985; ders., Sozialer Sinn 1987. 168 Eder, Vergesellschaftung 1988,67. 169 Auch wenn die religiöse Evolution den Stufen der sog. ,,natürlichen Evolution" der Produktivkräfte nicht einfach zugeordnet werden kann, lassen sich doch logisch aufeinander aufbauende Stufen der religiösen Symbolisierung angeben. Die Stufentheorien sind also trotz der Aufgabe schlichter Entsprechungen und Parallelisierungen nicht obsolet geworden. Man kann und muß sie als Ausgangspunkt einer ,,Rekonstruktion" einer Theorie religiöser Evolution benutzen. Löst man die Stufentheorien aus dem klassischen universalgeschichtlichen Zusammenhang heraus, dann kann man die Stufen als Formelemente religiöser Evolution lesen, die in allen Gesellschaften mehr oder weniger zum Zuge kommen. So existieren in allen Kulturen Glaubensvorstellungen über spirituel-

11. Ordnungstypen

361

gelingt dabei der Nachweis, daß eine kulturelle Evolution auf jeder Stufe der sozialen Entwicklung möglich ist bzw. blockiert werden kann. Damit untermauert er jene Einwände, die seit längerem dagegen erhoben werden, daß die Evolution der Gesellschaft auf Wahrheit und Richtigkeit hinauslaufe: den Einwand des Ethnozentrismus der modemen Welt gegenüber der nichtmodemen Welt, den Einwand der Fortschrittsgläubigkeit ohne empirische Basis und der nichtüberwundenen Metaphysik des Denkens. 170 Diese Einwände lassen sich als Kritik an einem affirmativen Evolutionsbegriff begreifen. Zu offensichtlich ist erkennbar, daß wir die Behauptung der Überlegenheit der eigenen Moral und des eigenen Wissens zumeist zur Unterdrückung anderer Kulturen benützt haben. Aber reicht diese Art "phänomenologischer" Widerlegung der Rede vom Fortschritt oder von der Höherentwicklung aus, um den herrschenden Rationalitätsbegriff zu gefahrden? Ich fürchte, der Hinweis auf historische Tatbestände reicht hierfür nicht aus. Es bleibt ja immer noch der Ausweg, das ,,ziel" der Entwicklung in eine feme Zukunft zu verlagern. Diesen Ausweg versperrt meines Erachtens einzig die Kognitionsbiologie. Sie zeigt, daß aus erkenntnistheoretischen Gründen eine festgelegte ,,Entwicklungslogik" individueller oder gesellschaftlicher Lernprozesse unmöglich ist. Weder kann es einen sich selbst vorantreibenden moralischen oder kognitiven Lernprozeß (= Internalismus), noch eine "gesetzmäßige" Komplexitäts- und Kultursteigerung (= Externalismus) geben. 171 Der für rationalistische Theorien charakteristile Wesen, die nach dem Tode weiterleben. Solche Elemente religiöser Symbolisierung sind unabhängig von bestimmten Typen sozialer Entwicklung (zu diesen Fragen vgl. Eliade, Das Heilige 1984; ders., Religionen 1986; ders., Ewige Bilder 1986). Wie weit diese eigenlogischen Formen der Religiosität ausgeprägt sind, unterscheidet sich von einer Gesellschaft zur anderen (die Übersicht 18 gibt diese Eigenlogik wieder). Eder unterscheidet folgende Stufen der religiösen Evolution: - Naturalistische Formen religiöser Symbolisierung sind auf Vorstellung eines analog zur Gesellschaft strukturierten Himmels, in dem sich die Konflikte der Menschen wiederholen, gegründet; sie liegen dem zugrunde, was man praktische Religion genannt hat. - Theistische Formen religiöser Symbolisierung sind auf Vorstellungen gegründet, die den Göttern ethische und kognitive Qualitäten, im Idealfall das Gute, Allmacht und Allwissenheit zuschreiben; sie bestimmen die offizielle oder politische Religion einer Gesellschaft. - Ethische Formen religiöser Symbolisierung sind das Ergebnis von Vorstellungen, in denen das Transzendente die Idealisierung der irdischen Welt ist; sie erzeugen das, was man die intellektuelle Religion genannt hat (Eder, Vergesellschaftung 1988,70). 170 Zur Kritik am Ethnozentrismus der Anthropologie und der Ethnologie vgl. Diamond, Zivilisation 1976; Leiris, Kultur 1977; K. E. Müller, Identität 1987; Parin, ParinMatthey, Die Weißen 1985. 171 Zur Terminologie, wonach Internalismus für individuelle und Externalismus für gesellschaftliche Lernprozesse steht, vgl. Eder, Vergesellschaftung 1988,310. Vorbehalte bleiben aus kognitionsbiologischer Sicht gegen den Begriff des kollektiven Lernens, jedenfalls solange dabei von der bewußten Tätigkeit der Individuen abgesehen wird. Soweit mit ihm die Bedeutung eines kollektiv konstituierten Kontextes (Sprache, Institutionen etc.) für gesellschaftliche Evolutionen gemeint ist, kann er eine fruchtbare Anregung geben (siehe dazu Miller, Lernprozesse 1986).

Kap. 3: Soziologie der Kognition

362

Übersicht 18: Stufen der religiösen Evolution (nach Eder, Vergesellschaftung 1988, 71).

Praktische Religion

Offizielle Religion

Intellektuelle Religion

Fonnen religiöser Symbolisierung

Naturalistische Fonnen (Symbole von der Natur vorgegeben)

Theistische Fonnen (Symbole gewinnen objektive Kraft)

Ethische Fonnen (Symbole das Ergebnis irdischer Idealisierung)

Gottesbegriff

Gesellschaft als Gott

Gott als Gegenüber der Gesellschaft

Gott als generalized other

Personenbegriff

Leibgebundene Identität

Übergang von körper- zu geistgebundener Identität (spirituelle Identität)

Psychologisierung des Identitätsproblems: Seele als individuierendes Merkmal der Identität

Religiöses Handeln

Beschwörung/Zauberei; kollektive Ekstasetechniken

Emanzipation von dieser Welt als Ziel durch Askese oder den rechten Glauben

Emanzipation in dieser Welt

Strukturen

Typen

sche "ontogenetische Fehlschluß" wird durch das autopoietische Phänomen des Strukturdeterminismus widerlegt. 172 Danach prägt nicht etwa ein intern vorprogrammierter Plan, sondern die Geschichte der Strukturkoppelungen die Richtung der kognitiven und moralischen Entwicklung. Die Erfahrung, die das Individuum beim Aufbau einer gemeinsamen Wirklichkeit macht, entscheidet über die weiteren Kognitionen, die wiederum richtungweisend auf Wahrnehmung und Handlung zurückwirken. 173 Ob also die "autonome" Moral, die höchste Stufe im 172 Der "ontogenetische Fehlschluß" besteht im Schluß von der individuellen Entwicklung auf die kollektive Entwicklung. Eine der besten Anwendungen dieses Modells der Evolutionstheorie fmdet sich bei Piaget, Erkennen 1973. 173 Für das Konzept der Autopoiese lebender Systeme ist "Erfahrung" ein Schlüsselbegriff. Er gibt die induktive Operationsweise autopoietischer Strukturbildung wider. Er besitzt in der konstruktivistischen Theoriebildung einen ähnlich hohen Stellenwert wie der Begriff der "Praxis" in Eders evolutionärer Gesellschaftstheorie. Aber offensichtlich ist nicht dasselbe gemeint. Eder spricht von "Strukturen der gesellschaftlichen Praxis", die über das Ausmaß praktischer Rationalität in einer Gesellschaft entscheiden. Diese

II. Ordnungstypen

363

Kohlbergschen Schema, erreicht wird, hängt nicht von Zielen oder Zwecken ab, die den Lebewesen angeboren innewohnen, sondern von den individuellen Strukturen, die das Medium im Verlauf der Ontogenese selektiert hat. Dasselbe gilt für den in funktionalistischen Theorien vorherrschenden" universalhistorischen Fehlschluß", demzufolge der Geschichte eine spezifische Tendenz in Richtung auf moralische Höherentwicklung gegeben ist. Eine solche Automatik zu unterstellen, heißt wiederum die Operationsweise autopoietischer Systeme zu verkennen. Denn die lebenden Systeme, die die Gesellschaft durch ihr Handeln konstituieren, sind "als physikalische autopoietische Maschinen zweckfreie Systeme" .174 Sie "streben" als solche nicht etwa zu ,,höheren Zuständen". 175 Im Prozeß der Ontogenese stellt das lebende System zu jedem Zeitpunkt eine vollgültige Einheit dar und befindet sich daher in keinem Augenblick in einem Übergangsstadium von einem unvollständigen zu einem vollständigeren oder endgültigen Zustand. Das autopoietische System verändert sich vielmehr Praxis ist nicht das Resultat von Struktunnodellen (Tausch, Vertrag, Reziprozität etc.), sondern ein Erzeugungs- und Reproduktionsmechanismus solcher Strukturmodelle: ,,Evolution findet statt, wenn die Reproduktion einer sozialen Ordnung durch gesellschaftliche Praxis ,gestört' wird" (Vergesellschaftung 1988,304). Versteht man diese Ausführungen so, daß es die Individuen sind, deren Praxis soziale Evolutionen auslösen, dann gäbe es keinen Dissens. Doch Eder wirft dieser Interpretation ,,Psychologismus" vor: An die Stelle psychologistischer Annahmen, die Gesellschaft als Ergebnis der Anpassung an die Entwicklungsdynamik und Entwicklungslogik psychischer Systeme zu erklären suchen, treten dann Vorstellungen, die auf die Idee der Selbsterzeugung der Gesellschaft jenseits der Intentionen der beteiligten und implizierten Akteure rekurrieren" (ebd. 301). "Selbsterzeugung der Gesellschaft" heißt nichts anderes, als Autopoiese auf soziale Systeme anzuwenden. Die antihumanen Tendenzen einer solchen Konstruktion haben wir in der Luhmann-Kritik ausführlich dargelegt (vgl. Kap. 3 I3e). Wie eine von den Individuen abstrahierende Praxis evolutive Prozesse auslösen soll, "deren Logik nicht mit Herrschaft und Kontrolle, sondern mit Kooperation und Verständigung zu tun hat" (ebd. 307), bleibt auch unter Berücksichtigung der von Eder eingeführten Unterscheidung von Poiesis und Praxis unklar. Weder ist Poiesis mit Herrschaft, noch Praxis mit Kooperation gleichzusetzen. Zur Herrschaft werden soziale Interaktionen systematisch erst dann, wenn die Gesellschaft beginnt, sich selbst zu erzeugen. 174 Maturana, Varela, Autopoietische Systeme 1985, 191. 175 Davon unberührt bleibt die Tatsache, daß Menschen imstande sind, bestimmte Zwecke im voraus zu definieren und ihre Aktivitäten auf die Verwirklichung dieses Zieles hin auszurichten. Dieser Fähigkeit liegt indes keine eingeborene Richtung zugrunde. Die Zwecksetzungen können konstruktiv oder destruktiv sein; sie sind das Resultat der konkreten strukturellen Koppelungen der Individuen und verändern sich mit diesen Koppelungen. Dementsprechend folgt die Geschichte der Veränderungen keinem inneren Plan in Richtung auf "edlere", "ethischere" , "universalistischere" Zustände. Solches zu behaupten, ist nur möglich, solange Menschen wie Maschinen beschrieben werden, die einem vorhersagbaren Lauf folgen. In diesem Fall besteht die Vorhersage eines künftigen Maschinenzustandes allein in der Vorwegnahme dieses Folgezustandes im Bewußtsein des Beobachters. Zum Konstrukt einer solchen Beschreibung gehört, daß die Relationen zwischen den Zuständen der Maschine einem Plan, einem Zweck oder einer Funktion folgen. Diese Funktion ist nichts anderes als ein übergeordneter Zusammenhang, in den die Maschine gestellt wird. Wir sehen hier deutlich, daß Teleonomie einen Rahmen konstruiert, in dem die Individuen nicht nach eigenen, sondern nach fremden Zwecken handeln.

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

ständig, und diese Veränderungen erfolgen stets so, daß sie nicht in das Funktionieren des Systems als Einheit eingreifen. Würden die Veränderungen in einem lebenden System nicht der Erhaltung seiner autopoietischen Organisation untergeordnet, würde es sich als Einheit auflösen. Daraus ergibt sich, daß vorgegebene Zwecke und Ziele nicht Merkmale der Organisation von Lebewesen sind: Lebende Systeme existieren oder sind tot. Abstufungen nach Maßgabe irgendeiner internen oder externen Entwicklungslogik gibt es nicht. Vorstellungen über Handeln im Sinne eines Planes gehören zu einem anderen Bereich als dem des autopoietischen Funktionierens. Sie gehören zum kognitiven Bereich des Beobachters, der ein Selbstbeobachter sein kann. 176 Demnach gehören Vorstellungen über Zwecke und Ziele zum Bereich unserer Beschreibungen und sagen etwas aus über die Konsistenz unseres Handelns innerhalb des Bereichs der Beschreibung. Mit anderen Worten: Ziele und Zwecke geben wir uns selbst oder schreiben sie anderen zu, sie liegen nicht im Wesen oder in der Natur unserer Organisation begründet, sondern entstehen aus unserer Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Daher sind wir imstande, bestimmte Zwecke im voraus zu definieren und unsere Aktivitäten auf die Verwirklichung dieses Zieles hin auszurichten. Wenn wir also eigene oder fremde Handlungen beobachten und zu verstehen suchen, dann werden wir sie in einen umfassenderen Zusammenhang einordnen, wir werden ihnen Zwecke zuschreiben und so unser Streben nach kognitiver Konsonanz und Sinn befriedigen. Aber wir werden dadurch der Wirklichkeit nicht näherkommen. Sogar der Selbstbeobachter kann niemals sicher sein, weshalb er sich so und nicht anders verhalten hat. Auch aus einem anderen Grunde ist Eindeutigkeit über die Zuschreibung von Zwecken nicht zu gewinnen. In systemischer Perspektive muß die Isolierung eines Zweckes als Ursache für Handlungen als unhaltbar bezeichnet werden. Denn danach würde eine Komponente des Systems so beschrieben, als reguliere sie das Funktionieren des Gesamtsystems. 177 Solcherart lineare Kausalität steht 176

In der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung liegt begründet, daß sich Menschen ihre

eigenen Ziele geben können. Dies aber nicht nach freier Wahl, sondern in deterministi-

scher Abhängigkeit von der Geschichte ihrer Koppelungen. 177 In systemischer Perspektive wird die Funktionsweise eines organisierten Ganzen wechselseitig von allen Teilen bestimmt. Mit diesem Denken steht nicht in Einklang, wenn man die Funktionsweise des Systems einem bestimmten Zweck und damit einer bestimmten Ursache unterwirft. Nimmt man etwa an, das System verfolge den Zweck einer spezifischen Homöostase, dann wird man sagen, das Verhalten des Systems fmde seinen Grund im Erreichen dieses Zwecks. Eine derartige zweckbezogene Interpretation nehmen z. B. Psychotherapeuten vor, wenn sie der Auffassung sind, einzelne Familienmitglieder würden ihre psychische Gesundheit opfern, um die Familienhomöostase zu retten (so Selvini-Palazzoli und ihre Kollegen, Paradoxon 1977). Nimmt man dagegen an, daß sich das Verhalten eines Systems aus wechselseitig kausalen Prozessen ergibt, wird man - um im Beispiel zu bleiben - das Verhalten der anderen Familienmitglieder berücksichtigen müssen. Dann kann der Patient nicht völlig "altruistisch" sein, wenn er Symptome produziert. Sein Verhalten ist zumindest teilweise vom Gesamtsystem determiniert. Dasselbe gilt natürlich für jegliches Verhalten, auch für kriminelles Handeln.

II. Ordnungstypen

365

Übersicht 19: Stufen der strafrechtlichen Evolution (nach Durkheim, Arbeit 1977).

Soziale Evolution

Strafrechtliche Evolution

Mechanische Solidarität (Ähnlichkeit der Gesellschaftsmitglieder)

Repressiv (Schmerz; Vermögens-, Freiheits-, Lebensverlust)

Organische Solidarität (gegenseitige Ergänzung der Gesellschaftsrnitglieder durch Arbeitsteilung)

Restitutiv (Wiederherstellung des Zustands vor dem Regelbruch)

aber in radikalem Widerspruch zum systemischen Gedanken der zirkulären Vernetztheit der Organisation lebender Organismen. Es kann also keine Rede davon sein, daß ein einziges ,,ziel" ein bestimmtes Verhalten determiniert. Noch weniger im Einklang mit der kognitiven Systemtheorie steht die Idee eines umfassenden Weder bestimmt ein einzelnes Motiv, noch bestimmt das Verhalten einer anderen Person die deliktische Tat. Wir haben schon an anderer Stelle kurz ausgeführt, daß auf der Ebene der Tatbeschreibung der Gedanke der Zirkularität bzw. der wechselseitigen Bedingtheit keine Berücksichtigung finden kann. Das Strafrecht interpunktiert einen Ausschnitt aus dem Kreisprozeß des Verhaltens und nimmt gegen eine bestimmte Verhaltenssequenz Stellung. Es ist - anders als der Therapeut - parteiisch. Es sagt, wie immer komplementär dein Verhalten sein mag, du darfst dennoch nicht töten, körperlich mißhandeln etc. Um diese Verhaltenserwartungen im kollektiven Bewußtsein gegen Übertretungen zu befestigen, müssen sie frei von etwaigen Relativierungen bleiben, die die Berücksichtigung der am Kreisprozeß beteiligten Personen notwendig mit sich bringen würde. Vermutlich sind Strafrechtsnormen, die auf systernischem Denken gründen, gar nicht vorstellbar. Das Zurechnungsobjekt würde sich verflüchtigen. Dennoch kann kein Strafrecht auf eine gewisse Ausweitung des Blickfeldes verzichten. In Notwehrsituationen etwa muß das Verhalten des "Opfers" einer genaueren Betrachtung unterzogen werden (vgl. dazu Hasserner, Provokation 1979, 225). Dasselbe gilt für die Festsetzung der Strafe: Weder kann hier vom Verhalten des Opfers noch von den sonstigen Bedingungen der Tat abgesehen werden. Von dieser prinzipiellen Berücksichtigung des Gedankens der zirkulären Vernetztheit unseres Handelns in der Strafzumessung macht allerdings das Strafrecht eine gewichtige Ausnahme beim Mordtatbestand (§ 211 StGB). Seine Rechtsfolge lautet auf lebenslange Freiheitsstrafe, ungeachtet der besonderen Umstände des Einzelfalles (zur fragwürdigen ,,Rechtsfolgenlösung" vgl. BGHSt 30, 105). Eine solche Fixierung ist vom systemischen Standpunkt aus nicht mehr gerechtfertigt: Wenn wir schon - um der positiven Generalprävention willen - gezwungen sind, auf der Tatbestandsebene die Komplexität des Geschehens extrem einseitig zu Lasten einer Person zu reduzieren, müssen wir jede Chance nützen, spätestens im Stadium der Strafbemessung, die Komplexität zu Gunsten des Straftäters wieder zu steigern. Verweigert sich die Justiz dieser Aufgabe, so beschränkt sich das strafende Geschäft auf seine generalpräventive Funktion. Das Recht wird dann aber lediglich machttheoretisch oder normativistisch interpretiert. Freiheit und Konsistenz mit dem symbolischen Bezugsrahmen wären keine Merkmale des Rechts.

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

Zwecks, der die Geschichte der Menschheit lenkt (siehe zum teleonomischen Denken im strafrechtlichen Verständnis Übersicht 19).178 Teleonomie gehört wie alle Kognitionen zum Bereich unseres Diskurses über unsere Handlungen, aber sie beschreibt unsere Handlungen so, als wären wir für sie nicht verantwortlich. Damit verkennt sie jenen Aspekt der Lebewesen, der sie zu einer Einheit macht, nämlich deren Individualität, Einzigartigkeit und Autonomie und schließlich auf menschliche Lebewesen bezogen - deren Verantwortlichkeit. (7) Moralische Evolution Ebenso wie Teleonomie ist auch Ethik kein Merkmal menschlicher Handlungen. Sie betrifft nicht die Natur, das Wesen oder eine Transzendenz der Handlung, sondern die soziale Verantwortlichkeit des Handelnden. Dementsprechend gehört Ethik in den Bereich der Reflexionen des Beobachters, der über die Legitimität von bestimmten menschlichen Handlungen entscheidet. Diese Entscheidung trifft er entsprechend seiner Anerkennung oder Verwerfung der positiven oder negativen Konsequenzen, die diese Handlungen für das Leben seiner Mitmenschen haben. 179 Auf kollektiver Ebene ist Ethik demnach das Ergebnis interpersoneller Konstruktionsprozesse über das Gute und das Böse. Diese Wertungen resultieren aus der konsensuellen Abstimmung strukturell gekoppelter Individuen, sind also das Ergebnis einer historisch bestimmten Form gesellschaftlicher Zusammenarbeit. 180 178 Eine solche Teleonomie legt die herrschende Selbstbeschreibung des Strafrechts nahe, wonach sich das Strafrecht im Laufe der Geschichte zunehmend ,,humanisiert" habe. Innerhalb der Soziologie hat Durkheim (Arbeit 1977) diese Haltung wissenschaftlich systematisch niedergelegt. Durkheim beschreibt verschiedene Formen der gesellschaftlichen Solidarität: die mechanische, die auf Ähnlichkeit der Gesellschaftsmitglieder und ihrer Haltungen, und die organische, die auf gegenseitige Ergänzung zwischen den Gesellschaftsmitgliedern beruht. Für letztere ist der Zustand größerer Arbeitsteilung charakteristisch. Dem entsprechen verschiedene Arten der rechtlichen Regelungen: repressiv oder restitutiv. Die repressiven Sanktionen zielen auf Beeinträchtigungen des Täters, die restitutiven Sanktionen sollen in der Wiederherstellung des Zustands vor dem Regelbruch bestehen. Da die Arbeitsteilung zunimmt, geht die gesellschaftliche Entwicklung auch in Richtung auf mehr restitutives und weniger repressives Recht. In primitiven Gesellschaften finden wir daher ein überwiegend repressives Recht. Gerade was die frühen Formen des Rechts anbetrifft, ist die Durkheimsche Auffassung empirisch unrichtig; es verhält sich eher umgekehrt: Das restitutive liegt entwicklungsmäßig vor dem repressiven Recht (vgl. dazu Nisbet, Sociology 1975, 128; Schwartz-Miller, Legal evolution 1964, 159; Spitzer, Punishment 1975,613; Diamond, Zivilisation 1976; Hasserner, Steinert, Treiber, Soziale Reaktion 1978, 40). 179 Maturana (Grundkonzepte 1987, 18) führt dazu aus: "Wenn ich in einer Kultur lebe, die Sklaverei als legitime menschliche Beziehung anerkennt und ich teile diese Haltung, dann werde ich die Sklaverei als ethisch legitim betrachten. Wenn ich dagegen, obwohl ich in einer solchen Kultur lebe, Sklaverei als nicht akzeptabel ansehe, dann werde ich die Sklaverei als eine illegitime Form menschlicher Beziehungen ansehen, weil ich die Konsequenzen der Sklaverei für das Leben meiner Mitmenschen nicht als legitim anerkenne. Deshalb kann nur ein Wissenschaftler von einem Beobachter beschuldigt werden, ethisch oder unethisch zu sein, nicht aber die Wissenschaft selbst."

II. Ordnungstypen

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Auffassungen über das Gute und das Böse bilden nach und nach einen invarianten Schatz von Gebräuchen und Gewohnheiten, von Symbolen und Wegweisern. .sie werden - wie Gehlen sagt - ,,kulturelle Immobilien", die nicht nur soziale, sondern auch psychische Systeme dominieren. Sie sind als Orientierungsschemata in die affektlogischen Bezugssysteme eingebaut und tragen maßgeblich zur integration der Gesellschaftsmitglieder und damit zur kulturellen Einheitlichkeit bei. Wie im Zusammenhang mit der Konstruktion der kognitiven Welt ausführlich dargelegt, können wir Menschen der Reflexion über gute und böse Handlungen nicht entrinnen. Die Fähigkeit zur Selbst- und Fremdbeobachtung zwingt zu Selbst- und Fremdbeurteilung. Es macht also keinen Sinn, ganz allgemein über das "Moralisieren" zu lamentieren. Auch diese Klage verbliebe in den kognitiven Bahnen von Gut und Böse. Was aber sehr wohl Sinn macht, ist die soziologische 180 Nach Piaget (Moralisches Urteil 1973, 221) ist das Gute das Ergebnis der Kooperation. In dieser Fonnel stecken zwei grundlegende Behauptungen. Erstens, es gibt das moralisch Gute, und zwar im Sinne einer universalistischen Ethik. Zweitens, die Ontogenese moralischer Prinzipien setzt bestimmte soziale Interaktionsfonnen als konstitutiv voraus. Infolgedessen gilt Piagets Satz nicht umgekehrt: Nicht jede Zusammenarbeit erzeugt das Gute. Es kommt also auf die konkrete Fonn der Kooperation an, und diese Fonn ist gesellschaftlich vennittelt. Mit dieser Behauptung wendet sich Piaget gegen Durkheim, der betont hat, daß es nicht die konkrete Gesellschaft, sondern allein deren "wahre Natur" sei, die eine moralische Orientierungsfunktion übernehmen kann (Durkheim, Soziologie 1976, 120). Wenn sich - so Piaget - Moral eher in dem fmden läßt, was eine Gesellschaft "wirklich zu sein strebt" (Durkheim), so kann Durkheim nicht zugleich ein Modell der Moralentwicklung vertreten, in dem ein passiver Organismus primär durch seine soziale Umwelt geprägt wird. Gerade "wenn man mit Durkheim einen Unterschied zwischen Meinung und Vernunft, der Herrschaft der Gewohnheit und derjenigen der moralischen Nonnen machen will, (muß) man gleichzeitig den Unterschied zwischen einem gesellschaftlichen Prozeß wie dem Zwang, der einfach das Bestehende bestätigt, und einem gesellschaftlichen Prozeß wie der Zusammenarbeit, die vornehmlich eine Methode aufzwingt und so die Emanzipation des Rechtes vom Bestehenden ennöglicht, mit Nachdruck betonen" (Piaget, Moralisches Urteil 1973, 395). In Piagets Gegenmodell der moralischen Entwicklung spielen demnach zwei Reihen von Ursachen zusammen, die auch in der konstruktivistischen Entwicklungstheorie Maturanas von entscheidender Bedeutung sind: Die einen betreffen die angeborenen Fähigkeiten und die konstruktive Eigentätigkeit des Kindes, die anderen hängen mit dem zusammen, was Piaget "Kooperation" und Maturana "strukturelle Koppelung" nennt. Diese Auffassung venneidet einen naiven soziologischen Reduktionismus insofern, als sie die Autonomie des Kindes betont. Sie venneidet aber auch die Fallstricke des Psychologismus, indem sie die notwendigen Abstimmungsprozesse zwischen den Individuen als Ergebnis kollektiver Erziehung begreift. Dazu Piaget: " ... das Kollektivbewußtsein besteht aus nichts anderem als aus einer ,Verallgemeinerung' der Inhalte des individuellen Bewußtseins, umgekehrt aber ... gibt es im individuellen Bewußtsein nichts, was sich nicht aus einer ununterbrochenen kollektiven Ausarbeitung ergeben würde" (ebd. 440). Unterschiede zwischen beiden Positionen ergeben sich hinsichtlich der Frage, was die Moralentwicklung vorantreibt. Für Piaget besteht das Movens "aus den Wirkungen und Gegenwirkungen der Individuen aufeinander", die das Bewußtsein eines notwendigen Gleichgewichts entstehen lassen, "welches das ,alter' und ,ego' zugleich verpflichtet und einschränkt" (ebd. 361). Für Maturana ergibt sich Ethik aus der biologischen Notwendigkeit der Menschen, eine gemeinsame Welt konstruieren zu müssen, wenn sie gemeinsam handeln wollen. Moral (Sprache, Ordnung etc.) ist in dieser Sicht das Resultat der Bemühung, subjektabhängiges Wissen in Fragen von Gut und Böse ein Stück weit zu parallelisieren.

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Kap. 3: Soziologie der Kognition

Fragestellung nach dem jeweiligen Typus der Sozialstruktur, von dem die Definition und Symbolisierung des Guten und Bösen abhängt. Desweiteren erscheint es sinnvoll, nach dem Wirklichkeitsverständnis zu fragen, an dem die ethischen Schemata ausgerichtet sind. Denn die These lautet: Je stärker ontologisches Denken die Gesellschaft prägt, desto rigider sind die Festlegungen des Guten und des Bösen; andererseits: Je ausgeprägter die kollektive Wirklichkeitsdeutung am methodischen Wissen orientiert ist, desto flexibler sind die ethischen Festlegungen. Zwischen diesen beiden Extremen bewegen sich einfache wie komplexe Gesellschaften, so daß sich auch hier wieder zeigt: Von einer gleichsinnigen Entwicklung sozialer und ethischer Strukturen kann nicht gesprochen werden. Betrachten wir zunächst die rigiden Konzeptionen von Gut und Böse: 181 (a) Rigide Ethik In diesem Extrem ist das Gute wie das Böse das Ergebnis der Gewißheit. Auf welche Weise das sichere Wissen um die ethischen Standards gewonnen wird, ist ein Problem der natürlichen Entwicklung der Gesellschaft. In einfachen Gesellschaften ist das Gute durch das bestimmt, was die ,,Natur" zuläßt. In traditionalen Gesellschaften ist das Gute durch eine "übernatürliche" Ordnung definiert. In modemen Gesellschaften schließlich nähert sich das Gute dem Maßstab der Objektivität. Gemeinsam ist diesen Typen der ethischen Gewißheit, daß das Gute durch hochritualisierte Kommunikationen transportiert wird, sei es in der Form der Magie, der Offenbarung eines höchsten Willen oder in der Form wissenschaftlicher Ableitung. Ob Natur, Gott oder wissenschaftliche Methodik als Inbegriff des Guten bezeichnet werden, in jedem Falle ist es eine Entität oder Qualität, die vor dem Menschen und jenseits seiner Handlungen existiert. Damit sichert sich die Moral ontologisch gegen ethische Kontingenzen ab und hier vor allem gegen mögliche Zweifel an der Auszeichnung der eigenen Besonderheit. "Von der Selbstdeutung des auserwählten Volkes über das missionarische Ideal des Gläubigen bis hin zu modemen geschichtsphilosophischen Endzeithoffnungen und Utopien reicht die Bandbreite des denkbaren und kommunizierbaren Guten."182 Man sieht, der Typus der rigiden Festlegung des Guten findet sich nicht nur in den archaischen Religionen einfacher Gesellschaften, sondern auch in allen Hochreligionen und in der "civil religion" der modemen Gesellschaften. 183

181 Im folgenden stütze ich mich zum Teil auf Eders Darstellung der gesellschaftlichen Konstruktion des Guten und des Bösen (vgl. Vergesellschaftung 1988, 88). Allerdings bleibt bei Eder der für mich entscheidende erkenntnistheoretische Aspekt des Problems der moralischen Evolution unterbelichtet. Während Eder die Typen der gesellschaftlichen Defmition des Guten an den Organisationsgrad der Gesellschaft anbindet, hebe ich stärker darauf ab, ob das Gute an objektiver Erkenntnis oder an methodischem Wissen ausgerichtet wird oder nicht. 182 Eder, Vergesellschaftung 1988,90. 183 Als Beispiel für eine ri"gide Symbolisierung des Guten in der Geschichte der abendländischen Kultur kann die Gesellschaft Israels genannt werden. Sie kennt die Festlegung des Guten auf einen Gott. Das dabei entstehende Theodizeeproblem (Rechtfer-

II. Ordnungstypen

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Mit der eindeutigen Symbolisierung des Guten geht ein nicht minder scharf geschnittenes Bild des Bösen einher. Es ist stets die andere Seite des Guten: Anti-Natur, Anti-Gott, Anti-Objektivität. In allen Gesellschaften ist diese GegenGestalt in die spezifische Ausdrucksform der Hexerei und Teufelei gebracht worden. Sie findet sich in einfachen ebenso wie in traditionalen Gesellschaften mit dem Unterschied, daß in letzteren das Böse zunehmend "politisiert" wird. 184 Die politisch radikalste Symbolisierung deutet das Böse als eine von zwei Seiten der Welt. Am extremsten ist die Zweiteilung der Welt in Gut und Böse in der manichäischen Tradition gedacht worden. 185 Ob dieses absolut Böse dann als die andere Seite der Natur, Gottes oder des wissenschaftlichen Denkens begriffen wird, hängt von den historischen Erfahrungen dieser Gesellschaften ab. In jedem Fall ist das Böse personifiziert, eindeutig benannt und ontologisch verabsolutiert. Das ändert sich auch in modernen Gesellschaften nicht, soweit diese trotz der Durchrationalisierung von Ethik und Religion am Wahrheitsanspruch festhalten. Eder macht darauf aufmerksam, daß es im frühchristlichen Glauben den Teufel noch gar nicht gab. 186 Erst seit etwa 1000 n. ehr. wurden Hexen und Sabbate als ,,reale" Teufelswerke anerkannt. Aber der eigentliche Aufschwung des Teufelsglaubens setzt mit dem Beginn der frühmodernen Gesellschaft ein. Die alte Zaubertradition, die friedlich neben den offiziellen religiösen Praktiken bestanden hat, nimmt nunmehr eine enge Verbindung mit der symbolischen Definition des Bösen an. Der Teufel wird - wie Eder sagt - zum Schlüssel der symbolischen Ordnung der Gesellschaft. Was begünstigte seine Institutionalisierung und enorme Funktionalisierung gerade an der Wende vom Spätmittelalter zur Neuzeit? An dieser Frage läßt sich die politische Bedeutung der spezifisch modernen Konstruktion des Guten und Bösen studieren. 187

tigung Gottes gegenüber den Mängeln der Welt) ist nach Max Weber der zentrale Mechanismus kultureller Evolution in der Moderne geworden (vgl. hierzu die Untersuchungen von Schluchter, Rationalismus 1979; ders., Ethik 1981). Das andere Extrem, die flexible Festlegung des Guten, kennt Griechenland, in dem der Markt der Meinungen für das Gute stand. Gott und Markt sind somit jeweils radikale Lösungen des Problems der Festlegung des Guten. Daß beide Lösungen mit einer komplexen gesellschaftlichen Struktur inkompatibel seien (so Eder, Vergesellschaftung 1988, 91), läßt sich freilich nur behaupten, wenn man sich ,,reine" Lösungen vorstellen kann. Solche aber hat es weder in Israel noch in Griechenland gegeben. Macht und Normen, die durch Gott oder die Rationalität abgesteckt waren, haben stets den symbolischen Bezugsrahmen Grenzen gesetzt. 184 Hexerei und Teufelei sind für Gesellschaften charakteristisch, in denen die Menschen dicht gedrängt wohnen und zugleich einen geringen Organisationsgrad besitzen. So hat Mary Douglas gezeigt, daß in "engen" Gesellschaften, in denen die Nachfolge von Fübrerpersönlichkeiten nicht rigide geregelt worden ist, das Phänomen der Hexerei eine besondere Bedeutung erhält. In Hirten- und Jäger- / Sammler-Gesellschaften gilt dieser Zusammenhang offenbar nicht; siehe dazu Douglas, Ritual 1974. 185 Zur Gehorsams- und Schulderfahrung einer auf dem Absoluten gegründeten Ethik vgl. KargI, Schuldprinzip 1982, 60. 186 Eder, Vergesellschaftung 1988, 93. 24 Kargl

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Kap., 3: Soziologie der Kognition

Der Beginn der kulturellen Evolution der Moderne hat mit der organisatorischen Schwäche der mittelalterlichen Gesellschaft zu tun. Der Feudalismus ist im 16. Jahrhundert nicht mehr imstande, Kontinuität und Integration zu gewährlei steno Kirche und Staat befinden sich in der Krise; die obskurantistische Kruste des mittelalterlichen Weltbildes zerbricht. Das Wissen von Ärzten und Gelehrten stellt zunehmend die theologischen Konstruktionen der Wirklichkeit in Frage. In dieser Situation, in der die Hexe ihrer Heilfunktion beraubt ist, kann sie zur bösen Hexe erklärt werden. 188 Sie ist nun für die Krise der Gesellschaft, für Aufstände und Teuerungsraten, für Elend und Hunger verantwortlich. Nicht Fürsten und Bischöfe quälen das Volk, sondern der Teufel und Hexen. Damit wurde eine optimale Verkehrung der faktischen Verhältnisse im Kollektivbewußtsein möglich: Es ist nicht die Obrigkeit, die an allem Unglück schuld ist, sondern der Teufel, vor dem das Volk in Schutz genommen werden muß. So übernimmt die ,,Erfindung" des Teufels die Funktion der sozialen Integration; er kompensiert, was die Definition des Guten unter dem Eindruck des Leidens nicht mehr zu leisten vermag. Auf Dauer war freilich mit den symbolischen Mitteln der Hexerei und des Teufelswahns sozialer und politischer Protest nicht zu unterdrücken. Diese Mittel wurden abgelöst durch eine Konstruktion des Guten und des Bösen, die nicht minder am Absoluten orientiert war wie der alte Gottes- und Teufelsglaube. Es war der Glaube an ein objektives Wissen, das vermeintlich die systematische Anschauung der Natur vermittelt. 189 Naturwissenschaft gab nun dem ethischkulturellen Pfad die Richtung an. Sie untergrub zwar die Fundamente des alten 187 Zur Hexenverfolgung als konstitutive Erfahrung der europäischen Moderne vgl. Michelet, Die Hexe 1974; Honegger, Die Hexen 1978; Heinsohn, Privateigentum 1984; Heinsohn, Steiger, Frauen 1985; dies., Speculum 1987, 200; Dülmen, Imaginationen 1987,94. 188 Die Verwandlung der guten Hexe, die alte Zaubertraditionen fortsetzte, in eine böse Hexe, die mit dem Teufel im Bunde steht, ist eine ,,Erfindung" der Inquisition. Die Inquisition erzeugte ein System, das ihr Hexen im Überfluß lieferte. Das wichtigste Mittel in diesem System war die Folter. Denn jede "überführte" Hexe hat weitere Hexen benannt. So kann man sagen, daß die kulturelle Ausgestaltung des Hexenglaubens und des mit ihm verbundenen Teufelsglaubens ein Ergebnis der Folter ist. Dieser institutionalisierte Hexenwahn brachte die Menschen dazu, sich gegenseitig zu verfolgen und die wahren Ursachen der sozialen Verelendung zu übersehen. 189 Die Hexe steht am Beginn der Entwicklung zur Aufklärung, und sie verkörpert zugleich deren ,,Dialektik". Die Hexe repräsentiert zunächst das Gute. Sie kennt Heilpflanzen, hilft bei Geburten und lauscht den Hausgeistern. Das macht sie zu einer progressiven Kraft gegen die Sterilität der mittelalterlichen Kirche. Damit wird der Priester, der symbolische Repräsentant der alten Gesellschaft, zu ihrem erbitterten Gegner. In dem Maße, in' dem das Wissen über die Natur zum Wissen von Gelehrten und Ärzten wird, ist die Hexe nicht mehr notwendig. Sie wird ihrer Heilfunktion beraubt und zur bösen Hexe erklärt. An dieser Entwicklung läßt sich die spezifisch moderne Konstruktion des Guten und Bösen studieren. Die Hexe verkörpert diese Konstruktion in ihrer Doppelgestalt als Aufklärerin und Zauberin, als Heilbringerin und Zerstörerin. Damit ist sie - wie Michelet (Die Hexe 1974) sagt - ein moderner Mythos. Der Arzt und schließlich der Intellektuelle haben den Mythos fortgesetzt, sie sind zu neuen Symbolgestalten der Dialektik der Aufklärung geworden.

II. Ordnungstypen

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Aberglaubens, aber sie schuf zugleich Wissen und Werte, die universalistisch sein mußten, weil die Natur selbst ihren Inhalt bestimmte. Auch wenn das Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis Aufklärung war, ihre objektivistische Ausrichtung arbeitete weiter an der gesellschaftlichen Konstruktion des Bösen mit. Die Aufklärer waren über sich selbst nicht aufgeklärt. Sie sahen nicht, daß ihr Wissen nur eine von vielen Möglichkeiten war, "Realität" zu konstruieren. So trug ihr Wissen nicht nur dazu bei, Kranke zu heilen und Maschinen zu bauen, es definierte auch, was nicht natürlich und deshalb nicht lebenswert, was gegen die Natur und deshalb böse war. 190 Eine solchermaßen über sich selbst unaufgeklärte Aufklärung ist unschwer zu Zwecken der Ausgrenzung und Unterdrückung zu instrumentalisieren. 191 Sie ist wie alle Wissenschaft, die sich im Sinne von Objektivität für bare Münze hält, ohnmächtig. In dem Maße, in dem sie verkennt, daß sie statt absoluter Erkenntnis nur methodisches Wissen produziert, geht sie ihrer kritischen Funktion verloren: Sie produziert mit ihren Unterscheidungen absolute Werte. Normalität ist nun - weil mit der Natur identisch - der höchste Wert. Was von dieser Norm abweicht, repräsentiert das Jenseits von Natur und Kultur. Wie ehedem die böse Hexe repräsentieren schließlich der Jude, der Zigeuner, der Homosexuelle, der Geisteskranke und der Kriminelle die Rolle derj~nigen, die außerhalb der menschlichen Gemeinschaft stehen. 192 Sie genügen nicht den universalistischen Maßstäben der Normalität, die der Wissenschaftler mit Blick auf Wahrheit und Objektivität erzeugte, ohne zu sehen, daß er damit das Werk der Inquisition fortsetzte. Es ist diese spezifische Blindheit gegenüber dem eigenen Tun, die die Aufklärung "dialektisch" aufhebt und daher Unterdrückung sowie rigide Ethik nicht zu überwinden vermag. 193 190 Zu einer soziologischen Deutung der Aufklärung, die beide Seiten der "Dialektik" reflektiert, vgl. Eder, Geschichte 1985; Vergesellschaftung 1988,256. Das Gegenmodell ist die Deutung der Aufklärung, die nur die ausgrenzende, die herrschaftsrelevante, normierende Seite der Dialektik thematisiert. Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten von Foucault. Siehe zu den Grenzen der Aufklärung, für die Ausschwitz als mahnendes Beispiel dient, die Theorie des Antisemitismus von Claussen, Aufklärung 1987. Heute besteht weithin Einigkeit darüber, daß Aufklärung nur dann eine Zukunft hat, wenn wir lernen, "gegen" das Denken zu denken. Wir müssen verstehen lernen, warum sich hinter dem Rücken der Wissenschaften so viel Zerstörerisches durchsetzen konnte. Zu diesbezüglichen Reflexionen vgl. die Sammelbände von Kamper, van Reijen, Vernunft 1987; Rüsen, Lämmert, Glotz, Aufklärung 1988. 191 Zum Schicksal der bürgerlichen Aufklärung in Deutschland vgl. Dülmen, Aufklärer 1986; Habermas, Politik 1988,59. 192 An diesen Prozessen der Ausgrenzung sind nicht nur die Naturwissenschaften beteiligt: ,,Die psychologisch aufgeklärte, sich als Wissenschaft verbrämende Tyrannei magischer Mächte (von der Astrologie bis zur Teufelsaustreibung und zum modemen Hexenglauben) setzt das Werk der Inquisition wieder fort. Das Paktieren mit dem Teufel ist ein Versuch, das modeme Experiment eines Umgangs der Menschen miteinander ,ohne Autorität' zu beenden. Der Teufel wird zur Ersatzautorität: Er steht für den Glauben an dämonische Mächte, denen wir notwendig unterworfen sind" (Eder, Vergesellschaftung 1988, 96).

24"

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Kap. 3: Soziologie der Kognition Übersicht 20: Typen rigider Ethik.

~

Evolution Ethische Gewißheit

Einfache Gesellschaften

Traditionale Gesellschaften

Modeme Gesellschaften

Natur

Gott; übernatürliehe Ordnung

Objektivität; Normalität

Defmition des Bösen

Anti-Natur; Geister

Teufel; Hexe

Anormalität

Grund der Gewißheit

Magie

Offenbarung

wissenschaftliche Ableitung

Defmition des Guten

(b) Flexible Ethik Ein Wirklichkeitsverständnis, das von der Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis ausgeht, kann das Gute und das Böse nicht nach dem Muster des einzig richtigen Zugangs zur Realität konstruieren. Es muß anerkennen, daß es verschiedene kognitive Bereiche des Ethischen gibt und daß diese gleichermaßen gültig sind. Wenn eine Gesellschaft sich dieses Verständnis der Welt zu eigen machen will, dann besteht das Problem der Vereinheitlichung dieses Verständnisses darin, einen gemeinsamen subjektabhängigen Erfahrungsbereich zu erzeugen, der bei den Gesellschaftsmitgliedern zu einer vergleichbaren Ontogenese und damit zu einer vergleichbaren Wirklichkeit führt. 194 Eine Gesellschaft, die dieses Ziel als für sich gültig defIniert hat, muß eine offene, "liberale", unterdrückungsfreie sein. Nur Gesellschaften, die die biologische wie kognitive Autonomie ihrer 193 Vgl. zu der noch immer unübertroffenen Darstellung der "Dialektik der Aufklärung" Horkheimer, Adomo, Aufklärung 1973. 194 Maturana betrachtet die kulturelle Einheit des Menschen in der Tat als ein zu erstrebendes ethisches Ziel, da seines Erachtens die Einsicht in die biologische Einheit den Wunsch nach kultureller Einheit nach sich zieht. Diese kulturelle Einheit besteht in der gemeinsamen Anerkennung unterschiedlicher kognitiver Bereiche, also im Wissen um die Subjektabhängigkeit der Erkenntnis. Um dieses Grundziel zu erreichen, ist es erforderlich, daß die Gesellschaftsmitglieder kollektiven Erfahrungen ausgesetzt werden, die den Wunsch nach Toleranz in ihnen erzeugen. Von der individuellen Ontogenese hängt es somit ab, welche ,,Art der Autopoiese bzw. Konnektivität des Nervensystems tatsächlich in jedem einzelnen Menschen verwirklicht werden ... " (Maturana, Kognitive Strategien 1985, 308).

11. Ordnungstypen

373

Mitglieder respektieren, führen zu Erfahrungen, die die Menschen veranlassen, eben dieses Ziel der individuellen Autonomie verwirklichen zu wollen. In solchen Gesellschaften entledigt sich die Definition des Guten der rituell reglementierten Kommunikation, der Bindung an das Absolute, Wahre oder Natürliche. Sie wird Sache diskursiver Kommunikation. 195 Das gilt für einfache Gesellschaften ebenso wie für moderne. Der Tendenz nach ist diese Variante der Symbolisierung des Guten von der hellenischen Gesellschaft des klassischen Altertums getragen worden. Griechenland kennt nicht die rigide Festlegung des Guten auf Gott; es überläßt die kulturelle und ethische Definition der Stadt und dem Markt der Meinungen auf dem öffentlichen Platz, der Polis und der Agora. Daß der Markt als funktionales Äquivalent für das Gute mit komplexen gesellschaftlichen Strukturen teilweise inkompatibel ist, sollte freilich nicht dazu führen, das Heil im anderen Extrem, der rigiden Lösung, zu suchen. Diese erzeugt unweigerlich eine Kultur der Macht und des Kampfes, womit jene Entwicklung der Selbstbefreiung blockiert wird, die mit der Aufklärung in Gang gesetzt wurde. 196 Will man diese Seite der Dialektik der Aufklärung stärken, dann muß gemäß der ersten ethischen Implikation der Erkenntnisbiologie der Versuchung der Gewißheit widerstanden werden. Für den ethisch-kulturellen Bereich kann dies nur heißen, das Gute und das Böse so flexibel zu definieren, daß das Band der kulturellen Einheit zwischen verschiedenen ethischen Kognitionen nicht zerschnitten wird. Da objektive Erkenntnis nicht zu haben ist, gibt es keine andere Basis für die kulturelle Einheit der Menschen als unseren Wunsch, eben diese Einheit zu erreichen. Der Wunsch nach ethischer Einheit wiederum ist einzig darin begründet, daß wir uns in unserem subjektabhängigen kognitiven Bereich als äquivalent ansehen. Aus der Erkenntnis der biologischen Einheit, die mit unserer Selbstdefinition als Menschen zusammenhängt, erwächst somit der Wunsch zur kulturellen Einheitlichkeit.

195 Zu den entwicklungspsychologischen und sozialen Bedingungen von Diskursen vgl. Habennas, Diskursethik 1983;53; ders., Moralbewußtsein 1983, 127. 196 Tatsächlich zählen Klassenkampf und Kampf mit der Natur zu den Schlüsselbegriffen der Moderne. Maturana lastet dies zum Teil dem Umstand an, daß zu Beginn des Modernisierungsschubs die Beteiligung der Emotionen an allen unseren Handlungen, also auch an der Rationalisierung der Gesellschaft geleugnet wurde: "Keine objektive ' Wahrheit und keine unabhängige transzendentale Realität können unsere Handlungen validieren, sondern unsere Präferenz für die apriori vorhandenen Bedingungen oder Begriffe, die wir explizit oder implizit als Fundament für die Rechtfertigung unserer rationalen Argumente verwenden ... Wir sagen, daß objektives Wissen uns bestimme. Wenn wir dagegen die Beteiligung der Emotionen anerkennen, können wir nicht leugnen, daß es die Präferenz (Emotion) ist, die uns bestimmt. Gleichzeitig können wir erkennen, daß soziale Phänomene auf Liebe gegründet sind, und daß es Liebe als fundamentale Emotion in der Anerkennung der Koexistenz ist, die den zwischenmenschlichen Beziehungen und Interaktionen Stabilität, Ordnung, Kohärenz und Hannonie verleiht, nicht aber Vernunft, Interesse oder Macht" (Grundkonzepte 1987, 19).

374

Kap. 3: Soziologie der Kognition

Es gibt aber nicht wenige Menschen, denen die kulturelle Verschiedenartigkeit als Ausdruck biologischer Unterschiede erscheint. Diese wollen eine andere Welt als die der Kooperation: Sie sichern Einheitlichkeit durch Nonnalisierung, Disziplinierung, Kontrolle und notfalls durch Ausgrenzung. 197 Die herrschende Praxis der sozialen Integration ist noch weitgehend solchen Mechanismen der rigiden Moral verhaftet. Wie aber kann eine flexible Moral ihren Einflußbereich zu erweitern suchen, ohne unter die Räder der rigiden Moral zu geraten? Die Antwort hierauf fallt schwer. Die Versuchung ist allzu verlockend, wenigstens gegen den objektivistischen Erzfeind, gegen die Ontologie, die Waffe der wissenschaftlichen Gewißheit zu richten. Schon wollen einige Autoren Maturanas These von der zirkulären Organisation des Lebendigen und vom Strukturdetenninismus der autopoietischen Systeme in den Rang des ontologischen Wissens erheben. 198 Nichts wäre verkehrter, denn nichts würde gewisser die Spirale der "Dialektik der Aufklärung" vorantreiben. Der neue Teufel wäre rasch ausgemacht, und mit ihm wären bald die alten Instrumente der Denkverbote und der Hexensabbate installiert. Die Konstruktion des Guten und des Bösen verliefe nach dem bewährten Muster der objektiven Erkenntnis, die nur die zweiwertige Logik von Wahrheit und Falschheit zuläßt. 199 Was ist also zu tun, wenn wir uns für eine Gesellschaft ohne Unterdrückung entschieden haben, und wenn wir andere von unserem Entschluß überzeugen wollen? Wir müssen zuallererst für einen kulturellen Wandel in Richtung auf eine flexible Ethik eintreten, die das Bewußtsein für unsere eigene Verantwortlichkeit stärkt. Wenn wir uns dessen bewußt sind, daß keine objektive Wahrheit und keine unabhängige transzendentale Realität unsere Handlungen nach gut und böse sortieren, sondern unsere ureigensten affektlogischen Präferenzen, dann werden wir uns für die Folgen unserer Handlungen verantwortlich fühlen, und wir werden berechtigt sein, andere für die Folgen ihrer Handlungen zur Verant197 Die Ethnopsychiatrie hat diesen Befund in zahlreichen Feldstudien gesichert und selbstkritisch gegen die eigene Disziplin gewandt. Vgl. dazu Kisker, Subjekt 1983; zum biologischen Krankheitsbegriff vgl. Keupp, Krankheit 1979, 199. 198 So insbesondere Dell, Epistemologie 1984, 147; auch Bateson scheint sein Konzept der Rekursivität zu ontologisieren, wenn er davon ausgeht, daß die Epistemologie die Ontologie umfasse. Über seine Handhabung des Begriffs ,,Epistemologie" führt er aus: " . . . wenn ich diesen Begriff gebrauche, schließe ich durchaus einige Aspekte der Ontologie ein" (Geist 1983). 199 Dieser zweiwertigen Logik erliegen wir, wenn wir die ethischen Überzeugungen allein auf die Vernunft als der einzig verläßlichen Basis stellen wollen. Maturana setzt statt dessen auf "sympathetische" Werte, auf"das menschliche Bedürfnis nach gegenseitigem Respekt und Vertrauen" (Einleitung 1985,31). In diesem Bedürfnis sieht Maturana die "irrationale Basis in der Erfahrung", die die Vernunft braucht, um ethische Probleme bedenken zu können. Menschliches Wohlergehen hat als einzigen Maßstab den Menschen. Das einzusehen, bedeutet nach Maturana, die Verantwortung für das Gute und das Böse zu übernehmen, "das wir uns selbst und den Menschen zufügen, ohne nach trügerischen transzendentalen Werten zu suchen, um unsere Blindheit zu rechtfertigen. Das Verständnis der operationalen Geschlossenheit des Nervensystems hat mir hierfür die Augen geöffnet" (ebd. 31).

11. Ordnungstypen

375

wortung zu ziehen. Dasselbe Recht werden wir unserem Widersacher im Wettstreit um eine nützliche Wirklichkeitskonstruktion zugestehen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den anderen auch dann nicht mit dem Stigma des absolut Bösen zu versehen, wenn er selbst mit diesem Mittel arbeitet. Das bedeutet indes keinen Nachteil. Denn Unterdrückung beschränkt nicht nur die individuelle Variabilität der Gesellschaftsmitglieder, sondern engt auch den eigenen Handlungsspielraum ein. Handeln dagegen, das auf diskursiver Kommunikation beruht, erweitert unseren kognitiven Bereich. Auf diese Weise lernen wir, die Struktur des sozialen Systems zu beobachten und zu beschreiben. In dieser Eigenart unseres kognitiven Bereichs liegt die Chance zu kulturellem Wandel begründet. Der Chilene Maturana scheut für die kulturellen Veränderungen, die in vielen Teilen der Welt notwendig sein werden, um das Überleben der Menschen zu sichern, das Wort Revolution nicht: ,,Aufgrund der Eigenart unseres kognitiven Bereiches können wir diesen Bereich stets durch unsere Erfahrungen erweitern oder einschränken, und wir im Westen können unser soziales System immer in begriffliche Modelle fassen und damit von außen betrachten. Dies ist in sich eine Erfahrung, die die Ethik eines Menschen verändern und ihn zu einem Revolutionär machen kann, d. h. zu einem Menschen, dessen Ethik verschieden ist von jener, die von seinem sozialen System gefordert wird, und der ein derartiges soziales System dadurch ablehnt, daß er durch sein Verhalten ein anderes bekräftigt. Ethische Veränderungen führen zur Revolution. Aus diesem Grunde verweigern Gewaltherrscher ihren Mitmenschen durch ökonomische, religiöse, politische und militärische Unterdrückung die Möglichkeit, Beobachter ihres eigenen sozialen Systems zu sein, und damit die Möglichkeit, dieses zu einem besseren zu verändern."2°O c) Zusammenfassung

Die kognitive Ordnung vereinigt alle Merkmale, die von den speziellen Ansätzen der zufälligen, der machtförmigen, der konformistischen und der ideellen Ordnung verabsolutiert werden. Die allgemeinen Normen und Werte des symbolischen Bezugsrahmens dienen ihr als Maßstäbe der Rechtfertigung konkreterer Normen. Diese generellen Grundsätze ergeben sich aus rationalen Diskursen, die wiederum ihre irrationale Basis in den biologischen Bedürfnissen der Menschen nach struktureller Koppelung, nach gegenseitigem Respekt und Achtung haben. Auf diese Weise verfügt eine soziale Ordnung über eine relativ generelle Identität. Da die allgemeinen Normen jedoch viel zu abstrakt sind, um das konkrete Handeln genügend regeln zu können, bedürfen sie der Umsetzung in spezifische Regeln für spezifische Situationen. Dazu dienen besondere Verfahren der Entscheidungsbildung, die konkretere Bestimmungen als die Grundprinzipien enthalten, im Vergleich zu situationsgebundenen Regelungen jedoch von formaler Natur sind. Diese Verfahrensregeln bestimmen also die Form, nach der spezifische Regeln gebildet werden, aber nicht den Inhalt dieser Regeln. Im Strom des 200

Maturana, Kognitive Strategien 1985, 311.

376

Kap. 3: Soziologie der Kognition

ständigen Wandels der konkreten Normen sind die Verfahrensregeln relativ stabil, deshalb müssen sie in einem gemeinschaftlichen Konsens verankert sein. Dieser Konsens ist im Gegensatz zur kulturellen Einheit auf der Ebene des symbolischen Bezugsrahmens, der sich aus der biologischen Einheit der Menschen ergibt, stets von der konkreten Koppelungsgeschichte der interagierenden Individuen abhängig und daher historisch bestimmt. Infolgedessen sind die konsentierten Verfahrensregeln partikularer und zeitlich befristeter als die generellen Werte. Diese Regelebene sorgt für eine gewisse Geschlossenheit der kognitiven Ordnung durch die Vergemeinschajtung der Gesellschaftsmitglieder. Wo diese gemeinschaftliche Verankerung der Institutionen durch den Konsens über Verfahrensregeln fehlt, ist nicht mit einer Regelmäßigkeit des Handeins zu rechnen. Diese ordnungsstiftende Kraft des Konsenses, die ihre Wurzel in der biologischen Unmöglichkeit objektiven Erkenntnisgewinns hat und daher strukturelle Koppelungen erzwingt, übersehen die ökonomische Theorie und die Machttheorie. Weder Eigeninteresse noch Zwang vermögen eine dauerhafte Ordnung zu konstituieren. Beide Faktoren rücken situative Konstellationen in den Mittelpunkt der Bestimmung des Handelns. Damit aber setzen sie das Handeln den Zufalligkeiten ökonomischer oder politischer Herrschaft aus. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß eine soziale Ordnung, die sich nur auf normativer Geregeltheit des Handeins stützt, im Konformismus und im Stillstand erstickt. Es ist deshalb notwendig, daß sich die Entscheidungsverfahren für neue Informationen und veränderte Interessenlagen öffnen können. Nur dadurch ist der Wandel spezifischer Regeln möglich, der komplementär zum Wandel der Interessenlagen und der kognitiven Strukturen erfolgen muß. Die durch die Berücksichtigung der Regelungsstufe der Interessen ermöglichte Ko-Evolution von Ordnung und Individuum, von Schloießung und Öffnung, von normativen und situationalen Faktoren bedarf ihrerseits des Schutzes durch eine Instanz, die sich entweder auf eine zentrale Sanktionsgewalt oder auf eine sonstige Autorität stützt. In staatlichen Gesellschaften stützt sich die Sanktionsgewalt auf Macht. Diese muß dafür sorgen, daß die speziellen Normen auch im Konfliktfall durchgeführt und durchgesetzt werden. Die Macht und die von ihr eingesetzten Sanktionsmittel müssen selbst von der Gemeinschaft legitimiert und letztlich im symbolischen Bezugsrahmen verankert sein. Ein Verstoß gegen den symbolischen Bezugsrahmen läßt sich immer dann konstatieren, wenn Macht die menschliche Freiheit der aufgezwungenen Ordnung opfert. Von kognitiver Ordnung kann demnach nur dann gesprochen werden, wenn sich die Merkmale der Interessen, der Macht, der Norm und der Werte in sozialen Institutionen vereinigen. Eine solche Vereinigung setzt die lnterpenetration der entsprechenden sozialen Subsysteme und die Herausbildung entsprechender Vermittlungsebenen in den jeweiligen Interpenetrationszonen voraus. Als besonders einprägsames Beispiel einer solchen Vermittlungsebene nennt Münch das Vertragsrecht: "Soweit es verpflichtenden Charakter besitzt, ist es in einer gemeinschaftlichen Solidarität verankert. Es ist aber gleichzeitig ein Normensystem, das der individuellen Aushandlung gegenseitiger Verpflichtungen nach Interes-

11. Ordnungstypen

377

senlagen einen großen Spielraum beläßt. Um konsensuell getragen zu sein, muß es über allgemeine, gemeinsam geteilte Grundsätze, wie die Prinzipien der Selbstverantwortung, Gleichheit und Vernünftigkeit, subsumiert werden können. Zur Durchsetzung im Konfliktfall bedarf es schließlich auch der Anwendung von Macht, die allerdings wiederum durch die anderen Subsysteme kontrolliert und geöffnet werden muß. Das Vertragsrecht ist in diesem Fall aus der gegenseitigen Durchdringung von schließender Vergemeinschaftung und öffnendem Tausch, generalisierendem Diskurs und spezifizierender Herrschaft zu erklären, und es fördert wiederum deren weitere gegenseitige Durchdringung, sobald es etabliert ist." 201 Im folgenden soll gezeigt werden, daß die Interpenetration der Merkmale des Handlungsbezugsrahmens kein Spezifikum moderner, okzidentaler Gesellschaften und ihrer Subsysteme ist. Am Beispiel des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften läßt sich unschwer belegen, daß alle vier genannten Faktoren bereits die Konfliktregelungsmechanismen der frühen Jäger bestimmt haben. Was die vorstaatlichen von den staatlichen Gesellschaften unterscheidet, ist das Gewicht der einzelnen Faktoren. In dieser Hinsicht sind beide Gesellschaften - so die These - ungefähr gleich weit vom Ideal eines dynamischen Gleichgewichtszustands zwischen den vier Handlungsfaktoren entfernt. Wenn dies zutrifft, dann ist die herrschende Auffassung von einer stetigen Aufwärtsentwicklung des Rechts empirisch falsch. Wichtiger aber noch ist die Schlußfolgerung, daß der Vergleich der Rechtsinstitutionen dann eine Lernchance bietet. Diese Chance hat man bisher mit der These des Evolutionismus vertan. Indem man annahm, daß es in vorstaatlichen Gesellschaften noch gar kein Recht gegeben habe, konnte man sich auch nicht komparativ auf einen gemeinsamen Gegenstand beziehen. Es wird also im folgenden insbesondere darauf ankommen, einen Begriff vom Recht zu entwickeln, der beide Gesellschaftsformen umfaßt. Erst wenn dies gelingt, können wir die spezifischen Differenzen der Rechtssysteme erkennen und die Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen.

201

Münch, Handeln 1982,635.

Dritter T eil

Kognitionstheorie der Normativität

Kapitel 4

Ordnung durch Recht I. Recht in vorstaatlichen Gesellschaften 1. Theorie des Evolutionismus

Wie im Bereich der ethischen Kognitionen ist auch im Recht die Hypothese der Entwicklung von niedrigeren Formen zu höheren Stufen kognitiver Strukturen weit verbreitet. Hier wie dort wird ein systematischer Zusammenhang zwischen der natürlichen Evolution - dem Stand der technischen Entwicklung der Gesellschaft - und der rechtlichen Evolution behauptet. Nehmen wir als Beleg für den evolutionistischen Gedanken Henry Maines berühmten Satz, der die Essenz seines Buches ,,Ancient Law" von 1861 widergibt: " ... we may say that the movement of the progressive societies has hither to been a movement from Status to Contract." 1 Für Maine folgt der rechtliche Fortschritt entlang einer Entwicklungstendenz, die ihren Ausgang beim Status der Gesellschaftsmitglieder nimmt und die ihre Vollendung im Vertrag findet. Es ist dies ein Weg, der nach dem Verständnis des liberalen Maine von der Unfreiheit zur Freiheit führt.2 Nach dieser Auffassung befand sich in frühester Zeit der Mensch ausschließlich in den Fesseln familiärer Bindungen. Sein Status war allein aus seinen Beziehungen innerhalb der Familie oder Sippe abgeleitet, weshalb dieser als gänzlich unfrei angesehen wurde. Sydney Hartland hat die damals allgemein verbreitete Auffassung von der automatischen Unterwerfung der "Wilden" unter den Gruppenzwang so beschrieben: "Der Wilde ist weit davon entfernt, das freie und unbehinderte Geschöpf zu sein, wie Rousseau es sich vorgestellt hat. Im Gegenteil, er ist von allen Seiten eingeschlossen durch die Gebräuche seines Stammes, eingebunden in die Ketten einer uralten Überlieferung, nicht nur in seinen sozialen Beziehungen, sondern auch in seiner Religion, seiner Zauberei, seiner Wirtschaft und seiner Kunst, kurz: in jeder Beziehung seines Lebens. Diese Fesseln nimmt er als selbstverständlich hin. Niemals versucht er auszubrechen."3 Diese Meinung Maine, Law 1977. Das war der Grundgedanke des Evolutionismus im Recht. Er ist allerdings spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts fragwürdig geworden. Nach Otto von Gierke erwies sich die Vertragsfreiheit als "furchtbare Waffe in der Hand des Starken" und ein "stumpfes Werkzeug in der Hand des Schwachen". Sie wurde zur ,,Freiheit eines freien Fuchses in einem freien HühnerstalI" (Roger Garaudy). 3 Hartland, Primitive Law 1924, l38. 1

2

382

Kap. 4: Ordnung durch Recht

fügte sich in die von Morgan begründeten Hypothesen von Gruppenehe und Gruppeneigentum. Sie wurde nicht nur von Henry Maine und den angelsächsischen Anthropologen des 19. Jahrhunderts, sondern auch von Max Weber übernommen, der die Ordnung der "Wilden" etwas abschätzig als "organisch bedingte Regelmäßigkeiten" bezeichnete. 4 Auch in der deutschsprachigen Jurisprudenz finden sich die Vorstellungen von der quasi reflexhaften Befolgung von Regeln in der Frühzeit. So kennzeichnet Theodor Geiger "spontane Reizantworten" als Charakteristikum vorrechtlicher Gesellschaften. 5 Wie konnte es zu dieser eher pejorativen Einschätzung kommen? Ein Grund dürfte sicher darin gelegen haben, daß man sich nicht recht erklären konnte, wie Ordnung ohne staatliche Organisation möglich sei. Man sah, daß es in diesen frühen Gesellschaften Regeln gab, konstatierte ihre Einhaltung und stellte gleichzeitig fest, daß es keine Gerichte gab und keinen Zwangsapparat zur Durchsetzung von Entscheidungen. Was lag näher, als anzunehmen, die "Wilden" stünden unter der Herrschaft von Gewohnheitsregeln, die spontan und automatisch befolgt würden. 6 Diese Schlußfolgerung "paßte" zum eigenen Verständnis vom Recht. Man konnte und kann sich bis heute die Einhaltung des Rechts nur durch Zwang erklären. Entweder ist die Rechtsgeltung durch einen äußeren, einen juristischen Zwangsapparat oder durch einen inneren, psychischen Zwang gesichert. Beide Extremvorstellungen werden also aus einer gemeinsamen Wurzel, der Zwangstheorie, erklärt. Während jedoch der innere Zwang den Menschen in biologischer Unfreiheit beläßt, vermag der äußere, gesellschaftliche Zwang, den Einzelnen aus seinen familiären Bindungen herauszulösen und als "freies" Individuum zu konstituieren. Nunmehr sei das Subjekt erst in die Lage versetzt, sein Leben selbst zu gestalten und aus freien Stücken Verträge zu schließen: Kauf und Miete, Pacht, Dienstvertrag und Werkvertrag. Diese Entwicklung habe mit der völligen Durchsetzung der Vertragsfreiheit im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erfahren. Das war der Grundgedanke des Evolutionismus. Die Entwicklung von Gesellschaft und Recht wird hiernach durch die Idee der Freiheit bestimmt, die sich immer weiter entfaltet. 7 4 5

106.

Weber, Wirtschaft 1976, 82. Geiger, Soziologie des Rechts 1964, 138. Siehe dazu kritisch Sigrist, Anarchie 1979,

6 Die bekannteste Widerlegung der These von der automatischen Unterwerfung unter den Gruppenkonsens stammt von Bronislaw Malinowski, der in seinem Buch über die Trobriander (Savage Society 1970) gezeigt hat, daß es durchaus Übertretungen des Gruppenkonsens gibt und daß die Einhaltung bindender Vorschriften auf sehr komplexen und sozialen Motiven beruht. Bei den Trobriandem wird der Konflikt durch eine Art ,,Privatrecht" ohne Staat beigelegt. Der wichtigste Bestandteil dieses Privatrechts ist die Gegenseitigkeit. Malinowski folgert daraus, daß die Zwangstheorie des Rechts falsch sei. Sie beruhe auf einem Mangel an Beobachtung und auf einem falschen Verständnis von Recht, dessen Einhaltung man sich nur durch Zwang erklären könne, nämlich entweder nur durch einen gerichtlich-juristischen Zwangsapparat oder eben in dieser anderen zwanghaften Weise, spontan und automatisch; zur berechtigten Kritik an der völligen Vernachlässigung des Problems der Herrschaft in Trobriand vgl. Hoebel, Naturvölker 1968,177; Schapera, Law 1957,139; Powell, Leadership in Trobriand 1960,118.

I. Recht in vorstaatlichen Gesellschaften

383

Im vorangegangenen Kapitel haben wir solcherart teleonomische Richtungsidee als universalhistorischen Fehlschluß bezeichnet. Es war dort näher dargelegt worden, inwiefern der evolutionistische Gedanke einer stetigen Höherentwicklung des Guten, Wahren und Richtigen mit den Grundannahmen der Erkenntnisbiologie unvereinbar ist. Er widerspricht vor allem dem Phänomen des Strukturdeterminismus, der keinem immanenten Plan, sondern der Geschichte struktureller Koppelungen folgt. Die Konstruktionen des Guten und Bösen sind danach ebenso wie die Konstruktionen des Rechts und des Unrechts das Ergebnis einer historisch bestimmten Form gesellschaftlicher Zusammenarbeit. Das läßt sich für den Bereich normativer Kognitionen besonders eindrucksvoll an der Gegenüberstellung des Rechts in vorstaatlicher und in staatlichen Gesellschaften demonstrieren. Beide Ordnungen stehen nicht etwa in einem Verhältnis von qualitativ unterschiedlichen Wertsystemen zueinander - dies sind Aussagen eines Beobachters, der Ordnung mit Herrschaft identifiziert -, sondern drücken auf je eigene und adäquate Weise die gesellschaftlichen Erfahrungen der Menschen aus. Wenn wir nachfolgend die beiden Rechtsordnungen anband des von Uwe Wesel ausgebreiteten Materials 8 skizzenhaft miteinander vergleichen, dann wird sich die Unhaltbarkeit der teleonomischen Richtungsidee, der von Hegel behaupteten "Vernunft in der Geschichte" erweisen. Dieser Nachweis dient keinem Selbstzweck. Er soll uns vor allem dabei helfen, einen Begriff vom Recht zu entwickeln, der mit der Erkenntnisbiologie kompatibel ist. 9 Denn auch für den Bereich des Rechts gilt die These: Je stärker ontologisches Denken die Gesellschaft prägt, desto rigider sind die Regeln der sozialen Interaktion; je ausgeprägter die konstruktive Methodologie, desto flexibler die normativen Festlegungen. Erstaunlicherweise finden sich in den frühesten Gesellschaften entschieden mehr Hinweise für eine flexible und das heißt diskursive Ordnung als in späteren, sog. staatlichen Gesellschaften. 7 Im Neoevolutionismus sieht man die Entwicklung eher durch eine Zunahme von Staat und Herrschaft gekennzeichnet. Innerhalb der Ethnographie gibt es einige sehr bemerkenswerte Versuche des Aufweises von Entwicklungslinien, z. B. zur Abfolge verschiedener Ordnungsprinzipien, zur Entwicklung männlicher Dominanz, zur Entstehung von Herrschaft (vgl. dazu Service, Staat 1977; Frieciman, Rowlands, Evolution 1978; Gouldner, Reziprozität 1984; Kramer, Gesellschaften 1978, 9; Sigrist, Gesellschaft 1978,28). 8 Berücksichtigung fand das in folgenden Schriften von Wesel verarbeitete ethnologische Material: Recht in frühen Gesellschaften 1979,233; Matriarchat 1980; Eigentum infrühen Gesellschaften 1982, 17; Evolutionistische Theorie des Rechts 1984,523, und insbesondere Früh/ormen des Rechts 1985. 9 Daß hierbei ein Blick in die Frühgeschichte von großem Nutzen sein kann, hat Wesel in einer einleitenden Bemerkung zur Absicht seiner Arbeit so veranschaulicht: ,,Nachdenken über Recht bedeutet in besonderer Weise auch Nachdenken über unsere Gesellschaft. Aber es ist schwierig geworden. Die Provinzen des Rechts werden immer größer. Sich in ihnen zurecht zu fmden, ist schon rein technisch nicht mehr ~.eicht ... Das Haus des Rechts ist ein großes Gebäude geworden. Und wenn man einen Uberblick gewinnen will, was liegt dann näher, als aus ihm herauszutreten und es sich von weitem anzusehen; Bedeutung und Struktur werden erst klar aus einiger Entfernung. Je größer sie ist, umso besser. Die Antike ist zu nah, zu ähnlich. Das eigene Recht erkennen aus der Kenntnis des fremden? Keines ist dafür besser geeignet als das frühe" (Früh/ormen 1985, 12).

384

Kap. 4: Ordnung durch Recht

2. Entwicklungsstadien a) Jäger und Sammler

aa) Gleichheit Unter vorstaatlichen Gesellschaften werden solche vor der urbanen Revolution verstanden. 10 Es handelt sich dabei um Jägergesellschaften mit food gathering, um Ackerbauern und Hirten mit food producing und um frühe Königreiche oder Protostaaten. Gemeinsam ist diesen Gesellschaften, daß sie noch keine Schrift und - mit teil weiser Ausnahme in den frühen Königreichen - noch keine institutionalisierte Macht ausgebildet haben. Dementsprechend werden die frühen Gesellschaften der Jäger, Ackerbauern und Hirten in der Ethnologie als "anarchisch" oder ,,herrschaftsfrei" oder "akephal" 11 bezeichnet. In der dritten Gruppe, den Protostaaten, existiert zumindest eine Zentralinstanz, weshalb sie ,,kephal" genannt werden. Die Übergänge in der Dichte der Organisation dieser vielen Gesellschaften sind fließend. Obwohl sich feste Grenzen schwer bestimmen lassen, werden gesellschaftliche Organisation und damit auch das Recht auf diesen drei Stufen als jeweils verschieden angesehen. . Man schätzt, die Existenz der Menschheit habe vor ungefähr zwei Millionen Jahren begonnen. In dieser Zeitspanne lebten die Menschen fast ausschließlich als Jäger und Sammler. Erst im 9. Jahrtausend vor Christus setzte Ackerbau und 10 Den Begriff "urbane Revolution" hat Gordon Childe geprägt. Er meint damit den Übergang von der sog. "Barbarei" zur ,,zivilisation", der durch die Erfmdung der Schrift gekennzeichnet ist. Gleichzeitig mit der Erfindung der Schrift kam es zur Ansammlung einer großen Bevölkerungszahl in Städten und zur Ausbildung einer weitgehenden Arbeitsteilung mit einer großen Zahl von Spezialisten. Diese neue Schicht der Beamten und Schreiber, Priester und Herrscher produzierte ihre Nahrung nicht mehr selbst, sondern wurde aus dem von Bauern, Fischern und Jägern erzielten Überschuß unterhalten. Damit verbunden war eine neue Form von Herrschaft. Es entstand der bürokratische Staat (vgl. Childe, Urban Revolution 1950,3; ders., Soziale Evolution 1975). Wenn im folgenden von ..frühem Recht" die Rede ist, dann soll darunter der Abschnitt vor der Erfmdung der Schrift verstanden werden. In der Terminologie von Morgan (Urgesellschaft 1977) handelt es sich bei den schriftlosen Gesellschaften um die Entwicklungsstufen der "Wildheit" und der "Barbarei", die der Zivilisation vorangingen. Morgan hatte die ersten beiden Stufen durch die Erfindung der Töpferei voneinander abgegrenzt. Heute nimmt man die Unterscheidung allgemein anders vor. Man unterscheidet, ob die Nahrung nur durch Sammeln, Jagen oder Fischen (food gathering) oder durch Kultivierung eßbarer Pflanzen, Aufzucht von Tieren oder durch Kombination beider in einer gemischten Landwirtschaft (food producing) gewonnen wird (Childe, The Dawn 1925). In der Archäologie ist es die Grenze zwischen Altsteinzeit (Paläolithikum) und Jungsteinzeit (Neolithikum). Auch hier hat Childe einen neuen Begriff geprägt, die ,,neolithische Revolution" (Childe, History 1942). Auf den drei Entwicklungsstufen der Gesellschaften ohne Schrift - Jägergesellschaft mit food gathering, segmentäre Ackerbauern mit food producing und kephalen Gesellschaften - entstehen je eigene Organisationsformen und Rechtssysteme. In diesem Kapitel geht es um die beiden ersten Stufen. 11 Vom griechischen kephala, der Kopf. Akephal wäre dementsprechend wörtlich mit ,,kopflos" zu übersetzen.

I. Recht in vorstaatlichen Gesellschaften

385

Übersicht 21 : Stufen schriftloser Gesellschaften.

~

Strukturen

Jägergesellschaften

Segmentäre Gesellschaften (Ackerbauern)

Kephale Gesellschaften (frühe Königreiche)

Produktionsweise

Jagen und Sammein; keine Akkumulation

Segmentäre Hauswirtschaft; planmäßige Produktion und Akkumulation

Asiatische Produktionsweise; Steigerung der Produktivität

Mitgliedschaft

Horde; punktuelle Mitgliedschaft

Einlinige Verwandtschaft

Königreiche und Protostaaten

Ordnungsprinzip

Gleichheit und Gegenseitigkeit

Gegenseitigkeit und Autorität

Autorität und Herrschaft

Konfliktregelung

Gemeinsame Streitbeilegung; Blutfehde

Konsens oder autoritäre Streitbeilegung

Anfange "staatlieher" Streitbeilegung

Viehzucht ein, so daß die damit beginnende neue Periode der Menschheit bis heute gerade ein halbes Prozent dieser Gesamtzeit beträgt. Bedenkt man, daß sich Ackerbau und Viehzucht erst allmählich ausbreiteten und im 15. Jahrhundert noch der größere Teil der Indianer in Nord- und Südamerika, die Ureinwohner in Afrika und Australien vorn Jagen und Sammeln lebten, dann besteht aller Anlaß, die kognitiven Systeme jener Gesellschaften aufmerksam zu studieren, die über einen so ungeheuren Zeitraum das Überleben der Menschen sicherten. 12 Als wichigste Ordnungsprinzipien dieser Gesellschaften werden übereinstimmend Egalität und Reziprozität genannt. Die Jäger und Sammler kennen keine organisierte Macht, ja nicht einmal Regeln, die eine solche Macht ersetzen. 13 12 Zur allgemeinen Literatur über Jägergesellschaften vgl. Lee, De Vore, The Hunter 1968; Service, The Hunters 1979. Zur Egalität sehr eindrucksvoll Clastres, Staatsfeinde 1976; Fortes, Evans-Pritchard, Afrikanische Systeme 1978, 150. Zur Reziprozität vgl. Mauss, Gabe 1968; Ritter, Gegenseitigkeit 1974, 119; Sahlins, Stone Age 1976,4. Kap.; . Bohannan, Tausch 1978, 70; Malinowski, Ringtausch 1978,57; ders., Gegenseitigkeit 1978, 135; Gouldner, Reziprozität 1984. 13 Die Jäger sind Nomaden und leben deshalb zumeist in Horden. Eine allgemein gültige DefInition solcher Hordengesellschaften hat sich bis heute nicht durchgesetzt. Radc1iffe-Brown entwickelte die Theorie der patrilinearen Horde: Jede Horde lebe in einem bestimmten Gebiet, das ausschließlich ihr gehöre. Man heiratet nicht innerhalb, sondern nur außerhalb der Horde. Mit der Heirat zieht die Frau in die Horde ihres Mannes, und dadurch besteht jede Horde nur aus Verwandten, die in der männlichen

25 Karg1

386

Kap. 4: Ordnung durch Recht

Das heißt aber nicht, daß keine Unterschiede zwischen den Menschen existierten. Es gibt gute und schlechte Jäger, Starke und Schwache, Redegewandte und weniger Redegewandte. Diese Unterschiede sind faktischer Natur, nicht institutionalisiert. Wer das Wort führt, hat Einfluß und genießt Ansehen. Gelegentlich kann man eine solche Person als Anführer bezeichnen. Aber dieses Führerturn ist charismatischer Art, beruht also einzig und allein auf persönlichen Fähigkeiten. Sobald diese Kräfte nachlassen, verschwindet auch der Einfluß. Es gibt keine institutionalisierte Ungleichheit. Man kann dies vor allem an der Beziehung zwischen Frauen und Männern sowie am Eigentumsbegriff ablesen. Die Frage der Egalität zwischen den Geschlechtern in Jägergesellschaften wird unterschiedlich beantwortet. Es spricht vieles dafür, daß in diesen an sich egalitären Gesellschaften die Männer ansatzweise dominierten. Man kann dies auf die erste große Arbeitsteilung zwischen Männern, die jagen, und Frauen, die sammeln, zurückführen. 14 Andere wiederum bestreiten, daß die Arbeitsteilung zur sozialen Differenzierung im Sinne der Benachteiligung der Frauen geführt habe. 15 Einig ist man sich jedoch über die große sexuelle Freiheit bei Sammlern und Jägern. Dies kann als Gradmesser für die Stellung der Frauen genommen werden. "Regelmäßig ist die Situation der Frauen umso besser, je größer die sexuellen Freiheiten sind. Thre Unterdrückung in Ackerbaugesellschaften ist immer verbunden mit einer größeren Zahl sehr starker Sexualtabus. "16 Linie miteinander verbunden sind. Die Horde sei somit territorial, exogarn, patrilocal und patrilinear (vgl. Australian Tribes 1931; ebenso Rose, Australien 1976). Neuere Forschungen haben ergeben, daß die patrilineare Horde eher selten ist und mit geographischen Besonderheiten Australiens zusammenhängt. Man geht heute davon aus, daß die gemischte Horde die Regel ist. Es gibt bei ihr sehr häufig eine starke Zuwanderung und Abwanderung. Auf diese Weise kann sie sich besser an die natürlichen Ressourcen anpassen. Außerdem ist die Fluktuation in Jägergesellschaften ein wichtiges Mittel der Konfliktlösung (vgl. Turnbull, Servants 1976; Woodburn, Hadza 1968, 103; Marshali, Kung 1976). Allgemein läßt sich sagen, daß die Verwandtschaftsstruktur nicht so fest ist wie in seßhaften Gesellschaften. Bei den Jägern ist die Verwandtschaftsstruktur in aller Regel nicht in einer Linie geschlossen (agnatisch), sondern nach beiden Seiten offen (kognatisch). Ein weiteres Merkmal der Jägergesellschaft gilt als gesichert: die Hordenexogamie (Heiratsverbot innerhalb der Horde). Damit will man das Netzwerk der verwandtschaftlichen Beziehungen ausweiten und Allianzen schaffen (Schneider, lncest 1976, 149). 14 Das ist jedenfalls die Meinung von Lorna Marshali über die Stellung der Frauen bei den Kung (Kung 1976, 175). Sie führt eine gewisse Dominanz der Männer auf die höhere Wertschätzung der Jagd und der größeren Körperkraft der Männer zurück. 15 So Patricia Draper, die längere Zeit bei den Kung in der Kalahari verbracht und keine soziale Benachteiligung der Frauen festgestellt hat (Kung Women 1975, 77). 16 Wesei, Früh/ormen 1985, 85. Bei einer Reihe von Autoren hat die Beobachtung der größeren sexuellen Freiheit der Frauen in Jägergesellschaften zu der Annahme geführt, es gäbe eine Hordenpromiskuität. Diese Vermutung kann mittlerweile als widerlegt gelten. Bachofen (Mutterrecht 1948), Morgan und Engels (Ursprung der Familie 1884) haben sich geirrt. Der Grund liegt darin, daß die Familie sehr viel älter ist, als diese Autoren meinten. Sie geht zurück in die frühe Altsteinzeit, die Schätzungen liegen zwischen 50 ()()() und 500 ()()() Jahren (Gough, Family 1975, 62). Als Ursache der Familienbildung wird die immer länger werdende Abhängigkeit des Kindes von der

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Die These von der relativen Egalität zwischen den Geschlechtern wird gestützt durch unsere sichere Kenntnis von den minimalen Unterschieden im materiellen Besitz.!' Jedem gehört nur das Wenige, das er tragen kann. Es handelt sich hierbei in der Regel um Gegenstände des individuellen Gebrauchs. Männern gehört das Jagdgerät, den Frauen die Haushaltsgegenstände, der Schmuck und der Korb zum Sammeln. Über die persönliche Habe der Frau kann der Mann nicht verfügen; das Eigentum an der beweglichen Habe bleibt innerhalb der Familie streng getrennt. Andererseits ist es eine weit verbreitete Regel, daß das Eigentum an den Gebrauch gebunden ist. So muß bei den Eskimo ein Mann, der seine Fuchsfalle nicht benützt, einem anderen erlauben, sie zu stellen. 18 Von den Andamen Islands wird berichtet, daß sie Gegenstände wie Kochtopf, Kanu oder Trommelbrett als öffentliches Eigentum für die Angehörigen der gleichen Gemeinschaft ansehen, wenn der Eigentümer sie nicht braucht. 19 Ebenfalls als öffentliches oder gemeinschaftliches Eigentum wird das Land betrachtet, das die Horde als ihr Territorium für die Jagd beansprucht. 20 Ein solches Territorium wird gegen Eindringlinge verteidigt und steht nach unbestrittener Ansicht der Ethnologen im Gemeineigentum. Bestritten hingegen ist die Annahme, daß alle Jäger territorial seien. Die Frage ist also, ob es bei allen Jägergesellschaften Eigentum am Land oder auch herrenlose Jagdgebiete gibt, in denen jeder, der will, sammeln und jagen kann. Über diese Frage wird bis heute zwischen Ethnologen und Verhaltensforschern ein erbitterter Glaubenskrieg darüber ausgetragen, ob Aggressivität auf einer natürlichen, biologischen Neigung des Menschen beruht oder soziale Ursachen hat. 21 Für die Ethnologen, die in den letzten Jahrzehnten die afrikanischen Sammler und Jäger untersucht haben, steht fest, daß es bei ihnen sowohl territoriale wie auch nichtterritoriale Gesellschaften gibt. 22 Die wohl beste Erklärung für das unterschiedliche Verhalten der Jäger fmdet sich in einer Kosten-Nutzen-Analyse, die aus der Soziobiologie übernommen wurde. 23 Danach ergibt sich Territorialverhalten immer dann, wenn Mutter genannt: "Weil die Frauen sich länger um die Kinder kümmern mußten, waren sie ausgeschlossen von der Jagd ... Es entstand die Arbeitsteilung der Geschlechter. Die Männer gingen auf die Jagd. Die Frauen sammelten die pflanzliche Nahrung, was auch mit kleinen Kindern möglich ist. Sie übernahmen die Zubereitung der Nahrung, nicht nur für die Kinder, sondern auch für den Mann. Es entstand die Familie als Folge dieser Arbeitsteilung, als die kleinste Einheit, in der Arbeitsteilung stattfand, gemeinsame Verteilung und gemeinsamer Verzehr der Produkte." (Wesei, Frühformen 1985,79). 17 Zum Begriff des Eigentums in frühen Gesellschaften vgl. Schmidt, Eigentum 1937; Nippold, Eigentum 1954; Stanjek, Besitzverhalten 1980; Wesei, Eigentum 1982, 17. 18 Birket-Smith, Die Eskimos 1948, 188. 19 Man, Aboriginal Inhabitants 1932, 120. 20 Zur Frage der Territorialität der Jäger vgl. Dyson-Hudson, Territoriality 1978,21. 21 Insbesondere Eibl-Eibesfeldt verbindet die Annahme der Territorialität mit Vorstellungen von einer natürlichen Aggressivität des Menschen (Territorialität 1978, 477; Mensch 1988, 203). 22 Vgl. Turnbull, Servants 1965; Woodburn, Hadza 1968, 103; MarshalI, Kung 1976. 23 Dyson-Hudson, Smith, Territoriality 1978, 21; ähnlich Steward, Basin-plateau 1938, 254; Wilmsen, Hunting Bands 1973, 1.

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die Vorteile der ausschließlichen Nutzung eines Gebiets die Nachteile der Kosten seiner Verteidigung überwiegen. Die Vorteile ergeben sich einerseits aus der Ergiebigkeit an Nahrungsmitteln in einem Gebiet und andererseits aus der Kalkulierbarkeit ihrer Ausbeute. Wo es wenig Regen, wenig Vegetation und wenig Wild gibt und damit das Auftreten von Beute schlecht kalkulierbar ist - so bei den westlichen Schosehonen in Nordamerika - , dort bringt Territorialverhalten keinen Vorteil gegenüber den Kosten einer Verteidigung des Gebiets. Gänzlich anders ist die Situation bei den Paiute südwestlich davon. Sie leben in einem Gebiet mit viel mehr Wasser, besserer Vegetation und hoher Kalkulierbarkeit der Jagdausbeute. Da sie sich von diesem Gebiet, das nur einen Umkreis von dreißig Kilometern beträgt, ernähren können, lohnt es sich, Eindringlinge fernzuhalten, also Territorialverhalten auszubilden. Diese Annahmen werden von zahlreichen Autoren bestätigt.24 Ethnologen sind sich zunehmend darin einig, daß die Jäger ihr Jagdgebiet nicht aus einem Instinkt oder Urtrieb heraus verteidigen, sondern einzig um unter gegebenen Bedingungen überleben zu können. Ist ein Überleben ohne Aggressivität gegen Hordenfremde möglich, werden sie diese auf ihrem Gebiet jagen lassen. Diese funktionale Betrachtungsweise hat auch manche Hoffnung auf eine anthropologische Verankerung unseres Eigentumsbegriffs erschüttert. Man glaubte mit dem Nachweis des Eigentums in frühesten Gesellschaften das Gespenst des Urkommunismus gebannt zu haben, der seit Hugo Grotius die europäische Literatur beschäftigte. 25 Es zeigte sich jedoch, daß weder völlige Eigentumslosigkeit noch ein absoluter Eigentumsbegriff, wie wir ihn in den modernen Gesellschaften kennen, mit den Verhältnissen in den Jägergesellschaften übereinstimmen. 26 Im Hinblick auf Grund und Boden gab es - wie eben gesagt auch herrenloses Land, in dem nach Belieben gejagt werden durfte. In keinem Fall gab es am Territorium Individualeigentum. Solches blieb lediglich der beweglichen Habe vorbehalten. Aber man darf sich dieses persönliche Eigentum nicht als eine völlig freie Verfügungsbefugnis vorstellen, noch weniger als "die Beziehung einer Person zu einer Sache im Sinne einer absoluten Beherrschung".27 24 Von den nördlichen Ojibwa im südlichen Kanada wird berichtet, daß sie früher territorial waren, später aber nicht mehr. Die Erklärung dafür hat Bishop gegeben (zit. bei Dyson-Hudson, Smith, ebd. 31). Um 1800 sind sie zu Territorialverhalten übergegangen, weil der Bestand an Großwild, an Rentieren und Elchen erschöpft war und sie sich auf Kleintierjagd umstellen mußten. Großwild lebt sehr beweglich in großen Gebieten und ist schwer kalkulierbar. Kleine Tiere wie Hasen oder Biber sind weniger aufWanderschaft, leben in kleinem Umkreis und sind in ihrem Auftreten besser kalkulierbar. Diese starken Unterschiede im Territorialverhalten sogar innerhalb einzelner Gesellschaften sprechen eindeutig dafür, daß es eine natürliche Neigung des Menschen zu Territorialität und Aggressivität nicht gibt. 25 Zur Annahme des Eigentums als einer anthropologischen Kategorie, als Instinkt oder Urtrieb vgl. Schmidt, Eigentum 1937; Nippold, Eigentum 1954; Eibl-Eibesfeldt, Lorenz, Verhalten 1974,597; Gehlen, Urmensch 1977,51. 26 Siehe Stanjek, Besitzverhalten 1980.

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Eine wichtige Schranke des Eigentums bei den Jägern haben wir schon kennengelernt: Der Gebrauch der Sache und nicht ein abstrakter Rechtstitel entscheidet über die Eigentumsverhältnisse. Eine andere immanente Bedingung des Eigentums ist die Reziprozitätsregel. 28 Sie zählt zusammen mit der Egalität zu den wichtigsten Ordnungsprinzipien der Jäger- und der segmentären Gesellschaften. Wegen ihrer Bedeutung als "ökonomisches Grundgesetz" 29 hat die Reziprozität auch eine entscheidende soziale und normative Funktion. Worin besteht diese Funktion, insbesondere im Hinblick auf Streitschlichtungen? bb) Gegenseitigkeit Was der Reziprozitätsmechanismus für die anarchische Ordnung bedeutet, hat Bronislaw Malinowski sehr anschaulich an der Gesellschaft von Trobriand geschildert. 30 Die Bewohner der Küste tauschten ihren Fisch mit ihren Verwandten im Inneren der Insel gegen Yams. Daß das auch ohne eine staatliche Ordnung funktionierte, dafür sorgte das Prinzip der Gegenseitigkeit. Denn erfüllte der eine seine Verpflichtungen nicht, dann traf ihn die Sanktion des anderen, der nun seinerseits nicht leistete. Da jeder an der Gegenleistung des anderen interessiert sein mußte und es sich um langjährige Tauschbeziehungen handelte, die man nicht nach Belieben wechseln konnte, erfüllten alle ihre Verpflichtungen von selbst. So führte der Druck von Einzelinteressen zu gegenseitig erwartbarem Verhalten. Diese Motivation zur Gegenseitigkeit erinnert an die utilitaristische Position eines Adam Smith, wonach die "unsichtbare Hand" des Eigennutzes alles von selbst regelt. Aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß es so gut wie keine Gemeinsamkeiten zwischen dem nutzenmaximierenden Verhalten eines modemen Geschäftspartners und dem Tauschverhalten des Trobrianders gibt. 27 BaUT, Sachenrecht 1983, 222. Was "absolut" bedeutet, kommentiert Wese1 mit "unabhängig vom Willen oder den Interessen anderer" (Früh/ormen 1985, 96). Wenn einzig der Wille des Eigentümers zählt, zeigt das, daß es gar nicht "die Beziehung einer Person zu einer Sache" ist, um die es beim Eigentum geht. ,,Es geht um die Beziehung dieser einen Person, des Eigentümers, zu allen anderen Menschen in seiner näheren und weiteren Umgebung, im Hinblick auf diesen Gegenstand. Diese Beziehung ist in ihren Grundzügen egoistisch und rücksichtslos" (ebd. 96). 28 Der Gabentausch der Reziprozität ist deshalb als eine immanente Schranke des Eigentums zu bezeichnen, weil er letztlich zu einer Art Urkommunismus führt, in dem trotz Individualeigentums doch alles allen gehört; so Radc1iffe-Brown, Andaman 1964, 41. Es gibt zwar in Jägergesellschaften neben dem Gabentausch noch den Handel, aber er ist immer Femhandel und spielt deshalb im Inneren der Gesellschaft keine große Rolle (Birket-Smith, Eskimos 1948, 189). 29 Ingold, Hunters 1980. 30 Malinowski, Savage Society 1970. Als Entdecker dieses Organisationsprinzips früher Gesellschaften gilt Marcel Mauss mit seinem ,,Essai SUT le don" von 1924 (dt. Die Gabe 1968). Ähnliche Gedanken fmden sich jedoch bereits einige Jahre früher bei Richard Thurnbald (Psychologie 1922) und schon 1902 bei Fürst Kropotkin (Entwicklung 1975).

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Während die Gegenseitigkeit des bürgerlichen Vertrages eine fonnale, unpersönliche, auf Gewinn zielende, auf den Wechsel von Tauschwerten gerichtete Beziehung ist, handelt es sich beim Tausch der Trobriander uni eine persönliche Bindung, die nicht Vorteil, sondern die materielle Gleichheit von Leistung und Gegenleistung, die den gerechten Austausch von Gebrauchswerten bezweckt. 31 Dementsprechend muß eine Leistung nicht unbedingt sofort und auch nicht immer in gleicher Höhe erwidert werden; entscheidend für die Gegenleistung ist die individuelle Situation des betreffenden Tauschpartners. Nichts könnte schlagender belegen, daß die Reziprozität in den Jägergesellschaften kein unpersönliches Handelsprinzip, sondern Ausdruck der Solidarität, der Freundschaft und der engen Verwandtschaft ist. Damit reicht die Bedeutung der Reziprozität weit über ihre ökonomische Funktion hinaus. Marcel Mauss erblickte in der Reziprozität eine Art Gesellschaftsvertrag, der mit jeder Gabe erneuert und besiegelt wurde. 32 Auf diese Weise kam unter den Mitgliedern jenes Vertrauen, jene Gemeinsamkeit und Intimität zustande, die die Gesellschaft zusammenhielt und Kultur ennöglichte. Der Gabentausch hatte überdies eine Friedensfunktion. 33 Mit ihm wurden die gelegentlich auftretenden Kon31 Alvin Gouldner betont den Unterschied zwischen einem Nullsummenspiel und der Reziprozitätsnorm (Reziprozität 1984, 156). Es ist nach meiner Auffassung jener Unterschied, der zwischen unserem ökonomischen System und dem Gabentausch der Trobriander besteht. Ein Nullsurnmenspiel ist per definitionem eines, in dem es für einen Handelnden möglich ist, Güter nur in der Weise anzusammeln, daß man sie einem anderen wegnimmt. Wenn ein Spieler seine Aktiva in einem Nullsurnmenspiel vermehren möchte, muß er den anderen besiegen. Diese Situation ist in einem Wirtschaftssystem gegeben, in dem die Handelnden ökonomisch nicht gleichgestellt sind. Dort geht jede Erhöhung der Aktivseite bei den Bessergestellten zu Lasten der Schlechtergestellten. Nullsummenspiele führen zu aggressiven Einstellungen, zu Konkurrenzverhalten, Neid und Ablehnung. Aus diesem Grunde unterminiert ein Nullsummenspiel die soziale Solidarität der Spieler. Ja, es erzeugt sogar eine endemische Spannung zwischen den Interessen des Individuums und denen des Kollektivs, denn es kann sein, daß eine Person im Grunde nicht wünscht, daß sein eigenes Team gewinnt, wenn die Gewinne des Teams untereinander in einer Weise aufgeteilt werden, daß dies die Wettbewerbssituation der anderen auf seine Kosten verbessert. Demgegenüber schützt die Reziprozitätsnorm die Solidarität der Gruppenmitglieder vor dem spannungserzeugenden Wettbewerb des Nullsummenspiels. Die Reziprozitätsnorm definiert die Beziehungen unter den Spielern als ein Austauschverhältnis; sie verlangt, daß ein ungefähres Gleichgewicht zwischen den Spielern und zwischen dem existiert, was gegeben und was genommen wird. Reziprozität und Egalität sind somit zwei Seiten einer Medaille; ohne Gleichheit kann es keine Gegenseitigkeit geben. Niemand darf auf Kosten des anderen gewinnen, und niemand verliert zum Vorteil eines anderen im gleichen Team. 32 Mauss, Gabe 1968. 33 Diese Funktion, die Ausdruck der Solidarität ist, nennt Sahlins "generalized reciprocity" (Stone Age 1972, 185). Wesel übersetzt den Begriff mit "positiver Reziprozität" (Frühjormen 1985, 89). Davon zu unterscheiden ist die "negative Reziprozität". Sie entspricht etwa der rein juristischen Verpflichtung unseres Vertrages. Sie ist unpersönlich und wird nur auf Beziehungen mit Fremden angewandt. In der Mitte liegt die "ausgeglichene Reziprozität", bei der sich ökonomische und persönliche Interessen ungefähr die Waage halten. Transaktionen von Heiratsgütern gehören hierher, also Brautpreisleistungen, Freundschafts- und Friedensverträge.

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flikte bereinigt. Ein Buschmann aus Südafrika beschrieb das mit den Worten: "Das Schlimmste ist, wenn keine Gaben gegeben werden. Wenn Leute sich nicht leiden können, aber der eine etwas gibt und der andere muß die Gabe annehmen, das bringt Frieden zwischen ihnen. Wir geben einander immer. Wir geben, was wir haben. Das ist unsere Art und Weise zusammenzuleben."34 Mit dem Hinweis auf die rasche Fluktuation der Güter ist neben der sozialen auch die ökonomische Funktion der Reziprozität benannt. 35 Das Jagdglück ist wechselhaft. Das hat zur Folge, daß mal dieser und mal jener Jäger über ein erlegtes Wild verfügt. Die Reziprozität schafft da den Ausgleich, auf den jeder einmal angewiesen ist. Über die Verteilung des Fleisches bei den Kung wird berichtet, daß es in drei Wellen vor sich geht. Zuerst wird das Fleisch zwischen den beteiligten Jägern verteilt. Diese geben anschließend ihre Portionen in kleineren Stücken weiter an ihre Verwandtschaft. Allein bei diesen zwei Teilungen sind einmal dreiundsechzig Übergaben von rohem Fleisch gezählt worden. In der dritten Teilungswelle wird das gebratene Fleisch von denen, die zuvor etwas erhalten haben, weitergegeben an die Eltern, Schwiegereltern, Kinder, Geschwister und Freunde. Das Ergebnis ist, daß niemand leer ausgeht. 36 Ähnlich viele Transaktionen sind bei der Verteilung von Muscheln für Halsbänder beobachtet worden. Da die Muscheln von Hand zu Hand gingen, gab es am Schluß niemanden, der ein ganzes Halsband besaß. 37 Bemerkenswert an diesen und einer Vielzahl anderer Berichte zum Reziprozitätsprinzip ist zweierlei: Zum einen legen sie Zeugnis vom Vorhandensein eines Eigentumsbegriffs in frühesten Gesellschaften ab, zum anderen verdeutlichen sie die Relativität eben dieses Eigentums. Nur wer vorher etwas gehabt hat, kann etwas weggeben. Nur wem die Beute formal zugeordnet war, dem kann jene Wertschätzung entgegengebracht werden, die mit der Großzügigkeit des Teilens verbunden ist. Das Eigentum ist mit den Worten Weseis demnach "ein Mittel, das Ergebnis der eigenen Arbeit anderen zukommen zu lassen"38 und nicht ein Mittel, durch das man sich die Arbeit anderer aneignet. Es berechtigt lediglich, darüber zu bestimmen, wie es verteilt wird. Ob es verteilt wird, steht nicht im Belieben des Eigentümers. Geben und Nehmen beruhen auf selbstverständlichen Erwartungen und gegenseitigen Verpflichtungen. 39 Es wäre daher falsch, die 34

Marshali, Kung 1976,311.

35 Siehe dazu ausführlich Ingold, Hunters 1980. 36 Zum Bericht über die Kung vgl. Marshali, Kung 1976, 297. Zu entsprechenden

Berichten über die Eskimos, Schoschonen, Jamana, Mbuti, Hadza, Andamen und Semang etc. vgl. Birket-Smith, Die Eskimos 1948, 188; Steward, Basin-plateau 1938,74; Gusinde, F euerland-Indianer 1937,980; Tumbull, Hunting Societies 1968, 158; Woodbum, Hadza 1968, 53; Elkin, Austr(llian Aborigines 1954, 110; Meggitt, Desert People 1962, 52. 37 Radcliffe-Brown (Andaman 1964,43) über die Andamer: ,,Fast jeder Gegenstand, den die Andamer besitzen, geht in dieser Weise ständig von Hand zu Hand". 38 Wesei, Früh/ormen 1985,91. 39 Im Gegensatz zu Durkheim, der die Verpflichtungen der Eingeborenen als eine Ehrfurcht vor der Tradition deutet, sucht Malinowski eine eindeutig soziologische Erklä-

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Gaben als Geschenke zu verstehen und sich dafür zu bedanken: "Du darfst dich nicht für das Fleisch bedanken. Es ist dein Recht, diese Stücke zu erhalten. In diesem Land möchte niemand von anderen abhängig sein. Deswegen gibt es hier niemanden, der Geschenke macht oder nimmt, denn dadurch wirst du abhängig. Mit Geschenken machst du Sklaven, so wie du mit Peitschen Hunde machst."4O Mit diesen Worten belehrte ein Eskimo-Alter einen Ethnologen über die Zusammenhänge von absolutem Eigentum, Herrschaft und Abhängigkeit. Relatives Eigentum hingegen - wie wir es eben beschrieben haben - korreliert in den Jägergesellschaften mit Egalität und Reziprozität. cc) Gemeinsame Streitschlichtung Es bleibt noch zu fragen, wie diese tragenden Ordnungsprinzipien der Jäger und Sammler durchgesetzt werden. Damit kommen wir zu den Anfängen des Rechts. Es gibt nicht wenige Autoren, die diese Anfänge noch nicht als Recht verstehen möchten. Sie vermissen seine Eigenständigkeit und seine Ableitung von einem Souverän, der mit physischem Zwang dem Befehl des Staates Nachdruck verleiht. 41 Tatsächlich gibt es bei den Jägern weder einen Staat, noch ist rung. Ausdrücklich weist Malinowski die Annahme zurück, daß es die geheiligte Autorität des moralischen Codes ist, welche die Einhaltung der sozialen Regeln erklären könnte. Konfonnität wird nach Malinowski nicht "durch eine bloße psychologische Kraft gewährleistet, sondern durch einen genau bestimmbaren sozialen Mechanismus" (Savage Society 1970,55). Diesen hat er im ,,Reziprozitätsprinzip" gefunden. Eine der Kernthesen Malinowskis behauptet, daß die Menschen Verpflichtungen gegeneinander haben und daß normenkonformes Handeln das ist, was sie einander geben. Er stellt z. B. fest, daß fast jede religiöse und zeremonielle Handlung als ein System von Verpflichtungen zwischen Gruppen und lebendigen Individuen angesehen wird und nicht bloß als Verpflichtung gegenüber den unsterblichen Göttern. Malinowski zufolge verweist eine Bedeutung des Begriffs Reziprozität auf die miteinander verzahnten Statuspflichten, die die Menschen sich gegenseitig schulden. Mit diesen Auffassungen bestätigt Malinowski die Richtigkeit des Vierfunktionenschemas. Soziale Ordnung gründet danach nicht nur auf der Verinnerlichung von Normen (so aber der Normativismus und der rationalistische Idealismus). nicht auf der Ehrfurcht vor transzendenten Geboten. Die Befolgung dieser Normen setzt bestimmte Bedingungen voraus. Sind diese nicht erfüllt, so weicht auch der Eingeborene aus. Zu diesen Bedingungen zählt die Gegenseitigkeit, die wechselseitige Erfüllung der Verpflichtung. Verweigert der Partner seinen Teil, so werden die eigenen Belange verletzt. Deshalb setzt Reziprozität selbstverständlich voraus, daß die eigenen Interessen in der Austauschbeziehung zu ihrem Recht kommen (= Stufe der Adaptivität). Und sie setzt desweiteren voraus. daß es Regelungen gibt, die den Konfliktfall so schlichten, daß die Regel erhalten bleibt (= Stufe der Autorität bzw. der Macht). Wir sehen, ohne eine mindestens ansatzweise Berücksichtigung und Interdependenz der vier Handlungsorientierungen kann es keine Reziprozitätsregel geben. Diese Feststellung ist von außerordentlicher Bedeutung, wenn man die Vorzüge frühen Rechts richtig einschätzen will. Sie bewahrt vor dem idealistischen Trugschluß einer einfachen Übertragung der Reziprozitätsregel auf moderne Gesellschaften. 40 Service, Hunters 1979, 18. 41 Die Existenz von Recht wird zumeist erst dann bejaht, wenn eine Gesellschaft eine Instanz ausgebildet hat, die die Befugnis zur Anwendung von Normen besitzt. Solche Gesellschaften sind in aller Regel staatliche Gesellschaften. und nur an solche hat etwa

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das Recht ein selbständiger Ordnungsfaktor. Das Recht ist vielmehr eng mit der Religion verknüpft. Die Religion der Jäger schafft eine Ordnung, in der Mensch und Natur zusammengehören und nach gleichen Gesetzen leben. Diese einheitliche Ordnung wird symbolisiert im Totem, der ein Gegenstand der Natur ist und der nicht nur die verwandtschaftliche Kultgruppe versinnbildlicht, sondern auf eine mythische Gestalt zurückverweist, auf die sich die Gruppe bezieht. Totemismus bedeutet Zusammenarbeit von Mensch und Natur, folglich gelten auch die Regeln für Mensch und Natur. 42 Werden die gemeinsamen Regeln übertreten, besitzt die Natur die Kraft, Sanktionen auszuüben. Bei den Mbuti z. B., Pygmäen im Regenwald des Ituri, eines Nebenflusses des Kongo, bietet der Glaube an den Wald eine existentielle Erklärung der Welt und besitzt darüber hinaus moralisch-normative Kraft. 43 Werden nämlich die Prinzipien der Freundlichkeit, Gegenseitigkeit und Zusammenarbeit verletzt, dann hat das "akami" zur Folge, einen todbringenden Lärm, den der Wald als unmittelbare Antwort auf die Übertretungen schickt. 44 Es sind demnach die Naturreligionen, die bei den Jägern jene Kognitionen der Berechenbarkeit und des Regelmäßigen schaffen, die zu Vertrauen in den Ablauf der Natur und zu Hoffnung für die Zukunft berechtigen. Demgegenüber ist das Recht schwach ausgebildet. Auffallend ist, daß es kein festes Verfahren für die Beilegung von Konflikten gibt. Das hängt damit zusammen, daß es keine besonderen Autoritäten gibt, die das Recht vermitteln und Max Weber gedacht, als er von der "Universalität der Herrschaft" ausging (vgl. Weber, Wirtschaft 1976, 1. Kapitel). Sie gehörte für ihn zur Natur des Menschen. Alle jene Rechtstheoretiker, die im Webersehen Sinne eine enge Verbindung von institutionalisierter Herrschaft (Staat) und Recht annehmen, müssen also für das Regelsystem der frühen Gesellschaften den Begriff Recht ablehnen. Sie pflegen statt dessen von "Gewohnheit" zu sprechen; siehe dazu weiter unten. 42 Viele Normen der Jäger beziehen sich auf das Töten oder Verspeisen von Tieren. Es sind totemistische Normen, weil sie sich an der Schnittstelle von Natur und Kultur befmden (vgl. Eder, Vergesellschaftung 1988, 104). Die klassischen Totemismustheorien haben diese tabus als Ausdruck einer primitiven Mentalität bzw. einer primitiven Moral gedeutet. Dieser funktionalistischen Erklärung hat Levi-Strauss (Totemismus 1965) eine systematische Kritik entgegengehalten, in der er den Totemismus als eine universale Form des Denkens bezeichnete (krit. hiergegen wiederum Worsley, Totemismus 1975, 194). Geht man davon aus, daß über das Problem der symbolischen Ordnung des Essens grundlegende Fragen des Selbstverständnisses einer Gesellschaft im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Natur und zu ihrer inneren Ordnung ins Spiel kommen, dann ist die ,,Erfmdung" des Totemismus eine Reflexion über die eigene Kultur. 43 Service bestreitet den normativen Charakter der Naturreligionen (Hunters 1979, 5. Kapitel). Er spricht statt dessen von ihrer existentiellen Funktion: Jägergesellschaften würden sich in ihnen lediglich ihre eigene Existenz erklären. Diese Funktion hätten in modemen Gesellschaften die Naturwissenschaften übernommen, während die Religion in erster Linie normative Kraft hätte, nämlich die Vermittlung von Moralität, der Vorstellungen von Gut und Böse. Service bezieht sich bei seiner These vor allem auf die vielen Eßtabus, die tatsächlich eine existentielle Funktion haben. Aber man darf nicht vergessen, daß alle Normen - auch jene, die den Umgang mit Gott regeln - zugleich die Beziehungen der Menschen untereinander festlegen. In diesem Sinne gibt es also keine bloß existentiellen Normen. 44 Turnbull, Servants 1976, 278.

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den Streit bindend schlichten könnten. Man holt sich zur Vennittlung und Unterstützung Verwandte oder Freunde. Zumeist werden die Konflikte durch Diskussion zwischen den Streitenden und ihren Helfern beigelegt. Nicht selten kommt es zu keiner Lösung, dann läßt man die Sache auf sich beruhen. In schwerwiegenden Fällen erledigt sich der Konflikt häufig dadurch, daß der Übeltäter für einige Zeit oder für immer die Horde verläßt. 45 Forschungen in zwei Jägergesellschaften haben ergeben, daß bei ihnen die Fluktuation ein besonders wichtiges Mittel zur Streitschlichtung ist. Das kann auf das große Gewicht der öffentlichen Meinung in so kleinen Gemeinschaften, wie es die Jägergesellschaften sind, zurückgeführt werden. Jeder kennt jeden, alle sind voneinander abhängig. Daher bedroht Streit nicht nur das soziale Gleichgewicht, sondern auch die ökonomische Ordnung. Wer unsoziales Verhalten gezeigt hat, muß mit dem Verlust der Achtung der anderen rechnen: "Das ist als solches eine Strafe, die die Andamer mit ihrer großen persönlichen Eitelkeit außerordentlich fürchteten, und in den meisten Fällen genügte das, um sie von solchen Handlungen abzuhalten."46 Genügte es nicht, suchte man am besten das Weite. Zusammenfassend läßt sich für diese Ordnung in Jägergesellschaften feststellen, daß sie fast ohne "auctoritas", ohne Staat und feste Struktur auskommt. Sie reguliert sich selbst über die Handlungsprinzipien der Egalität und Reziprozität. Das bedingt eine Konfliktregelung, in deren Zentrum die Diskussion steht. So flexibel und diskursiv das Verfahren für die Streitbeilegung und für die Verhängung von Sanktionen ist, so statisch und unwandelbar sind jedoch die Nonnen des Zusammenlebens. Das ist die Folge der engen Verknüpfung des Rechts mit Religion und Natur. ,,Eine große Ruhe liegt über ihrer Ordnung", resümiert Wesel das Recht der Jäger, und er fährt fort: ,,Es ist die Ruhe des Kreislaufs der Natur."47 Wir wollen aus unserer Sicht hinzufügen, es ist die Ruhe einer kollektiven Kognition, die den Menschen in Einheit mit einer Natur konstruiert, die unveränderlichen Gesetzen folgt.

b) Frühe Ackerbauern und Hirten aa) Agnatische Verwandtschaft Es ist nicht genau bekannt, warum die Jäger im neunten und achten Jahrtausend dazu übergegangen sind, Landwirtschaft zu betreiben. Recht gut bekannt sind dagegen die sozialen Folgen der neuen Seßhaftigkeit. Mit dem Ackerbau und der Viehzucht entstand das Produktions- und Reproduktionsverhältnis der Verwandtschaft, das sich zum zentralen Ordnungsfaktor entwickelte und die frühere 45 Zur Bedeutung der Fluktuation für Konfliktlösungen in Jägergesellschaften vgl. Tumbull, Hunting Societies 1968. Über Recht und Religion in frühen Gesellschaften siehe auch Hoebel, Naturvölker 1968, 10. Kapitel. 46 Radcliffe-Brown, Andaman 1964,52. 47 Wesei, Früh/ormen 1985, 186.

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Handlungsstruktur der Reziprozität schwächte oder gar ablöste. 48 Verwandtschaft gab es zwar schon in Jägergesellschaften, aber erst mit der planmäßigen Produktion von Lebensmitteln erhält die Familie ihre entscheidende Bedeutung. 49 Sie sorgt nicht nur dafür, daß die Lebensmittel über längere Zeit hinweg produziert und akkumuliert werden können, sie ist auch für das kontinuierliche Nachrücken der jeweils nächsten Generation unerläßlich. Anders als bei der Hordengesellschaft der Jäger, in der die Produktion nicht vom Weiterbestehen der Horden abhängig ist, sind bei den Ackerbauern die Kinder existentiell wichtig. 50 Zwischen den Generationen fmdet eine zeitlich verschobene Zirkulation von Lebensmitteln statt: Zunächst produzieren die Älteren auch für die Kinder, die dann ihrerseits den Unterhalt der Älteren übernehmen. Für diesen Produktionsprozeß ist das Weiterbestehen der Produktionsgruppe notwendig. Um die Existenz der Gruppe als Produktionseinheit zu sichern, muß es strenge Regeln bei der Zuweisung der Kinder geben. Dazu dient die Gliederung der Gruppen nach der Verwandtschaft. Bei den frühen Ackerbauern und Jägern ist sie agnatisch oder einlinig. Ein Kind ist danach nur mit der Verwandtschaft seines Vaters (= Patrilinearität) oder - wie bei den Irokesen 51 und zahlreichen 48 Siehe zur Verwandtschaftsstruktur und zur sozialen Ordnung der segmentären Gesellschaften Fortes, Evans-Pritchard, Afrikanische Systeme 1978; Richards, Bantu 1950,207; Levi-Strauss, Verwandtschaft 1981; Schneider, Gough, Kinship 1961; Meillassoux, Früchte der Frau 1976; Wesei, Matriarchat 1980; Müller, Geschlechterkampf 1984; Sigrist, Anarchie 1979; Stanek, Jatmu11982. 49 Man hat lange angenommen, daß das Bevölkerungswachsturn zur Seßhaftigkeit geführt habe. Aber die von den Ethnologen beobachteten Tatsachen sprechen nicht dafür. Bei den Jägern fmdet man regelmäßig ein demographisches Gleichgewicht. Das wird darauf zurückgeführt, daß die Wildbeuter kaum leichte Nahrung für die kleinen Kinder fmden. Deshalb müssen sie bis zu ihrem dritten Lebensjahr gestillt werden. Die lange Stillzeit führt zu Ovulationshemmungen bei den Müttern, und das senkt die Geburtenrate (vgl. Godelier, Anthropologie 1973). Es wird also wohl so gewesen sein, daß die allmähliche Verbesserung der Ernährungssituation zum Bevölkerungswachsturn geführt hat. Deshalb muß man sich den Übergang zur Seßhaftigkeit auch in vielen kleinen Schritten vorstellen (siehe dazu Leroi-Gourhan, Hand 1980). 50 Die Horde beruht auf dem Prinzip der punktuellen Mitgliedschaft, deren Verbindlichkeit mit der Verteilung des Produkts beendet ist, da nicht akkumuliert wird. Das ändert sich mit der neuen Produktionsweise der Hauswirtschaft. Sie führte zu einer neuen Gesellschaftsordnung mit einer viel stärkeren Identität von Verwandtschaft und sozialem Normensystem als vorher. Wesel weist darauf hin, daß man bisher immer versucht hat, diese Hauswirtschaft aus ihrem Unterschied zu historisch späteren Gesellschaften zu verstehen. Erst Claude Meillassoux (Früchte der Frau 1976) hat eine Analyse vorgelegt, die die neue Ordnung in Abgrenzung zur historisch früheren Produktionsweise der jagenden und sammelnden Horden erklärt: "Die Analyse beruht auf der methodischen Grundlage des Vorworts von Friedrich Engels zur ersten Auflage seines ,Ursprungs der Familie'. Danach ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens, und zwar, wie Engels ausdrücklich sagt, in der doppelten Form der Erzeugung von Lebensmitteln und der Erzeugung von Nachkommen. Meillassoux zeigt nun, wie die Hauswirtschaft - im Gegensatz zur Horde - geprägt ist von einer Neuordnung auch der Reproduktion, nämlich der Frauen und ihres Produkts, der neuen Produzenten" (Frühformen 1985, 191). 51 Vgl. Henry Morgan, Urgesellschaft 1976.

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Gesellschaften Afrikas 52 - nur mit der Verwandtschaft seiner Mutter (= Matrilinearität) verwandt. Es hat nur einen Großvater oder nur eine Großmutter, einen Urgroßvater oder eine Urgroßmutter. Zur Verwandtschaft gehören also diejenigen, die in direkter männlicher oder weiblicher Linie auf einen Stammvater oder eine Stammutter zurückgehen. Je nachdem wieviele Söhne oder Töchter dieser oder diese hatte, kann es mehrere Linien, und je nachdem, wie weit man zurückrechnet, kann es kleinere oder größere Gruppen geben. Die Bedeutung dieses agnatischen Systems erschließt sich klarer, wenn man es mit dem Verwandtschaftssystem der Jäger und dem späterer Zeiten vergleicht. Die Verwandtschaft der Jäger erstreckt sich nicht nur auf eine Linie, sondern auf die männliche und die weibliche Linie gleichermaßen. Es ist das kognatische System, das unserem heutigen Verwandtschaftsbegriff entspricht. 53 Für dieses System ist charakteristisch, daß es sich facherförmig nach allen Seiten öffnet. Das hat in kleinen Gesellschaften zur Folge, daß jeder mit jedem verwandt ist und familiäre Grenzen sich im Diffusen verlieren. Demgegenüber bildet die agnatische Verwandtschaft in einer Gesellschaft feste Gruppen aus, die klar gegeneinander abgegrenzt sind. Jeder kann nur einer Linie oder - wie es in der ethnologischen Literatur allgemein genannt wird - einer lineage angehören. 54 52 In Afrika spricht man vom sog. "matrilinearen Gürtel" (Murdock, Africa 1959, 28), der quer über den ganzen Kontinent läuft, von Kongo, Zaire und Angola über Sambia und Malawi bis nach Tansania und Mosambik. Es sind dies Gegenden, in denen wegen der Beschaffenheit des Bodens Garten- oder Hackbau ohne Pflug betrieben wird, mit häufigem Wechsel der Felder (vgl. Aberle, Matrilineal Descent 1961,622; Douglas, Matriliny 1969, 121). Patrilinearität fmdet sich außer in Hirtengesellschaften regelmäßig bei Getreide- oder Reisanbau. Hier werden die Felder länger genutzt, und das Eigentum der Verwandtschaftslinien am Boden spiel~.eine größere Rolle. Diese Überlegungen zum Zusammenhang von Verwandtschaft und Okonomie deuten eine Antwort auf die Frage an, warum in einigen Gesellschaften Matrilokalität, in anderen Patrilokalität entsteht. Die Antwort lautet: Je nachdem, ob es arbeitsökonomisch günstiger ist, daß jeweils die jungen Männer oder die jungen Frauen an ihrem Wohnsitz bleiben. Es kommt also darauf an, um welche Art von Landwirtschaft es Sich handelt. Matrilokalität tritt dort auf, wo Gartenarbeit ohne Pflug möglich war. Nimmt man hinzu, daß die Arbeit der Frauen regelmäßig kollektiv organisiert war, so wird erst recht verständlich, warum die Männer zu ihren Frauen ziehen (zum Arbeitskollektiv bei Frauen vgl. Schlegel, Male Dominance 1972). 53 § 1589 BGB: ,'personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in gerader Linie verwandt. Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von derselben dritten Person abstammen, sind in der Seitenlinie verwandt." Bereits die Römer kannten die agnatischen und kognatischen Verwandtschaftsformen. Agnati waren die Personen, die unter der gleichen Hausgewalt eines pater farnilias standen oder gestanden hätten, wenn der gemeinsame pater familias noch lebte. Cognati waren alle Blutsverwandten, also diejenigen, die nicht nur in der männlichen Linie verwandt sind, wie die agnati, sondern auch in der weiblichen. Siehe dazu Kaser, Römisches Privatrecht 1971, 58; Dulckeit, Schwarz, Waldstein, Rechtsgeschichte 1989, 63. 54 Das angelsächsische lineage hat sich auch in der französischen ethnologischen Literatur durchgesetzt, weil es nicht mit historischen oder geographischen Besonderheiten beladen ist wie die römische gens oder die germanische Sippe. Die lineage bezeichnet lediglich eine Gruppe von Personen, die durch gemeinsame Abstammung verbunden sind, und zwar entweder nur in der weiblichen oder nur in der männlichen Linie.

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Auf diese Weise erhält die Gesellschaft eine festere Struktur. Bei den frühen Ackerbauern ist es sogar die einzige soziale Struktur, so daß sich gesellschaftliche und verwandtschaftliche Struktur decken. Was aber verbindet die Jägergesellschaften, wenn die einzelnen lineages unabhängig nebeneinanderstehen und eine Zentralinstanz fehlt? Die Antwort gibt die Heiratsregel der Exogamie, die für agnatische Gruppen typisch ist. Sie besagt, daß innerhalb der lineage nicht geheiratet werden darf. Daraus ergeben sich vielfaltige Heiratsbeziehungen zwischen den verschiedenen Linien. Jede einzelne Familie stellt infolge der unterschiedlichen Verwandtschafts zugehörigkeit von Mann und Frau eine Verbindung von Lineages dar. 55 Die Vielzahl dieser Verbindungen verbürgt das Gleichgewicht und die Integration dieser Gesellschaften. Eben dieses Moment der Exogamie, das zur Überschreitung der eigenen Lineage zwingt, hat Emile Durkheirn übersehen, als er die Gesellschaften der frühen Ackerbauern mit niederen Organismen verglich. Er beschrieb die einzelnen Linien wie die Ringe oder "Segmente" eines Ringelwurmes, die in ,,mechanischer Solidarität" hintereinander geschaltet sind. 56 Dieses Bild unterschlägt zwar die vielfältigen, exogamisch bedingten Querverbindungen, aber es verweist zutreffend auf die sehr geringe Arbeitsteilung der Segmente. Sie versorgen sich alle selbst, wählen ihren eigenen Sprecher und treffen unabhängige Entscheidungen. Im Verhältnis zu den Jägergesellschaften und zu staatlichen Gesellschaften leben die frühen Ackerbauern zweifellos in einer - wie man seit Durkheim sagt "segmentären Ordnung". 57 Es ist eine Ordnung, die noch keine Herrschaft kennt, aber es ist auch eine Ordnung, in der das Handlungsprinzip der Reziprozität seine alles überragende Bedeutung verliert. Mit der Zunahme der Solidarität der agnatischen Verbände mindert sich die alte Gegenseitigkeit der gesamten Gemeinschaft. Das wiederum begünstigt eine Radikalisierung der Verwandtschaftstruktur, aus der allmählich eine institutionaliserte Macht entsteht. 58 Die Funktionen der Ältesten und des 55 Gerade an den agnatischen Verbindungen wird deutlich, daß Verwandtschaft nicht in erster Linie Ausdruck biologischer, sondern sozialer Beziehungen ist. Wo die Kinder entweder nur zur Verwandtschaft ihrer Mutter oder nur zu der ihres Vaters gehören, werden die biologischen Bande getrennt. 56 Durkheim, Arbeit 1977, 215. 57 Im Hinblick auf die Verbindung der Segmente durch ihre Heiratsbeziehungen sprechen Fortes, Evans-Pritchard von einem "Gleichgewicht zwischen einer Zahl von Segmenten, räumlich nebeneinander gelegen und strukturell einander entsprechend, die örtlich und verwandtschaftlich defmiert sind und nicht in der Terminologie einer Verwaltung" (Afrikanische Systeme 1978, 155). Lucy Mair beschreibt die Einheit der Segmente sehr anschaulich als Stücke einer Orange oder eines runden Kuchens (Anthropology 1972,78). Uwe Wesel vergleicht das Nebeneinander der Lineages mit der Gemeinschaft der Völker in den Vereinten Nationen: ,,Das würde einem Nebeneinander verschieden großer Kreise entsprechen, die sich zwar nicht überschneiden, aber durch mannigfaltige Verbindungen zusammengehalten werden" (Früh/ormen 1985,212). 58 Institutionalisierte Macht steht am Ende einer Entwicklung, in der die segmentäre Ordnung in staatliche Herrschaft überführt wird. Die agnatische Verwandtschaft ist im

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Ahnenkults werden allmählich umgedeutet und mit der Zeit räumlich ausgedehnt. So entstehen Häuptlingsgesellschaften und schließlich Protostaaten, die frühen Königreiche. Ist deren Herrschaft hinreichend etabliert, so wird die alte agnatische Verwandtschafts struktur zunehmend lästig, da die Solidarität und Egalität der agnatischen Verbände den direkten Zugriff der Zentralinstanz auf den Einzelnen erschweren. Deshalb werden die Lineages in einem langen Prozeß der Entsegmentarisierung zerstört. An seinem Ende steht die Rückkehr zur kognatischen Verwandtschaft und der Durchbruch zur Herrschaft des Vertrages, der die Egalität durch formale Gleichheit und die Reziprozität durch die Gegenseitigkeit der Abrede ersetzt. Daß dieser Prozeß nicht notwendig in die Freiheit führt, wie von Maine angenommen wurde, bringt Uwe Wesel auf folgenden Nenner: "Der einzelne lebt nicht mehr in der Solidarität der festen Gruppen, sondern in der diffusen Porosität der kognatischen Verwandtschaft, die ihn individualisiert und dem direkten Zugriff staatlicher Herrschaft aussetzt. So steht kognatische Verwandtschaft am Anfang und am Ende der Entwicklung. Agnatische Verwandtschaft ist das Mittelglied, das der menschlichen Gesellschaft von der Seßhaftigkeit bis zur Entstehung des Staates fast überall Stabilität und Ordnung gegeben hat."59 bb) Konsens und Blutfehde Was zeichnet nun im einzelnen die verwandtschaftliche Ordnung der segmentären Ackerbauern und Hirten aus? Im Vergleich zu den Jägern und Sammlern fällt auf, daß die soziale Dichte zunimmt. An die Stelle locker gefügter Horden treten die fest gegliederten agnatischen Gruppen; die Bedeutung des Eigentums erhöht sich; es gibt viele Dinge, die Jäger noch nicht benötigen wie Häuser und Hausrat, Werkzeuge und Ackergerät. Auch deren Zuordnung muß geregelt werden. 60 Und es gibt sehr viel mehr Menschen, was eine Zunahme an Normen und Grundsatz egalitär. Deshalb verleihen die Positionen in segmentären Gesellschaften grundSätzlich keine Herrschaft. Die Repräsentanten von Dorf und Lineage sind Sprecher oder Älteste. Thre Funktion ist der Ausgleich, die Vermittlung, die Herstellung von Konsens. 59 Wesei, Frühformen 1985, 196. 60 Wie schon bei den Jägern und Sammlern wird bei der Zuordnung von Kleidung, Werkzeugen, Waffen und Schmuck die Schwelle unseres Privateigentums erreicht, sofern darüber auch durch Weitergabe verfügt wird. Weniger individuell verfügbar sind die Produkte der landwirtschaftlichen Tätigkeit, wie Getreide, kleines Vieh, andere Nahrungsmittel. Hier stellt sich nur die Frage des Wann und Wieviel des Verbrauchs, nicht jedoch des Eigentumsproblems, da die Dinge im Haushalt produziert und konsumiert werden. Was das Land anbetrifft, so steht es im gemeinschaftlichen Eigentum agnatischer Gruppen. Entscheidend ist, wer darauf siedelt, es bearbeitet und zu welcher Lineage er gehört. Dorthin gehört dann auch das Land. Abstrakte Eigentumsvorstellungen, losgelöst von den Menschen, die dort leben, kennen sie nicht. Gemeinschaftseigentum bedeutet indes nicht, daß allen alles in gleicher Weise gehört. Es ist vielmehr relatives Eigentum, und das heißt, daß auch andere Zugang haben können, im Rahmen agnatischer Verwandtschaft. Hinsichtlich des Herdenviehs hat sich die Auffassung von Engels als unrichtig erwiesen, daß das Privateigentum mit der Aufzucht von Rindern entstanden sei. Es gibt bei Herdenvieh verschiedene Eigentumsformen. Milchwirtschaft führt zu Verwandt-

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Institutionen bedeutet. Es muß Regeln geben für die Zugehörigkeit zur Verwandtschaftsgruppe, über Exogamie und Inzest,61 Brautpreisleistungen und Residenz, Zuordnung von Land und Vieh und ihre mögliche Vererbung, 62 über Reziprozität und Verbote von Verletzungen anderer, also Tötung, Körperverletzung, Ehebruch, Beleidigung, Diebstahl etc. Kommt es über diese Regelungen zum Konflikt, können die Ackerbauern nicht mehr so leicht auseinandergehen wie die Jäger. Sie müssen ihren Streit an Ort und Stelle schlichten. Das macht neue Konfliktmechanismen notwendig. 63 Als wichtigster Mechanismus zur Beilegung von Streit ist in allen segmentären Gesellschaften die Verhandlung beschrieben worden. 64 Sie wird mit dem Ziel der Einigung der streitenden Parteien geführt. Es ist allein diese Einigung und nicht ein autoritativer Schiedsspruch, der die friedliche Beilegung trägt. Damit ist der Konsens eine der wichtigsten Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung. Innerhalb einer Verwandtschaftsgruppe wird der Streit intern, häufig durch Einschaltung von Älteren beigelegt. Zwischen Angehörigen verschiedener Gruppen kann in einfachen Fällen unmittelbar, ohne Einschaltung Dritter verhandelt werden. Erst bei heftigem Streit wird regelmäßig die Vermittlung durch Dritte erforderlich. Bei denNuer etwa greift der Leopardenfellpriester oder Erdpriester ein, wenn jemand getötet worden ist. Die Bedeutung seiner Vermittlerrolle muß in Zusammenhang mit der Blutrache und deren drohende Ausweitung auf größere schaftseigentum, Fleischwirtschaft dagegen zu Privateigentum. Vgl. zum Eigentum am Land Bohannan, Tausch 1978,70; zum Eigentum an Herdenvieh vgl. Ingold, Hunters 1980; zum Nebeneinander von Verwandtschaftseigentum und Individualeigentum vgl. Gluckman, Barotse 1965; Godelier, Territory 1978, 399. 61 Über die Universalität des Inzestverbots gibt es Streit. Das liegt vor allem daran, daß es kein einheitliches Inzestverbot gibt. Allzu verschieden sind die Grade der Reichweite des Verbots, die Intensität der Mißbilligung von Übertretungen und die Vorstellungen der Menschen über die Gründe der Mißbilligung (vgl. dazu Schneider, Incest 1976, 149). Dennoch läß sich wohl doch sagen, daß dem Verbot der Heirat innerhalb der Lineage stets ein Verbot sexueller Kontakte unter Verwandten entspricht. 62 Die Vererbung spielt in segmentären Gesellschaften bereits eine größere Rolle als in Jägergesellschaften. Al?er es handelt sich im Gegensatz zur Erbfolge unseres bürgerlichen Rechts nicht um die Ubertragung von Vermögensrechten, sondern um die Nachfolge im Status der Verwandtschaft. Da Verwandtschaftseigentum vom Tod einzelner unberührt bleibt, ändert sich lediglich der Status der Beteiligten (Murdock, Social Structure 1949,38). 63 In der deutschen Rechtsethnologie wird zwischen Ordnungs- und Kontrollfunktionen des Rechts unterschieden (Schott, Primitive Gesellschaften 1970, 120; ähnlich die angelsächsische Rechtsanthropologie vgl. Roberts, Ordnung 1981, 17). Unter Ordnung versteht man die allgemeinen Regeln des Zusammenlebens. Jene Regeln, die im Konfliktfall für die Durchsetzung der allgemeinen Regeln sorgen, rechnet man der Kontrollfunktion des Rechts zu. Sehr vage entspricht das der Unterscheidung von materiellem Recht und Prozeßrecht. Im folgenden wende ich mich jenen Normen und Institutionen zu, die der Konfliktbeilegung dienen und die erst in segmentären Gesellschaften beobachtet wurden. Zum Unterschied von vorstaatlichen und staatlichen Konfliktlösungsmechanismen vgl. Colson, Tradition 1974. 64 Vgl. zum Programm der Erforschung von Verhandlungen und zur Rolle von Normen: Gulliver, Case-Studies 1969, 11; Koch, Jalamc 1974; Young, Leadership 1971.

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Segmente eines Stammes gesehen werden. 65 Da die Verwandten des Getöteten zur Tötung des Täters oder eines seiner Angehörigen an sich verpflichtet sind und diese Tötung ihrerseits entsprechend erwidert werden müßte, kommt es allein auf das Geschick des Leopardenfellpriesters an, die Aufregung der Beteiligten zu besänftigen und schließlich eine Einigung zu erzielen. Das Verfahren ist kompliziert und kann sich über Monate hinziehen. 66 Zuerst sucht der Täter das Haus des Priesters auf, um dort vom Blut des Getöteten gereinigt zu werden und um dort Schutz vor der Blutrache zu finden. Dieser Schutz wird ihm gewährt, bis die Sache beigelegt ist. Anfangs streichen die Verwandten des Getöteten um das Asyl des Täters. Sie beobachten, ob er es verläßt und ihnen dadurch Gelegenheit zur Rache gibt. Erst nach der Beerdigung legt sich ein wenig der Zorn der Verwandten, und der Leopardenfellpriester kann die Verhandlungen zur friedlichen Beilegung aufnehmen. Das Problem besteht nun darin, die Verwandtschaft des Getöteten zur Annahme der Sühneleistung, eine bestimmte Anzahl von Rindern, die von den Angehörigen des Täters zur Verfügung gestellt wird, zu überreden.67 Es gehört zum guten Ton, sich unversöhnlich zu zeigen und erst einmal abzulehnen. Der Leopardenfellpriester muß seine ganze Kunst aufwenden und schließlich mit Verfluchung drohen, bis man mit der Wiedergutmachung einverstanden ist. In diesem Bemühen unterstützen 65 Die Selbsthilfe in Form der Rache ist in vorstaatlichen Gesellschaften die einzige Möglichkeit, Regelverletzungen auszugleichen, wenn eine Einigung nicht zustandekommt. Die Rache kann den Verletzer, seine Verwandtschaft oder seine Habe treffen. Sie ist keineswegs immer so maßlos, wie man oft meint. Besonders für die Blutrache gibt es in vielen Gesellschaften genaue Regeln darüber, wie weit man gehen darf. Wird die Blutrache durch Gegenrache erwidert, spricht man von Fehde (vgl. Hoebel, Feud 1971,506). Hinsichtlich der relativen Häufigkeit von friedlicher und unfriedlicher Beilegung von Konflikten resümiert Wesel das Material folgendermaßen: "So läßt sich heute noch nicht einmal sagen, ob die Fehde in akephalen Gesellschaften überhaupt häufiger ist als in manchen modernen Gesellschaften. Sicher scheint nur, daß sie dort bei weitem nicht so verbreitet ist, wie man noch in den fünfziger Jahren geglaubt hat" (Frühformen 1985,329). 66 Die besten Schilderungen der Vermittlerrolle des Leopardenfellpriesters finden sich bei Evans-Pritchard, Nuer 1940, 152; ders., Nuer Religion 1956, 293; Howell, Nuer Law 1954,39. Die englischen Kolonialherren nannten sie Häuptlinge, weil sie glaubten, daß die Priester Macht besäßen. Ethnologen wie Evans-Pritchard und Howell haben dies entschieden bestritten: Die Leopardenfellpriester könnten keine Befehle erteilen. Übersehen wurde dabei. daß ab und zu in unruhigen Zeiten Männer auftraten, die für eine bestimmte Aufgabe beträchtliche Macht erlangten. Am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn der englischen Kolonialverwaltung gab es ruic naadh, sogenannte Propheten, Sprecher oder Führer des Volkes, die Kämpfe organisierten gegen arabische Sklavenhändler und englische Truppen. Sie repräsentierten aber keine Institution und waren ganz auf ihre persönliche Autorität angewiesen (vgl. dazu Greuel, Leopard-Skin Chief 1971, 1115; Sigrist, Anarchie 1979, 136; Mair, African Societies 1974, 134). 67 Auch für Körperverletzungen nennen die Nuer bestimmte Entschädigungssummen. Aus der Liste von Howell (Nuer Law 1954, 70): Bruch des Unterarms - 2 Rinder; Bruch des Oberarms - 6 Rinder; Bruch der Schulter - 6 Rinder; Ausschlagen der Zähne eines Mädchens - 2 bis 4 Rinder; Verletzung eines Auges - 5 Rinder; Verletzung beider Augen - 10 Rinder. Die Sätze erhöhten sich, wenn dauernde Schäden, z. B. Lähmungen nach Brüchen, eintraten.

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ihn entferntere Verwandte des Getöteten, die nicht im Verdacht stehen, wegen der Entschädigung auf Einigung zu dringen. Aber auch die näheren Verwandten, die die Rinder erhalten, bemühen sich, ihr Nachgeben nicht als opportunistisch erscheinen zu lassen. Sie beteuern, daß sie nur im Interesse des Getöteten handeln, da ein Teil der Rinder dazu gebraucht wird, um seine Frau mit einem Verwandten in seinem Namen zu verheiraten. Die Kinder gelten als rechtmäßige Kinder des Getöteten. Auf diese Weise besänftigt sich sein Geist, und die Einigung kann auf dessen Drängen zurückgeführt werden. Mit der Übergabe der Rinder fmdet die feierliche Versöhnung statt; anschließend kann der Täter - frei von Blutschuld - wieder auf seinen Hof zurückkehren. Es gibt viele andere Verfahren, andere Delikte und andere Entschädigungen betreffend. Auch ist das Verfahren der Blutfehde um einiges komplexer als hier dargestellt. Ausgespart wurden die großen Tabugefahren, in denen sich die Streitenden befmden und die nur durch zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen und Vermeidungen gebannt werden können. 68 Unerwähnt blieb desweiteren das Ordal, eine Art Gottesgericht, das zum Zuge kommt, wenn der Verdächtige die Tat bestreitet,69 oder das Ritual, das den Interessengegensatz der Parteien auf einer l!öheren Ebene dadurch beseitigt, daß man ihn zum Gegenstand einer universalen und damit neutralen Thematik macht, über die man nicht mehr streiten kann. 70 Bei aller Verschiedenheit, einen Streit zu beenden, verbindet die vielfältigen Konfliktlösungsmechanismen aber ein wichtiger Umstand: In segmentären Gesellschaften gibt es keine Institutionen, die Macht repräsentieren, Recht autoritativ zusprechen und Sanktionen durchsetzen. Unter den Ethnologen besteht heute Einigkeit darüber, daß z. B. der Leopardenfellpriester keinerlei Macht besaß, Befehle zu erteilen. Er sei auf eine unverbindliche Vermittlerrolle beschränkt gewesen. 71 Die Empfehlungen würden ihr Gewicht allein der persönlichen Geschicklichkeit des Vermittlers verdanken. Je größer seine persönliche Autorität und sein Verhandlungs geschick, desto stärker nehme er Einfluß auf das Ergebnis der Verhand68 Solange der Streit nicht friedlich beigelegt ist, droht die Verunreinigung, nueer. Dazu kommt es, wenn Verwandte des Getöteten mit denen des Täters gemeinsam essen und trinken. Unausweichliche Folge ist der Tod der Beteiligten. 69 Beim Ordal wird z. B. eine Kürbisflasche mit der Milch von einer Kuh des Getöteten gefüllt. Alle, die sich für unschuldig halten, sollen davon trinken. Denn sie sind, wenn es stimmt, nicht in der Gefahr des Tabubruchs beim gemeinsamen Essen und Trinken. Steht aber Blut zwischen ihnen und dem Getöteten, dann gibt es keine größere Gefahr für sie (vgl. Howell, Nuer Law 1954, 200). 70 Hierher gehört z. B. der Singstreit bei den Eskimos oder bei den Tiv (Bohannan, lustice 1957, 142). Ruinöse Tauschwettbewerbe, wie sie in Polynesien stattfmden (Young, Leadership 1971), können ebenfalls diese Funktion haben. Solch Streiten mit Nahrung, in deren Aufhäufen bei den anderen man sich gegenseitig zu überbieten versucht, kann den Konflikt allerdings auch verschlimmern, wie in manchen Formen des Potlatsch bei Indianern der amerikanischen Nordwestküste (Mauss, Gabe 1968). Zur Streitkunst der Männer bei den Jatmul auf Papua-Neuguinea vgl. Stanek,latmul 1982,39. 71 Evans-Pritchard, Nuer Religion 1956, 289.

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lungen. Letztlich bleibe jedoch die friedliche Streitbeilegung stets vom guten Willen der Kontrahenten abhängig. Daß gelegentlich dem Konsens auch mit massiven Mitteln Nachdruck verliehen wurde, belegt ein Bericht von Barton über die Tätigkeit des monkalun, dem Vermittler bei philippinischen Reisbauern vom Stamm der Ifugao: "Um zu einer friedlichen Einigung zu kommen, zieht er alle Register der lfugaoDiplomatie. Er schmeichelt, beschwatzt und überredet, macht Komplimente, droht, macht Druck, schimpft und macht versteckte Andeutungen. Er handelt die Forderungen des Klägers herunter und polstert die Vorschläge des Beklagten auf, bis ein Punkt erreicht ist, an dem die beiden Parteien einen Kompromiß schließen können. Wenn der Schuldige nicht auf vernünftige Argumente hören will und wegläuft oder sich beim Nähern kämpferisch zeigt, dann wartet der monkalun, bis er in sein Haus geht, folgt ihm, setzt sich vor ihn hin, das Kriegsmesser in der Hand, und zwingt ihn zuzuhören."72 Man kann darüber streiten, ob das "Messer in der Hand" des monkalun schon als Vorstufe eines juristischen Prozesses anzusehen ist,73 jedenfalls ist auch bei den Ifugao eine Streitschlichtung ohne ausdrückliche Zustimmung der Parteien unvorstellbar. Die (sehr seltene) Drohung mit dem Messer mag in die Motivation zur Einigung mit einfließen, sie ist aber keinesfalls das einzige und längst nicht das wirkungsvollste Motiv, das zum Einlenken zwingt. Ein stärkeres Motiv haben wir bereits bei den Nuer kennengelernt: die Angst vor der Blutrache. Sie übt erheblichen Druck auf die Bereitschaft zur Wiedergutmachung aus und dürfte auch wesentlich dazu beitragen, daß in Gesellschaften ohne Staat, ohne Gericht und Gerichtsvollzieher die Tötung von Stammesmitgliedern nicht auf die leichte Schulter genommen wird. Die Angst vor Blutrache und vor Gewalt gehört sicher zu den wichtigsten sozialen Sanktionen in allen akephalen Gesellschaften. 74 Ebenso wichtig sind die sich aus den religiösen und familiären Bindungen ergebenden Kontrollmechanismen. Nach wie vor ist der Glaube an Gott und seine helfende sowie strafende Gerechtigkeit Grundlage von Recht. Die Nuer sagen, Gott ist das Gesetz: ,,Er hat die Welt erschaffen, es ist sein Wort (!)."75 72 Barton, lfugao Law 1919, 94. In den USA wird neuerdings die Institution des Vermittlers (Mediators), der keinerlei Entscheidungsbefugnis besitzt, im außergerichtlichen Entscheidungsverfahren erprobt; vgl. Mähler, Mediation 1989,935. 73 Hoebel war der Meinung, man könne hier einen juristischen Prozeß in statu nascendi beobachten, vgl. Naturvölker 1968, 115. 74 Daraus sollte aber nicht geschlossen werden, daß Gewalt, Blutrache und Selbsthilfe die einzigen Grundlagen des Rechts der segmentären Gesellschaften sind. Evans-Pritchard, der in seiner Erklärung der strukturalen Relativität des Rechts der Nuer zu dieser Schlußfolgerung kommt (Nuer 1940, 169), übersieht, daß die Nuer ein deutlich ausgeprägtes Rechtsbewußtsein haben (vgl. Wesei, Früh/ormen 1985,269). 75 Nach Evans-Pritchard (Nuer Religion 1956, 106) kennen die Nuer einen höchsten Gott, kwoth. Das Wort bedeutet Geist, und wie das lateinische "spiritus" kann es auch Atmen und Atem heißen. Thre Gottesvorstellung ist alttestamentarisch. Sie reden Gott an mit gwandong, unser Vater. Trifft die Nuer ein Unglück, dann sagen sie: Es ist sein Recht, cuong. Gott ist immer im Recht, und dieses Wort cuong ist ein Schlüsselbegriff ihrer Religion.

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Daraus leiten sie ab, daß es sein Recht ist, zu geben und wieder zu nehmen. Und er nimmt denjenigen, die sich falsch verhalten, und gibt denen, die im Recht sind. Die Furcht vor Gottes Zorn dürfte somit ein ebenso starkes Motiv sein wie die Angst vor der Gewalt der Mitmenschen. Eine weitere und wahrscheinlich die bedeutendste Motivation zu konformistischem Verhalten geht vom Druck der Verwandtschaft aus. Wer sich unrechtmäßig verhält, verliert die Achtung der engeren Gemeinschaft. Das kann sich in einer Vielzahl von negativen Sanktionen zeigen. Über den Übeltäter wird geklatscht, was ihn der Schande oder der Lächerlichkeit preisgibt. 76 Dabei steht weniger die Beurteilung einer einzelnen Übertretung, sondern der ganzen Person im Vordergrund. Man fragt danach, was in Zukunft von ihm zu erwarten ist. Kommt die Umgebung zu einem negativen Ergebnis, dann kann in schwereren Fällen dem Übeltäter zeitweise der soziale Kontakt entzogen oder gar - was eine andere Art von Ausgliederung bedeutet - der Vorwurf der Hexerei und Zauberei erhoben werden. Mit dem Ausschluß aus der Solidarität der Gemeinschaft verliert der Betroffene automatisch die mit den Handlungsmaximen der Egalität und der Reziprozität verbundenen Vorteile. Verständlicherweise ist die Angst vor solchen Sanktionen sehr groß. Daher muß auch sie als ein bedeutsamer Faktor bei der Aufrechterhaltung der Ordnung gesehen werden. 77 Diese knappen Hinweise auf die sozialen Sanktionen in segmentären Gesellschaften dürften hinreichend belegen, daß die individuelle Gewalt nicht die einzige und nicht einmal die wichtigste Grundlage ihres Rechts ist. Die Regeln werden auch aus Angst vor religiösen und familiären Sanktionen befolgt. Es kann aiso in diesem frühen Stadium des Rechts keine Rede davon sein, daß sich die Menschen den Normen automatisch unterwerfen, daß ihr konformistisches Handeln nur eine "spontane Reizantwort"78 auf die Ordnungserwartung sei. 79 Es 76 Siehe dazu insbesondere Colson, Tradition 1974,51. 77 Hinzu kommt die Angst vor den Folgen von Tabuverletzungen, vor Krankheit und Tod. Malinowski hat gezeigt, daß es auch nach der Tat vorbeugende Maßnahmen gibt, mit denen man sich gegen solche Folgen schützen kann. Das sind die Opfer, die die Geister beruhigen. Tritt aufgrund der Opfer keine Krankheit ein, dann wird es auch zumeist zu keinem Geständnis kommen (vgl. Savage Society 1970). 78 So Hartland, Primitive Law 1924, 138. 79 Bei den Nuer gehört der Konsens geradezu zur Defmition ihrer Rechtsordnung. Wenn sie gefragt werden, wer Angehöriger eines Stammes sei, antworten sie, daß es unter ihnen thung, cut und ruok gäbe, also friedlichen Ausgleich bei Tötungen, Verletzungen, Ehebruch (Evans-Pritchard, Nuer 1940, 121). Die Befolgung des Rechts ergibt sich also aus dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren: "Im Bereich der engen Gemeinschaft ist es der moralische Druck, der die Bereitschaft zur Einigung erzeugt, nicht die drohende Gewalt, sondern die drohende Störung des allgemeinen sozialen Gleichgewichts, die durch Feindschaften entsteht. Dieser Druck wird umso schwächer, je weiter die am Konflikt Beteiligten voneinander entfernt leben. Je schwächer dieser Druck ist, umso stärker wird die Bereitschaft, den Konsens über die Drohung mit Gewalt herbeizuführen oder ihn notfalls durch Gewalt zu ersetzen. Eine Gewalt übrigens, die nicht wertfrei ist, sondern getragen vom cuong. Denn ein einzelner allein ist selten in der Lage, sein Recht gewaltsam durchzusetzen. Er braucht die Unterstützung von Freunden und seiner Ver26*

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gibt durchaus Regelverletzungen, und es gibt eine große Zahl von Reaktionsmöglichkeiten. Aber Sanktionen sind nie allein die Ursache dafür, daß Menschen Regeln einhalten. Wir wissen, daß Menschen lernen und insofern ihr Verhalten ändern können, aber wir wissen ebenso, daß Menschen strukturdeterminiert handeln und deshalb nicht befahigt sind, frei zu wählen. Die Menschen handeln auf der Grundlage ihrer Erfahrungen, und zu diesen Erfahrungen zählt die Geschichte ihrer Sozialisation, zählt das gelernte Regelwerk, zählen die religiösen Überzeugungen und das Vorbild derer, die sie vermittelt haben. Das kann aufgrund der biologischen Einheitlichkeit des Menschengeschlechts bei den Jägern und frühen Ackerbauern nicht anders gewesen sein. Man hält sich an die Ordnung, weil sich die Vorfahren an sje gehalten haben und weil man sie von ihnen gelernt hat. 80 Trägt sie zum individuellen Wohlbefinden bei, dann wird man sie auch ohne die Angst vor Sanktionen befolgen. In diesem Punkt hat sich bis heute nichts geändert. Was sich jedoch tiefgreifend gewandelt hat, ist das bei akephalen Gesellschaften typische vielfaltige Ineinander jener drei Ordnungsbereiche, die wir heute trennen: Recht, Moral und Sitte. Es stellt sich nun die Frage, welche Regeln aus der Palette von Höflichkeitsvorschriften bis zum Inzestverbot, und welche Sanktionen, die vom Klatsch bis zur Blutfehde reichen, gehören zum Bereich des Rechts und welche nicht. Es ist dies eine Frage nach den Unterscheidungskriterien der genannten Bereiche, eine Frage also nach dem jeweiligen Verständnis von Recht. Wenn wir vorstaatliches und staatliches Recht gegenüberstellen wollen, benötigen wir eine einheitliche Definition dessen, was wir als Recht bezeichnen wollen. Anderenfalls geraten wir stets in Gefahr, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.

wandtschaft. Und die erhält er regelmäßig nur, wenn allgemein die Überzeugung besteht, daß er das Recht auf seiner Seite hat. Diese Überzeugung wiederum ist eng verbunden mit dem religiösen Glauben an kwoth, der demjenigen hilft, der cuong hat, und den anderen straft, der Unrecht begeht, duer" (Wesei, Früh/ormen 1985,271). 80 Die intensive soziale Verflechtung begünstigt nicht nur die Einhaltung der Normen, sondern auch friedliche Lösungen für den Fall einer Übertretung. Andererseits fördert die Abschottung nach außen durch Cliquenbildung, besonders bei Patrilokalität, eher aggressive Tugenden (Roberts, Ordnung 1981, 163). Insgesamt kann für segmentäre Gesellschaften gesagt werden, daß bei ihnen die friedliche Beilegung von Streitigkeiten bei weitem überwiegt. Das hängt wohl auch damit zusammen, daß ihre materielle Ausstattung reicher ist als die der Jäger. Man kann jetzt Verletzungen mit Sachleistungen ausgleichen (vgl. Trimborn, Privatrache 1950, 139). Diese Buße ersetzt die Möglichkeit der Fluktuation, die mit der Seßhaftigkeit meistens verloren geht. Bei Tötungen haben sie oft die Höhe eines Brautpreises, der in der Verwandtschaftsgruppe des Getöteten eine Heirat ermöglicht. Auf diese Weise soll der Verlust wieder ausgeglichen werden (Hoebel, Naturvölker 1968, 310).

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3. Begriff des Rechts a) Abgrenzung zur Religion Prinzipiell sind drei Wege zur Beantwortung der Frage nach dem Recht in frühen Gesellschaften gangbar. Man kann zum einen eine sehr weite Formel konstruieren und alle vorhandenen Normen als Recht bezeichnen. 81 Man kann umgekehrt den frühen Gesellschaften jegliches Recht absprechen, dann muß man einen engen Rechtsbegriff wählen und die Verhaltensregelmäßigkeiten als bloße Gewohnheit definieren. 82 Der dritte Weg schließlich siedelt die frühe Ordnung irgendwo zwischen Recht und Gewohnheit an und muß daher einen neuen Begriff erfinden. 83 Alle drei Wege sind von Rechtsethnologen beschritten worden; keiner hat sich durchgesetzt. Ihre gemeinsame Schwäche beruht auf einer unhistorischen und damit unkritischen Übertragung moderner Begriffsbestimmungen auf vorstaatliche Verhältnisse. 84 Was den Kern unseres heutigen Rechts ausmacht, das mag bei den Jägern und Ackerbauern fehlen. Ist es deshalb weniger Recht, obwohl wir dort eine kunstvoll ausbalancierte Ordnung feststellen? Sehen wir uns also die Argumente genauer an und befragen sie nach ihrer Tauglichkeit für unsere komparativen Absichten. Der eben als dritte Möglichkeit bezeichnete Weg zieht eine Änderung der Terminologie in Betracht. Er trägt zwar dem Umstand Rechnung, daß der Begriff "Gewohnheit" für das komplizierte Ordnungsmuster der frühen Gesellschaften viel zu schwach ist, aber er will dafür dennoch nicht den Begriff Recht verwenden. Die Regeln und die Mechanismen zur Lösung von Konflikten seien doch zu verschieden von unserem Rechtssystem mit Gesetzgebung und Justiz. Daher solle man für das weitgehend herrschaftsfreie Regelungsmuster das englische Wort "jurai" gebrauchen. 85 Andere Autoren haben die Begriffe "Ordnung und 81 Dafür hat sich der einzige deutsche Ethnologe, der sich intensiver mit Fragen des Rechts beschäftigt, entschieden: Schott, Primitive Gesellschaften 1970, 107. 82 Das ist die Position von Hartland (Primitive Law 1924, 138), die zu einer heftigen Kontroverse mit Malinowski (Savage Society 1970, 10) führte. Dieselbe Position drückt sich in dem bekannten Motto vieler angelsächsischen Anthropologen aus: "Custom is king. " 83 Siehe dazu Radcliffe-Brown (Introduction 1950, 11), der entscheidend zur Verbreitung einer neuen Terminologie beitrug. 84 Vor demselben Problem steht die Rechtsgeschichte; dort wird es unter dem Stichwort der Hermeneutik und der historischen Methode diskutiert (vgl. Wieacker, Hermeneutik 1963; Kroeschell, Herrschaft 1968, 48). 85 Nach Auffassung von Fortes (Clanship 1945, 177, 226; ders., Kinship 1969, 87) soll der Begriff ,jural" etwa in der Mitte zwischen law und custom liegen. Einen ähnlichen Weg ist Pau1 Bohannan gegangen (lustice 1957,4,96). Er wies darauf hin, daß jede Gesellschaft ihre eigenen Vorstellungen habe. Er nennt sie folk system. Man müsse also darauf achten, was die Menschen dort selbst sagen und denken. Um das zu verstehen, brauche man zwar einen analytischen Rahmen aus unserer Sprache, aber diese Sprache soll möglichst neutral sein (siehe auch Nader, Introduction 1969,4).

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Konflikt" vorgeschlagen. 86 Man will mit diesen Begriffen sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede zwischen damals und heute bezeichnen. Aber es ist offensichtlich, daß so unverbindliche Allgemeinbegriffe keine präzisierenden Unterscheidungen hervorbringen können. Noch unbefriedigender ist, daß sich die Neuschöpfungen einer weitgehenden Akzeptierung des klassischen Rechtsbegriffs verdanken. Insofern treten sie bloß an die Stelle des gebräuchlichen Begriffs "Gewohnheit" oder "custom" und erneuern dessen Funktion als begrifflicher Antipode des eng definierten Rechts. So gesehen, brachten die Wortschöpfungen keine qualitative Neuerung gegenüber dem zweiten Weg, die frühe Ordnung zu verstehen. 87 Die Innovationskraft dieser neuen Worte steht und fällt also mit der Plausibilität des restriktiven Rechtsbegriffs. Einen solchen Begriff fanden die Ethnologen bei Thomas Hobbes und lohn Austin. Gegenüber anderen sozialen Ordnungssystemen sehen diese das Recht als Befehl des Souveräns, als Befehl des Staates. Und zum Befehl gehört der Zwang, die Sanktion manu militari, im Strafrecht etwa das Gefangnis und im Zivilrecht der Gerichtsvollzieher. Das entspricht nicht nur unserer heutigen Rechtswirklichkeit, sondern spiegelt die überwiegende Meinung der Rechtstheoretiker wider. 88 Spätestens seit Max Weber zählt denn auch Herrschaft zu den wichtigsten Grundbegriffen der Soziologie und des Rechts. 89 Ohne Herrschaft war Recht nicht mehr zu denken. Ohne sozial normiertes Gewaltverhältnis und ohne Durchsetzung mit physischem Zwang mußte Verhaltensregelmäßigkeit auf einer habituellen Ordnung beruhen als einem - wie Theodor Geiger meint 86 Statt des englischen Begriffs "conflict" wird bisweilen bewußt das Wort "dispute" verwandt (Gulliver, Case Studies 1969, 14). 87 Man gibt lediglich zu verstehen,daß es auch in frühen Gesellschaften Ordnung und Konflikte gibt. Aber die Wortwahl unterstreicht, daß die Mechanismen zur Lösung von Konflikten eben doch ganz anders als unser Rechtssystem mit Gesetzgebung und Justiz seien (siehe dazu Roberts, Ordnung 1981, 17). 88 Die Herrschaft des Staates aber muß gerecht sein, wenn sie ihre Friedensaufgabe erfüllen soll. Siehe dazu beispielhaft Henke: "Gerechte Herrschaft ist also Voraussetzung daftir, daß Recht und nicht Unrecht an die Stelle der umstrittenen Gerechtigkeit gesetzt wird. Gerechtigkeit der Herrschaft ist die Aufgabe, die in unserer Geschichte dadurch gelöst wurde, daß Herrschaft in Ämtern ausgeübt und so zur Amtsgewalt umgewandelt wurde, also im Staat. Es ist nicht Herrschaft schlechthin, sondern der Staat in seiner jeweiligen Gestalt, dem die Sorge für Frieden und Gerechtigkeit anvertraut ist und der Recht an die Stelle umstrittener Gerechtigkeit setzt" (Recht 1988, 414). Vgl. zum ,,zwang" als begriffswesentliches Merkmal allen Rechts Hoerster, Rechtspositivismus 1986,2480; Dreier, Recht 1986, 890. Krit. dazu Krawietz, Naturrecht 1987,209. 89 Im ersten Kapitel von "Wirtschaft und Gesellschaft" (1976) unterscheidet M. Weber Macht und Herrschaft. Macht ist die eher allgemeine Möglichkeit, Einfluß zu nehmen auf das Verhalten von Menschen. Sie kann auf sehr persönlichen Umständen beruhen, wie physische Kraft, Klugheit, persönliche Autorität. Für Max Weber ist es im wesentlichen wirtschaftlicher Einfluß. Herrschaft ist institutionalisierte Macht. Herrschaft ist ein sozial normiertes Verhältnis, nicht bloß faktischer, sondern vor allem politischer Art. Herrschaft ist für Weber universell, da in der Natur des Menschen begründet; zur Frage der Universalität von Herrschaft siehe auch Dahrendorf, Amba 1964, 83; krit. Sigrist, Amba 1964, 272.

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"vorrechtlichen entwicklungsgeschichtlichen Zustand". 90 Damit war für die Mehrzahl der Ethnologen die Frage nach dem Recht in frühen Gesellschaften entschieden: Da es dort weder Gefängnisse noch Gerichtsvollzieher noch Vergleichbares gibt, hatten sie kein Recht. Die bekannteste Formulierung dieser Meinung stammt von Radc1iff-Brown: "Der Begriff ist jedoch üblicherweise beschränkt auf ,soziale Kontrolle durch die systematische Anwendung von Zwang durch eine politisch organisierte Gesellschaft' (Pound) ... In diesem Sinn haben einige frühe Gesellschaften kein Recht, obwohl sie alle Gebräuche haben, die durch Sanktionen gestützt werden."91 Recht soll es danach nur in politisch organisierten, in kephalen Gesellschaften geben. Nun war nicht zu übersehen, daß das Leben der Jäger und Ackerbauern in geordneten Bahnen verlief. Anarchie war nirgendwo ausgebrochen. 92 Wie aber soll man eine Ordnung nennen, die nicht von oben, von einer Obrigkeit kommt, sondern von den Gesellschaftsmitgliedern selbst hergestellt und in Verhandlungen, Diskussionen und Palavern stets erneuert wird? Für diese uns so fremde Ordnung bürgerte sich der Begriff" custom" ein. Er sollte die Tatsache betonen, daß die Mitglieder der segmentären Gesellschaften die Gewohnheit haben, in bestimmten Situationen auf bestimmte Weise zu handeln. "Man verhält sich so bei uns." Das ist die Feststellung einer bloßen erfahrungsmäßigen Regelmäßigkeit, eben einer Gewohnheit. 93 So drückt man sich aus, wenn für das Handeln ein sittliches Motiv zu fehlen, wenn einzig die unendliche Wiederholung ihre suggestive Kraft zu entfalten scheint. Von den Vorschriften der Gewohnheit, die sich der Dignität der Überlieferung verdanken, bis zu den Normen der Moral, die eine Idee des Guten verkörpern, ist nach Auffassung von Theodor Geiger entwicklungsgeschichtlich ein weiter Weg zurückzulegen: "Die Kette der Wiederholungen hinterläßt eine psychische Spur bzw. ein ,Engramm' und wird allmählich so gefestigt, daß sie im Bewußtsein mit dem Attribut ,das ist in Ordnung' ausgerüstet wird. Die Korrektheitsvorstellung ,das ist in Ordnung' ist der erste 90 Geiger, M oral 1979 , 90: ,,Nach üblicher Begriffsbildung ist für das Recht gegenüber anderen sozialen Ordnungstypen kennzeichnend, daß man als Recht die Ordnung bezeichnet, die in einer Gesellschaft mit einer Zentralgewalt (Staat) aufrechterhalten wird, gerade soweit diese Ordnung auf ein Normsystem gegründet ist. Eine nur habituelle Ordnung wird als vorrechtlicher entwicklungsgeschichtlicher Zustand betrachtet. Mit dem Rechtsbegriff wird die Vorstellung verknüpft, daß die Gesellschaftsmitglieder den verbalen Anordnungen einer Autorität ,nachkommen'. Dieser Sachverhalt scheint mit dem Entstehen einer territorialen Herrschaft Hand in Hand zu gehen ... Auch eine Gewohnheitsregel bekommt (sekundär) Gesetzescharakter, sobald eine Autorität ihre Aufrechterhaltung für die Zukunft verlangt. Wird die Gewohnheit von der naiv-faktischen auf die reflektivnormative Ebene übertragen, wird sie zum Gewohnheitsrecht. Mit diesem Ausgangspunkt wird die Rechtsmaschinerie als ein soziales Ordnungssystem bestimmt, das auf der Durchführung von im voraus aufgestellten Normen beruht." 91 Radcliffe-Brown, Primitive Law 1952,212. 92 Sigrist spricht deshalb von ,,regulierter Anarchie" (Anarchie 1979). 93 Zur begrifflichen Unterscheidung von Gewohnheit, Sitte und Moral vgl. Geiger,

Moral 1979, 55.

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Schritt zu dem im eigentlichen Sinn moralischen Überbau ,Dies ist gut' ." 94 Geht man mit der Mehrzahl der Ethnologen davon aus, daß die Menschen in frühesten Gesellschaften bloß gewohnheitsmäßig handeln, dann befinden sie sich nach Geigers Definition in einem prämoralischen Zustand. Sie hätten demzufolge die typische moralische Aussage, nämlich die Wertung: "diese Handlung ist gut", noch nicht ausgebildet, befänden sich noch im ersten Stadium der phylogenetischen Stufenfolge, die von der Gewohnheit über die Sitte bzw. den Brauch bis zur Moral führt. 95 Eine derartige Behauptung steht indes mit den heutigen Befunden im Widerspruch. Sie trifft schon nicht mehr auf die Jäger und erst recht nicht auf die Ackerbauern zu. Nehmen wir als Beispiel die australischen Walbiri. Dieser Jägerstamm hat sogar ein eigenes Wort für seine Ordnung. Es heißt djugaruru und bedeutet wörtlich "die Linie" oder "der gerade, der richtige Weg".96 Mit dieser Bezeichnung kommen wir schon in die Nähe unserer Vorstellungen vom Recht, denn auch in unserem Begriff steckt die Bedeutung von ,,richtig, aufrecht, gerade". Zumindest aber ist mit der Ordnungsvorstellung der Walbiri die Stufe der moralischen Wertung erreicht: Handlungen, die der ,,Linie" entsprechen, sind gut und werden von den mythischen Ahnen belohnt. Handlungen, die von der ,,Linie" abweichen, sind "Sünde", z. B. jubda bei den Andamen, und haben schlimme Folgen. 97 Freilich, im Begriff der "Sünde" überwiegt die Furcht vor der Katastrophe das Bewußtsein einer sittlichen Schuld. Das hat Ethnologen zu der Meinung gebracht, die Naturreligionen der Jäger und Sammler hätten keinen normativen Charakter, sondern nur eine existentielle Funktion. 98 An dieser Auffassung ist richtig, daß die Naturreligionen in erster Linie an der objektiven Erklärung der Welt orientiert sind. Sie erklären Kausalverläufe, Geiger, ebd. 60. Die Sitte drückt aus, daß eine vorgestellte Handlungsweise Pflicht ist: "Die Sittennonn sagt ohne Gedanken an eine aktuelle Situation und eine bestimmte Person aus, daß eine vorgestellte Handlungsweise als Pflicht gefordert wird" (Geiger, ebd. 59). Die Moral ist das dritte Glied in der Stufenfolge Gewohnheit - Sitte - Moral. ,,Die moralische Wertung entsteht mit der Sitte als realer Grundlage. Ist aber die Wertung einmal vorgenommen, wird sie vom Bewußtsein als Grund der Sittennonn aufgefaßt, nicht als Ausfällung (Derivat) der Gewohnheit, und wirkt als Beweggrund für das mit der Sittennonn übereinstimmende Verhalten" (ebd. 60). 96 Meggitt, Desert People 1962, 251. 97 Im übrigen kann man bereits in Jägergesellschaften regelmäßig unterscheiden zwischen Nonnen, die unbedingt eingehalten werden müssen, und deren Bruch zu Sanktionen führt, und solchen Nonnen, auf deren Einhaltung kein starker Zwang liegt. Das entspricht unserer Unterscheidung von Recht und Sitte (vgl. Meggitt, ebd. 252). Wir finden auch die Vorstellung, die verschiedenen Regeln würden sich zu einem Ganzen zusammenfügen: zur Summe aller Rechtsnonnen. So setzen z. B. die Mbuti ihr gesamtes Verhalten zum Wald in Beziehung. Das Verhalten ist gut, wenn es dem Wald gefällt. Andere Jäger haben ihre Ordnung noch stärker personalisiert. Die Feuerländer beziehen sie auf einen Himmelsgott, Watauinajwa, der Uralte (Gusinde, Feuerlarul-Indianer 1937, 1003). 98 Vgl. dazu Service, Hunters 1979, 5. Kap. 94 95

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den Wechsel der Jahreszeiten, die Veränderungen der Gestirne und des Wetters, Erfolg oder Mißerfolg bei der Jagd, Krankheit und Tod. Weniger tragen sie zur subjektiven Deutung des Individuums bei. "Das Gute wird in erster Linie im objektiv konformen Verhalten gesehen, nicht in subjektiven Motiven."99 Das heißt, die Jäger differenzieren nicht sorgfältig zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit. 100 Das hat man auch in staatlichen Gesellschaften bis zum Beginn der Neuzeit nicht getan. Dennoch wird niemand behaupten wollen, die mittelalterlichen Gesellschaften hätten keine Moral besessen. Es war eben eine andere Moral, als wir sie kennen. Und die Moral der Jäger war wiederum eine andere, als die des Mittelalters. Der jeweilige Unterschied betrifft demnach nicht die Frage nach der Moralität der Moral, sondern die Frage nach den gesellschaftlichen Grundlagen, die die moralischen Unterschiede hervorbringen. \01 In diesem Punkt gibt es nun beträchtliche Divergenzen zwischen vorstaatlichen und staatlichen Gesellschaften; sie zeigen sich vor allem in der unterschiedlichen Einstellung zur Gewalt. Vielen Ethnologen war aufgefallen, daß sich die Naturgötter verhältnismäßig wenig für den Streit der Menschen untereinander, das neminem laedere, interessieren. \02 Weder der Gott der Eskimos noch derjenige der Andamer oder der Kung kümmern sich um Mord, Diebstahl oder Ehebruch. \03 Auf Vergehen dieser Wesei, Früh/ormen 1985, 180. Dennoch ist wohl auch schon in frühen Gesellschaften zwischen der absichtlichen und der unabsichtlichen Tötung unterschieden worden (vgl. Wesei, ebd. 346). Aber der Unterschied macht sich lediglich in der Höhe der Ausgleichsleistungen bemerkbar. Wiedergutmachung kann auch verlangt werden, wenn dem Täter ein subjektiver Vorwurf nicht gemacht werden kann. Nur bei Notwehr machte man eine Ausnahme. Ansonsten bleibt die deliktische Haftung in weiten Bereichen objektiv (zur Regelung im frühen römischen Recht vgl. Dulckeit, Schwarz, Waldstein, Rechtsgeschichte 1989, 66). \01 Die geringen Unterscheidungen in der Zurechenbarkeit erklärte man sich lange mit der Vermutung, daß in frühen Gesellschaften die Individualität der Menschen noch nicht genügend ausgebildet sei. Wir haben gesehen, daß dies nicht zutrifft. Die Jäger und frühen Ackerbauern können sehr wohl zwischen Gut und Böse unterscheiden, und sie richten ihr Verhalten danach aus. Infolgedessen haben sie auch Bezeichnungen für persönliches Versagen. Daß sie dennoch eher zu objektiver als zu subjektiver Zurechnung neigen, erklärt sich aus dem sozialen Umfeld der Haftung (vgl. Moore, Legal Liability 1978,82). In einer Welt, in der vielfältige natürliche Gefahren lauern, und in der überdies Zentralinstanzen zur Abwehr von Gefahren fehlen, wird die äußere Sicherheit sehr hoch bewertet. Also können äußere Handlungen, selbst wenn sie nicht verschuldet sind, zur Haftung führen. Auch in unserem Recht gibt es immer dann eine objektive Haftung, wenn wir die Sicherheit des Gefährdeten höher bewerten als das persönliche Verschulden des Schädigers. Zum Beispiel muß beim Betrieb einer Eisenbahn, eines Kraftwerkes oder eines Atomkraftwerkes Schadensersatz geleistet werden, wenn ein Schaden eintritt, ohne daß es auf subjektives Verschulden ankommt. Wir nennen diese objektive Zurechnung Gefährdungshaftung. \02 Das berichtet für die Semang, Negritos im Bergland der Malaiischen Halbinsel, Schebesta, Negrito 1957,96; für die Eskimos Service, Hunters 1979,5. Kapitel. \03 Diese Beobachtung hat erheblich zur Theorie vom rein existentiellen Charakter der Religion beigetragen. Wenn die Gottheiten sich, so meint man, für Mord und Totschlag, Diebstahl und Ehebruch nicht interessieren, dann liegt es eben daran, daß die Religion in frühen Gesellschaften nicht normativ sei (so Service, Hunters 1979). 99

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Art reagieren in erster Linie der Verletzte und seine Familie und dies eher mit Rachegefühlen als mit Gefühlen des Abscheus und der Empörung. Woran mag das liegen? Immerhin kennen wir in unserer Rechtsordnung keine Delikte, auf die wir empörter reagieren als auf Tötungsdelikte. Solche Taten sind bei uns eine Angelegenheit der Allgemeinheit, wir würden ihre Ahndung keinesfalls dem Verletzten überlassen. Mit dem Hinweis auf die Allgemeinheit und ihre Verkörperung im Staat ist bereits die Erklärung für die unterschiedliche Gewichtung der Vergehen angedeutet: erst staatliche Gesellschaften haben ein eigenes Interesse an der Verfolgung von Tötungs- und Eigentumsdelikten. In vorstaatlichen Gesellschaften verletzen diese die Rechte einzelner Individuen, in traditionalen und modemen Gesellschaften tangieren sie die sozialen Grundlagen und werden dementsprechend als Staatsdelikte geächtet. Auf diesem Weg sucht auch Uwe Wesel eine Antwort auf die Frage, warum Mord und Totschlag, Diebstahl und Ehebruch bei den Jägern nicht zum engeren Bereich der religiösen Vorstellungen gehören: ,,Denn was uns empört, ist die Gewalt. Aber wenn sie vom Staat nicht, wie bei uns, monopolisiert ist, dann gehört sie zum Streit. So, wie bisher der Krieg zum Streit zwischen den Staaten gehört. Dessen tausendfache Opfer werden auch nicht immer mit moralischer Entrüstung beklagt. Erst mit dem staatlichen Gewaltrnonopol beginnt die moralische Ächtung privater Gewalt. Vorher ist sie beklagenswerter Teil eines Streits zwischen einzelnen. Auf diesen Streit kommt es mehr an. Seine Gründe sind entscheidend für die allgemeine - moralische - Beurteilung der Tat. Ganz anders ist es mit dem Inzest. Für ihn gibt es keine Rechtfertigung. Er gefährdet die Ordnung von Familie und Verwandtschaft, die soziale Grundlage. Er ist viel gefährlicher, sozusagen Hochverrat, wird also tabuisiert und moralisch viel stärker verurteilt. Und deshalb sind auch regelmäßig die Götter betroffen." 104 Die Götter scheinen also dort besonders betroffen zu sein, wo das Kollektiv durch die Taten der Gesellschaftsmitglieder in Gefahr gerät. Das ist offenbar bei Tötungsdelikten, Diebstahl und Ehebruch nicht in dem Maße der Fall wie in staatlichen Gesellschaften. Sie kommen zum einen sehr selten vor 105, zum anderen scheint man durch die Androhung der Blutrache und durch flexible Verhandlungsstrategien die Dinge selbst gut im Griff zu haben. Die Götter werden demnach nur bemüht, wenn der Kembereich der religiös-rechtlichen Ordnung berührt ist, dann nämlich, wenn die Grundlagen der Familie und der Verwandtschaft sowie das Inzestverbot tangiert sind. Erst in staatlichen Gesellschaften hingegen, wo nicht die Familie, sondern das Individuum im Mittelpunkt der Ordnung steht, nimmt der Schutz von Rechtsgütern des einzelnen zu. Ab diesem Zeitpunkt beginnt sich dann auch die Religion stärker für die Individualrechtsgüter des Lebens, des Eigentums und der Ehe zu interessieren. Erst lange Zeit nach den Wesei, Früh/ormen 1985, 18l. Die Semang behaupten gar, daß diese Delikte bei ihnen völlig unbekannt seien; vgl. Schebesta, Negrito 1957, 96. Wo diese Delikte vorkommen, werden sie nicht so sehr als Verletzung von Rechten, sondern als Angriff auf die Person des Betroffenen angesehen. 104

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profanen Verboten der Jäger nimmt zum Beispiel der biblische Gott die Tötung, den Ehebruch und den Diebstahl in seinen Moralkodex auf. Das besagt nun sehr eindeutig, daß die weit verbreitete Theorie der Entstehung des Rechts aus der Religion nicht richtig sein kann. 106 Wenn zu Beginn der Entwicklung die heiligsten Güter späteren Rechts - Leben, Eigentum, Ehe - nicht unter dem Schutz der Götter, sondern nur des profanen Rechts standen, dann kann das Recht genetisch nicht aus der Religion abgeleitet werden. Das Recht ist anfangs eng mit der Religion und der Moral verflochten, aber sein Regelungsbereich deckt sich nicht vollständig mit den übrigen Ordnungsfaktoren. Ob wir sie Recht, Religion oder Moral nennen wollen, es gibt in den vorstaatlichen Gesellschaften Vorstellungen über das Gute und über die Pflicht, das Gute zu tun. Damit ist der normative Gehalt der früheren Regelungen erwiesen und die These von der bloß gewohnheitsmäßigen Wiederholung konformen Verhaltens widerlegt. Selbst die frühesten Jäger kennen Mythen, die Moralität vermittein. 107 Es fragt sich daher, ob es bei Menschen überhaupt die phylogenetische Stufe des "prämoralischen" Zustands der bloßen Handlungsgewohnheit gibt. Das ethnologische Material kann diese ersten Spuren der Menschheit wohl nicht mehr nachzeichnen. Hier hilft unser Wissen von der ontogenetischen Entwicklung vernunftbegabter Lebewesen weiter: Danach können sich denkende Menschen niemals in einem "prämoralischen" Zustand befinden. Ein solcher Zustand wäre aus erkenntnisbiologischer Sicht ein "unmenschlicher". Um das zu begründen, genügt es, sich an das Konzept der ,,Affektlogik" zu erinnern. 108 Der Begriff "Affektlogik" weist darauf hin, daß unsere geistigen Schemata stets durch affektive und kognitive Komponenten bestimmt sind. Dabei kommt der Affektivität die Aufgabe zu anzuzeigen, was dem Organismus nützlich und 106 Die Theorie wird Henry Maine zugeschrieben (vgl. Seagle, Recht 1967, 175; Diamond, Primitive Law 1971, 47). Man bezieht sich dabei auf folgenden Satz von Maine: ,,Es ist auch genug erhalten geblieben von diesen (antiken Gesetzes-)Sammlungen, sowohl im Osten als auch im Westen, um zu zeigen, daß sie religiöse, rechtliche und moralische Vorschriften miteinander vermischen, ohne Rücksicht auf ihre grundlegenden Unterschiede; und das stimmt mit allem überein, was wir aus anderen Quellen über frühes Denken wissen, daß nämlich die Trennung von Recht und Moral und von Religion und Moral eindeutig erst auf späteren Entwicklungsstufen des Denkens stattgefunden hat" (Ancient Law 1977, 9; übers. von Wesei, Früh/ormen 1985, 183). Maine hat also nur gesagt, daß Recht und Religion in frühen Gesellschaften eng miteinander verflochten waren. 107 Für die Ordnung der australischen Walbiri gibt Meggitt (Desert People 1962,251) eine eindeutige Auskunft: "Das Recht der Walbiri ist ein Corpus von juralen Vorschriften und moralischen Beurteilungen, die im einzelnen festlegen: (a) die Rechte und Pflichten (Rollenerwartungen), die mit dem Status in der Gesellschaft verbunden sind, (b) die Art und Weise, in der ein vernünftiger Inhaber dieses Status solche Erwartungen erfüllen sollte, und (c) das Verfahren, das einzuhalten ist, wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden. Einhaltung von Recht ist als solche eine ihrer wichtigsten Tugenden, denn, so meinen sie, dadurch unterscheiden sich die Walbiri von allen anderen Menschen, die deshalb im Range unter ihnen stehen" (übers. von Wesel,Frühformen 1985, 179). 108 Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 2 11.

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was ihm nicht nützlich ist. In jede Handlungsanweisung fließen auf diese Weise wichtige Infonnationen über Lust oder Unlust ein. Zum Beispiel ist es beim Aufbau eines kognitiven Schemas über den Umgang mit Feuer erforderlich, daß in ihm auch Unlustgefühle fest enthalten sind, die zur Vorsicht gemahnen. Nicht anders verhält es sich mit den inneren Schemata im Umgang mit Menschen. Wer uns an die frühkindlichen Vorbilder erinnert, dem werden wir Verhaltensweisen entgegenbringen, die wir gegenüber den ersten Bezugspersonen gezeigt haben. Das liegt daran, daß wir in der Regel nur das wiederholen, was funktioniert. 109 Und was funktioniert, das bewerten wir positiv, das erhält eine stabile emotionale Färbung; bewährt es sich weiterhin, werden wir es "gut" nennen. Wir können also keine kognitiven Systeme ausbilden, ohne sie gleichzeitig affektiv zu färben. Mit anderen Worten, es gibt kein menschliches Handeln, das nicht zugleich eine Wertung über "gut" und "böse" enthielte; also gibt es kein menschliches Handeln ohne moralische Bedeutung. 110 Nimmt man hinzu, daß menschliches Handeln in der Sprache stattfindet, dann ist die ethische Bedeutung unseres Tuns vollends einsichtig: Nur in Zusammenarbeit mit anderen bringen wir eine Welt verläßlicher Kognitionen hervor. Eine solche Welt läßt sich nicht mit Hilfe automatischer Verhaltensgewohnheiten konstruieren; sie setzt eine mit Selbstbeobachtung und Selbstreflexion einhergehende Lernfähigkeit voraus. Über diese Lernfähigkeit müssen schon die Jäger verfügt haben, wenn sie Götter erfmden konnten, die den ,,richtigen", den "geraden Weg" gewußt haben. b) Spezifika: Autorität, Konsens und Sanktionen Bleibt noch zu diskutieren, ob alle Regeln des ,,richtigen" Wegs in akephalen Gesellschaften als Recht bezeichnet werden sollten. Einige vorsichtige Schritte in dieser Richtung unternahm Alfred Kantorowicz, ein englischer Rechtshistoriker, der mit der Herausgabe einer Weltgeschichte des Rechts beauftragt wurde. 111 Seine Absicht war, auch die frühen Gesellschaften in den Entwicklungsgang des Rechts aufzunehmen. Dazu benötigte er eine Defmition des Rechts, die vom üblichen Kriterium der staatlichen Herrschaft und des physischen Zwangs abwich. Sollte die Defmition auch die herrschaftslosen Gesellschaften und deren vielschichtige Sanktionen umfassen, mußte sie in der Abstraktion eine Stufe höher gehen und auch physische, religiöse, magische, materielle und gesellschaftliche Zwänge beinhalten. Kantorowicz fand das zentrale Kriterium für die Existenz von Recht in der berühmten Sentenz von Hobbes: Auctoritas non veritas facit legem. 112 Zwar meinte Hobbes mit auctoritas den englischen Souverän, der als 109 Siehe zu den autopoietischen Merkmalen "Induktivität" und "Konservativität" Kap. 1 II 2. 110 Man könnte dies die außervertraglichen Voraussetzungen des Vertrags nennen; vgl. hierzu Röhl, Vertrag 1978, 235. 111 Kantorowicz, Recht 1963. 112 Zu Hobbes's Vorstellung von der "auctoritas" vgl. Hobbes, Leviathan 1981, 97.

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Gesetzgeber und oberster Richter zugleich einziger Inhaber legitimer physischer Gewalt war, andere verstanden schließlich unter auctoritas nur noch die Existenz von Gerichten, 113 aber wenn man den Begriff noch weiter verallgemeinerte, ließ er sich nach Ansicht von Kantorowicz mit der Ordnung in frühesten Gesellschaften vereinbaren. Es genügte, den Begriff auctoritas mit jedweder Autorität gleichzusetzen. Diese mußte nicht unbedingt ein König, ein Gesetzgeber oder ein Gericht sein, wenn sie nur "gerichtsfahig" war. Solche "gerichtsfähigen" Personen habe es schon bei den Jägern gegeben: "Selbst dort, wo - wie auf den AndamenInseln - Häuptlinge noch unbekannt sind, werden Streitigkeiten durch gewisse Älteste von besonderer persönlicher Autorität entschieden. Es ist zweifelhaft, ob überhaupt noch irgendwo auf der Erde Eingeborene gefunden werden können, die in einem vorrechtlichen Zustande leben." 114 Mit der Formel von der Autorität, die in Konfliktfällen den richtigen Weg weist, konnte man alle Ordnungen unter den Begriff des Rechts fassen. Aber es ist nicht zu übersehen, daß die Autorität zum Beispiel der kleinen alten Männer bei den Pygmäen-Jägern auf den Andamen-Inseln äußerst schwach war. Sie vermochten keine Entscheidungen zu treffen, allenfalls beeinflußten sie die Lösung des Konflikts. Schon gar nicht waren sie in der Lage, die Lösung gewaltsam durchzusetzen. Alles hing vom guten Willen der streitenden Parteien und deren Verwandten ab. Für die Jägergesellschaften kann daher ganz generell festgestellt werden, daß die Verhandlung, die gemeinsame Diskussion und der sich schließlich langsam einpendelnde Konsens der Gruppe viel wichtiger sind als die Autorität einzelner Personen. In segmentären Gesellschaften spielt die Autorität der Älteren dann eine größere Rolle. Sie wird im Rahmen der agnatischen Verwandtschaftsstruktur institutionalisiert und wandelt sich schließlich in kephalen Gesellschaften zur Herrschaft, die verbindliche Entscheidungen fällt. Erst für diese Ordnung trifft das Kennzeichen der auctoritas in vollem Umfang zu. Will man jedoch die Ordnung der Jäger und Sammler nicht aus dem Rechtsbegriff ausgliedern, muß man zur auctoritas mindestens einen weiteren und zwar den für den Beginn des Rechts entscheidenden Faktor, die veritas, hinzunehmen. Diesen Weg ist Leopold Pospisil, der wohl profilierteste amerikanische Rechtsethnologe, gegangen. 115 Für ihn bleibt die Autorität das wichtigste Moment des Rechts, aber nur im Zusammenspiel mit anderen Faktoren, insbesondere der veritas. Im Gegensatz zu Thomas Hobbes lautet daher seine Definition: "auctoritas 113 Insbesondere für Cardozo (Law 1924) war die Existenz von Gerichten das wesentliche Merkmal für das Vorhandensein von Recht. Damit hatte zwar Cardozo die Zwangstheorie verlassen, aber seine Definition ließ keine exakte Grenzziehung zwischen Gerichten und anderen Beratungsgremien zu. Überdies wußte man seit Hoebel, daß in frühen Gesellschaften sehr häufig sogar Beratungsgremien fehlten. Also mußte Kantorowicz den Begriff "Gericht" um einiges abstrakter fassen, sollte er auch auf Jägergesellschaften Anwendung fmden. 114 Kantorowicz, Recht 1963, 93. 115 Vgl. Pospisil, Kapauku Papuans 1958; ders., Recht 1982.

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et veritas faciunt legern." Von geringerer Bedeutung sind zwei weitere Faktoren, die das Recht ausmachen, nämlich die Sanktionen 116 und das, was er obligatio 117 nennt. Mit letzterem ist gemeint, daß es sich bei rechtlichen Konflikten um die Verletzung von gegenseitigen Verpflichtungen lebender Individuen und nicht um die Verletzung gegenüber Ahnen oder Göttern handelt. Mit der obligatio soll das für früheste Gesellschaften charakteristische Ineinander von Recht und Religion begrifflich aufgeknüpft werden. Sie ist kein universales Problem wie die veritas. Pospisil sagt nicht "Wahrheit", sondern "intention of universal application". Übersetzt bedeutet es soviel wie die Überzeugung der allgemeinen Gültigkeit oder Anwendbarkeit von Normen. 118 Eine Regel ist hiernach in einer Gesellschaft nur dann eine Rechtsnorm, wenn alle darin übereinstimmen, daß sie allgemein ist und ohne Ausnahme angewendet werden muß. Diese "Wahrheit" der allgemeinen Überzeugung stellt in einem gewissen Sinn die Gegenposition zu Hobbes dar, der nur den staatlichen Befehl als Rechtsquelle gelten lassen will. Die "veritas" hingegen sieht das Recht als im Volke verankert, als Ausdruck des stillen Wirkens eines Volksgeistes an. Savignys historische Rechtsschule hat diese Position im 19. Jahrhundert zur Lehre vom Gewohnheitsrecht ausgebaut und gegen die Anhänger von Thomas Hobbes und John Austin verteidigt. 119 Savigny hat das Recht oft mit einem langsamen, ruhigen Raunen verglichen, das sich allmählich zu einer Sprache entwickelt, die sich dem Juristen wie eine Wahrheit erschließt, wenn er ihre Spuren nur sorgfaltig sammelt und richtig deutet. Dementsprechend bildet sich das Recht von unten her, ohne Staat und Pospisil, Recht 1982, 125. Pospisil, ebd. 117. 118 Pospisil, ebd. 114: Das Merkmal der ,,Intention allgemeiner Geltung" besagt, "daß die Autoritätsperson beim Fällen einer Entscheidung intendiert, daß die in der Entscheidung enthaltene Regel auf alle künftigen ähnlichen oder identischen Situationen angewandt wird". Als einen solchen Akt der Gesetzgebung zitiert Pospisil den Bericht einer Entscheidung von Stammesoberhäuptern der Cheyenne-Indianer: "Wir werden eine neue Regel aufstellen: Ohne vorher zu fragen, soll es künftig unmöglich sein, Pferde auszuleihen. Wenn irgend jemand von einem anderen Güter nimmt, ohne vorher zu fragen, werden wir hingehen und diese Güter für denjenigen, dem sie gehören, zurückholen. Darüber hinaus werden wir den, der die Güter genommen hat, auspeitschen, wenn er sie zu behalten versucht" (Llewellyn, Hoebel, Cheyenne 1961, 128). ' 119 Die beiden Positionen - Recht entweder als Ausdruck des Volkes oder des Staates - wurden in Deutschland im Streit zwischen Savigny und Thibaut über die Möglichkeit eines allgemeinen - staatlichen - Gesetzbuches vertreten. In England waren es die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Austinians auf der einen Seite und den Vertretern der von Maine begründeten historical jurisprudence auf der anderen. Aufschlußreich ist dabei, daß die konservativere Position jeweils die antistaatliche war. Sieht man sich die Gründe genauer an, so kann man sich der Einsicht nicht verschließen, daß ,,Argumentieren" immer einer (affektiven) Vorentscheidung aufruht: ,,In England ging es um die soziale Gesetzgebung zum Schutz der Arbeiter. Wenn man der Meinung ist, Recht sei das Produkt eines stillen Wirkens des Volks geistes, dann kann man begründen, warum man gegen die staatliche Gesetzgebung Stellung nimmt. Anders die Austinians. Ist Recht der Befehl des Souveräns, dann kann er eben befehlen. Und soziale Gesetzgebung ist möglich" (Wesel, Frühformen 1985,63). 116 117

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professionelle Anwender. Für diese Vorstellung von Recht genügt es, wenn die Regel über lange Zeit ohne Unterbrechung in der Überzeugung angewendet worden ist, daß ihre Praktizierung richtig und rechtlich notwendig sei. Statt des schnellen und lauten Klangs von oben sollte Recht als lange und stille Übung, von deren Notwendigkeit man überzeugt war, begriffen werden. Savigny nannte Gewohnheitsrecht deshalb "usus diuturnus et continuus und opinio necessitatis".120 Es ist Pospisils Verdienst, Autorität und Konsens in seiner Theorie vom Recht vereint zu haben. Er hat damit zutreffend erfaßt, daß die europäische Rechtsgeschichte von staatlichen und nichtstaatlichen Faktoren bestimmt wurde. Das wußte im Grunde auch schon Thomas Hobbes. Seine Zwangstheorie konnte er nur deshalb unbeschadet aufrechterhalten, weil er die unbestreitbare Existenz von Gewohnheitsrecht einfach als vom Willen des Souveräns miterfaßt erklärte. Anderenfalls hätte nämlich der Souverän das Volksrecht verboten. 121 Und tatsächlich gibt es hinreichend Beispiele dafür, daß staatliche Gerichte nach Gewohnheitsrecht entschieden und es damit in den staatlichen Bereich aufgenommen haben. Andererseits ist es aber auch vorgekommen, daß staatliches· Recht vom Volk nicht angenommen wurde und modifiziert werden mußte. Um nur ein Beispiel zu nennen, das von dem österreichischen Rechtssoziologen Eugen Ehrlich berichtet wird: 122 Er hatte beobachtet, daß den Bauern in Galizien das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch fremd geblieben war. Obwohl es seit 1811 formal in allen Ländern der habsburgischen Monarchie in Geltung war, lebten die galizischen Bauern noch vor dem ersten Weltkrieg nach ihrem eigenen Recht. Ehrlich zog daraus den Schluß, daß die Obrigkeit nicht nach freiem Gutdünken befehlen könne, was Recht ist und was nicht. Zur Auctoritas müsse allemal die allgemeine Überzeugung ihrer Notwendigkeit hinzukommen. 123 Den Kognitionsbiologen überrascht diese Erkenntnis nicht: Menschen 120 Vgl. Savigny, Römisches Recht 1831; ders., Gesetzgebung 1840. 121 Im übrigen hat Robbes den vielzitierten Naturzustand des Menschen - Krieg aller gegen alle - sehr viel vorsichtiger fonnuliert, als man häufig meint. Ihm genügte schon, daß dieser Naturzustand jederzeit möglich sei, und auch dies sei nicht einmal überall so gewesen: "Solange es also keinen Staat gibt, leben die Menschen in dem Zustand, den ich beschrieben habe, im Krieg aller gegen alle. Krieg bedeutet ja nicht nur aktuellen Kampf. Er ist schon vorhanden, wenn eine gewisse Zeit lang nur die Bereitschaft besteht, jederzeit zu den Waffen zu greifen ... Ebensowenig besteht der Krieg nur aus einem einzelnen Kampf. Und nur diejenige Zeit kann Frieden genannt werden, in der es in diesem Sinne keinen Krieg gibt . . . Einen Krieg aller gegen alle könnte jemand meinen, den hat es doch nie gegeben. Ich glaube, es war niemals allgemein so, überall auf der Welt. Aber es gibt viele Gegenden, wo sie heute noch so leben" (Leviathan 1981, 98). 122 Ehrlich, Soziologie des Rechts 1913. 123 Pospisil hat sich explizit auf Ehrlich bezogen, als er die beiden Komponenten des Rechts - auctoritas und veritas - zu seiner Theorie verband (vgl. Recht 1982, 53). Auch Luhmann lehnt als Kriterium des Rechtsbegriffs das "Merkmal der Erzwingbarkeit" ab. Er weigert sich vor allem, das Recht "durch das Mittel physischer Gewalt" zu definieren (vgl. Rechtssoziologie 1972, 107, 219; ebenso Krawietz, Naturrecht 1987, 244).

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

handeln strukturdetenniniert; infolgedessen haben Befehle keine unmittelbar detenninierende Kraft, es sei denn, sie werden mit physischer Gewalt vollzogen. Daß Befehle unter bestimmten Bedingungen - wie jede andere Umwelterfahrung auch - das affektlogische Bezugssystem beeinflussen können, wird damit nicht bestritten. Voraussetzung dafür ist allerdings die Bereitschaft des kognitiven Systems, sich beeinflussen zu lassen. Weshalb diese Bereitschaft in vielen Ländern der Donaumonarchie vorhanden und warUm sie in Galizien nicht gegeben war, ist eine Frage, deren Untersuchung sich unter kognitionstheoretischen Gesichtspunkten sicher lohnen würde. c) Zusammenfassung

Was ist also Recht? In Kenntnis des ausgebreiteten ethnologischen Materials kommen wir nicht umhin, die vorstaatliche Ordnung in die Begriffsbestimmung mit einzubeziehen. Darum erscheint die Theorie von Pospisil, deren Abstraktionsniveau die Extreme der Zwangs- und Konsenstheorie umfaßt, die sinnvollste von allen Theorien über Recht zu sein. Fonnuliert man sein Modell wegen der anfänglichen Schwäche der auctoritas behutsam um, dann könnte folgende Fonnel die zentralen Aspekte zum Ausdruck bringen: Recht besteht aus Regeln, die unter dem Einfluß von Autoritäten in einer Gesellschaft allgemein als verbindlich angesehen und deren Verletzung sanktioniert werden. Die entscheidenden Faktoren sind genannt: auctoritas, veritas und Sanktionen. Zu klären bleibt noch deren Gewichtung. Denn würde man die drei Faktoren in eine statische Beziehung zueinander setzen, wäre die Fonnel wenig brauchbar. Sie würde die außerordentliche Verschiebung der Gewichtung, die die Faktoren im Lauf der Zeit erfahren haben, vernachlässigen und damit eine Universalität behaupten, die nicht existiert. 124 Pospisils Definition ist als "Weltfonnel des Rechts" nur zu retten, wenn man sie historisiert und dadurch relativiert. In welcher Hinsicht die Relativierung für frühe Gesellschaften gilt, haben wir bereits diskutiert. Hier eine knappe Zusammenfassung:

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Autorität Am Anfang gibt es jedenfalls keine institutionalisierte Autorität. Soweit die Älteren in Streitfällen eingreifen, sind sie Schiedsrichter, arbitrators, die ihren Respekt allein ihrem Alter verdanken. Sie verhandeln, vennitteln, legen den Streit bei, aber sie entscheiden nicht. Deshalb überzieht Pospisil seine Defmition von auctoritas jedenfalls für die frühesten Gesellschaften der Jäger, wenn er von Recht spricht als von ,,Regeln einer institutionalisierten sozialen Kon-

124 Pospisil erhebt den Anspruch, sein Modell sei für alle Gesellschaften und alle Zeiten gültig (vgl. Recht 1982,71). Das ist nur sehr bedingt richtig. Die Autorität kann schwach sein, dann ist das Gewohnheitsrecht, der Konsens oder die veritas stark ausgebildet. Ist umgekehrt der Staat stark, dann spielt die opinio necessitatis nur eine sehr untergeordnete Rolle. Es kommt also darauf an zu bestimmen, welche Bedeutung die beiden wichtigsten Faktoren des Rechts in konkreten Gesellschaften besitzen.

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trolle, die sich ergeben aus den Entscheidungen einer rechtlichen Autorität (Richter, Häuptlinge, Vater, Gericht oder Rat der Ältesten) ... "125 Auf den kleinen alten Mann in einer Mbuti-Horde im Regenwald des Ituri paßt diese Fonnel noch nicht. Sie beginnt erst in segmentären Gesellschaften und in stärkerem Maß in kephalen Gesellschaften zu greifen. Dennoch, ganz ohne die Autorität einzelner Individuen kamen in manchen Streitfällen auch die Jäger und Sammler nicht aus. Infolgedessen ist es gerechtfertigt, zumindest einen restriktiven Begriff von Autorität für die Anfange des Rechts zu behaupten. -

Konsens Die Schwäche der Autorität wird zu Beginn der Entwicklung durch die Stärke des zweiten Faktors ausgeglichen. Es herrscht dort die allgemeine Überzeugung von der Richtigkeit und Notwendigkeit der Regeln und der gemeinsamen Streitschlichtung. Die Diskussion zwischen den Kontrahenten und der sich langsam einpendelnde Konsens der Gruppe gehören zu den zentralen Grundlagen des Rechts. Das ändert sich erst mit der wachsenden Autorität; der Konsens wandelt sich zur Entscheidung. Aber er verschwindet nicht völlig, wie man in Galizien und ganz allgemein im modemen Recht sehen kann. Auch die "institutionalisierte soziale Kontrolle" kommt nicht ohne "Wahrheit", ohne die allgemeine Überzeugung von der Richtigkeit des Rechts aus. Allerdings sind am Ende der Entwicklung die Spuren der veritas oft so schwer ausfmdig zu machen wie am Anfang die Spuren der auctoritas.

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Sanktionen Beschränkt man den Begriff der Sanktionen nicht auf physischen Zwang, ist auch er ein universaler Faktor des Rechts. Es gibt zwar auch zu Beginn den physischen Zwang bis hin zur Tötung des Übeltäters. Daraus ist geschlossen worden, daß "die legitime Anwendung physischen Zwangs durch einen dazu von der Gesellschaft Bevollmächtigten" die entscheidende Bedingung für die Existenz von Recht sei. 126 Aber dann müßte man alle jene Sanktionen physischer, religiöser, magischer, materieller und gesellschaftlicher Art, die für frühe Gesellschaften charakteristisch sind, aus der Definiti9n des Rechts

Pospisil, ebd. 71. . Hoebel, Naturvölker 1968, 26. Er bezieht sich dabei auf einen Vorfall bei den Eskimos, über den Franz Boas berichtet hat. Diesem Bericht zufolge darf bei den Eskimos ein gefährlicher Unruhestifter getötet werden, wenn die Siedlungsgruppe es für richtig hält. Wesel hält es aus zwei Gründen für problematisch, nur in diesem Fall von einem Rechtsakt zu sprechen: ,,Erstens ist Ziel gerade dieser Maßnahme nicht die Durchsetzung von Gerechtigkeit gegen jemanden, der das Recht gebrochen hat. Sie zielt allein auf Friedenssicherung, auf nichts anderes, auch nicht auf Rache. Sie ist ,polizeilicher' Natur, hat prophylaktischen Charakter, gehört in unserer Terminologie zur ,Gefahrenabwehr' , nicht zur Rechtsverfolgung. Zweitens wäre sie dann die einzige Art von Rechtsnorm und Rechtshandlung, die es bei den Eskimos gäbe. Denn keine andere wird in dieser Form legitimiert. Es gibt sonst nur die Selbsthilfe" (Früh/ormen 1985, 56). 125

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Kap. 4: Ordnung durch Recht herausnehmen. Es bliebe nur der Weg, die frühe Ordnung "Gewohnheit" zu nennen. Das kommt jedoch wegen der unbestreitbar normativen Kraft dieser Ordnungen nicht in Betracht. Also macht es guten Sinn, unter Sanktionen alle die Maßnahmen zu verstehen, die zur Wiederherstellung des ,,richtigen" Weges beitragen. Das rechtfertigt sich auch im Hinblick auf die Zielsetzung frühen Rechts: Es gilt nicht wie bei uns der Durchsetzung von Recht, sondern der Versöhnung, der Wiederherstellung des persönlichen Einvernehmens, dem Konsens der Gruppe. Dazu taugen Ausgleichshandlungen entschieden besser als Züchtigungen.

4. Begriff der Moral a) Abgrenzung zum Brauch

Mit den Faktoren ,,Autorität", "Konsens" und "Sanktionen" haben wir einen analytischen Rahmen entwickelt, mit dessen Hilfe Recht bestimmt und Ordnungen aus unterschiedlichsten Epochen verglichen werden können. Es ist ein historisch relativierter Begriff, der die Vorstellungen der akephalen und der kephalen Gesellschaften ebenso wie jene der modemen Rechtsrationalisierungen in sich vereint. Dennoch ist das begriffliche Problem noch nicht vollständig gelöst. Unsere Definition des Rechts ist noch zu extensiv. Sie erfaßt ausnahmslos Regeln, die allgemein anerkannt und sanktionsbewehrt sind. Darunter dürften in frühen Gesellschaften so gut wie alle Regelungen fallen, solche, die den Haarschmuck betreffen genauso wie solche, die das Verwandtschaftssystem schützen. Man kann so vorgehen und damit die Gesamtheit der Normen als Rechtsordnung definieren. Dann muß man aber auch bereit sein, diesen weiten Begriff auf modeme Gesellschaften anzuwenden. Das hätte zur Folge, daß die heute allgemein anerkannten terminologischen Unterscheidungen von Recht, Gewohnheit, Sitte und Moral eingeebnet werden müßten. 127 Da jedoch die begriffliche Differenzierung auf gewissen sachlichen Unterschieden beruht, ist der Weg der großen terminologischen Bereinigung versperrt. Demnach sind zwei Fragen zu klären. Erstens: Worin bestehen die sachlichen Unterschiede, die die terminologische Trennung von Recht, Gewohnheit, Sitte und Moral rechtfertigen? Und zweitens: 127 Seit Christian Thomasius und Immanuel Kant wird die Moral grundsätzlich vom Recht geschieden (siehe dazu Welzel, Naturrecht 1962, 164). Die Unterscheidung besteht seither darin, daß Recht nur das äußere Verhalten eines Menschen regeln kann, nicht seine inneren Einstellungen. Geht man davon aus, daß die Moral jene Überzeugungen von Gut und Böse repräsentiert, über die letztlich jeder einzelne für sich allein entscheiden muß, so ist die Unterscheidung sachgerecht. Nur eine individualistische Moral, die Ausdruck der individuellen Freiheit und des Privateigentums ist, kann einem allgemeinverbindlichen Recht gegenübergestellt werden. Beansprucht die Moral ebenfalls kollektive Geltung, so fällt es schwer, einen qualitativen Unterschied zwischen Recht und Moral anzugeben. In dieser Situation befmden sich die akephalen Gesellschaften.

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Welche der Normen und der Sanktionen sind dann in akephalen Gesellschaften dem Recht zuzuordnen und welche nicht? Beginnen wir mit der Beantwortung der Frage nach den SpezifIka der "Gewohnheit" oder des Brauchs. 128 Wir haben bereits ausführlich erörtert, daß sich die Gewohnheit vom Verhaltenssystem des Rechts nicht dadurch unterscheidet, daß sie bloß reaktives Verhalten auslöst. Soziales Verhalten ist immer geregeltes, durch Normen gestaltetes, in affektlogischen Bezugssystemen oder geistigen Schemata aufbewahrtes Verhalten. Auch die selbstverständlichste Übung ist erlerntes Verhalten, erworben auf dem Weg gemeinsamer struktureller Veränderungen als Resultat der Interaktionen zwischen den Individuen und ihrem Milieu. Insofern erweist sich das vermeintlich reaktive Verhalten notwendigerweise als Ausdruck einer Sedimentierung früherer normativer Gestaltung, die zum "Habitus", zur Attitüde oder zur "zweiten Natur" geworden ist. Aus der Perspektive der Kognitionsbiologie ist die sogenannte "normative Kraft des Faktischen" (Jellinek) in Wahrheit stets selber Produkt normierenden Verhaltens. Weder die Natur noch sonstige Apriori sind im sozialen Verhalten das Ursprüngliche, sondern das kommunikativ und sprachlich Erworbene. 129 Max Weber trifft also nicht genau den Sachverhalt, wenn er Verhalten, das äußerlich den Schein bloßer Gewohnheit bietet, reizreaktiv nennt und es am äußersten Ende eines Kontinuums ansiedelt, das vom Irrationalen zum Rationalen fortschreitet. 130 Am entgegengesetzten Pol soll die rationalste Form geregelten Verhaltens, nämlich das rechtlich spezialisierte Normensystem, stehen. Läßt man einmal die wertenden Konnotationen des Webersehen Rationalitätsbegriffs beiseite, dann findet sich bei ihm dennoch ein brauchbarer Ansatz für eine sachliche Differenzierung der verschiedenen Normensysteme. Dieser Ansatz liegt im Grade der Bewußtheit, der Ausdrücklichkeit, der steuernden Planung, durch den sich die Verhaltens systeme der Sitte, der Moral und des Rechts unterscheiden. 131 Es ist also nicht die Existenz einer Norm oder einer Sanktion als solche, sondern die unterschiedliche Aktualisierbarkeit des jeweiligen manifesten Inhalts, die das 128 Zur Tenninologie: Ich verwende die Begriffe Gewohnheit, Sitte und Brauch identisch. Diese Regelsysteme haben nach moderner Auffassung mit dem Recht die Äußerlichkeit gemeinsam. Sitten und Bräuche regeln nur äußeres Verhalten, also Tischsitten, Umgangsfonnen, Grußfonneln, Festtagsgebräuche. Daß dieses Verhalten keinerlei "Gebundenheit im Inneren", sondern rein äußerliche Pflichten beinhaltet, muß doch sehr bezweifelt werden. Bloße Handlungsreflexe löst die Sitte keinesfalls aus. 129 Diese Erkenntnis fmdet sich schon bei dem Sozialpsychologen und Kulturanthropologen John Dewey, Human Nature 1922. 130 Weber, Wirtschaft 1976, 1. Kapitel. ~ ähnlicher Weise spricht Ferdinand Tönnies von der "Sitte" als bloßer "tatsächlicher Ubung" (vgl. Sitte 1909). 131 So insbesondere Rene König (Recht 1975, 192): "Mit dem Mangel einer Trennung zwischen nonnierender Aktivität und dem Verhalten entscheidet sich beim Brauch der außerordentlich geringe Grad an Bewußtheit beim Handelnden. Für den Beobachter stellt sich brauchtümliches Verhalten durchaus als eine unbewußte Lebensorientierung dar ... "

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zentrale Differenzkriterium der sozialen Normensysteme ausmacht. Und der Grad der Ausdrücklichkeit nimmt mit der Bedeutung zu, die die Regelung für das Überleben der Gesellschaft hat. Somit ist der Bereich des Rechts dadurch eingegrenzt, daß man auf die Erheblichkeit der Konflikte abstellt, die auf Normverstöße regelmäßig folgen. \32 Derartige Verletzungen werden - wie wir bei den N aturreligionen der Jäger gesehen haben - auch von den Göttern unnachsichtig geahndet. Aber keine Gesellschaft überläßt die Sanktionierung alleine den Göttern. Im Hintergrund stehen die sozialen Mechanismen der Verhandlung, Vermittlung, der Selbsthilfe, aber auch - sozusagen hilfsweise für seltene Fälle - Blutrache und Fehde. 133 Zum Recht gehören also solche Normen, die nach allgemeiner Überzeugung so wichtig sind, daß ihre Verletzung zu erheblichen Konflikten führt, und solche Sanktionen, von denen allgemein angenommen wird, daß sie derartige Konflikte lösen. Normen und Sanktionen, denen diese Merkmale zugesprochen werden, müssen in hohem Maße ausdrücklich und sprachlich greifbar sein. Ihre Funktion besteht, wie schon Emile Durkheim erkannte, gerade darin, das Bewußtsein ihrer Richtigkeit und allgemein akzeptierten Geltung nicht einschlafen zu lassen. 134 Das von der Rechtsnorm abweichende Verhalten wirkt danach aufgrund der ihm zukommenden Aufmerksamkeit geradezu gesamtgesellschaftlich integrativ. 135 Dieses Moment der beständigen Belebung der Norm durch einen geplanten Einsatz von Sanktionen entfällt so gut wie ganz beim Brauch. Selbstverständlich wird auch über die Einhaltung des Brauchs gewacht, jedoch nicht mit der Strenge, die gewöhnlich bei Verletzungen der Moral 136 oder gar des Rechts obwaltet. Ein 132 Siehe dazu auch Wesei: "Warum gibt es diesen qualitativen Unterschied zwischen Recht und Sitte? Nun, es ist letztlich eine Frage der Wichtigkeit. Es kommt darauf an, wie wichtig eine Norm für das Funktionieren der Gesamtgesellschaft ist. Ist sie sehr wichtig, dann gehört sie zum Recht. Anderenfalls nicht" (Früh/ormen 1985, 335). 133 Für Blutrache und Fehde ist Pospisil anderer Ansicht (vgl. Recht 1982,21; ebenso Hoebel, F eud 1971). Gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß diese Art der Selbsthilfe als Verpflichtung gegenüber dem Geist des Getöteten, der eigenen Verwandtschaftsgruppe und den Ahnen empfunden wird. Somit wird sie als Recht gegen die Täter und seiner Verwandtschaft aufgefaßt. Im übrigen ist die Selbsthilfe in vorstaatlichen Gesellschaften Bestandteil des Funktionierens der rechtlichen Ordnung. Sie ersetzt die bei uns vorhandene herrschaftliche Durchsetzung des Rechts für den Fall, daß friedliche Lösungen scheitern. 134 Durkheim, Soziologische Methode 1976, Kapitel III. 135 Das gilt nur, solange der Faktor ,,Konsens" wirksam ist. Mit sinkendem Konsens steigt die Gefahr der Abschwächung der Norm, die sogenannte "Ansteckungsgefahr". Es ist also weder richtig, dem Rechtsbruch generell eine sozialintegrative Wirkung beizumessen, noch ist es richtig, dem Rechtsbruch generell eine Ansteckungsgefahr zuzuschreiben, wie dies Sigmund Freud getan hat. Es kommt also bei der Analyse der Rechtsgeltung stets darauf an, das Gewicht der jeweiligen Handlungsfaktoren im Vierfunktionenschema sorgfältig zu beachten. 136 Bei der Moral reicht ßie Palette der sozialen Reaktionen von der Mißbilligung und Ermahnung bis hin zur Achtung und zum Boykott. König weist auf die "zweideutige Stellung" des Moralbewußtseins hin: ,,Es (steht) einerseits unterhalb der Normen des Rechts, also näher dem faktischen Verhalten, andererseits greift es - insbesondere nach

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Abweichen vom Brauch wird meist nur belächelt oder verspottet. Das ist zwar auf Dauer auch schwer zu ertragen und darf als Sanktion nicht unterschätzt werden. Trotzdem begegnet man Brauchtumsverletzungen keineswegs konsistent nur mit Ablehnung. Häufig räumt man ein, daß es mehrere Wege gibt, dem Brauch zu genügen. Man läßt brauchtümliche Alternativen zu und entschuldigt damit ein eventuelles Abweichen von einer eingefahrenen Verhaltensweise. Auf diese Weise können sich alte Muster auflösen und neue Bräuche entstehen. Nirgendwo läßt sich diese Mischung aus Festhalten und Loslassen deutlicher beobachten als in der Mode. Einerseits schafft sie dauernd neue Verhaltenstypen, andererseits formt sie auch ausgesprochene Dauergewohnheiten, über die sich niemand ohne Verlust an Ansehen hinwegsetzen kann. In bestimmten Situationen "muß" eben der Halbschuh getragen werden. Dabei weiß heute kaum noch jemand, daß diese Schuhform einst eine Modeneuheit war, die belächelt, bestaunt und bekämpft wurde. 137 Jetzt wirkt, was mühsam erst normiert werden mußte, als ,,kulturelle Selbstverständlichkeit" auf die Zukunft. Verglichen mit der Durchsichtigkeit eines rechtlich geregelten Zusammenhangs erscheint somit der Brauch als höchst "unreflektiert", systemlos und sogar "irrational". Seine Selbstverständlichkeit gründet gerade in dem Umstand, daß die Tatsache seiner Normierung überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. 138 Die Norm ist unmittelbar dem Verhalten eingebettet und von diesem nicht zu trennen. Damit entspricht der Brauch genau dem, was William Sumner als HFolkways" 139 bezeichnete und von dem Theodor Geiger annahm, daß es das Leben "durchwaltet".14O "Folkways", das sind die Wege, die im Verhalten tatsächlich begangen werden, die das Verhalten kanalisieren und die wie bestehende Verkehrswege mit der zwingenden Kraft ihrer Faktizität normativ auf die Zukunft wirken. Da bei den "Folkways" die normierende Aktivität nicht vom Verhalten zu trennen ist, sind sie dem Handelnden oftmals durchaus unbewußt. Er orientiert sich an ihnen, aber "bespricht" sie nicht. In diesem Sinne gehört der Brauch zum "Hintergrund" unseres Verhaltens wie die Sprache: Sie ist zwar obligatorisch, aber ihre Struktur bleibt in aller Regel unverstanden. Wenn man ihren Hintergrund ihrer philosophischen Weiterentwicklung und Diffusion durch die ,öffentliche Meinung' - auch gelegentlich über die Normen des Rechts hinaus, indem es etwa ergangene Entscheidungen des Rechts wieder aufhebt und auch Taten, die das Strafrecht verurteilt, entschuldigt. Das Strafrecht kennt zwar ,mildernde Umstände', aber es kann gemeinhin nicht entschuldigen. Umgekehrt kann aber auch die öffentliche Moralität manchmal schärfer verurteilen als das geltende Recht" (Recht 1975, 195). 137 Siehe hierzu König, Kleider 1967. 138 Geiger sprach in diesem Zusammenhang von einer .. subsistenten Norm" (Soziologie des Rechts 1964), d. h. einer Norm, deren Existenz der Beobachter voraussetzen muß, um ein bestimmtes Verhalten begreiflich zu machen, ohne daß das handelnde Individuum etwas davon zu wissen braucht, ja ohne daß es überhaupt etwas davon weiß, daß es sich in seinem Handeln nach einer Norm richtet. 139 Sumner, Folkways 1906. 140 Geiger, Gruppe 1927,345.

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erfassen will, muß man eine andere Dimension, eine ,,metalinguistische" Dimension konstruieren, aus der die Strukturen der gesprochenen Sprache sichtbar werden. 141 Sprache und Brauch haben demnach einen wesentlichen Zug gemeinsam, ihre verhaltensregulierenden Ordnungen basieren auf einer "stillschweigenden Übereinkunft". 142 b) Spezifika: Ausdrücklichkeit, Systematik und innere Verpflichtung

Im Gegensatz zum Brauch wird in der Moral etwas ausdrücklich über ein Verhalten ausgesagt. Das kommt bereits in der Antinomie der Begriffe ,,Folkways" und ,,Folklore" zum Ausdruck. Die Wurzel "Iar", die im Wort Folklore steckt, bedeutet ,,Lehre". 143 Darin wird ein bestimmtes Verhalten für verbindlich erklärt. Es ist der Beginn der spezialisierten Aktivität des Normierens und die gleichzeitige Auflösung der Einheit von Norm und konkretem Verhalten. Nunmehr liefert die Norm in Form der ,,Lehre" ihre Begründung mit. Das bedingt beim Handelnden einen höheren Grad an Bewußtsein, ja oft eine empathische Bejahung der moralischen Regel. Im Sprachgebrauch von Max Weber ist denn auch die Moral nicht nur traditional, sondern auch "affektuell" bestimmt. 144 Wir wissen, daß dies auch für den Brauch gilt. Aber der Unterschied liegt im deutlich betonten Grad an Ausdrücklichkeit, mit der die Sitte nun sprachlich greifbar wird. Sie äußert sich z. B. in Sprichwörtern, an deren Form nichts geändert werden darf und die häufig die wichtigen Stationen des menschlichen Lebens betreffen. Damit tritt gegenüber dem Brauch erstmals ein wichtiges Merkmal hervor, das im Recht immer stärker ausgebaut wird: der systematische Charakter, der dem Moralbereich eine gewisse Einheit verleiht. Dieser systematische Zug haftet vor allem den Stadien oder Phasen der Generationsordnung an, vom Ahnenkult als der rituellen Verehrung des "Gebots der Väter" 145 über Geburt, Beschneidung, Namensgebung, Jünglings- und Mädchenweihen, Verlöbnis, Heirat bis zum Tod und zur Auferstehung. Unter Moral versteht man also all das, was in dem lateinischen Ausdruck "mores" 146 anklingt. Er betont insbesondere die tatsächliche Übung und grenzt sich dadurch von der metaphysischen Entrücktheit des Begriffs Sittlichkeit ab. 147 Vgl. Whorf, Sprache 1984. Geiger, Gruppe 1927,345. 143 Siehe König, Recht 1975, 193. 144 Weber, Wirtschaft 1976, Kap. 1. 145 Das Gebot der Väter kommt in den alten Offenbarungsreligionen mit großer Wucht zum Ausdruck. Die religiöse Offenbarung ist dabei gleichzeitig immer auch ein "Gesetz". Es gibt aber auch ohne monotheistische Religionsgründung religiös fundierte Rechtskodizes wie im Gesetz des Hamrnurapi oder im römischen Zwölf-Tafeln-Gesetz (vgl. dazu Dulckeit, Schwarz, Waldstein, Rechtsgeschichte 1989, 53). 146 Als Abkürzung für ,,mores majorum". 147 Das ist der Grund, warum sich seit Surnner der Ausdruck ,,mores" im angelsächsischen und amerikanischen Kulturkreis durchgesetzt hat. Im Deutschen wird dagegen 141

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In diesem Punkt unterscheiden sich die .,mores" vom Brauch lediglich durch

ihren systematischeren und reflektierteren Charakter. Erhöht sich der Bewußtheitsgrad der Moral nochmals. dann kann man vom "öffentlichen Moralbewußtsein einer Gesellschaft" sprechen. l48 Dieses entwickelt sich aus der philosophischen Rationalisierung der Sitte und verkörpert einen allgemeinen •.Ethos". das für eine Gesellschaft. für eine Epoche. für einen Klasse usw. verbindlich ist. Es bemächtigt sich nicht nur des sozialen Verhaltens. sondern beeinflußt nicht minder die gesellschaftlichen Systeme der Politik. der Wissenschaft. der Wirtschaft und der Kunst. Entsprechend der größeren Bedeutung der Moral für die Belange des Gemeinwesens erhöht sich die Stärke der Sanktionen. Abweichungen von der moralischen Richtschnur werden nicht mehr nur belächelt. sondern ausgesprochen mißbilligt. Die Palette der Sanktionen reicht von der Ermahnung bis hin zur Beschimpfung und zur Ablehnung. Die schmerzliche Härte rechtlicher Sanktionen wird freilich noch nicht erreicht. wenngleich die Drohung mit moralischer Verurteilung sicher einen starken Konformitätsdruck ausübt. Dazu ein Beispiel aus Neuguinea. Pospisil berichtet. daß die Kapauku Papua eigene Ausdrücke für das .juristisch Gerechte" und das nur "Gute" haben. 149 Zu letzterem zählt etwa die Vorschrift. daß der Vater eines neugeborenen Kindes nichts essen darf und alle Speisen an die Gäste verteilen soll. die bei der Geburtszeremonie anwesend sind. Hält er sich nicht an dieses Gebot. dann erwachsen ihm daraus keine erheblichen Konflikte. aber die Vorhaltungen der Anwesenden werden ihn dazu bringen. daß er sich "schämen" muß. Dasselbe passiert. wenn ein Mann eine Frau heiratet. die mit einem Verwandten verheiratet war und ihn verlassen hat. Das ist zwar .,rechtlich" in Ordnung. weil es keine entsprechende Exogamieregel gibt. aber man tut es nicht. Es ist ein Verstoß gegen moralische Normen. Solche Verstöße werden von der inneren Stimme des Gewissens und nicht minder nachhaltig von der Umgebung verurteilt. 150 Mit der jetzt sichtbaren Absonderung der Normen vom konkreten Verhalten stehen wir unmittelbar vor der Beschreibung des eindeutig rechtlichen N ormensysterns. Bevor wir das im nächsten Abschnitt am Beispiel des modemen westlichen Rechts tun wollen. seien hier noch einmal die wesentlichen Grundzüge der häufig der Begriff Moral mit Sittlichkeit identifiziert. wobei das Moment der tatsächlichen Übung unterbelichtet bleibt. 148 Im Gegensatz zu den .,mores" wird dieses Bewußtsein im angloamerikanischen Sprachgebrauch .,morals" genannt. Zu dem Bereich des öffentlichen Moralbewußtseins muß man wohl auch die Regeln des Gewohnheitsrechts zählen. Eben dieses Gewohnheitsrecht - als Ausdruck einer höheren Moral - hat Karl Marx in seinem berühmten Aufsatz über das Holzdiebstahlsgesetz (vom 25. Oktober 1842) gegen das geltende Recht ausgespielt. 149 Pospisil. Papuans 1958.287. ISO Solche Unterscheidungen zwischen Moral und Recht fmden sich sogar bei Jägern. wie zum Beispiel bei den Walbiri (vgl. Meggitt. Desert People 1962. 252).

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

vorstaatlichen Ordnung zusammengefaßt. Es sind dies jene Grundelernente, die den hier verwendeten Begriff vom Recht geprägt und gleichzeitig den Kontrast zu den anderen Normensystemen abgeschwächt haben. Die Unterschiede haben sich eher als quantitativer denn qualitativer Natur erwiesen.

5. Zusammenfassung a) Die frühen Normensysteme Die Ordnung in Jägergesellschaften beruhte auf den Handlungsprinzipien der Egalität und Reziprozität. Ohne über hierarchischen Aufbau, feste Strukturen oder gar Staat zu verfügen, regelten sie ihre Konflikte durch Diskussionen und Verhandlungen auf der Basis von Gleichheit und Gegenseitigkeit. In aller Regel reichte die Drohung mit dem Ausbleiben der Gegenleistung aus, um Konformität zu sichern. Neben der ökonomischen Funktion hatte die Reziprozität eine Friedensfunktion. Sie erzeugte unter den Mitgliedern jenes Vertrauen und jene Gemeinsamkeit, die erforderlich ist, um eine Gesellschaft ohne Herrschaft zusammenzuhalten. Auch die segmentären Gesellschaften der Ackerbauern und Hirten kennen noch keine Herrschaft. Ihre Ordnung gründet auf der Solidarität der agnatischen Verwandtschaft. Egalität und Reziprozität spielen als handlungsorientierende Prinzipien noch eine große Rolle, aber sie werden nach und nach von der festen agnatischen Gliederung und der Autorität der Älteren zurückgedrängt. Konflikte werden zunehmend durch die Einschaltung· von Vermittlern gelöst. Dennoch hängt die friedliche Streitbeilegung weiterhin allein vom Konsens der beteiligten Parteien ab. Daß sich die Parteien in aller Regel einigen, dafür sorgt der familiäre und religiöse Druck, der sich verstärkt, sobald eine Ausweitung des Konflikts in Form der Fehde droht. Aber es ist nicht allein die Angst vor der Gewalt, die als starkes Motiv für konformes Verhalten wirkt, wichtiger noch ist die normative Kraft des Gelernten, des Überlieferten, der religiösen Überzeugungen. In allen akephalen Gesellschaften existieren Vorstellungen über Gut und Böse, die in der Einheit von Mensch und Natur, vQn Familie und Religion wurzeln. So sind familiäre Tugenden direkt in die religiöse Ordnung eingebettet und werden von ihr mitbestimmt. Die Trennung von menschlicher und göttlicher, von natürlicher und übernatürlicher Ordnung gibt es in den Naturreligionen der segmentären Gesellschaften noch nicht. Trotz der nicht zu übersehenden Einheitlichkeit, Übereinstimmung und Verknüpfung der religiösen, moralischen und familiären Ordnungsvorstellungen haben wir einen normativen Kernbereich ausgemacht, auf den die Begriffsbestimmung des Rechts zutrifft. Es sind dies solche Normen, die in einer Gesellschaft als so wichtig angesehen werden, daß ihre Verletzung regelmäßig zu so erheblichen Konflikten führt, daß die Streitschlichtung einen Vermittler und eine fühlbare Sanktionierung des Übeltäters erfordert. Von der Moral und von der Religion

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unterscheidet sich das Recht also lediglich durch die Erheblichkeit der Konflikte, die auf Normverstöße folgen, und durch die Stärke der Sanktionen, die den Frieden wiederherstellen. Das Recht unterscheidet sich indes von den übrigen Normensystemen nicht etwa durch das Vorhandensein der Faktoren Autorität, Konsens und Sanktionen. Diese finden sich ansatzweise auch im Brauchtum und in der Moral. Anderenfalls müßte man Hartland, 151 Geiger 152 und Weber 153 darin rechtgeben, daß in primitiven Gesellscliaften nur Gewohnheiten, "spontane Reizantworten" oder Reflexverhalten existieren. Davon kann jedoch angesichts unserer Kenntnis von den zahlreichen Regelverletzungen und den sublimen Ausgleichshandlungen keine Rede sein. Pospisil berichtet sogar über einen Vorgang bei den Kapauku Papua, der als

Entstehung neuen Rechts gewertet werden muß. 154 Ein Häuptling war mit seiner

Entscheidung von einer bestehenden Exogamievorschrift abgewichen und hatte das Heiraten innerhalb einer lineage zwischen Vettern und Kusinen bis zum zweiten Grad für erlaubt erklärt. Nach anfänglichem Zögern akzeptierte die ganze Gesellschaft seine Entscheidung; "internalisierte" sie, wie Pospisil es nennt. Exogamiegebot und Inzestverbot waren geändert und damit der Beweis erbracht, daß es in akephalen Gesellschaften Veränderungen von Recht gibt. Es war etwas geschehen, was wir normalerweise nur den ausgeprägten und spezialisierten Rechtssystemen zusprechen, nämlich Neues zu entwickeln, mit der Tradition zu brechen, Recht zu "schöpfen". Wenn Recht - wie oft angenommen wird l55 eigentliche Satzung und keine Tradition ist, dann besitzen die Papua Recht: Sie reflektieren ihre Regeln, bringen sie in eine sprachliche Form und verändern sie, sofern neue Regeln den Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechen.

Hartland, Primitive Law 1924, 138. Geiger, Soziologie des Rechts 1964, 138. 153 Weber, Wirtschaft 1976, 1. Kapitel. 154 Pospisil, Papuans 1958, 165,282; Recht 1982,248. Der Vorfall, über den Pospisil des öfteren berichtet und der in gewissem Sinn den Kern seiner Rechtstheorie ausmacht, ist rasch geschildert. A wi vom Dorf Batu verliebte sich in seine schöne Kusine Ena aus dem Nachbardorf Kojo. Sie war eine Kusine dritten Grades und gehörte zur selben patrilinearen - lineage. A wi entführte das Mädchen, versteckte sich mit ihr wochenlang im Busch und zermürbte so die Ausdauer seiner Verfolger. Die wurden angeführt von ihrem Vater und wollten ihn töten, wie dort üblich war (Pospisil, Recht 1982, 164). Seine Taktik beruhte auf der Hoffnung, daß der Vater nach einiger Zeit fürchten würde, überhaupt keinen Brautpreis für seine Tochter zu erhalten, wenn er die beiden nicht finden könnte. So kam es auch. Die Öffentlichkeit in Kojo wurde langsam des ständigen Suchens müde. Man wirkte auf den Vater ein, er solle sich damit abfmden und einen Brautpreis nehmen. Nach einiger Zeit fand er sich dazu bereit. Damit war die inzestiöse Eheschließung "auf der rechtlichen Ebene" stillschweigend anerkannt. Später, als Dorfhäuptling, "verkündete er ein neues Gesetz" (Pospisil, ebd. 279), nach dem Heiraten innerhalb einer lineage zwischen Vettern und Kusinen bis zum zweiten Grad erlaubt wären. Er nahm sich noch andere Kusinen zur Frau, und viele im Dorf folgten seinem Beispiel. 155 Vgl. König, Recht 1975, 197. 151

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

Selbst wenn die Initiative von einzelnen Individuen, die über Mut, Ausdauer und Autorität verfügen, ausgeht, bleibt doch die Akzeptanz der Entscheidung durch die Gesellschaftsmitglieder von ausschlaggebender Bedeutung. Nur solche Veränderungen werden Zustimmung finden, die den gemeinsamen Bedürfnissen entsprechen. Eine autoritäre Setzung von Recht ist in Gesellschaften, die keine Herrschaftsstruktur ausgebildet haben, nicht möglich. Deshalb steht von den drei Faktoren, die das Recht defmieren, der Konsens im Vordergrund. Er zwingt zu Kompromissen, die eine flexible Handhabung des Rechts jenseits von Formalismus und Ritualisierung erfordern. Erst mit der Entstehung von staatlicher Herrschaft wandelt sich das Recht tendenziell von einem Instrument individuellen Interessenausgleichs zu einem Instrument der Durchsetzung "allgemeinen" Willens. Es löst sich allmählich von der Moral und verbündet sich mit der Macht. b) Die frühen Ordnungstypen

Versuchen wir noch zu klären, welche Elemente der oben näher beschriebenen kognitivistischen Ordnung in akephalen Gesellschaften ausgebildet wurden. Da sie keine Herrschaft kennen, entfallen für sie größtenteils jene Lösungen des Ordnungsproblems, die mehr oder weniger auf Zwang setzen. Weder erzeugen die Jäger und Ackerbauern Regelmäßigkeiten des Verhaltens durch den Einsatz von Macht noch durch den Einsatz von Normen, die den Einzelnen unabänderlich und rigide verpflichten. Die Konsensorientierung zeigt vielmehr, daß sie eher die freiheitlichen Varianten der Ordnungstypen entwickelt haben. Als solche Varianten haben wir die ,,zufällige Ordnung" und die "Ideelle Ordnung" beschrieben. Beide Ordnungen wurden in akephalen Gesellschaften miteinander kombiniert, so daß die Vereinseitigungen der positivistischen und der idealistischen Lösung zumindest stark abgemildert werden konnten. Inwiefern weisen frühe Gesellschaften eine hohe Affmität zur zufälligen Ordnung auf? Antwort finden wir in dem tragenden Handlungsprinzip dieser Gesellschaften, in der Reziprozitätsregel. 156 Danach besteht das primäre Bindemittel sozialer Ordnung nicht im Zwang, sondern in der gegenseitigen Abhängigkeit, die Menschen veranlaßt, ihren Vorteil im Austausch von Leistungen zu suchen. Auf Trobriand geben die Küstenbewohner ihren Fisch an die Verwandten im Inneren der Insel ab, weil sie von diesen im Gegenzug Jams erhalten. Somitso scheint es - gründet die Reziprozitätsregel auf dem Eigeninteresse der Individuen und nicht auf normativen Faktoren. 157 Für die ökonomische bzw. die utilitaristische Theorie der Erklärung menschlichen Handeins würde diese Interpretation Siehe Gouldner, Reziprozität 1984. Malinowski hatte noch gemeint, daß die Reziprozität der einzige Mechanismus für das Funktionieren vorstaatlicher Ordnungen sei (vgl. Savage Society 1970). Das war - wie wir gesehen haben - schon für Trobriand eine Übertreibung. Es gab dort wie überall eine beträchtliche Zahl anderer Sanktionen. Insbesondere wandelt sich im Verlauf der Zeit die positive Reziprozität in eine negative. Zur verwandtschaftlichen Solidarität kommt also der Tausch mit Fremden und damit neue Sanktionsmechanismen hinzu. 156 157

I. Recht in vorstaatlichen Gesellschaften

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das Wesentliche treffen. Denn der ,,homo oeconomicus" sucht seinen Nutzen zu maximieren, indem er sich dem jeweiligen Handlungsfeld rational anpaßt, Ziele und Normen den Bedingungen der Situation unterordnet und damit zwangsläufig relativiert. Eine Ordnung, die gänzlich auf solch eigeninteressiertem Verhalten ihrer Mitglieder beruht, könnte kein dauerhaftes Wertsystem ausbilden und müßte daher eine zufällige sein. Sie hätte ja nur unter der für herrschaftsfreie Gesellschaften seltenen Bedingung Bestand, daß jede Abweichung von Verhaltensregelmäßigkeiten "teurer" ist als deren Befolgung. Dies würde aber eine soziale Dichte und damit Kontrolle voraussetzen, die akephalen Gesellschaften fremd ist. Zur ökonomischen Bedeutung der Reziprozitätsregel muß also ein entschieden soziales Moment hinzukommen, das die Menschen dazu bringt, trotz sich verändernder Situationen an der Egalität, an den Exogamievorschriften, am Inzestverbot etc. festzuhalten. Dieses sozial stabilisierende Moment ergibt sich aus der engen Verflechtung von Recht und Religion, die in segmentären Gesellschaften noch stärker ist als bei Sammlern und Jägern. 1S8 Insgesamt läßt sich überall beobachten, daß diese Einheit von Recht und Religion einen generellen Bezugsrahmen schafft, der einerseits Identität und Integration verbürgt, der aber andererseits die Handelnden nicht in ein enges normatives Korsett zwängt. Letzteres wäre für das geschlossene Normensystem der ,,konformistischen Ordnung" charakteristisch, in der die Menschen weder Autonomie noch Selbstverantwortung besitzen. Ganz anders in akephalen Gesellschaften. Aufgrund der Weite der Naturreligionen, der Vielzahl übernatürlicher Zuständigkeiten und magischer Beeinflussungen können die Akteure ihr Handeln von Fall zu Fall beträchtlich variieren. Solange sie ihr Handeln als Konsequenz der Einheit von Natur und Gesellschaft, von göttlicher und menschlicher Ordnung verstehen, bewahren sie ein übergeordnetes Grundmerkmal, ein allgemein geltendes, sinnstiftendes Handlungsmuster. 158 Wie stark die Reziprozität mit anderen Mechanismen der Selbstregulierung verbunden ist, zeigt ein Fall, den Elizabeth Colson von den Plateau Tonga berichtet (vgl. Tradition 1974,47). Colson saß dort mit einer Tonga-Frau zusammen, als eine andere Frau aus ihrem Clan dazukam und sie um Getreide bat. Die Berichterstatterin war zunächst sehr beeindruckt, mit welch freundlicher Selbstverständlichkeit das Getreidegeschenk gemacht wurde. Sie dachte, welch schöne positive Reziprozität unter Verwandten. Bis sich herausstellte, daß die Schenkerin nur Angst davor gehabt hatte, die Bittstellerin werde sie für den Fall der Weigerung verhexen. Sie sagte, das könne man nie wissen. Deshalb sei sie freigebig gewesen und habe leider das schöne Getreide gegeben. Das Beispiel zeigt sehr anschaulich, daß dort, wo die soziale Dichte größer wird, die Reziprozitätsregel der Jäger allein nicht mehr ausreicht, um die aus dem engen Zusammenleben der Menschen resultierenden Gefühle wie Haß, Neid oder Eifersucht zurückzudrängen: Solche Gefühle werden in vielen segmentären Gesellschaften über die Mechanismen der Hexerei und der Zauberei negativ sanktioniert. Der Grund ist darin zu sehen, daß in segmentären Gesellschaften das unmoralische Verhalten sehr viel stärker zu Lasten der unmittelbaren Umgebung geht als in in staatlichen Gesellschaften. Werden Unglücksfälle mit Hexerei erklärt, so fallt der Verdacht immer auf diejenigen, von denen man weiß, daß sie solche Gefühle haben. Dadurch werden sie tatsächlich zurückgedrängt (vgl. Gluckman, Moral crises 1972, 1).

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

Daß dieses naturreligiöse Prinzip den Menschen ihre Autonomie beläßt, bringen die Reaktionen auf Abweichung zum Ausdruck. Die Lösung von Konflikten wird vor allem in einem Diskurs gesucht, der die ganze Person und nicht nur die inkriminierte Tat zum Gegenstand hat. Das bedeutet, daß das ganze bisherige Leben des "Täters" besprochen und bedacht wird. Dazu gehört, daß weit zurückreichende Vorfälle zwischen den Beteiligten erörtert, daß Handlung und Person zusammengebracht und daß daraus Prognosen für die Zukunft abgeleitet werden. 159 Das alles übersteigt natürlich - wie Wesel zu Recht anmerkt - die Kapazität von Normen. 160 Jedenfalls läßt sich ein "ganzheitliches" Bild vom Täter und seinem Interaktionsbereich nicht mit der schlichten Zuschreibung linearer Kausalität gewinnen. Und es läßt sich keine Einigung erzielen, wenn nur dem Recht zum Sieg verholfen werden soll. Konsens zielt auf die Wiederherstellung des persönlichen Einvernehmens, und das setzt Komprorniß anstelle von Legalismus, kompensatorische Maßnahmen anstelle von Strafen, selbstregulierende anstelle von steuernden Mechanismen voraus. 161 Verhandlungen dieser Art sind wahre Palaver. Es wird über alles gesprochen, was dem individuellen Interesse dient. Infolgedessen stehen in akephalen Gesellschaften Normen stärker zur Disposition der Parteien als in Ordnungen, die zugleich das Interesse der Allgemeinheit schützen. Will man zur Einigung kommen, dann spielen Normen nur insoweit eine entscheidende Rolle, als sie die Konsenslösung nicht behindern.

c) Die frühe Erkenntnistheorie Aus dem bisher Gesagten folgert, daß die Jäger und frühen Ackerbauern ihr Wirklichkeitsverständnis keineswegs aus rigiden Festlegungen über Gut und Böse 159 Infolgedessen spielen Fakten eine weit größere Rolle als Normen. Fallers spricht in seiner Charakterisierung der juristischen Vorstellungen im Königreich von Basoga in Uganda von einer ,,Faktenbegeisterung" (fact-mindedness; Fallers, Law 1969, 326). Daß Normen nicht die entscheidende Rolle spielen, hat Pospisil für die Kapauku Papua ausgezählt: Von 176 Fällen sind nach seiner Schätzung nur 87 ,,normgemäß" entschieden worden, also noch nicht einmal ganz die Hälfte (vgl. Recht 1982, 307). 160 Wesei, Früh/ormen 1985,332. 161 Von Konsenslösungen wird häufig gesagt, sie würden auf der Abwägung von Interessen oder auf "politischen" Erwägungen beruhen. Diesem Verfahrenstypus hält man die Entscheidungen eines Richters oder Schiedsrichters entgegen, die in der ,,neutralen" Anwendung von objektiven Normen ergehen (vgl. Gulliver, Case Studies 1969, 18). Dieser Unterscheidung liegt die Vorstellung zugrunde, es könne Normen geben, die so präzise sind, daß sie im Konfliktfall allein die Entscheidung ermöglichen. Abgesehen davon, daß eine solche Vorstellung erkenntnistheoretisch unhaltbar ist, widerlegen zahlreiche Untersuchungen über die Vorverständnisse und Interessengebundenheit richterlicher Interpretationen eine derartige Annahme (vgl. Rüthers, Auslegung 1968; Esser, Grundsatz 1956; ders., Vorverständnis 1970). Umgekehrt spielen bei Verhandlungen über Konfliktlösungen in akephalen Gesellschaften nicht nur Interessen eine Rolle. Nach Gulliver, dem besten Kenner der Mechanismen friedlicher Konfliktlösungen, ist die Argumentation mit den Normen regelmäßig mehr als nur ein taktisches Manöver (vgl. Gulliver, Dispute 1973,683). Beides gehört zusammen, die normative Stärke einer Partei und ihre faktische Stärke. Das Schwergewicht liegt in akephalen Gesellschaften allerdings auf den Fakten.

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gewinnen. Die im Palaver ausgedrückte ,,Faktenbegeisterung" spricht klar für eine flexible, der Situation angepaßten Handhabung der Regelungen. Keine Norm könnte ja die in Verhandlungen beständig erzeugte Masse an subsumierbarem Material aufnehmen. Keine universalistische Definition des Guten und des Bösen würde eine derartige rhetorische Verflüssigung unbeschadet überstehen. So kennen die Jäger eindeutige Symbolisierungen des Bösen in Gestalt der Hexe oder des Teufels überhaupt nicht. 162 Das läßt darauf schließen, daß sie ihre moralischen und rechtlichen Definitionen noch nicht eng an Vorstellungen über das Absolute, Wahre oder Natürliche gebunden haben. Das Recht bleibt Sache diskursiver Kommunikation. Erst mit der Entstehung von Zentralinstanzen nimmt das Bedürfnis nach religiöser Legitimation von Herrschaft und ihrer Rechtsprechung zu. Damit setzt eine Entwicklung ein, in der die ethischen Schemata teilweise ihrer kommunikativen Grundlage verlustig gehen und in zunehmendem Maße zuerst auf religiöse und später auf "objektive" Gewißheiten festgelegt werden. Das Ergebnis ist eine symbolische Ordnung der Gesellschaft, die in absoluter Erkenntnis wurzelt. Eine solche Ordnung muß nicht begründet, sondern durchgesetzt werden. Über diese sind die Gesellschaftsmitglieder aufzuklären, notfalls mit physischer Gewalt. Was die Ordnung in akephalen Gesellschaften anbetrifft, fmden wir nun unsere These über das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Ethik bestätigt. Es hat sich gezeigt, daß die Jäger und Ackerbauern ihr Wirklichkeitsverständnis vorwiegend am methodischen Wissen orientieren. Desweiteren war den ethnologischen Befunden zu entnehmen, daß die frühesten Ordnungen relativ flexibel und konsensorientiert sind. Wie hängt nun beides, das Mißtrauen gegenüber ontologischen Gewißheiten und die flexible Definition von Gut und Böse zusammen? Es gibt meines Erachtens nur eine plausible Erklärung für die Koinzidenz von flexibler Moral und undogmatischer Wirklichkeitsdeutung: Es ist die Sozialstruktur der Egalität, die den Zusammenhang stiftet. Unter der Bedingung materiell durchgeführter Gleichheit benötigen Gesellschaften kein ausdifferenziertes Normensystem, das den Abstand der Individuen formal überbrückt und normativ ideologisiert. Es genügt vielmehr ein breitmaschiges Bezugssystem, das sowohl interessenorientiertes wie auch überdauerndes Handeln ermöglicht. Als ein derartiges Bezugssystem kommt eigentlich nur ein holistisches Weltverständnis in Betracht, das die Gleichheit der Menschen verlängert in eine Einheit von Materie und Geist, von Natur und Kognition, von Handlung und Person, von Recht und Moral, von Recht und Religion. Ein Weltverständnis hingegen, das Subjekt und Objekt erkenntnistheoretisch spaltet, erzeugt eine innere und eine äußere Welt, eine natürliche und eine übernatürliche Welt mit je unterschiedlichen Handlungssystemen, mit unterschiedlichen Geltungsansprüchen und Sanktionen. Das Ergebnis ist eine weitrei162 Für die Hirtenvölker ist das ganz unumstritten (vgl. Baxter, Absence 1972, 163); bei den Jägern scheint es einige Ausnahmen zu geben (vgl. Whiting, Paiute 1950).

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

chende Abspaltung des Rechts aus den Handlungssphären der Religion und der Moral, so daß am Ende ein Recht ohne Moral vorstellbar wird. Die Ursache dieser vielfältigen Auftrennungen ursprünglicher Einheiten liegt in der Entstehung von Herrschaft und der damit verbundenen Individualisierung, also der Freisetzung aus der Solidarität der Gemeinschaft. Uns interessiert im folgenden diese Entwicklung nur insoweit, als sie die ständige Ausbreitung von Recht unter zunehmender Betonung von Herrschaft demonstriert und damit die Vereinseitigungen des akephalen Rechts in einem anderen Extrem fortsetzt. Denn wie zuvor die Überbetonung des Konsens durch die Möglichkeiten der Selbsthilfe kompensiert wurden, so führt staatliche Herrschaft schließlich zu Ausdifferenzierungen, die die alten Einheiten zerstört. Das bringt uns zurück zum Problem der Evolution im Recht, zur Frage, ob und unter welchen Bedingungen das Pendel zurück in eine mittlere Schwingung zwischen Herrschaft und Konsens gebracht werden kann.

11. Recht in staatlichen Gesellschaften 1. Spezifika modernen Rechts a) Einleitung

In dem Kontinuum vom Brauchtum bis zur rechtlich ausdifferenzierten Ordnung nimmt der Grad der Ausdrücklichkeit der Norm beständig zu. Während im Brauch die hinter dem Verhalten stehende Regel oftmals sprachlich nicht mehr greifbar, dennoch aber normativ wirksam ist, kennzeichnet die Moral bereits eine Systematik zusammenhängender Sätze, die im Bewußtsein der Gesellschaftsmitglieder einerseits durch Übung, andererseits auch durch soziale Sanktionen lebendig gehalten werden. Den Höhepunkt dieser Entwicklung markiert das modeme Recht. Gegenüber den Handlungsprinzipien der Gewohnheit und der Moral weisen die Rechtsnormen einen neuerlich erhöhten Bewußtseinsgrad auf, der dem Typus der Zweckrationalität immer näher kommt. I Gemeint ist damit ein Handlungsbereich, der sich vorwiegend vonformalen und weniger von materialen Gesichtspunkten leiten läßt. 2 Die Entwicklung des modemen Rechts ist demnach als ein komplementärer Prozeß zu verstehen, bei dem die Zunahme formaler Strukturmerkmale mit einer deutlichen Abnahme materialer Momente König, Recht 1975, 197. Setzt man den Vertrag mit Freiheit gleich, wie dies Henry Maine (Ancient Law 1977) getan hat, so verwundert es nicht, daß man lange Zeit als Kennzeichen frühen Rechts Starrheit, Formalismus und Unfreiheit ansah. Erst mit der Billigkeitsrechtsprechung der römischen Prätgren soll das Recht flexibel geworden sein (vgl. Maine, ebd. 2. und 3. Kapitel). Unsere Ubersicht über das ethnologische Material hat diese Auffassung eindeutig widerlegt. Das Fehlen von Herrschaft zwingt zum Kompromiß. Dies ändert sich, wenn Spezialisten die Verwaltung des Rechts in ihre Hände nehmen. I

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11. Recht in staatlichen Gesellschaften

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einhergeht. Man kann dies in unserer bisherigen Tenninologie auch so ausdrükken: Mit der Ausbreitung staatlicher Herrschaft nimmt der kommunikative Faktor "Konsens" kontinuierlich ab. Dies führt dazu, daß sich die nicht liquidierbaren Bedürfnisse nach Egalität, Reziprozität etc. auf das moralische Gebiet verlagern. Das Recht hingegen erklärt sich überwiegend für das äußere Verhalten zuständig; es begnügt sich mit der Konfonnität und überläßt das Gewissen der Moral. 3 Man hat diesen Komplementärprozeß oft als Autonomisierung des Rechts, in letzter Zeit gar als Ausbildung eines autopoietischen Systems beschrieben. 4 Zweifellos ist daran richtig, daß sich das Recht gegenüber den anderen Verhaltenssystemen in sehr spezifischer Weise verselbständigt hat. Das kommt vor allem in seiner fonnalen Konstruktion zum Ausdruck. Habennas sieht denn auch im Anschluß an Max Weber das Recht nur noch durch fonnale Merkmale ausgezeichnet: durch Positivität, Legalismus und Formalität. 5 Träfe diese Aussage in vollem Umfang zu, dann müßten wir gemäß unserer Defmition von Recht dem modemen Nonnensystem das Attribut ,,Recht" absprechen. Es hätte den Faktor "Konsens" aufgezehrt. Wenn wir im folgenden die Strukturmerkmale des modemen Rechts kursorisch darstellen, wird es vor allem darauf ankommen, hinter den Verkrustungen fonnaler Gesetzlichkeit den materialen Gehalt ausfindig zu machen und zu stärken. 6 Das hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn es gelingt, das Recht in außerrechtliche Zusammenhänge einzubeziehen, seine Verflechtungen mit den übrigen Handlungsbereichen, z. B. der Politik, der Wirtschaft, der Kultur und Moral sichtbar zu machen.

3 Zu dieser Entwicklung vgJ. Geiger (Moral 1979, 170): ,,Die Ehrfurcht vor dem Höheren und die Furcht vor dem äußeren sozialen Druck ... werden zu zwei jeweils selbständig wirkenden Beweggründen. Moral und Recht unterscheiden sich als zwei gesonderte Systeme regelmäßigen Verhaltens, indem sie sich von einem gemeinsamen Ausgangspunkt in der Sitte und in Verbindung mit dem einen oder dem anderen der erwähnten Motive divergent entfalten." 4 VgJ. Teubner, Hyperzyklus 1987, 89; ders., Autopoietic Law 1988; ders., Autopoietisches System 1989; Luhmann, Rechtssystem 1989; ders., Positivität 1989; ders., Recht 1989. Krit dazu Kargi, Gesellschaft 1990 b. 5 Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. 1, 1981,351. 6 Es wird also darauf ankommen, die wertrationale Verankerung zweckrationalen Wirtschafts- und Verwaltungshandelns in den Vordergrund zu rücken. Demgegenüber hat Max Weber die Rationalität des modemen Rechts stets in der Weise beschrieben, daß die zweckrationale Verwendbarkeit der rechtlichen Organisationsmittel hervorgehoben wurde. Habermas hat diese pure Rationalisierung von Zweck-Mittel-Beziehungen bei Weber an drei charakteristischen Linien seiner Argumentation aufgezeigt: "an der Deutung des rationalen Naturrechts, an der positivistischen Gleichsetzung von Legalität und Legitimität und an der These von der Gefährdung der formalen Qualitäten des Rechts durch ,materiale Rationalisierung' .. (Kommunikatives Handeln, Bd. 1, 1981, 356).

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

b) Positivität

aa) Dispositive Funktion der Norm Das Normensystem des staatlichen Rechts unterscheidet sich von den Regeln vorstaatlicher Gesellschaften durch seine feste sprachliche und insbesondere schriftliche Form. Dies rechtfertigt die Charakterisierung der modemen Rechts als positiv gesetztes Recht. Allerdings darf - wie wir gesehen haben - das Merkmal der "Satzung" nicht überschätzt werden. Auch wenn bei den sprichwörtlich überlieferten Weistümern der Sitte und bei den Rechtsnormen akephaler Gesellschaften die Anfänge regelmäßig im Dunkeln bleiben, irgendwann sind auch diese Regeln "gesetzt" worden. 7 Der zentrale Unterschied vorstaatlicher und staatlicher Rechtsordnungen liegt wohl darin, daß die ersteren von unten her, durch allgemeinen Konsens der Gesellschaftsmitglieder gewachsen sind, während die letzteren ihre Entstehung großenteils dem Willen eines souveränen Gesetzgebers verdanken, also im wesentlichen von oben her dekretiert sind. Das soll freilich nicht heißen, daß der Souverän bei seiner Rechtsschöpfung keine Rücksicht auf eingelebte Traditionen zu nehmen hätte. Am Beispiel Dalmatiens war überzeugend belegt worden, daß kein Rechtsinstitut in der sozialen Wirklichkeit bestehen kann, wenn es nicht auf vorhandenen, allgemein konsentierten Normen aufruht. Insofern drückt ,,Positivität" niemals ein bloß formales Strukturmerkmal des modemen Rechts aus. Ein Minimum an Zustimmung muß jede Rechtsnorm tragen. 8 Das macht ihre "Geltung" aus. Darüber hinaus rechtfertigt ein weiteres Merkmal staatlichen Rechts seine Charakterisierung als positives Recht. Nicht nur die Rechtssatzung, auch die RechtsvelWirklichung wird zu einem staatlichen Monopol. Hat in akephalen Gesellschaften die Gesamtgruppe über die Einhaltung der Normen gewacht, so 7 Sehr zu Recht hebt deshalb Rene König bei seiner Unterscheidung der Normensysteme weniger auf die Frage der "Satzung" als vielmehr auf die Frage nach dem Bewußtheitsgrad der Normierung des Verhaltens ab. Als Beispiel für eine sedimentierte, aber letztlich doch "gesetzte" Verhaltensweise führt König folgende "Tischsine" an: "Wenn wir etwa nach dem Essen eines gekochten Eies die Schale zerdrücken, so ist das Ausdruck einer archaischen Angst vor einem Speisezauber, der denjenigen trifft, der das Ei verzehrt hat, weil Speisereste eine magische Verbindung zu dem herzustellen erlauben, der diese Reste hinterlassen hat. Darum werden Speisereste vernichtet. Nachdem dieser magische Hintergrund nicht mehr bewußt ist, greift der Akteur zu Rationalisierungen, um dies unverständliche Verhalten zu erklären . . . Hier sehen wir deutlich, wie ein einstmals normierter und (magisch) begründeter Zusammenhang zu einem Verhaltensschema reduziert ist, das äußerlich den Schein bloßer Gewohnheit bietet. Das genau verstehen wir unter traditionalen oder habituellen Kultursedimenten" (Recht 1975, 189). 8 In der Regel wird es genügen, wenn sich die Zustimmung auf den symbolischen Bezugsrahrnen, also auf die wertrationale Verankerung der Rechtsnorm in Grundprinzipien wie Menschenrechten etc. bezieht. Auf die Unzulänglichkeit eines formalen Normverständnisses und auf die Notwendigkeit einer materialen Erfassung des Tatunwerts hat jüngst Schmidhäuser wieder hingewiesen; vgl. Adressatenproblem 1989,419, sowie Strafgesetze 1988, anknüpfend an die ältere Arbeit über die Zwei Rechtsordnungen 1964; krit. dazu Hoerster, Illusionen 1989, 425.

11. Recht in staatlichen Gesellschaften

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befaßt sich nun ein spezialisierter Menschenstab mit der Durchsetzung des Rechts, indem er staatliche Gewalt als Sanktionen bei Übertretung der Rechtsnormen androht und gegebenenfalls verhängt. Damit wird das Normensystem des Rechts sowohl in Gesetzgebung wie in Rechtsprechung und Strafverfolgung gänzlich den organisatorischen Institutionen des Staates eingebettet. Es teilt mit diesen dann auch all jene Züge, die Max Weber unter den Sammelbegriff Bürokratisierung gebracht hat: Ausbildung von Fachleuten und Behörden, Machtbeschränkung durch Instanzenzug, durch Entscheidungen nach abstrakten Regeln und ohne Ansehen der Person, formale Rechtsgleichheit usw. Trotz der Hemmnisse durch "bürokratische" Verfahrensweisen ist freilich nicht zu übersehen, daß durch den Einbau des Normensystems in den Staatsapparat Recht und Macht - wie Rene König sagt - "in eine fragwürdige Ehe eingehen". 9 Recht wird zu einem Instrument staatlicher Planung. Es erhält verstärkt einen ausgeprägt dispositiven Charakter; es sucht nicht mehr nur vorausgesehenem unerwünschtem Verhalten zu begegnen, sondern greift jetzt projektiv über die Gegenwart hinaus, indem es künftiges Verhalten steuert, ja sogar neues Verhalten schafft. Ordnung ist somit auch Ergebnis einer bewußten normierenden Tätigkeit, und sie wird es in dem Maße stärker sein, in dem der Unterbau an außerrechtlichen Normen in partikulare Handlungsbereiche zerfällt. 10 König, Recht 1975, 198. Das rational planende Moment macht auch die Grenzen des modernen Rechtssystems sichtbar. Es ist nämlich durchaus nicht entschieden, inwiefern das Recht das Verhalten zu steuern vermag, und ob nicht andere Normensysteme dem Recht in dieser Hinsicht überlegen sind. Infolgedessen müßte im Verlauf eines Gesetzgebungsverfahrens, aber auch eines Entscheidungsverfahrens, immer mehr über das Verhältnis von Hauptund Nebenfolgen, von manifesten und latenten Wirkungen, vor allem aber über das Verhältnis von positiven und negativen Funktionen nachgedacht werden. Davon ist in der Praxis nicht viel zu spüren, obwohl die Orientierung juristischer Entscheidungen an deren Folgen geradezu als zentrale Eigenschaft moderner Rechtssysteme gepriesen wird (vgl. Kilian, Juristische Entscheidung 1974, 207; Wälde, Folgenorientierung 1979). Folgenorientierung setzt voraus, daß die Folgen von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vollzug tatsächlich bekannt und daß sie bewertet sind. Nichts aber ist umstrittener als z. B. die abschreckende Wirkung von Strafen (statt vieler, Schumann u. a., Generalprävention 1985). Aus kognitionstheoretischer Sicht kann dies auch nicht anders sein: Menschen handeln strukturdeterminiert. Also müßte man die Struktur der Menschen kennen, wenn man einschätzen will, wie sie handeln werden. Das gelingt ansatzweise nur in den Bereichen, in denen die Menschen parallele Strukturen ausgebildet haben. Eine solche Parallelisierung setzt wiederum vergleichbare Sozialisationenvoraus. Da wir in modernen Gesellschaften nirgendwo von vergleichbaren Sozialisationen aller Mitglieder ausgehen können, sind wir nicht in der Lage, für eine genügend große Anzahl von Menschen Prognosen über Verhalten in komplexen Situationen abzugeben. In dieser Situation lohnt es sich eher, über die Gründe für die Rhetorik der Folgenorientierung nachzudenken als über die Sperrigkeit des empirischen Materials. Es mag sich dann zeigen, daß das Konzept der Folgenorientierung nicht Ausdruck einer konkreten Reform ist, sondern eine semantische Antwort auf den erhöhten Legitimationsdruck gibt, dem das Strafrecht zu bestimmten Zeiten ausgesetzt ist. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man auch die Resozialisierungsdebatte soziologisch aufarbeiten. Vgl. dazu auch Kargi, Positive Generalprävention 1990 c. 9

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In dieser Situation gewinnt ein weiterer Zug des modernen Rechts, nämlich seine Systematik, eine besondere Bedeutung. Durch die Schriftform zwangsläufig begünstigt, erhalten die Rechtssätze eine logische Gestalt, in der klare und miteinander zusammenhängende Definitionen angestrebt werden. Aber es ist nicht allein die sprachliche Arbeit von Spezialisten, der es zu verdanken ist, daß der juristische Text nach dem Modell der inneren Widerspruchslosigkeit geordnet wird. Der andere und wichtigere Grund liegt in der dispositiven Funktion des modernen Rechts. Wenn das Recht eine planende und gestaltende Funktion in der Gesellschaft übernehmen soll, muß es einerseits denjenigen Individuen klare Anweisungen geben, die es anwenden sollen, andererseits muß es auch von jenen verstanden werden können, deren Verhalten man beeinflussen oder ändern möchte. 11 Als Adressaten der Norm kommen also die Rechtsanwender ebenso in Betracht wie die Allgemeinheit der Rechtsunterworfenen. Den einen soll die Norm als Richtschnur gleichmäßiger Anwendung dienen, den anderen soll sie den Weg konformen Verhaltens weisen. bb) Bestimmtheit der Norm Rechtssicherheit und Verhaltenssicherheit sind demnach die erklärten Zielsetzungen modernen Rechts. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß in der Rechtsgemeinschaft über den Gesetzestext möglichst Klarheit besteht. Auf das Strafrecht bezogen, heißt dies, die Normadressaten müssen wissen können, welche Handlungen der Gesetzgeber unter Strafe gestellt hat und mit welcher Art von Sanktion bei etwaiger Übertretung zu rechnen ist. Völlig inhaltsleere, konturlose, jedem rechtspolitischen Zweck offenstehende juristische Begriffsbildung widerspräche also dem Interesse modernen Rechts, bestimmte soziale Sachverhalte herbeizuführen oder zu verhindern. Im Strafrecht erfahrt dieses Interesse eine spezifische Verstärkung, und ist deshalb dort als eine zentrale Leitlinie im sog. "Gesetzlichkeitsprinzip" ausformuliert worden. 12 Den bisher erreichten Stand der im 19. 11 Dies ist jedenfalls eine logische Folgerung aus dem gesetzgeberischen Interesse an der Durchsetzung seines Willens. Ein solches Interesse tendiert zur reinen zweckrationalen Aktion und zur Ausschaltung bloß traditionaler Momente. Es darf dabei jedoch nicht vergessen werden, daß die vermeintlich so eindeutig rationalen Normen in einen symbolischen Bezugsrahmen eingebettet sind, der Ideen vom ,,richtigen" Recht enthält. Diese Ideen erscheinen der reinen Zweckrationalität zumeist als irrational und werden deshalb vom extensiven Organisieren und Planen untergepflügt. Auf diese Weise beraubt sich indes das Handeln seiner Identität und symbolischen Funktion. So kann es geschehen, daß in Verfolgung eines humanitären Ziels (Resozialisierung) der Begriff der Humanität verlorengeht (z. B. durch Zwangstherapie). Zu den Regelungsbereichen der Erwartungssicherung und der Verhaltenssteuerung vgl. Stachowiak, Modelltheorie 1973,281. 12 Zur Geschichte des Gesetzlichkeitsprinzips in Stichworten: Es entstammt dem Code penal von 1810 und gelangte über das preußische Strafgesetzbuch von 1851 in das Reichsstrafgesetzbuch von 1871. Die Weimarer Reichsverfassung hat das Gesetzlichkeitsprinzip im Art. 116 verankert; heute ist es in Art. 103 Abs. 2 GG mit verfassungsrechtlicher Würde versehen. Das Gesetzlichkeitsprinzip reicht in seinen Grundlagen bis zu den Anfangen der Aufklärung zurück. Es ist Ausdruck des erstarkten bürgerlichen

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und 20. Jahrhundert intensiv geführten Diskussion um die Bindung der Strafrechtskontrolle an das Gesetz gibt die Problempräzisierung des Art. 103 Abs. 2 GG wider: ,,Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Derselbe Wortlaut ist dem Strafgesetzbuch in § 1 vorangestellt worden. Nicht zuletzt daran läßt sich ermessen, welch immenses Gewicht dem Gesetzlichkeitsprinzip nach Auffassung des Gesetzgebers zukommt. 13 Es ist allerdings immer wieder die Frage zu stellen, ob die unter Strafjuristen unbestrittene Einsicht in die Notwendigkeit des Gesetzlichkeitsprinzips auch mit seiner Verwirklichung Schritt hält, und falls dies nicht der Fall sein sollte, welche Schwierigkeiten stehen der Umsetzung im Wege? 14 Bevor wir versuchen, auf diese Fragen aus der Sicht der allgemeinen Kognitionstheorie eine Antwort zu geben, seien in aller Kürze die hinter dem knappen Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG stehenden Forderungen an den Gesetzgeber und an den Strafrichter aufgezählt. Für die strafrechtliche Gesetzgebung ergibt sich aus dem Gesetzlichkeitsprinzip die Verpflichtung, präzise Strafgesetze zu machen. Der Gesetzgeber soll seine Deliktsbeschreibungen so genau wie möglich formulieren und die Folgen der Straftat exakt festlegen; er soll damit dem "Bestimmtheitsgebot" oder der "Genauigkeitsgarantie" genügen. 15 Weiterhin wird vom Gesetzgeber verlangt, daß er Taten nicht rückwirkend unter Strafe stellt Selbstbewußtseins gegenüber der Herrschaft des Obrigkeitsstaates. Demzufolge findet es sich in den revolutionären Verfassungen von der Unabhängigkeitserklärung amerikanischer Einzelstaaten (1776) bis zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Revolution (1789); zu den Funktionen der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit des AT des StGB vgl. Fincke, Verhältnis 1975,9. 13 Die rechtspolitische Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips läßt sich schon daran demonstrieren, daß der nationalsozialistische Strafgesetzgeber dem liberalen Grundsatz "Kein Verbrechen ohne Gesetz; keine Strafe ohne Verbrechen" (nullum crimen sine lege; nulla poena sine crimine: nulla poena sine lege) das autoritäre Prinzip ,,Kein Verbrechen ohne Strafe" entgegengesetzt und die überkommene Fassung des § 2 RStGB durch folgenden Wortlaut ersetzt hat: "Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach dem gesunden Volksempfinden Strafe verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft" (Art. 1 des Gesetzes vom 28. Juni 1935, RGBl. I, 839; dieser Art. 1 hat die Überschrift: ,,Rechtsschöpfung durch entsprechende Anwendung der Strafgesetze"). Vgl. zu diesem für das Gesetzlichkeitsprinzip besonders kritischen Zeitabschnitt und zu seiner Reformulierung durch die Besatzungsmächte: Kranzbühler, Nürnberg 1950,219; Marxen, Antiliberalismus 1975. 14 Zum gegenwärtigen Stand der Diskussion über das Gesetzlichkeitsprinzip vgl. Naucke, Strafrecht 1987, 85; Rüping, Nullum crimen 1985,27; Calliess, Tatbestandsbestimmtheit 1985, 1506; Krahl, Bestimmtheitsgrundsatz 1986; Maurach, Zipf, Strafrecht 1987, 119; Jescheck, Strafrecht 1988, 114; Schmitt, Art. 103, Abs. 2 GG 1985, 223; zum positivistischen Standpunkt Feuerbachs hinsichtlich des Gesetzes-AT vgl. Fincke, Verhältnis 1975, 18. 15 Vgl. hierzu Bohnert, Bestimmtheitsgrundsatz 1982; ders., Bestimmtheitserfordernis 1982,68; Grünwald, Nulla poena 1964, 1; Haft, Generalklauseln 1975,477; Lenckner, Nullum crimen 1968,249; Maiwald, Bestimmtheitsgebot 1973, 137; Marxen, StraJtatsystem 1984; Schreiber, Gesetz 1976; Schünemann, Nulla poena 1978. 28*

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und Strafen nicht rückwirkend verschärft. 16 Mit diesem sog. "Rückwirkungsverbot" soll die dispositive Funktion des Bestimmtheitsgebots gewahrt bleiben. Denn Gesetze können ihre verhaltenssteuernde Wirkung nur auf künftiges Handeln ausüben. Vor allem aber soll das Vertrauen auf die Verbindlichkeit und Ablesbarkeit der Gesetze geschützt werden. Für die Rechtsanwendung ergibt sich aus Art. 103 Abs. 2 GG die Pflicht, Verurteilungen nur auf das geschriebene Gesetz und nicht auf Gewohnheitsrecht zu gründen. 17 Auch dieser sog. Gesetzesvorbehalt ist in seiner rechtsethischen und rechtsstaatlichen Zielrichtung ebenso einsichtig wie das Rückwirkungsverbot: Die Lesbarkeit der Rechtsquellen ist eine notwendige Voraussetzung für die allgemeine Konsentierung der Grenzen der Freiheit. Aber nicht nur auf die Lesbarkeit, sondern auch auf die Auslegung der Rechtsquellen soll sich jedermann verlassen können. Daraus leitet sich für den Richter die Pflicht ab, das geschriebene Recht nicht zum Nachteil des Betroffenen auszudehnen. Dieses sog. "Analogieverbot" 18 besagt ganz allgemein, daß eine Handlung nicht deswegen bestraft werden darf, weil sie einer anderen in einem Gesetz beschriebenen Handlung ähnlich ist. Niemand wird heute bestreiten wollen, daß diese vier Einzelprinzipien, aus deren Zusammenwirken sich die Garantiefunktion des Strafgesetzes ergibt, notwendig sind, um Rechts- und Verhaltens sicherheit zu gewährleisten. Nicht weniger umstritten ist, daß die detaillierte Durchführung des Gesetzlichkeitsprinzips an unüberwindbare Grenzen stößt. Das läßt sich sogar an den Verboten rückwirkender und gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung nachweisen. Zwar kann die Rechtsgemeinschaft im allgemeinen darauf vertrauen, daß der Gesetzgeber nicht im nachhinein Ordnungsinteressen einführt und durchsetzt, von denen zur Zeit der Tat keine gesetzliche Rede war. 19 Aber zumindest der höchstrichterlichen 16 Zum Rückwirkungsverbot vgl. Haffke, Rückwirkungsverbot 1970; Tiedemann, Wechsel von Strafnormen 1975,692; Tröndle, Rückwirkungsverbot 1977, 117; Naucke, Rückwirkungsverbot 1968, 2321; Jung, Rückwirkungsverbot 1985, 875; Schreiber, Verjährungsfristen 1968, 348. 17 Zum Verbot des Gewohnheitsrechts vgl. Bringewat, Gewohnheitsrecht 1972, 585; Jung, Züchtigungsrecht 1977; zur Frage der Entkriminalisierung mit Berufung auf Gewohnheitsrecht vgl. Lüderssen, Dunkelziffer 1975, 244. 18 Zum ,,Analogieverbot" vgl. Sax, Analogieverbot 1953; Hasserner, Tatbestand 1968; Arthur Kaufmann, Analogie 1982; Analogieverbot 1979, 505, 575; Naucke, Analogieverbot 1981, 71; Krey, Analogieverbot 1977; ders., Gesetzesvorbehalt 1985, 123; lesenswert ferner Maurach, Zipf, Strafrecht 1987, 123; Jescheck, Strafrecht 1988, 120; Jakobs, Strafrecht 1983, 62; Stratenwerth, Strafrecht 1981, 48; Wesseis, Strafrecht AT 1986, 11; Engisch, Juristisches Denken 1977, 142; Larenz, Methodenlehre 1979,366; gegen ein Verbot der strafbegründenden Analogie Fincke (Verhältnis 1975, 15), der die Analogie als Bestandteil der teleologischen Auslegung begreift. 19 Eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot macht § 2 Abs. 6 StGB für die Maßregeln. Dem liegt die Überlegung zugrunde, daß die Maßregeln allein der Abwehr zukünftiger Gefahren dienen. Deshalb soll die Maßregel stets auf der Grundlage des neuesten Gesetzes erfolgen (zu den Bedenken gegen diese Auffassung vgl. Hasserner, Strafrecht 1981,244). Auch die prozessualen Voraussetzungen der Strafbarkeit werden vom Rückwirkungsverbot nicht umfaßt. Das ist allerdings dann problematisch, wenn diese Voraussetzungen in ihrer Wirkung und rechtsstaatlichen Funktion den materiellrechtlichen

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Rechtsprechung ist die Möglichkeit eröffnet, das Gesetz durch neue Interpretationen schöpferisch fortzuentwickeln. 20 Das kann im Einzelfall eine erhebliche Durchbrechung des Rückwirkungsverbots mit sich bringen. 21 Andererseits ist im Strafrecht ebenso zu beobachten, daß die Rechtsfortbildung durch Beharren auf hergebrachte Auslegungen ins Stocken gerät. Dann hat sich ein "Richterrecht" entwickelt, das den vom Gesetz abgesteckten Rahmen verlassen und geschriebenes Recht verdrängt hat. Ein derartiges richterliches "Gewohnheitsrecht" kann also das Gesetzlichkeitsprinzip gleichsam von innen heraus bedrohen. Wer eine Sanktion statt auf das Gesetz auf seine Meinung vom Recht stützt, verstößt evidentermaßen gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Doch zu beurteilen, wessen Entscheidung ein zutreffendes Verständnis vom Gesetz oder bloß partikulare Meinung widerspiegelt, ist schlechthin das zentrale Problem der Positivität des Rechts. 22 cc) Grenzen der Bestimmtheit Mit dieser Problemstellung sind wir an den Grenzen der ersten und der vierten Forderung des Gesetzlichkeitsprinzips, an den Grenzen des Bestimmtheitsgebots und des Analogieverbots, angelangt. Wenn es in allen vier Prinzipien letztlich darum geht, den Willen des Souveräns so genau wie möglich in der Rechtswirklichkeit durchzusetzen, dann müssen ihn die Normadressaten lesen, begreifen und interpretieren können. Zu diesem Zweck muß das Gesetz in einer Sprache verfaßt sein, die die Rechtsgemeinschaft "erreicht". Darum soll sich der Gesetzgeber um "Bestimmtheit", um Klarheit und Präzision seiner Formulierungen bemühen. Aber wie steht es in der Praxis um die Verläßlichkeit der Norm als einer Voraussetzungen gleichkommen. Man denke an die Verlängerung der Verjährungsfristen für schwere NS-Delikte (zur Zulässigkeit der Verjährung vgl. BVerfGE 25, 269). 20 Vgl. BVerfGE 18, 240. 21 Beispiele dafür finden sich etwa im Steuerrecht (was kann man absetzen?), im Presserecht (wo verlaufen die Grenzen zwischen den Persönlichkeitsrechten des Beschuldigten und dem Recht auf Berichterstattung?) und im Straßenverkehrsrecht bei den Grenzen der Fahrtüchtigkeit (zur Herabsetzung des Promillegehalts der Blutalkoholkonzentration von 1,5 %0 auf 1,3 %0 durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes vgl. BGHSt 21, 157; dazu krit. Haffke, Promille-Grenze 1972, 448). Im Einzelfall wird man den Betroffenen dadurch helfen können, daß man ihnen einen unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 StGB) zubilligt. Aber das Zugeständnis eines normativen Irrtums ist keine zufriedenstellende Lösung des Problems. Denn die meisten Mitglieder der Rechtsgemeinschaft haben sich z. B. im Fall der Promille-Werte auf die Leitlinien der Rechtsprechung eingestellt und die Grenze in ihrem Verhalten beachtet. Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes wäre es also gerechtfertigt in den Fällen, in denen die Rechtsbefolgung eindeutig auf rationaler Kalkulation beruhte, das Rückwirkungsverbot ausnahmsweise auf die Rechtsprechung auszudehnen. Vgl. hierzu Schreiber, Rückwirkungsverbot 1973, 71. 22 Zum Vordringen des Richterrechts als einem Aspekt der Mediatisierung des Rechts vgl. Röhl, Rechtssoziologie 1987, 564. Nach Röhl wird das Richterrecht durch die Vorliebe der modernen Gesetzgebung für eine abstrakte, generalklauselartige Normgebung gefördert. Zur Diskussion über Generalklauseln und Allgemeinbegriffe im Recht vgl. Teubner, Generalklauseln 1978, 13; Noelle-Neumann, Demoskopie 1978,37; Lüderssen, Allgemeinbegrijfe 1978,53.

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festen Grundlage der Rechtsprechung und der Vorausberechenbarkeit der Nonn? Das allgemeine Urteil ist vernichtend. Es mehren sich Stimmen, die die Existenz des Bestimmtheitsgrundsatzes gänzlich leugnen,23 andere wollen ihn trotz seiner offensichtlichen Undurchführbarkeit zumindest als ein Leitprinzip erhalten wissen, um Gesetzgeber und Richter zu differenzierter Argumentation bei der Gesetzesbegründung und bei der Darstellung der Entscheidungsgründe anzuhalten. 24 Interessant sind nun für unsere Einschätzung der Positivität des Rechts weniger die Unterschiede in den kriminalpolitischen Schlußfolgerungen, die der Befund ausgelöst hat, sondern die Erklärungen für die Existenz ungenauer Gesetze. Da zeigt sich nämlich eine weitreichende Übereinstimmung. Es wird behauptet, das Bestimmtheitsgebot sei nur praktisch undurchführbar. 25 Wie das gemeint ist, kann man bereits bei Aristoteles nachlesen: Das Gesetz könne angesichts der Fülle, Vielgestaltigkeit und Unbekanntheit seiner Fälle nicht genau sein. Daher dürften die Bestimmtheitsforderungen nicht überspannt werden. Der Strafgesetzgeber habe vielmehr zwei verschiedene Aufgaben zugleich zu lösen, die miteinander in Widerspruch stehen: Er muß seine Nonnen so offen halten, daß sie auch auf künftige, noch unbekannte, aber ,,mitgemeinte" Fälle passen, und er muß sie so abschließend fonnulieren, daß sie gegenüber nichtgemeinten Fällen dicht sind. Bestenfalls ist also ein labiles Gleichgewicht von Präzision und Flexibilität zu erreichen. 26 Daß es ohne Flexibilität eben nicht 23 Siehe hierzu Nickel, Unterlassungsdelikte 1972; skeptisch auch Fincke, Verhältnis 1975, 13. Nach Teubner ist die Selektivität der Wirklichkeitskonstruktion in juristischen Begriffen aus rechtsspezifischen Zwecksetzungen (z. B. Fallgebundenheit, Entscheidungszwang, Konsistenz) zu erklären (Generalklauseln 1978, 30). 24 So insbesondere Hasserner, Strafrecht 1981, 241: " Der Gesetzgeber hat aus der Meerenge von Flexibilität und Präzision einen intelligenten Ausweg gefunden, der zwar nicht in allen Fällen ins Freie führt, aber doch häufig die Vorteile beider Formulierungsziele bewahrt und zugleich deren Nachteile entschärft: die ,exemplifizierende Methode', die Technik der Regelbeispiele, wie sie etwa § 243 Abs. 1 StGB nunmehr verwendet ... Da sich die Bindung des Richters nur im Bereich der Darstellung des Entscheidungsergebnisses sichern und kontrollieren läßt, während im Herstellungsbereich die Wirkung des Gesetzes nur erhofft werden kann, muß sich der Gesetzgeber beim Bestimmtheitsgebot vor allem um den Darstellungsbereich sorgen. Dies bedeutet, daß er den Richter zu einer differenzierten Argumentation bei der Darstellung der Entscheidungsgrunde anhalten muß. Ein Gesetz kann noch so präzise formuliert sein: Wenn sich der Richter nicht argumentativ zu den einzelnen Gesetzesmerkmalen verhalten muß, ist eine Verbindung zwischen Gesetz und Entscheidung niemals kontrollierbar." Trotz der wohl unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Ausgangspositionen kommt Hassemers Auffassung meiner eigenen Vorstellung vom Interpretationsproblem der Gesetze sehr nahe. 2S Statt vieler vgl. nur Naucke, Strafrecht 1987, 89. 26 Neuerdings vertritt Teubner die These, daß es einen Zusammenhang von Konflikten zwischen autonomen gesellschaftlichen Teilsystemen und modernen Phänomenen rechtlicher Unbestimmtheit gebe, auf den die Rechtsdogmatik mit der Entwicklung eines neuen "Kollisionsrechts" reagiert (vgl. Autopoietisches System 1989, 123). Danach wäre Rechtsunbestimmtheit historisch zu begreifen als Konflikt zwischen systemeigenen Rechtskonstruktionen und der in systemeigenen Operationen nicht nachvollziehbaren Realität dieser Wirklichkeitskonstrukte. Das Resultat dieses Konflikts sei entweder Desintegration der systemspezifischen Umweltkonstruktion oder deren hohe situative Unbestimmtheit(1989,125).

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geht, hat das Bundesverfassungsgericht ganz im aristotelischen Sinn mehrfach gesagt. So heißt es in einer Entscheidung, in der einerseits an der höchsten Präzision, nämlich der absoluten Strafdrohung der lebenslangen Strafe, und andererseits an der höchsten Flexibilität, nämlich einer extrem extensiven Interpretation eines Mordmerkmals festgehalten wird: ,,Der Gesetzgeber muß die Strafbarkeitsvoraussetzungen um so präziser bestimmen, je schwerer die angedrohte Strafe ist. Das Gebot der Bestimmtheit des Gesetzes darf allerdings nicht übersteigert werden; die Gesetze würden sonst zu starr und kasuistisch und könnten dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden. Diese Gefahr läge nahe, wenn der Gesetzgeber stets jeden Straftatbestand bis ins letzte ausführen müßte, anstatt sich auf die wesentlichen, für die Dauer gedachten Bestimmungen über Voraussetzungen, Art und Maß der Strafe zu beschränken."27 Eine andere Entscheidung bringt dasselbe Argument auf die Kurzformei: Art. 103 Abs. 2 GO "schließt ... nicht eine Verwendung von Begriffen aus, die in besonderem Maße der Deutung durch den Richter bedürfen. Auch im Strafrecht steht der Gesetzgeber vor der Notwendigkeit, der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen."28 Das höchstrichterliche Votum für eine gewisse Flexibilität der juristischen Sprache basiert also auf der Annahme, daß eindeutige Begriffe weder der Fülle gegenwärtiger noch zukünftiger Möglichkeiten gerecht werden. 29 Um bislang unbekannte Fälle nicht von vornherein auszuschließen, seien Begriffe mit semantischem Spielraum, mehrdeutige Begriffe, unumgänglich. Folgerichtig wird der Gesetzgeber aufgefordert, eine zur Zukunft hin offene Sprache zu verwenden. Das kann dann keine reine Kunstsprache sein, die formal und tautologisch stets nur das eigene System reproduziert, sondem eine Sprache, die geschmeidig und aufmerksam dem sozialen und emotionalen Wandel folgt, eben eine lebendige Alltagssprache. Ihr traut man eher als einer dogmatisch verfestigten Sprache zu, daß sie sich auf die Wirklichkeit bezieht 30 , daß sie kollektive Erfahrungen verarbeitet, daß sie konkrete Bedeutung besitzt. 31 Dabei wird bestimmten Begriffen ein größerer Wirklichkeits bezug als anderen nachgesagt. Üblicherweise soll die 27 BVerfGE14,251. 28 B VerfG, in: Neue Juristische Wochenschrift 1987, 44. 29 Zu Recht weist Jescheck (Strafrecht 1988, 115) darauf hin, daß ein nur kasuistisch orientiertes Recht auch nicht in der Lage ist, das richtige Maß zwischen Konkretheit und Abstraktheit der Norm zu fmden: ,,Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß ein kasuistisch gefaßtes Gesetz die Übereinstimmung der richterlichen Entscheidung mit dem Gesetzessinn am besten verbürge, weil es den Richter am stärksten zu binden vermöchte. Vielmehr ist es gerade die generelle Fassung der Norm, die der Rechtsprechung das sinnvolle Maß an Bindung auferlegt. Der Gesetzgeber kann dies durch Hervorhebung der typischen Faktoren einer Fallgruppe erreichen." 30 Zur Analyse des Wirklichkeitsbezugs der Strafrechtsdogmatik - in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Wissenschaftstheorien - vgl. Volk, Strafrechtsdogmatik 1979,75; s. auch Teubner, Generalklauseln 1978,26; ders., Autopoietisches System 1989. 31 Die Gesetzessprache soll danach Semantik und Pragmatik (Bedeutung und deren Verwendungsregeln) und nicht bloß Syntax (formale Beziehung der Zeichen) vermitteln; vgl. hierzu Herberger, Simon, Wissenschaftstheorie 1980,222; Haft, Sprache 1981, 113, der die streitenden Lager der Sprachtheorienach denStichworten Syntaktik, SemantikundPragmatik unterteilt und ihnen rechtstheoretische Diskussionsbeiträge zuordnet.

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Unterscheidung in deskriptive und askriptive Merkmale die jeweilige Realitätsnähe zum Ausdruck bringen. Als deskriptive Tatbestandsmerkmale werden solche verstanden, die durch einfache Beschreibung das Gemeinte bezeichnen. Diese Begriffe bilden ein vermeintlich "vorgegebenes Phänomen des realen Seins" ab,32 während die askriptiven Merkmale "nur unter der logischen Voraussetzung einer Norm vorgestellt oder gedacht" und vom Richter nur im Wege eines ergänzenden Werturteils festgestellt werden können. 33 Nun zeigt sich aber rasch - und alle Autoren, die die Unterscheidung verwenden, beeilen sich darauf hinzuweisen - , daß auch die beschreibenden Merkmale einen ,,normativen Einschlag" enthalten. Bei genauerem Zusehen sind also auch die deskriptiven Merkmale mehr oder weniger unbestimmt. 34 Infolgedessen gibt es zu der vom Bundesverfassungsgericht für notwendig gehaltenen Flexibilität der Sprache gar keine Alternative. Aber es gibt sehr wohl Unterschiede im Grad der Flexibilität, im Ausmaß der Unbestimmtheit. Nur sind diese Unterschiede nicht darin begründet, daß die einen Worte einen wahrnehmbaren Gegenstand, ein Objekt, ein reales Ding, und die anderen Worte einen zwischenmenschlichen Sachverhalt, eine Wertung oder eine Idee vergegenwärtigen. Worin gründen aber die sprachlichen Unterschiede, wenn es keine der Nähe und Übereinstimmung mit einer vorgegebenen Realität sind? Wie kann man die Bedeutung eines Wortes verstehen, wenn sein Inhalt weder die Eigenschaft eines Sprechers noch die Eigenschaft einer Sache repräsentiert? Und schließlich: Welchen erkenntnistheoretischen Status haben Worte, die keinen selbständigen Sinn besitzen? Sind dann alle Deutungen gleichermaßen zulässig? dd) Auslegung der Norm (1) Gemeinsamkeit der klassischen Lehren

Diese und andere Fragen gehören heute zu den Grundlagen jeder anspruchsvollen Auseinandersetzung mit sprachlichen Phänomenen. In der juristischen Hermeneutik haben sie sich indes noch nicht mit erforderlichem Nachdruck etabliert. 35 Sehr wahrscheinlich ist es das ontologische Grundverständnis von Wirklichkeit, das in der juristischen Profession den Anschluß an modeme Sprachtheorie und Sprachpsychologie verhindert hat. Anders ist nicht zu erklären, daß die juristi32 Lenckner, in: Schönke, Schröder, Strafgesetzbuch, Rn. 64 vor §§ 13 ff. 33 Engisch, Tatbestandsmerkmale 1954, 147; ders., Juristisches Denken 1977, 109;

Sch1üchter,lrrtum 1983,7. 34 Zum bedingten Wert der Unterscheidung vgl. insbesondere Baumann, Weber, Strafrecht AT 1985,129; Stratenwerth, Strafrecht AT 1981, 96; Maurach, Zipf, Strafrecht AT 1987,283; Kindhäuser, Tatbestandsmerkmale 1984,465; Kunert, Normative Merkmale 1958; ablehnend Dopslaff, Tatbestandsmerkmale 1987, 11; ebenso Köhler (Fahrlässigkeit 1982, 312): Parallel wertung in der Laiensphäre (Bedeutungskenntnis ) sei kein specificum nur der ,,normativen" Tatbestandsmerkmale. 35 Eine erfreuliche Ausnahme: Neumann, Argumentationslehre 1987.

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schen Auslegungslehren am Willen des Gesetzgebers als Bezugspunkt der Interpretationsarbeit festhalten. Uneinig ist man sich allerdings darüber, ob dem Willen des historischen Gesetzgebers maßgebliche Bedeutung beizumessen 36 oder ob auf einen von historischen Inhaltsvorstellungen abgelösten objektiven Gesetzeswillen 37 abzuheben ist. Der Streit ist so festgefahren, daß man hinter den Schlachtordnungen die erkenntnistheoretische Gemeinsamkeit der beiden Positionen leicht übersieht: Im Konflikt zwischen Wortlaut und Sinn einer Norm votieren beide Auffassungen für eine Instanz, die außerhalb des Interpreten liegt. Ob diese Instanz historischer Wille oder objektivierter Wille genannt wird, in jedem Fall weist der Text auf eine Information hin, die der Interpret entschlüsseln muß, die im Wortlaut wie eine Perle in der Auster schlummert. Der epistemologische Irrtum beider Auslegungslehren besteht also darin, den juristischen Text als ein objektives Datum zu begreifen, das unabhängig vom Rezipienten existiert. Man darf vermuten, daß einige Anhänger der "objektiv-teleologischen" Auslegungsmethode über diesen Irrtum aufgeklärt sind, ihn aber wegen des Erfordernisses der Gesetzesbindung nicht klarstellen wollen. Also ,,herrscht die Meinung, die Bindung an das Gesetz sei nur die Bindung an den von der Rechtsprechung selbst gesetzten objektiven Sinn eines Gesetzes". 38 Schärfer ausgedrückt: Was "objektiv" genannt wird, ist in Wahrheit "subjektiv".39 Diese Erkenntnis darf freilich nicht unter dem Tisch gehandelt werden. 36 Vgl. zur sog. "subjektiven Theorie": Naucke, Auslegung 1969,274; Bindokat, Teleologie 1969, 541; Engisch, Juristisches Denken 1977, 85; zum Auslegungsstreit siehe auch Schroth, Subjektive Auslegung 1983; Loos, Historische Auslegung 1985, 123. 37 Zur sog. "objektiven Theorie" vgl. das Bundesverfassungsgericht: BVerfGE I, 301; BVerfGE 6, 56; BVerfGE 11,126; BVerfGE 34, 269; so überwiegend auch der Bundesgerichtshof: BGHSt I, 1; BGHSt 1,74; BGHSt I, 158; BGHSt 10, 157; BGHSt 14, 165; BGHSt 24, 40; BGHSt 29, 204 (weitere Nachweise bei Leipziger - Kommentar-Tröndle § I, Rn 46). - In der Literaturvertreten die "objektive Theorie" (herrschende Meinung): Schwinge, Teleologische Begrijfsbildung 1930; Mezger, Strafrecht 1949, 81; ders., Strafgesetze 1931, 348; Germann, Rechtsfindung 1967; Schwalm, Objektivierter Wille 1972,47; Zippelius, Rechtsnorm 1970,241; ders., Methodenlehre 1985; Maurach, Zipf, Strafrecht AT 11987, 116; Welzel, Nullapoena 1952,617; ders., Strafrecht 1969,22; Baumann, Weber, Strafrecht AT 1985, § 13 II; Schmidhäuser, Strafrecht AT 1984, 5 /33; ders., Bestimmtheit 1987, 231; Hassemer, Strafrechtsdogmatik 1974, 38, 155. - Für einen Methodensynkretismus bei Vorrang der objektiven Theorie: Stratenwerth, Auslegungstheorien 1969,257; Jescheck, Strafrecht 1988, 140; Schönke-Schröder-Eser, Strafrecht 1987, § 1 Rn 48; Rudolphi, Horn, Schreiber, Systematischer Kommentar 1981, § 1 Rn 23. - Für einen Methodensynkretismus mit Vorrang der subjektiven Theorie vgl. Liver, Wille des Gesetzes 1954. - Vermittelnd auch die Auffassung von Krey, wonach jede ,,rechtspolitische Wertentscheidung des Gesetzgebers" zwar eine Schranke der Auslegung sei, aber durch ,.höherrangige Wertungen" oder ,,neuere Wertungen des heutigen Gesetzgebers" überholt werden soll (Gesetzesvorbehalt 1977, 184). - Eine eingehende Darstellung und Kritik der subjektiven, objektiven und vermittelnden Theorie bringt Mennicken, Gesetzesauslegung 1970; zur Auslegungsproblematik bei Irrtumsfragen vgl. Kuhlen, Irrtum 1987. 38 Naucke, Strafrecht 1987, 88. 39 Mit dem Ausdruck "subjektiv" soll der erkenntnistheoretischen Tatsache Rechnung getragen werden, daß alle Erkenntnis strikt subjektabhängig ist und nicht unmittelbar aus der Objektivität einer Realität oder eines Wortes gewonnen wird. Das schließt nicht aus, daß

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Sie ist vielmehr Grundlage aller Hermeneutik. Erst wenn über die Subjektabhängigkeit jeder Interpretation volle Klarheit herrscht, können Überlegungen fruchtbar gemacht werden, wie Subjektivität in Intersubjektivität überführt, wie die zwangsläufige Flexibilität der Sprache durch konventionelle Verwendungs- und Interpretationsregeln begrenzt werden kann. Die Sprachpsychologie hat zur Aufhellung des Textverstehens maßgeblich beigetragen, indern sie ihn als einen konstruktiven Prozeß beschrieb, der intentional und holistisch abläuft. 40 Aber erst die biologische Kognitionstheorie Maturanas ist in der Lage, den Konstruktionsprozeß aus einer konsistenten Erkenntnistheorie heraus abzuleiten. Rekapitulieren wir deshalb die konstruktivistischen Grundlagen, soweit sie für eine juristische Hermeneutik unerläßlich sind. (2) Der kognitionstheoretische Ansatz (a) Erkenntnistheoretische Grundlagen Die wichtigste Annahme der Theorie autopoietischer Systeme lautet: Lebende Systeme sind operational geschlossen und handeln daher strukturdeterminiert. Das gilt auch für die kognitiven Systeme des Menschen. Diese sind prinzipiell durch die Art und Weise der Verwirklichung seiner Autopoiese bestimmt und nicht durch die Bedingungen seiner Umwelt. Demgemäß bilden die kognitiven Zustände des Erkennenden nicht eine objektive Wirklichkeit ab, sondern sie errechnen oder konstruieren etwas, das als Wirklichkeit akzeptiert wird. Bei dieser Wirklichkeit handelt es sich somit um einen Bereich von Beschreibungen, die der Erkennende als Beobachter seiner selbst oder anderer Systeme und ihrer Umwelt angefertigt hat. Erst durch die Beschreibung entstehen für den Beobachter z. B. in einer Rechtsgemeinschaft in Teilbereichen über subjektabhängiges Wissen Einigkeit erzielt wird. Soweit eine solche Übereinstimmung besteht (ein Mensch ist keine Sache), ist dieser Konsens selbstverständlich eine Grenze jeder Interpretation. Insofern - und dies ist in dieser Arbeit immer wieder betont worden-heißt Subjektabhängigkeit niemals Beliebigkeit, Willkür. Subjektabhängiges Wissen ist ohne Sprache und damit ohne die Vorannahmen einer bestimmten Kultur gar nicht vermittelbar. Also darf Subjektivität nicht mit Solipsismus verwechselt werden, ebensowenig darf sie mit der bloß individuellen Färbung irgend einer Objektivität gleichgesetzt werden. Ungeachtet der terminologischen und epistemologischen Unterschiede scheint diese Auffassung gar nicht so weit von manchen strafrechtliehen Positionen entfernt zu sein, die sich als "objektive" verstehen. V gl. z. B. Günther Jakobs zur Diskussion über das Generalisierungs- bzw. Analogieverbot: ,,Das Problem des Generalisierungsverbots läßt sich nur lösen, wenn anerkannt wird, daß es eine zwingende Grenze bei der Interpretation nicht gibt, daß sich die Grenze vielmehrnachderpraktiziertenInterpretationskultur richtet. Damit ist gesagt, daß die Grenze der Auslegung nicht der Sinn ist, den die Begriffe des Rechts haben, sondern der ihnen beigelegt werden kann" (Strafrecht 1983, 71; ganz ähnlich Hasserner, Tatbestand 1968,160; Schrnidhäuser, Strafrecht AT 1984, 5 / 42; Stree, Auslegungsproblem 1961,50; Leipziger-Kommentar-Tröndle, § I Rn31). 40 Siehe Groeben, Leserpsychologie 1982; Dijk, Textwissenschaft 1980; Beaugrande, Dressler, Textlinguistic 1981. Nach Köhler "gehen alle Auffassungen über Vorsatz und bewußte Fahrlässigkeit fehl, die diese Bestimmungen nach einem vorstellenden Gegenstandswissen bilden" (Fahrlässigkeit 1982,317).

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Gegenstände, die er unterscheiden kann. Infolgedessen ist der Beobachter die letztmögliche Bezugsgröße für jede Beschreibung: Er kann nur erkennen, was er selber gemacht hat. Darum ist die Welt und muß die Welt, die der Mensch erlebt, so sein, wie sie ist, weil der Mensch sie so gemacht hat. 41 Mit dem erkenntnistheoretischen Ansatz der vollständigen Subjektabhängigkeit der Wirklichkeitsmodelle ist die Aufgabe von absoluten Erkenntnis-, Objektivitäts- und Wahrheitsansprüchen verbunden. Dennoch darf die konstruktivistische Konzeption nicht mit solipsistischer Subjektivität verwechselt werden. Daß Vergleichbarkeit der Wirklichkeitsmodelle und damit soziale Handlungsfähigkeit der verschiedenen Subjekte gewährleistet bleibt, dafür sorgen zum einen die in die Realitätskonstruktionen eingebrachten Erfahrungen der biologischen Selektion und zum anderen die historisch bewährten gesellschaftlichen Problemlösungsstrategien, die als soziale Kontrolle in Sozialisationsprozessen und Konventionen wirken. Die so entstehenden konsensuellen Bereiche werden dabei hauptsächlich auf der Grundlage sprachlicher Interaktion und Koordination durchgesetzt. (b) Sprachtheoretische Grundlagen Um das Problem des Verstehens sprachlicher Texte angemessen analysieren zu können, muß man sich die Verhältnisse bei Interaktionen zwischen zwei autopoietischen Systemen vor Augen halten. Jeder der beteiligten Organismen handelt wegen der operationalen Geschlossenheit seines Systems autonom auf der Basis eigener Kognitionsvoraussetzungen. Dies gilt auch für den Fall, daß die interagierenden Systeme durch Koppelung ihrer Strukturen konsensuelle Bereiche - z. B. in Form einer gemeinsamen Sprache - aufbauen. Solche konsensuellen Bereiche funktionieren als Orientierungen im jeweiligen kognitiven Bereich der Interagierenden. Sie funktionieren nicht nach dem Modell von technischen Sende- und Empfangsanlagen. Deshalb besitzt die Sprache auch nicht die Funktion, Informationen zu übermitteln oder eine unabhängige Außenwelt zu beschreiben. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, die je autonomen kognitiven Systeme partiell zu parallelisieren. Daraus entstehen dann vergleichbare Realitätskonstrukte und soziale Bereiche, die einen solchen Grad an Selbstverständlichkeit erreichen können, daß sie über ihren Charakter als Konstruktionen autonomer Individuen, die ihre sprachlichen Verhaltensweisen ineinander verzahnt haben, hinwegtäuschen. Für die sprachtheoretisch wichtigen Begriffe ,,Referenz", "Denotation" oder ,,Bedeutung" heißt dies, daß die inhaltliche Botschaft oder der Sinn eines Textes allein im kognitiven Bereich des Rezipienten liegt. "Bedeutung" besitzt demnach eine sprachliche Äußerung nicht durch ihren Bezug auf konkrete Gegenstände in der Realität, sondern durch ihre Zuordnung zu einem kognitiven Bereich. Kommt es zwischen Sprecher und Hörer zur übereinstimmenden Bedeutungszuschreibung, so belegt dies den Aufbau von Konventionen, die als Konstruktionsregeln für die Bildung von Deutungs- und Interpreta41

Vgl. dazu Schmidt, Literatursystem 1987, 121.

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tionsmustern internalisiert wurden. Allerdings gelingt eine solche Konventionalisierung der Verwendungsregeln nach allen Erfahrungen nur bei lexikalischen und syntaktischen Stereotypen für wiederkehrende Standardsituationen. Sobald Sprachverwendungen individuell variieren oder Kommunikationssituationen vom Gewohnten abweichen, treten Verständigungsprobleme auf. Da weder die kommunizierenden Subjekte noch ihre Lebenssituationen je identisch sind, muß man vielmehr damit rechnen, daß in aller Regel einem sprachlichen Text von verschiedenen Rezipienten auch verschiedene Bedeutungen zugeordnet werden. Das ist also der zu erwartende Normalfall. Er resultiert aus dem kognitionsbiologisch aufgezeigten Umstand, daß Konsens in der sprachlichen Kommunikation nicht durch Rekurs auf identische Gegenstände in der Realität oder auf feste Bedeutungseinheiten im Text erklärt werden kann. Folglich muß man strikt unterscheiden zwischen dem Kommunikationsmittel - z. B. einem sprachlichen Text - und den kognitiven Strukturen, die dem Kommunikationsmittel Bedeutung verleihen. Wir haben diese Strukturen oben affektlogische Bezugssysteme genannt. 42 Innerhalb dieser Bezugssysteme operiert jeder Rezipient eines sprachlichen Textes vollständig autonom. Es ist demnach nicht der Text, der bestimmte Operationen der Verarbeitung determiniert, sondern das gesamte Voraussetzungssystem des Rezipienten. Diese Autonomie in der Interpretation hat gar nichts mit Beliebigkeit zu tun. Wie bereits festgestellt, Rezeptionsleistungen werden einmal durch die Konventionalisierung der Verwendungsregeln geprägt, zum anderen durch die allen Rezipienten gemeinsame Tendenz zu kohärenten und konsistenten thematischen Ganzheiten, die freilich nach jeweils individuellen Voraussetzungen gebildet werden. Damit ist aus kognitionsbiologischer Sicht das Verstehen sprachlicher Texte zwingend als konstruktiver Prozeß zu sehen. (c) Wissenschaftstheoretische Grundlagen In einer wissenschafts theoretischen Position, die mit der konstruktivistischen Erkenntnistheorie vereinbar ist, entfallen die Grundlagen für wichtige philosophische Probleme des Empirismus und des Positivismus. So vor allem der in älteren analytischen Wissenschaftstheorien behauptete Gegensatz zwischen Beobachtungssprache und Theoriesprache, zwischen Empirie und Theorie. Der Konstruktivismus macht deutlich, daß wir ohne Modelle für Realität nichts zu erkennen vermögen, was wir für Empirie halten dürfen. 43 Erst Theorien eröffnen 42 Schmidt, (Literatursystem 1987, 123) spricht von "Kommunikaten ". Da auch er die Komrnunikate stark emotional besetzt sieht, meint er wohl dasselbe, wie wir mit dem Begriff "affektlogisches Bezugssystem" (siehe dazu auch Schmidt,Literatursystem 1980,29; ebenso Rusch, Autopoiesis 1987,393; Rusch, Schmidt, Voraussetzungssystem 1980, Kap. 3). 43 In diesem Sinn auch die wissenschaftstheoretischen Positionen des non-statementview oder der Begriffskonzeption von Theorien, wie sie von Sneed (Physics 1971) und Stegmüller (Erfahrung 1973) entwickelt wurden. P. Finke hat diese Theorien zu einem ,,konstruktiven Funktionalismus" (1982) ausgebaut. Vgl. dazu Maturana, Wissenschaft 1990, 107.

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uns den Zugang zu "Daten", die weder als "Objekte" vorgefunden noch als solche verifiziert werden. Die "Daten" sind demnach nicht mehr als Merkmale des hypothetischen Systems. Aus diesem Grunde können sie nicht an der ,,Realität" überprüft werden. Konstrukte kann man nur mit anderen Konstrukten konfrontieren. Über deren Effektivität und Zuverlässigkeit entscheiden zunächst die Erfahrungen, die wir im Prozeß des Erlebens von Welt mit diesen Modellen machen. Aber es wird immer nur eine theorieimmanente Zuverlässigkeit geben. In diesem Sinne ist auch das zu verstehen, was wir "empirisches Wissen" nennen. Wir erwerben dieses Wissen im Rahmen der Art und Weise unserer Konzeptualisierungen von Welt. Es ist darum ein operationales Wissen von den uns im Rahmen des Weltkonzeptes möglichen Verhaltensweisen. Insofern wir uns und unsere Operationen als Elemente dieser Welten erzeugen, erlangen wir ein durch unsere Realitäten uns vermitteltes Wissen von dem, was wir tun und nicht tun können. Folglich ist das in unserem Erleben Hervorgebrachte das ,,Medium" unserer Kognition: jene Menge von ,,Realitäts-Ausschnitten, die formal und inhaltlich den uns zugänglichen Teil unserer Kognition ausmacht. Die Betonung liegt also auf dem Erfahren und Wahrnehmen im "Medium" des Erfahrbaren und Wahrnehmbaren. Daß uns das Wahrnehmbare als wirklich gilt, hängt damit zusammen, daß wir - im Kontext bestimmter Orientierungssysteme - mit den anderen, mit denen wir gemeinsam leben, die Folgen unserer Wahrnehmung erleben. Und indem wir diese Erlebnisse gemäß den verfolgten Zielen und angelegten Kriterien bewerten, werden uns einzelne prozessuale Bauelemente für die Fortsetzung unserer Kognition bewußt. Da somit unsere Erfahrung den ersten und letzten Bezugspunkt unserer Kognition bildet, führen wir im Denken und Handeln praktisch ständig empirische Untersuchungen durch. Dementsprechend unterscheidet sich das empirische Wissen, das jeder einzelne im Prozeß seiner Kognition erwirbt, nicht prinzipiell von solchem empirischen Wissen, das "wissenschaftlich" erhoben wird. Den Unterschied macht lediglich die besondere Beschaffenheit des Erwerbs und die dadurch gegebene spezielle Benennung des Wissens aus. Auch für die empirische Wissenschaft gilt uneingeschränkt, daß sie keinen privilegierten Zugang zu einer wirklichen Wirklichkeit hat. Die Übereinstimmung von Theorie und "Wirklichkeit" kann nicht unmittelbar verdeutlicht werden, sie ist das Resultat eines Feststellungsverfahrens, in dem die Adäquatheit theoretischer Konzepte an bestimmte, für den Prozeß unserer Kognition funktionale Kriterien geknüpft wird. Das hat weitreichende Konsequenzen für die Frage nach dem empirischen Gehalt einer Theorie. Fällt die Behauptung der ontologischen Adäquanz der Theorie aus erkenntnistheoretischen Gründen weg, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man verbleibt im theoriegesteuerten Medium und überprüft die Resultate auf ihre systeminterne Konsistenz oder man beobachtet die Gegenstände der Theorie aus einem Orientierungssystem heraus, das für diese Theorie nicht entwickelt wurde. Will man sich die Kriterien und Werte für wissenschaftliches

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Handeln nicht von Beginn an vorschreiben lassen, verbleibt nur die zweite Alternative. Sie ist vom konstruktivistischen Standpunkt aus wohlbegründet: Alles Handeln ist, insofern es Welterzeugen ist, zugleich ethisches Handeln. Daher kann die Frage, welche Kriterien und Werte man für wissenschaftliches Handeln akzeptiert, nicht von der Frage abgetrennt werden, welche Werte man auch in anderen sozialen Handlungssystemen verfolgt. Erst aus einem solchen Wertesystem, das situationsübergreifend den generellen Bezugsrahmen des Handelns vorgibt, lassen sich Kriterien für wissenschaftliches Handeln ableiten. Wir haben diese allgemeinen Zielvorgaben im Zusammenhang mit den ethischen Implikationen der Kognitionsbiologie diskutiert und werden sie mit Bezug auf die Rechtswissenschaft unter dem Stichwort ,,Legalismus" erneut aufgreifen. (3) Konsequenzen für die Positivität des Rechts Die grundsätzlichste Konsequenz betrifft den Wissenschafts status normativer Texte. Solange die Rechtswissenschaft davon ausgeht, daß der Gesetzestext selbst oder zumindest die interpretierende Arbeit an dem Text ,,Realität" zugänglich macht, bleibt sie dem positivistischen Empirieverständis verhaftet,44 einer Position, die sogar in den Naturwissenschaften immer weniger Anhänger findet. Dieser Positivismus leistet der notorischen Überschätzung des staatlichen Vermögens zu präzisen Gesetzen Vorschub. Es wird zwar nicht behauptet, daß die Gesetze tatsächlich präzise seien; für deren Ungenauigkeit werden jedoch zumeist gesellschaftspolitische Gründe angeführt. 45 Das ist bestimmt nicht falsch, aber tiefer greift die Erkenntnis, daß 44 Dem positivistischen Empirieverständnis kann man bei der Auslegung von Gesetzestexten ein Stück weit dadurch entgehen, daß man die Unvermeidbarkeit von Vorannahmen berücksichtigt (so unter ausdrücklichem Verweis auf den hermeneutischen Zirkel Jakobs, Strafrecht 1983,62). Zu den Vorannahmen zählt insbesondere eine Vorstellung vom Regelungszweck der Norm. Zur Bestimmung der Tauglichkeit der Vorannahmen genügt es freilich nicht, sich auf einen historischen oder gegenwärtigen Gesetzeswillen zu beziehen. Notwendig ist vielmehr die Erkenntnis, daß die Interpretation des Geisteswillens strukturabhängig ist, daß sie also stets mehr über den eigenen als über fremden Willen aussagt. 45 So weist Hassemer zu Recht daraufhin, daß der modeme Gesetzgeber, selbst im Strafrecht, eine Neigung zum Experimentieren hat (vgl. §§ 153 aStPO,47 ,56Abs. 3, 59,60StGB): ,,Das kann nicht ausbleiben, wenn sich - auch - im Strafrechtssystem der Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Steuerung, der innenpolitischen Intervention, durchsetzt gegenüber dem klassischen Verständnis einer Festschreibung unverzichtbarer Werte des Gemeinschaftslebens. Je mehr der Strafgesetzgeber Folgen berücksichtigt, sich um die empirischen Wirkungen seines Handelnskümmert (und sein Handeln vom Eintreten und Ausbleiben solcher Wirkungen her auchrechtfertigt), desto mehr ist die lex certa bedroht" (Strafrecht 1981, 238). Als einen weiteren Grund für die Unbestimmtheit moderner Gesetze nennt Hassemer das Fehlen eines klaren Gesetzeswillens: "Gesetze sind Kompromisse, und gerade Strafgesetze, deren Inhalte tiefere Schichten der Persönlichkeit berühren, liegen in ihren Regelungen oft kompromißhaft in der Mitte, während sich die Meinungen der beteiligten Parteien keinesweg dort, sondern an den Seiten befmden. Ein solches Gesetz, hinter dem inhaltlich eigentlich niemand mehr steht, sondern das nur als Vermittlung der alternativen Vorstellun-

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Nonnen aus epistemologischen Gründen keine instruktive Anweisung enthalten können. Die Einsicht in die Subjektabhängigkeit jeder Erkenntnis führt vielmehr dazu, nicht isolierte Texte zum rechtswissenschaftlichen Thema zu machen, sondern die Prozesse, die an und mit den Nonnen in der Gesellschaft stattfmden. Dabei hilft vor allem die elementare Unterscheidung zwischen dem Text einerseits und dem affektlogischen Bezugssystem des Rezipienten andererseits. Diese Unterscheidung verschärft die bekannten henneneutischen Fragestellungen nach "Sinn" und möglicher "Bedeutung" sprachlicher Äußerungen. Es reicht nicht aus, Textverstehen als einen interaktiven Prozeß zu konzipieren, in dem die "Wahrheit" lediglich nicht mehr als abhängige Variable irgendeiner Sprachstruktur defmiert, also als Produkt einer kommunikativen Bewegung zwischen Sprecher und Hörer begriffen wird. 46 In dieser Konzeption wird zwar der Hörer gleichberechtigt neben den Sprecher gestellt, aber Bezugspunkt und letztes Datum der Verständigung bleibt der Text und dessen Intention. Der Konstruktivismus geht demgegenüber einen bedeutsamen Schritt weiter: Aufgrund der Subjektabhängigkeit jeder Erkenntnis kommt ein ontologisch real gesetzter Text als objektive Verständigungsgrundlage nicht in Frage. Bestenfalls treffen semantische Analysen auf sprachliche Konstrukte oder sprachliche Regulatorien vom Verbindlichkeitsgrad von Konventionen. Auch diese konventionellen Kommunikationsmittel liegen innerhalb subjektiver Kognitionsbereiche. Da es somit keinen objektiven Maßstab gibt, mit dessen Hilfe ,,richtige" Bedeutungen ennittelt werden könnten, muß die Vorstellung von Interpretation als Verstehen "wahrer", ,,richtiger" oder "objektiver" Bedeutungen literarischer Texte aufgegeben werden. Auch die Ermittlung der Intention des Autors hilft nicht weiter. Wie sollte sie zugänglich sein, wenn Autortext und Autorbezugssystem nicht einfach gleichgesetzt werden dürfen, und wenn die Beschreibung von Beschreibungen ebenso wenig Objektives ans Licht bringt wie die Beschreibung selbst? Aus all dem folgert, daß das Interpretieren als eine wissenschaftliche Tätigkeit zur Feststellung von "wahrem" Sinn oder ,,richtiger" Bedeutung ausfällt. Es scheitert nicht zuletzt an den Forderungen der Verallgemeinerbarkeit, der Kommunikabilität und der interpersonellen Verifizierbarkeit. 47 Soweit Interpretieren hingegen als systematischer Erwerb operationaler Fertigkeiten im Umgang mit Texten verstanden wird, steht seiner Defmition als einer wissenschaftlichen Operation nichts im Wege. 48 Dann aber sind Interpretationsbemühungen nicht mehr gen verabschiedet wird, ist in der Gefahr, unscharf fonnuliert zu werden, damit die vom Gesetzgeber nicht klar entscheidbaren Fragen der justiziellenEntwicklung überlassen bleiben" (ebd.239). 46 So die Konzeption vonHönnann,Meinen 1976,498; vgl. dazuauchKargl,Schuldprinzip 1982, 167. 47 Siehe zur Überprufbarkeit von literarischen Interpretationen W. u. S. J. Schmidt,lnter-

pretationsanalysen 1976.

48 Zu den operationalen Fertigkeiten muß auch das Erkenntnisverfahren der Analogie zählen, vgl. hienu Fincke, Verhältnis 1975, 15.

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auf Wahrheit fixiert, sondern auf die Förderung eines operationalen Wissens, auf die Konstruktion von Konventionen, die die gemeinsame Realität definieren. Die Tatsache, daß es keine Informationsübertragung durch Sprache gibt, hat selbstverständlich Auswirkungen auf das Verständnis von Gesetzestexten und ihrer Deutung. Zunächst läßt sich die im Strafrecht gebräuchliche Unterscheidung in eine deskriptive und eine normative Sprache nicht mehr halten. Strenggenommen handelt es sich bei beiden Begriffen um Begriffe der Beobachtersprache. Denn der semantische Wert der Sprache ergibt sich weder aus der Wortstruktur noch aus der Interaktion zwischen Sprecher und Hörer, sondern aus der Beschreibung eines Beobachters, der die Interaktion so betrachtet, als ob die Zustandsveränderungen der interagierenden Systeme durch wechselseitige Einwirkungen determiniert würden. Tatsächlich aber wird die Bedeutung eines Wortes allein durch die jeweiligen individuellen Strukturen der Interagierenden festgelegt. Zu Konsens kommt es dabei nur durch kooperative Interaktionen, wenn das Verhalten jedes Organismus der Erhaltung beider Organismen dienstbar gemacht wird. Man kann diesen Prozeß der Herstellung konsensueller Bereiche, innerhalb dessen die gekoppelten plastischen Systeme eine endlose Reihe ineinandergreifender alternierender Zustandsveränderungen durchlaufen können, als einen Prozeß der Konventionalisierung von Zeichen und Symbolen, also als Normsetzung beschreiben, darf dabei allerdings nicht vergessen, daß das gemeinsame Ergebnis strukturdeterminiert ist. Mit anderen Worten: Die Semantik der Normen hat ausschließlich für den Beobachter Gültigkeit, der die Kriterien festgelegt und auf interagierende Systeme projiziert hat. 49 Falls die Mitglieder einer Gesellschaft in ihren Beobachtungen und Beschreibungen bestimmter Situationen teilweise übereinstimmen, kann man sagen, daß sie ein konventionelles Symbolsystem - etwa ein Rechtssystem - ausgebildet haben. Vollständige Übereinstimmung auch nur in Teilbereichen ist jedoch prinzipiell aus erkenntnistheoretischen Gründen verwehrt. Realität läßt sich nicht mit den Sinnen erkennen und in Worten abbilden. Aus eben diesem Grunde können Texte niemals durch die Vergegenwärtigung von "Gegenständen oder Vorgängen der realen Welt" erfaßt werden. 50 Sie haben keinen ,,natürlichen Sinngehalt",51 der durch sinnliche Wahrnehmung erfaßbar wäre. Worte erhalten ihre Bedeutung allein durch die Zuschreibungen strukturdeterminierter Individuen. Da die Indivi49 Deshalb ist es auch prinzipiell richtig, dem AT des StGB nicht von vornherein einen bestimmten kriminalpolitischen Charakter zu unterstellen; siehe dazu Fincke, Verhältnis 1975,22. 50 SoRudolphi,in:SystematischerKommentar 1981, § 16Rn. 21. 51 WesseIs, Strafrecht AT 1987, § 7 m 2. Daraus ergibt sich, daß der Täter nicht nur bei den sog. normativen Merkmalen, sondern auch bereits bei den sog. deskriptiven Merkmalen den rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt des Taturnstandes nach Laienart richtig erfaßt haben muß (= Parallelwertung in der Laiensphäre; vgl. dazu Arthur Kaufmann, Parallelwertung 1982; krit. Schlüchter, Irrtum 1983, 116, die darauf abstellt, ob der Täter den rechtsgutsbezogenen Bedeutungsgehalt des fraglichen Tatbestandsmerkmals und die Verletzungs- oder Gefährdungsbedeutung seines Verhaltens erfaßt hat).

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duen in ihrer Ontogenese oft vergleichbaren Situationen ausgesetzt sind, kommt es zu einer partiellen Parallelisierung des Bedeutungsgehalts der Worte. Infolgedessen sind vergleichbare Interpretationen von Texten möglich. Dies aber nicht wegen der vergleichbaren Gegenstände, die durch den Text repräsentiert werden, sondern wegen der vergleichbaren Ontogenesen, die zu parallelisierten Kognitionen geführt haben. Wenn man diesen Prozeß der sprachlichen Koppelung als Erzeugung gemeinsamer Kommunikationsmittel begreift, dann sind nach diesem Verständnis alle Worte, alle Zeichen, alle Symbole ,,normativ". Sie enthalten kein Substrat, das auf eine Natur der Sache verweisen könnte, sie enthalten allein unsere Übereinkunft, ein bestimmtes Wort so zu verstehen und nicht anders. Sprache ist Teil jener Realität, die wir geschaffen haben, um zu überleben. Und dies heißt, wir sind für sie ebenso verantwortlich wie für die übrige Realität. (4) Zusammenfassung Damit haben wir die allgemeinen Rahmenbedingungen einer juristischen Hermeneutik abgesteckt, die mit den Annahmen der Kognitionstheorie vereinbar ist. Dieser Rahmen soll hier nicht im Detail ausgeführt werden. Es kommt mir nur darauf an, aus der konstruktivistischen Erkenntnis, daß Sprache nicht auf reale Gegenstände verweist, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die wichtigste Schlußfolgerung betrifft eine nüchterne Einschätzung des Gesetzlichkeitsprinzips. Solange man an die prinzipielle Erkennbarkeit der Welt glauben konnte, machte es Sinn, die Welt möglichst exakt mittels Sprache oder anderen Kommunikationsmitteln abbilden zu wollen. Es war daher folgerichtig, diese durch die Aufklärung enorm geförderte positivistische Grundeinstellung auf das Gesetz zu übertragen und es im "Sein", in der "Wirklichkeit" zu verankern. Das Bestimmtheitsgebot drückt diese epistemologische Fehleinschätzung am markantesten aus. In den Auslegungslehren setzt sie sich fort, wenn man annimmt, man könne über den Wortlaut oder über den Willen des Gesetzgebers genaueres von der Semantik der Norm erfahren. Dem hält der Konstruktivismus entschieden entgegen: Die Interpretation eines Textes besagt allein etwas über die Kognitionen des Interpreten. Daraus läßt sich eine zentrale Forderung an den Interpreten ableiten: Wenn ihm der Rückgriff auf ontologisches Argumentieren verwehrt ist, dann ist er umso mehr gehalten, jene Regeln offenzulegen, die seinen Gebrauch der Worte in bestimmten Situationen festlegen. Es geht dabei nicht nur um das Aufzeigen der Routineri und" Verwendungsregeln" , 52 die den "semantischen Spielraum" der Wörter konventionalisieren, sondern um das breitere Spektrum des affektlogischen Bezugssystems, innerhalb dessen Begriffe ihre individuelle Bedeutung erhalten. Zu 52 Zur Frage, ob die sog. ,,Auslegungslehren" als Verwendungsregeln bezeichnet werden können, sagt Hassemer mit Recht: "Doch trügt die Hoffnung, hier fänden sich Kriterien, die den Richter zu einer bestimmten Verwendung des Wortes anweisen. Denn für die Auslegungslehren gilt: Sie wirken im Bereich der Darstellung, nicht der Herstellung des Entscheidungsergebnisses" (Strafrecht 1981, 181).

29 Kargl

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diesem Spektrum gehören nicht zuletzt Interessen, Bedürfnisse, Affekte, politische Einstellungen, der gesamte kulturelle Hintergrund. Dies alles verweist auf einen außerjuristischen Bereich, der über das Medium der affektlogischen Bezugssysteme aller am Recht Beteiligten unmittelbar in das juristische System einfließt und es nachhaltig prägt. Kein Gesetz oder allgemeiner kein Wort, kein Symbol, kann aus sich heraus kraft Normierung in der sozialen Realität bestehen. Die Gesetze bedürfen - nicht nur aus Gründen der Geltung, sondern schon aus erkenntnistheoretischen Einsichten - der Ergänzung und Erweiterung durch außerrechtliche Ordnungsvorstellungen. Solche Vorstellungen existieren bei jedem Interpreten in einer je eigenen Mischung der vier Ordnungstypen, aus denen die kognitivistische Idealordnung besteht. Es kommt darauf an zu sehen, welche Schwerpunkte - ob eher machtorientierte oder eher freiheitsorientierte, ob eher ökonomisch orientierte oder eher normorientierte Leitideen etc. - in der Interpretation zu Tage treten. Erst wenn diese sinnstiftenden und auslegungsleitenden Hintergründe ausgeleuchtet sind, kann mit einiger Aussicht auf Erfolg eine konventionalisierte Bedeutung, ein allgemeiner Sinn oder ein gedanklicher Inhalt festgelegt werden. Nur im Wettbewerb unverzerrt offengelegter Ordnungsvorstellungen vermag sich eine Auslegung zu behaupten, die das Gleichgewicht zwi~ schen den verschiedenen Ordnungstypen hält und damit der konstruktivistischen Ethik nahekommt. Wie darüber hinaus der juristische Alltag seit jeher zeigt: Mit der Auflage präziser Normen läßt sich keine einheitliche Interpretation erreichen. Sogar über so konventionalisierte Begriffe wie "Mensch", "Sache", "töten", "beschädigen" etc. gibt es keine übereinstimmenden Auslegungen. Es ließe sich an diesen Beispielen leicht demonstrieren, daß es an der jeweils verwendeten ontologischen Begrifflichkeit liegt, die eine gemeinsame Konventionalisierung verhindert. Denn man kann Ontologie nicht mit Ontologie, Wahrheit nicht mit Wahrheit bekämpfen. Wer von der "Objektivität" seiner Standpunkte ausgeht, ist per deflnitionem lernunfähig, ja unbelehrbar. Eine solche Position bedarf keiner Rechtfertigung, sie ist durch ihre Identität mit der Wirklichkeit hinreichend legitimiert. Sie muß sich nicht einmal an ihrem Nutzen messen lassen. Für die konstruktivistische Ethik gibt es demgegenüber keinen anderen Maßstab als den des Nutzens, der Effektivität und der Funktionalität. Gemessen an diesen Maßstäben muß sprachliches, auch interpretatives Verhalten ein auf Verständigung gerichtetes, kooperatives Verhalten sein. Der erste Schritt zur Verständigung ist getan, wenn wir begreifen, daß unsere Überzeugung eine konstruierte ist. In einem weiteren Schritt sind durch Selbstund Fremdbeobachtungen die sozialen und individuellen Bedingungen der Konstruktionen zu analysieren. Eine solche Reflexion wird dazu führen, daß der Interpret sein eigenes Erkennen erkennt. Dann versteht er, daß sein Erkennen ein Tun ist, das sich infolge seiner strukturellen Interaktionen vollzieht, und nicht ein Wahrnehmen von Informationen, die Texte oder Gegenstände aussenden. Damit verringert sich zwar die Erwartung an die Genauigkeit isolierter Texte,

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dafür aber gewinnt das Interesse an den affektlogischen Bezugssystemen an Bedeutung, die über den Inhalt der Texte befinden. Mit anderen Worten, nicht der Wortlaut und nicht der gesetzgeberische Zweck entscheiden über die Semantik des Gesetzes, sondern die Kognitionen der Rezipienten. Dies ist die erkenntnistheoretisch begründete Hürde bei der Durchführung des Gesetzlichkeitsprinzips. Um diese Hürde abzubauen, müßten die Intentionen des Gesetzgebers und die affektlogischen Bezugssysteme der Rezipienten parallelisiert werden. Wenn diese Feststellung im Prinzip zutrifft, dann haben wir es beim zweiten Strukturmerkmal des modemen Rechts, beim Legalismus, mit einem Prinzip zu tun, das bei konsequenter Anwendung die geforderte Verknüpfung der kognitiven Systeme systematisch verhindert. c) Legalismus

aa) Gegen die Trennung von Recht und Moral Der Gedanke des Legalismus unterstellt eine strikte Trennung zwischen sittlichen und rechtlichen Handlungsprinzipien. Theodor Geiger, der neben Max Weber wohl bekannteste Verfechter einer legalistischen Rechtskonzeption, stellt dazu apodiktisch fest: "Das Recht hat in unserer Gesellschaft heute nichts mehr mit Moral zu tun." S3 Damit der Satz nicht als Programm mißverstanden werde, fügt er hinzu: ,,Es wird keine Forderung aufgestellt, daß das Recht sich von der Moral empanzipieren solle, sondern eine Erfahrungsaussage gemacht, daß diese Emanzipation wirklich stattgefunden hat . . . Hier wird nur gefordert, daß das Rechtsdenken die Konsequenz aus der in Wirklichkeit vollzogenen Emanzipation zieht. Das ist eine Forderung im Geiste Uppsalas: Befreie das rechtstheoretische Denken aus den Fesseln der Metaphysik! Und dazu noch eine zweite, kleinere Forderung Uppsalas: Unterlasse es auch in Zukunft, das pragmatische Rechtsdenken durch moralisierende Ideologien zu verfälschen!"S4 Es dürfte inzwischen hinreichend dargelegt worden sein, daß die von Geiger genannten Forderungen auch im Geiste einer kognitiven Rechtstheorie liegen, ja zwingend aus ihr folgern. Die Differenz besteht also im Weg bzw. in der Methode der Zielerreichung. Geiger meint, die Reste der Moral müßten aus dem Recht eliminiert werden. Dem hält eine Rechtstheorie, die auf der Interpenetration der vier wichtigsten Handlungsprinzipien aufbaut, entschieden entgegen: Es sind gerade die moralischen und dies heißt letztlich die konsensuellen Prätentionen des Rechts, die wieder gestärkt werden müssen. Offenkundig hängt nun alles davon ab, was wir unter "Moral" verstehen wollen. Hier liegt meines Erachtens der Punkt, der für die Weggabelung verantwortlich ist. Was meint Geiger, wenn er von Moral spricht? S3

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Geiger, Moral 1982. Geiger, ebd. 182.

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Geiger bezeichnet Moral als "das Verhaltens system, das seinen Ursprung in der Ehrfurcht vor dem Guten hat, und zwar mit dem eigenen Gewissen als urteilender Instanz." 55 Dem korrespondiert das Recht als ein Verhaltens system, das von außen, von der Staatsgewalt kommt, und das der Notwendigkeit zur sozialen Interdependenz entspringt. Beide Systeme regelmäßigen Verhaltens so Geiger weiter - fmden ihren gemeinsamen Ursprung in der Gewohnheit oder in der Sitte. 56 Durch einen Polarisierungsprozeß haben sich später Moral und Recht als zwei selbständige Systeme zunehmend von einander entfernt. Im Verlauf dieser Polarisierung hat die Gewohnheit einerseits eine Verinnerlichung und andererseits eine Wendung nach außen erfahren. Mit der Verinnerlichung sind Verhaltensweisen augebildet worden, die ausschließlich auf das Gute als höchsten Wert bezogen sind, und deren Aufrechterhaltung als innere Pflicht aufgefaßt wird. Die Institutionalisierung der brauchtümlichen Gebote hat hingegen zu gewissen Verhaltensformen geführt, die von der Zentralinstanz gefordert und dadurch Inhalt einer äußeren Pflicht geworden sind. Dem sittlichen Motiv wird damit ein spezifisch rechtliches Motiv gegenübergestellt: "Die Ehrfurcht vor dem Höheren und die Furcht vor dem äußeren sozialen Druck, die die zwei wesensmäßig konträren, aber in der Praxis miteinander verbundenen Motive für die Aufrechterhaltung des Brauchtums herstellen, werden zu zwei jeweils selbständig wirkenden Beweggründen. Moral und Recht unterscheiden sich als zwei gesonderte Systeme regelmäßigen Verhaltens, indem sie sich von einem gemeinsamen genetischen Ausgangspunkt in der Sitte und in Verbindung mit dem einen oder dem anderen der erwähnten Motive divergent entfalten." 57 Wenn wir den genetischen Aspekt der Moral genauer betrachten, fällt auf, daß Geiger die Evolution der Moral als einen Transformationsprozeß begreift, der von einem Extrem zum anderen, nämlich vom totalen Objektivismus zum totalen Subjektivismus, geführt hat. Geiger unterscheidet drei Entwicklungsstadien der Moral. 58 In der ersten Entfaltungsstufe wird der Inhalt der Moral noch ganz von der Überlieferung bestimmt, aber bereits mit ideellen Vorstellungen vom Guten und von der Pflicht überbaut. Wir haben gesehen, daß dieses von Geiger als "traditionelle Moral" bezeichnete Stadium schon bei den Jägern Geiger, ebd. 171. Zum genetischen Aspekt vgl. Geiger, ebd. 55, 170. 57 Geiger, ebd. 170~ Die Geigersche Auffassung entspricht einer weit verbreiteten, wenn nicht der herrschenden Meinung. Sie liegt darin begründet, daß es in der heutigen Gesellschaft eine Pluralität von Moralen gibt. Weder Individual- noch Gruppenmoralen, nicht einmal philosophische oder wissenschaftliche Moraltheorien stimmen überein. Deshalb liegt es nahe, die positivistische Konsequenz zu ziehen, daß kein notwendiger Zusammenhang zwischen Recht und Moral bestehe und Rechtspflicht und Moralpflicht streng zu trennen seien, Vgl. dazu den einflußreichen Aufsatz von Hart, Positivismus 1971, 14; siehe desweiteren Hoerster, Recht und Moral 1979, 77; Ziegert, Emanzipation des Rechts 1978, 146; Dreier, Recht-Moral 1981, 180. Einen Überblick über verschiedene Ausprägungen des juristischen Positivismus gibt Ott, Rechtspositivismus 1976, 33. 58 Geiger, ebd. 61. 55

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existiert hat, und daß es weder vom Brauchtum noch von den Anfängen des Rechts zu trennen ist. Sitte im Sinne von reflexhafter Regelmäßigkeit des Handelns hat es in menschlichen Gesellschaften nie gegeben. Immer enthalten Normen eine Reflexion über das Gute und das Böse, und immer hat die Möglichkeit der Abweichung bestanden. Insofern trifft für die akephalen Gesellschaften die Ansicht nicht zu, daß die Normen wie äußere Tatsachen über die Menschen verhängt gewesen seien. Wir haben im Gegenteil den Konsens als das ausschlaggebende Handlungsprinzip der frühesten Gesellschaften identifiziert. Erst im nächsten Stadium beginnt der Konsens zu bröckeln, und an seine Stelle tritt ein Begriff vom Guten, dessen Inhalt heteronom bestimmt ist. Dieses Stadium nennt Geiger sehr zu Recht "dogmatische Moral". Sie ist dogmatisch, weil sie absolute Gültigkeit fordert und weil dieser Anspruch in ein zusammenhängendes System von Wertungen gebracht wird. Die Totalität des Anspruchs rührt von der Totalität der Autorität, aus der die Wertungen deduziert werden. Für Geiger kommen in erster Linie zwei Spielarten höchster Autorität in Betracht: "Sie ist entweder theologisch, wenn ihre höchste Maxime als Inhalt einer göttlichen Offenbarung dargestellt wird, oder weltlich metaphysisch, wenn man die höchste Maxime durch die Erkenntnis festzustellen versucht. Die höchste moralische Autorität ist im ersten Fall Gott, im zweiten die Vernunft."59 Interessanterweise verweist Geiger also auch das Vernunft-Prinzip in den Bereich der Metaphysik. Das wird nicht näher dargelegt. Aber man darf mit einiger Sicherheit vermuten, daß es das "objektivistische", das "ontologisierende" Denken ist, das er als "weltlich metaphysisch" etikettiert. Denn nur dieses Denken stellt universalistische Maximen auf, die vor dem Menschen und jenseits seiner Handlungen existieren. Geiger kann deshalb - trotz der nicht zu übersehenden Verinnerlichung und Spiritualisierung der Norm - als das zentrale Charakteristikum der dogmatischen Moral ihre Heteronomie bezeichnen: "Die Autorität der Moral besteht ,heteronom' , außerhalb der menschlichen Person. Ihr Repräsentant in der Person ist das Gewissen. Dieses ist hier nur der Indikator der Moralität. Es bestimmt nicht autonom den Inhalt der Normen, sondern reagiert mit innerem Tadel und Lob gegenüber dem Vollzogenen, als Warnung und Antrieb gegenüber dem vorgestellten normentsprechenden und normwidersprechenden Verhalten. "60 Eine Moral, die auf ontologischem Denken basiert, haben wir oben als ,,rigide Ethik" beschrieben. Sie ist in ihrem Anspruch und in ihrer Wirkung vollkommen identisch mit Geigers "dogmatischer Moral". Die rigide Ethik ist wie die dogmatische Moral das Ergebnis der Gewißheit. Ob diese Gewißheit aus der Natur, aus einer übernatürlichen Ordnung oder aus der wissenschaftlichen Methodik gewonnen wird, in jedem Falle sichert sie sich gegenüber subjektabhängigen Kontingenzen durch Wahrheits- und Objektivitätspostulate ab. Eine solche Moral befiehlt, 59 Geiger, ebd. 6l. 60 Geiger, ebd. 62.

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und das Gewissen gehorcht. Da es bei der moralischen Wahrheit immer nur um die Wahrheit der eigenen Lebensweise und des eigenen kognitiven Voraus setzungssystems handeln kann, und da eben diese Erkenntnis im Stadium der dogmatischen Moral nicht erkannt wird, muß der Inbegriff des Bösen stets die andere Seite des Selbstbildes sein. 61 Daß dieses Gegenbild unnachsichtig verfolgt wird, ist nicht nur gängige historische Erfahrung, sondern zwingende Konsequenz aus der Verknüpfung von Ethik und absoluter Erkenntnis. Wer wider alle Offenbarung oder wider die Vernunft das Richtige nicht tut, muß böse oder verrückt sein. Diese Einsicht ist in der Inquisition nicht erfunden, sondern nur perfektioniert worden. Man kann also nicht sagen, daß die Inquisition irgendeiner besonderen Fehlentwicklung entsprang. Sie ist vielmehr der Normalzustand der dogmatischen Moral. Wenn die Inquisition dennoch eine historische Ausnahmeerscheinung geblieben ist, dann nicht deshalb, weil zwischen ihr und der dogmatischen Moral keine abhängige Beziehung besteht, sondern aus dem einfachen Grunde, weil die Menschen auf Dauer ihr Handeln nicht nach dem manichäischen Modell von Gut und Böse ausrichten können. Die Menschen handeln niemals nur gemäß den Selektionsstandards von ethischen Maßstäben. Dies gilt umso mehr, wenn diese Maßstäbe nicht der gemeinsamen Lebenspraxis entnommen, sondern aus einem Absoluten abgeleitet werden. Nicht zufällig entwickelt sich die am Übernatürlichen orientierte Moral erst in Gesellschaften, die eine planmäßige Organisation unter einer Zentralgewalt erfahren. Solche staatliche Herrschaft hat einen Legitimationsbedarf, den die am Konsens orientierten, herrschaftsfreien Gesellschaften nicht benötigen. Die dogmatische Moral ist also ihrem Wesen nach eine Herrschaftsmoral. Indem sie die Menschen an absolute Erkenntnis zu binden sucht, schränkt sie ihre Möglichkeiten zu kognitiven Lernprozessen und zur Verhaltensflexibilität ein. Es bleibt noch kurz zu diskutieren, weshalb Theodor Geiger den Übergang von der traditionellen zur dogmatischen Moral als einen Emanzipationsprozeß begreift. Im Grundsatz teilt er die hier vertretene Auffassung, daß die dogmatische Moral eine Zwangsmoral und daß absolute Erkenntnis nicht möglich ist. So sagt er an einer Stelle: "Die Moraltheologen haben sich im Namen ihrer Götter, Philosophen in Namen der Vernunft nie darüber einigen können, welche Maximen objektive Gültigkeit haben. Der Wert ,Das Gute' wird unterschiedlich bestimmt."62 Wegen der ewigen Unentschiedenheit des objektiv Guten soll es zu den Schismen der dogmatischen Moral und schließlich zu ihrer Auflösung im Subjektivismus gekommen sein. Es fragt sich daher, worin der moralische Fortschritt bestand, wenn über die ,,Richtigkeit" der Normen keine Einigung erzielt 61 Die reichhaltige psychoanalytische Literatur zu dieser sog. ,,Externalisierung des Bösen", zur sog. "Sündenbockprojektion" ist ausführlich dargestellt in den Arbeiten von Arno Plack (Das Böse 1971), Neumann (Tiefenpsychologie 1949) soweit explizit für das Strafrecht Engelhardt (Strafende Gesellschaft 1976) und Haffke (Generalprävention 1976). 62 Geiger, ebd. 63.

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werden konnte, wenn das Wissen nicht objektiver und das Werten nicht wahrer wurden. Die Antwort Geigers verrät dieselben Mißverständnisse über die Ordnung in frühesten Gesellschaften, die wir bei zahlreichen Rechtsanthropologen kennengelernt haben. Er glaubt, die Verhaltensregelmäßigkeit der Jäger basiere auf der reflexhaften, monotonen Wiederholung des Gewohnten, eben auf einer Sitte ohne jeden ideellen Überbau. Demgegenüber kann dann die Moral, insbesondere die dogmatische, als ein verinnerlichtes und spiritualisiertes Verhaltenssystem beschrieben werden, das sich aus den Fesseln der Überlieferung befreit und soziale Innovation fördert: "Der Moraldogmatiker verwirft von seiner Konzeption des Guten aus gewisse bisher befolgte Sittennormen als der Offenbarung oder der Vernunft widersprechend und deduziert neue Normen aus der von Gott offenbarten oder von der Vernunft erkannten Grundmaxime. Er tritt als Kritiker der Sittennormen auf und als Urheber von Moralnormen."63 Die dogmatische Moral stellt tatsächlich - wie Geiger meint - eine Revolution gegen die Sitte dar. Allerdings nicht im Sinne eines Evolutionsgeschehens, das die Verhaltenssysteme von niederen zu höheren Formen transformiert. Es hat vielmehr ein Entwicklungsprozeß stattgefunden, in dessen Verlauf das alte Übergewicht des Konsenses von der kontinuierlichen Aufwertung der Herrschaft abgelöst wurde. Dieser Prozeß ging Hand in Hand mit der allmählichen Auftrennung früherer Ganzheiten: Die Einheit der Gesellschaftsmitglieder beginnt sich ebenso aufzulösen wie die Einheit des Individuums mit Natur, Materie und Gott. Vermittelten die Naturreligionen noch eine das Subjekt und das Objekt gleichermaßen umgreifende Ordnung, so erzeugt das neue subjektunabhängige Weltverständnis zuerst die Spaltung in eine natürliche und übernatürliche Welt und später die dann in der Modeme zur Vollendung gekommene Spaltung in eine innere und eine äußere Welt. Für die dogmatische Moral ist dabei charakteristisch, daß sie jeweils den vom Subjekt abgespaltenen Bereich - Gott, Vernunft oder Materie - zur dominierenden Wertungs- und Handlungsinstanz erklärt. Damit gelingt es ihr, die Projektionen der Herrschaft im Gewissen zu verankern. Aber dieser Prozeß der Internalisierung von Herrschaft kann nie vollends gelingen. Er stößt immer an die Grenze, die der Strukturdeterminismus dem menschlichen Handeln setzt. Deshalb ist eine durchgängige Parallelisierung der kognitiven Bereiche unmöglich. Diese kann immer nur so weit durchgeführt werden, als die Lebensbereiche der strukturell gekoppelten Individuen vereinheitlicht werden. Da nicht einmal die Sozialisationsprozesse von Zwillingen, die in ein und derselben Familie aufwachsen, identisch sein können, ist die strikte Vereinheitlichung der Kognitionen praktisch ausgeschlossen. Das verhindert freilich nicht, daß partielle Erfolge der Hegemonisierung des Wissens und der Werte über die Durchsetzung herrschaftlicher Interessen möglich sind. Eben diesen Zustand der punktuellen Heteronomisierung der Verhaltenssysteme meinen die 63 Geiger, ebd. 62.

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Begriffe der ,,rigiden Ethik" oder der "dogmatischen Moral". 64 Darum ist dieser Zustand auch kein emanzipatorischer, sondern eher ein Zustand der Entfremdung. So wenig sich im Übergang von der traditionellen zur dogmatischen Moral eine Entwicklungslogik im teleonomischen Sinne vollzog, so wenig kann dies vom Wechsel zum dritten Stadium, der autonomen Gewissensmoral, behauptet werden. 65 In diesem Stadium ist das Gewissen des Einzelnen nicht mehr nur Moralitäts-Indikator, sondern die höchste Moralautorität. Nunmehr ist das Individuum sein eigener Moralgesetzgeber und bestimmt in eigener Verantwortung den Inhalt der Maxime seines Willens. Die Menschen besitzen die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, und es ist ihre Pflicht, gemäß der getroffenen Unterscheidungen zu handeln. Doch wenn die Wertungen individuell getroffen werden, wie sollen sie - so Geigers Frage angesichts des unauflöslichen Dilemmas seiner Konzeption - ein allgemeines Gesetz ausbilden können? Sie können es natürlich nicht, denn: ,,Es ist eine Schimäre, die spontane Übereinstimmung der Gewissen zu erwarten; die Autonomie der Gewissen führt deshalb zu einer Vielfalt von subjektiven Moralen."66 Und noch schlimmer, es kann keine Verständigung zwischen den verschiedenen Individualmoralen geben: "Eine moralische Toleranz, die eine Brücke über die Gegensätze schlagen könnte, ist theoretisch und praktisch unmöglich. Theoretisch, weil die Maxime eines jeden als Idee notwendigerweise mit objektivem Gültigkeitsanspruch auftritt ... Praktisch unmöglich ist die Toleranz, weil A von seiner Maxime her gegen Binsoweit handeln will und muß, wie dieser von seiner eigenen Maxime her weder gegen A handeln darf noch dulden kann, von A behandelt zu werden."67 So gesehen verletzen wir mit der Realisierung unserer Moralautonomie unausweichlich die moralische Integrität der anderen. Nun haben wir die Argumente zusammen, die Geigers Konzeption stützen. Treffen sie zu, dann ist sein Trennungspostulat wohl begründet. Recht ließe sich dann logischerweise nicht auf eine moralische Ordnung gründen. Ich wiederhole und ergänze seinen Argumentationsgang: Die traditionelle Moral hat eine allgemeine Ordnung erzeugt, solange ihre Herkunft im Überindividuellen - sei es in Gott, in der Natur oder in der Vernunft - gesellschaftsweit plausibel schien. Auf dieser Stufe der moralischen Entwicklung treten gewöhnlich keine größeren inhaltlichen und strukturellen Diskrepanzen zwischen der Moral und dem Recht auf, da beide ihre Rechtfertigung auf der Basis eines gemeinsam geteilten Weltbildes fmden. Das änderte sich, als die Idee des autonomen Individuums, das moralisch selbständig denkt und frei handelt, an Boden gewinnt. Die Behauptung 64 V gl. hierzu Habennas' These von der "Kolonialisierung der Lebenswelt" , Kommunikatives Handeln, Bd. 2, 1981, 171,489.

65 Zum Konzept der Moralgenese als ethischen Fortschritt vgl. die Arbeiten von Piaget

(Moralisches Urteil 1973) und Kohiberg (Kognitive Entwicklung 1974). Das Folgende

ist auch als Kritik an dem affJnnativen Evolutionismus dieser Theorien zu verstehen. 66 Geiger, Moral 1979,63. 67 Geiger, ebd. 63.

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einer der theologischen Sicht oder der Wissenschaft zugänglichen Offenkundigkeit des Sittengesetzes war damit entwertet. Infolgedessen kann die Rechtsgeltung nicht mehr von der selbstverständlichen Autorität überzeitlicher Normbestände zehren. Sie bedarf jetzt einer autonomen, von der inneren Zustimmung der Gesellschaftsmitglieder losgelösten Begründung. 68 Da eine solche Begründung weder der Subjektivismus der autonomen Gewissensmoral noch der Objektivismus der traditionellen Moral hervorbringen kann, muß sie Bestandteil der sozialen Interaktion sein. Daß wir der von der Zentralgewalt auferlegten äußeren Pflicht folgen, gründet mithin "in dem spezifisch rechtlichen Motiv, der notgedrungenen Rücksichtnahme der einzelnen auf ihre soziale Interdependenz". 69 Seit der Auskristallisierung einer staatlichen Herrschaft nimmt die soziale Interdependenz institutionell und planmäßig organisierte Formen an. Die soziale Interdependenz wird sozusagen verstaatlicht. Das Ergebnis ist eine zunehmende Verflechtung von Recht und Politik. In den Worten Geigers: "Das Recht ist keine moralische, sondern eine politische Erscheinung - ein soziales Machtphänomen. "70 Mit dieser Feststellung zieht Geiger die logische Konsequenz aus seinem Begriff von Moral. Er kennt nur die objektivistische Deutung der Moralinhalte. Selbst die autonome Gewissensmoral erhebt nach seiner Ansicht einen "objektiven Gültigkeitsanspruch". Das bedeutet, daß der Einzelne nicht anders als zuvor der Priester oder Wissenschaftler seine Überzeugungen von Gut und Böse nach dem Muster des einzig richtigen Zugangs zur Realität konstruiert. Im dritten Stadium ist lediglich die Beurteilungsinstanz, nicht die prinzipielle Methode der Erkenntnisgewinnung ausgewechselt. Aus diesem Grunde treten auch im "subjektivistischen" Stadium die Moralen mit objektivem Geltungsanspruch auf, und eben darum stehen sie sich unversöhnlich gegenüber. Wenn man die Moral in diesem Sinne "ontologisch" konzipiert, hat man keine andere Wahl, als sie aus dem Bereich des Rechts zu eliminieren. Denn sie ist auf ihrer dritten Entwicklungsstufe gänzlich beliebig geworden. Das macht aus, daß sie im Recht als Quelle von Irrationalität erscheint, jedenfalls von "Motiven, welche den formalen Rechtsrationalismus abschwächen." 71 Siehe dazu Habennas, Kommunikatives Handeln 1981,353. Geiger, Moral 1979, 183. 70 Geiger, ebd. 183. Eingehende Begründung: "Durch die Aufstellung von Rechtsregeln statuieren die mit Gesetzgebungsgewalt ausgestatteten Staatsorgane programmatisch eine soziale Zustands- und Verhaltensordnung und befehlen die Anwendung der Zwangsmittel des Staatsapparates gegen die, die nicht im Einklang mit den Rechtsregeln handeln. Damit werden diese näher bestimmten Verhaltensweisen zum Inhalt der äußeren Pflicht des Bürgers gemacht. Er kann sich mit den primären Rechtsregeln als Erscheinungsformen der sozialen Interdependenz in rechtlich-staatlich organisierter Fonn abfmden. Oder er kann den primären Rechtsregeln nachgeben, weil die Sanktionsdrohung ihn abschreckt - coactus vult, vult tamen. Oder er verweigert den Gehorsam und setzt sich dann Sanktionen nach sekundären Rechtsregeln aus. Wenn er versucht hat, sich der sozialen Interdependenz zu entziehen, wird sie fühlbar in Erinnerung gebracht. Niemand kann denjenigen tadeln, der den moralischen Impuls seines Gewissens höher als die rechtlichen Forderungen des Staates stellt - aber er muß die Folgen tragen. Unbeugsame Gewissenkonsequenz ist keine Bürgertugend." 68

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Nun verstehen wir, was Geiger letztlich zur legalistischen Konzeption der Trennung von Recht und Moral bewogen hat. Er will das Recht von der metaphysischen Spekulation, die er mit moralisierender Ideologie gleichsetzt, befreien. Mit anderen Worten, er will die über Moral ins Recht eingeschleuste Berufung auf partikulare Werte abwehren. Die Frage ist nur, ob der Preis, den er dafür zahlen will, nicht viel zu hoch ist. Denn Geiger sucht die im Moralsystem verlorengegangene Allgemeinheit im Politiksystem wiederzufinden, also ausgerechnet dort, wo Allgemeinheit nicht über Konsens, sondern über Herrschaft hergestellt wird. Damit vollzieht er zwar teilweise theoretisch nach, was sich praktisch seit der Entstehung von staatlicher Herrschaft durchsetzte, nämlich die anhaltende Erosion der gemeinschaftlichen Verständigung über praktisches Handeln zugunsten obrigkeitlicher Normierung regelmäßigen Verhaltens. Was er aber nicht wahrnimmt: Mit der restlosen Tilgung ethischer Maßstäbe reduziert er das Recht auf seine formalen Merkmale, auf seinen instrumentellen Aspekt, auf seine zweckrationale Effizienz. Wie Max Weber bringt er die Fortschritte moderner Rechtsentwicklung ausschließlich unter Gesichtspunkte einer wertneutralen, unter Zweckund Mittelaspekten planmäßigen Durchgestaltung von Handlungssphären, die auf den Typus strategischen Handelns zugeschnitten ist. 72 Unerfindlich ist, wie aus diesem positivistischen Rechtsbegriff, der allein die formale Rationalität herausarbeitet, eine Allgemeinheit hergestellt werden kann, die man in der Moral vermißt hat. Ist nicht gerade ein solcher Rechtsbegriff - eher noch als vordem die Moral- ein Spielball partikularer Interessen? Wie aber lassen sich partikulare Interessen rechtfertigen, wenn religiöse Offenbarung und die Autorität der Tradition fortgefallen sind? Kann politische Herrschaft ohne ethische Rückkoppelung überhaupt legitimiert werden? bb) Gegen die Gleichsetzung von Legalität und Legitimität Diesen Fragen stellt sich Geiger nicht. Offensichtlich setzt er die Legitimität der staatlichen Herrschaft voraus. Sie ist ihm so selbstverständlich, daß er sie mit Legalität identifiziert. Genau diesen Weg gehen - in den Fußstapfen Max Webers 73 - alle Autoren, die jede politische Herrschaft durch die Einhaltung von Verfahrensvorschriften in Rechtsetzung, Rechtsprechung und Rechtsanwendung gerechtfertigt sehen. 74 "Legitimation durch Verfahren" heißt demnach die Formel von der legalen Herrschaft, deren Legalität auf ein rein dezisionistisch gefaßtes Recht gestützt ist. Legitimität bedeutet dabei nicht den Rückgang auf formale Bedingungen der moralischen Rechtfertigung von Rechtsnormen,75 sonWeber, Wirtschaft 1976, 654. Vgl. Habennas, Kommunikatives Handeln, Bd. I, 1981, 352. 73 Weber, Wirtschaft 1976, 636. 74 Siehe insbesondere Luhmann, Veifahren 1969; vgl. dazu die Kritik von Habennas, Gesellschaft 1971, 243. 75 S. Alexy,Juristische Argumentation 1978; ebenso Dreier zu Luhmanns systemtheoretischer Neufonnulierung des Gerechtigkeitsproblems, in: Recht-Moral 1981, 270. 71

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dem den "Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen."76 Woher aber soll der Legalitätsglaube die Kraft zur Legitimation aufbringen, wenn die willkürlich gesatzte Rechtsordnung einer ethischen Legitimation unzugänglich ist? Bedarf nicht auch das Verfahren selbst und mit ihm die Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustande gekommene Satzungen der moralischen Rechtfertigung? Würde man die Frage verneinen, so müßte man legale Herrschaft als eine eigenständige Form legitimer Herrschaft akzeptieren. 77 Dann aber würde die positive Satzung per se Legitimität erzeugen, und dies liefe darauf hinaus, die Legalität der Herrschaft und der Rechtsordnung von jeglichem Begründungszwang zu befreien. Soweit will Max Weber nicht gehen. Immerhin fordert er zumindest für die Grundlagen des Verfahrens irgendeine Form von rationalem Einverständnis. 78 Eine solche Zustimmung soll auch dann der Rechtsordnung Geltung verschaffen, wenn die Beteiligten davon ausgehen, daß gegebenenfalls nur noch Experten gute Gründe für ihr Bestehen angeben können. Das ändert indes nichts daran, daß die allein auf positiver Satzung beruhende Legalität eine ihr zugrunde liegende Legitimität nicht ersetzen kann. Denn in diesem Fall ist es das Vertrauen in die Rationalität der Rechtsordnung, die ihre Legitimität ausmacht. Dieser Legalitätsglaube ist dann eben ein Indikator für die Legitimität und nicht mit ihr identisch. Es bleibt dabei: ,.Der Glaube an die Legalität ist kein unabhängiger Legitimitätstypus."79 76 Weber, Wirtschaft 1976, 159. 77 Das dürfte sich angesichts des massiven gesetzlichen Unrechts in der NS-Zeit von

selbst verbieten. Vgl. im übrigen Winkelmann, Legitimität 1952; Eder, Modernes Recht 1978,247. 78 In den "Soziologischen Grundbegriffen" (1978, 316) heißt es: ,,Legalität kann den Beteiligten als legitim gelten: a) kraft Vereinbarung der Interessenten für diese; b) kraft Oktroyierung (aufgrund einer als legitim geltenden Herrschaft von Menschen über Menschen) und Fügsamkeit." Der Übergang zwischen paktierter zu oktroyierter Ordnung ist fließend: ,,Die heute geläufigste Legitimitätsform ist der Legalitätsglaube, die Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustande gekommenen Satzungen. Der Gegensatz paktierter und oktroyierter Ordnungen ist dabei nur relativ. Denn sobald die Geltung einer paktierten Ordnung nicht auf einmütiger Vereinbarung beruht - wie dies in der Vergangenheit oft für erforderlich zu wirklicher Legitimität gehalten wurde - , sondern innerhalb eines Kreises von Menschen auf tatsächlicher Fügsamkeit abweichend Wollender gegenüber Majoritäten - wie es sehr oft der Fall ist - , dann liegt tatsächlich eine Oktroyierung gegenüber der Minderheit vor" (Wirtschaft 1976, 317). Weber unterscheidet als Quellen der Legitimität, von denen der Legalitätsglaube abhängig ist, eine begründete Vereinbarung von der Auferlegung eines mächtigen Willens. Und für diesen gilt: "Die Fügsamkeit gegenüber der Oktroyierung von Ordnungen durch Einzelne oder Mehrere setzt, soweit nicht bloße Furcht oder zweckrationale Motive dafür entscheidend sind, sondern Legalitätsvorstellungen bestehen, den Glauben an eine in irgendeinem Sinn legitime Herrschaftsgewalt des oder der Oktroyierenden voraus ... " (ebd. 318). 79 Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. I, 1981,361. Um diese Lücke zu schließen, führt Schluchter im Anschluß an Heller ,,Rechtsgrundsätze" ein, die eine Brükkenfunktion zwischen positivem Recht und den Grundlagen einer Verantwortungsethik erfüllen sollen (Rationalismus 1979, 155).

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Selbst der Webersche Rechtspositivismus hat also die Rechtfertigungsproblematik nicht zum Verschwinden gebracht. Hinter all der zweckrationalen Verwendbarkeit der Rechtsordnung durch die politische Herrschaft bleibt das Einverständnis der Bürger die einzige Basis der Legitimation. Freilich ist dieses legitimierende Einverständnis unter der Autorität staatlicher Herrschaft nicht mehr unmittelbar in den konkreten Normen einzelner Rechtsmaterien wirksam. Deshalb kann Max Weber die Begründungsbedürftigkeit der Rechtsnormen zugunsten des Satzungsprinzips, also den Konsens zugunsten der Herrschaft, vernachlässigen. Aus demselben Grund hat Theodor Geiger das Recht als bloßes Machtphänomen, als pures Organisationsmittel politischer Herrschaft beschrieben. 80 Daran ist soviel richtig, als sich im modemen Recht der Konsens nicht mehr auf die Konkretionsstufe jeweiliger Normensysteme erstreckt. Er bestimmt infolgedessen kaum noch das praktische Handeln in Politik und Recht. Aber übersehen wird, daß der Bereich der Legalität als ganzer der moralischen Rechtfertigung bedarf. Dieser Legitimation dienen die Basisinstitutionen der bürgerlichen Verfassungen. Sie können als Ausdruck eines rationalen Einverständnisses aller Bürger interpretiert werden. Vor allem der Katalog der Grundrechte und das Prinzip der Volkssouveränität, das die Gesetzgebungskompetenz an die Organisationen demokratischer Willensbildung bindet, repräsentieren als Werthaltungen eine Allgemeinheit, über die kein Streit besteht. Für Habermas stellen diese in die Grundlagen verschobenen Rechtfertigungsinstitutionen "die Brücke dar zwischen einer entmoralisierten und veräußerlichten Rechtssphäre einerseits, einer entinstitutionalisierten und verinnerlichten Moral andererseits". 81 Ich frage mich aber, ob es dieser Brückenkonstruktion bedarf, wenn Recht und Moral miteinander kommunizieren sollen. Übernimmt die Habermassche Formulierung nicht den hergebrachten Dualismus von innerer und äußerer Welt, von moralischem und legalistischem Handeln? Verfestigt er nicht geradezu die extreme Interpretation von antagonistischen Verhaltens systemen, indem er von entmoralisiertem Recht und entinstitutionalisierter Moral spricht, die es bloß ins Gespräch zu bringen gelte. Weiter hilft hier meines Erachtens eine Handlungstheorie, die die Standpunkte der Autonomie und der Heteronomie umgreift, ohne die inhaltlichen Diskrepanzen zu verwischen. Als eine solche allgemeine Handlungstheorie hat sich das oben näher beschriebene Vierfunktionenschema von Parsons bewährt. 82 Es macht plausibel, daß Handeln als eine Funktion von Zielen, Situationen, Normen und symbolischem Bezugsrahmen zu betrachten ist. Diese Kategorien bestimmen den Handlungsraum, in dem jedes Handeln abläuft. Um ein konkretes Handeln beurteilen zu können, muß das Gewicht der einzelnen Faktoren, das den Ablauf mehr od~r weniger stark determiniert, festgestellt werden. Trotz der jeweils unterschiedlichen Gewichtsverteilung gibt es keine 80 81 82

Geiger, Moral 1979, 183.

Habennas, Kommunikatives Handeln, Bd. 1, 1981,266.

Vgl. Kap. 3 11.

II. Recht in staatlichen Gesellschaften

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Handlung, bei der eine oder gar mehrere der Komponenten fehlen würden. Infolgedessen bedeutet die analytische Isolierung einzelner Faktoren die Formulierung extremer theoretischer Positionen, die das Handeln aus dem Blickwinkel einer oder einzelner Komponenten des Handlungsraumes begreifen. cc) Grundrechte als symbolischer Bezugsrahmen Als derartige Extrempositionen bezeichne ich jene Theorien, die das rechtliche und das moralische Verhaltenssystem gänzlich verselbständigt sehen. Die Rechtstheorie Geigers mag dies noch einmal verdeutlichen. Für Geiger ist das rechtliche Normensystem ausnahmslos moralisch indifferent; es erlegt den Menschen eine äußere Pflicht auf, der kein inneres Äquivalent zu entsprechen braucht. Im Extremfall entbehrt die Rechtsordnung jeglicher Zustimmung durch die große Mehrheit der Bürger. Wenn wir nun das Vierfunktionenschema an diese Vorstellung anlegen, so ist offensichtlich, daß Geiger den Faktor "Situation" überbewertet. Danach wäre das rechtliche Handlungssystem allein durch die extreme Strukturierung der Situation, also durch den Einsatz von Macht determiniert. Aus dieser einseitigen handlungstheoretischen Position folgt eine nicht minder einseitige gesellschaftstheoretische Ordnungsidee: Die Rechtsordnung ist dann der Effekt des Handeins derjenigen Akteure, die für ihre Interessen am meisten Macht mobilisieren können. Damit entstehen quasi-naturalistische Rechtsinstitutionen, die regelmäßiges Verhalten durch justizielle und polizeiliche Maßnahmen erzeugen. Wer die Situation mit dem Instrument der Sanktionsgewalt beherrscht, der verfügt demnach über hinreichende Machtmittel, um die eigenen Ziele und Wünsche realisieren zu können. Nur stärkere Macht könnte ihn daran hindern. Für diesen machttheoretischen Positivismus ist also die Rechtsordnung ein Herrschaftsphänomen, legales Verhalten mithin vollkommen durch äußere Gegebenheiten bestimmt. Die Schwächen dieser Position haben wir im einzelnen aufgezählt. 83 Hier sei lediglich daran erinnert, daß es im Konzept der Machttheorie keine Kategorie für die Limitierung der Macht gibt. So existiert in Geigers Rechtstheorie keine Bindung der Akteure an eine übergeordnete Gemeinschaft und eine daraus folgende moralische Verpflichtung zu gemeinsamen Normen. Desweiteren kann die Machttheorie Innovationen bzw. Rechtsentwicklungen, die gegen die Mächtigen durchgesetzt werden, nicht erklären. Sie muß für diese Fälle auf vorher schon akzeptierte allgemeine Werte verweisen, unter die der Wandel subsumiert werden kann. Der Hinweis auf generelle Ziele oder höchst abstrakte Wertmuster führt jedoch Residualkategorien ein, die die Machttheorie punktuell außer Kraft setzen. Somit erfährt die Machttheorie in dem Maße Einschränkungen, in dem ein konsentiertes Normensystem und ein allgemeiner symbolischer Bezugsrahmen das Handeln (mit-)steuern. Andererseits trifft die Machttheorie umso eher zu, je weniger 83

Siehe Kap. II 2.

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

der symbolische Bezugsrahmen institutionalisiert bzw. in das Rechtssystem eingebaut ist. In diesem Fall wird Macht bei der Durchsetzung von Verhaltensregelmäßigkeit eine große Rolle spielen. Da unter der Bedingung staatlicher Herrschaft Macht zweifellos der überragende Handlungsfaktor ist, hängt für die Beurteilung der Richtigkeit der Machttheorie alles davon ab, ob allein die Politik die Eigenlogik der rechtlichen Handlungssphäre bestimmt oder ob nicht doch das Recht durch die Kategorie eines symbolischen Bezugsrahmens in spezifischer Weise eingefärbt und geprägt ist. Nach Parsons sorgt der symbolische Bezugsrahmen für die Identität des Handelns. Er erlaubt im Konkreten Variabilität und gewährleistet dennoch im Übergeordneten Konsistenz. Als ein solcher genereller Bezugsrahmen kommt nur ein Handlungsmodus in Betracht, der alle partikularistischen Standpunkte ablehnt. Für den vernunfttheoretischen Idealismus heißt dies die Bereitstellung einer ideellen Sprechsituation, in der sich soziale Ordnung aus der vernünftigen, diskursiven Argumentation gleichberechtigter Akteure ergibt. Sieht man einmal vom rationalistischen Charakter dieser Variante des Idealismus ab, so erinnert die starke Betonung der Gleichberechtigung, der Argumentation und der Verständigung an die Situation von akephalen Gesellschaften. Dort haben wir die Handlungsprinzipien der Egalität und der Reziprozität als die eigentlichen konsensstiftenden Kräfte ausgemacht. Diese Prinzipien umschreiben den Kernbereich der alten Einheit von Moral und Recht. Mit dem Aufkommen der staatlichen Herrschaft haben sich die beiden Verhaltenssysteme zwar dahingehend verselbständigt, daß nunmehr in der Moral das Prinzip Konsens und im Recht das Prinzip Macht dominiert, aber das jeweils andere Handlungsprinzip ist weder im Recht noch in der Moral verschwunden. Das folgert schon aus der Logik des Vierfunktionenschemas, wonach menschliches Handeln niemals nur durch konditionale oder nur durch normative Faktoren bestimmt sein kann. Im Recht lassen sich die Spuren des früheren Konsenses und der früheren Egalität verhältnismäßig leicht nachweisen. Sie sind in den universalen Wertmaßstäben enthalten, die in den modernen Verfassungen als Grundrechte formuliert wurden. Es handelt sich bei diesen fundamentalen Rechtssätzen wohlgemerkt um Maßstäbe für eine prozedurale Rationalität und nicht um partikulare Wertinhalte kultureller Überlieferungen. Um Inhalte jenseits von Verständigungsprozessen festschreiben zu können, müßten wir über substantielle Vernunftbegriffe oder über sonstige ontologische Gewißheiten verfügen. Daß diese Quellen längst versiegt sind, haben Max Weber und' Theodor Geiger unermüdlich betont. 84 Das 84 Die Festlegung der Moral auf partikulare Standpunkte zeigt sich bei Geiger besonders dort, wo er auf die rechtspolitischen Konsequenzen seines Trennungspostulats zu sprechen kommt. Moral ist für ihn die rigide Ethik der Abwertung, der Ausgrenzung, des "Ostrazismus". Diese auf Entehrung zielenden Moralprätentionen will Geiger insbesondere aus dem Strafrecht entfernt wissen: ,,In den meisten Ländern gibt es besondere Strafformen mit entehrender Wirkung. Sie sollen die in jeder Strafmaßnahme liegende rein rechtliche Mißbilligung der Tat durch ausdrückliche moralische Verurteilung ver-

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ist der Grund, weshalb sie wertrationale Handlungsorientierungen vom Rechtssystem fernhalten wollen. Aber damit unterscheiden sie nicht hinreichend zwischen historisch variierenden, ontologisch begründeten Wertmaterien und jenen universalen Geltungsansprüchen, unter denen sich das Rechts- und das Moralsystem zu eigensinnigen Verhaltenskomplexen ausgebildet haben. Es handelt sich hierbei um die uns hinlänglich bekannte Konfusion zwischen der rigiden Moral, die aus objektiver Erkenntnis stammt und in den Formen der traditionellen ebenso wie der autonomen Moral auftreten kann, und der flexiblen Moral, die methodischem Wissen entspringt. Die objektivistisch-rigide Moral kann keine Allgemeinheit hervorbringen, weil ihre partikularen Wertinhalte einen beständigen Konflikt zwischen unversöhnlichen Lebensordnungen provozieren. Auf einen solchen Pluralismus von unvereinbaren Moralinhalten läßt sich kein verbindliches Rechtssystem gründen. Darin ist Weber und Geiger vorbehaltlos zuzustimmen. Deshalb aber auf jede materiale Orientierung des Rechts zu verzichten, bedeutet in der Konsequenz, die Rechtsordnung ohne jeden Rest in ein politisches Subsystem zu verwandeln und damit die faktischen Verflechtungen hinzunehmen. Das ist die Position der Machttheorie, die von C. Schmitt bis zu marxistischen Dogmatikern Schule gemacht hat. Diese Position übersieht indes den in die Grundlagen des Rechts bereits eingebauten symbolischen Bezugsrahmen, der dem Legalismus der positivistischen Machttheorie tendenziell entgegenwirkt. Will man diese Tendenz verstärken, tut man gut daran, die Handlungsprinzipien des symbolischen Bezugsrahmens nicht nur im Recht, sondern auch in Politik, Wirtschaft und Kultur zu verteidigen. dd) Rechtfertigung des symbolischen Bezugsrahmens Eine wichtige Frage bleibt noch zu klären: Warum dürfen die Wertmaßstäbe des symbolischen Bezugsrahmens universale Geltung beanspruchen? Es ist dies die Frage nach der Rechtfertigung der in den Grundrechten objektivierten Prinzipien der flexiblen Moral. Oder anders gefragt: Wodurch legitimiert sich die Forderung nach Konsens, nach Egalität und Reziprozität? Habermas gibt hierauf eine jormal/ogische und darum bestechend einfache Antwort. Er sagt, normative Geltungsansprüche unterscheiden sich von empirischen Ansprüchen dadurch, daß sie nur mit Hilfe von Argumenten eingelöst werden können. "Und Argumente schärfen. Derartige Strafen haben keinen Platz in einem Rechtssystem, das sich von der Moral emanzipiert hat. Die Strafe ist die Reaktion der Rechtsgesellschaft gegen ein Verhalten, das von einem Rechtsverbot betroffen wird. Das Verhalten wird nicht bestraft, weil es unmoralisch, sondern weil es rechtswidrig ist. Die Strafe kann daher nur eine rechtliche, keine moralische Maßnahme sein. Der staatlichen Rechtsautorität fehlt die Kompetenz zur Äußerung einer moralischen Verurteilung, weil die moralische Wertung Privatsache des Gewissens ist" (Moral 1979, 189. Im deutschen Strafrecht kommt die moralische Wertung im sog. Schuldprinzip zum Tragen. Da ich diese (Ab-)Wertung nicht mehr mit Moral, zumindest nicht mit der flexiblen Moral des symbolischen Bezugsrahmens, identifiziere, besteht kein Grund mehr, das Trennungspostulat aufrechtzuerhalten; zu meiner früheren Position vgl. Schuldprinzip 1982, 199.

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

oder Gründe haben mindestens dies gemeinsam, daß sie, und nur sie, unter den kommunikativen Voraussetzungen einer kooperativen Prüfung hypothetischer Geltungsansprüche die Kraft rationaler Motivation entfalten können."85 Zu den kommunikativen Voraussetzungen zählt insbesondere eine Sprechsituation, in der die Argumente gleichberechtigt, also frei von Herrschaftsdruck ausgetauscht werden können. Wenn nicht nach vorgängigen Wertmustern entschieden werden kann, dann macht die Rationalität der Argumentation allein die formale Ebene der diskursiven Einlösung von Geltungsansprüchen aus. Also folgt bereits aus der pragmatischen Logik der Argumentation, daß herrschaftsfreie Diskurse institutionalisiert werden. Eine solche Forderung ist zentraler Bestandteil jeder verständigungsorientierten Ethik. Der diskurstheoretische Gedankengang von Habermas soll die Notwendigkeit menschlicher Kooperation unabweisbar vor Augen führen. Freilich steht und fällt die Habermassche Diskurstheorie mit der Behauptung, daß die ehedem in ontologischen Grundbegriffen gegebene Einheit des Wahren und Guten endgültig zerfallen sei. 86 Er begründet dies mit dem Auftreten moderner Bewußtseinsstrukturen, die der soziale und ökonomische Wandel hervorgebracht habe. Damit stellt Habermas einen systematischen Zusammenhang her zwischen der Evolution des Bewußtseins und der natürlichen Evolution der Gesellschaften. Wie Piaget und Kohiberg erblickt auch Habermas im technischen Fortschritt den Motor zur autonomen Gewissensmoral und zu posttraditionalen Bewußtseinsstrukturen. Zwar setze die kapitalistische Ökonomie in ungeahntem Ausmaß zweckrationale Handlungsorientierungen frei und ,,kolonisiere" auf diese Weise traditionale Lebenswelten, aber sie "emanzipiere" auch das Individuum, indem sie es aus den alten Wert- und Glaubensurteilen befreie. An dieser Hypothese stört vor allem, daß der moralische Fortschritt - trotz seiner Gefährdungen - in eine universalhistorische Perspektive gestellt wird. Das Ergebnis ist - wie wir gesehen haben - ein affirmativer Evolutionsbegriff, der das ,,ziel" oder den ,,zweck" der Geschichte an den strukturellen Eigenheiten der Moderne festmacht. 87 Demgegenüber haben die ethnologischen Befunde über die akephalen Gesellschaften eindeutig ergeben, daß das, was Habermas mit 85 Habennas, Kommunikatives Handeln, Bd. 1, 1981,399. 86 Vgl. hierzu ausführlich McCarthy, Verständigungsverhältnisse 1989, 330. 87 Eder (Vergesellschaftung 1988,309): ,,Man kann die Einwände gegen einen Ratio-

nalitätsfortschritt als Kritik an einem affirmativen Evolutionsbegriff begreifen. Es ist offensichtlich, daß soziale Evolution nicht Kriege und Zerstörung verhindert, sondern eher das Zerstörungspotential vergrößert hat. Und es ist genügend oft gezeigt worden, daß die Behauptung der Überlegenheit der eigenen Moral und des eigenen Wissens die Unterdrückung anderer Kulturen gerechtfertigt hat. Dies macht es in der Tat schwierig, von Fortschritt oder Höherentwicklung zu reden. Ein solcher affirmativer Evolutionsbegriff kennzeichnet gleichennaßen die rationalistischen wie die funktionalistischen Evolutionstheorien. Das Richtungsproblem ist weder durch den Rekurs auf die ,Entwicklungslogik' individueller oder gesellschaftlicher Lernprozesse noch durch den Rekurs auf eine ,gesetzmäßige' Komplexitätssteigerung lösbar" (zur Kritik an der Fortschrittsgläubigkeit vgl. auch Bosse, Ethno-Hermeneutik 1984, 379; Kramer, Verkehrte Welten 1977).

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prozeduraler Rationalität meint, kein Privileg moderner Gesellschaften ist. 1m Gegenteil, es läßt sich mit guten Gründen die Ansicht vertreten, daß die diskursorientierten Handlungsprinzipien in modemen Gesellschaften nie mehr die Bedeutung erlangt haben, die ihnen von den Jägern und Sammlern beigemessen worden waren. Trifft das zu, dann muß auch die These vom Zerfall der alten Weltbilder skeptisch stimmen. Sicher gibt es nicht mehr den einen universalen Glaubenssatz, aber an seine Stelle sind keineswegs Verständigungsprozesse unter gleichberechtigten Akteuren getreten. Nach wie vor führen in den Abstimmungsprozeduren die Argumente der objektivistischen Erkenntnis und damit einer rigiden Moral das Wort. Daraus folgert, daß sich bei aller Pluralität konkreter Wertinhalte an der Methode der Wertgewinnung nichts geändert hat. Aus der Erkennbarkeit der Welt wird auf die Erkennbarkeit der Normen geschlossen. Wenn heute irgendetwas die Einheit der Argumente ausmacht, dann ist es dieser erkenntnistheoretische Realismus, mit dem legitimationswirksam partikulare Interessen durchgesetzt werden. Wer vermag auszuschließen, daß sich auf diesem Boden nicht doch erneut eine heteronome Moral, d. h. ein traditionelles Weltverständnis entwickelt? Modemen Bewußtseinsstrukturen darf man nach den Erfahrungen des Faschismus nicht eo ipso zutrauen, daß sie gegen jegliche Methoden der kognitiven Parallelisierung gefeit seien. Das liegt vor allem daran, daß die ontologischen Grundbegriffe eben nicht, wie Habermas anzunehmen scheint, erledigt sind. Daher auch müssen Argumente nicht notwendigerweise die Kraft rationaler Motivation entfalten. Sie können durchaus im epistemologischen Objektivismus untergehen. Nach alldem läßt sich der symbolische Bezugsrahmen schwerlich auf argumentationslogischer Basis rechtfertigen. Diese Basis setzt vielmehr ihrerseits das Wissen um die Subjektabhängigkeit der Erkenntnis voraus. Erst wenn sich die streitenden Parteien ihrer Sache ontologisch nicht mehr "sicher" sind, also nur noch hypothetische Geltungsansprüche stellen, macht es Sinn, die kommunikativen Voraussetzungen für kooperative Prüfungsverfahren zu schaffen. Aus eben dem Umstand, daß objektive Erkenntnis biologisch unmöglich ist, haben wir oben die Notwendigkeit zur menschlichen Koexistenz und Kooperation abgeleitet. Die Frage nach der Berücksichtigung des Anderen beantwortet sich somit unmittelbar aus der Epistemologie heraus: Aller Ethik liegt die Verknüpfung der Menschen als strukturell gekoppelte Wesen zugrunde. Sie benötigen einander, um jene konsensuelle Welt aufzubauen, die für sie die Realität ist, in der sie überleben können. Und dieses Wissen impliziert die ethischen Verpflichtungen zur konstruktiven Methodologie, zur Ko-Existenz, zur Selbstverantwortlichkeit, zur Reduktion von Herrschaft, zur kulturellen Toleranz und zum sozialen Wandel. Zusammengenommen umschreiben diese ethischen Implikationen der Kognitionsbiologie eine Moral, die flexibel genannt werden muß, da ihre Vorstellungen von Gut und Böse nicht an das Absolute, sondern an die diskursive Kommunikation gebunden sind. Eine solche Moral knüpft an die beste Tradition der Aufklä30 Kargl

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rung im Sinne der Fähigkeit von Kritik und Selbstkritik an. 88 Angestrebt wird Solidarität als Reduktion von Macht und Wahrheitsterrorismus und Kooperativität als konfliktreduzierendes Interagieren und gemeinsames Problemlösen. Diese unmittelbar aus der biologischen Erkenntnistheorie Maturanas gewonnenen ethischen Verpflichtungen dürften mit den universalen Wertmaßstäben einer prozeduralen Rationalität identisch sein. Es spricht auch nichts dagegen, in ihnen jenen symbolischen Bezugsrahmen zu erblicken, in dessen Licht die Grundrechte der Verfassung zu lesen sind. Jedenfalls formulieren sie eine Ordnung, die auf diskursiven Verfahren und somit auf legitimierter Macht beruht. 89 Fazit: Das legalistische Verständnis vom Recht erfaßt die mit Beginn der staatlichen Herrschaft einsetzende zweckrationale Umformung großer Teile des Rechtssystems. Soweit sich in diesen Bereichen strategisches und kognitiv-instrumentelles Handeln durchgesetzt hat, unterstellt das modeme Recht den Rechtspersonen außer einem generellen Rechtsgehorsam keine sittlichen Motive mehr. Bezieht man den Begriff der Sittlichkeit auf partikulare Wertinhalte, dann ist es folgerichtig, das modeme Recht mit Weber und Geiger als einen moralisch neutralisierten Handlungsbereich zu definieren. Sieht man hingegen unter Sittlichkeit die prozedurale Rationalität gleichgestellter Rechtspersonen, so ist das Rechtssystem als ganzes keineswegs vom moralischen Bereich abgekoppelt. Dieser Bereich ist vielmehr in den Basisinstitutionen des Rechtssystems wirksam und verhindert, daß sich vollends zwei antagonistische Lebensordnungen - hier Moral, dort Recht - entwickeln. Welchen Grad der Wirksamkeit die wertrationalen, konsensorientierten Prinzipien im Recht erhalten, das hängt entscheidend davon ab, ob die Dominanz von Macht und Herrschaft im Recht zurückgedrängt werden kann. Nicht wenige Rechtstheoretiker setzen dabei ihre Hoffnung auf eine andere genuine Leistung des modemen Rechts, nämlich auf den hohen Stand seiner F ormalisierung. Es sind dies logischerweise dieselben Autoren, die schon die Positivität des Rechts als ein wirksames Bollwerk gegen politische Instrumentalisierung bezeichnet haben. Da diese Position bereits ausführlich kritisiert wurde, kann ich mich nachstehend kurz fassen. d) Formalität

Es gehört zum Selbstverständnis der Juristen, daß sie den Rationalitätszuwachs des modemen Rechts vor allem in einer internen Systematisierung suchen. Dabei kann man sich wieder auf Max Weber berufen, der bei der Frage nach den Merkmalen der Rationalität des Rechts an erster Stelle die Rechtssystematik nennt. 90 Sie ist für ihn der Höhepunkt einer Entwicklungsgeschichte der ,,EntzauVgl. Schmidt, Literatursystem 1987, 125. Gegen ein heteronomes Verständnis des Rechts auch sophie abgeleitet - M. Köhler, Fahrlässigkeit 1982, 382. 90 Weber, Wirtschaft 1976, 570. 88

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aus der Kantschen Philo-

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berung der Rechtswege", 91 die vom ,,magisch bedingten Formalismus", wo die ritualistische Einhaltung der Form des Rechtshandelns die inhaltliche Richtigkeit des Urteils verbürgt, bis zum "logischen Formalismus" des zeitgenössischen Rechts, wo Normen als willkürliche Satzungen betrachtet werden. 92 Der Fortschritt wird darin gesehen, daß die Normen immer flexibler geworden seien und erst im modemen Recht nach ihrerseits bloß hypothetisch geltenden Prinzipien beurteilt würden. Weber konstruiert also eine phylogenetische Rationalisierung des Rechts, die die ontogenetische Stufenfolge von präkonventionellen, konventionellen und postkonventionellen Moralbegriffen widerspiegelt. Zweifel an dieser entwicklungslogischen These ergeben sich bereits aus Webers Vorstellungen über die Frühzeit des Rechts. Die ethnologischen Befunde über akephale Gesellschaften bestätigen keineswegs die Starrheit bzw. den rituali stischen Formalismus, der dem frühen Recht oft nachgesagt wird. Im Gegenteil, "von Starrheit ist im Recht der frühen Gesellschaften überhaupt nichts zu spüren".93 Wir erinnern uns, daß die Jäger und Sammler, lange Zeit auch die Akkerbauern unter einem enormen Druck zum Komprorniß standen. Das resultiert unmittelbar aus der Akephalität ihrer gesellschaftlichen Organisation: Wer sein Recht nicht mit Hilfe staatlicher Gewalt durchsetzen kann, der ist - will er nicht die unübersehbaren Folgen der Blutfehde auf sich nehmen - zur Einigung gezwungen. Umgekehrt: Wer sein Recht in den Händen spezialisierter Agenten der Gesamtgesellschaft weiß, der ist aus der Verantwortung für das Zustandekommen des Konsenses befreit und kann sich deshalb auf einen abstrakten, "unsolidarischen" Rechtsstandpunkt stellen. Demgemäß dürfte die Entwicklung zu Formalismus und Ritualisierung erst nach der Entstehung von Kephalität eingesetzt haben. Für das Folgende gilt es, diese historische Reihenfolge nicht aus dem Auge zu verlieren: Formalität existiert nicht vor der staatlichen Herrschaft, sie entsteht und vollendet sich mit ihr. Damit spricht vieles für die Vermutung, daß die Formalität des Rechts überwiegend eine Funktion von Herrschaft ist und nicht etwa nur eigenen Autonomisierungsprozessen entspringt. Eine genauere Betrachtung dessen, was die formale Durchstrukturierung des modemen Rechts ausmacht, bestätigt diese Vermutung. Das modeme Recht ist im Gegensatz zum frühen Recht vor allem luristenrecht. Mit der Übertragung der Verantwortung für die Einhaltung der Rechtsnormen auf Fachleute werden Rechtsprechung und öffentliche Verwaltung professionali91 Diese Fonnulierung hat Schluchter in Analogie zur Weberschen ,,Entzauberung der Heilswege" gefunden, vgl. Rationalismus 1979, 146. 92 Nach Eder spiegelt die Rationalisierung des Rechts dieselbe Stufenfolge von präkonventionellen, konventionellen und postkonventionellen Grundbegriffen, die die Entwicklungspsychologie für die Ontogenese nachgewiesen hat (Entstehung 1980). Diese These hat Schluchter an Webers Rechtsoziologie exemplifiziert (Rationalismus 1979, 146). Vgl. unsere Kritik an diesen Konzepten unter dem Stichwort ,,Evolutionismus" in Kap. 4 11. 93 Wesei, Früh/armen 1985,352. 30'

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siert. So entsteht ein juristischer Sachverstand, der nicht nur die Gesetzesanwendung, sondern auch die Rechtssetzung immer stärker an formale Verfahren bindet. 94 Diese Umstände fördern nicht gerade konfliktverarbeitende und ausgleichende, sondern in besonderem Maße konfliktentscheidende und damit häufig auch polarisierende Mechanismen. Dem entspricht der gesellschaftliche Auftrag: Das Recht und seine Sachwalter haben zuerst den absoluten Willen der staatlichen Herrschaft zu verkörpern und erst danach Frieden zwischen Privatpersonen zu stiften. Die Interessen der Allgemeinheit rangieren nunmehr vor Individualinteressen. Im Strafrecht verwandeln sich Verletzungen persönlicher Rechte in "öffentliche" Störungen. Das bringt es mit sich, daß das Recht selbst zu einem Schutzgut aufrückt, das mit enormer Energie verteidigt wird. Damit nehmen nicht nur Zahl und Varietät gesellschaftlicher Konflikte zu, es steigt auch der Normbedarf, der von vorhandenen allgemeingesellschaftlichen Konfliktlösungen nicht ausreichend befriedigt werden kann. 95 Dieser Normbedarf - so stellt Teubner fest - "erzeugt geradezu einen ,Sog' in Richtung ,Eigenproduktion' , also in Richtung Spezialisierung und Selbstreferenz" . 96 Es fragt sich allerdings, ob die zunehmende Spezialisierung und Binnendifferenzierung zu einer Autonomiesteigerung des Rechts geführt hat - wie Teubner weiterhin annimmt - oder ob die Spezialisierung nicht eher Tendenzen der Politisierung, der Verwissenschaftlichung, der Vergesellschaftung fördert und demnach Autonomieabbau zum Ausdruck bringt. 97 Beide Positionen argumentieren mit guten Gründen. Offensichtlich hängt die Entscheidung für eine der Positionen wesentlich davon ab, welchen Autonomie-Begriff man verwendet. Die These von der Autonomiesteigerung des modemen Rechts setzt ein Verständnis von Autonomie voraus, das sich stark an den Autopoiesebegriff anlehnt. Bei Teubner ist im Hinblick auf jüngere Entwicklungen der modemen Rechtssysteme sogar von "autopoietischem Recht" die Rede. 98 Allerdings will Teubner sein Autonomiekonstrukt nicht mit jener "unbiegsamen Härte" ausstatten, die der autopoietischen Autonomie von Maturana oder Luhmann zugesprochen wird. Er begnügt sich vielmehr mit einer Begriffsbestimmung, die mehr oder weniger der Definition "selbstreferentieller Systeme" entnommen ist. Danach "soll das Recht in dem Ausmaß als autonom bezeichnet werden, in dem es selbstreferentielle Verhältnisse konstituiert, von der kleinen Normverweisung bis hin zur zirkulären Geschlossenheit eines hyperzyklisch konstituierten Rechts". 99 Die Konstitution von Selbstreferentialität wäre demzufolge das dominierende Charakteristikum autonomen Rechts. Bevor wir das modeme Recht auf dieses Kriterium hin 94 95

96 97

98 99

Siehe dazu König, Recht 1975, 196. Siehe Geiger, Soziologie des Rechts 1964, 48. Teubner, Episodenverknüpjung 1987,434. So z. B. Nonet, Selznik, Law 1978. Teubner, Hyperzyklus 1987, 107; ders. (Hg.), Autopoietic Law 1988. Teubner, Episodenverknüpjung 1987,439.

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überprüfen, seien die begrifflichen Unterscheidungen, die wir hinsichtlich verschiedener Systemtypen vorgenommen haben, kurz rekapituliert. Um die Verschiedenheit der Organisation biologischer, kognitiver und sozialer Systeme nicht zu verwischen, hat sich die Trennung der ursprünglich identisch gebrauchten Begriffe ,,Autopoiese" und "Selbstreferentialität" als nützlich erwiesen. 100 Grundlegend für autopoietische Organisationen ist das Vorhandensein eines Netzwerkes, das die Komponenten hervorbringt, aus denen es besteht. Diese von Maturana und Varela stammende Begriffsbestimmung erfaßt nur biologische Systeme, da nur diese sich im strengen Sinn des Wortes selbsthervorbringen und selbsterhalten. Daß kognitive Systeme bzw. ihr materielles Substrat, das Gehirn, nicht mehr von der Definition erfaßt werden, ergibt sich aus ihrer Abhängigkeit von den Organen des Gesamtsystems ,,Mensch". Ein autopoietisches System wie das Nervensystem kann eben nicht aus autopoietischen Subsystemen als Komponenten bestehen, anderenfalls würde das Nervensystem sich nicht selbst hervorbringen, sondern würde von seinen Komponenten, etwa dem Gehirn, hervorgebracht, es wäre fremdgesteuert, was der Autonomie autopoietischer Systeme grundsätzlich widerspricht. Wenn nun zwar das Gehirn als ein allopoietisches Subsystem des gesamten Nervensystems angesehen werden muß, so heißt dies andererseits nicht, daß es von außen, von der Umwelt kontrolliert wird. Es verändert vielmehr die Zustände seiner Komponenten in operational geschlossener Weise und ist deshalb gegenüber äußerer Beeinflussung relativ autonom. Ein solches System haben wir im Anschluß an Roth ein "selbstreferentielles System" genannt. Da es mit Ausnahme der "Selbsterhaltung" die zentralen Eigenschaften autopoietischer Systeme besitzt, nämlich deren operationale Geschlossenheit und deren Strukturdeterminiertheit, kann es als Oberbegriff für biologische und kognitive Systeme verwandt werden. Wenn wir unsere bisherige Begriffsexplikation auf soziale Systeme anwenden, steht fest, daß sie keine autopoietischen, sondern allenfalls selbstreferentielle Systeme sind: Als Komponenten von Sozialsystemen kommen - wie wir ausführlich dargelegt haben 101 - nur Menschen in Betracht, und diese werden nicht von sozialen Systemen konstituiert. Operieren dann Sozialsysteme zumindest selbstreferentiell, d. h. operational geschlossen und strukturdeterminiert? Teubner scheint diesen Entwicklungsschritt bei Rechtssystemen für möglich zu halten. 102 Er ist damit bereit, Sozialsysteme unter bestimmten Voraussetzungen mit denselben Eigenschaften auszustatten, wie sie sonst nur den kognitiven Systemen der Individuen zukommen: Sie nehmen wahr, sie denken, sie lernen, sie entscheiden und lösen Probleme. Das liegt ganz auf der Linie von Luhmanns Konstruktion der Subjektivierung des Gesellschaftsbegriffs und der Objektivierung des Sinnbe100 101 102

Vgl. hierzu Kap. 3 1 2. Siehe dazu Kap. 31 3. Siehe etwa Teubner, Münchhausen-Jurisprudenz 1986,350; ders., Autopoietisches

System 1989.

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griffs. Sehen wir uns dazu genauer an, wie sich Teubner den Prozeß der Verselbständigung des Rechts gegenüber dem Menschen vorstellt: ,,Die Autonomisierung des Rechts setzt ein, wenn Rechtsepisoden in der Form miteinander verknüpft werden, daß die in einer Episode gewonnenen Strukturen für spätere Episoden genutzt werden. Das läuft zunächst über psychische Gedächtnisleistungen der ,dritten Person', die Fallerfahrungen aus früheren Konflikten ausnutzt, dann über Festlegungen und Selbstbindungen in der Richterrolle und über das soziale Gedächtnis eines Gruppenzusammenhangs, des ,Gerichts' ... Über eine solche personen- und gruppengebundene Episodenverknüpfung gelangt man dann hinaus, wenn sich - oft im Zusammenhang mit Rechtsunterricht (Bologna!) - eigenständige Rechtsdiskurse heranbilden, die sich nicht mehr auf die Entscheidung von Fällen spezialisieren, sondern auf die Relationierung von Fallerfahrungen, auf den Zusammenhang von verschiedenen Rechtsstrukturen, auf die Systematisierung und Elaborierung von Normen, kurz: auf die Pflege von Rechtskultur. Dann erst koppelt sich das Rechtssystem effektiv von diffusen gesellschaftlichen Strukturzusammenhängen ab." 103 Teubner beschreibt hier den Autonomisierungsprozeß des Rechts als die systematische Herausbildung einer dogmatischen Kohärenz. Das Recht rationalisiert sich demzufolge nach rein formalen Maßstäben analytischer Begrifflichkeit, deduktiver Strenge, prinzipieller Begründung etc. Diese Entwicklung ist besonders in der kontinentaleuropäischen Tradition zu beobachten, die seit dem späten Mittelalter einen eher wissenschaftsorientierten Rechtsdiskurs pflegte, in dem das formal-operationale Denken ausschlaggebend war lO4 , und die sich vollends mit dem juristischen Positivismus bei Kelsen durchsetzte. In dieser römischrechtlichen Tradition werden in der Tat nicht Sachverhalte relationiert, sondern Rechtsprinzipien und Rechtsbegriffe. Solcherart miteinander verknüpfte Rechtsregeln gewinnen sicherlich gegenüber den ,,Fakten" der zu verhandelnden Sachverhalte eine gewisse Unabhängigkeit, sie dürften folglich auch den Gegenpol zu der "Faktenbegeisterung" im Recht akephaler Gesellschaften darstellen, aber sie deshalb als selbstreferentiell zu definieren, heißt ihre weitgehende Fremdbestimmheit zu verkennen. Bei Teubner zeigt sich das Mißverständnis besonders dort, wo er im Recht das Verhältnis von innen und außen erläutert. So sagt er: ,,Externe Beeinflussungen des Rechts müssen nach dem Modell der ,nicht-trivialen Maschinen' beschrieben werden." 105 Begründet wird das mit dem zentralen Merkmal selbstreferentieller Systeme, mit deren zirkulärer Organisation. RechtsAutonomie basiert demnach auf der Zirkularität der Rechtsoperationen. Ein solcher kreiskausaler Prozeß der rechtlichen Selbstkonstitution kann natürlich von außen nicht mehr linear beeinflußt werden. Wirtschaft und Politik tangieren die operationale Geschlossenheit der rechtlichen Handlungssphäre nur noch als ,,Perturbationen", die allein nach systeminternen Maßstäben verarbeitet werden. Damit ist eine Autarkie des Rechts hochgetrieben, die keine nachgeschobene Be103

104 105

Teubner, Episodenverknüpjung 1987,434. Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte 1967,45. Teubner, Episodenverknüpjung 1987,441.

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hauptung von gleichwohl gegebenen Interdependenzen mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen relativieren kann. Was sind "nicht-triviale Maschinen"? Nach dem Verständnis des Erfinders dieses Begriffs, Heinz von Foerster, sind es solche Maschinen, deren Effekte nicht vorhersagbar sind: "Ein einmal nach einem bestimmten Input beobachteter Output wird höchstwahrscheinlich zu späterer Zeit, auch wenn der Input gleich ist, ein anderer sein." 106 Anders als bei trivialen Maschinen sind ihre InputOutput-Beziehungen nicht invariant, sondern durch den zuvor erzeugten Output der Maschine festgelegt. Nicht-triviale Maschinen sind also vor allem durch ihre internen Zustände bestimmt, während triviale Maschinen durch eine festgelegte Input-Output-Beziehung gekennzeichnet sind. Nach v. Foerster kann man diese Unterscheidung als Erklärungsmodelle für unbelebte Materie und lebende Organismen ansehen. Und er fahrt fort: ,,Alle Maschinen, die wir konstruieren oder kaufen, sind hoffentlich triviale Maschinen. Ein Toaster sollte toasten, eine Waschmaschine waschen, ein Auto sollte in vorhersagbarer Weise auf die Handlungen seines Fahrers reagieren. Und in der Tat zielen alle unsere Bemühungen nur darauf, triviale Maschinen zu erzeugen oder dann, wenn wir auf nicht-triviale Maschinen treffen, diese in triviale Maschinen zu verwandeln." 107 Nun wird niemand bestreiten, daß uns in vielen Fällen die Herstellung idealer trivialer Maschinen nur unzureichend gelingt. Autos funktionieren oft nicht, wie wir uns das wünschen. Um vieles mehr gilt das für soziale Maschinen. Man denke etwa an unser Bildungssystem, dessen Output schwerlich prognostizierbar sein dürfte. Aber ist das Bildungssystem deshalb eine nicht-triviale Maschine? Oder verwandelt es sich in eine triviale Maschine, wenn es wider Erwarten im Sinne der Erzeugung gleichmäßigen Verhaltens funktioniert? Wenn wir hier Klarheit gewinnen wollen, müssen wir die Begriffe in dem Kontext belassen, in dem sie entwickelt wurden. Maturana und v. Foerster verwenden den Begriff der "nicht-trivialen Maschine", um die einzigartige Operations weise lebender Organismen zu kennzeichnen. Diese besteht in der Zirkularität oder Kreisförmigkeit der im System ablaufenden Prozesse. Ein zentraler Effekt der zirkulären -Organisation ist die Reproduktion der Elemente aus den Elementen des Systems. Diese Eigenschaft ist für autopoietische Systeme konstitutiv und unterscheidet sie von allen anderen Klassen von Systemen. Da diese Eigenschaft nur biologische Systeme aufweisen, dürfen schon kognitive Systeme nicht mehr dazugezählt werden. Wir nennen kognitive Systeme gleichwohl selbstreferentielle Systeme, weil sie mit dem biologischen System, von dem sie abhängen, eine Einheit bilden. Kognitionen dürfen daher nicht von den neuronalen Prozessen, die die Wahrnehmung steuern, abgetrennt werden. Es sind letztlich diese neuronalen Interaktionen im Gehirn, die der äußeren 106 107

Foerster, Sicht 1985, 12. Foerster, ebd. 12.

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Beeinflussung Bedeutung verleihen. Damit ist die Arbeitsweise des Gehirns dadurch charakterisiert, daß seine neuronale Aktivität zu veränderter neuronaler Aktivität führt. Eben diese Fähigkeit des autonomen Wechsels der internen Zustände zeichnet auch kognitive Systeme aus. Sie haben die Aufgabe, die von den Sinnesorganen kommenden Erregungen in vielfältigster Weise auszulegen und im Kontext früherer Erfahrungen zu deuten. Sie sind das Ergebnis einer evolutiven Differenzierung des Gehirns und infolgedessen prinzipiell an dessen Funktionsweise gebunden. Aus diesem Grund teilt es seine wichtigste Eigenschaft: Es verändert seine Zustände zirkulär, d. h. in operational abgeschlossener Weise, und macht deshalb Voraussagen nahezu unmöglich. Systeme, deren Komponenten auf diese Weise von "innen" her bestimmt werden, sind "nicht-triviale" Maschinen. Will man nach dem bisher Gesagten das Rechtssystem dem Typus selbstreferentieller Systeme zurechnen, steht man vor der schwierigen Aufgabe, die interne Zirkularität der rechtlichen Komponenten nachzuweisen. Für Teubner 108 setzt dieser Prozeß ein, "wenn eine oder mehrere der Systemkomponenten des Rechts durch Selbstbeschreibung und Selbstkonstitution gegenüber den Komponenten allgemeingesellschaftlicher Interaktion verselbständigt werden". Als berühmtestes Beispiel für eine Selbstbeschreibung des Rechts nennt er die von Hart 109 analysierten "secondary rules". Erst wenn die primären Verhaltensnormen von sekundären Identifizierungs- und Verfahrensnormen überlagert und gesteuert werden, will Hart überhaupt von Recht sprechen. Mit Hilfe solcher sekundären Normen beobachtet das Rechtssystem seine eigenen Systemkomponenten und bringt sie in eine bestimmte semantische Form. Von da an entstehen interne Rechtskommunikationen, die Strukturen herausbilden, die die Selektion von Strukturen steuern. Wie bei Luhmann Kommunikationen als Basiseinheiten sozialer Systeme fungieren, so sind für Teubner Rechtskommunikationen die ausschlaggebenden Komponenten von Rechtssystemen. Aber im Gegensatz zu Luhmann will Teubner den Einsatz der Selbstbeschreibung von Rechtsstrukturen noch nicht mit der Autopoiese gleichsetzen. 110 "Von Selbstkonstitution der Systemkomponenten des Rechts sollte man erst dann sprechen, wenn die Selbstbeschreibungen tatsächlich operativ verwendet werden, um Kommunikationen im Recht zu steuern." 111 Im modernen Recht soll diese Unterscheidung von Selbstbeschreibung und Selbstkonstituierung in der Trennung von universitär betriebener Dogmatik und der Rechtsprechungs- und Gesetzgebungspraxis institutionalisiert sein. Werden die wissenschaftlichen Selbstbeschreibungen von der Entscheidungspraxis aufgegriffen, markiert das nach Teubner den Übergang von der bloßen Selbstbeschreibung zur Selbstkonstitution im Rechtssystem. Es hat sich dann ein zirkuläres Teubner, Hyperzyklus 1987, 109. Hart, Law 1961, 95. 110 Vgl. Luhmann, Rechtssystem 1983, 14l. III Teubner, Hyperzyklus 1987, 110: Teubner bezieht sich auf Deggau, Autonomie 1988, 1985. 108

109

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Verhältnis von Dogmatik und Prozeß etabliert, das die Selbstreproduktion des Rechts steuert. Es gibt eine Reihe weiterer wechselseitiger Verknüpfungen von rechtlichen Systemkomponenten, die mit dem Autonomiephänomen in Verbindung gebracht werden. Besonders die Rechtsquellenlehre soll Selbstbeschreibungen des Rechts ermöglichen und praktizieren. Das ist nach Teubner dann der Fall, wenn die Kriterien für die Normidentifizierung nicht auf außerrechtliche Rechtsquellen wie religiöse Texte, göttliche Offenbarung oder wahre Erkenntnisse, sondern auf interne Systemkomponenten verweisen. Als solche Systemkomponenten werden Präjudizien oder Gesetze genannt. "Dann werden Rechtsnormen durch Verweis auf Rechtshandlungen definiert, also Systemkomponenten durch Systemkomponenten ,produziert'. Im modemen ,positiven Recht' ist dies der Normalfall: Rechtsnormen können nur noch auf dem Weg über präzise defmierte Rechtsakte, sei es Gesetz, sei es Richterspruch, sei es organisationsinterne Satzung, entstehen. Selbst das Gewohnheitsrecht kann heute nur noch als Richterrecht anerkannt werden, weil es den Weg über einen ,konstitutiven' (und nicht bloß ,deklaratorisehen') Rechtsakt gehen muß, wenn es als positives Recht gelten SOll."112 Für das modeme Recht scheint demnach die wechselseitige Produktion von Rechtsakt und Rechtsnorm das zentrale Merkmal zu sein. In diesem Sinne bezeichnet Esser als das Herzstück des positiven Rechts das zirkuläre Verhältnis von Regel und Entscheidung: Geltung erlange das Gesetzesrecht erst durch den Richterakt, der seine Geltung wiederum nur aus dem Gesetz begründen kann. 113 Die Kemthese der Konzeption vom autopoietischen Recht besagt nach alldem, daß sich das Rechtssystem über das zirkuläre Verhältnis von Gesetz und Entscheidung sowie von Dogmatik und Prozeß selbst reproduziert. Im Kapitel über die Positivität des Rechts und dort insbesondere beim Problem des Gesetzlichkeitsprinzips 114 haben wir diese Position bereits ausführlich kritisiert: Jedes Wissen und demzufolge auch alle Hermeneutik ist subjektabhängig. Verweisen Worte weder unmittelbar auf Dinge noch auf Ereignisse oder Vorstellungen, muß Auslegung anderes bedeuten als die Erkundung des wahren Willens des Gesetzgebers. Hermeneutik ist demgegenüber die Arbeit an der Herstellung paralleler kognitiver Konstruktionen der Interpreten. Trifft dies zu, dann gewährt nicht die Präzision der Gesetze Rechtssicherheit, sondern der Wille der Interpreten, eine solche zu schaffen. Existiert dieser Wille nicht, wird kein Gesetz, kein Begriff und keine Formalisierung jene Genauigkeit garantieren, die partikulare Standpunkte und subjektive Interessen abwehren könnte. 112 Teubner, Hyperzyklus 1987, 112. Zum positiven Recht vgl. Luhrnann, Rechtssoziologie 1972,207; Dreier, Kelsen, Luhmann, Positivität 1983,419. Zum Gewohnheitsrecht vgl. Esser, Gewohnheitsrecht 1967, 95; Freitag, Gewohnheitsrecht 1976, 103. ll3 Vgl. Esser, Grundsatz 1956, 123; ders., Vorverständnis 1970,71. Vgl. hierzu auch das Konzept der ,,Fallnorm" bei Wolfgang Fikentscher, Methoden 1977,202. 114

Vgl. Kap. 4 11 Ib.

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Es ist also unsere epistemologische Grundsituation, die jede überzogene Hoffnung auf einen Rechtspositivismus zunichte macht, der Übergriffe aus Politik und Wirtschaft zurückdämmen könnte. Damit soll keineswegs die geduldige Arbeit an der internen Systematisierung des Rechts abgewertet werden. Sie schafft zweifellos eine gewisse Barriere gegenüber den Ungewißheiten politischer Tagesinteressen. Aber das Recht deshalb als ein autopoietisches System auszumalen, schafft größere Probleme, als es zu lösen verspricht. Ein solch autopoietisch gedachtes Recht muß sich per deflnitionem von Umweltbeziehungen abkoppeln, es muß eine operative Geschlossenheit anstreben, in der Rechtshandlungen aus Rechtshandlungen entstehen, in der ein zirkuläres Netzwerk interner Codes und Programme gegen Veränderungen, Kommunikationen und Evolutionen immunisieren. 115 Da jedoch der zentrale Bezugspunkt jeden modemen Rechts, das Gesetz, zu einem großen Teil dem Rechtssystem von anderen sozialen Subsystemen, insbesondere der Politik, vorgegeben (also keineswegs autopoietisch selbstproduziert) wird, immunisiert sich in Wahrheit nicht das Recht selbst gegenüber Umweltbeziehungen, sondern das dominante gesellschaftliche Subsystem, das sich des Rechts bedient. Wer also einer immer stärkeren Autonomisierung und Formalisierung des Rechts das Wort redet, um es gegenüber der Politik zu stärken, der schwächt die Verankerungen des Rechts im Konsens, in der Egalität und Reziprozität, im symbolischen Bezugsrahmen. Das Ergebnis ist eine weitergehende Auslieferung des Rechts an die Herrschaft, eine Schwächung des Konsenses zu Lasten der Autorität. Damit beraubt man das Recht vollends jener materialen Grundlagen, die alleine gegen die Übergriffe aus anderen Handlungsbereichen Einspruch einlegen könnten. Will man das Recht aus der Umlaufbahn der Zweckrationalität und des Positivismus zurückholen, muß man jenes Merkmal des Rechts wieder zu stärken trachten, das in frühen Gesellschaften Macht und Herrschaft zurückgedrängt hat: den Konsens, die Idee der materialen Gleichheit. Nur unter der Voraussetzung des Konsenses können die formalen Leistungen des Rechts eine allgemeine Schutzfunktion entfalten, kann sich die zunehmende Verflechtung von Recht und Politik auflösen und eine neue Einheit von Recht und Moral herstellen.

115 Hejl weist darauf hin, daß die These, das Soziale als Ausgangspunkt für die Soziologie zu nehmen, auf einem Mißverständnis Durkheims beruht (Autopoiesis 1986, 359). Durkheim wende sich lediglich gegen einen individualpsychologischen Individuenbegriff: ,,Er entwickelte selber einen soziologischen Individuenbegriff und verwendete dann Individuen in dieser Bedeutung sehr wohl als Basiseinheiten und Bezug seiner Überlegungen."

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2. Vorstaatliches und staatliches Recht im Vergleich a) Zusammenfassung Unser Begriff vom Recht setzt sich aus drei Faktoren zusammen: Autorität, Konsens und Sanktionen. Diese Rechtsdefinition verdanken wir einer genaueren Betrachtung des ethnologischen Materials über die frühesten Ordnungssysteme. Sie entspricht aber auch den Grundelementen des Parsonsehen Handlungsbezugsrahmens, der die Vereinseitigungen des Positivismus und des Idealismus in einem integrierten Ordnungskonzept überwindet. Schließlich steht diese Bestimmung des Rechts voll in Einklang mit dem kognitionstheoretischen Konzept autopoietischer Lebewesen. Bevor wir versuchen, das modeme Strafrecht an diesem Rechtsverständnis zu messen, wollen wir in Stichworten die Argumente rekapitulieren, die unseren Begriff vom Recht stützen. Es sind dies Argumente, die dem historischen, dem soziologischen und dem kognitionsbiologischen Bereich entnommen sind. (1) Das historische Argument. Die ethnologischen Befunde über vorstaatliche Gesellschaften belegen, daß entgegen verbreiteter Annahme in der Geschichtswissenschaft und in der Rechtsanthropologie die frühesten Ordnungsmodelle bereits normativen Charakter besitzen. Schon die Jäger und Sammler verfügen über ein komplexes Regelwerk, das den Mitgliedern der Horde eine innere Verpflichtung auferlegt und das Sanktionen für den Fall der Übertretung vorsieht. Der Verpflichtungscharakter der Normen ergibt sich aus der engen Verflechtung von sozialer Ordnung und Religion. Die Jäger fürchten Gott, aber seine Gebote weisen auch den "richtigen", den "geraden" Weg. Daran zeigt sich, daß das regelmäßige Handeln der Menschen in Jägergesellschaften niemals bloße Gewohnheit oder gar nur reizreaktive Antwort auf die gegebene Umwelt war. Nicht anders als in modemen Rechtssystemen bewahrt demnach auch die frühe Ordnung eine bestimmte Vorstellung vom Guten und vom Bösen; sie repräsentiert eine ethische Kognition. Als solche wurzelt sie zwar in den materiellen Bedingungen der Gesellschaft, aber sie bildet die wirtschaftlichen und demographischen Umstände nicht in einem Verhältnis von eins zu eins ab. Die Begründung dafür haben wir in der synreferentiellen Struktur des menschlichen Gehirns gefunden: Wenn objektive Erkenntnis unmöglich ist, wenn wir unsere Kognitionen nicht an der ,,Realität" überprüfen können, so ist die Berücksichtigung des ,,Anderen" unabweisbar. Damit ist die Ethik aus den biologischen Grundlagen der Erkenntnis abgeleitet. Für unseren Zusammenhang heißt dies, daß es kein menschliches Verhalten geben kann, das nicht im weitesten Sinne "moralisch", "ethisch" oder "normativ" ist. Wir brauchen den Anderen, um die "Welt" und uns selbst erkennen zu können. Denn "Welt"- und Selbst-Erkenntnis sind nur in den Interaktionen eines konsensuellen Bereiches möglich. Letztlich ist es diese Verknüpfung der Menschen als strukturell gekoppelte Wesen, die aller Ethik zugrundeliegt. Würden wir die zahlreichen Befunde aus der Frühgeschichte der Menschheit nicht

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kennen, dann müßten uns schon die kognitionsbiologischen Überlegungen davon überzeugen, daß es im menschlichen Bereich und damit im Bereich sprachlicher Koppelungen keine Ordnung geben kann, die ohne normative Kraft auskommt. Wenn wir diese normative Ordnung in den frühen Gesellschaften der Sphäre des Rechts zuordnen, wie es hier geschehen ist, wird damit zugleich die begriffliche Verknüpfung von Recht und Staat, von Recht und institutionalisierter Gewalt aufgelöst. Wir haben ausführlich dargelegt, daß die Ordnung der Jäger und Sammler, auch noch der frühen Ackerbauern, durch das Merkmal der Akephalität gekennzeichnet ist. Es gibt bei ihnen weder einen Staat noch Institutionen, die Herrschaft ausüben. Es gibt aber Autorität, die einzelnen Personen kraft ihres Amtes oder ihrer Persönlichkeit zukommt. Diese Autorität wird in Streitfallen zu Rate gezogen, sie stellt manchmal auch eine Art Prozeßstruktur zur Verfügung, in deren Rahmen Einigung erzielt werden kann. In keinem Falle verfügt die Autorität über die Macht, Entscheidungen gegen den Willen der Parteien durchzusetzen. Daraus folgt, daß es in vorstaatlichen Gesellschaften kein Strafrecht im heutigen Verständnis geben kann. Jegliches Recht ist dort Privatrecht. Man könnte dieses Recht auch Privatstrafrecht nennen. Es ist nämlich mit einem Element des Strafrechts durchsetzt, das auch in unseren heutigen Theorien über die Strafe noch nicht verschwunden ist. Das ist der Gedanke der Rache oder Vergeltung. Deshalb sind die Wiedergutmachungsleistungen regelmäßig höher als der rein materielle Schaden. Die Jäger und Sammler leisten .also keinen Schadensersatz, wenn sie einen Vertrag gebrochen oder deliktisch gehandelt haben, sie leisten Buße. Anders als bei uns werden also auch Verstöße gegen Vereinbarungen deliktisch verstanden. Als weitere wesentliche Unterscheidung kommt hinzu, daß die deliktische Haftung im frühen Recht nicht notwendigerweise auf einem subjektiven Vorwurf beruhen muß. Hat der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt, so wirkt sich das auf die Höhe der Ausgleichsleistung aus. Aber es kann auch Wiedergutmachung verlangt werden, wenn der Täter lediglich objektiv - durch bloß kausale Verknüpfung - mit einem Schadenserfolg in Verbindung steht. Begründen läßt sich diese "objektive Haftung" mit dem hohen Stellenwert der äußeren Sicherheit in Gesellschaften, die keine Zentralinstanzen und damit auch kein Strafrecht in unserem Sinne ausgebildet haben. Es wäre demnach unzutreffend, den unterschiedlichen Zurechnungsmodi unterschiedliche Moralstufen zuordnen zu wollen. Das verbietet sich schon deshalb, weil die frühe Rechtsordnung durchaus einen Begriff vom Vorsatz besitzt, der sich von unserem kaum unterscheidet. Die Differenz liegt in der Bewertung des subjektiven Erfordernisses. Die Wertungsfrage wiederum hängt vom Grad der Gefahrdung ab, der durch schädigende Handlungen für die Gemeinschaft entsteht. Ein weiteres gilt es zu bedenken: Wird die Sanktion von einer Gerichtsinstanz autoritativ anband der Feststellung objektiver Tatbestandsmerkmale, also unter Absehen von der zirkulären Komplexität des Ereignisses festgelegt, so dürfte es

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eigentlich keinen Streit darüber geben, daß hier ein Ausgleich in Form der subjektiven Haftung erfolgen muß. In vorstaatlichen, schriftlosen Gesellschaften ist die Situation eine grundsätzlich andere: Nicht nur das schädigende Ereignis als solches, sondern auch die gesamten Umstände, die dazu geführt haben, sind Gegenstand endloser Palaver. Es ist deshalb schwer vorstellbar, daß der Beschuldigte und seine zahlreiche Gefolgschaft keinen Einfluß auf die Definition der Tat, geschweige denn auf die Höhe der Buße haben sollten. Anders wäre das Ziel der Einigung auch nicht erreichbar. Was also auf den ersten Blick als ein geradezu moralisches Defizit des frühen Rechts - die objektive Haftung erscheinen mag, muß im Lichte der Herrschaftslosigkeit akephaler Gesellschaften, des Zwangs zum Konsens und der damit einhergehenden relativ starken Position des Beschuldigten anders und neu bewertet werden. Nicht Ausgeliefertsein, Zufalligkeit und Willkür charakterisieren die deliktische Haftung, sondern im Gegenteil eine für unser heutiges Verständnis geradezu unvorstellbar weitreichende Möglichkeit der Einrede, der Rechtfertigung, der Gegenbeschuldigung. Daß diese starke "Prozeßrolle" ihre Grenzen in den Normen der Religion, in der sozialen Kontrolle durch Nachbarschaft und Familie, schließlich in der Rache findet, bestätigt nur die Komplexität des frühen Normensystems. Man muß demnach stets das kunstvoll ausbalancierte Gesamtgefüge im Auge behalten, wenn man ein Element wie z. B. die "objektive Haftung" richtig verstehen will. Die "objektive Haftung" ist eingebettet in ein Konfliktlösungsmuster, das auf Einigung nach Verhandlung der Streitenden abzielt. Der zentrale Faktor Konsens setzt seinerseits die Einheit von Recht und Moral voraus. Ohne die Legitimation des Rechts durch die allgemeine Vorstellung von der ,,Richtigkeit" der Entscheidung kann es keinen Konsens, besonders nicht im Einzelfall geben. Ein solch weitreichender Konsens hat wiederum ein Sozialsystem zur Voraussetzung, das auf den Handlungsprinzipien der Egalität und Reziprozität gründet. Rein durchführen lassen sich diese Ordnungsprinzipien wohl nur in Gesellschaften mit sehr geringer sozialer Dichte, mit relativ wenigen Außenkontakten und mit günstigen geographischen und sonstigen guten materiellen Bedingungen. Stellt man diese ineinanderverzahnten, sich gegenseitig bedingenden Elemente des Rechts früher Gesellschaften den modemen Rechtsstrukturen gegenüber, dann ergibt sich umseitige Tabelle. Bei einer Durchsicht der Gegenüberstellung fällt auf, daß das staatliche Recht trennt und ausdifferenziert, was das vorstaatliche Recht als Einheit begreift. Das trifft vor allem für die Einheiten von Recht und Religion, von Moral und Recht sowie von Privatrecht und Strafrecht zu. Hinter der Verschmelzung des Rechts mit dem gesamten soziokulturellen Hintergrund steht die Egalität vorstaatlicher Ordnungen. Erst mit der Entstehung staatlicher Herrschaft beginnt die Trennung des Lebenszusammenhangs in verschiedene Handlungsbereiche. Diese Ausdifferenzierung hat ihre positive Funktion darin, daß sie Herrschaft zu kanalisieren und zu limitieren vermag. Insofern ist die Auflösung von Recht und (rigider) Moral Ausdruck individueller Freiheit. Aber die herrschaftslimitierende Funktion

Kap. 4: Ordnung durch Recht

478

Übersicht 22: Vergleich vorstaatlichen Rechts mit staatlichem Recht.

Vorstaatliches Recht

Staatliches Recht

Einheit von Religion und Recht

Trennung von Religion und Recht

Einheit von Moral und Recht

Trennung von Recht und Moral

Einheit von Privatrecht und Strafrecht (Privatstrafrecht)

Trennung von Privatrecht und öffentlichem Recht

Einheit von Vertrag und Delikt

Trennung von Vertrag und Delikt

Einheit von Person und Handlung

Trennung von Person und Handlung

objektive Haftung

subjektive Haftung

Konfliktlösung durch Einigung nach Verhandlung der Streitenden, oft unter Vermittlung durch Dritte

Konfliktlösung durch Entscheidung eines Gerichts nach Anhörung der Streitenden

kompromißhaft

entweder Recht oder Unrecht

Zielsetzung: Einigung und Frieden zwischen den Streitenden

Zielsetzung: Durchsetzung von Recht als staatlicher Aufgabe

Mittel: Kompensation, notfalls Selbsthilfe

Mittel: Strafe

Legitimation: Diskussion und Konsens über Normen

Legitimation: Legalität

Normen: eher statisch, konservativ, selbstregulierend

Normen: eher verändernd, progressiv, steuernd

geringe Ausdifferenzierung vermitteinder Instanzen

starke Ausdifferenzierung streitentscheidender Institutionen

der Ausdifferenzierung gerät jedoch in dem Maße in Gefahr, in dem an die Stelle der alten Einheit von Recht und Moral eine neue Einheit tritt, nämlich die zunehmende Verflechtung von Recht und Politik. Beide Entwicklungen - Auflösung der Einheit von Moral und Recht sowie Vereinheitlichung von Recht und Politik - haben die gleiche Ursache. Recht wird nicht mehr vorn Konsens her, von unten in der Gesellschaft formuliert, sondern von oben her, vorn Staat. Mit

11. Recht in staatlichen Gesellschaften

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der Entfernung vom Konsens droht das Recht seines symbolischen Bezugsrahmens verlustig zu gehen. Das führt zu der Frage, ob es Recht ohne den Faktor Konsens überhaupt geben kann. Auf dieses grundlegende Legitimationsproblem haben wir mit dem Handlungsbezugsrahmen von Parsons geantwortet.

(2) Das soziologische Argument. Parsons Vierfunktionenschema des Handelns lehrt uns, daß das Recht nicht allein mit Herrschaft, Macht und Gewalt identifiziert werden darf. Dies wäre die positivistische Lösung des Ordnungsproblems, deren Überwindung Parsons liauptinteresse galt. Wir erinnern uns, daß der Positivismus das Handeln als eine Funktion von konditionalen Funktionen sieht: der Situation und der Ziele. Soweit Ziele in den Vordergrund gerückt werden, ist Handeln bei beliebiger Wählbarkeit der Ziele das Resultat der reinen Zufälligkeit. Soweit die Situation als dominant betrachtet wird, ist Handeln das Resultat feststehender äußerer Gegebenheiten. Normen und symbolischer Bezugsrahmen sind als Steuerungsfaktoren ausgeschaltet oder auf das Minimum der rationalen Zweck-MittelWahl als einziger Norm reduziert. Demgemäß reicht der Positivismus von den Positionen der vollkommenen Determiniertheit bis zur reinen Zufälligkeit des Handeins. Die Sozialtheorien des Positivismus schwanken daher folgerichtig zwischen anarchistisch-utilitaristischen Ordnungen, in denen der Zufall herrscht, und kausal determinierten Ordnungen, in denen strikte Anpassung herrscht. Der Rechtspositivismus will die Erwartbarkeit des Handeins durch die Existenz von Normen sichern, die als konditionale Faktoren das Verhalten der Adressaten von außen steuern. Infolgedessen favorisiert der Rechtspositivismus einen Ordnungstypus, in dem das Handeln als eine rationale Anpassung an äußere Gegebenheiten betrachtet wird. Ein solcher rationalistischer Positivismus begnügt sich mit jenen Merkmalen des modemen Rechts, die Max Weber unter die Überschrift Rechtsrationalisierung gebracht und als Entfaltung einer reinen Eigengesetzlichkeit interpretiert hat. Diesem Verständnis zufolge bildet das Rechtssystem einen Handlungsbereich aus, der sich vorwiegend vonjormalen und weniger von materialen Gesichtspunkten leiten läßt. Mit der Formalität, dem Legalismus und der Positivität sind hiernach die Spezifika des modemen Rechts erschöpfend aufgezählt. Der kommunikative Faktor "Konsens" hat in dieser Definition des Rechts keinen Platz; von einer materiellen Rationalität im Sinne einer inhaltlichen Prägung des Rechts durch Wertprinzipien ist nicht mehr die Rede. Existierte ein derartiges Recht, so hätte es sich in Politik aufgelöst. Die formalen Leistungen eines solchen Rechts würden die Politik lediglich gegen die materialen Bedürfnisse der Gemeinschaft abschotten und sich gerade dadurch der oft behaupteten Schutzfunktion begeben. Ein Rechtspositivismus, wie hier geschildert, ist freilich nur in der Theorie durchgeführt. Ein Blick auf das Rechtssystem und seine externen Verknüpfungen zeigt indes, daß die Grundstruktur des modemen Rechts durchaus in der gesellschaftlichen Gemeinschaft verankert ist. Auch Max Weber hat die verschiedenen Merkmale desjormal rationalen Rechts nicht so verstanden, als seien sie jeglicher

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

wertrationaler Momente entkleidet. Was Weber als formale Rationalität des Rechts bezeichnet, ist vielmehr schon eine einmalige Verbindung der unterschiedlichen Aspekte des Handlungsbezugsrahmens zu einem kohärenten Ganzen. Diese Eigenart des formalen Rechtsrationalismus ist also nicht aus der Wirkung eines bestimmten Faktors z. B. der Macht oder ökonomischer Interessen, auch nicht aus der Eigengesetzlichkeit der intellektuellen Rationalisierung der juristischen Profession begreifbar zu machen. Sie ist nur erklärbar aus der Interpenetration verschiedener Subsysteme des Handelns. Sehen wir uns die juristische Profession, in der sich die Interpenetration in besonderer Weise verdichtet, genauer an. Offensichtlich ist, daß die Gestaltung des Rechts durch die juristischen Spezialisten die Ausrichtung an deren Denkbedürfnisse impliziert. Diese intellektuell-rationale Gestaltung des Rechts hat zur Herausbildung der formalen Rationalität des Rechts, nach Max Weber zur Entfaltung der Abstraktion, der Analytik, des Formalismus und der Widerspruchsfreiheit geführt. 116 Aber diese Prinzipien der Rechtsrationalität sind nicht nur aufgrund der Autonomie der juristischen Experten zustandegekommen, sie sind auch nicht allein das Ergebnis der wachsenden Interessentennachfrage, sondern ebensosehr das Resultat der Anforderungen der Rechtsgemeinschaft und seines kulturellen Hintergrunds. In diesem Zusammenhang verweist Weber nachdrücklich darauf, daß sich die dauerhafte Institutionalisierung der Grundstruktur des modemen Rechts insbesondere der religiösen Vergemeinschaftung des Christentums, des asketischen Protestantismus, verdankt. Ohne diese Vergemeinschaftung in einem allgemeinen symbolischen Bezugsrahmen hätte es die Beurteilung des Handeins nach Sinn und Selbstverantwortung, die rechtliche Gleichbehandlung, die Garantie der Freiheitsrechte und die Berechenbarkeit der Rechtsentscheidung nicht gegeben. Mit anderen Worten, die Profession allein gewährleistet nicht die gesellschaftlich verbindliche Orientierung an bestimmten Grundprinzipien, an die auch die Arbeit der Rechtstheoretiker und der Rechtspraktiker gebunden ist, und über die sich weder die Experten noch die Klienten hinwegsetzen können. Das bedingt, daß die Grundprinzipien - Orientierung am Handlungssinn, Garantie der Freiheitsrechte, Gleichheit und Berechenbarkeit - aus der Reichweite des Nutzenkalküls gezogen werden. Bindende Kraft kann das Rechtssystem nur entfalten, wenn die materiale Grundlage aus der Interessenkalkulation des nutzenoptimierenden Individuums ausgeschlossen ist. Zu Selbstverständlichkeiten können diese Grundprinzipien nur werden, wenn sie sich auf das Commitment zu einer Gemeinschaft stützen können, deren Mitglieder sich gegenseitig auf eine kulturelle Tradition verpflichtet fühlen. Nur durch die Verwurze1ung in einer gesellschaftlichen Gemeinschaft kann die Anerkennung der Grundsätze für den einzelnen zu einer Verpflichtung werden, die ihre Geltung gegen jede situative Nutzenkalkulation sichert. Es muß sich demnach um das System von Grundregeln eine Gemeinschaft formen, auf deren Schätzung der einzelne angewiesen ist, und deren Zuerkennung 116

Weber, Wirtschaft 1976, 395, 455.

11. Recht in staatlichen Gesellschaften

481

er als Belohnung und deren Aberkennung er als Bestrafung empfindet. Daß sich auch die Experten auf diese Grundregeln beziehen und damit tendenziell für eine Durchdringung des formalen Rechtsrationalismus mit materialen Werten sorgen, hat Richard Münch im Anschluß an Weber folgendermaßen dargestellt: "Die Formalisierung des Rechtsganges ist ein Produkt der Verknüpfung der Rechtsinteressen mit der ordnenden Funktion der juristischen Tatbestandsaufnahme. Die Widerspruchsjreiheit des Rechts ist ein Ergebnis der Verbindung der Rechtsüberzeugungen mit der ordnenden Funktion des logischen Denkens. Die juristische Analytik ist eine Folge der Verknüpfung der Rechtsentscheidung mit der ordnenden Funktion des abstrakten Denkens. Die juristische Abstraktion ist ein Resultat der Bindung des abstrakten Denkens an die Anforderungen der Rechtsentscheidung. In diesem Sinne bedeuten diese Grundprinzipien des formalen Rechtsrationalismus nicht Formalismus, Widerspruchsfreiheit, Analytik und Abstraktion in reinster Ausprägung entsprechender Denkbedürfnisse; es sind vielmehr immer schon durch die Verknüpfung des rationalen Denkens mit weiteren Handlungskontexten geformte Rechtsprlnzipien." 117 Neben der internen Interpenetration des formalen Rechts mit materialen Gesichtspunkten steht das Rechtssystem extern zu den übrigen gesellschaftlichen Subsystemen ebenfalls in Beziehungen gegenseitiger Durchdringung, Dynamisierung und Steuerung. Im Hinblick auf eine vollständige Darstellung der äußeren Verflechtung des Rechts sei wiederum auf Richard Münch verwiesen. 118 Für den Zweck des Abweises einer autopoietischen Rechtstheorie und eines überzogenen Rechtspositivismus genügen folgende Stichworte: Niemand kann bestreiten, daß das Rechtssystem über das sozial-kulturelle System und über die politische Verfassung der Gesellschaft im Sinne von Generalisierung dynamisiert wird. Münch nennt diese Grundstruktur des Rechtssystems " Rechtskultur ".119 Sie vermittelt innerhalb des Rechtssystems reduzierte Symbolkomplexität mit erweiterter Handlungskontingenz, indem z. B. das konkrete Rechtsgeschehen an wenigen Grundprinzipien orientiert wird. Über diese Rechtsgemeinschaft wird das Rechtssystem durch die gesellschaftliche Gemeinschaft gesteuert. Sie erfüllt die Funktion, mit Hilfe der in der Gemeinschaft verankerten Wertideen die enorme symbolische Komplexität der Rechtskultur zu reduzieren. Damit erhöht sie die Berechenbarkeit des Handeins, z. B. in Bezug auf die Geltung der Grundstruktur des Rechts. Als weiteres Moment der externen Verflechtung kommt der "juristische Experten-Klienten-Austausch" in Betracht. 120 Die Interaktion zwischen Rechtsexperten und ihren Klienten trägt vor allem die dynamisierenden Kräfte des ökonomischen Systems und des politischen Austausches in das Rechtssystem hinein. Auf diese Weise öffnet sich das Recht für die Interessenartikulation der Klienten. Ohne diese Kooperation bestünde die Gefahr, daß die praktischen Probleme des Alltags in der Rechtsfindung übersehen werden. Die Autonomie der juristischen Profes117 118

119 120

Münch, Moderne 1984,403. Vgl. Münch, ebd. 405. MÜllch, ebd. 429. Münch, ebd., 433.

31 Kargl

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

sion sichert zwar die Berechenbarkeit des Rechts, aber sie birgt auch das Moment der Schließung des Systems, der Abkapselung von konkreten Lebensbedürfnissen. Neben dem Experten-Klienten-Austausch sorgen die Entscheidungsverfahren des Rechts für hinreichende Möglichkeiten des Wandels. Diese Entscheidungsverfahren werden von der politischen Entscheidungsbildung beeinflußt, aber nicht im strikten Sinne determiniert. Das Recht bildet vielmehr eine Interpenetrationszone zwischen den Überzeugungen der lebens weltlichen Tradition der Gemeinschaft und den konkreten politischen Entscheidungen. 121Im Vergleich zu den lebensweltlichen Normen sind schriftlich formulierte Normen weniger selbstverständlich, sie stellen Selektionen unter Alternativen dar. Das ergibt sich zwingend aus dem Entscheidungscharakter der Rechtsanwendung: Rechtsnormen müssen ständig auf konkrete Fälle angewendet werden, was entsprechende strukturelle Vorkehrungen verlangt. 122 Im Vergleich zu den rein politischen Entscheidungen sind Rechtsentscheidungen alternativenloser und selbstverständlicher. Sie weisen für die Dauer ihrer Geltung eine kollektive Verbindlichkeit auf, die im Idealfall von allen Gesellschaftsmitgliedern getragen wird. Zumindest aber muß die Ausübung der Entscheidungskompetenzen konsensuell abgestützt und in der Rechtsgemeinschaft verwurzelt sein, sollen die Rechtsentscheidungen nicht auf Willkür und Gewalt basieren. Die externen Interpenetrationen des modernen Rechts mit den angrenzenden sozialen Subsystemen belegen hinreichend, daß die Sicht eines Rechtspositivismus verfehlt ist, in der die juristische Profession vom Konsens der Gesellschaftsmitglieder abgenabelt und die Rechtsentscheidung auf einen Herrschaftsakt verkürzt wird. Es ist nicht zu leugnen, daß die faktische Entwicklung des modernen Rechtsrationalismus der rechtspositivistischen Vorstellung ein gutes Stück entgegengekommen ist. Am Ende dieses Wegs angelangt, hätte sich das Recht in den wirtschaftlichen und politischen Handlungsbereich aufgelöst. Diese Gefahr droht dem Recht nicht nur von außen, sondern auch von innen. Es liegt nicht zuletzt an der juristischen Profession selbst, in welchem Maße sie die konsensuellen Grundlagen (Freiheitsrechte, Gleichheit, Berechenbarkeit) in ihren Entscheidungen lebendig erhält. Zieht sie sich auf den bloß legalistischen Standpunkt zurück, so verliert sie jene relative Autonomie, die sie tendenziell vor den Übergriffen partikularer Interessen bewahrt. Gleichzeitig begibt sie sich des positiven Einflusses, den sie - in Grenzen - auf die übrigen Subsysteme der Gesellschaft ausübt. Denn die Art und Weise, in der das Rechtssystem Streit schlichtet, bleibt nicht ohne Wirkung auf die Konfliktmechanismen der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Dominiert in der Rechtsentscheidung stets die Macht gegenüber dem Konsens, wird auf Dauer die gesellschaftliche Solidarität in Frage gestellt. Rückt man dagegen einseitig den Konsens in den Vordergrund, sind extreme idealistische 121 Weber, Wirtschaft 1976, 17; Luhmann, Rechtssoziologie 1972, Bd. 2, 94; Lidz, Law 1979, 5; Parsons, Law 1977, 11. 122 Luhmann, Rechtssoziologie 1972, Bd. 2,234,282.

II. Recht in staatlichen Gesellschaften

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Positionen nicht zu venneiden. Es kann also kein Entweder-Oder, sondern nur eine Interpenetration der Grundstrukturen des Rechts geben. b) Überleitung zum Strafrecht In keinem Bereich des deutschen Rechts hat die Spaltung des westlichen Denkens in die Grundströmungen des Idealismus und des Positivismus tiefere Spuren hinterlassen als im Strafrecht. Wie in der Philosophie, so gibt es auch in der Theorie des Strafrechts Autoren, die einen starken Freiheitsbegriff behaupten. Diese Gruppe von Denkern geht vom ,,Anders-handeln-Können" des Täters aus und entwickelt in diesem Kontext Überlegungen zur Schuld, die das Strafrecht ontologisch rechtfertigen sollen. Zum Idealismus einer solchen Position gehört, daß sie den Machtfaktor zugunsten des Konsenses vernachlässigt. Strafe bezweckt in dieser Sicht weniger die "Besserung" des Täters als die Stabilisierung des Konsenses, die Geltung der Nonn. Wieder wie in der Philosophie, gibt es in der Strafrechtstheorie jene pragmatischen Autoren, die einen schwachen Freiheitsbegriff vertreten und ihn dennoch für legitimationswirksam halten. Von diesen Autoren wird der Satz: "Der Täter hätte anders handeln können" um den Zusatz ergänzt: "wenn andere Ausgangsbedingungen vorgelegen hätten". Versteht man unter "andere Ausgangsbedingungen" eine andere Persölichkeitsstruktur des Täters und unter Strafe ein Mittel zur Persönlichkeitsveränderung, so läßt sich nach Meinung dieser Denker der modifizierte Satz vom "Anders-handeln-Können" für das Rechtfertigen von Strafe heranziehen. Der profilierteste Vertreter dieser von Moore und Schlick philosophisch ausgearbeiteten Position ist Karl Engisch. Sein Vorwurf richtet sich auf mangelnde Willenskraft oder mangelnde Besorgnis: "Der konkrete Täter hätte in der konkreten Situation, in der er sich befand, in dem Sinne und nur in dem Sinne anders handeln können, als er gehandelt hat, als er seinen allgemeinen Anlagen entsprechend bei Anwendung derjenigen Willenskraft oder derjenigen Besorgnis, deren Mangel wir ihm zum Vorwurf machen, in der konkreten Situation anders hätte handeln können." 123 Engisch nennt zwei Eigenschaften der Persönlichkeit, von denen dem Täter je nach der Beschaffenheit des Delikts 124 mindestens eine zum Vorwurf gemacht wird. Hätte er diesen Mangel nicht besessen, dann hätte er anders gehandelt. Die Rechtsverletzung ist demnach in der Persönlichkeit des Täters begründet; Schuld bedeutet "Charakterschuld" oder ,,Persönlichkeits schuld" . 125 Folgerichtig wird Strafe zur persönlichkeitsbildenden Maßnahme bei den Tätern, deren Charakter man für veränderbar hält. Wo man 123 Engisch, Willensfreiheit 1963,26. Dieselbe These ist dargestellt in Willensfreiheit 1964, 493;Welzel, Strafrechtswissenschaft 1965, 133. Engisch antwortete auf die Kritik mit der Arbeit Charakterschuld 1967, 108. 124 Da der Schuldbegriff auch fahrlässige Delikte erfassen soll, braucht Engisch neben dem Mangel an Willenskraft auch den Mangel an Besorgnis. 125 Engisch, Willensfreiheit 1963, 48.

31*

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

von der Unveränderlichkeit einer Persönlichkeit überzeugt ist, wird sie zurpersönlichkeitsansprechenden Maßnahme. 126 Der Täter muß für das einstehen, was er als Person ist. Nicht weil er zum Zeitpunkt der Tat "frei" ist, wird er bestraft, sondern weil die Tat von seinem "Sosein" bestimmt ist. Das ist die Position der Vereinbarkeitsphilosophie, wie sie von Moore vertreten wird. 127 Determinismus und Verantwortlichkeit schließen sich danach nicht nur nicht aus, sie lassen darüber hinaus den gesamten Katalog bisher üblicher Sanktionen unberührt. Wir haben diese Theorie ausführlich kritisiert, so daß sich weitere Anmerkungen erübrigen. 128 Es sei lediglich daran erinnert, daß mit Moores Uminterpretation nicht geklärt ist, ob irgendwer jemals anders wählen kann. Das war der Einwand Schopenhauers: Wir können zwar tun, was wir wollen, aber können nicht wollen, was wir wollen. Wenn bereits die Wahl determiniert ist, dann können weder die Strafe als Zufügung eines verdienten Übels noch das mit der Strafe faktisch verbundene "sozialethische Unwerturteil" 129 über den Täter gerechtfertigt werden. 130 Aus dieser Theorielage zieht nun - wie in der Philosophie - eine (kleinere) Gruppe von Autoren die Konsequenz, auf die Unterstellung irgendeiner Freiheit zu verzichten. Sie kommt zu dem Schluß, daß die Aufgabe der Idee persönlicher Schuld notwendigerweise das ganze Gebäude der schuldbezogenen Strafe in Mitleidenschaft ziehen muß. Als wichtige zeitgenössische Vertreter dieser Gruppe seien Rolf-Peter Calliess und Günter Stratenwerth genannt. Beide Autoren lehnen ein Anders-handeln-Können als Basis von Strafe ab und betonen stattdessenjene Verflochtenheit des Individuums mit seiner Umwelt, die wir als strukturelle Koppelung bezeichnet haben. Mir scheint, daß besonders Calliess dem hier skizzierten autopoietisch begründeten Begriff von Verantwortlichkeit sehr nahe kommt, wenn er die Möglichkeit der individuellen Antwort auf die normativen Anforderungen hervorhebt: "Das ist die eigentliche Dimension der Schuld: das unauflösliche Verjlochtensein in den gesellschaftlichen Zusammenhang, welches normativ als Recht und Verpflichtung zu Anspruch und Antwort definiert werden kann." \31 Antwort in dem genannten Sinne setzt ja die Fähigkeit des Individuums zu Veränderung und Lernen voraus. Und die menschliche Lernfahigkeit haben wir als einzig möglichen Anknüpfungspunkt für Verantwortlichkeit bezeichnet. Stratenwerth macht auf die Paradoxie einer Strafpraxis aufmerksam, die diese Lernfähigkeit systematisch blockiert: "Wie die intensivere Beschäftigung mit dem Schicksal vor allem chronischer Rechtsbrecher über jeden Zweifel hinaus hat deutlich werden lassen, ist Kriminalität weithin das Ergebnis sozialer und Engisch, ebd. 55. Vgl. Moore, Wille 1978, 142. 128 Vgl. Kap. 211 3c. 129 Bockelmann, Strafrecht AT 1979, 10; Jescheck, Strafrecht AT 1988, 58. 130 Zu den Grenzen der Verantwortlichkeit vor dem Hintergrund der kognitiven Handlungstheorie vgl. die Ausführungen Kap. 2 11 3d. \31 Calliess, Strafe 1974, 182. 126

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II. Recht in staatlichen Gesellschaften

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individueller Zwänge, die für den Betreffenden unausweichlich sind ... ,Schuld' im strafrechtlichen Sinne bedeutet daher keineswegs wirkliche Schuld und also auch keine wirkliche Legitimation für eine schuldbezogene Strafe. Dies um so weniger, als die strafende Gesellschaft nicht nur, wie bereits bemerkt, darüber entscheidet, welche Verhaltensweisen als kriminell abgewertet und verfolgt werden, sondern vielfach auch die Entstehung oder den Fortbestand jener Zwänge zu verantworten hat, die abweichendem Verhalten zugrunde liegen." 132 Diese Gruppe von Strafrechtlern kann man den "harten" Deterministen in der Philosophie zuordnen. 133 Soweit überhaupt noch an dem Begriff "Schuld" festgehalten wird, erhält er eine andere Funktion. Er kann nicht mehr zur Legitimation der Strafpraxis dienen, allenfalls taugt er noch zur Handhabung der Strafbemessung. Daß er diese Funktion erfüllen kann, liegt nicht an der Existenz einer "wirklichen" Schuld, sondern an der sprachlichen Konventionalisierung, die der Begriff in Praxis und Theorie des Strafrechts erfahrt. In diesem Sinn spricht man etwa von "großer" Schuld, wenn der Täter bewußt ein besonders hoch bewertetes Rechtsgut verletzt. Das hat nichts mit Freiheit oder Anders-handeln-Können zu tun. Es geht dabei allein um die Belange eines Rechtsgüterschutzes. der durch den Gesetzgeber in Form von Tatbestand und Rechtsfolgen festgelegt wird. Statt von Schuld sollte man künftig besser von Unrecht oder Rechtswidrigkeit sprechen. 134 Die Gruppe der "harten" Deterministen in der Strafrechtstheorie ist eine kleine Minderheit geblieben. Ihr Einfluß hatte um die Jahrhundertwende bereits den Zenit überschritten und ist seither weiterhin kontinuierlich zurückgegangen. 135 132 Stratenwerth, Strafrecht AT 1983, 23. Vgl. auch Fritz Bauer, Schuld 1969, 43. Außerdem: F. Nowakowski, Vorwort 1977,8. 133 Auch die Theorie des Strukturdeterminismus, die hier vertreten wird, gehört zu dieser Gruppe. In meiner Arbeit ,,Kritik des Schuldprinzips" (1982) habe ieh die Frage der Willensfreiheit offengelassen. Ich war und bin noch heute der Ansieht, daß selbst die. Bejahung prinzipieller Freiheit keineswegs einen einseitigen Schuldvorwurf rechtfertigt. Dazu ist unsere (wahrscheinlich jede) Gesellschaft mit zu offenkundigen Mängeln behaftet. In dieser Arbeit ist die Frage der Willensfreiheit zugunsten des Determinismus entschieden, allerdings nicht zugunsten eines Außen-, sondern eines Innendeterminismus, was die Möglichkeit der Zuschreibung von Verantwortlichkeit ermöglicht. 134 Zu den strafrechtsdogmatischen Implikationen besonders im Hinblick auf den sog. Verbrechensaufbau siehe weiter unten. 135 In einem historischen Abriß der Debatte um die Willensfreiheit stellt Heinz Holzhauer zur Situation in der deutschen Strafrechtswissenschaft fest: "Der Determinismus hat sich nieht durchzusetzen vermocht; er ist, seit er um die Jahrhundertwende schon einmal herrschend erschien, immer mehr zurückgegangen. Seit dem Ausgang des Schulenstreits hat sieh in der Strafrechtswissenschaft ein Indeterminismus verbreitet, der sich mit dem ,richtig verstandenen' Kausalgesetz für vereinbar hält und der nicht selten die philosophische und strafrechtswissenschaftliche Problemgeschichte durch den Hinweis auf das ,unübersehbare Schrifttum' abtut. In dem konformistischen Charakter des herrschenden Indeterminismus drückt sieh aus, daß sieh das Problembewußtsein in diesen Fragen gegenüber der Zeit des Schulenstreits abgeschwächt hat. Jedenfalls ist hinter der Frage nach dem Bestehen von Willensfreiheit die andere nach dem Inhalt und der Logik des indeterministischen Schuldbegriffs zurückgetreten. Vor allem die deterministischen

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Kap. 4: Ordnung durch Recht

Den wahrscheinlich bedeutsamsten Beitrag zu dieser Entwicklung hat Hans Welzel geleistet. Er zählte nicht nur zu den hartnäckigsten, sondern auch zu den kenntnisreichsten Gegnern der "harten" Detenninisten. Seine Bedeutung für die Gegenwart liegt indes nicht so sehr darin, daß die Strafrechtswissenschaft seine Argumente für die Freiheit übernommen hätte. Das hat sie überwiegend nicht getan. Was sie jedoch bis in die Wortwahl hinein adaptiert hat, das sind seine Argumente gegen die Unfreiheit. Da Welzel den detenninistischen Standpunkt auf die mechanistische Denkweise des 19. Jahrhunderts festlegte und kaum jemand die fatalistischen Konsequenzen einer solchen Überzeugung teilen mochte, fiel es ihm verhältnismäßig leicht, die im 19. Jahrhundert errungenen Fortschritte in der Strafrechts wissenschaft als materialistische, seelenlose Sozialtechnologie zu diskreditieren. In der Tat hatte er die Achillesferse des ReChtspositivismus aufgespürt. Aber Welzel ging es um nichts weniger als um jenen Konsens, der nach unserem Verständnis einzig in der Lage ist, dem machtorientierten Zug des Positivismus Einhalt zu gebieten. Welzel stellt dem Naturalismus der Machttheorie eine Wahrheit gegenüber, die sich aus dem "seinsmäßigen" Unterschied zwischen kausalen Ereignissen und menschlichen Handlungen ergibt. Die letzteren sollen die ersteren final überdetenninieren. Das ist die Position des extremen Idealismus und damit ebenso weit von der unsrigen entfernt wie die Position des Positivismus. Im folgenden Kapitel wird es darum gehen, zwischen den positivistischen und idealistischen Extremen der Strafrechtstheorie den eigenen Standort zu bestimmen. Zu diesem Zweck soll zunächst in aller Kürze die wohl bedeutendste positivistische Strafrechtskonzeption, nämlich diejenige des Refonners Franz v. Liszt, dargestellt werden. Welzel hat seine Theorie als Antithese zu Liszts Werk verstanden. Daher soll sie als idealistisches Gegenstück anschließend dem Lisztsehen Positivismus gegenübergestellt werden. Es wird sich zeigen, daß Welzels Argumente gegen die mechanistische WeItsicht stichhaltig sind. Wären diese Argumente in der Debatte um Sozialtherapie, Resozialisierung, Gefangnisrefonn etc. zur Kenntnis genommen worden, hätten sich manche Irrwege, besonders im Hinblick auf die (Außen-)Detenninierbarkeit menschlicher Handlungen, vennei-

Stimmen der Lehrgeschichte geraten in Vergessenheit. Sogar von kriminologischer Seite ist der Versuch unternommen worden, in der Geschichte dieser Wissenschaft die Bedeutung des Determinismus herunterzuspielen. Demgegenüber dürfte die im Schulenstreit von Deterministen getroffene Feststellung unbestreitbar sein, daß es der herrschende Indeterminismus war, der lange einer kriminologischen Forschung im Wege gestanden hat. Im Verhältnis zur positivistischen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waltet gegenwärtig eine Überlegenheitsstimmung, die als Gefühl des Fortgeschrittenseins den Fortschrittsglauben eben dieses späten 19. Jahrhunderts noch übertrifft. Es ist den positiven Wissenschaften in Deutschland seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht gelungen, spekulative philosophische Ideen in ihrer Herrschaft über die Strafrechtswissenschaft abzulösen. Wenn die Verhältnisse in der deutschen Strafrechtspflege heute um 30 Jahre hinter der internationalen Entwicklung zurückstehen, so dürfte das damit zusammenhängen" (Willensfreiheit 1970, 211). Seither haben die Vereinbarkeitstheoretiker ihre Position gefestigt; das hat den von Holzhauer festgestellten niedrigen Stand des Problembewußtseins nicht gerade erhöht.

11. Recht in staatlichen Gesellschaften

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den lassen. Aber die Lösung kann nicht darin bestehen, menschliche Handlungen aus der Welt kausaler Gesetzmäßigkeiten herauszunehmen und für diese eine andere "seinsmäßige" Ebene zu konstruieren. Ziele, Zwecke oder "Finalität" (Welzel) liegen nicht außerhalb des Zustands der Welt bzw. des Bewußtseins des Handelnden. Wird dieser schlichte Umstand geleugnet, erscheinen Macht, Herrschaft, Gesellschaft als durch die "Vorstellung" jederzeit revidierbare Marginalien. Die Folge ist, daß sich Macht umso ungehemmter entfaltet. Der deutsche Idealismus ist für diese These der schlagendste Beleg. Weder Rechtspositivismus noch Rechtsidealismus hätten den Faschismus verhindern können. Beide Positionen sind gleichermaßen instrumentalisierbar und daher gleichermaßen nützlich. Der Grund hierfür - so meine These - liegt darin, daß heide Denkweisen ihre Überzeugungskraft und ihre Argumente aus der Ontologie schöpfen. Die ontologische Rede ist diskursfeindlich, antikommunikativ und antidemokratisch. Das macht sie für die Interessen der Herrschaft verfügbar. Der dritte Weg muß sich darum der positivistischen wie der idealistischen Gewißheiten entschlagen. Ein solcher Weg kann nur ein konstruktivistischer sein.

KapitelS

Ordnung durch Strafrecht I. Strafrechtliche Handlungstheorien 1. Kausale Handlungslehre (Franz v. Liszt)

a) Das allgemeine Kausalgesetz Die positivistische Sicht auf die Welt sucht Antwort auf die Frage nach dem "Wie". Daraus resultiert eine kognitive Orientierung, die an der Erklärung der ,,Natur" von Objekten, Ereignissen und Erfahrungen interessiert ist. Als Antwort auf die an die Welt der Beobachtung und der Erfahrung gerichtete Wie-Frage hat sich in der Geistesgeschichte der westlichen Hemisphäre die Methodologie der empirischen Wissenschaft herausgebildet. Die Warum-Frage, die am kognitiven Problem des Sinns und des Verstehens von Objekten und Ereignissen arbeitet, blieb der spekulativen Methode der Philosophie vorbehalten. Beide Fragen sind selten zusammen gestellt und noch seltener zusammen beantwortet worden. Das gilt in besonderem Maße für die Geschichte der Handlungstheorie in Westeuropa. Da der zentrale Bezugspunkt der westlichen Denkweise die empirische Wissenschaft war, beschäftigte man sich bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts fast ausschließlich mit Handlungsfaktoren, die der positivistischen Arbeitsweise und damit der empirischen Veriflkation zugänglich war. Als solche Faktoren galten die konditionalen Strukturen des Handeins, also insbesondere die Handlungssituation, die als einzige objektive Erkenntnis zu ermöglichen schien. Traditionell im Vordergrund des Handlungsmodus der "Situation" stehen die "Wege" und "Mittel", um ein gegebenes Ziel zu erreichen. Handeln erfordert ein Wissen von der empirischen Situation: von den vorherrschenden Entwicklungstendenzen und von den wahrscheinlichen Wirkungen verschiedener Arten des Eingriffs oder Nichteingriffs in diese Tendenzen. Wir haben diesen Handlungsaspekt als Anpassung oder Adaptivität an die Situation beschrieben. I Der Handelnde gehorcht im Feld der Anpassung dem Realisierungsprinzip. Da die Rechtfertigung des zu verfolgenden Ziels in dieser Extremvariante des Handlungsbezugsrahmens keine Rolle spielt, folgt Handeln allein aus der logischen Ableitung vorhandener Ziele, gegebener Macht und besonderen Anfangsbedingungen. Je I

Siehe Kap. 3 11 1.

I. Strafrechtliche Handlungstheorien

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nach Ausgangssituation und verfügbarer Mittel ist das Verhalten daher entweder höchst kontingent oder höchst vorhersagbar. Auf ordnungstheoretischer Ebene folgt aus der Hypostasierung dieses Handlungsfeldes eine Machttheorie. Das soziale Handeln wird hiernach durch eine extreme Strukturierung der Situation, z. B. durch die Machtverteilung, detenniniert. In dieser Sicht nimmt die politische Ordnung am allgemeinen technologischen Fortschritt teil. Insofern ist die Staatskonstruktion zumeist eine evolutionistische: Sie führt von der rohen zur staatlich gebändigten Gewalt. Das Recht schrumpft folgerichtig zu einer bloßen Erscheinungsfonn der Gewalt. Damit haben wir die grundlegenden Überzeugungen einer an der mechanistischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts orientierten Handlungstheorie benannt: durchgehende Umweltdetennination allen menschlichen Handeins nach empirisch meßbaren Gesetzmäßigkeiten, machttheoretische Staatsidee und universalgeschichtlicher Evolutionismus. Exakt diese Thesen teilt Franz v. Liszt mit der positivistischen Philosophie und der empirischen N aturwissenschaft. Es sind dies jene Begriffe, die der ,,kausalen Handlungslehre" im Strafrecht zugrundeliegen. Beginnen wir mit dem detenninistischen Aspekt des Handeins. Nach dem naturalistischen Verständnis der kausalen Handlungslehre wird Handlung als eine Körperbewegung aufgefaßt, die eine Veränderung in der Außenwelt bewirkt. Das Band, das die Handlung mit einem bestimmten Erfolg verknüpft, ist die Kausalität. Handlung ist danach allein ein äußeres, "objektives" Geschehen, das bei naturwissenschaftlicher Betrachtung den tatbestandlichen Erfolg auslöst. Um dem Erfordernis der menschlichen Handlung als Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Zurechnung zu genügen, soll die Feststellung einer Willensbetätigung ausreichen. Auch dieser "willkürliche" Akt wird objektiv aufgefaßt. Daß etwas gewollt ist, reicht für den IDmdlungsbegriff hin; die Willensrichtung bzw. Inhalt und Ziel des Willens gehören nicht mehr zur Handlung. Dementsprechend ziehen v. Liszt 2, Beling 3 und später Radbruch 4 einen scharfen Trennstrich zwischen der Deliktsaußenseite als Unrecht und der Deliktsinnenseite als Schuld. "Für die Feststellung, daß eine ,Handlung' vorliegt, genügt die Gewißheit, daß der Täter willentlich thätig geworden bzw. unthätig geblieben ist. Was er gewollt hat, ist hierfür gleichgültig; der Willens inhalt ist nur von Bedeutung für die Frage der Schuld." 5 Als Grund dieser Verkürzung des Willens als bloßen Handlungsanlaß gibt Radbruch das Bemühen um die Reinlichkeit einer Scheidung des Kausalzusammenhangs vom Schuldzusammenhang an, und zwar ,,nicht nur bis zur Körperbewegung, sondern bis zum Willen hinauf'. 6

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Liszt, Strafrecht 1884, § 28. Beling, Grundzüge 1902, 38. Radbruch, HandlungsbegrijJ 1904, 68. Beling, Grundzüge 1902,38. Radbruch, HandlungsbegrijJ 1904, 131.

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Die Lehre vom kausalen Handlungsbegriff rechnete es sich als ihr wesentliches Verdienst an, den Verbrechensbegriff auf der Ebene des Handlungsgeschehens von jeglichem Wertprädikat befreit und auf eine objektive, in deskriptiver Sprache beschreibbare Grundlage gestellt zu haben. Dieser Handlungsbegriff nennt sich deshalb "natürlich", weil er die Gesetze der Naturwissenschaft auf das Strafrecht übertragen, die Erfüllung des Tatbestands als bloße empirisch bedingte Konsequenz des vorangegangenen Kausalablaufs gelten lassen will. Wie jedes Naturereignis in einer Kette von Kausalzusammenhängen steht, so ist auch das Verbrechen das Ergebnis kausaler Abläufe. Mit diesem äußerst formalen, auf die Situation reduzierten Bild der Eigenschaften des menschlichen Verhaltens glaubte man, einen Handlungsbegriff geschaffen zu haben, der dank seiner völligen Wertfreiheit als gemeinsame Grundlage sowohl der vorsätzlichen als auch der fahrlässigen Delikte dienen könnte. 7 Die juristische Würdigung des Geschehens sollte erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit, und zwar wie schon der Tatbestand nach rein objektiven Gesichtspunkten, stattfinden. 8 Alles Subjektive wurde dem Schuldbegriff zugerechnet. Dementsprechend verstand man Vorsatz und Fahrlässigkeit als "Schuldformen" oder "Schuldarten" . 9 Ein derart nicht nur von Wertgesichtspunkten, sondern auch von kognitiven und von affektiven Faktoren bereinigter Handlungsbegriff sollte nach dem Wunsch seiner Erfinder neben dogmatischer Praktikabilität 10 auch Rechtsstaatlichkeit gewährleisten. Dieser Gedanke fand im Streben nach Sicherheit und Berechenbarkeit des Rechts seinen Ausdruck und sollte in der Bindung des Richters an einfache, nachprüfbare Systembegriffe verwirklicht werden. In einer gewissen Spannung zu dem Objektivismus und Formalismus der Strafbarkeitsvoraussetzungen stehen die spezialpräventiven Forderungen der modemen Schule, die von dem gleichen Liszt angeführt wurde wie die naturalistische Strafrechtslehre. 11 Auf der einen Seite sollte durch den formalen Charakter des Verbrechensbegriffs ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, auf der anderen Seite durch ein am straffälligen Menschen orientiertes Sanktionensystem ein Höchstmaß an spezialpräventiver Zweckmäßigkeit erreicht werden. So zeigt das klassische Strafrechts system ein "eigentümlich doppelpoliges Gebilde" 12: Es will die auseinanderstrebenden Kräfte der Autorität und des Konsenses zusammenhalten. Als methodische Klammer dient das mechanistische WissenVgl. Maurach, Zipf, Strafrecht AT 1987, 195. Der Zusammenhang zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit wurde allein darin gesehen, daß die erstere ein "Indiz" für das Vorliegen der Rechtswidrigkeit darstellen sollte; vgl. Claß, Tatbestand 1933, 39. 9 Vgl. v. Liszt, Strafrecht 1884,105; Radbruch, Schuldbegrif.f1904, 344; M. E. Mayer, Schuldhafte Handlung 1901, 139. 10 Vgl. hierzu insbesondere die Äquivalenztheorie, deren Begründer v. Buri (Causalität 1873) war. 11 Zu dieser Spannung im Strafverfahren vgl. die Abwägung der privaten und öffentlichen Interessen insbesondere bei der Ausgestaltung der Verteidigerrechte Beulke, Verteidiger 1980, 106. 12 Jescheck, Strafrecht AT 1988, 182. 7

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schaftsverständnis, das nicht nur die menschliche Handlung, sondern auch die soziale Ordnung erklären soll. b) Die mechanistische Ordnung

Was macht den "Wert" eines Rechtssystems aus? Ist dafür seine pure Dauerhaftigkeit maßgebend? Oder soll es darüber hinaus Geltung im Sinne eines konsensuellen Handlungsbereiches beanspruchen können? Franz von Liszt mußte konsequenterweise positivistisch antworten: "Das Recht ist in meinen Augen nur die ihres eigenen Vorteils und damit der Notwendigkeit des Maßes sich bewußt gewordene Gewalt, nicht also etwas seinem Wesen nach von letzterer Verschiedenes, sondern nur eine Erscheinungsform derselben: die rechte, richtige, weil an Regeln sich bindende, also disziplinierte Gewalt im Gegensatz der wilden, rohen, weil nur durch den augenblicklichen Vorteil bestimmten, also der regellosen Gewalt." \3 Das ist der Standpunkt des Legalismus, den wir bereits bei der Erörterung der Rechtstheorie Theodor Geigers kennengelernt haben. 14 Wie Geiger unterstellt auch Liszt eine strikte Trennung zwischen sittlichen und rechtlichen Handlungsmotiven. Darum sei es verfehlt, "das rechtliche (soziale) Werturteil durch ein sittlich-ästhetisches ersetzen zu wollen ... Die Zeiten sind dahin, in denen Ehre und Recht nächstverwandte Begriffe waren". IS Das Recht mit geregelter Gewalt zu identifizieren, ist eine tautologische Aussage. Irgendeine Form der Handlungsanweisung und der Konfliktlösung muß jede Norm annehmen. Über den Inhalt und somit über die "Richtigkeit" des Rechts sagt der positivistische Rechtsbegriff nichts. Er setzt die Legitimität der staatlichen Herrschaft umstandslos voraus. Dieser prinzipielle Mangel an "ethischer", konsensueller Rückkoppelung macht sich besonders gravierend bei der Funktionsbestimmung des Strafrechts bemerkbar. So begründet Liszt die Notwendigkeit der linearen Kausalität für das Strafrecht damit: "Gerade wenn die Handlung notwendiges Produkt ihrer Faktoren ist, gerade wenn sie, dem Kräfteparallelogramm gemäß, notwendig in der Richtung des stärksten Motivs erfolgt, kann durch Einführung neuer Faktoren in der Gestalt neuer Motive sowie durch Verstärkung der in den gegebenen Faktoren vorhandenen motivierenden Kraft die Richtung der Handlung bestimmt Liszt, Aufsätze I 1905, 150. Vgl. Kap. 4 11 lc. IS Liszt, Aufsätze 111905, 191. Andere Stellen offenbaren freilich den Konflikt zwischen dem rechtsstaatlichen und dem sozialstaatlichen Standpunkt Liszts. So wenn er die sozialethisehe Fundierung des Rechts betont: "Ein Strafgesetzbuch, das die ethischen Anschauungen des Volkes nicht nur nicht befriedigt, sondern in der großen Masse seiner Bestimmungen geradezu verletzt, hat das Recht verloren, Recht zu sein!", ebd. 362. Mit dieser Aussage ist das Wesentliche zur Unhaltbarkeit der legalistischen Rechtsidee gesagt. Sie konnte sich allerdings nicht gegen die mechanistische Grundtendenz der Lisztschen Weltanschauung durchsetzen. \3

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werden." 16 An diesem Zitat irritiert nicht so sehr die weit überzogene Vorstellung einer Bestimmung des Menschen durch äußere Faktoren als vielmehr die Selbstverständlichkeit, mit der dem Individuum von Seiten der Herrschaft "neue Motive" nahegebracht werden sollen. Wer legitimiert die "staatlichen" Motive? Auf diese Frage hätte Franz von Liszt als sozialer Reformer sicherlich eine demokratische Antwort gegeben, aber seine Theorie kann es nicht. Wer alles Geschehen auf den Faktor der Umweltdetermination (Situation) zurückführt, der muß letztlich die Autonomie des Subjekts der Heteronomie einer objektiven Ordnung opfern. Um dieser fatalen Konsequenz einer inhaltsleeren mechanistischen Staatskonstruktion zu entrinnen, hat Franz von Liszt in Übereinstimmung mit der Natur- und Gesellschaftsphilosophie seiner Zeit auf einen universal-geschichtlichen Evolutionismus gesetzt, an dem auch die Entwicklung der staatlichen Strafe teilhaben sollte. Im Fortschrittsgewande der Evolution konnte der offensichtliche Zusammenhang von Positivismus und Relativismus abgemildert erscheinen. c) Die soziale Evolution

Neben der Untersuchung der Statik gesellschaftlicher Verhältnisse, die in ihrer Ursächlichkeit für die Kriminalität erkannt wird, tritt bei Liszt die Erforschung der Dynamik des sozialen Lebens. Für ihn ist ganz im positivistischen Sinn die geschichtliche Entwicklung festen unabänderlichen Gesetzen unterworfen, die weitgehend unabhängig von menschlicher Tätigkeit ihren Verlauf nehmen. ,,Für unsere menschliche Zwecksetzung bleibt uns nur die Hemmung oder Förderung eines von menschlicher Willkür unabhängigen Entwicklungsganges."I? Dabei nimmt die naturnotwendige Entwicklung eine bestimmte Richtung: Sie geht über die geschichtlichen Zeiträume hinweg nach aufwärts. Das Kommende ist immer auch das Wertvollere, das Seinmüssende zugleich das Seinsollende. "Indem wir das Seiende als ein geschichtlich Gewordenes betrachten und darnach das Werdende bestimmen, erkl(JlOen wir das Seinsollende. Werdendes und Seinsollendes sind insoweit identische Begriffe. Nur die erkannte Entwicklungstendenz gibt uns über das Seinsollende Aufschluß." 18 Die Methode der Erforschung der Entwicklungstendenzen ist die vergleichende Betrachtung. Durch sie gelangen wir zur ,,Aufstellung von typisch wiederkehrenden Entwicklungsstufen, von Rechtstypen insbesondere. Erst die Erkenntnis der Entwicklungstypen aber gestattet es uns, die in unserer nationalen Entwicklung erreichte Entwicklungsstufe im ganzen wie im einzelnen richtig einzuschätzen und damit zur Erkenntnis des Werdenden, des Seinsollenden zu gelangen".19 Nach Liszt soll uns die Rechtsvergleichung insbesondere diejenige typische Entwicklungsstufe zeigen, die vor uns liegt und die unabhängig von unserem 16 Liszt, Strafrecht 1881, 5. 17 Liszt, zit. bei Welzel, Naturalismus 1975, 61. 18 Liszt, zit. bei Welzel, ebd. 61. Vgl. auch Liszt, Aufsätze /11905, 452. 19 Zit. bei Welzel, ebd. 61.

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Wollen kommen wird. Staatliche Zwecksetzung kann es immer nur sein, der erkannten Entwicklung vorzugreifen, ihr den Weg zu bahnen, damit sie nicht gewaltsam über uns hereinbricht. Vor allem gilt es, den Mechanismus, der die stetige Höherentwicklung vorantreibt, zu unterstützen. Es ist der von Darwin für die Tierwelt konstruierte Mechanismus der Selektion. Ausdrücklich wendet Liszt das Selektionsprinzip auf die gesellschaftliche Entwicklung und auf die Funktionsgeschichte der Strafe an. Danach scheidet die Gesellschaft die völlig ungeeigneten Elemente aus, "die Untauglichen gehen rettungslos zugrunde, nach ein oder zwei Generationen ist die Fähigkeit zur Fortpflanzung erschöpft . . . Aber dieser gesellschaftliche Selektionsprozeß geht nur langsam vor sich und ist mit schweren Opfern für die Gesellschaft verbunden." Darum muß der Gesetzgeber eingreifen; er hat als Kriminalpolitiker "die Schwächeren zu schützen, solange es irgend möglich ist, damit sie im Kampf ums Dasein nicht unterliegen. Er hat überall dort, wo Hilfe nicht mehr möglich ist, dafür Sorge zu tragen, daß die für das gesellschaftliche Zusammenleben mit seinen jeweiligen Anforderungen völlig ungeeignete Elemente ausgeschieden werden."20 Nun wissen wir, was es heißt, wenn das Recht auf dem Weg zur Höherentwicklung Hilfestellung leisten soll: Strafrecht im Dienste der biologischen Selektion. Man muß diese darwinistische Grundströmung im Denken Liszts ernst nehmen, auch wenn sie nicht voll in dessen konkrete Reformpolitik durchgeschlagen hat. Liszt will die Schwachen schützen, aber der latente Evolutionismus gestattet eben nur eine technologische, mechanistische und das heißt im Ganzen positivistische Art und Weise des Schutzes. Der Schwache muß immerhin noch so differenziert, angepaßt und lebenskräftig sein, daß sich an ihm Maßnahmen der Höherentwicklung lohnen. Soweit dies nicht der Fall sein sollte, dominiert der Gesellschaftsschutz. Dem Hilfsangebot an die Masse der Straffälligen korrespondiert eine abrupte Verweigerung des Schutzes gegenüber vermeintlich Besserungsunfahigen. Diesen sozialtechnologischen, auf Staatszwecke reduzierten Zug teilt jede Kriminalpolitik, die den Konsensaspekt des Rechts gegenüber dessen Herrschaftsaspekt vernachlässigt. Welzels Kritik am Evolutionismus der Lisztschen Theorie liest sich aus heutiger Sicht wie ein mahnender Kommentar zu den positivistischen Einschlägen der Lehre von der Sozialverteidigung und der Sozialtherapie: ,,Aber auch hier fragt es sich wieder, wer im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß der Lebenskräftigere, Tauglichere, Angepaßtere ist. Im rein biologischen Leben ist es der Vitalere, Kraftvollere. In der kapitalistisch-indu.striellen Gesellschaft des liberalen Staates ist es der Geschicktere, Gerissenere, während vielleicht der Vitalere, der im wirtschaftlichen Kampf dem Gerisseneren unterliegt und sich nun aus seiner Vitalität heraus gegen ihn wendet, dem Selektionsprozeß der Strafjustiz verfällt."21 Es ist also eine Frage der sozialen Normierung, wer bestraft, therapiert oder ausgeschlossen werden muß. 20 Liszt, Aufsätze II 1905, 446. 21 Welzel, Naturalismus 1975, 62.

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Für Liszt war die Selektion offenbar keine Herrschaftsfrage. Seine Reformpolitik befand sich im Sinne des Evolutionismus auf der Linie der Höherentwicklung. Daher stellte sich ihm hinsichtlich der allgemeinen Zwecke des Staates und der Strafzwecke im besonderen nicht die Warum-Frage. So behauptete er noch ein Vierteljahrhundert nach seinem Marburger Programm, daß er für die Schutzstrafe nicht wegen ihres immanenten Wertes eingetreten sei und die Vergeltungsstrafe nicht wegen ihrer Wertwidrigkeit verworfen habe, sondern dies deshalb getan habe, weil die Zweckstrafe "uns den späteren und darum höheren Entwicklungstypus der Strafe darstellt". 22 Im Marburger Programm 23 schlug er denn auch folgerichtig für seine Theorie die Bezeichnung einer "evolutionistischen Theorie" vor. Strafe sei ursprünglich eine zwar zweckmäßige, aber zweckunbewußte, blinde Triebhandlung gewesen, die unmittelbar im Dienste der Selbsterhaltung stand. Mit dem Fortschritt in der geistigen Entwicklung der Menschheit habe sich die Triebhandlung in die Willenshandlung umgesetzt: "Der Trieb wird in den Dienst des Zweckes gestellt, die Handlung dem Zwecke angepaßt."24 Für die Strafe bedeutet das, daß nunmehr die schützende Kraft der Strafe erkannt und begriffen wird. Die volle Wirkung dieses Strafzweckes entfaltet sich freilich nur, wenn der Konflikt nicht von befangenen Parteien, sondern von neutralen Organen entschieden wird. Also ist erst mit dem vollen Übergang der Strafe auf den Staat der entscheidende Schritt von der Trieb- zur Zweckhandlung getan. 25 Erst die affektlose Betrachtung seitens professioneller Sachwalter führt von der blindwütigen Reaktion zur nüchternen Zweckmäßigkeit eines chirurgischen Eingriffs. Nun verstehen wir auch, warum die staatlich objektivierte Strafe zugleich als eine Selbstbeschränkung der Strafgewalt aufgefaßt werden konnte. Die ganze evolutionistische Konstruktion basiert auf der Annahme, daß die vorstaatlichen Ordnungen auf reflexartigen Triebbewegungen beruhen. Demgegenüber muß sich jede, auch die gänzlich totalitäre Staatsorganisation, als eine Begrenzung der Macht und der Strafgewalt ausnehmen. Was dem Evolutionismus lange Zeit eine gewisse Plausibilität verlieh, das ist der gänzlich verfehlte Ausgangspunkt: die Annahme einer instinktgebundenen Ordnung in vorstaatlichen Gesellschaften. Rache konnte in dieser Sicht als Entfesselung tierischer Affekte 22 Liszt, Aufsätze II 1905, 426. 23 Vgl. Liszt, Strafrecht 1881, 14. 24 Liszt, Aufsätze I 1905, 151. Die Darstellung -

wie "die Triebhandlung in die Willenshandlung sich umsetzt" - stützt sich stark auf den Darwinisten G. H. Schneider (Tierischer Wille 1880; Menschlicher Wille 1882) und den Evolutionisten Spenzer (Principles of morality). Bei Spenzer ist ausgeführt, daß die Zweckbewußtheit der Willenshandlung nichts anderes ist als eine höhere Entwicklungsstufe niederer zweckmäßiger Reaktionsformen der Lebewesen in der Anpassung innerer an äußere Bedingungen; und wie die Zweckmäßigkeit der Triebreaktionen, so ist auch die Zweckbewußtheit der Willensbildung nur das blind-kausale Selektionsprodukt erhöhter Anpassung. ,,zweckmäßigkeit und Zweckbewußtheit sind nur glückliche, nicht qualitativ, sondern bloß quantitativ verschiedene Sonderfälle des Mechanistisch-Kausalen" (Welzel, Naturalismus 1975, 63). 25 Vgl. Liszt, Aufsätze 11905, 146.

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und staatliche Strafe als Schutz vor diesen Affekten beschrieben werden. "Strafrecht ist die rechtlich begrenzte Strafgewalt des Staates: Rechtlich begrenzt nach Voraussetzung und Inhalt; rechtlich begrenzt im Interesse der individuellen Freiheit. Nullum crimen sine lege, nulla poena sine' lege: Diese beiden Sätze sind das Bollwerk des Staatsbürgers gegenüber der staatlichen Allgewalt; sie schützen den einzelnen gegen die rücksichtslose Macht der Mehrheit, gegen den Leviathan."26 Die Limitierung wird gewährleistet einmal durch Fixierung der Rechtsgüter und Katalogisierung der sie schützenden Normen, zweitens durch Begrenzung von Maß und Ziel der Strafe im Dienste des Rechtsgüterschutzes. Diese Limitierung der Herrschaft macht Gewalt zum Recht: "Durch Selbstbeschränkung ist die Strafgewalt zum Strafrecht, durch Aufnahme des Zweckgedankens die blinde, zügellose Reaktion zur Rechtsstrafe geworden."27 Damit wird zugleich "der Wert klar, welchen die Objektivierung auch für den Verbrecher und gerade für ihn hat". 28 Wechselt man die Perspektive von der positivistischen Wie-Frage zur idealistischen Warum-Frage, wird die Schwäche der Lisztschen Beweisführung sofort augenfällig. Warum begrenzt sich Gewalt? Was veraniaßt die Gewalt, sich rechtlich zu binden? Ist das evolutionistische Argument als unhistorisch erkannt, so gibt es im Lisztschen Theoriengebäude keinerlei Begründung für die Selbstbindung der Herrschaft. Liszt ist ein Vertreter der Machttheorie, die einzig die schnurgerade Umsetzung von bestimmten Zielen unter den Bedingungen einer starken Ausdifferenzierung von Machtgebrauch und Herrschaft zu erklären vermag. Wir haben dargelegt, daß diese Konzeption keine Begründung für den Erwerb von Macht, für die Zählebigkeit dysfunktionaler Traditionen und für soziale Innovationen besitzt. 29 Sie vernachlässigt die Herausbildung von Lernprozessen, von ökonomischem Anreiz, von Symbolisierungen und affektueller Bindung an Normen und Vergemeinschaftung. Sie hat keinen oder nur einen unreflektierten Begriff von den Handlungsfeldern der Ziele, der Normen und des symbolischen Bezugsrahmens. Daß diese handlungstheoretische Extremisierung bei Liszt zu keiner totalitären Staatskonstruktion führte, hängt damit zusammen, daß er als Evolutionist den Staat mit dem liberal-bürgerlichen Gemeinwesen identifizierte. Es lag im Zuge der Zeit, Staat und Recht in den Entwicklungsgang der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft einzubeziehen. Das bedeutete, nicht nur die Wirtschaft, sondern auch alles staatliche und rechtliche Geschehen einem gewaltigen Technisierungsprozeß auszusetzen und Herrschaft an rational vorausbestimmte generelle Regeln zu binden. Dem Staat fiel die Aufgabe zu, den autonomen Prozeß des kapitalistischen Wirtschaftens zu schützen. Er sollte darum mit seinen Rechtsvorschriften möglichst wenig in den spontan sich bildenden, selbstregulierenden Ökonomiebereich eingreifen. Andererseits sollte er aber 26 27 28 29

Liszt, Aufsätze Il 1905, 60, 80. Liszt, Aufsätze I 1905, 151. Liszt, ebd. 143. Vgl. näher Kap. 3 11 2b.

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durchaus vor den Übergriffen der Nichtangepaßten schützen. So konstituierte sich ein Freiheitsraum gegenüber dem Staat, in welchem sich das bürgerliche Individuum ungehemmt entfalten konnte. Für die nichtbürgerlichen, für die proletarischen oder gar kriminellen Elemente hi.elt der Staat nach dem Vorbild der technisch-industriellen Kultur eine Apparatur der kausalen Beeinflussung bereit, die weit über das hinausging, was in konsensorientierten, egalitären Gesellschaften den Außenseitern an Veränderung zugemutet wurde. Wenn Liszt die unbezweifelbaren Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte und der Freiheitsgarantien als Selbstbeschränkung der Macht pries, so übersah er, daß die Veränderungen nicht egalitären Ideen, sondern der Machtideologie des kapitalistischen Bürgertums zu verdanken war. Dieser Ideologie entsprach es, die positivistischen Methoden der Beherrschung der Natur auf die Herrschaft über Menschen zu übertragen. Hier setzt auch die Kritik Welzels an der positivistischen Staatsidee Liszts ein. Er nennt sie "individualistisch-liberalistisch" 30 und meint damit, daß sie außer dem utilitaristischen Ethos des Einzelindividuums keine Wertprinzipien genereller Art kenne: "Da Liszt als konsequenter Kausaldeterminist Staat und Recht nicht auf die inhaltliche Fülle und Würde einer Idee aufbauen konnte, mußte er bei der ,disziplinierten Gewalt' bleiben, ausgefüllt von den gesellschaftlichen Werturteilen der herrschenden Klasse. Dann aber wird das Wesen des Rechts hauptsächlich nur durch ein Negativum bestimmt, nämlich durch die eigene Begrenztheit im Interesse der individuellen Freiheitssphäre. Das involviert die weitere Folge, daß als letzte Substanz des Rechts das individuelle menschliche Dasein erscheint."3l Welzel hat darin recht, daß die machttheoretische Grundposition des Positivismus keine Erklärung und keinen normativen Maßstab für die allgemeine Geltung des sozialen Normensystems findet. Sie bleibt am Faktischen, an den gegebenen Machtbeziehungen hängen. Das erscheint in der utilitaristischen Lösung des Ordnungsproblems als zufällige und in der machttheoretischen Lösung als Zwangsordnung. Aber welche Lösung schlägt Welzel vor? Er will das Rechtssystem aus der wertindifferenten Funktionalität des mechanischen Denkens der kapitalistischen Gesellschaft befreien und auf eine allgemeine Basis stellen. Anstatt nun aber die Interessenpartikularität der bürgerlichen Ordnung durch Betonung des gesellschaftlichen Konsenses aufzuheben, sucht Welzel die Lösung in der extremsten der idealistischen Varianten, nämlich in der puren Ontologie. Da Welzels Angriff auf Liszt vor allem mit erkenntnistheoretischen Argumenten geführt wird, ist sein Gedankengang für uns von besonderem Interesse. Sehen wir uns deshalb seine ontologische Fundierung der Werte aufmerksam an. Sie liegt auch seiner finalen Handlungstheorie zugrunde.

30 Welzel, Naturalismus 1975,41. 3l Welzel, Naturalismus 1975, 65.

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2. Finale Handlungslehre (Welzel)

a) Die ontologische Basis Hans Welzel begann seine Überlegungen zum ontologischen Handlungsbegriff mit der Fage, was die Rechtsordnung berechtigt, an bestimmte Ereignisse in der Welt Rechtsfolgen zu knüpfen und an andere nicht. 32 Dazu stellt er zunächst fest, daß das Strafrecht nur menschliche Handlungen bewertet; über Ereignisse anderer Art sagt es nichts. Soll diese Differenzierung in zwei Klassen von Ereignissen nicht willkürlich sein, sondern sachliche Gründe haben, dann muß sie sich auf einen Unterschied in der Sache zwischen demjenigen Geschehen, das bewertet, und demjenigen, das nicht bewertet werden soll, stützen können. Welzel sieht die Berechtigung der rechtlichen Differenzierung des realen Geschehens in einem ontologischen Unterschied begründet und stellt sich die Frage, "welche ontologische Beschaffenheit eines Geschehens maßgebend ist, daß die Rechtsordnung gerade an sie ihre Wertprädikate knüpft, und daß Bestimmungen, die jene ontologischen Unterschiede nicht beachten, als ,Rudimente' einer überwundenen Strafrechtsauffassung gelten können. Es erhebt sich überhaupt das ganz allgemeine Problem, welche spezifischen Merkmale ein reales Geschehen aufweisen muß, damit es Träger oder Gegenstand strafrechtlicher Werte, insbesondere des Schuldvorwurfs, sein kann". 33 32 Nach eigener Auskunft (Strafrechtssystem 1961, IX) hat Welzel die Grundgedanken seiner Lehre zum ersten Mal 1931 in dem Aufsatz "Kausalität und Handlung" (zit. 1975,7) entwickelt. In den späteren Schriften sind die dogmatischen Aspekte der Lehre weiter ausgeführt, die philosophischen Grundlagen aber nur noch verkürzt wiedergegeben worden (so vor allem in Strafrechtssystem 1961 und Strafrecht 1969). Bereits in seiner Habilitationsschrift (Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, nachgedr. 1975, 29) greift er auf das, was in "Kausalität und Handlung" über die Genese des Wollens, über die fmale Überdetermination und über freie Selbstbestimmung gesagt wird, wie auf ein gesichertes Ergebnis zurück. Diese Methode des Verweises auf vermeintlich philosophisch abgeklärte Probleme behält er in seiner Auseinandersetzung mit Danner bei (vgl. Willensfreiheit 1969, 91); sie prägt auch die Formulierungen in seinem Lehrbuch zur Handlungstheorie, weshalb sie bis zu einem gewissen Grade ex cathedra daherkommen. Sich in der Auseinandersetzung mit Welzel besonders auf den Aufsatz ,,Kausalität und Handlung" zu stützen, rechtfertigt sich auch deshalb, weil Welzels dortige Argumente in der juristischen Debatte über das Schuldprinzip noch immer herangezogen werden, während seine anthropologischen und charakterologischen Gedankengänge zurückgetreten sind. Sehr deutlich dokumentiert sich Welzels Einfluß auf den Bundesgerichtshof, dessen berühmter Spruch zum strafrechtlichen Menschenbild bis in die Wortwahl hinein den Thesen Welzels nahe steht (vgl. BGHSt 2, 2(0). Mit Welzels Sprache decken sich folgende Ausführungen des Bundesgerichtshofs: Die Bestimmung von "Schuld" als "Vorwerfbarkeit" (Strafrechtssystem 1961,40); die Unterstellung, daß mit "Schuld" ein "Unwerturteil" verbunden sei (ebd. 39); die typische Verwendung des Wortes "angelegt" (ebd. 47: ,,Der Mensch ist ein ... auf Selbstverantwortung angelegtes Wesen: Das ist das entscheidende Kriterium, das ihn schon existentiell ... von der gesamten Tierwelt scheidet"); die Verwendung der Ausdrücke "freie ... Selbstbestimmung" beim Versuch, die Basis des Schuldvorwurfs anzugeben. Wie Welzel kam es also den Richtern darauf an, die Schuld auf eine Freiheit von kausalen Abläufen zu gründen. 33 Welzel, Kausalität 1975, 11.

32 Kargl

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Welzels Antwort auf diese Frage geht von der Vermutung aus, daß es neben dem durchgängig kausal bestimmten Geschehen Verlaufsformen ganz anderer Art gibt, als die mechanistisch-positivistische WeItsicht glauben machen will. Trifft die Vermutung ~u, so werden menschliche Handlungen dann strafrechtlich bewertbar, wenn ihre Entstehung eben dieser anderen Verlaufsform folgt als der, die wir bei der Kausalität vor uns haben. ,,Läßt sich eine neuartige (und zwar reale!) Ablaufsordnung feststellen, die neben der Kausalität steht und vielleicht in die Kausalreihen selbst lenkend eingreifen kann, so wäre möglicherweise darin die gesuchte ontologische Grundlage für die strafrechtlichen Wertungen gefunden."34 Nach einer theoretischen Basis für diese neuartige Determination mußte Welzel nicht lange Umschau halten. Er fand sie nicht nur in der späten Phänomenologie 35 und in den Ausläufern des Neukantianismus 36, sondern voll ausgearbeitet vor allem in der psychologischen Wahrnehmungslehre von Linke. 37 Als wichtigste Erkenntnisse der neueren Wahrnehmungspsychologie unterstreicht Welzel, "daß sich die Akte des Wahrnehmens, Vorstellens, Denkens, W ollens usw. auf etwas als ihren Gegenstand richten, das sie nicht selbst sind, das auch nicht ein Zustand oder Teil ihres aktuellen psychischen Erlebens ist, sondern das als einer selbständigen (realen oder irrealen) Schicht angehörig ihnen gegenübersteht". 38 Diese Erkenntnis vermittelt zunächst einmal nichts weiter als den in der Philosophie vorherrschenden Dualismus von Bewußtsein und objektiver Wirklichkeit. Es fragt sich nun, welcher Art die Beziehung zwischen dem Denken und der äußeren Welt ist. Müßte man sich die Beziehung als deterministisch im Sinne von außen nach innen vorstellen, verbliebe man im Denkmodell der Kausalität. Also kann es nur eine Beziehung sein, die in der psychischen Welt kein Analogon hat. Was hier miteinander in Verbindung tritt, ist der psychische Akt des "Meinens", des "Ergreifens", des "Vorstellens" eines bestimmten Gegenstandes, es ist die Intentionalität, durch die das Bewußtsein sich auf Gegenstände außerhalb seiner selbst richtet. Aber das Gerichtetsein der psychischen Akte als solches verankert Erkenntnis noch nicht in der objektiven Welt, und es vermag vor allem Freiheit nicht zu begründen. So steht Welzel vor der schwierigen Aufgabe, einerseits eine wesensmäßige Übereinstimmung von Denken und Gegenstand zu begründen, andererseits jedoch den Gegenstand nicht als Ursache des Denkens zu begreifen, weil sonst die Freiheit dem Kausalprinzip geopfert werden müßte. Seine in der Strafrechtsliteratur stereotyp wiederkehrende Formel 34 Welzel, ebd. 1l. 35 Vgl. etwa N. Hartrnann, Ethik 1935, 60l. 36 Siehe z. B. Rickert (Philosophie 1910) mit freilich anderem erkenntnistheoretischen

Ausgangspunkt als Welzel. 37 Linke, Wahrnehmungslehre 1929, insb. 55. 38 Welzel, Kausalität 1975, 12. Zur Kritik dieser Position bei Arthur Kaufmann vgl. Köhler, der von einer "psychologistischen Auffassung" spricht, "welche die Subjektleistung nur in die vorstellende Abbildung des schon vorgegebenen Gegenstandes setzt" (Fahrlässigkeit 1982, 389).

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von der" Überdetermination " kausaler Verläufe durch eine "andere Determinationsform" hat die Aufgabe bei näherem Zusehen nicht bewältigt. Welzel führt zur Begründung der "anderen Determinationsform" zunächst aus, daß der Verlauf der psychischen Akte von. der Beschaffenheit des intentionalen Gegenstandes strukturiert wird. Offenkundig ist dabei das Bemühen, die andere Ablaufsform in der Ontologie festzumachen 39: "Die Einsicht vollzieht sich innerhalb des Erkenntnisaktes durch das bewußte Sich-Stützen des Aktes auf die gegenständliche Struktur als seinen logischen Grund. Im Gegenstand selbst hat sich das Denken den Grund seiner Einsicht und die Gewähr seiner Richtigkeit zu suchen. Darum richtet er sich nicht nur auf den Gegenstand, sondern gerade nach ihm ... Die Intentionalität richtet das Denken nach der Gesetzlichkeit der Gegenstände; oder besser: vermöge seines intentionalen Charakters kann sich das Denken nach der Gesetzlichkeit der Gegenstände richten."4O Nachdem auf diese Weise auch für die neue Verlaufsform Ontologie geltend gemacht wurde, sucht Welzel nach dem zentralen Unterschied zu den ebenfalls ontologisch begründeten Naturereignissen. Er findet ihn in einer Reflexion auf die zeitlichen Verhältnisse der beiden Ereignisabläufe. Während bei der kausalen Ablaufsform das Frühere das Spätere bestimmt, ist es bei der neu gefundenen nicht-kausalen Ablaufsform ein Vorgestelltes, das z. B. in der Zukunft oder auch außerhalb aller Zeit angesiedelt sein kann und das durch ein Gegenwärtiges beherrscht ist, nämlich den Denkablauf. Das Vorgestellte wiederum kann nicht auf eine zeitlich frühere Kette von Ursachen und Wirkungen zurückgeführt werden, weil diese Kette den Gegenstand noch gar nicht ,,kennt", bevor ihn nicht das Bewußtsein vor sich hingestellt hat. "Die Richtung, die das Denken dabei einschlägt, die Schritte, die es hierfür unternimmt, können niemals durch ein Früheres kausalnotwendig bestimmt sein, da es diese Schritte stets aus dem intendierten Sachverhalt rechtfertigen muß. Die gegenständlichen Bestimmtheiten aber sind keine Realursachen hierfür - sie können ja, wenn sie z. B. der Vergangenheit oder der Zukunft angehören oder mathematischer Art sind, auch unwirklich sein - , sondern eben logische Grundlagen des Denkens."41 Diese logische Ordnung des Denkprozesses folgt der Einsicht in die Beschaffenheit des intendierten Gegenstandes, und diese Einsicht gehört für Welzel in die Dimension von "Sinn". So kann er als das wichtigste Merkmal, durch das sich die neue Ablaufsform vom Kausalnexus unterscheidet, den Ausdruck "sinnintentional" einführen. Von jetzt an ist für ihn die menschliche Handlung ein "sinnbeseelter Vorgang"42, den er den kausalen Gesetzmäßigkeiten gegenüberstellt, denen die Sinn-Intentionalität und daher das Werthaltige abgeht. In dem "sinnmäßigen" Geschehen ist das angelegt, was als "freie Selbstbestimmung" Vgl. hierzu auch Welzel, Handlungslehre 1949, 7. Welzel, Kausalität 1975, 13. 41 Welzel, ebd. 14. 42 Welzel, Strafrecht 1969, 41. 39

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- in aller Regel ohne weitere Explikation - in die juristische Literatur und Judikatur eingegangen ist. Denn die neue Verlaufsfonn folgt nicht einer Automatik, die subjektlos wie die Kausalität abrollt, sondern wird vom Ich aktiv gelenkt. Die Person bestimmt sich im intentionalen Akt selbst, allerdings nur nach Maßgabe der Einsichten, die sie in die Struktur des Gegenstandes gewinnt. Der zentrale Satz lautet: "Der sinn-intentional geregelte Denkverlauf ist keineswegs regellos, ,willkürlich', indetenniniert, sondern durchaus in jeder Beziehung detenniniert, aber nicht so, daß sein Ziel die blind-notwendige Folge eines in den Akten durch frühere Ursachen angelegten Prozesses ist, sondern so, daß das Ich seine Aktschritte nach den gegenständlichen Zusammenhängen selbst reguliert, sich auf sie stützend und gründend."43 Trotzdem will Welzel nicht sagen, daß das Denken jeglicher Kausaldetennination enthoben sei. Das Verhältnis von kausaler und sinn-intentionaler Ordnung bestimmt er des näheren so: Das Denken ist zwar mit dem gesamten seelischen und körperlichen Leben verknüpft. Insofern hängt die Existenz der Denkprozesse von den vorausliegenden Bedingungen im psychischen und physischen Apparat ab. Aber die Richtung, die das Denken nimmt, wird von diesen kausalen Faktoren nicht betroffen: ,,Liegt einmal - irgendwie kausal hervorgerufen - das Denken als realer seelischer Akt vor, so regelt sich der Vollzug dieses Aktes nach einer völlig unkausalen, sinn-intentionalen Gesetzmäßigkeit. So trägt und umfaßt die Kausalität die Intentionalität, ohne sie in irgendeiner Weise zu schmälern oder zu beeinträchtigen. Vielleicht bietet gerade das Zusammenbestehenkönnen beider Detenninationsarten die Gewähr dafür, daß der Sinn, der durch die Intentionalität dem Denken dessen Richtung gibt, auch in das kausale Geschehen Eingang finden kann."44 Mit dem letzten Satz ist eine These ausgesprochen, die in Welzels Handlungstheorie eine herausragende Stellung einnimmt: Die vom Sinn bestimmte Ablaufsfonn kann in die kausale eingreifen; beide Verlaufsfonnen sind Determinationsarten, wobei die erstere die letztere "überfonnt" und lenkt. Gelenkt werden die kausalen Prozesse von den "Vorstellungen", von dem Ziel her, das eine Person sich gesetzt hat. Wegen dieser Orientierung an einem Ziel kann die Lenkung, die durch aktives Eingreifen der Person an verschiedenen Stellen des objektiven Prozesses erfolgt, auch "teleologisch" genannt werden, oder, wie Welzel später sagen wird, "final". 45 Welzel faßt seine Überlegungen zur teleologischen Steuerung so zusammen: "Daraus folgt, daß das Geschehen, das vom Entschluß über die Willensimpulse zum Erfolg führt, eine gesetzte Sinneinheit ist, die sich durch das Moment der Sinngesetztheit aus dem übrigen kausalen Geschehen heraushebt. Bezeichnen 43 Welzel, Kausalität 1975, 14. 44 Welzel, ebd. 15. 45 Diese Tenninologie wird erstmals verwandt in ,,Naturalismus und Wertphilosophie

im Strafrecht" (1935). Siehe den Nachdruck dieser Arbeit in: Welzel, Abhandlungen 1975, insb. 94.

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wir diese Sinneinheit als Handlung, so folgt, daß der Handlungszusammenhang zwischen Erfolg und Entschluß kein bloß kausaler, sondern ein teleologischer Sinnsetzungszusammenhang ist. Der kausale Zusammenhang ist nur Teilkomponente des Sinnzusammenhanges, bestimmt und gelenkt durch die sinn-intentionale Gesetzlichkeit des Handlungszusammenhangs."46 Die ganze Handlung ist somit ein kompliziertes Gefüge von Vorgängen, deren dominantes Merkmal die Ausrichtung auf ein Ziel ist. Da das Ziel von der Person gewollt, also frei gesetzt ist, sind die Willensmotive ebenso wie die Denkrnotive nicht Ursache des Geschehens, sondern lediglich dessen logische Stützen. 47 Damit kann der Gesamtprozeß nur durch Annahme einer sinnhaften Steuerung durch das Ich verständlich gemacht werden. Welzel hat mit dieser Zusammenstellung von Thesen gefunden, was er für das Strafrecht suchte. Er konstruierte am Modell des Denkvollzuges einen Prozeß in der Welt, der sich durch seinen Ablauf von der Ordnung der Kausalität ontologisch unterscheidet. Dem Strafrecht war damit in dreierlei Hinsicht gedient: (l) Die Anknüpfung des Strafrechts an bestimmte Ereignisse in der Welt erscheint nicht mehr willkürlich. Die Unterscheidung zwischen bewertbaren und wertindifferenten Ereignissen hat nunmehr eine ontologische Basis: Sie besteht in dem Gegensatz zwischen sinn-intentionaler Ordnung und kausalen Prozessen, zwischen Handlungen und Naturereignissen. (2) Die Aufgabe, innerhalb der bewertbaren Ereignisse positive und negative Wertprädikate zu sondieren, kann ebenfalls die Ontologie übernehmen. Da die Erkenntnis sich nach dem Gegenstand richtet, liegt nicht im erkennenden Subjekt, sondern im Sein selbst der Grund für die Wertung. 48 So erhält nicht nur die Menge der überhaupt bewertbaren Ereignisse, sondern auch jene der strafbaren Handlungen eine ontologische Grundlage. (3) Schließlich können die negativ sanktionierten Handlungen einem Subjekt persönlich zugerechnet werden. Die "freie Selbstbestimmung" - ebenfalls aus dem ontologischen Unterschied von Handlung und Naturereignissen abgeleitet ermöglicht das strafrechtliche Schuldurteil "als das die Persönlichkeit, das Ich, sittlich belastende Werturteil". 49 46 Welzel, Kausalität 1975, 19.

Welzel, ebd. 18. Vgl. Welzel, Naturalismus 1975, 53: ,,Erkenntnis kann nur gewonnen werden, wenn das Ich seinen Blick auf die in den Vorstellungen repräsentierten Gegenständen selbst richtet und die in ihnen liegenden gesetzlichen Strukturen und Beziehungen begreifend heraushebt; wenn es in dem, was es erkennt, sich logisch auf den gegenständlichen Gehalt, den ,Sinn', stützt, sich aus ihm rechtfertigt und in ihm begründet ... Das Ich ist keineswegs bloß ,halb Schauplatz, halb Beobachter' des unabhängig von ihm stattfindenden kausalen Kampfes der Motive, um schließlich die Beute des überlebenden stärksten Motivs zu werden, sondern es reguliert aktiv die Schritte seines Denkens nach dem zu erkennenden Gegenstand; die Richtung, die es nimmt, ist nicht blindkausal ,von hinten' festgelegt, sondern bestimmt sich ,von vorn' nach dem zu erkennenden Gegenstand, dessen mögliche ihm immanente Sachstrukturen es untersucht und auf ihre logische Dignität prüft und danach verwirft oder annimmt." 49 Welzel, Naturalismus 1975,58. 47

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Welzels Beweiskette durchzieht die Behauptung einer fundamentalen Differenz zwischen zielgerichteten und bloß blind-kausalen Prozessen. Zum einen stattet die Differenz das Strafrecht mit einer ontologischen Besonderheit aus, zum anderen lastet sie dem Individuum seine Handlungsvollzüge als frei an, weil es die kausale Ordnung sinnhaft lenken soll. Mit dieser ontologisch fundierten Freiheitstheorie erhält das Strafrecht eine Basis für die Bewertung und zugleich ein Fundament für die Bestrafung. Es ist Weizeis unbezweifelbares Verdienst, daß er die Legitimation der staatlichen Strafe nicht in gefälligen, staatsorientierten Zweckmäßigkeiten, nicht im Herumdeuteln an dem Wort "Strafe" gesucht hat. Für ihn bedeutet Strafe, was sie trotz aller Reformen bis heute geblieben ist, ein Übel, das den Täter an Vermögen oder Freiheit, oft an der ganzen Person schädigt. Aus diesem Grunde bedarf die Strafe einer "starken" Legitimation. Wir haben bereits ausgeführt, daß sich die Schuldstrafe nach den Maßstäben der kognitiven Ethik nur rechtfertigen läßt, wenn man voraussetzen kann, daß der Täter das verhängte Übel "verdient". 50 Allein "Freiheit" läßt es als gerecht erscheinen, daß der Täter im Ausgleich für seine Tat leide. Welzel hat diesen Zusammenhang von Handlungstheorie und Straftheorie deutlich gesehen. 51 Deshalb mußte seine Freiheitkonzeption auf eine Straftheorie hinauslaufen, die Strafe mindestens auch als Vergeltung auffaßt. Nur wenn man auf die Vergeltungsidee zurückgreifen kann, dürfen die übrigen Zwecke, die das staatliche Strafen verfolgt, in der gängigen Praxis verfolgt werden. Welzel macht klar, daß das Schuldprinzip, das einer solchen Praxis zugrundeliegen muß, nur unter der Voraussetzung eines Anders-handeln-Könnens im Sinn der Willensfreiheit aufrechterhalten werden kann. Deshalb steht und fällt die Idee der Vergeltung, aber auch der Abschreckung mit der Idee der Freiheit. Weizeis . eigene Freiheitslehre ist allerdings nicht imstande, das Strafrecht in der beabsichtigten Weise ontologisch zu untermauern. Das ergibt sich in kognitionstheoretischer Sicht schon aus dem verfehlten epistemologischen Ansatz. Soweit die Auffassungen Welzels in diesem Punkt mit unserem Standpunkt differieren, verweise ich auf die Kapitel Biologie und Psychologie der Kognition. 52 In der folgenden Kritik soll es daher allein um Widersprüche und Lücken gehen, die in der Lehre Welzels enthalten sind. 53

Siehe Kap. 2 11 3d. Welzel, Strafrecht 1969, 138. Die Behauptung, daß die langanhaltende Kontroverse um die ,,richtige" strafrechtliche Handlungstheorie nichts gebracht habe, ist schon wegen des logischen Zusammenhangs von Handlungs- und Straftheorie unrichtig. Man kann weder eine konsistente Dogmatik ohne Blick auf eine straftheoretische Konzeption betreiben, noch kann man eine Straftheorie entwickeln, die von handlungstheoretischen Prämissen abstrahiert. 52 Vgl. Kap. 1 u. 2. 53 Die "formal-fmalistische" Handlungstheorie von O. Weinberger (vgl. Handlungstheorie 1983; Strafrecht 1983, 199) ist nicht berücksichtigt, weil sie die hier kritisierte Freiheitslehre Welzels nicht übernommen hat. 50 51

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b) Immanente Widersprüche aa) Zur Freiheitslehre Was die Idee der "freien Selbstbestimmung" als der ontologischen Grundlage der Schuldstrafe angeht, ist festzustellen, daß Welzel in diesem fundamentalen Punkt überhaupt nicht argumentiert. Nachdem er sich den Ablauf des Denkakts nicht nach einer kausalen, sondern sinn-intentionalen Ordnung vorstellt, behauptet er, daß sich das Ich beim Denken zum jeweils nächsten Schritt gemäß dieser Ordnung selbst bestimme. Für diese Behauptung fehlt nun jegliches Argument. Welzel fügt seiner Sicht des Denkablaufs die freie Selbstbestimmung einfach hinzu und zwar so, als ergäbe sich Freiheit zwanglos aus der neu konstruierten anderen Ablaufsform des menschlichen Handelns. Offenbar versteht Welzel die Freiheitslehre als bloße Paraphrase seiner neuartigen Determinationslehre. Diese Annahme läßt sich aber nicht einmal halten, wenn man die Richtigkeit von Welzels Prämissen voraussetzt. Denn was Weizei bestenfalls zeigt, ist die eigene Ablaufsordnung des Denkens. Diese Theoriebasis läßt die Schlußfolgening zu, daß es zwei verschiedene Determinationsformen gibt, die sich überlagern: die Existenz des Denkakts ist kausal, sein Verlauf sinnintentional "determiniert". Damit hat man zwei verschiedene Typen von Gesetzmäßigkeit konstruiert, aber nichts über eine freie Selbstbestimmung gesagt. Wie ist es zu erklären, daß einem so scharfsinnigen Denker wie Welzel das Problematische des Übergangs von Determinationstypen zur Selbstbestimmung verborgen blieb? Man darf wohl annehmen, daß Pothast recht hat, wenn er auf die besondere Emphase verweist, mit der die Position des "ontologischen Indeterminismus" Begriffe wie "Ich", "Selbst", "Subjekt" oder "Bewußtsein" behandelt. 54 Sowohl für die Neukantianer wie die Mehrzahl der Phänomenologen, auf die sich Welzel beruft, besteht die Funktion des Ich darin, eine Instanz zu begründen, die als transempirische Entität außerhalb gesetzmäßiger Zusammenhänge Handlungen spontan erzeugen kann. Es wird also nicht weniger behauptet, als daß menschliche Handlungen ihrem Sein nach nicht determiniert, d. h. nicht durch einen vorausliegenden Zustand der Welt oder der persönlichen Psyche bestimmt seien. Mit anderen Worten, dem Denken wird von dieser Autorengruppe ein "reines Ich" als Subjekt beigegeben. Dieses reine Ich übernimmt die Aufgabe der Selbstmodiftkation, der spontanen Selbsterzeugung außerhalb der Gesetzmäßigkeit vorausliegender Umstände. Dieses Ich vermag sich dann auch über seine eigene Vergangenheit, über das affektlogische Bezugssystem des Bewußtseins und über die Bedingungen der Umwelt gleichsam wie in einem Akt der Urschöpfung hinwegzusetzen. Eine solche Interpretation der Selbstbestimmung ist selbst innerhalb der Vertreter der Bewußtseinsphilosophie in hohem Maße umstritten geblieben. "Die Deterministen in der Bewußtseinsphilosophie haben aber die 54

Vgl. Pothast, Freiheitsbeweise 1987,348.

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Annahme eines reinen Ich immer für illegitim gehalten und erklärt, man müsse und könne bei der Deutung psychischer Phänomene ohne eine solche transempirische Instanz auskommen."55 Umso erstaunlicher ist, daß Welzel die These vom reinen Ich für so evident hielt, daß er glaubte, sie nicht begründen zu müssen. Nirgendwo findet sich bei ihm ein Beleg für die bis heute in der juristischen Literatur stereotyp wiederholte Behauptung, daß das Ich sich zu seinen Handlungen sinn-intentional selbst bestimme. bb) Zur "anderen" Ablaufsordnung Nachdem sich Welzels Freiheitslehre im Kern als eine Erschleichung erwiesen hat, kann sie sich nur noch sekundär auf die Behauptung stützen, daß menschliche Handlungen emer anderen Ordnung folgen als Naturereignisse. Als wesentliches Argument für die Akausalität der Denk- und Willensakte wird deren Sinn-Intentionalität angeführt. Denken ist danach an Handlungszielen ausgerichtet, die auf intentionale Gegenstände verweisen. Daraus entnimmt Welzel die Vorstellung, daß ein Zukünftiges und nicht ein Früheres die Gegenwart bestimme. Kausalität sei aber Bestimmung des Späteren durch das Frühere, das wiederum durch ein noch Früheres bestimmt sei. 56 Wenn jedoch ein Künftiges, z. B. das Ziel des Reichtums, Einfluß auf die Gegenwart, nämlich den Zustand der Armut ausübt, so könne dieser Einfluß gemäß der allgemein anerkannten Definition nicht kausaler Natur sein. Entscheidungen und Handlungen auf dem Wege zum Reichtum seien fmal und nicht kausal gesteuert. Die Schwäche dieser Beweisführung ist im Grunde dieselbe wie bei der Begründung der Freiheit: Welzel führt Kategorien ein, von denen er behauptet, daß sie im Zustand der Welt noch nicht enthalten seien. Wie zuvor das ,,Ich", so lagert er jetzt ,,ziele" aus der Psyche, aus dem Bewußtsein, aus dem affektlogisehen Bezugssystem aus. Diese Ziele werden als etwas ,.Fernes", noch nicht Reales, in der Zukunft liegendes behandelt und von jeglichem Nährboden isoliert, in dem sie gewachsen sein könnten. So gesehen kann natürlich das "Feme" nicht als ursächlicher Faktor für das gegenwärtige Handeln genommen werden. Die Trivialität einer solchen Aussage liegt auf der Hand. Aber es ist eben nicht das Ziel als ein irreales Gebilde, das den Handelnden anleitet, es ist vielmehr der Wunsch, das Ziel zu erreichen. Dieser Wunsch oder Wille ist ein höchst realer Faktor, der in der Gegenwart als affektive Dynamik die Handlung steuert, und der in jeder Hinsicht vom Zustand des Gesamtsystems ,,Lebewesen" abhängt. Der ursächliche Umstand, den Welzel bei intentionalen Handlungen vermißt, ist also nicht das Ziel, sondern der Umstand, daß sich der Handelnde von einem bestimmten Ziel eine Vorstellung macht und sich nach dieser Vorstellung richtet. Welzel bemerkt somit nicht den Unterschied zwischen Zielen und dem Haben 55 56

Pothast, Freiheitsbeweise 1987, 349. Welzel, Kausalität 1975, 13.

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von Zielen: Das eine ist in der Tat ein Zustand der Welt, der in der Zukunft liegt und der, wenn man will, als akausaler "Grund" des Handelns bezeichnet werden kann. Das andere ist ein Zustand der Welt, der als psychische Disposition dem Handeln vorausliegt und damit durchaus einer kausalen Erklärung zugänglich ist. Nicht die Ziele, sondern Wünsche, Absichten, Entscheidungen und alle anderen mentalen Zustände haben eine determinierende Funktion beim Zustandekommen von Handlungen. Als Vorstellungen des Späteren trägt das BewuBtsein kausal zu dem bei, was auf diese Vorstellungen zeitlich folgen mag.

Wenn auch nach dem Gesagten die Spekulation auf die zeitlichen Verhältnisse von Ziel und Handlung nicht das Geringste an der (Struktur-)Determination aller Ereignisse zu ändern vermag, so hat sie doch die entscheidende Schwäche der kausalen Handlungslehre im Strafrecht offengelegt: Menschliche Handlungen erschöpfen sich nicht in "gewillkürtem Körperverhalten" (Beling), im "Bewirken einer Veränderung in der Außenwelt" (v. Liszt). Sie sind zugleich immer auch kognitive Akte, die - wegen ihrer Strukturdeterminiertheit - inhaltlich bestimmt sind. Deshalb kann bei der Beschreibung des Handlungs- und Erfolgsunrechts nicht vom subjektiven Faktor der" bewußten" Zwecktätigkeit abgesehen werden. In diesem Sinne stellen "Vorsatz"57 und Körperbewegung eine untrennbare Einheit dar. Hinter diesen Fortschritt, der das ungeschmälerte Verdienst Weizeis ist, darf keine strafrechtliche Theorie zurückfallen. Aber Welzel wollte wesentlich mehr: Sein fmaler Handlungsbegriff sollte zuallererst Freiheit und damit Schuld begründen. Das belegt deutlich der nächste Argumentationsgang. Welzel begnügt sich nicht mit der These, daß sich Menschen an Zielen orientieren. Er will diese Orientierung zugleich aus jeglichem Determinationszusammenhang herauslösen. Wie schon die Vergangenheit, so soll auch die Zukunft nicht determinieren. cc) Zur "Logik" intentionaler Gegenstände Welzel meint, man muB sich die Beziehung zwischen dem Denken und seinen Gegenständen als eine "logische" vorstellen: Psychische Akte ,,richten" sich nach den intendierten Gegenständen, und an den Gegenständen treten logische GrundFolge-Beziehungen auf, die von den kausalen Relationen zwischen einer Ursache und ihrer Wirkung zu unterscheiden sind. Um dieses Argument zu erschüttern, bedarf es nicht des Aufwands der Kognitionstheorie. Es genügt vielmehr die Feststellung, daß es eine logische Grund-Folge-Beziehung nur zwischen Sätzen (Aussagen, Propositionen) geben kann. Die Logik beschäftigt sich allein mit bestimmten formalen Verhältnissen zwischen Aussagen. Unterstellt man, daß logische Aussagen über Gegenstände möglich sind, so wird das Sich-Orientieren an solchen Gegenständen nicht zu etwas, was deswegen logisch aus der Beschaffenheit des Gegenstandes folgt. Was das Individuum veranlaßt, sich an der 57 Die nähere Bestimmung dessen, was ich unter "Vorsatz" verstehe, erfolgt weiter unten; vgl. Kap. 5 I 3b.

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"Logik" des Gegenstandes zu orientieren, ist nicht die Logik selbst, sondern die Disposition, sich gemäß solchen Strukturen zu verhalten. Diese Disposition ist ein Zustand in der Welt, nämlich eine nicht-logische Eigenschaft der Person, die kausal zustande gekommen ist und ihrerseits kausal auf anderes einwirkt. Macht man sich eine logische Struktur, einen bestimmten "Grund" zu eigen und handelt man entsprechend "logisch", folgerichtig, zielorientiert, zweckrational etc., so ist nicht einzusehen, weshalb das Handeln in eben dieser Hinsicht nicht kausal sein sollte. Als ursächlicher Faktor für das Denken nach logischen Prämissen läßt sich die Lebensgeschichte des Individuums plausibel machen. Welzel meint dagegen, daß als Ursachen nur "blinde" Ereignisse in Betracht kommen. Auf Ziele, Werte oder Erkenntnisgegenstände gerichtete, "sehende" Ereignisse sollen - wie gesagt - der akausalen Ablaufsform zuzuordnen sein. Diese Differenzierung läßt sich nicht einmal unter den fragwürdigen Prämissen von Welzels Theorie rechtfertigen. Weshalb sollte die berechnende Vernunft nicht ebenso in die Kausalreihe von Weltzuständen eingespannt sein wie die vermeintlich blinde Unvernunft? Auch die Finalität hat ihre Ursache. Pothast verweist in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Kenntnisse der Kriminologie über die Sozialgeschichte "stabiler" Krimineller und fahrt fort: "Daß ein bestimmter Handelnder regelmäßig die Erfolgsaussichten seiner Überfälle rational prüft und sich nach dem Ergebnis dieser Prüfung richtet, ein anderer Handelnder aber nicht, kann durchaus etwas mit kausalen Faktoren in der Geschichte dieser beiden Personen (z. B. Erziehung, Heredität, frühere Erfahrungen) zu tun haben und mit Rekurs auf solche Faktoren kausal erklärt werden."58 Unabhängig von solchen Überlegungen, die die immanenten Schwächen von Welzels Konzept aufzeigen, gilt für die biologische Kognitionstheorie: Jedes Wissen ist subjektabhängig, d. h. außerhalb des erkennenden Subjekts gibt es für das Subjekt keine Logik des Gegenstandes, keine Natur der Sache, an der es sich wie an einem objektiven Datum orientieren könnte. Wäre eine derartige objektive Erkenntnis möglich, würde sie jegliche Wahlakte und Entscheidungen überflüssig machen. Die Logik des Gegenstandes müßte an Stelle des Subjekts entscheiden. Zu solchen Ungereimtheiten gelangt, wer Freiheit mit einer ,,realistischen" Erkenntnistheorie verteidigen möchte. Hier zeigen sich wieder die Grenzen einer Methode, welche Metaphysik mit empirischen Mitteln betreiben will. Dieser Methode scheint mir besonders das Theorem von der sinn-intentionalen Überformung kausaler Prozesse verpflichtet zu sein. dd) Zur "fmalen Überdetermination" Ähnlich wie Nicolai Hartmann 59 verwirft Welzel einen Monismus der Determinationsformen. Neben der Kausaldetermination soll es zusätzlich noch die Final58 Pothast, Freiheitsbeweise 1987, 354. 59 Vgl. Hartmann, Ethik 1935, 597: ,,Freiheit ist nur möglich, wo wenigstens zwei

Typen der Determination in einer Welt einander überlagern; nur da ist es möglich, daß

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detennination geben, die die Vorgänge in der Welt von einem Endpunkt oder Ziel her bestimmt. Mit dem Eingreifen finaler Detenninanten ist nicht etwa impliziert, daß empirische Gesetze außer Kraft gesetzt würden, vielmehr wird behauptet, die kausalen Prozesse würden ohne Unterbrechung ihres kausalen Verlaufs "überfonnt" oder "überdetenniniert". Hartmann spricht von einer ,,Ablenkung" des Naturvorganges durch die causa fmalis: "Das eben ist das Eigentümliche des Kausalnexus, daß er sich zwar nicht aufheben oder abbrechen, wohl aber ablenken läßt. Der weitere Verlauf des Prozesses ist dann ein anderer, als er ohne die neue Detenninante gewesen wäre; aber von den ursprünglichen Kausalmomenten in ihm ist deswegen keines verkürzt, sie wirken sich im abgelenkten Prozeß alle ebenso hemmungslos aus, wie sie es im nicht abgelenkten getan hätten." 60 Was den Kausalprozeß ablenken läßt, ist nichts anderes als der Wille, der einer "höheren" Detenninationsfonn folgt. "Frei" können die Individuen nur sein, soweit sie sich für die "Überlagerung" der verschiedenen Detenninanten entscheiden und sich nicht vom Kausalnexus treiben lassen. 61 Die dem Willen eigentümliche Detennination ist die Finalität, die sich VOn bloßer Indifferenz einerseits und von kompletter Detennination andererseits unterscheidet. Mit der Annahme dieser neuen Detenninationsfonn glauben Hartmann und Welzel, drei Probleme gelöst zu haben, die bei jeder Begründung sittlicher Freiheit auftreten. Die Probleme sind: (a) eine Fonn von Freiheit zu finden, die mit der These eines allgemeinen kausalen Detenninismus vereinbar ist; (b) einen Indetenninismus zu überwinden, der ,,Lücken" in die detenninistische Struktur der Welt reißt; (c) dennoch einen Ort anzugeben, wo Freiheit und persönliche Wahl trotz vollständiger "Detennination" der Ereignisse in der Welt möglich sind. Als einen solchen Ort bezeichnen die Autoren die" Überlagerung" der zwei Detenninationsfonnen. Frei können danach Personen nur sein, wenn die "Überlagerung" möglich ist; unfrei sind sie, wenn sie lediglich von der kausalen Detenninationsfonn, z. B. von ihren Bedürfnissen bestimmt werden. Als finale Detenninanten kommen in diesem Entwurf vor allem Werte in Frage. Entscheidet sich das Individuum für die Werte und damit gegen den Kausalnexus, so handelt es "sittlich relevant", also auch dem Sittengesetz gegenüber frei. 62 eine höhere Determination der niederen ihre Determinanten einfügt, so daß von der niedrigeren aus gesehen ein wirkliches Plus an Determination zustandekommt." 60 Vgl. Hartmann, ebd. 59l. 61 Hartmann, ebd. 613: ,,Die Sonderstellung des freien Wesens in der determinierten Welt hat ihren kategorischen Sinn darin, daß in ihm zwei heterogene Gesetzlichkeiten aufeinanderstoßen, und zwar beide mit dem Anspruch, die Welt zu beherrschen. Seinsgesetzlichkeit und Sollensgesetzlichkeit, kausale und teleologische Determination, müssen in ihm gleichsam die Walstatt ihres Wettkampfes um die Welt haben. Und nur solange der Kampf lebendig ist, gibt es ein freies Wesen. Mit dem Siege der einen oder anderen wird der Mensch einseitig (monistisch) determiniert und damit positiv unfrei." 62 Hartmann, ebd., 600: ,,Es ist ein proton pseudos, daß sittliche Freiheit Undeterrniniertheit bedeutet und nur in einer wenigstens partial indeterrninistischen Welt bestehen könne. Sie besteht vielmehr unbehindert in der total determinierten Welt. Thre einzige Bedingung in einer solchen ist die, daß die Determination der Welt keine monistische

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Der Tradition entsprechend nennt Welzel diese Fähigkeit, sich nach finalen Gesichtspunkten (Werten) zu bestimmen, "Willensfreiheit".63 Sie ist die Basis von Schuld. Die Kritik am "Überlagerungstheorem" muß an der Prämisse ansetzen, daß die finale Determination die allgemeinen Kausalbeziehungen nicht durchbricht. Träfe diese Aussage zu, so würde sie einen Begriff von "Ursache" und von "Kausalität" einführen, der mit seiner herkömmlichen Bedeutung nichts zu tun hat. Unterstellt man, daß das Kausalprinzip traditionell interpretiert wird, dann ist die Überlagerungstheorie nicht schlüssig. Demnach ergibt sich für Welzels zentrales Argument folgendes Dilemma: Es ist entweder willkürlich oder widersprüchlich. Im Verständnis der Philosophie, der Erfahrungswissenschaften, aber auch der Alltagssprache besagt das Kausalprinzip, daß jedes Ereignis der Welt eine Ursache hat und auf diese Ursache - ob direkt oder "abgelenkt" - folgt. Desweiteren ist impliziert, daß die Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung allgemeinen Gesetzen unterliegt. Mit der Annahme von Regelhaftigkeit oder Gesetzmäßigkeit wird einem bestimmten Typ v~n, Ursachen ein bestimmter Typ von Wirkungen zugeordnet. Der relevante Zug an der Bedeutung kausaler Verhältnisse 64 ist also dieser: Wenn wir behaupten, in einer Welt zu leben, deren Ereignisse sämtlich auf kausalem Weg zustande kommen, dann sagen wir gleichzeitig, daß etwas anderes nur hätte geschehen können, wenn andere Bedingungen vorgelegen hätten oder die Welt nach anderen Gesetzen organisiert wäre. Mit dieser Kemthese des Kausalprinzips ist die Annahme unvereinbar, es gebe in der Welt nicht-kausale Determinanten, die die kausalen Prozesse "ablenken". Denn "ablenken" kann nur heißen, daß die Gesetzmäßigkeit der Ereignisabfolge durchbrochen wird. Soll das Überlagerungstheorem diesen Sinn erhalten, dann ist der übliche Gebrauch des Wortes "Kausalität" verlassen. Es existieren dann Ursachen, die ihrerseits keine Ursachen haben, aber bestimmte Wirkungen hervorrufen. Eine solche Art von "Kausalität" ist nicht von dieser Welt. Sie gehört in das Reich der metaphysischen Spekulation.

sei, d. h. keine solche, die in einem einzigen, allbeherrschenden und alles auf ein Niveau herabziehenden Deterrninationstyp aufginge." 63 Vgl. Welzel, Naturalismus 1975, 109; ders., Gesetz 1975,307; ders., Persönlichkeit 1975,203. 64 Vgl. hierzu explizit Kant, Vernunft 1962, 238. Sowohl Welzel wie auch Hartmann berufen sich hinsichtlich des Überlagerungstheorems zu Unrecht auf Kant. Um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln, hat Kant die Annahme des Zusammenbestehens von Freiheit und Kausalität mit der weiteren Annahme verknüpft; daß beide verschiedenen Welten angehören. Kant war sich somit des metaphysischen und unbeweisbaren Charakters seiner These von Freiheit in einer intelligiblen Welt immer bewußt. Man kann deshalb seine ,,zweiweltenIehre" als Ausdruck wissenschaftlicher Disziplin verstehen, die Hartmann und Weizei vermissen ließen, als sie auf unsere Welt projizierten, was Kant nur in einer anderen Welt zu denken wagte.

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In keiner besseren Position befindet sich, wer die vorherige Begriffswillkür venneidet und dennoch von kausaler "Überfonnung" spricht. Diese Position muß nämlich zwei Sätzen zustimmen, die sich widersprechen. Im ersten Satz wird der allgemeinen Kausalverflechtung des Weltgeschehens beigepflichtet, im zweiten Satz wird angenommen, daß einige Ereignisse der Welt nicht unter dem Kausalprinzip stehen, denn bei ihnen ist eine autonome Selbstdetennination des Subjekts eingetreten und hat den Weltlauf nach fmalen Gesichtspunkten abgelenkt. Beide Sätze können nicht zugleich nebeneinander bestehen. Entweder ist die Welt detenniniert oder sie ist es nicht. Daß Welzel und Hartmann in den Widerspruch geraten sind, hängt damit zusammen, daß sie den Vorwurf der Willkürlichkeit ihrer These venneiden wollten. Um die irrealen Züge ihrer Freiheitstheorie zu verdecken, haben sie ihr einen detenninistischen Mantel übergehängt. Das aber hat der Konstruktion von der finalen Überdetennination weder den Charakter des Willkürlichen noch des Widersprüchlichen genommen. Was soll es heißen, wenn die Existenz menschlicher Handlungen als kausal, ihr Verlauf als fmal bestimmt behauptet wird? Soll damit zum Ausdruck gebracht werden, daß es irgendein Existierendes gibt, das unbestimmt ist, das Veränderungen hervorrufen kann, ohne sie als Bestimmte hervorzurufen? Soll es bloße Existenzen ohne ein Existierendes von spezifischen Eigenschaften geben? Nach Welzels 65 Deutung der Art, wie Kausalität und Finalität zusammentreffen, müßte es Ursachen geben, die völlig Unspezifisches produzieren, das wiederum von außen, nämlich von Zielen her, bestimmt wird. Schließlich ist unerfmdlich, wo hier Freiheit noch Platz haben soll, wenn die ,,ziele" unbefangen aus den Gegenständen sprechen sollen. 66

Man sieht, das Hauptmanko der Handlungslehre von Welzel besteht darin, daß sie weder einen zureichenden Begriff von Freiheit noch von Unfreiheit besitzt. Von Freiheit nicht, weil Welzel die Finalität der Handlung von den Gegenständen her bestimmt sieht. Von Unfreiheit nicht, weil die Kausalität der Handlung final überdetenniniert sein soll. Als Gründe für die halbherzigen Schritte in der einen und der anderen Richtung lassen sich unschwer die Fragestellungen ausmachen, vor die sich Welzel als Strafrechtler gestellt sah: Einerseits wollte er die strafrechtlichen Wertungen, andererseits die strafrechtliche Haftung rechtfertigen. Die Widersprüche resultieren nun daraus, daß er beide Male zur vermeintlich stärksten Legitimation, zum ontologischen Argument, griff. Die Verankerung der juristischen Wertung im Sein, in den Gegenständen, in der ,,Natur der Sache" etc. brachte es mit sich, daß er die Dimension der Freiheit verkürzen mußte. Nicht die Menschen entscheiden über das Wahre und Gute, sondern die Sittlichkeit selber, die in der Welt als ein objektives Wissen erkennbar ist. Andererseits durfte Welzel den detenninistischen Standpunkt, der mit der objektiven Erkenntnis korreliert, nicht strikt durchführen, da er sonst die ontologische 65 66

Vgl. Welzel, Kausalität 1975, 15; ders., Strafrechtssystem 1961, 50. Siehe Welzel, Naturalismus 1975, 108.

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Fundierung der Strafe in Gefahr gebracht hätte. Also behauptete er ein menschliches Freiheitsvermögen, das über den Willen in die Welt der Kausalität eingreifen könne. Damit war Strafe auf dem Fundament der Schuld aufgebaut, die ihrerseits Freiheit voraussetzt. Dieses Fundament ist jedoch - soviel dürfte klar geworden sein - nicht aus stichhaltigen Argumenten zusammengesetzt. Eine derartige Beweisführung ist überdies nicht einmal erforderlich, um strafrechtliche Verantwortlichkeit zu begründen. Welzel hat also - geht man einmal von der Stichhaltigkeit der finalen Handlungslehre aus - zuviel bewiesen. Das haben die kognitionstheoretischen Überlegungen zum menschlichen Willen und zur Verantwortlichkeit hinreichend belegt. Im folgenden wird es deshalb nur noch darauf ankommen, diese Überlegungen zu einem Handlungsbegriff zu bündeln, der für die Lösung zentraler strafrechtlicher Probleme fruchtbar gemacht werden kann.

3. Kognitive Handlungslehre a) Konvergenzhypothese

aa) Handeln als Entscheidungsverhalten Eine strafrechtliche Handlungslehre muß v.or allem auf zwei Fragen Antworten suchen: Sie muß erstens jene Faktoren ausfmdig machen, durch die sich menschliche Handlungen von den übrigen Ereignissen in der Welt unterscheiden, und sie muß sich Klarheit darüber verschaffen, ob diese Faktoren das Handeln determinieren oder nicht. Je nachdem, ob man die Lösung des Handlungsproblems dem positivistischen oder dem idealistischen Theoriemuster entnimmt, fallen die Antworten auf beide Fragen - wie wir gesehen haben - grundSätzlich verschieden aus. Die Aussagen der "Kausalisten" beschränken das Handlungsgeschehen auf die empiristischen Faktoren der Mittel, der Bedingungen und der Situation. Demgegenüber verkürzen die ,,Finalisten" den Handlungsbereich auf die normativen Kategorien der Zwecke, Ziele, Werte oder Ideen. Erstere ignorieren die Eigenmächtigkeit der kognitiven Funktionen, die dem Handeln Richtung geben, letztere die Eigenmächtigkeit der situativen Strukturen, die das Handeln in seiner Gerichtetheit auch scheitern lassen können. Beiden Positionen korrespondieren Ordnungsvorstellungen, die jeweils zu einer ,,Extrem"-Lösung des von Hobbes formulierten Ordnungsproblems führen. Die Kausalisten müßten bei konsequenter Akzentuierung der äußeren Faktizität des Handelns zu einem beliebigen Ordnungsbegriff gelangen. Ein solcher Begriff bedeutet einen eklatanten Verzicht auf eine Theorie der Ordnung. Die Zufalligkeit der Ziele im Utilitarismus und die Partikularität historischer Lagen im relativistischen Historismus sowie in den machttheoretischen Varianten der Politologie bezeugen dies. 67 Die ,,Finalisten"

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haben zwar einen Begriff von Ordnung, aber er vermag Öffnung und Wandel nicht zu erklären. Das liegt daran, daß sie den adaptiven und darum notwendig kontingenten Charakter des Handeins aus ihrem Konzept eliminiert haben.lnfolgedessen erstreckt sich der Theorieverzicht der fmalistischen Lösung eher auf die Handlungsebene. Daraus resultiert für die kausalistische und die fmalistische Konzeption des Handelns ein jeweils typisches Dilemma: entweder eine zureichende Theorie der Ordnung (Normativismus, idealistischer Rationalismus), dann eine unzureichende Theorie der Handlung (Eliminierung der dynamisierenden Kräfte) - oder eine zureichende Theorie der Handlung (äußere und innere Bedingungen 68), dann keine befriedigende Theorie der Ordnung (Zufalligkeit der Ziele, der historischen Machtverhältnisse). Will man diese charakteristischen Dilemmata überwinden, so steht man vor dem Problem, Handlung und Ordnung, Situation und Gerichtetheit, Utilität und Normativität integral zu verknüpfen. Einen brauchbaren Ansatz für die Integration handlungs- und ordnungstheoretischer Extrempositionen haben wir im Vierfunktionenschema von Parsons gefunden. An entscheidender Stelle ist die Handlungskonzeption von Parsons allerdings von uns korrigiert worden: Der Voluntarismus mußte der Theorie des Strukturdeterminismus weichen. So stellt die kognitive Handlungstheorie, die hier vertreten wird, eine Kombination aus dem Parsonsschen Vierfunktionenschema und Maturanas Erkenntnisbiologie dar. Damit soll vermieden werden, daß der feste Grund, auf dem Parsons seine Handlungstheorie errichtet hat, durch Spekulationen über die Willensfreiheit wieder verspielt wird. Man kann deshalb sagen, daß erst der Einbau der autopoietischen Konzeption der Lebewesen in das Vierfunktionenschema die von Parsons anvisierte Konvergenz von Idealismus und Positivismus überwindet. Der Gedanke der Autopoiese - so zeigt die nachfolgende Skizze - ist freilich im Theoriegebäude von Parsons bereits rudimentär angelegt. Der Ausgangspunkt von Parsons Erörterungen in ,,Aktor, Situation und normative Muster" ist eine typisch ,,konstruktivistische" Feststellung: ,,Ein Aktor kann insofern als ,Dauerproblem ' aufgefaßt werden, als bestimmte Muster beobachtet werden können, die sich nicht direkt auf Merkmale der Situation reduzieren lassen, in der er handelt."69 Mit dieser Feststellung greift Parsons auf das in der Biologie entwickelte Schema eines ,,Formmusters" des Organismus zurück, das dieser in seinen Beziehungen zur Umwelt aufrechterhält oder annäherungsweise 67 Vgl. unsere Darstellung der "zufalligen Ordnung" und der ,,zwangsordnung" in Kap. 3 11 2. Zum Begriff des partikularistischen bzw. relativistischen Historismus vgl. Parsons, Social Action 1968, 478, 581, 590. Die historische Schule der Ökonomie in Deutschland stellt das Musterbeispiel einer solchen Position dar. 68 Für die kausale Handlungslehre muß die Einschränkung gelten, daß sie die ,,inneren" Faktoren, das gesamte affektlogische Bezugssystem des Handelnden vernachlässigt. Insofern besitzt die kausalistische Position etwa Franz v. Liszts keine "zureichende" Theorie der Handlung. 69 Parsons, Aktor 1986, 64.

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verwirklicht. Diese ,,Muster" verleihen dem Organismus eine gewisse Unabhängigkeit von seiner Umwelt bzw. von seiner Situation. Er ,,reagiert" nicht bloß auf deren Stimuli, sondern ,,nützt" die Situation, um seine Formmuster voranzubringen. Die Beziehungen zur Situation sind selektiv und damit keine der reinen Abhängigkeit. Überträgt man den Gedanken der relativ autonomen Muster vom biologischen Organismus auf den menschlichen Aktor, so stoßen wir bei der Suche nach den Gründen für Gleichföimigkeiten im Handeln auf individuelle Merkmale, die wir gewöhnlich als "Charakterzüge" bezeichnen. Wie im Fall des Organismus liegt auch hier ein komplexes System von Wechselbeziehungen zwischen dem Aktor, den dominanten Charakterzügen und der jeweiligen Situation vor. An anderer Stelle identifiziert Parsons diese stabilen Verhaltensmuster als den "Bewußtseinszustand" des Aktors, der in den begrifflichen Bezugsrahmen des Handlungsschemas die "subjektiven Kategorien" einführt. 70 Im Fall des Handeins erlangen einige der kognitiven Zustände eine "normative" Bedeutung für den Aktor. Sie machen aus, daß der Handelnde nicht nur an einer Situation, sondern gleichzeitig an normativen Mustern orientiert ist. Welzel hat also nur insofern recht, als der Handelnde auch teleologisch aufWerte hin orientiert ist. Bezüglich der Verwirklichung dieser Wertmuster sind ihm jedoch durch die Eigenschaften der Situation (Mittel und Wege) stets einschränkende Bedingungen auferlegt, zu denen zweifellos auch der Körper des Handelnden zählt. Deshalb ist die Finalität nur einer von mehreren Handlungsmodi im Gesamt der kognitiven Orientierung. Zumindest die konditionalen Gesichtspunkte fließen ebenfalls als Objekte der Kognition in die Beurteilung der Zielverfolgung ein. Mit dem Postulat der gleichzeitigen Orientierung des Handelnden an konditionalen und normativen Faktoren ist eine wesentliche Komponente des Handlungsprozesses angesprochen, nämlich das Problem der "Wahl" oder ,,Entscheidung" zwischen den handlungsleitenden Elementen. Denn es ist für den Parsonsschen Handlungsbezugsrahmen (Ziele, Mittel, Normen, Symbole) fundamental, daß Situation und normative Muster nie perfekt und unvermittelt übereinstimmen. Von daher bleibt immer eine gewisse Diskrepanz und entsprechende Spannung zwischen beiden bestehen. Wären normative und situationale Elemente vollkommen kongruent, ließe sich in analytischer Hinsicht keine Unterscheidung treffen, und das Problem der Wahl wäre irrelevant. Daß eine Kongruenz in diesem Bereich unwahrscheinlich ist, ergibt sich schon aus der Beobachtung der normativen Orientierung, da diese nicht nur unmittelbar ein normatives Muster zum Gegenstand hat, sondern indirekt auch die Defmition der Situation, also die Beziehung des Aktors zu seinem Umfeld beeinfIußt. Zur Diskrepanz zwischen den Handlungsmodi führt Parsons aus:

70

Parsons, ebd. 65.

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,,Betrachtet man es im Sinn einer Anleitung für zukünftiges Handeln, dann definiert ein normatives Muster einen Zustand, der zum erforderlichen Zeitpunkt im wesentlichen nicht eintreten würde, verlängerte man einfach die empirisch erkennbaren Entwicklungstendenzen der Situation nur weit genug in die Zukunft hinein. Um ein normatives Muster zu ,verwirklichen', ist es unerläßlich, daß der Aktor in die Situation ,interveniert' oder eine bereits begonnene Intervention fortsetzt. Im Kontext normativer Orientierung steht der Aktor als aktiver Agent in Beziehung zur Situation. Die Situation besteht für ihn in einer Ansammlung von Mitteln und Bedingungen oder in Hindernissen für die Verwirklichung seiner Zwecke. Er treibt nicht einfach den Strom sich ereignender Situationen entlang, sondern stellt um, verändert, unterbindet und selektiert in Relation zu situativen Prozessen." 71 Zusammenfassend läßt sich nunmehr die Parsonssche Handlungstheorie folgendermaßen charakterisieren: Sie baut auf der Grundtatsache auf, daß Handeln "teleologisch" gerichtet ist. Dies impliziert Orientierung an normativen Mustern, die subjektiver Deutung zugänglich sind. Das normative Muster verweist auf Bewußtseinszustände oder Charakterzüge, die mit dem vorhergesehenen Entwicklungsverlauf der Situation nicht deckungsgleich sind. Handeln vollzieht sich demnach immer in Richtung auf Änderung situativer Entwicklungstendenzen in Übereinstimmung mit normativen Mustem. Da die in den normativen Mustern enthaltenen ,,zwecke" nie einfach gegeben sind, sondern unter mehreren alternativen Möglichkeiten, die die Situation bietet, ausgewählt werden, scheint die Schlußfolgerung legitim, daß für die Erwägung von Wahlhandlungen zwei Gesichtspunkte relevant sind: der ,,konditionale" und der "normative". Der Versuch der ,,Kausalisten" , alle Erwägungen allein unter dem konditionalen Gesichtspunkt zu betrachten, eliminiert den Begriff der Wahl selbst. Der Versuch der ,,Finalisten", die Wahlerwägungen allein unter normativen Gesichtspunkten zu betrachten, eliminiert den Begriff einer Welt, in der die Wahl stattfmdet. Nimmt man - wie Parsons - beide Gesichtspunkte zusammen, so heißt Handeln "Entscheidungsverhalten " und Handlung heißen die Folgen einer jeglichen Entscheidung, soweit sie für den folgenden Verlauf der Ereignisse bedeutsam sind. Defmiert man solcherart Handlung als Ergebnis von Entscheidungen, ist die Entscheidung, einen erwogenen Plan nicht auszuführen, ebenso eine "Handlung" oder "Intervention", wenn die Möglichkeit bestand, in das Geschehen im eigenen Sinn einzugreifen. Tun und Unterlassen unterscheiden sich danach nicht im Hinblick auf empirisch feststellbare Folgen in der Welt, sondern durch unterschiedliches Entscheidungsverhalten. Bis zu dem Satz: "Handlung ist Ergebnis von Entscheidungen", stimmt die kognitive Handlungstheorie voll mit Parsons' Auffassung überein. Die Differenz beginnt erst bei der Frage, ob die den Entscheidungsprozessen zugrundeliegende Wahl zwischen mehreren alternativen Möglichkeiten als eine "freie" im Sinn des Indeterminismus zu begreifen ist oder nicht. Parsons, der in diesem Punkt um einiges skrupulöser argumentiert als Welzel, neigt letztlich doch dazu, die 71

Parsons, ebd. 73.

33 Kargl

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Frage positiv zu beantworten. 72 Es steht zu vermuten, daß dieser Entscheidung weniger stichhaltige Argumente für die Freiheit, als vielmehr ordnungstheoretische Bedenken gegen fatalistische Konsequenzen der Unfreiheit zugrundelagen. Maturanas biologische Erkenntnistheorie weist indes einen Weg, auf dem Determinismus und Verantwortlichkeit zugleich bestehen können. Dieser Weg führt zu einer Konzeption vom menschlichen Willen, in der dieser den kognitiven Prozessen nicht mehr antagonistisch gegenübersteht, sondern selbst zentraler Bestandteil des kognitiven Bezugssystems ist. bb) Handeln als zustandsdeterminiertes Entscheidungsverhalten Die kognitionstheoretische Weiterführung setzt am Begriff der "Charakterzüge" oder "Bewußtseinszustände" an, die nach Parsons die normativen Muster repräsentieren. Offensichtlich interpretiert Parsons diese Muster als weitgehend kognitiv bestimmt, wenn er sie vom Bereich der Gefühle als einer eigenständigen Entität abgrenzt: ,,Im Kontrast zu normativen Mustern, die sich dem Aktor gegenüber in gewissem Sinn als ,äußerlich' und objektiv geben, sind ,emotionale' oder ,affektive' Haltungen spezifisch subjektiv."73 Der von uns im Anschluß an Ciompi verwendete Begriff des "affektlogischen Bezugssystems" hebt diese in der Bewußtseinspsychologie bis heute vorherrschende Trennung der Psyche in die Sphären der Logik und der Gefühle auf. Mit dem Wegfall der dualistischen Struktur der Psyche erübrigt sich die Vorstellung von einem "Willen", der außerhalb gesetzmäßiger Prozesse, sozusagen jenseits der Geschichte des Individuums, die kognitiven Akte steuert. Das Konzept der "Affektlogik" stellt den ersten bedeutsamen Versuch dar, affektive und kognitive Komponenten zu einem operationalen Ganzen zu vereinigen. 74 Die Basisüberlegung der Theorie vom affektiv-kognitiven Bezugssystem stützt sich gleichermaßen auf Erkenntnisse der biologischen Kognitionstheorie wie auf solche der Psychoanalyse. Wie Piaget sieht auch Ciompi die geistige Entwicklung aus den sensomotorischen Aktionen des Organismus erwachsen. Der Effekt dieser konkreten Aktionen ist die Autopoiese des Organismus. Ob die Aktionen der autopoietischen Organisation nützen oder schaden, das zeigen die Affekte ,,Lust" bzw. "Unlust" an. Emotionen sind also Indikatoren der Lebenserhaltung. Allein darin besteht die biologische Funktion der Affektivität. Hat man diese autopoieti72

Vgl. hierzu Parsons Ausführungen zur "Wahl" in: Aktor 1986, 116, 127, 130.

73 Parsons, ebd. 79. 74 Vgl. dazu näher Kap. 2 11 2, wo auch auf die wichtigsten Befunde der kognitiven

Verhaltenstheorie hingewiesen wurde. Der Kemthese lautet, daß Gefühlen Einstellungen zugrundeliegen: ,,Fühlen und Wissen sind ebenso schwer voneinander zu trennen wie Motivation und Lernen. Die Emotionen enthalten eine kognitive Komponente sowie eine Handlungserwartung bzw. -bereitschaft. Die Voraussage, ob ein Objekt Gutes oder Schlechtes verheißt, und das Wissen oder Nichtwissen, wie man damit umzugehen hat, bestimmen unsere Einstellung zu diesem und damit auch unser Gefühl" (McGill, Emotions 1954).

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sche Funktion der Handlungen vor Augen, gelangt man zwangsläufig zu der Erkenntnis, daß Handlungen immer auch affektive Komponenten enthalten müssen. Denn in die kognitiven Schemata, die nichts anderes als internalisierte Handlungen bzw. Handlungsanweisungen sind, müssen die lebenswichtigen Informationen über Lust oder Unlust einfließen, sollen sie der autopoietischen Erhaltung dienen. Fehlen z. B. Unlustgefühle im kognitiven Schema über den Umgang mit Feuer, so impliziert dies auf Dauer notwendig die Zerstörung der Autopoiese. Auf diese Weise funktionieren - wie Kernberg ausführt 75 - die Affekte als typische Organisatoren der kognitiven Inhalte. Sehr ähnlich betont Piaget 76 die Rolle der Gefühle als "Regulatoren" der kognitiven Schemata im Umgang mit Menschen und Gegenständen. Zur Genese dieses Netzwerkes gefühlsmäßig getönter Regulatoren führt Ciompi aus: "Was in entweder positiver oder negativer Affektstimmung erlebt wurde, wird durch einen ersten ,Auszug der Invarianz' als zusammengehörig aufgefaßt und zu Ganzen, beziehungsweise zu Unterganzen vereint, in welche immer mehr zugehörige kognitive Einzelheiten als Varianz dann gewissermaßen ,eingetragen' oder ,eingezeichnet' werden ... Die affektiven Elemente sind also sozusagen der ,Leim', der die entstehenden affektiv-kognitiven Bezugssysteme zu einem Ganzen zusammenbindet."77 Treffen die bisherigen Ausführungen zu, so werden offensichtlich Affekt-und Intellektstrukturen völlig gemeinsam und analog ausgebildet. Sie entstehen als Niederschlag aller Interaktionen mit der Umwelt; sie aktualisieren sich im entsprechenden Kontext als ,,Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramm"78 für weitere Interaktionen. Demzufolge erhalten alle kognitiven Schemata einen je spezifischen Stempel, der zusammen mit den kognitiven Anteilen das Gedächtnis ausmacht. Diese affektiven Faktoren bestimmen nicht nur, was erinnert, sondern auch, was überhaupt wahrgenommen wird, und sie organisieren das in gleicher Stimmung Erlebte zu zusammenhängenden affektiv-kognitiven Ganzen. Damit weisen diese internalisierten Raster jene Rekursivität auf, die lebende Systeme als autopoietische Systeme auszeichnet. Die Folge davon ist, daß wir in unserem Denken und Handeln beständig von einem Gefüge von "Selbstverständlichkeiten" bzw. ,,Konstruktionen" umgeben sind. Da unser Erleben dieses Gefüge ohne Unterlaß moduliert, handelt es sich um ein "dynamisch sehr aktives Gebilde, in dem virtuell die gesamte diachrone Erfahrung zu einer synchronen Gegenwart verdichtet ist." 79 Hinsichtlich der Funktion des synchronen "affektlogischen" Bezugssystems dürfte das bisher Gesagte plausibel gemacht haben, daß es einen zentralen Beitrag zu möglichst adäquatem Handeln leistet. Das bewerkstelligt die Affektlogik dadurch, daß sie das handelnde Erleben mit einer relativ stabilen emotionalen 75 76 77 78 79 33*

Kernberg, Objektbeziehungen 1981. Piaget, Intelligence 1981. Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988, 171. Ciompi, Affektlogik 1986, 382. Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988, 178; siehe auch Arnold, Emotion 1960.

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,,Färbung" auszeichnet. Sie stellt in den Worten Ciompis einen ,,Auszug" oder eine Abstraktion der affektiven Invarianz des Erlebten dar. 80 Anzunehmen, daß unsere Aktivitäten aus diesem Affektanteil ihre allgemeine Orientierung und Motivierung beziehen, ist deshalb nur folgerichtig. Ciompi geht noch einen Schritt weiter, indem er der kognitiven Werthierarchie eine spezifische "Affekthierarchie " zuordnet. Damit erst erhält das Konzept der Affektlogik jene untrennbare Einheit von Fühlen und Denken, die notwendig ist, um den "Willen" in die Gesamtstruktur der Psyche zu integrieren. Das Vorliegen der Affekthierarchie ist bereits im Piagetschen Konzept der Psyche impliziert, wonach sich im Laufe der kindlichen Entwicklung parallel zu den kognitiven ebenfalls affektive Schemata bilden, die sich ganz ähnlich hierarchisieren würden wie die intellektuellen Strukturen. Schon das Kleinkind zeige zum Beispiel eine deutliche Hierarchie von Lustgefühlen, die " . .. von der einfachsten, körperlich lokalisierten Varietät bis zu höchst komplexen und elaborierten Aktivitäten wie den mit Greifen oder Schwingen eines Objekts etc. verbundenen Formen von Funktionslust reicht."81 Besonders deutlich wird die Affekthierarchie am Beispiel der Wertsysteme. Je differenzierter die kognitive Strukturierung, desto nuancierter und stabiler wird ebenfalls die affektive Organisation. ",Höhere' oder ,übergeordnete' Gefühle, darunter namentlich affektive Wertkonnotationen, können sich evidentermaßen nicht bilden, bevor die entsprechenden kognitiven Überbegriffe (zum Beispiel Familie, Gruppe, Staat etc.) erworben sind. Sogenannte ,Wertbegriffe' sind somit eigentlich nichts anderes als verfestigte positive oder negative Gefühle, die sich mit zunehmender Konstanz an die entsprechenden kognitiven Konzepte heften."82 Im gleichen Zusammenhang wirft nun Ciompi die Frage auf, ob das Phänomen des Willens eher dem Bereich der kognitiven oder eher dem Bereich der affektiven Hierarchie zuzuordnen ist. Und in welcher Weise "funktioniert" er? Wie Piaget gelangt auch Ciompi zu dem Schluß, daß der Wille ein Gefühlsimpuls, eine "affektive Regulation von Regulationen " sei und ähnlich auf einem Dezentrationsprozeß beruhe wie eine intellektuelle Operation höherer Ordnung. "Der Wille ist eine Regulation zweiter Ordnung, eine Regulation von Regulationen genauso wie im kognitiven Bereich eine Operation eine Aktion auf Aktionen ist." 83 Danach wäre der Wille als ein Handlungsimpuls zu begreifen, der einem hierarchisch höheren affektiv-kognitivem Bezugssystem entstammt und ein hierarchisch niedrigeres Bezugssystem dominiert. ,,Ein in solcher Weise übergeordneter Wil-

80 Vgl. Ciompi, ebd. 182. 81 Piaget, Intelligence 1981,22 (Übersetzung von Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988,

194).

82 Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988, 194; vgl. auch EIlis: ,,Ein Großteil dessen, was wir als Emotionen bezeichnen, scheinen mithin Urteile bzw. Bewertungen zu sein

... " (Rationalemotive Therapie 1982,51). 83 Piaget, Intelligence 1981, 65.

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lensimpuls entspricht dann im affektiven Bereich genau einer gedanklichen Verdichtung auf ein höheres Niveau, das heißt einer Abstraktion. Er könnte somit als ein ,auf eine höhere Stufe verdichtetes Gefühl' bezeichnet werden."84 Mit Blick auf das besondere Erkenntnisinteresse einer strafrechtlichen Handlungstheorie ist von ausschlaggebender Bedeutung die Feststellung der völligen Isomorphie der affektiven (willentlichen) und der kognitiven Strukturen. 85 Sie bilden zusammen eine einheitliche und vereinte affektiv-kognitive Hierarchie von Bezugssystemen, in welcher bestimmte Gefühle stets mit bestimmten Gedanken auftreten. Daraus ergibt sich, daß Vorstellungen und Gefühle, Kognitionen und Affekte, Wissen und Wollen nicht unabhängig voneinander entstehen und sich im Handlungsbereich nicht getrennt artikulieren können. Die beiden Subsysteme stehen vielmehr in einer komplexen Wechselbeziehung, so daß Handeln immer Effekt der reziproken strukturellen Koppelung des Denk-und des Fühlsystems ist. Das heißt für den "nicht-pathologischen" Normalfall, daß immer dann, wenn das Individuum um den Effekt seines HandeIns "gewußt" hat, auch das Wollen dieses Effekts impliziert ist. Wir werden die praktische Relevanz dieser Annahme anschließend am strafrechtlichen Vorsatzbegriff erörtern. Zuvor soll jedoch die Skizze der kognitiven Handlungstheorie mit dem Hinweis auf die Zustandsdeterminiertheit des Handelns abgerundet werden. Handeln als ,,Entscheidungsverhalten" zu verstehen, wie wir dies im Anschluß an Parsons getan haben, läßt zunächst die wichtige Frage offen, ob die Entscheidung im Sinn des Indeterminismus "frei" ist oder nicht. Die hier vertretene weitere Annahme der ,,Affektlogik" macht allerdings eine indeterministische Konzeption des Entscheidungsverhaltens mehr als unwahrscheinlich. 86 Die Idee der "Willensfreiheit" lebt ja von der Trennung der Psyche in Affekt und Intellekt. Soll der Gefühlsimpuls "frei" sein, darf er weder von den äußeren Umständen noch von den kognitiven Strukturen bestimmt sein. Versteht man indes - wie hier geschehen - unter "Willen" einen regulierenden Gefühlsimpuls, der, von einem affektiv-kognitiven Bezugssystem höherer Ordnung ausgehend, hierarchisch niedrigere Bezugssysteme dominiert, dann kann der Wille jedenfalls nichts sein, was außerhalb des Bezugssystems steht. Und dieses Bezugssystem wird durch individuelle Lernerfahrungen konstituiert. Es ist lebensgeschichtlich erworben und kann durch Erfahrungen, die freilich vom Bezugssystem zugelassen werden müssen, verändert werden. Ebenso wie die Psyche als Ganze ist der Wille als deren Bestandteil determiniert.

84 Ciompi, Außenwelt-Innenwelt 1988, 196. 85 Piaget,Intelligence 1981,73. 86 In ähnlicher Weise wie hier sieht Weinberger die ,,Entscheidungen" zwischen im wesentlichen kognitiv bestimmten Alternativen fundiert: zwischen dem Wissen über die Welt und den Stellungnahmen zu den möglichen Tatsachen (Freedom 1985,307; Semantik 1983, 219; Ch. und O. Weinberger, Logik 1979).

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Mit diesen knappen Hinweisen ist die Psyche als ein selbstreferentielles System charakterisiert, das organisationell geschlossen und strukturdeterminiert operiert. Aus der operationalen Geschlossenheit ergibt sich ihre relative Autonomie gegenüber der Umwelt. Aus der Strukturdeterminiertheit ergibt sich die Bestimmung des Verhaltens durch den jeweiligen Zustand des Systems. Unter dem Zustand der Psyche ist das Gesamt affektlogischer Bezugssysteme zu verstehen. Diese wiederum sind plastische oder lernfähige Systeme, da sie sich unter dem Druck von Störungen verändern. Auch der Wille als regulierender Gefühlsimpuls unterliegt den Wandlungen des Systemzustands. Obgleich veränderbar, ist er nicht frei, da er zur Gänze von der Hierarchie der Bezugssysteme abhängig ist. cc) Handeln als zustandsdeterminiertes, verantwortliches Entscheidungsverhalten Der bisherige Argumentationsgang hat auf zwei der wichtigsten Probleme jeder strafrechtlichen Handlungslehre Antwort gesucht: auf die Frage nach dem Unterscheidungskriterium zwischen menschlichem Handeln und den übrigen Ereignissen in der Welt sowie auf die Freiheitsfrage. Als den entscheidenden Faktor, an den sich Wertprädikate knüpfen lassen, haben wir die menschliche Entscheidung bezeichnet, soweit sie für den folgenden Verlauf der Ereignisse bedeutsam war. Da die ,,Entscheidung" oder die "Wahl" als vom Gesamtzustand der Psyche bzw. vom affektlogischen Bezugssystem bestimmt begriffen wurde, haben wir einen deterministischen, genauer einen "strukturdeterministischen " Standpunkt eingenommen. Es bleibt noch die Frage zu klären, ob die deterministische Sicht nicht von vornherein jeglichen Begriff von Verantwortlichkeit verbietet. Sollte dies der Fall sein, würde sich das Strafrecht auf den Macht- und Zwangsfaktor reduzieren, was unserer Defmition von Recht widerspräche. Wir forderten für den Rechtsbegriff neben Autorität und Sanktionen auch den "Konsens" als zentrale Eigenschaft der Normativität. Ein solcher Konsens, der sich in der Zustimmung der Gesellschaftsmitglieder zum Kernbereich rechtlicher Regelungen ausdrückt und den Verpflichtungscharakter der Normen ausmacht, könnte sich unmöglich herausbilden, wenn das Recht nicht voraussetzen könnte, daß seine Imperative auf die innere Einstellung der Handelnden Einfluß nehmen kann. Nur wenn sich dies aus einer profunden Theorie heraus plausibel machen läßt, kann Verantwortlichkeit zugeschrieben und das Strafrecht auf eine legitimationswirksame Basis gestellt werden. Die Vertreter des "harten" Determinismus vermögen das Strafrecht nicht im Sinne unseres Rechtsbegriffs zu rechtfertigen. 87 Das folgt aus ihrer Auffassung von Determination, der weit über den strukturdeterministischen Standpunkt hinausgeht. Sie sagen nämlich nicht nur "Mein Handeln ist determiniert", sondern 87

V gl. zur einschlägigen Literatur über den ,,harten" Detenninismus Berofsky, Deter-

minism 1971; siehe auch unsere Ausführungen in Kap. 2 II 3c.

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auch: ,,Meine Entscheidungen haben auf meine Handlungen keinen Einfluß". In dieser Sicht gilt der Weltlauf als festgelegt; die künftigen Handlungen ereignen sich wie ein Fatum, unabhängig von den Entschlüssen des Individuums. Allein die vorausliegenden Umstände führen das Verhalten herbei, und der Akt der Wahl, den die Person zu vollziehen meint, gehört nicht zu ihnen. 88 Damit werden als vorausliegende Bedingungen nur physiologische Zustände des Organismus zugelassen, die von der ,,Einstellung" des Indiviuums unberührt bleiben. Aus der These, daß alles Verhalten aus äußeren physikalischen Kräften folgt und daß die Erwägungen des Subjekts ohne Einfluß auf das Verhalten sind, resultiert notwendig ein fatalistischer Effekt. Denn es liegt in der Konsequenz des "harten" Determinismus, auf jegliche moralische Rechtfertigung des eigenen Handeins und darüber hinaus auf praktische Anstrengungen, die der festgelegten Tendenz des Weltlaufs entgegenwirken, zu verzichten. Ist vorherbestimmt, wie ich handeln werde, macht es keinen Sinn, daß ich gute Gründe für meine Entscheidungen suche. Der Fatalist braucht seine Handlungen nicht mehr vor sich oder anderen zu rechtfertigen. Legt man dieses Menschenbild dem Strafrecht zugrunde, so hebt es sich selbst auf; es "greift" nicht mehr, es stößt ins Leere und wirkt nur noch "terroristisch". Derartige Konsequenzen sind natürlich unannehmbar. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß der ,,harte" Determinismus in der Strafrechtstheorie keine Anhänger gefunden hat. Es muß jedoch einigermaßen erstaunen, daß diese selten vertretene Extremvariante von vielen Strafrechtlern mit der deterministischen Position schlechthin identifiziert wurde. Um der vermeintlich fatalistischen Zwangsläufigkeit des Determinismus zu entrinnen, hat man entweder - mehr oder weniger unbesehen - die Konzeption Welzels übernommen, oder man hat sich aus der Fragestellung gänzlich zurückgezogen. Beide ,,Reaktionen" haben die Entwicklung des Strafrechts behindert: Die "idealistische" Lösung hat zu einer Theorie ohne zureichendes Verständnis von Praxis, die "positivistische" (pragmatische) Lösung zu einer Praxis ohne zureichenden Begriff von Theorie geführt. Beide Reaktionen aber konvergieren darin, daß sie Handlungs- und Ordnungstheorie getrennt entwickelt, ihren inneren Zusammenhang nicht beachtet und damit der Strafrechtsdogmatik eine unübersehbare innere Inkonsistenz aufgeprägt haben. Die Inkonsistenz rührt daher, daß auf der Unrechtsebene tendenziell mechanistisch, auf der Schuldebene tendenziell indeterministisch gedacht wird. Dieser Perspektivenwechsel wiederum hat damit zu tun, daß auf der Schuldebene nicht eigentlich über das "Dafür-Können" des Täters, sondern über die Legitimation der staatlichen Strafe verhandelt wird. So umspannt der Verbrechensbegriff eine in sich widersprüchliche Handlungstheorie, die sich aus den disparaten Anforderungen der Bewertung von Unrecht und der Rechtfertigung 88 Als vielleicht radikalster Vertreter dieser Position ist Ginet (Wahl 1978, 115) zu nennen. Er bezeichnet die Wahl als eine perfekte lllusion und vergleicht sie mit einer Geisterbahn.

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von Unrechtsfolgen speist. Hält man "Freiheit" im Sinn des Indeterminismus für die einzig tragfähige Legitimation des Strafrechts, gibt es wohl keinen Ausweg aus dem Dilemma der Inkonsistenz. Eine Alternative eröffnet sich erst mit der Möglichkeit, das Zusammenbestehen von Determination und Verantwortlichkeit so zu begründen, daß es sich in unsere Erfahrung einpaßt und zugleich ethischen Maßstäben gerecht wird. Wir haben die Theorie, die solches leistet, etwas umständlich "epistemischer Indeterminismus" genannt. 89 Der Begriff verdeutlicht jedoch den springenden Punkt der Theorie: Aus der Sicht des Handelnden kann die jeweils anstehende W abl nicht festgelegt sein. Die Begründung dafür liegt darin, daß der Handelnde, der über sein künftiges Verhalten reflektiert, mit jeder Information, die er über sich und das Medium gewinnt, seine eigene Struktur - das affektlogische Bezugssystem - verändert. "Informationen" können demzufolge nur aufgenommen werden auf Kosten von Veränderungen im Bewußtsein bzw. im Gehirn. Für die besondere Erkenntnissituation des Handelnden bedeutet dies: Er kann nicht wissen, wann er sich im fluß der Erfahrung verändert und wann nicht. Er kann auch nicht wissen, welchen funktionalen Zustand die Veränderung hervorrufen wird. Der Handelnde kann zwar als Lernziel eine bestimmte Richtung innerhalb eines Interaktionsbereichs benennen, aber er kann die zu erwerbende Struktur nicht festlegen. Diese Struktur kann nur im Verlauf der tatsächlichen Lerngeschichte, die in der fortgesetzten Verkoppelung der Struktur des Individuums mit dem Medium besteht, ausgebildet werden. Eine Prognose über künftiges Verhalten ist dem Handelnden demnach prinzipiell verwehrt. Sie würde ja selbst wieder den Bezugsrahmen der Wahl verändern. Also würden die Akte, die zum Bilden der Voraussage erforderlich sind, die Gültigkeit der Voraussage zunichte machen. Wenn sich die Prognose in einem bestimmten Zustand des Gehirns niederschlägt, erzeugt dies die eigenartige Konsequenz, die MacKay "logische Unbestimmtheit"90 genannt hat: Ein Bewußtsein kann sich nicht vollkommen über sich selbst aufklären. Stets laufen die Veränderungen dem Denken über die Veränderungen voraus. Stets ist der Zustand des Gehirns mit dem Akt der Selbstreflexion bereits ein anderer. Da auch die Entscheidungen des Subjekts zu Zustandsveränderungen führen, gehören auch sie zu den Bedingungen, aus denen Handeln hervorgeht. Mit der letzteren Annahme ist sowohl die Position des ,,harten" Determinismus wie auch die Theorie der "finalen Überdetermination" von Welzel widerlegt. 91 Das Problem der Verantwortlichkeit ist jedoch noch nicht gelöst. Dazu bedarf 89

Vgl. dazu näher die Darstellung in Kap. 211 3c.

90 Vgl. MacKay, Freiheit 197$, 307.

91 Übrigens zeigt sich hier wieder, wie nahe sich oft vermeintlich gegensätzliche Positionen sind. "Harter" Determinismus und Theorien der Willensfreiheit stimmen darin überein, daß Entscheidung, Wahl, Wille etc. nicht zu den vorausliegenden Bedingungen des Handelns gehören. Das führt im ersten Fall zur irrealen Konsequenz der Leugnung jeglicher Form von Verantwortlichkeit, im Zweiten Fall zur irrealen Konsequenz einer überzogenen Haftbarmachung des Handelnden.

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es einer genaueren Betrachtung der Entscheidungssituation. Wenn es zutrifft, daß Entscheidungen den Bewußtseinszustand verändern, dann muß sich der Handelnde bei einer Vorausage über die Zukunft sagen, daß für ihn weder das vollständige Begründen noch das Überprüfen von Voraussagen möglich ist. Räumt der Handelnde somit ein, daß für ihn keine wissenschaftliche Determination existiert, so hat er zugleich zugegeben, daß seine Entscheidungen in einem spezifischen Sinn - nämlich wiederum nur für ihn - frei sind. Außenstehende müssen diese ,,Freiheit" anerkennen, indem sie zugestehen, daß ihre eigenen Entscheidungen die Person selbst nicht binden. Anders gesagt, weil wir nicht wissen, wie wir determiniert sind, müssen wir zwischen verschiedenen Möglichkeiten, die uns notwendig offen erscheinen, wählen. Daran ändert nichts, daß Außenstehende determinierte Operationen beobachten können, solange die Beobachtung nicht ihrerseits den Zustand des beobachteten Objekts verändert. Aber auch der Handelnde kann beobachten und entwickelt infolgedessen Vorstellungen darüber, wie seine Vergangenheit und sein jeweiliger Zustand beschaffen sein mögen. Das führt - wie Luhmann bemerkt - zur "Selbst-Intendierung" des Subjekts. 92 Durch Selbstbeobachtung leitet das Bewußtsein den Prozeß einer Art Selbstdetermination ein, die es dem bewußten System ermöglicht, sich selbst als Gegenstand einer Vorstellung zu behandeln. Dieser "Selbstgegenstand" ist nichts anderes als die Identität, mit deren Hilfe sich das Bewußtsein von der Umwelt und anderen Subjekten unterscheidet und sich als eine Einheit erfahrt. Aus dem Unterscheidungsvermögen und der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung erwächst nun das, was wir Verantwortlichkeit nennen. Rückblickend ist nämlich durch Selbstreflexion der Person einsehbar, daß ihre Handlungsdispositionen ein entscheidender Faktor beim Zustandekommen ihres Handelns sind. Die Person kann nunmehr wissen, daß ihre Handlungen von ihren Entscheidungen abhängen, und daß diese Entscheidungen durch ihre Erfahrungen, die sich zu Erwartungen bzw. zu dem affektlogischen Bezugssystem verdichtet haben, bestimmt werden. Eine sich selbst beobachtende Person muß demnach zu dem Schluß kommen, daß ihre Wahl keineswegs in einem kognitiven Vakuum stattfindet, sondern bestimmten affektlogischen Präferenzen entspricht, die lebensgeschichtlich erworben wurden. Zwar wird im praktischen Fall die ganze Komplexität der Motivationslage nicht durchschaubar sein, aber der Selbstbeobachtung sind sicherlich die dominierenden Erwartungsstrukturen zugänglich. Es sind dies jene Strukturen, die gewöhnlich als Merkmale des Charakters beschrieben werden. Das Individuum beobachtet jedoch nicht nur die zentralen Aspekte des eigenen Bezugssystems, sondern auch die ethischen Erwartungen anderer. Somit weiß es gegebenenfalls um die Inkongruenzen zwischen der Eigen- und Fremderwartung. Es kann zwischen den disparaten kognitiven Strukturen wählen und das eigene Bezugssystem in dieser Hinsicht korrigieren. Aus dieser Eigenschaft bewußter Systeme, die Faktoren des Handeins erkennen und im Rahmen der eigenen Affektlogik beein92

Vgl. hierzu Luhmann, Bewußtsein 1987, 33.

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flussen können, resultiert die besondere kognitive Lern- und Veränderungsfähigkeit der Menschen. Es ist nun genau diese Disposition zur Selbstreflexivität und zur damit gegebenen Motivationsänderung, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, an Menschen ethische Erwartungen zu richten. Die sozialen Erwartungen können nun freilich keine mehr sein, die eine an Freiheit gebundene Verantwortlichkeit voraussetzen. Wenn es zutrifft, daß die Faktoren des Handeins vom Individuum nur rückblikkend erkannt werden können, so müssen die sozialen Erwartungen den Versuch darstellen, diese Faktoren!ür die Zukunft zu beeinflussen. Eine Norm etwa, die die Effekte vergangener Entscheidungen ausgleichen oder vergelten will, ist mit dem Standpunkt des Strukturdeterminismus unvereinbar. Eine solche Norm wäre nur zu rechtfertigen, wenn man wüßte, daß der Täter die wichtigsten Faktoren auch künftigen Handelns erkennen und überdies zwischen ihnen wählen kann. Nur auf der Basis einer solchen Annahme läßt sich die Norm formulieren: Jeder soll nach Maßgabe seiner Taten leiden oder belohnt werden. Das ist der herkömmliche Inhalt des strafrechtlichen Schuldprinzips. Nimmt man ihm diesen Inhalt, bleibt nur eine konventionelle Floskel übrig. Berücksichtigt man indes die Hypothese der Vereinbarkeit von Gesetzlichkeit und Veränderbarkeit allen Handeins, dann ist das Schuldprinzip durch die soziale Erwartung zu ersetzen: Jeder soll sich mit den Faktoren auseinandersetzen, die sein vergangenes Handeln steuerten. Soweit der Handelnde in der Vergangenheit andere Mitglieder der Gruppe schädigte, erscheint überdies die Erwartung berechtigt, die erkannte Handlungsdisposition zu verändern. Die neue, auf Tadel verzichtende und Strafe in hohem Maße modifizierende Verantwortlichkeit besteht in der sozialen Erwartung, die eigene Person zu erkennen und gemäß dieser Erkenntnis eine Handlungsdisposition zu verändern. Von den beiden Komponenten des Prozesses der Haftbarmachung ist zweifellos die Erwartung einer Veränderungsarbeit nicht unproblematisch. Sie erzeugt unweigerlich Assoziationen von Manipulation, Bevormundung und Herrschaft. Tatsächlich werden die oktroyierten Lernprozesse diese Formen auch annehmen, wenn der neue Verantwortlichkeitsbegriff keine Veränderungen hinsichtlich der Muster staatlicher Reaktionen nach sich zieht. 93 Entfällt das Moment des "DafürKönnens", des "individuellen Verdienens" von Strafe, kann es keine persönliche Vorwerfbarkeit und keine moralische Diskriminierung mehr geben. Dann ist letztendlich Strafe ihres zentralen Merkmals beraubt: ihres Charakters einer bloßen Übelszuführung. Das muß sich unmittelbar zunächst auf die Praxis der Freiheitsentziehung auswirken und hier vor allem auf die Anzahl und die Dauer der Inhaftierungen. Im Rahmen der kognitiven Handlungstheorie, die Handeln als zustandsdeterminiertes verantwortliches Entscheidungsverhalten definiert, besitzt der Strafvollzug keine Funktion mehr: Er taugt weder zur Vergeltung noch 93

Wir haben die Veränderungen, die sich aus dem neuen Verantwortlichkeitsbegriff

für die staatlichen Reaktionen auf Straftaten ergeben, in groben Zügen im Kap. 2 II 3d

diskutiert.

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zur Abschreckung; beide Zwecke bedürfen zu ihrer Legitimation der Freiheit. Er taugt aber auch nicht zur Innovation von Lernprozessen (Resozialisierung, Spezialprävention), da hierzu eine organisationelle Strukturveränderung erforderlich wäre, die das Vollziehen von Strafe gerade ausschließt. Die Sachlage ist also folgende: Wo das Gefängnis eventuell Zwecke erfüllt, ist es ethisch nicht zu rechtfertigen, wo es eventuell legitimierbar ist, zeigt es keinen praktischen Nutzen. Das letztere Phänomen ist zwar längst bekannt und wird von jeher beklagt, aber man hat bis heute keine rechte Erklärung dafür. Warum lernt man nicht in totalen Institutionen? Und was heißt überhaupt "lernen"? Genügt bloß adaptives Lernen, das äußerliches Wohlverhalten erzeugt? Kann also ein gewisser Abschreckungserfolg schon als Lernerfolg begriffen werden? Oder hat Lernen mit einer tiefergreifenden Veränderung des affektlogischen Bezugssystems zu tun? Soll sich der Strafvollzug um eine "Bekehrung" des Übeltäters im Sinn seiner existentiellen Umformung bemühen? Diese Fragen werden in der strafrechtlichen Literatur seit langem unter den Stichworten ,,Legalismus" und "Moralismus" diskutiert, ohne daß eine Annäherung der Standpunkte in Sicht wäre. 94 Nach meinen Dafürhalten ist für die Verhärtung der Positionen eine unzulängliche Lerntheorie verantwortlich. Man scheint anzunehmen, daß der Gebrauch von Gründen, die von außen und mit Hilfe gewisser therapeutischer Techniken an das Bewußtsein herangetragen werden, zur Veränderung von Einstellungen und Kognitionen führt. Je nachdem, ob man ein solches Vorgehen in der Strafrechtspflege für rechtsstaatlieh vertretbar hält oder nicht, gehen dabei die Meinungen auseinander. 95 Einig ist man sich indes über die erziehungstechnische Machbarkeit kognitiver Konversionen. Sollte sich diese Vorstellung als irrig erweisen, würde die Kontroverse um "Legalismus" und "Moralismus" ihren gemeinsamen Ausgangspunkt - die technologische Erziehungsidee - verlieren; man hätte - wie so oft - über ein ,,Dürfen" gestritten, ohne zu ,,können". Entsprechend der Lerntheorie, die das Konzept autopoietischer Systeme impliziert, funktioniert Lernen nicht nach dem Muster instruktiver Interaktionen. Wir haben dies ausführlich am Beispiel der Operationsweise des Nervensystems im allgemeinen 96 und des menschlichen Gehirns irn besonderen 97 dargelegt. Wichtig war bei alldem die systemtheoretische Einsicht, daß sich sowohl der Organismus wie auch das kognitive System in ständiger struktureller Veränderung befinden. Diese Veränderungen gehen aus den Interaktionen zwischen dem Lebewesen und seinem Medium, zu dem auch andere Lebewesen gehören, hervor. Aber die Interaktionen bestimmen nicht das Verhalten des Systems, sondern bewirken Vgl. dazu eingehender Kargi, Schuldprinzip 1982, 17. Vgl. zur "legalistischen" Position Liszt, Zweckgedanke 1975; zur ,,moralistischen" Position vgl. Peters, Sittlichkeit 1972, 341. 96 Siehe die Darstellung der ,,neuronalen Funktion" in Kap. 1 III 3. 97 Zum zentralen Begriff der "Selbstreferentialität", der eine Außenbestimmung des Gehirns ausschließt, vgl. Kap. 3 I. 94 95

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"Störungen", auf die das System so reagiert, wie es sein Zustand erlaubt. Da dasselbe auch für das Medium (Umgebung, Milieu etc.) gilt, sind sowohl dem Medium wie dem Organismus nur solche Interaktionen möglich, die durch ihre jeweilige Organisation vorgeschrieben sind. Beide bewahren ihre Autonomie, wenn sie sich gemeinsam in kongruenter Weise verändern. Ist die Kongruenz der Veränderung gewahrt, kann man von "adäquatem Verhalten" sprechen. In diesem Falle korrespondiert der Struktur des Organismus diejenige des Milieus. Da sich - wie gesagt - beide Strukturen beständig ändern, ist Lernen der Weg gemeinsamer struktureller Veränderungen als Resultat der Interaktionen zwischen Organismus und Milieu. Lernen besteht demnach im kontinuierlichen Wandel des Organismus und des Nervensystems in Einklang mit dem Wandel des Mediums. 98. Aus dieser Sicht ist Lernen kein Prozeß, durch den ein Organismus Informationen über sein Medium erhält und Repräsentationen von ihm fertigt. Lernen muß vielmehr begriffen werden als ein Prozeß, bei dem beide, System und Milieu, strukturell gekoppelt sind und gegenseitig als Auslöser ihrer Strukturveränderungen wirken. Man hat diesen Prozeß als eine Koevolution struktureller Koppelungen bezeichnet. 99 Für den Begriff der Verantwortlichkeit bedeutet dies, daß sich die Forderung nach Erkenntnis- und Veränderungsarbeit nicht allein auf den einzelnen Handelnden beschränken darf. Da Lernfahigkeit als die Evolution von System und Milieu defIniert werden muß, sich also beide nur gemeinsam ändern können, ist es folgerichtig, auch nur beiden zusammen das Resultat ihrer Zustandsveränderungen zuzurechnen. Es kann also nur eine gemeinsame Verantwortung für die Koevolution im konsensuellen Bereich geben. Die Forderung nach geteilter Verantwortung, die sich im Strafrecht praktisch als Verzicht auf Schuldzuweisungen umsetzen muß, ist das konsequente Resultat aus der Theorie der strukturellen Koppelung lebender Organismen. Sind alle Verhaltensweisen im Bereich struktureller Koppelungen komplementär, kohärent, "passend" oder folgerichtig, kann es kein Verhalten ohne das Verhalten anderer geben. Diese Einsicht sollte sich auch für die komplementäre Beziehung von Delinquenz und Justiz fruchtbar machen lassen. Die erste und wichtigste Konsequenz müßte sein, die Forderung nach Erkenntnis und Veränderung nicht nur auf den Straftäter, sondern auf den gesamten Bereich der Strafverfolgung, der Strafjustiz und der Strafvollstreckung zu beziehen. Der Strafrechtswissenschaft käme dabei die Aufgabe zu, die Instrumente einer kollektiven Selbstbeobachtung in diesem Felde zu entwickeln und allen am Kriminalisierungsprozeß Beteiligten zur Verfügung zu stellen. Die Theorie des Labeling Approach hat einen ersten wichtigen Schritt in die Richtung polizeilicher und justizieller Selbstbeobachtung getan. 100 Aber sie hat den Aspekt 98 Vgl. Maturana, Kognition 1985,60; ders., Sprache 1985,253; Maturana, Varela, Erkenntnis 1987, 186. 99 Siehe Maturana, Lernen 1983,70; Willi, Ko-Evolution 1987. 100 Vg1. für den deutschsprachigen Raum vor allem die Arbeiten von Fritz Sack, auf den die nachfolgende Kritik freilich am wenigsten zutrifft, da es ihm stets gelang, die

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der strukturellen Koppelung von individuellem und institutionalisiertem Verhalten vernachlässigt. So konnte der Eindruck entstehen, als ob Kriminalität durch behördliche Aktivitäten verursacht werde. Damit blieb der Labeling Approach der traditionellen Erkenntnistheorie verhaftet, wonach es eine objektive Wirklichkeit - sprich die Definitionen und Aktivitäten der Behörden - gibt, die das deviante Verhalten determiniert. Man glaubte, daß Abweichler im Prozeß der Kriminalisierung die offiziellen Wirklichkeitskonstruktionen übernehmen und sich dementsprechend verhalten. Das aber meint exakt die außendeterministische Konzeption von einer "instruktiven Interaktion", die neues Verhalten als durch eine Informationsübertragung von außen nach innen erzeugt betrachtet. Ein solch schlichtes Modell von Wahrnehmen, Erkennen und Lernen gehört übrigens auch zum Selbstverständnis der Strafverfolgungsorgane: Man ,,reagiert" lediglich auf Fakten, die andere gesetzt haben. Der Labeling Approach hat dieses vermeintlich passive Reagieren als ein durchaus "produktives", "schöpferisches" Agieren entlarvt, aber anstalt nun die Komplementarität, die wechselseitige Bedingtheit, die Zirkularität der Handlungsweisen von Apparat und Abweichlern herauszuarbeiten, hat er das gewohnte Bild von Ursache und Wirkung verkehrt: Die Reaktion wurde zur Ursache und die Aktion zur Wirkung. Mit dem Instrument der "linearen Kausalität" können nur "Schuldige" vorgeführt werden. Und diese sind beliebig austauschbar, da im Netzwerk zirkulärer Interaktionen buchstäblich alles als Ursache defmiert werden kann. Das erklärt auch, warum die trotz ihrer erkenntnistheoretischen Schwächen wichtigen Befunde des Labeling Approach so relativ folgenlos geblieben sind: Die Gegenposition konnte mit derselben Plausibilität und Berechtigung an ihren "Schuldigen" festhalten. Man kann jedenfalls nicht hoffen, daß es einen Weg gibt, der aus der Simplizität des Ursache-Wirkung-Denkens ohne weiteres herausführt. Wie Piaget gezeigt hat, basieren unsere Konstruktionen von Objekten, von Raum und Zeit auf der Operation von Unterscheidungen, die in bestimmter Weise untereinander relationiert sind. Dem Theoriespiel, das (vorgestellte) Ganze in beliebige Stücke zu schneiden und diese Stücke linear anzuordnen, kann man wohl nicht entrinnen. Aber man kann sich der Illusion entschlagen, diese Stücke existierten jenseits der Tätigkeit dessen, der sie durch seine Unterscheidungen hervorbringt. Dazu jedenfalls ruft die epistemologische Prämisse des Konstruktivismus auf, die besagt, daß das, was man sieht, immer eine Folge dessen ist, wie man handelt. Wendet man diesen konsequenten Beobachterstandpunkt nicht nur auf den Bereich des Umgangs mit "abweichendem Verhalten", sondern auch aufkriminelIes Verhalten selbst an, dann könnte sich ein Ausweg aus dem Dilemma des Labeling Approach abzeichnen. Ob man einen Delinquenten als hoffnungslosen Psychopathen oder als ein lernfähiges System sieht, ist eine Folge dessen, wie "idealistischen" Aspekte des amerikanischen Interaktionismus durch eine gesellschaftskritische, ,,materialistische" Sicht auszugleichen; siehe Soziale Kontrolle 1974, 263; Strafrecht 1977,248; Kriminalsoziologie 1978, 192.

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Polizei, Justiz und Vollzug handeln. So gesehen, enthüllen Beschreibungen von Beobachtungen immer die Handlungen des Beobachters. Dasselbe gilt für den Straftäter, der sich ein bestimmtes Bild von den Kontrollinstanzen macht. Weiß jeder, daß das, was er sieht, mindestens auch eine Folge dessen ist, wie er handelt, dann liegt die Verantwortungfür die eigenen Beobachtungen auch beim Beobachter. Berücksichtigt man das starke Machtgefälle zwischen den Ordnungshütern und den Devianten sowie die daraus resultierenden besonderen ethischen Bindungen der Staatsgewalt gegenüber den Ordnungsbrechern, so ist selbstverständlich, daß die Verantwortung des Staates für seine Konstruktionen ungleich stärker wiegt als diejenige des einzelnen Rechtsbrechers. Aber die ungleiche Verteilung der Macht kann den Einzelnen nicht aus der gemeinsamen Verantwortung entlassen, die wir aus der Koevolution von System und Milieu abgeleitet haben. Lehnen wir die These der Informationsübertragung ab, so verliert der Slogan "Die Gesellschaft ist an allem schuld" seine Berechtigung. Ebensowenig kann die Veränderungserwartung, die sich an die Gesellschaft richtet, mit dem Argument ausgesetzt werden, zuerst müsse sich das Individuum verändern. Beide Thesen sind nur vor dem Hintergrund der Annahme "instruktiver Interaktionen" schlüssig. Deshalb stimmen auch beide Thesen in dem Ziel überein, der jeweiligen Antithese die eigenen ,Jnstruktionen" bzw. Weltsichten aufzuzwingen. Die Folge davon ist eine Verengung des Handlungsspielraums auf Methoden, die den eigenen Standpunkt verfestigen. Demgegenüber vermag die konstruktivistische Erkenntnis, daß Wissen nicht vom eigenen Handeln abgetrennt werden kann, die Wahlmäglichkeiten des Handelnden ungeheuer zu vergrößern. Denn nun ist er aufgefordert, eine Wirklichkeit zu erfmden, in der konsensuelle Bereiche erarbeitet werden können. Dazu taugt nur eine Erkenntnistheorie, die das "Wissen" als Resultat gemeinsamer konstruktiver Aktivität begreift. dd) Zusammenfassung Der kognitive Handlungsbegriff versteht Handeln als Entscheidungsverhalten, das zustandsdeterminiert und dennoch verantwortlich ist. Daß Handeln stets eine "Wahl" zugrundeliegt, ergibt sich aus der gleichzeitigen Orientierung des Handelnden an konditionalen und normativen Faktoren. Eine Verkürzung der Betrachtung auf jeweils einen Faktor würde den Begriff der Wahl eliminieren, da Handeln entweder durch eine bestimmte Situation oder ein bestimmtes Ziel determiniert wäre. Erst infolge des Widerstandes, den die Mittel den Zwecken entgegenbringen, wird der Handelnde gezwungen, seine ,,Entwürfe" mit der Situation abzustimmen, die ,,richtigen" Mittel zu wählen und gegebenenfalls von Zielen Abstriche zu machen. Die "Wahl" ergibt sich somit zwingend aus der Balancierung der ,,Entwürfe" mit einer Art von ,,Nutzenmaximierung" 101, aus der Diskrepanz zwischen Situation und Ziel. Als "Handlung" können wir demzufolge die Ergeb101

Vgl. zum Verständnis der "Wahl" bei Parsons: Aktor 1986,73.

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nisse einer jeglichen Entscheidung bezeichnen, soweit sie für den folgenden Verlauf der Ereignisse bedeutsam sind. Wenn der Handelnde aus seiner Perspektive nicht umhin kann zu wählen, so ist damit nicht entschieden, ob er dies "frei" kann. Die Entwicklungspsychologie von Piaget und die Erkenntnisbiologie von Maturana legen hier einen deterministischen Standpunkt nahe. Danach bilden sich im Laufe der kindlichen Entwicklung parallel zu den kognitiven ebenfalls affektive Schemata aus, die sich ganz ähnlich hierarchisieren wie die intellektuellen Strukturen. Entstehen auf diese Weise die Affekt- und Intellektstrukturen völlig gemeinsam und analog als Niederschlag aller Interaktionen des Menschen mit der Umwelt, dann können die Gefühle dem Denksystem keine Instruktionen erteilen, die nicht schon in den Kognitionen enthalten sind. Die Rede vom ,,freien Willen" aber impliziert die Vor- und Überordnung des Willens gegenüber dem Wissen, was den Willen aus den lebensgeschichtlichen Erfahrungen auslagert und zu einer transempirischen Entität stilisiert. Demgegenüber betont das Konzept des affektlogischen Bezugssystems die Gleichrangigkeit und Untrennbarkeit von Wissen und Wollen. Wie sich das Wissen in kognitiven Werthierarchien organisiert, so entwickelt das Fühlen eine Affekthierarchie, in der die höheren die niedrigeren Bezugssysteme dominieren. Der "Wille" ist dann nichts anderes als die Artikulation des in der jeweiligen Situation gegebenen höheren affektiv-kognitiven Bezugssystems. Da dieses Bezugssystem die Interaktionsgeschichte des Menschen und damit sein Bewußtsein bzw. seine Psyche repräsentiert, kann der Wille nichts sein, was außerhalb der Gesetzmäßigkeit des Systemzustands existiert. Der Wille ist vielmehr dieser Zustand selber und die Entscheidung folglich von diesem (affektlogischen) Zustand bestimmt. Der dritte Aspekt des kognitiven Handlungsbegriffs, die Veranwortlichkeit, leitet sich aus der menschlichen Fähigkeit ab, das affektlogische Bezugssystem verändern zu können. Die Veränderung kann dadurch eingeleitet werden, daß der Handelnde rückblickend darüber reflektiert, welche Vorstellungen, Ziele oder Werte für seine Entscheidungen maßgebend waren. Als Anknüpfungspunkt für zurechnendes Verhalten kommt also das Wissen des Handelnden um die Faktoren seines Handelns in Betracht. Dieses Wissen weiß auch um die ethischen Erwartungen anderer, und es weiß gegebenenfalls um die Nichtübereinstimmung zwischen der Eigen- und der Fremderwartung. Einem solchen Bewußtsein ist die Norm zumutbar, das an sich selbst zu erkennen, was in der Vergangenheit zu ,,Konflikten" geführt hat. Sind als Folge der ,,Konflikte" andere geschädigt worden, erscheint überdies die Erwartung berechtigt, die erkannte Handlungsdisposition zu verändern. Das kann freilich nur gelingen, wenn die systemtheoretische Einsicht Beachtung fmdet, daß Lernen kein einseitiger Vorgang der Introjektion von Informationen, sondern ein komplementärer Prozeß struktureller Veränderungen ist. Damit ist gemeint, daß die Veränderung von Kognitionen mehr voraussetzt als den

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Gebrauch von Gründen, die von außen an das Bewußtsein herangetragen werden. Wie wir aus der Theorie autopoietischer Systeme wissen, kann die Umwelt das lebende System nicht "bestimmen", nicht einmal im eigenen Sinne "beeinflussen". Sie bewirkt "Störungen", auf die das System so reagiert, wie es sein Zustand erlaubt. Da das System an seine Umwelt strukturell gekoppelt ist, reagiert es "adäquat", wenn die kognitive Struktur des Organismus derjenigen des Milieus entspricht. Man kann also sagen: Solange die strukturelle Koppelung nicht aufgelöst ist, "paßt" das Verhalten des Organismus zum Verhalten des Milieus; es kann nicht anders sein, als es ist. Will man es dennoch verändern, muß der Wandel des lebenden Systems in Einklang mit dem Wandel des Mediums stehen. Das hat für denjenigen, der zur Umwelt des Systems zählt, die Konsequenz, daß er sich selbst ändern muß, wenn er das Verhalten des Systems ändern will. Er kann sich nicht länger losgelöst von seinen Interaktionen mit dem anderen System sehen. Enthüllen seine Beobachtungen letztlich seine eigenen Handlungen, dann muß er auf Prämissen verzichten, die "objektive Beobachtungen" für möglich halten. Für den Bereich der Therapie ist deshalb anstelle einer unverrückbaren Krankheitslehre eine ,,Ethik des Beobachtens" gefordert worden, in der Diagnose und Behandlung relational und evolutionär und nicht isoliert und statisch erscheinen. 102 Auf den Krirninalitätsbereich übertragen, bedeutet die ,,Ethik des Beobachtens" die Aufforderung, das stratbare Verhalten als "stimmiges", folgerichtiges, "passendes" Resultat der Interaktionen des Straftäters zu begreifen. Aus dieser Sicht verbieten sich ,,Reaktionen", die sich allein aus dem Argument des "persönlichen Verdienens" rechtfertigen lassen. Vor allem verbietet die Berücksichtigung der Komplementarität allen Verhaltens jegliche moralische Diskriminierung, jeglichen Schuldvorwurf. Noch einmal: Die Forderungen nach Selbsterkenntnis und Veränderungsarbeit gehen fehl, wenn sie sich nicht auch an jene richten, die sie erheben. Erst der Aspekt der gemeinsamen Verantwortung für unsere konsensuellen Bereiche läßt es legitim erscheinen, dem einzelnen Rechtsbrecher seine Taten subjektiv zuzurechnen. Als Grund für die Verantwortlichkeit haben wir die spezifisch menschliche Fähigkeit bezeichnet, sich selbst beobachten und die Beobachtungen in künftige Entscheidungen einbauen zu können. Anknüpfungspunkt der subjektiven Zurechnung des (deliktischen) Verhaltens ist das Wissen um die eigenen Handlungsfaktoren. Mit dieser Definition der Verantwortlichkeit ist das zentrale Element der inneren Beteiligung des Handelnden an äußerem Geschehen benannt: die kognitive Orientierung. Die große Mehrheit der Strafjuristen will sich indes mit dem kognitiven Kriterium allein nicht begnügen, wenn es darum geht, innerhalb des Bereichs stratbaren Handelns nach verschiedenen Stufen der inneren Beteiligung am Geschehen zu differenzieren. Man glaubt, auf ein zusätzliches Kriterium, nämlich die voluntative Orientierung, nicht verzichten zu können. Im folgenden 102

Vgl. Keeney, Systemische Therapie 1987, 13.

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wird zu prüfen sein, ob das weitere Kriterium tatsächlich erforderlich ist, um zu einer sachgerechten Unterscheidung des deliktischen Verhaltens zwischen unachtsamer - sprich fahrlässiger - und vorbedachter - sprich vorsätzlicher Verletzung zu gelangen. Ein anderer Streitpunkt betrifft die Lokalisierung der subjektiven Zurechnung im Straftatsystem. Es geht dabei um die Frage, ob innere Beteiligung bereits die Handlung qualifiziert und deshalb schon im Tatbestand zu prüfen ist, oder ob die innere Beteiligung ein Merkmal der Schuld ist und deshalb zu einer vom tatbestandlichen Unrecht gesonderten Schuldebene gehört. Hinter dieser eher "technisch" anmutenden Frage steckt die Grundlagendiskussion um den strafrechtlichen Handlungsbegriff, die wir in diesem Abschnitt an den Beispielen der kausalen und der finalen Lehre erörtert haben. Für unsere eigene Lösung ist die Standortfrage der subjektiven Zurechnung im Verbrechensaufbau bereits mit der Definition der kognitiven Handlung entschieden. Wir brauchen nachfolgend also lediglich die Konsequenzen aus unseren Kriterien der Handlung zu ziehen, wenn wir zu den genannten Streitpunkten im Verbrechensbegriff Stellung nehmen. b) Subjektive Zurechnung

aa) Standort im Verbrechensbegriff Mit der Defmition des Handeins als Entscheidungsverhalten rückt die Kategorie der Subjektivität ins Zentrum der Betrachtung menschlicher Aktivitäten. Entscheidungen werden auf der Grundlage kognitiver Schemata gefällt, in der intellektuelle und affektive Komponenten untrennbar enthalten sind. Wesentlich zum Verständnis eines Handlungsverlaufs tragen wir danach erst dadurch bei, daß wir vom Aktor sagen: "Er wußte, daß ... " oder ,,Er dachte, daß ... ". Es genügt also nicht festzustellen, daß der Handelnde einen bestimmten Erfolg verursacht hat. Die Beschreibung eines in der ,,Außenwelt" bewirkten Kausalvorganges läßt die Frage nach der inneren Beteiligung des Handelnden an dem Geschehen offen und taugt somit nicht zur Grenzziehung zwischen Zufall und Fahrlässigkeit. Die Grenze zur ,,Erfolgshaftung" markiert die kognitive Orientierung. Sie bringt zum Ausdruck, daß der Handelnde auf die konditionalen Faktoren nicht bloß wie auf Stimuli reagiert, sondern daß er ebenso auf normative Muster bzw. auf Ziele, Absichten, Zwecke oder Wünsche referiert. Die Handlung ist dann folglich das Ergebnis von Entscheidungen zwischen alternativen Verläufen, die sich aus der Beziehung zwischen dem Aktor, seiner Situation und den relevanten normativen Mustern ergibt. Wenn die "Entscheidung" den Kern der Handlung ausmacht, ist Prüfort dieses Merkmals sinnvollerweise die Stelle im Verbrechensaufbau, wo die konkrete Tathandlung (das Töten, Betrügen, Beleidigen) zur Diskussion steht. Ohne das Merkmal der kognitiven Orientierung könnte die Perspektive des Handelnden und damit das konkrete Unrecht nicht ermittelt werden. Bei den Versuchsdelikten 34 Kargl

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ist die Notwendigkeit des Rückgriffs auf "subjektive Unrechtselemente" evident. Aber auch dem objektiv gegebenem Kausalgeschehen "Handlung-KausalitätErfolg" ist das Unrechtmäßige nicht ohne weiteres anzusehen, wenn nicht auf die innere ,,Einstellung" des Handelnden Bezug genommen wird. Erst das Merkmal der kognitiven Orientierung, die den individuellen Zustand des handelnden Gesamtsystems ausdrückt, ermöglicht es, eine sprachliche Formulierung aus der Sicht des Aktors zu geben. Allein auf diese Sicht kommt es bei der Bestimmung des (subjektiven) Unrechts an. Deshalb ist Welzel zuzustimmen, wenn er Unrecht als täterbezogenes, "personales" Handlungsunrecht bezeichnet: ,,Nicht die von der Täterpersoninhaltlich abgelöste Erfolgsverursachung (Rechtsgüterverletzung) erschöpft das Unrecht, sondern rechtswidrig ist die Handlung nur als Werk eines bestimmten Täters: Welche Zielsetzung er der objektiven Tat zweckmäßig gegeben, aus welcher Einstellung heraus er sie begangen hat, welche Pflichten ihm dabei oblagen, all das bestimmt maßgeblich das Unrecht der Tat neben der etwaigen Rechtsgüterverletzung. "\03 Mit Welzel besteht somit darin Einigkeit, daß die innere Beteiligung zentraler Bestandteil der Handlung ist und deshalb zum Tatbestand als dessen "subjektiver" Teil gehört. Die Wege trennen sich allerdings bei der Frage, ob der objektive und subjektive Momente integrierende Handlungsbegriff noch eine eigenständige Bedeutung für die traditionell überkommene Schuldstufe übrigläßt. Darüber entscheidet, was man unter "innerer Beteiligung" am äußeren Geschehen verstehen will. Geht man wie Welzel davon aus, daß der"freie Wille" das Rückgrat der zielbewußten Handlung darstellt, macht es Sinn, an einer gesonderten Schuldstufe festzuhalten. Ihr kommt dann die Funktion zu, das dem Täter auf der Unrechtsebene objektiv und subjektiv zugerechnete Handeln zusätzlich als moralisches Versagen vorzuwerfen. Voraussetzung für die "Vorwerfbarkeit" der rechtswidrigen Tat, für den Schuldvorwurf, ist immer die Feststellung, daß der Schuldige hätte anders handeln können. In dieser Gedankenkette begründet die individuelle Verhaltensalternative die ethische Mißbilligung, und diese wiederum rechtfertigt die traditionellen Methoden strafrechtlicher Sanktionen. Verneint man hingegen die Existenz einer realen Freiheit, die in ihrer Differenz zur tatsächlich gewählten Handlung erkennbar und meßbar sein müßte, so entfällt nicht nur die Basis für den Schuldvorwurf, sondern auch die Legitimation der herkömmlichen Strafpraxis. Wichtig erscheint nun die Frage, ob es eine dem Unrechtstatbestand vorgelagerte erste Stufe der Zurechnung geben sollte, in der das aus dem Handlungsbegriff ausgeschieden werden soll, was "auf den ersten Blick" als nicht zugehörig erkennbar ist. 104 Die Vorstellung, daß für das Strafrecht nicht in Betracht kommende Welzel, Strafrecht 1969, § 11 11. Krit. zur Abgrenzungsfunktion des allgemeinen Handlungsbegriffs Maiwald, Handlungsbegrijf 1974, 626; ebenso Armin Kaufmann, Handlungsbegrijf 1982, 21; ders., Personales Unrecht 1974,393. \03

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Sachverhalte ohne Vorgriff auf den Tatbestand ausgeschieden werden könnten, ist mehr als problematisch. Tatsächlich ist die Strafrechtslehre bei der Grenzziehung zwischen Handlungen und sogenannten Nichthandlungen (im strafrechtlichen Sinne) denn auch nicht über eine kasuistische Betrachtung von Einzelfällen hinausgekommen. Das liegt offensichtlich daran, daß die für eine strafrechtliche Zurechnung relevanten Aspekte der Handlung nicht von vornherein und insbesondere nicht unter Absehen der inneren Beteiligung am äußeren Geschehen feststehen. Für den im Kern subjektiv gefaßten Handlungsbegriff - wie wir ihn hier vertreten - entscheidet sich die strafrechtlich relevante Handlungsqualität erst bei der Prüfung der kognitiven Orientierung. Daß diese Prüfung nicht durch irgendeine "objektive" Evidenz, die der Sachverhalt vermeintlich aufweist, übersprungen werden kann, zeigen die Fallgruppen, die für die Ausscheidung aus dem Handlungsbegriff in Betracht kommen. An erster Stelle der Konstellationen, denen das Prädikat "Handlung" verweigert wird, stehen die Reflexbewegungen. 105 Die Begründung klingt plausibel: Handlungen sind strafrechtlich irrelevant, wenn sie unter keinem möglichen Gesichtspunkt von irgendeinem Menschen steuerbar 11)6 bzw. kontrollierbar 107 waren. Bei rein somatischen Körperreflexen, die unmittelbar durch einen das Nervensystem treffenden Reiz ausgelöst werden, fehlt zweifellos die Mitwirkung der geistig-seelischen Kräfte als Mindesterfordernis des Handlungsbegriffs. 108 Nach unserer Definition fehlt das Moment der kognitiven Orientierung, die Entscheidungsverhalten ermöglicht. Vom Standpunkt einer subjektiv konzipierten Handlungstheorie aus kann es also nicht zweifelhaft sein, daß "subjektloses" Verhalten nicht zurechenbar ist. Es muß aber gefragt werden, wie man das Fehlen der inneren Beteiligung feststellt, wenn man deren Prüfort im Verbrechensaufbau gar nicht erreicht. Darauf gibt es nur zwei Antworten, entweder man prüft vorweg, was zum subjektiven Tatbestand gehört, oder man glaubt, aus "äußerlichen Realitäten" den Unterschied zwischen Reflexverhalten und steuerbarem Handeln sozusagen phänomenologisch ausmachen zu können. Der erste Weg ist aus systematischen Gründen unhaltbar, der zweite entspricht nicht den Beobachtungen der Kognitionsbiologie. Die vom Strafrecht gezogene Grenze zwischen Handlungen und Nichthandlungen ist in der Sprache der biologischen Erkenntnistheorie die Grenze zwischen erlerntem und angeborenem Verhalten bewußtseinsbegabter Lebewesen. 109 Erlerntes Verhalten geht aus den Interaktionen zwischen den Menschen und ihren Medien hervor und verändert sich mit der weiteren Interaktionsgeschichte. Da das Individuum diese Geschichte beobachten und daher um die Verhaltensdispositionen wissen sowie das Wissen zur Grundlage neuen Verhaltens machen kann, 105 Eingehend zum Reflexbegriff vgl. Schewe, Reflexbewegung 1972, 55; Stratenwerth, Finalität 1974, 289. 106 Siehe Hassemer, Strafrecht 1981, 193. 107 Siehe Kindhäuser, Kausalanalyse 1982, 495. 108 Vgl. Jescheck, Strafrecht 1988, 201. 109 Siehe dazu näher Kap. 1 m 3.

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sind ihm seine Handlungen - in den geschilderten Grenzen - subjektiv zurechenbar. Es gibt jedoch Verhalten, das sich unabhängig von einer beobachtbaren Interaktionsgeschichte entwickelt. Solche Verhaltensstrukturen sind genetisch detenniniert und werden instinktiv genannt. Der Unterschied zwischen dem erlernten und dem instinktiven resp. angeborenem Verhalten besteht allein in der Geschichte der Strukturen, die das jeweilige Verhalten möglich machen. Während erlerntes Verhalten im Verlauf der Ontogenese erworben wird, resultiert das Instinktverhalten aus den immensen Zeiträumen der Phylogenese der Spezies. Die angeborenen Bewegungsmuster entziehen sich also den Lernprozessen eines Menschenlebens und sind daher nicht durch Selbstbeobachtung veränderbar. Das macht es aus, daß für "instinktives" Verhalten keine ,,Rechenschaft" verlangt werden kann. Die verschiedene "Herkunft" ist den beiden Verhaltensweisen indes nicht anzusehen. Sie unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer Natur und ihrer Verwirklichung. Aus diesem Grunde ist es nicht möglich, die relevante Differenz in den Konfigurationen des Verhaltens selbst aufzuspüren. Wenn wir Verhalten als angeboren oder erlernt klassifizieren wollen, müssen zuvor die Entstehungsbedingungen bestimmter Strukturen entschlüsselt werden. Ein solcher Nachweis ist bei menschlichen Lebewesen sehr schwierig und kann nur indirekt geführt werden. So lehrt uns z. B. die Untersuchung taub und blind geborener Kinder, daß bestimmte mimische Ausdrucksweisen wie das Lächeln, Lachen und Weinen auch bei diesen Kindern heranreifen, obwohl sie dergleichen nie am sozialen Modell wahrnehmen konnten. 110 Sehr viel mehr Beispiele für rein instinktgebundenes Verhalten lassen sich bezeichnenderweise gar nicht beibringen. Die Berichte von sogenannten Wolfsmenschen III zeigen überdeutlich, daß sich selbst elementare Fähigkeiten, wie auf zwei Beinen zu laufen, nur in einem menschlichen Kontext entwickeln. Wenn selbst die zum Laufen benötigten Strukturen in sozialen Interaktionen gelernt werden 112, wird man gut daran tun, für den menschlichen Bereich mit der Bezeichnung "Instinktverhalten" äußerst zurückhaltend zu sein. Die sozio-kulturelle Überfonnung sogar des ursprünglich phylogenetisch festgelegten Verhaltensrepertoires läßt es ratsam erscheinen, die Beurteilung der Zurechenbarkeit nicht von der Ebene des Tatbestandes zu abstrahieren. Das hat die Rechtsprechung in den praktisch gewordenen Fällen richtigerweise auch nicht getan. So untersucht sie etwa bei den Abwehrreaktionen zum Verscheuchen einer Wespe, ob der Vorgang noch über die innere Beteiligung·gesteuert war oder nicht. 113 Das ist eine Frage, die sich nicht durch eine Beschreibung des äußeren Vgl. Eibl-Eibesfeldt, Mensch 1988, 72. Siehe McLean, Wolf Children 1977; für die teilweise ähnlich gelagerten Fälle hospitalisierter Kinder vgl. die Berichte von Freud, Burlingham, Kinder 1971. 112 Vom Erwerb der Sprachfähigkeit ganz zu schweigen; vgl. dazu Mecacci, Gehirn 1988,37. 113 Vgl. dazu OLG Hamm NJW 75, 657, sowie umfassend zu den "Schreckreaktionen" im Verkehr Schönke-Schröder-Lenckner, Strafgesetzbuch 1987, Rn. 44 vor § 13. 110

III

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Geschehens sozusagen automatisch ergibt, sondern nur durch eine sorgfaltige Prüfung des subjektiven Tatbestandes erschlossen werden kann. Man muß sich - notfalls im Wege gutachterlieher Hilfe - darüber ein Urteil bilden, ob falsche Reaktionen auf plötzlich auftauchende Gefahrensituationen kognitiv beherrschbar sind. 114 Vor keine andere Frage sieht man sich bei den Beispielen gestellt, von denen die Literatur annimmt, daß bei ihnen die Erörterung subjektiver Zurechnung überflüssig sei. Es sind dies die Fälle, in denen die Wespe den Pkw-Lenker während der Fahrt sticht oder ins Auge fliegt und die "spontane" Abwehrbewegung einen Unfall herbeiführt. Dazu meinen Maurach-Zipf l15 : "Hier liegt keine Handlung vor, weil die Abwehrreaktion unmittelbar von der Schmerzeinwirkung ausgelöst wurde, ohne daß ein willentlicher Steuerungsprozeß des Handlungsablaufs stattgefunden hat." Für diese Auffassung mag einiges sprechen. Dennoch kann nicht bestritten werden, daß Schmerzen höchst unterschiedliche Reaktionen auslösen. Indianer verarbeiten sie anders als Mitteleuropäer, Frauen anders als Männer. Also ist die Annahme plausibel, daß Schmerzverhalten erlernt wird und verändert werden kann. Zu welchem Ergebnis hinsichtlich der Verantwortlichkeit man bei solchen Grenzfällen auch kommen mag, der richtige Prüfort ist nicht eine abstrakte, von der handelnden Person isolierte Vorstufe des Verbrechensbegriffs, sondern der Unrechtstatbestand selber, dessen objektiver Teil allein über die innere Beteiligung des Handelnden Sinn erhält. Mit anderen Worten: Über die Handlungsqualität entscheidet der subjektive Tatbestand. Definiert man Handeln als Entscheidungsverhalten, dann bedingt die Handlung die Zurechenbarkeit und umgekehrt: ohne Verantwortlichkeit keine Handlung, und ohne Handlung keine Verantwortlichkeit. Wer demgegenüber die Frage der Handlungsqualität von der Frage der Zurechenbarkeit trennt, der muß beiden Ebenen einen je eigenständigen Inhalt geben, will er nicht zweimal dasselbe prüfen. Die bevorzugte Lösung besteht darin, auf die vorgeschaltete Handlungsebene die kausale und auf den subjektiven Unrechtstatbestand die finale Betrachtung anzuwenden. 116 Das führt natürlich zu keinem integrierten Handlungsbegriff und verfehlt überdies den eigentlichen Zweck der Operation: die Abgrenzung menschlicher Handlungen von allem übrigen Geschehen. Die kausale Lehre definiert - wie wir bei Franz v. Liszt näher ausgeführt haben 117 - Handlung als "gewillkürtes Körperverhalten"118, als "willkürliches 114 Die Möglichkeit "totaler Handlungsunfahigkeit" wird z. B. von Spiegel, Fehlreaktionen 1968, 290 anerkannt. In unserem Zusammenhang interessiert allerdings weniger die ,,Lösung" des Falles als vielmehr die Methode, über die das Ergebnis erreicht wird. 115 Maurach, Zipf, Strafrecht AT 1987, 189. 116 Vgl. Maurach, Zipf, Strafrecht AT 1987, 188; Jescheck, Strafrecht 1988, 201; Wesseis, Strafrecht AT 1986, 24; Blei, Strafrecht I 1983, 111. 117 Siehe Kap. 5 I l. 118 Beling, Grundzüge 1902, 38.

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Bewirken objektiv bezweckbarer sozialerheblicher Folgen" 119 oder als "willensgetragene Körperbewegung" 120. Angelpunkt des Handlungsbegriffs ist danach der Wille. Ob ein bestimmtes Verhalten als Handlung gewertet werden kann, hängt davon ab, ob dieses Verhalten vom Willen gesteuert war oder nicht. Dabei interessiert nicht der Willensinhalt, sondern die Feststellung, daß überhaupt ein "willkürlicher Akt" vorgelegen hat. Ist dies der Fall, so ist das Verhalten strafrechtsrelevant bzw. "vertatbestandlichungsfähig".121 Sind Verhaltensweisen dagegen nicht Produkt eines steuernden Willens, können sie auch nicht tauglicher Anknüpfungspunkt der Strafhaftung sein. Aus diesem Handlungsbegriff läßt sich nicht entnehmen, aus welchen Gründen ein als Willenswerk zurechenbares Verhalten strafwürdig erscheint oder nicht. Folglich soll sich die Aufgabe des Handlungsbegriffs darin erschöpfen, den Bereich, der für das Zurechnungsurteil überhaupt in Frage kommt, inhaltlich zu bezeichnen und abzugrenzen. Darin liege sein systematischer Wert. 122 Indessen zeigt schon die außerordentliche Reichweite des kausalen Handlungsbegriffs, daß er nicht einmal diese negative Funktion zu erfüllen vermag. Faßt man den Willensakt nur als psychophysischen Vorgang, spricht nichts dagegen, auch tierisches Verhalten einzubeziehen. Gerade die affektiven Funktionen der Psyche sind den Tieren weniger abzusprechen als die kognitiven. Was demnach menschliches vom tierischen Verhalten unterscheidet, liegt eher im intellektuellen als im emotionalen Bereich. Wenn der Wille vorrangig als Gefühlsimpuls beschrieben werden muß - worüber es wohl keinen Streit gibt - , und Tiere zu solchen affektiv gestimmten Antrieben befähigt sind, dann bedarf es zur Beschränkung der strafrechtlichen Wertung auf menschliches Verhalten zusätzlicher, im kausalen Handlungsbegriff nicht enthaltener Kriterien. Es müßten solche sein, die überwiegend die kognitiven Möglichkeiten des Menschen betonen, wozu vor allem die Fähigkeit zählt, auf der Basis des affektlogischen Bezugssystems Entscheidungen treffen zu können. Wissen und nicht Wollen macht also die für das Strafrecht in erster Linie relevante Handlungsqualität aus. Dies läßt sich gut an den sog. Nicht-Handlungen belegen, die vermeintlich durch keinen Willensentschluß vermittelt worden sind, wie die bereits besprochenen Reflexbewegungen, Reaktionen im Zustand der Bewußtlosigkeit oder Handeln unter unwiderstehlicher Gewalt (vis absoluta). Nehmen wir wieder die Wespe, die den Kraftfahrer am Auge gestochen und dadurch bei ihm unkontrollierte Handbewegungen am Steuer ausgelöst hat, die einen Unfall verursachten. Von unseren vorherigen Überlegungen zur Fragwürdigkeit der Annahme absoluter Unwillkürlichkeit solcher Schmerzreaktionen einmal abgesehen, muß es bei deren Beurteilung eine Rolle spielen, ob sie sich 119 Engisch, Handlungsbegriff 1944, 164. Blei, Strafrecht I 1983, 111. 121 Bloy, Handlungsbegriff 1978,616. 122 Jescheck, Strafrecht 1988, 203. 120

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nicht ihrerseits auf einen kognitiven Akt beziehen lassen. Befand sich die Wespe schon eine geraume Weile im Inneren des Pkws, wird es darauf ankommen, ob der Fahrer die Wespe bemerkt hat; wenn ja, hat er das Risiko erkannt und sich mit ihm abgefunden? Gab es Möglichkeiten, die Gefahr auszuschalten, etwa durch Anhalten? Derartige Fragen zur Vorhersehbarkeit oder Vermeidbarkeit des Geschehensablaufs, die einen größeren Handlungszusarnmenhang ausleuchten, stellen sich ebenso bei Verhalten unter Hypnose, im Zustand der Bewußtlosigkeit oder bei erzwungenem Handeln. In all diesen Fällen kommt es für die Beurteilung der Strafbarkeit entscheidend auf die Art der inneren Beteiligung an, bevor der Handelnde in die "unausweichliche" Situation geriet. Er kann die Situation rechtzeitig erkannt und trotzdem ,,hingenommen" haben; er kann sie sogar zielstrebig provoziert haben. Von diesen Fragen zum weiteren Umfeld hängt ab, ob die auf den ersten Blick unwillkürlichen Reaktionen nicht doch der kognitiven Kontrolle des Handelnden unterlagen. Und davon wiederum hängt die Strafbarkeit des Verhaltens ab. Man sieht, die Handlungsqualität läßt sich nicht ohne Blick auf die Zurechenbarkeit beurteilen. Würde man die Handlungsqualität auf das Wollen reduzieren, müßte sie tierisches Verhalten umfassen. Also kann das voluntative Element nicht das entscheidende Kriterium menschlichen Verhaltens sein. Es liegt vielmehr im kognitiven Bereich, der nach übereinstimmender Meinung Teil des Unrechtstatbestandes ist. Dort muß dann konsequenterweise die Grenzziehung zur Erfolgshaftung, zum Zufall, zur Nicht-Handlung erfolgen. Im kognitiven Bereich entscheiden sich aber auch die Stufen der inneren Beteiligung. Für die Strafjuristen ist das die Unterscheidung von Vorsatz und Fahrlässigkeit als den markantesten Zwischenpunkten auf der langen Skala von Stufen innerer Beteiligung am äußeren Geschehen. 123 Es bleibt noch zu untersuchen, ob das für die Grenzziehung zu nichtzurechenbarem Verhalten als untauglich erwiesene voluntative Element nicht wenigstens seine Bedeutung für die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit behält. bb)Vorsatz und Fahrlässigkeit Die bei weitem verbreitetste Meinung geht dahin: Man könne auf das Willenselement im Vorsatz schon deshalb nicht verzichten, weil sonst eine sachgerechte Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewußter Fahrlässigkeit nicht gewährleistet sei. 124 Dabei verweist man auf den Autofahrer, der leichtsinnig 123 Die Skala reicht nach bisheriger Auffassung von der unbewußten über die bewußte Fahrlässigkeit, die Leichtfertigkeit, den mittelbaren (dolus eventualis) und den unmittelbaren (dolus directus) Vorsatz bis hin zur Absicht. 124 So die herrschende Lehre, wenn auch mit Abweichungen: vgl. Ambrosius, Vorsatzabgrenzung 1966; Roxin, Bedingter Vorsatz 1964, 53; Germann, Vorsatzprobleme 1961,345; Krümpelmann, Vorsatz 1975,888; E. A. Wolff, Dolus eventualis 1973, 197; Bockelmann, Volk, Strafrecht AT 1979, 83; Blei, Strafrecht AT 1983, 115; Eser, Strafrecht 11986, Nr. 3 A Rn. 44; Lackner, Strafgesetzbuch 1989, § 15 Anm. 11 3 b; Rudolphi,

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sein und das Leben anderer durch ein höchst gewagtes Überholmanöver in Gefahr bringt. Dieser Autofahrer - so wird weiter angenommen - "weiß" um die reale Möglichkeit des Unfalls. Käme es beim Vorsatz nur auf das Tatbewußtsein an, also auf das Bewußtsein des Täters von allen Geschehensmomenten, die nach dem Unrechtstatbestand die rechtsgutsverletzende Tat ausmachen, so müßte der Täter - ob es zu einem Unfall kommt oder nicht - zumindest wegen Versuchs der vorsätzlichen Tötung (§ 212 StGB) bestraft werden. Ein solches Ergebnis wird als unerträglich empfunden, weil der Täter die aus seiner Risikobereitschaft erwachsenen Folgen nicht "gewollt" habe; "denn wer fest darauf vertraut, daß alles gut geht und daß es ihm gelingt, eine Schädigung anderer zu vermeiden, will den Erfolg nicht, falls er wider Erwarten doch eintritt." 125 Der relevante . Unterschied zwischen Eventualvorsatz und bewußter Fahrlässigkeit besteht danach nicht auf dem Wissensmoment, sondern auf der Ebene des Wollens. 126 In beiden Fällen - so die Argumentation - rechnet der Täter mit der Möglichkeit, daß die im Gesetz genannten Umstände gegeben sind und daß sein Verhalten den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs bewirkt. Im Gegensatz zur Fahrlässigkeit, bei der der Täter auf das Ausbleiben des Erfolgs vertraut, nimmt der Täter beim dolus eventualis die Folgen jedoch hin und findet sich mit dem Risiko der Tatbestandsverwirklichung ab. Der gesamten Konstruktion liegt die Vorstellung zugrunde, Wissen und Wollen, Intellekt und Affekt, Kognition und Emotion könnten in der menschlichen Psyche unter ganz gewöhnlichen Bedingungen auseinanderfallen und sich wie feindliche Geschwister bekämpfen. Zusätzlich wird angenommen, daß die Chancen in dieser Zwietracht ungleich verteilt seien: Stets dominiere das voluntative gegenüber dem kognitiven Element. Das ist die Position der sog. Willenstheorie, welche die Unterordnung der Tatsachenvorstellung unter den Verwirklichungswillen betont. 127 An diesem Ansatz ist für die Zwecke des Strafrechts allenfalls richtig, daß sich der Vorsatztäter letztlich für die Rechtsgutsverletzung entscheidet. l28 Aber der Akt des Entscheidens ist keiner, der von kognitiven Systematischer Kommentar 1983, § 16 Rn. 43; Stratenwerth, Strafrecht AT 1981, 107; Nowakowski, Wiener Kommentar 1979, § 5 Rn. 13; Dreher, Tröndle, Strafgesetzbuch 1986, § 15 Rn. 2; Haft, Strafrecht AT 1984, 159. Zur Formel der Rechtsprechung vgl. BGH VRS 59, 184; BGH bei Holtz, MDR 1980, 812; BGH NStZ 1984, 19. 125 Wesseis, Strafrecht AT 1984, 57. 126 Gegen das voluntative Moment des Vorsatzes vor allem Schmidhäuser, Strafrecht AT 1984, 226; ders., VorsatzbegrifJ 1968, 14; ders., Fahrlässige Straftat 1980, 241; ders., VorsatzbegrifJ 1985, 156; Jakobs, Strafrecht AT 1983, 214; Frisch, Vorsatz 1983, 255; Weigend, Vorsatz 1981, 658; Schmoller, Vorsatzelement 1982, 285; Kindhäuser, Vorsatz 1984,21; Herzberg, Vorsatz 1986,249; H. Schumann, "Voluntatives" Vorsatzelement 1989, 427. Dagegen wiederum Küper, Vorsatz 1987, 479; Spendet, Vorsatz 1987, 181. 127 Vgl. dazu RG 51, 311; RG 58, 249; v. Hippel, Strafrecht Il 1930, 306; Mezger, Strafrecht 1949, 306; H. Mayer, Strafrecht 1953, 246. 128 Siehe Stratenwerth, Strafrecht AT 1981, 105; Maurach, Zipf, Strafrecht AT /1 1987,295; Jescheck, Strafrecht 1988,269.

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Strukturen isoliert betrachtet werden dürfte. Den Fehler der Willenstheorie haben wir schon bei Welzel bemängelt: In die Welt der Gesetzlichkeit tritt der Wille als ein Ungesetztes, als eine transempirische Entität ein und steuert von nun an die kausalen Prozesse. Dieser metaphysischen Spekulation haben wir die These des affektlogischen Bezugssystems entgegengesetzt, von dem die Entscheidungen und damit das Verhalten bestimmt werden. In diesem integrierten Denk- und Fühlsystem der Psyche gibt es kein Wollen ohne Wissen und kein Wissen ohne Wollen. Beide Elemente haben sich gemeinsam und parallel entwickelt, sind komplementär und untrennbar. Dies erklärt auch, warum die sog. Vorstellungstheorie 129 mit unserer Auffassung - zumindest die psychologischen Grundlagen betreffend - nicht übereinstimmt. Wir sagen, Wissen ist subjektabhängig, ist keine Widerspiegelung objektiver Tatbestände, sondern stets emotional eingefärbt, vom Gesamtzustand der handelnden Person geprägt. 130 Aus diesem Grunde bedeutet die Kenntnis der Tatbestandsmerkmale niemals einen gleichsam "neutralen" psychischen Vorgang, der mit der voluntativen Seite des Bewußtseins nichts zu tun hätte. Wer um die Folgen seines Handeins weiß, hat sich für diese Folgen entschieden. Infolgedessen kann er sich von dieser Entscheidung nicht distanzieren, ohne sich widersprüchlich zu verhalten. Im Grundsatz ist dieser Effekt des Konzepts der Affektlogik auch allgemein anerkannt. Er wird allerdings nicht konsequent durchgehalten, wie das Konstrukt der "bewußten Fahrlässigkeit" zeigt. Sehen wir uns die einschlägigen Fallgestaltungen im Hinblick auf die Wissensseite genauer an. Im Bereich der Stufen "innerer Beteiligung" gibt es beim "direkten Vorsatz" (dolus directus) am wenigsten Streit. Da es für die Kontroversen aufschlußreich ist, worin die gemeinsamen Grundlagen bestehen, verdient er unser besonderes Augenmerk. Die unstrittige Basis läßt sich auf den Satz zusammenziehen: Wissentliches Handeln ist stets vorsätzlich. Das ist der Fall des dolus directus. Weiß der Täter oder sieht er als sicher voraus, daß sein Handeln zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes führt, handelt er mit direktem Vorsatz. Dabei können zwei Fallgestaltungen unterschieden werden. Einmal erstreckt sich der direkte Vorsatz auf alle tatbestandsmäßigen Erfolge, deren Verwirklichung in der Sicht des Täters als notwendige Voraussetzung zur Erreichung des eigentlichen Handlungszieles erscheint. Wer seinen Schuldner nur dadurch zur Zahlung glaubt bewegen zu können, daß er seine Mahnung mit der Drohung verbindet, eine außerhalb der gegenseitigen Beziehung liegende Straftat anzuzeigen, handelt mit dem direkten Vorsatz der Nötigung. l3l Schließlich wird dolus directus auch 129

Insbesondere vertreten von Frank, Strafgesetzbuch 1931, § 59 I und Liszt-Schmidt,

Strafrecht 1932, 256.

130 Ähnlich Köhler (Fahrlässigkeit 1982,312): "Schon die sinnliche Wahrnehmung darf nicht als isolierte Leistung im Gegensatz zum geistigen Verstehen aufgefaßt werden; vielmehr enthält sie selbst schon immer eine reflexive kategoriale Synthesisleistung des Bewußtseins, worin die unendliche sinnliche Mannigfaltigkeit sich ordnet." 13l Das Beispiel stammt von Stratenwerth, Strafrecht 1981, 106.

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bezüglich solcher Neben/olgen angenommen, deren Eintritt der Täter für den Fall der Verwirklichung des Handlungszieles als unvermeidlich ansieht. Ein charakteristisches Beispiel für als notwendig erkannte Tatfolgen besitzt der von Binding I32 eingehend geschilderte Fall Thomas: Einbau einer Höllenmaschine in einen Ozeandampfer, um zwecks Erlangung der Versicherungssumme das Schiff aufhoher See sinken zu lassen, wobei es dem Täter klar war, daß niemand der Besatzung die Katastrophe überleben konnte. Kalkuliert der Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg - z. B. die Nötigung oder die Tötung der Schiffsbesatzung - als unabweisbar in das Gesamtgeschehen ein, so handelt er wissentlich und ausnahmslos vorsätzlich. Dies heißt nun nichts anderes, als daß es auf die innere Einstellung des Täters im Sinne von "Zustimmung", "Einwilligung", "Bejahung" als Durchgangsstufe zur Verwirklichung des eigentlichen Handlungszieles überhaupt nicht ankommt. Die Nebenfolge der Tat mag ihm unter Umständen äußerst zuwider sein, er mag sie gefühlsmäßig weder "billigen" noch gar "wünschen", das ändert nichts daran, daß sich der Täter in Kenntnis der unausweichlichen Nebenfolgen dennoch für das Handlungsziel entschieden hat. Infolgedessen erstreckt sich die Entscheidung für das eigentliche Ziel auch auf die Verwirklichungsstufen dieses Ziels. In der Sache ganz ähnlich hat sich schon das Reichsgericht geäußert: "In diesem Sinne handelt vorsätzlich in Beziehung auf einen gewissen Erfolg, wer das Bewußtsein hat, daß seine Handlung den Erfolg notwendig herbeiführen werde, ohne daß es darauf ankommt, ob der Zweck seiner Handlung in diesem oder einem anderen Erfolge bestand; denn die als notwendig erkannten Folgen der Handlung werden von dem Handelnden in den Willen aufgenommen, auch wenn ihm an diesen Folgen nichts liegt." 133 Der Täter kann also die erkannten Konsequenzen seines Verhaltens nicht deshalb aus seiner Entscheidung für das Handlungsziel ausklammern, weil sie ihm "unerwünscht" sind oder weil es ihm auf diese Konsequenzen nicht ankommt. Handelt der Täter um des Handlungszieles willen, so klammert er die Konsequenzen auch gar nicht aus. Er muß sich vielmehr sagen: Ich habe mich für ein bestimmtes Ziel in Kenntnis der dafür erforderlichen Schritte entschieden. Somit ist das Wissen um alle Umstände, die als notwendige Voraussetzungen oder Folge der Zielerreichung erscheinen, wesentlicher Bestandteil der Entscheidung. Wieder bestätigt sich: Es gibt kein Wollen ohne Wissen. Oder anders formuliert: Es gibt kein unbestimmtes, inhaltsloses, leeres Wollen. Nur wenn man das voluntative Moment abstrakt nimmt, kann es vom kognitiven isoliert und als dessen Widerpart gesehen werden. 134 Daß Wissen und Wollen stets eine Einheit bilden Binding, Normen 1I 1914, 85l. ROSt 5,315; vgl. auch BOHSt 7,363; 21, 283; Maurach, Zipf, Strafrecht AT /1 1987, 299; Stratenwerth, Strafrecht AT 1981, 106; Wesseis, Strafrecht AT 1984, 60; Blei, Strafrecht I 1983, 114; Jescheck, Strafrecht 1988, 268; Otto, Strafrecht 1976, 94. 134 So auch im Anschluß an Hegel die Begriffsbestimmung der Willensautonomie bei Köhler: "Wille und Selbstbewußtsein haben also nicht etwa den Sinn getrennt für 132 133

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und nicht gegeneinander ausgespielt werden können, demonstriert auch jene Fallgruppe des direkten Vorsatzes, bei der das Wollen ganz im Vordergrund zu stehen scheint: der Absicht der Rechtsgutsverletzung. Anders als bei den bisherigen Konstellationen bildet hier die Tatbestandsverwirklichung das eigentliche Ziel der Handlung. Absichtlich handelt danach, wem es darauf ankommt, die tatbestandsmäßige Handlung oder den im Tatbestand vorausgesetzten Erfolg oder beides zu verwirklichen. 135 Diese Definition legt die Vermutung nahe, als erschöpfe sich die Absicht im Willensfaktor des Vorsatzes. Soweit mag niemand gehen, aber herrschend ist doch die Auffassung, daß der Wille gegenüber dem Wissen bei der Absicht dominiere. Das ist nicht einsichtig, wenn man die Fallgruppe des direkten Vorsatzes mit derjenigen der Absicht vergleicht. Jescheck meint dazu: "Charakteristisch für die Absicht ist, daß der Täter sein Verhalten nach der Zielvorstellung einrichtet, und daß er im Interesse der Erreichung des Ziels tätig wird." 136 Absicht kann man hiernach kürzer als "zielgerichteten Willen" verstehen. 137 Diese Defmition umfaßt jedoch in gleicher Weise den direkten Vorsatz: Auch bei ihm handelt der Täter zielgerichtet. Wie sollte er sonst handeln? Der Unterschied besteht lediglich darin, daß sich das eine Mal der Täter direkt oder unmittelbar für die Tatbestandsverwirklichung entscheidet, das andere Mal mittelbar als Durchgangsstufe für ein darüber hinausgehendes Ziel. In beiden Fällen "will" der Täter die Rechtsgutsverletzung, und in beiden Fällen genügt der "Wille" alleine nicht. Hinzukommen muß natürlich das Tatbewußtsein. Zum Tatbewußtsein zählt als Mindestvoraussetzung strafrechtlicher Haftung die Vorhersehbarkeit der möglichen Rechtsgutsverletzung. 138 Wo der Täter nur hofft, daß der Erfolg eintreten möge, kann er ihn nicht vorhersehen. Also setzt die Vorhersehbarkeit zu allererst das Bewußtsein des Täters voraus, daß er das Geschehen steuern kann. In dem bekannten Schulbeispiel, in dem der Erbonkel in den Wald geschickt wird, um vom Blitz erschlagen zu werden, besitzt der Täter keinerlei Einfluß auf den Ablauf des Geschehens; es fehlt ihm der"Verursachungswille" 139 oder besser, es fehlen ihm die für die Tatentscheidung erforderlichen kognitiven Voraussetzungen. Infolgedessen kann er nicht einmal den Entschluß (§ 22 StGB) zu dieser Tat fassen und auch nicht wegen Versuchs bestraft sich bestehender Existenzen, sondern sind nur ein Sachverhalt einer immer mit dem Subjektsein schon gesetzten und ins Selbstbewußtsein gehobenen inhaltlichen Selbstsetzung. Damit ist die Rede von einem ,Wissenselement' und einem ,Willensmoment' , versteht man sie inhaltlich getrennt, unvereinbar" (Fahrlässigkeit 1982, 187). 135 Siehe dazu Schroeder, Leipziger Kommentar 1978, § 16 Rn. 86; Rudolphi, Systematischer Kommentar 1983, § 16 Rn. 36. Zu Unrecht wird von Schönke-Schröder-Kramer, Strafgesetzbuch 1987, § 15 Rn. 65, die Absicht auf das Erstreben des Erfolgs beschränkt. 136 leseheck, Strafrecht 1988, 267. 137 Vgl. dazu Engisch, Untersuchungen 1930, 141; ferner Gehrig, Absichtsbegrijf 1986. 138 Vgl. dazu Otto, Strafrecht 1976, 93. 139 Blei, Strafrecht I 1983, 114.

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werden. In den Fällen, in denen der Täter etwas will, was er nicht verwirklichen kann, ist es berechtigt, von Hoffen, Glauben, Wünschen etc. zu sprechen, aber nicht von Vorsatz oder Absicht. Tatbewußtsein erfordert mithin das Wissen des Täters um einen Tatverlauf oder einen Taterfolg, den er beherrschen kann. Wenn dieses Wissen bei der Absicht nicht entbehrlich ist, dann läßt sich auch nicht sagen, daß das Wollen das absichtliche Handeln dominiere. Das eine Moment der Psyche setzt immer das andere voraus und umgekehrt. Aus diesem Grunde kann ein Wollen ohne das Wissen um das Können ebensowenig sinnvoll konstruiert werden wie ein Wissen ohne den Handlungsimpuls des Wollens. Mit dieser Erkenntnis ist nun die strafrechtliche Unterscheidung von bedingtem Vorsatz (dolus eventualis) und bewußter Fahrlässigkeit nicht mehr vereinbar. Unter bewußter Fahrlässigkeit soll jene Konstellation fallen, in der der Täter einerseits Tatbewußtsein hat, also die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes ernstlich für möglich hält, andererseits aber glaubt, die Gefahr beherrschen zu können. Der Täter sagt sich, ich weiß zwar, daß der Taterfolg eintreten kann, wenn ich weiter handele, aber ich vertraue darauf, daß nichts passiert. Das ist die aus der Sicht der ,,Affektlogik" unmögliche Trennung von Wissen und Wollen. Eine eingehendere Untersuchung der einschlägigen Fälle bestätigt, daß diese Trennung im entscheidenden Augenblick des Handelns auch gar nicht vorliegt. Erinnern wir uns an den alltäglichen Fall des Autofahrers, der sich und andere durch ein höchst gewagtes Überholmanöver in Lebensgefahr bringt. Straßenverkehrsunfälle dieser Art scheinen sich als Paradebeispiele für die Notwendigkeit der Konstruktion einer bewußten Fahrlässigkeit zu eignen. Deutet man nämlich diese Fälle so, daß sich der Fahrer der Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung bewußt gewesen sei, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten, Vorsatz zu vermeiden: Entweder man stellt übertriebene Anforderungen an die Wissensseite, oder man hebt auf das voluntative Moment ab. Der erste Schritt - die sog. Wahrscheinlichkeitstheorie 140 - trägt nicht wirklich zur Abgrenzung bei und wird infolgedessen kaum noch vertreten 141 Der zweite Schritt ist in Lehre und Rechtsprechung zwar herrschend, aber er stimmt nicht mit der Sachlage überein. Die ganz überwiegende Meinung muß in diesen Fällen eine gleichzeitige Nichtübereinstimmung oder Diskrepanz von Wissen und Wollen postulieren: Zwar rechne der Täter mit der 140 Nach dieser Ansicht liegt Vorsatz vor, wenn der Täter den Eintritt einer Tatbestandsverwirklichung nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich angesehen hat; so vor allem H. Mayer, Strafrecht AT 1953, 250; Sauer, Strafrechtslehre 1955, 165; Wegner, Strafrecht AT 1951, 148. Zur Kritik vgl. ausführlich Maurach, Zipf, Strafrecht AT111987, 301; Dreher, Tröndle, Strafgesetzbuch 1989, § 15 Rn. 11. 141 Ausnahmen sind Pöhl, Vorsatz 1974, 484; wohl auch Kühn, Dolus eventualis 1967,24. Nach Jakobs, Strafrecht AT 1983, 222, liegt bedingter Vorsatz dann vor, "wenn der Täter im Handlungszeitpunkt urteilt, die Tatbestandsverwirklichung sei als Folge der Handlung nicht unwahrscheinlich". Zur Bestimmung des Grades der dabei zu fordernden Wahrscheinlichkeit siehe Jakobs, ebd. 226. Auch Herzberg vertritt eine Variante der Wahrscheinlichkeitstheorie, wonach es für die Abgrenzung auf den Grad der Gefahr für das geschützte Rechtsgut ankommen soll, vgl. Vorsatz 1986, 259.

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Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung, er wisse auch, daß sein Verhalten den Erfolg bewirkt, aber er wolle ihn nicht, weil er ihn nicht "billige", weil er in den Erfolg nicht "einwillige"142, weil er mit ihm nicht "einverstanden" sei, weil er sich mit ihm nicht "abfinde" 143 etc. Akzeptiert man diese sich teilweise widersprechenden Formulierungen, so muß man psychologisch erklären können, wie es möglich sein soll, daß der Täter einen Erfolg bewußt kalkuliert und ihn zur gleichen Zeit nicht will. Worin soll sich dann das "Nicht-Abfmden" mit dem Erfolg äußern? Kann in ein und derselben Handlung eine Entscheidung für und eine Entscheidung gegen die Tatbestandsverwirklichung erblickt werden? Das ist in der Tat denkbar, aber nur wie noch kurz zu zeigen sein wird - unter pathologischen Bedingungen. Geht man indes von nicht-pathologischen Voraussetzungen aus, so ist einzig eine Interpretation des Geschehens plausibel, in der sich der Täter im entscheidenden Handlungsaugenblick der konkreten Möglichkeit des Erfolgseintritts eben nicht bewußt ist. Das schließt nicht aus, daß sich der Täter im Verlauf des Geschehens zunächst der Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung bewußt war. Im Zeitpunkt, der dem Handeln unmittelbar vorausgeht, verneint er jedoch in seinem Bewußtsein diese Möglichkeit, weil er an die Beherrschung der aus seinem Handeln resultierenden konkreten Gefahr glaubt. Wer davon ausgeht, daß er die Rechtsgutsverletzung vermeiden kann, der hält ihren Eintritt nicht mehr für möglich, zumindest nicht für konkret möglich. Es genügt also für das Tatbewußtsein nicht die Erkenntnis einer abstrakten Gefahr, vielmehr muß der Täter mit einer realen, naheliegenden, im Handlungszeitpunkt ernstlich drohenden Rechtsgutsverletzung rechnen. Daß er damit nicht gerechnet hat, erschließt sich aus dem "Weiterhandeln". Jede andere Deutung wäre - um Wesseis 144 Wertungen zurückzugeben - "willkürlich und lebensfremd", sie liefe z. B. auf eine Interpretation des Straßenverkehrs hinaus, in dem sich die Menschen bewußt gegenseitig verletzen bzw. töten, und das, obwohl sie es nicht wollen. Schmidhäuser hat völlig recht, eine solche "Spaltung" fmdet in der nichtpathologischen menschlichen Psyche keine Grundlage: ,,zugleich für konkret möglich halten, daß der Erfolg eintrete, und doch darauf vertrauen, daß er nicht eintrete: Die Annahme solchen Wider142 Zur vornehmlich von der Rechtsprechung vertretenen Einwilligungs- oder Billigungstheorie vgl. RGSt 33, 5; 72, 36; 76, 115; BGHSt 7, 363; 21, 283; BGH JZ 81, 35 mit Anm. Köhler; BGH VRS 59, 183; 64, 112; NStZ 84, 19; vgl. auch Baumann, Strafrecht AT 1977, § 26 III 2 b; Maurach, Zipf, Strafrecht AT /1 1987,301; Wesseis, Strafrecht AT 1984, 61. 143 So Jescheck, Strafrecht 1988, 269; Roxin, Bedingter Vorsatz 1964,61; Rudo1phi, Systematischer Kommentar 1983, § 16 Rn. 43. Demgegenüber konstatiert Köhler eine

"Willensschuld" der bewußten Fahrlässigkeit "als eine vermittelt über die Selbstkorrumpierung der richtigen Verhaltenseinsicht verlaufende selbstbegründete Negation der Unrechtseinsicht" (Fahrlässigkeit 1982, 385). Damit wird das Wissensdefizit nicht auf den unmittelbaren Handlungsentsch1uß, sondern auf den vorgelagerten Prozeß des Sichachtlos-Machens bezogen. Dieser Prozeß muß dann freilich als "frei" gesetzt gedacht werden. Vgl. dazu auch den Ansatz von E. A. Wolff, Handlungsbegrijf 1965,24. 144 Wesseis, Strafrecht AT 1984, 61.

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spruchs ist nur der juristischen Theorie über menschliche Seelenvorgänge möglich." 145 Trotzdem kann nicht geleugnet werden, daß es seelische Zustände der Art gibt, die in der juristischen Konzeption der bewußten Fahrlässigkeit unterstellt werden. In der Sicht der Affektlogik sind es krankhafte psychische Zustände. Sie entsprechen der innerpsychischen Struktur gewisser "Schizophrener", die an einer kognitiven Störung, einer fundamentalen Unklarheit, Widersprüchlichkeit und Labilität von wichtigen affektiv-kognitiven Bezugssystemen leiden. Ohne auf die Genese der Schizophrenie auf der Grundlage der Affektlogik näher einzugehen 146, sei lediglich daran erinnert, daß klare innerpsychische Strukturen - und damit auch Klarheit und Sicherheit im Verhalten - nur aufgrund zwischenmenschlicher Erfahrungen und Kommunikationsformen entstehen, in denen Fühlen und Denken bzw. affektive und kognitive Kommunikationselemente kongruent sind, sich gegenseitig bestärken und bestätigen. Erstere werden durch die konkrete Aktion, insbesondere durch die analogische Sprache der Gesten, letztere durch die viel abstraktere digitale Wortsprache vermittelt. Sagen beide dasselbe, so ist die Botschaft leicht zu entziffern und adäquat zu verarbeiten. Die Folge ist naturgemäß eine tendenziell harmonische Psyche, in der die geistigen und die affektiven Vorgänge im Einklang stehen, eine ökonomische Ordnung erzeugen und Spannung abbauen. Eine solche Psyche steht auch mit ihrer Umgebung insofern eher in "Übereinstimmung", als klare affektiv-kognitiv kongruente Botschaften beim Partner eindeutige, für Gefühl und Denken gleichlautende Antworten auslösen. Es liegt auf der Hand, daß ein derartig gleichgerichteter Kommunikationsstil zu einer ganz anderen Prägnanz der Selbst- und Objektrepräsentanzen führt als ein Austausch voller Inkonsistenzen und Zweideutigkeiten. Viele Befunde aus der einschlägigen Forschung sprechen nun in der Tat dafür, daß neberi Erb-, Schwangerschafts- oder Geburtsschäden namentlich konfus-widerspruchsvolle familiäre Kommunikationsmuster zur Ausbildung von dysfunktionalen Denk-, Fühl- und Verhaltensprogrammen beitragen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Double-bind-Situation, in der die normalerweise untrennbar zusammengehörenden kognitiven und affektiven Kommunikationselemente divergieren. Eine entsprechende Disharmonie zwischen Fühlen und Denken ist die notwendige Folge: Der körperlich-affektive und der geistig-kognitive Pol der Psyche schwingen nicht mehr zusammen, sie dementieren sich und treten in Widerspruch zueinander. 147 Schmidhäuser, Strafrecht AT 1984, 228. Vgl. zur Theorie der Schizophrenie in der Sicht der Affektlogik Ciompi, Affektlogik 1982, 177, 238; ders., Schizophrenie 1985, 59; ders., Affektlogik 1986, 398; ders., Außenwelt, Innenwelt 1988, 321. 147 Mit dieser Auffassung geht weitgehend einher die Kognitive Psychotherapie von Beck (1979) sowie die Rational-emotive Therapie von Ellis (1982). 145

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I. Strafrechtliche Handlungstheorien

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Die destruktive Wirkung solch gegensätzlich getönter Bezugssysteme wird verständlicher, wenn man sich die Funktion der Psyche genügend klarmacht. In erster Linie dienen die affektiv-kognitiven Raster oder Schemata, durch die wir die Wirklichkeit erfassen, der ökonomischen Reduktion von Spannung im Umgang des Individuums mit der Umwelt. Wenn diese Raster nun mit gänzlich unstimmigen Gegenrastern konfrontiert werden, so geht dieser spannungslösende Effekt schlagartig verloren; es entsteht im Gegenteil eine grundlegende Verunsicherung, eine hochgradig unlustvolle Unordnung, die das psychische Instrumentarium zur Konstruktion des "Ich" und der "Welt" erschüttert und in Frage stellt. Den Grund für die durch Widersprüche und Paradoxa ausgelösten Irritationen der Psyche finden wir in deren Genese: Erst die Erfassung einer gefühlsmäßigen und kognitiven Regelmäßigkeit (= Auszug einer Invarianz) hatte ja die Bildung von internalisierten Bezugssystemen erlaubt; der Widerspruch hingegen erweist nun die Regel als nicht mehr stimmig. Den sich aufschaukelnden Prozeß solcher "Verrückungen" des affektlogischen Fokus auf widersprüchliche Denk- und Fühlsysteme schildert Ciompi so: "Das ,Geamtsystem Psyche' arbeitet zunehmend unökonomisch; infolge der kognitivaffektiven Mehrdeutigkeiten und Widersprüche muß zudem unter erschwerten Bedingungen ständig weit mehr Information verarbeitet werden als gewöhnlich. Die intemalisierten, affektiv-kognitiven Schemata und Bezugssysteme werden dadurch ohne Zweifel in ihrer Prägnanz und Eindeutigkeit erheblich beeinträchtigt, was in einem Teufelskreis wiederum die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung vermindert. Das Ergebnis solcher zirkulärer Prozesse kann nichts anderes als eine erheblich gesteigerte, intrapsychische Spannung und Konfusion sein. Es ist offensichtlich, daß sich hieraus direkte Beziehungen zur sogenannten ,lchschwäche', das heißt zu allgemeiner Unsicherheit, Verletzlichkeit und Streßempfmdlichkeit, und darüber hinaus wohl auch zu den spezifischen und heute vielfach als zentral angesehenen Störungen der Informationsverarbeitung psychosegefährdeter Menschen ergeben." 148 Die Verletzlichkeit, von der Ciompi hier spricht, rührt daher, daß die Psyche im weiteren Stadium der psychopathologischen Gefährdung die spannungserzeugenden "Deformationen" aus der Umwelt nicht mehr auszugleichen, nicht mehr informatorisch zu "verarbeiten" vermag. Solche Gleichgewichtsstörungen manifestieren sich insbesondere als Auftrennung, Verzerrung oder Verschiebung zwischen gedanklichen Inhalten und Affekten. So zeigen sich bei den abnormen Trauerreaktionen die Affekte wie ausgestanzt aus den zugehörigen kognitiven Bezügen; bei Neurosen kommt es schon zu längerdauernden und ausgedehnteren Verschiebungen zwischen Denken und Fühlen; in akuten schizophrenen Zustandsbildern schließlich beobachtet man eine durchgehende, zeitlich nicht mehr begrenzte Veränderung in der emotionalen Färbung von nahezu allen kognitiven Strukturen. Solcherart umfassende Desorganisation der gegenseitigen Zuordnung von Gefühlen und Gedanken läßt sich besonders anschaulich am Beispiel der psychosomatischen Störungen im engeren Sinn (Magenulkus, Asthma bronchiale, 148

Ciompi, Affektlogik 1982, 218.

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Kap. 5: Ordnung durch Strafrecht

gewisse Hypertoniefonnen etc.) demonstrieren. Offenbar ist hier die Verbindung vom Denken zum Fühlen über weite Strecken völlig unterbrochen. Das Denken ist - in den Worten Ciompis 149 - "gefühlsentleert und mechanisch; die Gefühle aber sitzen - und wirken! ~ sozusagen unzugänglich abgekapselt in bestimmten Körperregionen oder Organen". Das Bild von der Abkapselung der Gefühle ließe sich mit derselben Berechtigung auf die späteren Stadien der Psychose verwenden, wo die Gefühle - als kompensatorische Reaktion auf zweideutige Infonnationen - in einen rigiden Wahn eingesperrt werden. Je nachdem, ob in der Psyche das Denken oder die Gefühle dominieren, können nun ein- und dieselben Personen oder Situationen abwechselnd mit völlig positiven oder völlig negativen Affekten belegt werden. Diese pathologische Ambivalenz hat ihr psychisches Korrelat in der Verworrenheit, Unklarheit, Labilität und Unberechenbarkeit der affektivkognitiven Bezugssysteme. Es scheint, als ob sich bei diesen Patienten zwei oder mehrere nicht kongruente Netzwerke überlagern und an manchen Stellen verwikkeIn würden. 150 Sie leben in zwei verschiedenen affektlogischen Bezugssystemen zugleich, jedenfalls so lange, bis die konträren Werte und Stimmungen wieder in ein subtiles Gleichgewicht gebracht werden. Es dürfte jetzt klar geworden sein, daß der in der juristischen Konstruktion der "bewußten Fahrlässigkeit" vorausgesetzte psychische Zustand ein psychopathologisches Krankheitsbild impliziert. Die Trennung von Wissen (Für-MöglichHalten des Erfolgs) und Wollen (Nicht-Einwilligen; Nicht-Abfinden) entspricht der psychischen Desorganisation in kognitive und affektive Komponenten. Dieses Auseinanderdriften von Denken und Fühlen ist für psychotische Zustände charakteristisch. Wer dem Handelnden in der konkreten Situation eine solche Ambivalenz zuschreibt, der bescheinigt ihm nach allen Erkenntnissen der modernen Schizophrenieforschung zugleich Zurechnungsunfähigkeit. Denn gegen das eigene Fühlen in Kenntnis der Umstände und Folgen dennoch zu handeln, heißt die zentrale Aufgabe der Psyche, den Ausgleich von "Störungen", nicht zu bewältigen. Nimmt man also die "bewußte Fahrlässigkeit" in den Bereich der subjektiven Zurechnung auf, so muß man ein schizophrenes Tatbewußtsein für zurechnungsfähig halten. Daß das nicht sinnvoll ist, ergibt sich aus der bei Psychotikern erheblich eingeschränkten Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und zu Lernprozessen. Fazit: Vorsätzlichkeit ist gegeben, wenn der Täter im Zeitpunkt seines Handelns die Tatbestandsverwirklichung erkennt (direkter Vorsatz) oder zumindest für konkret möglich hält (Eventualvorsatz). Entsprechend unseres Konzeptes der Affektlogik ist im Wissenselement das Wollen untrennbar enthalten. Deshalb ist es nicht falsch, den Vorsatz als "Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung" zu bezeichnen, vorausgesetzt, die beiden Elemente werden als vollständig Ciompi, Affektlogik 1986,400. Als pathologische Extremform wird neuerdings die "Multiple Personality Disorder" beschrieben; vgl. Spiegel 37 (1989), 220. 149

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II. Straftheorien

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komplementär, analog und kongruent aufgefaßt. In Konsequenz des Gesagten ist Fahrlässigkeit dann gegeben, wenn der Täter infolge einer Verletzung der gebotenen Sorgfalt die konkrete Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung nicht erkennt (sog. unbewußte Fahrlässigkeit). Fahrlässig kann der Täter also nur handeln, wenn das Tatbewußtsein und damit auch der Tatwille fehlen. Sollte das Tatbewußtsein zu bejahen und der Tatwille zu verneinen sein - wie bei der sog. "bewußten Fahrlässigkeit" - , so ist die Einheit des affektiv-kognitiven Bezugssystems aufgelöst und die Grenze der Zurechnungsfahigkeit überschritten. Man kann also sagen: Zurechnungsfähig handelt derjenige, der in der Lage ist, nach einem kongruenten affektlogischen Schema zu handeln; wer hingegen dazu außerstande ist, weil sich die Schemata widersprechen, der kann für seine Handlungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Vorsätzlich handelt danach, wer affektlogisch handelt; fahrlässig handelt, wer bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt affektlogisch handeln könnte.

11. Straftheorien 1. Ordnung durch Spezialprävention a) Einleitung

Die knappen Hinweise zur subjektiven Zurechnung im Strafrecht sollten aufzeigen, daß der Handlungsbegriff zu weit mehr als nur zur Grenzziehung zwischen zurechenbarem und strafrechtlich irrelevantem Geschehen taugt. Wenn man darüber befindet, was menschliches Handeln gegenüber dem Zufall und allen übrigen Vorgängen in der Welt auszeichnet, dann macht man Aussagen über den Inhalt der subjektiven Zurechnung und entscheidet damit zugleich über deren Standort im Verbrechensbegriff. Man befmdet aber auch über die Berechtigung oder Nichtberechtigung einer vom Unrechtstatbestand gesonderten Schuldstufe, die dem Täter sein Handeln als "selbstverschuldet" vorwirft. Also bestimmt der Handlungsbegriff nicht nur die Definitionen der Stufen innerer Beteiligung (Vorsatz und Fahrlässigkeit), sondern auch die Gliederung des Deliktsaufbaus. Die Bedeutung der Handlungstheorie ist indes mit ihren dogmatischen Funktionen nicht erschöpft: Sie prägt darüber hinaus entscheidend unsere Vorstellungen vom Sinn und Zweck der staatlichen Strafe. Das kann nicht verwundern, wenn man den inneren Zusarnrnenhang von Handlungstheorie und Ordnungstheorie bedenkt, auf den wir in dieser Arbeit im Anschluß an Parsons Handlungsbezugsrahmen ausführlich eingegangen sind. 1 Umso erstaunlicher ist es, daß die strafrechtliche Lehrbuch- und Kommentarliteratur diesen Zusammenhang nur selten systematisch thematisiert. Dies erweist in aller Regel schon ein Blick auf das 1

Siehe den Abschnitt "Ordnungstypen" in Kap. 3 II.

35 Kargl

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Kap. 5: Ordnung durch Strafrecht

Inhaltsverzeichnis, wo der Darstellung des Straftatsystems zumeist ein "staatstheoretisches" Kapitel vorgeschaltet ist, in dem aus allgemeinen Staatszielen die besonderen Strafzwecke gefolgert werden. 2 "Wesen", ,,Funktion" und ,,Rechtfertigung" der Strafe erscheinen auf diese Weise als Derivate einer Ordnungskonzeption, die mehr oder weniger "ideell", d. h. ohne Bezug zu einer konsistenten Handlungstheorie gewonnen wurde. Was später im Rahmen der Straftat als menschliche Handlungen verstanden wird, erweckt dann mitunter den Eindruck, als sei es den Erfordernissen der vorgefaßten Ordnungsidee "nachgereicht" oder "aufgepfropft" worden. Je nach ,,kriminalpolitischer" Zielsetzung wird der dazu "passende" Mensch konstruiert: So zieht die Behauptung, daß aus ordnungspolitischen Gründen auf Strafe nicht verzichtet werden kann, die handlungstheoretische Konsequenz nach sich, daß Strafe in der gewünschten Weise "wirkt". Will man der Strafe eine anspruchsvollere Legitimation verschaffen, muß man einen Schritt weitergehen und menschliches Handeln als "frei" konzipieren. Ein solches Vorgehen haben wir zu Beginn der Arbeit als ,,methodologischen Kollektivismus" bezeichnet. 3 Im Streit um den richtigen Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Fragestellungen setzt diese Methode bei der Beschreibung sozialer Sachverhalte, z. B. bei kollektiven Strafpraktiken, ein. Da diese Methode Soziales aus Sozialem 4 und nicht aus dem Verhalten konkreter Menschen erklärt, ist sie stets in Gefahr, individuenunabhängige , objektive Entitäten zu konstruieren. Derart ins Objektive entrückte soziale Realitäten verschleiern das Wirken individueller Ziele und handfester Interessen. Im Falle des Strafrechts führt der methodologisehe Kollektivismus nicht selten zu einer Hypostasierung faktisch gegebener Ordnung, in der die ,,Rechtstreue" , das ,,Rechtsbewußtsein" 5 oder die "Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung"6 zu Eigenwerten hochstilisiert werden. Über den Inhalt und somit über die "Richtigkeit" des Rechts besagt dieser positivistische Rechtsbegriff nichts. Er setzt die Legitimität der gegebenen Herrschaft ebenso umstandslos voraus, wie er die Menschen voraussetzt, die ihr entsprechen. Den Verkürzungen des Positivismus entgeht natürlich nicht automatisch, wer bei ordnungstheoretischen Fragestellungen mit einem Verständnis des einzelnen Individuums beginnt und nach diesem Bild die soziale Wirklichkeit konstruiert. Wird folgerichtig argumentiert, so kann eine positivistische Handlungslehre nur ein positivistisches Ordnungsmodell erzeugen. Der Vorteil aber, den dieser "methodologische Individualismus" bietet, besteht darin, daß der gesamte Hypothesenbau durchsichtiger und der Argumentationsgang nachvollziehbarer ist, als sich das bei der Durkheimschen Methode darstellt. Wählt man als Ausgangspunkt 2 Ausnahmen finden sich bei Blei, Strafrecht 11983,372, und Hassemer, Strafrecht 1981,259. 3 Siehe Kap. 1 I; zum methodischen Kollektivismus in der Sozialisationstheorie vgl. Kap. 3 I 3d. 4 Vgl. Durkheim, Soziologische Methode 1976. 5 V gl. BGHSt 24, 40, 64. 6 Bruns, Generalprävention 1963, 326.

H. Straftheorien

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der Beschreibung sozialer Phänomene die erkenntnistheoretische Frage, wie Menschen wahrnehmen, denken und handeln, dann kann man sich bei der Erörterung der Eigenschaften sozialer Kommunikation nicht mehr ohne weiteres über die zuvor konstruierten ,,Eigenschaften" der Individuen hinwegsetzen. Das aber heißt, daß stets ein Zusammenhang zwischen dem Erkenntnis- bzw. Handlungsvermögen des Individuums und der sozialen Realität hergestellt werden muß. Und dieser Zusammenhang kann kein zufaIliger sein: Handlung und Ordnung verknüpft eine logische Beziehung. Es läge nun eigentlich die Vermutung nahe, daß gerade die Strafrechtswissenschaft diese Relation mit besonderer Sorgfalt herausgearbeitet und zum Fundament des Straftatsystems ausgebaut hätte. Davon kann indes nicht annähernd die Rede sein. Zumindest in den letzten Jahrzehnten dominiert eindeutig die Debatte über Staatsziele, Strafzwecke oder Ordnungsinteressen. Ob und wie sich die staatlichen Erwartungen im Individuum "umsetzen", ist zur zweitrangigen Frage herabgesunken. Dabei hängt von ihr die Legitimation von Strafen und Maßnahmen ab. Man glaubt heute vielfach auf ein Wissen über die Funktionsweise des menschlichen Verstehens und Handelns zugunsten einer normativen Betrachtungsweise verzichten zu können. Überall dort, wo anthropologische, psychologische oder soziologische Fragen unentschieden geblieben sind, entscheiden jetzt die Strafjuristen, indem sie sagen: Wir wissen nicht, ob Menschen frei handeln, aber wir sollten sittlich tadeln und bestrafen; wir wissen nicht, wie Strafe wirkt, aber sie sollte vergelten, abschrecken, erziehen oder bessern. Dieser beherzten Durchnormativierung kann eine Handlungstheorie nur lästig sein; sie könnte ja die Durchsetzung staatlicher Zwecksetzung stören. Es ist also nicht nur Resignation vor den ungelösten Problemen, die den Strafrechtler auf der normativen Bahn vorantreibt. Es ist auch das wieder stärker aufkommende Bedürfnis nach Terraingewinn, nach Definitionskompetenz, die den Strafrechtler den Rückzug aufs Normative antreten läßt. So gesehen macht es Sinn, die Bedeutung der Handlungstheorien für das Strafrecht herunterzuspielen: Mit der Handlungstheorie wird man auch die Sozialwissenschaften los. Der Preis für die vermeintlich zurückgewonnene Autonomie ist jedoch zu hoch. Denn die systematische Vernachlässigung des basalen Problems der Handlung führt nicht nur dazu, daß eine Ordnung ohne Verständnis konkreter Individuen konstituiert wird, sie bringt ebenso mit sich, daß dort, wo die Beschäftigung mit dem Subjektiven unerläßlich ist (Vorsatz, Fahrlässigkeit, Schuld etc.), das Individuum ohne strukturelle Koppelung mit seiner Umwelt begriffen wird. Die solcherart getrennt entwickelten und meist ad hoc auf die Lösung von Einzelproblemen zugeschnittenen Theoriesplitter greifen nicht mehr ineinander, bilden kein integriertes Ganzes. Daß Handlungstheorie und Ordnungs- bzw. Straftheorie nicht aufeinander abgestimmt sind und sogar divergieren, kann in der Strafrechtswissenschaft als Normalzustand beschrieben werden: Entweder folgt auf eine idealistische Ordnungskonzeption (z. B. Konsenstheorie) eine positivistische 35*

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Kap. 5: Ordnung durch Strafrecht

Handlungstheorie (z. B. nach Art einer behavioristischen Verhaltenspsychologie), oder es werden idealistische Handlungsvorstellungen (z. B. Freiheit) mit einer positivistischen Strafzwecklehre (z. B. Abschreckung) kombiniert. Nicht selten wechseln - je nach Erkenntnisgegenstand - die Positionen sogar im Binnenbereich der jeweiligen Theorieblöcke. So kommt es vor, daß der Vorsatzbegriff nicht zum Schuldbegriff "paßt"7, daß bei der Rücktrittsvorschrift andere Ordnungsvorstellungen herrschen als bei der Rückfallbestimmung etc. Solche Friktionen werden durch die Postulierung von" Vereinigungstheorien " zwar abgemildert, aber letztlich doch nicht geheilt. 8 Denn eine wie immer kombinierte Handlungs- und / oder Straftheorie kann nicht darüber hinweghelfen, daß im Konfliktfall der eine oder der andere Ansatz dominieren muß. Bei genauerem Zusehen läßt sich das jeweils ausschlaggebende Konzept denn auch ohne allzu große Mühe feststellen. Allerdings fällt die Analyse der konzeptionellen Grundlegung bei all jenen Autoren schwerer, die ihre Ordnungsvorstellungen nicht explizit aus einer schlüssigen Handlungslehre ableiten. Diese Autoren müssen ja die Formulierung von "Strafzwecken" nicht notwendigerweise mit Fragen nach deren anthropologischer und sozialpsychologischer ,,Realisierung" konfrontieren. Das hat zur Folge, daß einerseits die Widersprüche weniger deutlich hervortreten und andererseits die Notwendigkeit entfällt, eine dominante Theorie zur Glättung der Widersprüche von vornherein herauszustellen. Doch eine solche konfliktentscheidende Theorie existiert immer; sie muß allerdings solange zufällig und beliebig sein, solange die jeweilige kriminalpolitische Neigung des Autors den Ausschlag gibt. Sogenannte "Vereinigungslehren" sind deshalb der sichere Beleg für das Fehlen eines integrierten Modells von Handlung und Ordnung. Sucht man nach "Strafiheorien", die im erörterten Sinne "stimmig" sind, d. h. in denen Ordnungsvorstellungen konsequent mit einem bestimmten "Menschenbild" abgestimmt wurden, so lohnt es sich, den Blick wieder auf die paradigmatischen Positionen von Franz von Liszt und Hans Welzel zu richten. Beide haben ihre am Subjekt gewonnenen Erkenntnisse explizit zur Grundlage ihrer Staatsphilosophie und damit auch ihrer Strafzielbestimmung gemacht. Bei v. Liszt entspricht dem Positivismus der kausalen Handlungslehre folgerichtig ein positivistisches Verständnis staatlicher Herrschaft, wie umgekehrt bei Welzel der idealistischen finalen Handlungslehre eine idealistische Staatskonstruktion korrespondiert. Auf diese Weise haben beide Autoren "Handlung" und "Ordnung" als Komplementärbegriffe ausgearbeitet: Sie bleiben stets aufeinanderbezogen und bilden insofern ein integriertes Ganzes. Das heißt nun aber auch, daß die Kritik des einen Elements unweigerlich das andere erfaßt. Ist die Handlungstheorie zu Fall gebracht, teilt der mit ihr verschränkte Ordnungsbegriff dasselbe Schicksal. 7 Z. B. kann man beim Vorsatzbegriff nicht widerspruchsfrei vom Willen absehen, um ihn dann bei der Schuld sogar als einen ,,freien" wieder aufleben zu lassen; so aber Schmidhäuser, Strafrecht 1984, 200. 8 Zu den Vereinigungslehren vgl. Kap. 211 3d.

11. Straftheorien

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Ich kann mich deshalb bei der Auseinandersetzung mit den spezifischen Versionen, die Liszt und Welzel der Spezial- und der Generalpräventionstheorie gegeben haben, kurz fassen. Die zentralen Argumente sind bereits bei der Diskussion der kausalen und der finalen Handlungslehre gefallen. b) StraJzwecke bei Liszt Die Theorie der Spezial- oder Individualprävention wird heute zumeist mit dem Begriff "Resozialisierung" identifiziert. Unter gelungener Resozialisierung wiederum versteht man nicht bloß die Zurückführung des Verurteilten zu einer "Legalitätshaltung" , sondern darüber hinaus die "Rückgewinnung des Täters für die Ziele eines gedeihlichen Gemeinschaftslebens oder jedenfalls für die Anerkennung der Schranken, die dem Einzelnen um des gedeihlichen Gemeinschaftslebens willen gesetzt sind". 9 Auch die Formulierung des "Vollzugsziels" im Strafvollzugsgesetz (§ 2 S. 1) deutet darauf hin, daß sich der Gesetzgeber von der Resozialisierung mehr erhofft als das faktische Unterlassen von Straftaten: ,,Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen." Topoi wie "soziale Verantwortung" oder "Eingliederung nach der Entlassung" fragen nach Gründen für das Wohlverhalten, die im individuellen und gesellschaftlichen Bereich liegen und dem puren Legalverhalten weit vorausliegen. Eine so verstandene Theorie der Spezialprävention ist in der Zielsetzung auf den einzelnen Straftäter hin orientiert und legitimiert sich aus humanitären Forderungen. Davon ist nun das Lisztsche Programm einigermaßen weit entfernt. Weder rückt es den Straftäter ins Zentrum strafrechtlicher Zwecksetzung, noch gaben ethische Überlegungen den Anstoß für die Reformideen. Liszt zog nur für die Kriminalpolitik die Konsequenzen, die sich aus den naturwissenschaftlichen Einsichten in das menschliche Verhalten ergaben und die in die Sozialpolitik bereits ansatzweise Eingang gefunden hatten. In diesem Sinne ist das Lisztsche Reformwerk als ein geistesgeschichtliches Dokument des Positivismus zu begreifen. An diese positivistische Wurzel sollte stets erinnert werden, wenn man sich in der Resozialisierungsdebatte auf Liszt beruft. Für die Lisztsche Variante der Spezialprävention ist charakteristisch, daß sie neben die ,,Resozialisierung" des Verurteilten gleichberechtigt die weiteren Ziele der "Abschreckung" und der" Unschädlichmachung" stellt. 10 Dieses Nebeneinander-Vertreten gleichrangiger Strafzwecke macht deutlich, daß es Liszt nicht allein und wohl auch nicht vorrangig um eine Hilfestellung für den einzelnen Übeltäter ging, sondern darum, die Gesellschaft vor weiteren Straftaten eben dieses Übeltäters zu schützen. Daß im Lisztschen Programm der GesellschaftsSchmidhäuser, Strafe 1971,61. Vgl. zu den Vorläufern der v. Lisztschen Straftheorie die Darstellungen bei v. Bar, Strafrecht I 1882, 306; v. Hippel, Strafrecht I 1925, 258. 9

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schutz die übrigen Strafzwecke überstrahlt und im Konfliktfall den Ausschlag gibt, zeigt die nähere Ausgestaltung der Strafmodalitäten und ihre Verbindung mit einer Verbrechertypologie, die sich einzig an der sozialen Tauglichkeit des Täters orientiert. Liszt unterscheidet zunächst zwei Verbrechergruppen mit günstiger Sozialprognose: die Augenblicks- oder Gelegenheitstäter und die besserungsfähigen Zustands- oder Gewohnheitsverbrecher. Diese beiden Gruppen seien durch "indirekten, mittelbaren, psychologischen Zwang oder Motivation"l1 von Verbrechen abzuhalten. Die erste Täterkategorie könne am ehesten durch "Abschreckung", die zweite durch "Besserung" zu gesetzestreuem Verhalten motiviert werden. Bei der dritten Gruppe, den sog. "unverbesserlichen Zustandsverbrechern ", könne dem Hang zum Verbrechen nicht mehr durch Einpflanzung sozialer Motive entgegengewirkt werden. Dementsprechend komme für sie nur noch "direkter, unmittelbarer, mechanischer Zwang oder Gewalt"12 in Betracht. Konkret heißt das "Unschädlichmachung" entweder durch Exekution oder durch dauerhafte Sequestrierung. Aufgabe der Strafe ist es danach, den nicht besserungsbedürftigen Gelegenheitstäter durch einen "Denkzettel" abzuschrecken, den besserungsfähigen Zustandsverbrecher durch Erziehung im Strafvollzug zu resozialisieren und den unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher durch "Strafknechtschaft" auf unbestimmte Zeit unschädlich zu machen.

Mit der Ausrichtung der Strafe an der jeweiligen ,,Eigenart" des Täters können entsprechend abgestufte Sanktionen als wissenschaftlich notwendig dargestellt werden. Was in diesem Sinne zwingend erforderlich ist, kann nicht unrichtig sein. So lauten die Kernsätze des berühmten Marburger Programms, in dem Liszt seine kriminalpolitische Grundauffassung niederlegte: "Die richtige, d. h. die gerechte Strafe ist die notwendige Strafe. Gerechtigkeit im Strafrecht ist die Einhaltung des durch den Zweckgedanken erforderten Strafmaßes."13 Mit der Betonung der Zweckmäßigkeit der Strafe waren das Motiv und die Legimitation für rein vergeltende Übelszufügung entfallen. Konsequenterweise verband deshalb Liszt seine Konzeption mit dem Kampf gegen die erzieherisch unwirksame, insbesondere gegen die für den Verurteilten schädliche kurzfristige Freiheitsstrafe, und mit dem Bemühen um eine Verbesserung des Strafvollzugs. Damit hat Liszt zweifellos zumindest die Tendenz zur Rationalisierung und Humanisierung des Strafrechts wie des Strafvollzuges gefördert. Aber er hat auch die Gefahren heraufbeschworen, die mit einer positivistischen Verwissenschaftlichung der Kriminalität und ihrer Bekämpfung einhergehen. Solche Gefahren 11 Liszt, Aufsätze I 1905, 163. 12 Liszt, Aufsätze I 1905, 163. 13 Liszt, Zweckgedanke 1883, 1; ferner ders., Grundbegriffe 1905, 75. Dazu die Beiträge zum Centenarium des Marburger Programms von Naucke, Kriminalpolitik 1982, 525; Frisch, Maßregeln 1982, 565; Müller-Dietz, Strafvollzug 1982, 599; vgl. auch Frommel, Strafzweck-Diskussion 1987; zum Erziehungsgedanken im heutigen Jugendstrafrecht vgl. Albrecht, Jugendstrafrecht 1987, 8 11; zur Kritik der sog. klassischen Schule an der Straftheorie v. Liszts vgl. Binding, Strafrecht I 1897, 145; R. Schmidt, Strafrechtspflege 1895, 124; Birkmeyer, Liszt 1907.

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verschärfen sich, wenn Handlungs- und Ordnungstheorie in einem objektivistischen Gedankengebäude integriert werden. Das führt zu einer naturalistischen Harmonisierung von Sein und Sollen, in der Herrschaft sich nicht mehr zu rechtfertigen braucht. Bei Liszt wird der Herrschafts- und Zwangsaspekt der Strafe ohne jede Beschönigung ausgesprochen. Ihm erscheint die bessernde und abschreckende Wirkung der Strafe "als künstliche Anpassung des Verbrechers an die Gesellschaft", und die Unschädlichmachung als ,,künstliche Selektion des sozial untauglichen Individuums".14 Die Herkunft der Begriffe ,,Anpassung" und "Selektion" aus dem Weltbild des Darwinismus wird nicht verschwiegen: "Die Natur wirft denjenigen, der sich gegen sie vergangen hat, aufs Bett, der Staat wirft ihn ins Gefängnis." 15 Wie Krankheit kathartische Prozesse im Körper auslöst, so wirkt die richtig dosierte Strafe wie Medizin auf die Psyche. Das heile Bild von NatuTVorgängen, das der Strafe als Anpassung zugrundeliegt, hat freilich eine schreckliche Kehrseite für jene, die sich der Anpassung zu widersetzen scheinen: Sie müssen - wie das Lebensunfähige in der Natur - gänzlich aus der Gemeinschaft ausgeschieden werden. 16 Man sieht, die metaphorische Rede von der Strafe als "Behandlung" oder "Heilung" erzeugt zwangsläufig das Gegenbild des "Unheilbaren", des "Unverbesserlichen" und "Schädlichen". Dabei stellt sich natürlich sofort die Frage, an welchem Maßstab sich die verschiedenen Schattierungen von "gefährlich" und "schädlich" messen lassen. Liszt antwortet: an der Normalität, die im faktischen Zustand der jeweiligen Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Die Entfernung von dieser Normalität lasse nicht nur den Grad der Abweichung, sondern auch die Chancen der Rückkehr erkennen. Daß Liszt so erstaunlich unbefangen die Anpassung an die gesellschaftliche Normalität als Strafziel proklamieren kann, hängt mit dem universal-geschichtlichen Evolutionismus zusammen, der Gesellschaft und Staat in einem Prozeß der stetigen Höherentwicklung erblickt. So hält Liszt das historisch Frühere - seien es Lebewesen oder Staaten - stets für weniger lebenskräftig als das später Entstandene: "Tier- und Pflanzengattungen sind ausgestorben, Weltstaaten sind zertrümmert worden, und doch ist die Entwicklung weitergegangen und hat vollkommenere Organismen und differenziertere, lebenskräftigere Gesellschaften geschaffen."17 Es überrascht daher nicht, daß Liszt den biologischen Mechanis14 Liszt, Aufsätze I 1905, 163. 15 Liszt, ebd. 164. 16 Relikte dieser Auffassung fmden sich im geltenden Strafgesetzbuch in § 66. Es

geht hier um die Maßregel der Sicherungsverwahrung gegen solche Täter, die mehrere erhebliche Straftaten begangen haben; als besondere Voraussetzung für die Unterbringung des Täters wird verlangt, daß "die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, daß er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten ... für die Allgemeinheit gefährlich ist". Die Sicherungsverwahrung geht auf die Lisztschen Reformbestrebungen zurück und wurde 1933 als Maßregel gegen den damals sog. "gefährlichen Gewohnheitsverbrecher" eingeführt. 17 Liszt, Aufsätze 11 1905, 426.

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mus der Weiterentwicklung, das Selektionsprinzip , ausdrücklich auf die gesellschaftliche Entwicklung anwendet und dabei der Strafe einen besonderen Stellenwert einräumt. Der Kriminalpolitiker ,,hat überall dort, wo Hilfe nicht mehr möglich ist, dafür Sorge zu tragen, daß die für das gesellschaftliche Zusammenleben mit seinen jeweiligen Anforderungen völlig ungeeigneten Elemente ausgeschieden werden". 18 Bemißt sich das spezialpräventiv Notwendige derart ungebremst an den Erfordernissen des Status quo der je konkreten Gesellschaft, so ist der Weg frei für die totale instrumentelle Verfügung über den Straftäter. Delinquenz kann dann - trotz allen soziologischen Wissens um die Ursachen der Kriminalität - nur noch dem Rechtsbrecher allein zur Last gelegt werden. c) Kritik

Wie kommt es, daß im Lisztschen Gedankengang das Individuum, von dem doch alle Überlegungen ausgegangen sind, am Ende nur noch als eine Funktion der Gesellschaft erscheint? Die Antwort haben wir bereits gegeben, als wir den Extremtypen der Handlungstheorien die ordnungstheoretischen Komplementärkonzepte zugeordnet haben. Liszt vertritt eine Variante des handlungstheoretischen Positivismus, in der alles Handeln auf den Faktor der Situation bzw. der Umweltdetermination zurückgeführt wird. Die Situation ist durch vorgegebene Bedingungen sowie durch die verfügbaren Mittel zur Realisierung von (situationsabhängigen) Zielen bestimmt. Bei der Analyse der Handlungsbedingungen hat sich nun Liszt - im Geiste der mechanistisch-empirischen Naturwissenschaften seiner Zeit - ausschließlich auf die kausalen Gesetzmäßigkeiten allen Geschehens konzentriert. Handeln wird danach als eine Körperbewegung aufgefaßt, die in mechanistisch meßbarer Weise eine Veränderung in der Außenwelt bewirkt. Ausgelöst wird die Körperbewegung durch die Anreize und Befriedigungsmöglichkeiten, die die jeweilige Situation bietet. Das heißt, die mit dem Handeln verfolgten Ziele ergeben sich unmittelbar aus den faktischen Gegebenheiten der Umwelt und wechseln mit deren Veränderungen. Ohne auf die Implikationen dieser Theorie näher einzugehen, sei hier lediglich noch einmal festgehalten, daß Liszt in der Anpassung oder Adaptivität das zentrale Movens des Handeins erblickt. Damit ist aber von vornherein der Gedanke der Autonomie des Subjekts untergraben. Denn stets triumphiert die Heteronomie einer Situation, die das Handeln determiniert und das Subjekt in toto objektiviert. Die erstaunliche Geschlossenheit des Lisztschen Gedankengebäudes erweist sich nun darin, daß er vor den ordnungstheoretischen und somit kriminalpolitischen Konsequenzen seiner positivistischen Grundlegung des Handlungsbegriffs nicht zurückschreckt. Recht ist für ihn "Gewalt" 19, Durchsetzung des staatlichen Willens gegen den Willen des Verbrechers. Die Strafe wird folglich zum Mittel 18

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Listz, ebd. 446. Vgl. Liszt, Aufsätze Il 1905, 60, 80.

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der Gewalt, zum Zwang im Sinne von künstlicher Anpassung oder künstlicher Selektion. 20 Was Recht dabei von der reinen Willkür unterscheidet, sei seine Regelhaftigkeit und Geordnetheit. Rudolf von Jhering defmiert demgemäß das Recht als die "Politik der Gewalt", und er fährt fort: Es ist "die ihres Vorteils und damit der Notwendigkeit des Maßes sich bewußt gewordene Gewalt, nicht also etwas seinem Wesen nach von letzterer Verschiedenes, sondern nur eine Erscheinungsform derselben: die rechte, richtige, weil an Regeln sich bindende, also disziplinierte Gewalt im Gegensatz der wilden, rohen, weil nur durch den augenblicklichen Vorteil bestimmten, also regellosen Gewalt". 21 In diesen Worten ist der Rechtsbegriff des Positivismus definiert. Er unterscheidet sich von der "bloßen" Macht allein durch ein formelles Merkmal, durch die Ordnung der Machtausübung. 22 Daß der positivistische Rechtsbegriff nicht über einen formellen Unterschied zur willkürlichen Machtausübung hinausgeht, ja zu einer inhaltlichen Differenz gar nicht vordringen kann, liegt in der positivistischen Reduktion des Handlungsbegriffs begründet. Wird Handeln auf den Situationsaspekt eingeengt, dann treten zwangsläufig jene Faktoren in den Vordergrund, die die Situation äußerlich dominieren. Im sozialen Handlungsfeld sind das die Faktoren der Macht und die von ihr beherrschten Zielsetzungen. Situationsübergreifende Standards wie Normen oder symbolische Bezugsrahmen, die das Handeln auch gegen den Widerstand äußerer Gegebenheiten dauerhaft ordnen, spielen in der machttheoretischen Konzeption keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Regelmäßigkeit des Verhaltens ist hier eine Folge des Handeins derjenigen Akteure, die für ihre Interessen am meisten Macht mobilisieren können. Demzufolge wird die spziale Ordnung auf eine konstante Machtüberlegenheit solcher Personen zurückgeführt, für die diese Regelmäßigkeiten von Nutzen sind. Das Recht hat dann nur noch die Aufgabe, diese faktisch entstandenen, quasi-naturalistischen Ordnungen zu schützen - jedenfalls solange, bis neuen Machthabern neue Verhaltensregelmäßigkeiten von Nutzen sind. Wir sehen also eine zwingende Verkettung von Thesen: Eine Handlungstheorie, die das menschliche Verhalten aus konditionalen Faktoren erklärt, führt notwendig zu einer Ordnungstheorie, die die soziale Regelhaftigkeit auf Macht reduziert. Damit nicht genug: Werden beide Ansätze in eine evolutionistische Perspektive gestellt, stehen Handlung und Ordnung im Dienste der Höherentwicklung. So ist die Gegenwart stets der Vergangenheit vorzuziehen, der staatliche Zustand stets über den vorstaatlichen zu stellen. Nun verstehen wir, weshalb die bloße Existenz von Gesetzen bereits als "Bollwerk des Staatsbürgers gegenüber der Siehe dazu Aufsätze 11905, 163. Jhering, Zweck im Recht I 1883, 251. 22 Unmißverständlich dazu Naucke: "Der ,Zweckgedanke im Strafrecht' führt zu einer deutlichen Verquickung von aktueller Innenpolitik und Strafe, knüpft den Inhalt des Strafrechts an die jeweils herrschende politische Richtung" (Kriminalpolitik 1982, 563). 20

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staatlichen Allgewalt" 23 gefeiert werden kann. Gegenüber der vermeintlich zügellosen Gewalt in vorstaatlichen Gesellschaften sind Gesetze schon per definitionem Ausdruck disziplinierter, geregelter, sich selbst beschränkender Gewalt. Mit dem Konzept des Evolutionismus sucht sich das positivistische Weltbild allerdings vergeblich gegen Angriffe zu immunisieren. Die Metapher von der beständigen ethischen Aufwärtsentwicklung des Menschengeschlechts hält einer historischen Überprüfung nicht stand. Weder herrschte bei den frühen Jägern in vorstaatlichen Gesellschaften Anarchie, noch blieb den hochdifferenzierten Gesellschaften des Spätkapitalismus unmenschliche Barbarei erspart. An der bloßen Form staatlicher Herrschaft kann es nicht liegen, wenn sich Gewalt begrenzt. Was veranIaßt also die Gewalt, sich rechtlich zu binden? Im Lisztschen Theoriengebäude finden wir darauf keine Antwort. Liszt hatte einfach den Staat mit dem liberal-bürgerlichen Gemeinwesen identifiziert, in dem er den disziplinierten Zwang vorfand. 24 Erklären konnte er ihn nicht. Denn Macht - gleichgültig, ob sie geordnet oder ungeordnet ausgeübt wird - kann nur äußeres Verhalten erzwingen, aber nicht Anerkennung, Zustimmung oder Konsens bewirken. Der Konsens aber macht das zentrale Moment des Rechts aus. Läßt man ihn beiseite, dann erscheint die Rechtsbefolgung lediglich als Problem derfaktischen Geltung. Der positivistischen Rechtstheorie, die das Zwangsmoment verabsolutiert, entspricht also die faktische Geltungslehre. Eine Rechtsnorm gilt danach nur dann, wenn sie im sozialen Leben wirksam ist, d. h. motivierende Kraft ausübt, wenn - in den Worten Max Webers - "die Chance ihrer empirischen Realität" besteht. Die Chance der Rechtsgeltung erhöht sich natürlich, je nachdrücklicher die Rechtsgenossen an die Norm "angepaßt" und je rigoroser die Unverbesserlichen ausgemerzt werden. Eine solche faktische Rechtsgeltung hat es unter der Herrschaft des Nationalsozialismus zweifellos gegeben. War deshalb diese Herrschaftsform schon "rechtens", an die künstlich angepaßt werden durfte? Die Frage nach dem "Dürfen" oder Sollen enthüllt den methodischen Grundfehler jeder positivistischen Rechts- und Straftheorie. Diese vermögen nur zu erklären, warum die Norm gewirkt oder nicht gewirkt hat - eben wegen des Zwangs oder des Fehlens von Zwang - , aber nicht, warum sie befolgt werden soll. Das ist die Frage nach der eigentlichen Geltung, eben nach der Normativität von Recht. Warum Recht einen verpflichtenden Wert haben soll, kann weder durch das Faktum schierer Machtausübung noch durch die Existenz von Sailktionen zureichend begriffen werden. Bevor diese Frage nicht geklärt ist, läuft die spezialpräventive Losung einer ,,künstlichen Anpassung" des Straftäters an die Gesellschaft auf pure Unterwerfung unter faktisch gegebene Zustände hinaus. Anschließend wird zu zeigen sein, daß der idealistische Normativismus von Welzel die Probleme des Positivismus nicht wirklich überwunden hat. Der generalpräventive Ansatz nimmt sie einfach nicht mehr zur Kenntnis. 23 24

Liszt, Aufsätze 1I 1905, 60. Liszt, Aufsätze 1I 1905, 60.

II. Straftheorien

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2. Ordnung durch (positive) Generalprävention a) StraJzwecke bei Welzel Die "Kausalisten" unter den Strafrechtswissenschaftlern mußten bei konsequenter Betonung der äußeren Faktizität des Handeins zu einem beliebigen Ordnungsbegriff gelangen. Ein solcher Begriff bedeutet einen eklatanten Verzicht auf eine Theorie der gesellschaftlichen Ordnung. Er unterschlägt das wesentliche Moment der Sozialordnung: ihren verpflichtenden Charakter, ihre Normativität. Die positivistische Rechtstheorie erklärt daher nur ein "Müssen", die Konformität des physischen und psychischen Zwangs. In der faktischen Geltungstheorie des Positivismus hat es das Recht nur mit dem äußeren Verhalten, nicht aber mit der inneren Einstellung und Gesinnung zu tun. Folglich besteht das Ziel der strafrechtlichen Motivierung auch nur in der Befähigung zu einer legalistischen Haltung. Der "Legalismus" ist der Strafzweck der positivistischen Theorie der Spezialprävention. Seine Optik ist auf den Schutz konkreter einzelner Rechtsgüter gerichtet. Um diesen Schutz zu gewährleisten, genüge es, die auf Rechtsgüterverletzung abzielenden Handlungen zu verbieten und zu bestrafen. Hier setzt die Kritik Welzels ein. Als ,,Finalist" kann er sich nicht damit zufriedengeben, daß legale Handlungen bloß durch ein Negativum, nämlich durch Verbote und Sanktionen, verursacht seien. Das liefe auf die kausale, an konditionalen Faktoren orientierte Position hinaus. Welzel sieht demgegenüber das Spezifikum menschlichen Handeins darin, daß es - anders als blindkausale Prozesse - an Zielen orientiert ist. Dieses Gerichtetsein der psychischen Akte bezieht sich auf Werte, auf Sinn, auf die sozialethischen Grundüberzeugungen der Gemeinschaft. Menschen töten, verletzen und betrügen sich nicht deshalb beständig, weil es verboten ist, sondern weil sie Achtung vor dem Leben, der Gesundheit, der Freiheit, dem Eigentum usw. haben. Bei den Rechtsgütern handelt es sich also um Werte, die in der sozialethischen Gesinnung der Gemeinschaftsmitglieder wurzeln. Sie sind nicht Ausdruck und Resultat der Machtüberlegenheit einzelner, sondern entspringen gemeinsamen Überzeugungen. Diese Überzeugungen bilden den realen positiven Hintergrund der strafrechtlichen Normen. Es ist also nicht so, daß die Strafrechtsnormen der Mehrzahl der Rechtsgenossen erst aufgezwungen werden müßten. Sie gelten vielmehr auf Grund der - wie Welzel sagt"rechtlichen Gesinnungswerte", die in der Gemeinschaft lebendig sind. Für die Aufgaben des Strafrechts ergibt sich aus dieser Fundierung der Normen im kollektiven Bewußtsein eine wichtige Akzentverschiebung gegenüber der spezialpräventiven Position: Im Vordergrund steht nicht mehr der Rechtsgüterschutz durch "pädagogische" Einwirkung auf den einzelnen Straftäter, sondern die "pädagogische" Wirkung der Strafe auf die Allgemeinheit. Die Strafe soll nunmehr die kollektive Gesinnung stabilisieren. Das erreicht sie dadurch, daß sie primär den Abfall von dieser sozialethischen Gesinnung bestraft. Das bedeutet freilich nicht, daß das Strafrecht von Handlungen absehen könnte. Nach wie vor

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löst erst die wirkliche Betätigung der Nonnabweichung Strafe aus. Aber der Unwert einer Handlung wird nicht mehr nur darin gesehen, daß sie einen mißbilligenswerten Erfolg hervorbringt (Erfolgsunwert der Handlung). Für das Unwerturteil genügt vielmehr schon, daß die Handlung auf einen solchen Erfolg abzielt (Aktunwert der Handlung).25 Folgerichtig liegt dann die zentrale Aufgabe des Strafrechts darin, durch Strafdrohung und Strafe für die Abweichung von den Grundwerten des Handeins die unverbrüchliche Geltung eben dieser Werte sicherzustellen. In den Worten Welzels: "Wesentlicher als der Schutz der konkreten einzelnen Rechtsgüter ist die Aufgabe, die reale Geltung (Befolgung) der Aktwerte rechtlicher Gesinnung sicherzustellen; sie sind das stärkste Fundament, das den Staat und die Gemeinschaft trägt. Bloßer Rechtsgüterschutz hat nur eine negativ-vorbeugende, polizeilich-präventive Zielsetzung. Die tiefste Aufgabe des Strafrechts dagegen ist positiv sozialethischer Natur. Indem es den wirklich betätigten Abfall von den Grundwerten rechtlicher Gesinnung verfemt und bestraft, offenbart es in der eindrucksvollsten Weise, die dem Staat zur Verfügung steht, die unverbrüchliche Geltung dieser positiven Aktwerte, formt das sozialethische Urteil der Bürger und stärkt ihre bleibende rechtstreue Gesinnung."26 So ergibt sich für Welzel eine positive Funktion des Strafrechts: Es hat die sozialethischen Gesinnungswerte, die Achtung vor den Rechtsgütern zu sichern. Darin erweise sich seine sittenbildende Aufgabe. 27 Zwar sei das Strafrecht nur ein Faktor unter den zahllosen, soziale Anschauungen prägenden Kräften, aber es wirke doch entscheidend an den personalen Prozessen der Enkulturation und Sozialisation mit. Dieser Aufgabe werden Strafnonn, Strafsanktion und Strafverfahren dadurch gerecht, daß sie "die unverbrüchliche Geltung der elementaren sozialethischen Pflichten durch Verfemung und Bestrafung ihrer Verletzung vor aller Augen stellen". 28 Infolge der Sicherheit, mit der der Staat seine Werturteile ausspricht und durchsetzt, werde die sittliche Gesinnung der Rechtsgenossen gefonnt und gefestigt. Dabei spreche sich die Sicherheit des staatlichen Urteils nicht in der Strenge, also nicht so sehr in ihrer Abschreckungswirkung aus, sondern in der Gewißheit der Strafe, in der Verfolgungsintensität. Ziel des Einsatzes strafrechtlicher Instrumente ist also nicht die Abschreckung der Allgemeinheit, sondern die Behauptung der grundlegenden Nonnen. 28 Mit der Betonung der Nonnsicherung tritt der Rechtsgüterschutz als primärer Strafzweck in den Hintergrund. Insofern trifft auch die Frage nach der Sozialschädlichkeit eines Verhaltens nicht mehr das Wesentliche des Verbrechens, sondern die Frage nach der Verletzung des kollektiven Moralbewußtseins. Dieses Kollektivbewußtsein Vgl. hierzu insb. Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert 1973. 26 Welzel, Strafrecht 1969, 3; vgl. dazu auch ders., Strafrechtsprobleme 1953, 101; ders., Rechtsphilosophie 1969, 208; ders., Rechtsbegriff 1967. Zur Kritik des ,,Legalismus" siehe insbesondere auch Peters, Kriminalpädagogik 1960, 17,92; ders., Ethische Voraussetzungen 1972,501; ders., Ethische Grundlagen 1977,79; ebenso Gallas, Strafbarkeit 1965. 27 Welzel, Strafrecht 1969, 5. 28 Vgl. dazu Müller-Dietz, Strafvollzug 1982, 599. 25

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- Welzel nennt es die "ganze ethische Wertwelt"29 - aufrechtzuerhalten und damit andere, weniger formalisierte und nachdrückliche Prozesse sozialer Kontrolle zu beeinflussen, ist nunmehr die sozialpädagogische Aufgabe des Strafrechts. Damit hat Welzel das täterorientierte Kriminalitäts- und Strafverständnis von Liszt verlassen und sich einer soziologischen, gesellschaftsorientierten Sicht der Strafe zugewandt. Vor allem zur Durkheimschen Straftheorie bestehen unübersehbare Parallelen, auf die allerdings Welzel selbst - soweit erkennbar - nicht verwiesen hat. Wir wollen auf Durkheims Theorie hier dennoch knapp eingehen, weil sie die Konsequenzen einer rein sozialen Funktionsbestimmung von Strafe und Verbrechen für den einzelnen Straftäter schärfer als Welzels Konzeption herausgearbeitet hat. Ähnlich wie Welzel erblickt Durkheim das Wesen des Verbrechens in der Verletzung von Kollektivgefühlen, die in der "mechanischen Solidarität" der Gesellschaftsmitglieder wurzeln. 30 Das Strafrecht ist Garant der mechanischen Solidarität und hat die Funktion, diese gegen Angriffe auf das kollektive Bewußtsein zu schützen. Wie Strafe nun im Detail diese Funktion erfüllen kann, schildert Durkheim sehr eindringlich am Beispiel der Schulstrafe .31 Zunächst weist Durkheim jenen verbreiteten Gedanken zurück, der in der Abschreckung den Hauptgrund für die Berechtigung des Strafens erblickt. Seine Argumentation kann als Kritik des positivistischen Ordnungskonzepts überhaupt gelesen werden: Furcht vor Züchtigung vermag allenfalls in einem bestimmten Maß mechanisch zu dressieren, es erreicht aber das ,,Moralleben" nicht an der Quelle. Einschüchterung wirkt nicht aus sich heraus moralisierend, sie kann nur die Neigung zum Bösen unterdrücken, jedoch keine gegenteilige Neigung zum Guten hervorrufen. Als eine Art Polizeimaßnahme ist die Strafe nur ein Mittel zur äußerlichen Gesetzestreue, sie taugt in keiner Weise als ein Instrument der Moralisierung. Im übrigen wird nach Durkheim selbst die besondere Leistung der Strafe als einer mechanischen Dressur weit überschätzt. 32 Gegen die Straftheorien der" Vergeltung" und der "Sühne" wendet Durkheim deren Irrationalität ein. Das Gesetz der Vergeltung überlagert ein Übel mit cincm anderen. Wie kann dadurch vergangenes Unrecht aufgehoben werden? "Das ist, 29 Welzel, ebd. 6. 30 Durkheim unterscheidet in der 1893 erschienenen Arbeit "De la division du travail

social" zwischen mechanischer und organischer Solidarität. Während die mechanische Solidarität aus der Ähnlichkeit der Individuen entspringt, resultiert die organische aus deren gesellschaftlicher Unähnlichkeit, aus der Arbeitsteilung. Das Strafrecht schützt die mechanische Solidarität. Da sich nach Durkheim im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung das Schwergewicht von der mechanischen auf die organische Solidarität verlagert, verliert das Strafrecht mehr und mehr an Bedeutung; siehe dazu Durkheim, Arbeit 1977, 188; krit. dazu Hassemer, Steinert, Treiber, Soziale Reaktion 1978,40; vgl. auch Sack, Kriminalsoziologie 1978,374. 31 Siehe insbesondere Durkheim, Erziehung 1973, 199. 32 Durkheim, ebd. 202.

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wie wenn ein Arzt, um einen kranken Ann zu heilen, den anderen amputiert." 33 Man erzeugt damit nur eine falsche Symmetrie, aber keine neue Synthese. Trotzdem - so Durkheim - steckt in der Vergeltungstheorie ein Prinzip, das es zu bewahren gilt, nämlich die Idee der Wiedergutmachung. Um zu verstehen, wie die Strafe das Vergehen aufwiegen kann, muß man zuerst wissen, worin eigentlich das "Verwerfliche" der strafbaren Handlung, das aufgewogen werden soll, besteht. Dann erst begreift man, daß in Wirklichkeit anderes als Übel mit Übel vergolten wird. Für das gesellschaftsorientierte Verständnis der Kriminalität besteht das moralische Übel des Verbrechens nicht an erster Stelle in der Mißachtung einzelner Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Eigentum, Ehre etc., sondern in der Lockerung, Schwächung, ja ,,Entheiligung" einer Regel. In dem Maße, wie die Regel verletzt wird, hört sie auf, unverletzlich zu sein. Durch die Übertretung der Norm wird also weit mehr als ein konkretes Rechtsgut angetastet, letztlich wird die Autorität der Norm erschüttert. Beobachten z. B. Kinder, daß Normen leicht umgangen werden können, verlieren sie ihren unberührbaren Charakter; sie erscheinen jetzt schwach und wirkungslos. So sieht Durkheim das wahre moralische Übel, das durch das Vergehen bewirkt wird, darin, daß es die Beobachter demoralisiert. Strafe hat in dieser Sicht die Funktion, den bedrohten Glauben an die Normen wieder zu festigen: "Das Vergehen erschüttert den Glauben des Kindes an die Autorität des Schulgesetzes, so wie es den Glauben des Erwachsenen an die Autorität des Moralgesetzes erschüttert und folglich diese Autorität vermindert. Mit einem Wort: Der moralische Verstoß demoralisiert, wenn nichts da ist, um seine Wirkungen zu neutralisieren; Undisziplin schwächt die Disziplin. Womit kann man das derart begangene Übel kompensieren? Das verletzte Recht muß bezeugen, daß es trotz dem Anschein immer noch es selbst ist, daß es nichts von seiner Kraft und von seiner Autorität eingebüßt hat, trotz der Tat, die es negiert hat. Mit anderen Worten: Es muß sich angesichts des Verstoßes behaupten und derart reagieren, daß es eine Energie beweist, die der Energie des Angriffs, den es erlitten hat, gleicht. Die Strafe ist nichts anderes als diese bedeutsame Manifestation." 34 Das Wesentliche des Verbrechens besteht hiernach in der Verletzung von Kollektivgefühlen, die eine bestimmte Intensität haben und hinreichend eindeutig auf moralische Sachverhalte bezogen sind. Die Strafe erfüllt dementsprechend ihre Funktion, wenn sie die Gewissen beruhigt, die durch die Verletzung der Regel erschüttert wurden. Dazu ist nicht in jedem Fall erforderlich, den Schuldigen leiden zu lassen, noch potentielle Nachahmer durch massive Drohungen einzuschüchtern, es genügt, wenn der Glaube an die Unverletzlichkeit der Norm durch eine energische Zurückweisung und Verdammung der Tat gewahrt bleibt. 35 Durkheim, ebd. 205. Durkheim, ebd. 206. 35 Siehe Luhmann, Rechtssoziologie Bd. I 1972, 43; vgl. schon Weber, Wirtschaft 1976, Kap. I § 5, 3. Im Strafrechtsbereich bezieht sich explizit auf Luhmann insbesondere Jakobs, Strafrecht 1983, 7: ,,Aufgabe der Strafe ist die Erhaltung der Norm als Orientierungsmuster für sozialen Kontakt. Inhalt der Strafe ist ein auf Kosten des Normbrechers erfolgender Widerspruch gegen die Desavouierung der Norm." 33

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Es ist also der Tadel, der wieder gut macht und der das Gefühl zum Ausdruck bringt, daß sich die Norm auch angesichts des Fehlers und der moralischen Unordnung behauptet. Somit besitzt nur dieses Gefühl die Eigenschaft, die durch das Verbrechen ausgelöste moralische Verwirrung zu neutralisieren. Luhmann, der ebenfalls auf die normstabilisierende Funktion von Sanktionen abstellt, interpretiert wie Durkheim die Bedeutung der Strafe als Widerspruch gegen den Normbruch, als ,,kontrafaktisches Festhalten an den normativen Erwartungen".36 Die Stabilisierung der enttäuschten Erwartungen setzt voraus, daß diese "durch symbolische Prozesse der Darstellung des Erwartens und der Behandlung des enttäuschenden Ereignisses wiederhergestellt" wird. 37 Das geschieht in staatlichen Gesellschaften durch die Verhängung einer Sanktion gegen den Rechtsbrecher. Die Sanktionierung bringt zum Ausdruck, daß die Norm nach wie vor maßgeblich ist. Die Strafe darf also nicht als ein nur äußerliches Ereignis beurteilt werden; ebensowenig wie der Normbruch als bloße Verletzung eines Rechtsguts mißverstanden werden darf, bedeutet die Reaktion auf den Normbruch bloß Vermeidung von künftigen Güterverletzungen. Vergehen und Sanktionen wirken vielmehr auf symbolischer Ebene: die ersteren durch Mißachtung des Geltungsanspruchs der Norm, die letzteren durch dessen Bekräftigung. Wir müssen nun genauer fragen, was der Strafe die symbolische Signiftkanz verschafft. Weshalb wirkt die Sanktion als taugliches Orientierungsmuster? Im Gegensatz zu Luhmann, der ganz allgemein auf die diskreditierende Funktion der staatlichen Pönalisierung vertraut, äußert sich Durkheim präzise zu den Rückwirkungen einer als Normstabilisierung verstandenen Strafe auf den Täter. Diese Wirkungen sind höchst ernüchternd; es sind die positivistischen ,,Nebenfolgen" einer jeden idealistischen Ordnungstheorie. Entsprechend der Lokalisierung von Verbrechen und Strafe auf der Ebene symbolischer Bedeutungen darf als Strafzweck nicht das Leiden des Täters, sondern nur die Verdammung der Tat angesehen werden. Der Tadel also, der über das Verhalten gefällt wird, macht wieder gut. Es scheint, als ob aus dieser positiven Wendung der Generalprävention humanitäre Folgen für die konkrete Ausgestaltung der Strafe gezogen werden dürfen. Weder Leiden des Täters noch Abschreckung der Allgemeinheit, erst recht nicht pure spiegelbildliche Vergeltung haben (scheinbar) in dieser Theorie ihren Platz. Es verwundert daher nicht, wenn heute der erzieherische, sozialpädagogische Stellenwert des Strafrechts zunehmend höher als seine repressive Funktion eingeschätzt wird. 38 Man kann 36 Zum Stichwort "positive Generalprävention vgl. Bierbrauer, Haffke, Schuld 1978, 166; Haffke, Tiefenpsychologie 1976, 162; Hassemer, Naucke, Generalprävention 1979; Hassemer, Steinert, Treiber, Soziale Reaktion 1978,45; Neumann, Schroth, Strafe 1980, 98; KargI, Positive Grundprävention 1990 c. 37 Luhmann, Rechtssoziologie Bd. 1 1972,53. 38 Franz Streng bringt in diesem Sinne das funktionale Schuldverständnis auf folgen-

den Begriff: "Die Schuldzuweisung an den Täter und die entsprechend auferlegte Strafe sind Ausdruck von Selbststabilisierungsbedürfnissen der mit der Tat konfrontierten Mit-

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natürlich das Strafrecht als Instrument sozialer Steuerung begrüßen und es gezielt als solches einsetzen, aber man versteht den Mechanismus des Tadels nicht, wenn man glaubt, damit das repressive Strafrecht überwinden zu können. Eher ist das Gegenteil der Fall, und Durkheim hat dies ohne jede Kaschierung ausgesprochen. Durkheim wußte, daß der Tadel unvermeidlich den, auf den er fällt, schmerzen muß. "Denn der Tadel der Tat beinhaltet den Tadel des Täters."39 Mag also - soziologisch gesehen - der Schmerz nicht das Wesentliche der Strafe sein, individuell betrachtet, bleibt er die notwendige Folge einer Funktion der Zeichensetzung, einer Sprache, die das Bewußtsein der Gesellschaft erreichen soll. Was das für den Straftäter bedeutet, dazu sagt Durkheim: "Strafen heißt verdammen und tadeln. Darum hat die Hauptform der Strafe zu allen Zeiten darin bestanden, den Täter auf den Index zu setzen, ihn auf Abstand zu halten, ihn zu isolieren (!), Leere (!) um ihn zu erzeugen, ihn von den anständigen Leuten zu trennen. Da man niemanden tadeln kann, ohne ihn schlechter zu behandeln als diejenigen, die man schätzt, da es keine andere Möglichkeit gibt, das Gefühl, das eine verurteilte Handlung erweckt, auszudrücken, so mündet im allgemeinen jede Verurteilung darin, dem Verurteilten ein Leid (!) zuzufügen. Das ist aber nur ein mehr oder weniger zufälliger (!) Rückschlag der Strafe; er ist nicht das Wesentliche daran."4O Die neue soziologische Theorie der Strafe war aufgebrochen, die Strafzwecke der Vergeltung und der Abschreckung zurückzuweisen. Es genüge, moralische Zeichen zu setzen, indem man das Vergehen verdamme: Strafe habe lediglich die Funktion, das Vertrauen auf die Normen zu bestätigen. Dementsprechend seien weder Leiden der Täter noch Einschüchterung der Allgemeinheit bezweckt. Nun erfahren wir, daß das, was nicht bezweckt ist, dennoch geschieht, und zwar als notwendige Folge eines übergreifenden Zweckes. Niemand will, daß der Straftäter leidet, aber anders lasse sich nun einmal das kollektive Moralbewußtsein nicht aufrechterhalten. Wie sollte man - wenn es um die Ächtung der Tat geht - den Täter ausnehmen? Auch wenn der Täter in der ganzen Prozedur nur eine Nebemolle spielt, ist er doch das unerläßliche Vehikel des demonstrativen Akts der Normstabilisierung. Auf ihn kann man nicht verzichten. Denn der Widerspruch gegen den Normbruch - das eigentliche Strafziel- bedarf eines Individuums, auf dessen Kosten er vollzogen wird. "Um die Ernsthaftigkeit dieser Gegenaussage hervorzuheben, wird sie in einer kostspieligen Weise vollzogen: unter Aufopferung von Gütern des Täters."41 Jakobs macht hier sehr zu Recht auf die Kosten der symbolischen Wirkung der Strafe aufmerksam, nämlich auf die physische Gewalt, der die Straftäter unterworfen werden. Was also häufig .nur als "psychische" Wirkung auf die Allgemeinheit beschrieben und gepriesen bürger des Täters. Diese Strafbedürfnisse gegen den Täter sind auch generalpräventiv funktional, da ihre Wirkung und ihre Realisierung mittels Schuldstrafe der Normkonformität der einzelnen und damit letztlich der allgemeinen Normtreue dienen" (Schuld 1989,289).

39 Durkheim, Erziehung 1973,207. 40 Durkheim, ebd. 215. 41 Jakobs, Strafrecht 1983, 7.

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wird, hat einen sehr realen physischen Hintergrund: die Gewalt gegen den Nonnbrecher. Nach der verbreiteten Lesart der positiven Generalprävention darf also allein die sog. ,,Nonnstabilisierung" die Pforte der Strafzwecke passieren; der gesamte Rest, der sich unübersehbar durch die Hintertüre drängt, gilt - falls überhaupt angesprochen - als Rückwirkung, Nebenfolge, Derivat der zentralen Straffunktion. Bei Welzel nimmt die gesellschaftsorientierte, "sozialethische" Funktionsbestimmung des Strafrechts eine weit weniger positivistisch-instrumentalistische Wendung gegen die einzelnen Straftäter als bei Durkheim ein. Das trifft zumindest für die Masse jener Rechtsgenossen zu, die er den Konflikts- und Gelegenheitstätern zurechnet. Nur in dieser Gruppe findet man Menschen, die überhaupt sozialethischer Bindungen fabig sind. "Diesen Rechtsgenossen gegenüber funktioniert das Strafrecht primär dadurch, daß es die Sicherheit und Stetigkeit ihres sozialethischen Urteils gewährleistet und damit in ihnen den Grund zu einer sittlichen Anschauungswelt legt, und erst sekundär dadurch, daß es gegen den Rechtsbruch im Einzelfall einschreitet."42 Im Unterschied zu Durkheim und den meisten heutigen Vertretern der Theorie der positiven Generalprävention, die im Strafübel einen unselbständigen und unbezweckten Reflex der kollektiven Nonnstabilisierung sehen, unterzieht Welzel diese "sekundäre", auf den Täter zielende Wirkung der Strafe einer eigenständigen, vom Gesellschaftszweck abgelösten Rechtfertigung. FürWelzel kommt eine nur staatsorientierte, den Täter um eines "höheren"Zwekkes willen benutzende und manipulierende Strafzielbestimmung nicht in Betracht. Aus diesem Grunde hat Welzel das Strafrecht auf eine "starke" Legitimationsbasis gestellt. Es rechtfertigt sich nicht nur um der Bewahrung der kollektiven Ethik willen, sondern mindestens ebenso aus dem Gedanken der individuellen Schuld. 43 Strafe, die immer ein Übel ist, läßt sich nach ethischen Maßstäben nur rechtfertigen, wenn man voraussetzen kann, daß der Täter sein Übel "verdient". 44 Allein Freiheit läßt es als gerecht erscheinen, daß der Täter im Ausgleich für seine Tat leide. Völlig konsequent läuft das darauf hinaus, daß Strafe zumindest auch Vergeltung ist, und daß die übrigen Zwecke, die das staatliche Strafen verfolgt, in der gegebenen Fonn nur verfolgt werden dürfen, weil man auf die Vergeltungsidee zurückgreifen kann. Welzel sieht, daß das Konzept von Schuld, das den gängigen Sanktionen zugrundeliegen muß, nur aufrechtzuerhalten ist, wenn man beim Zusprechen von Schuld ein Anders-Handeln-Können im Sinn der Willensfreiheit voraussetzt. Diesen innerenZusarnmenhang von Handlungs- und Straftheorie hat Welzel stets beachtet. Er ist besonders stimmig bei der Vergeltungsstrafe durchgeführt, die das Schuldmaß der Konflikts- und Gelegenheitskriminalität ausgleichen soll.45 Weit 42 We1ze1, Strafrecht 1969. 6. 43 Siehe zur ontologischen Begründung der Schuld bei We1zel Kausalität 1975, 7; Naturalismus 1975, 29; hier Kap. 5 I 2a. 44 Dies entspricht auch den Standards der kognitiven Ethik, siehe dazu Kap. 3 n 3. 45 Vgl. Welzel, Strafrecht 1969, 7. 36 Kargt

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schwerer läßt sich der Gedanke der "Generalprävention durch gerechte Vergeltung" auf die sog. "Zustandsverbrecher " anwenden, denen die Fähigkeit zur Bindung an sozialethische Nonnen in weitem Umfang abgehen soll. Welzel schildert diese Gruppe als "charakterlich schwer abartig, meist haltlos oder gemüts arm" . 46 Da bei diesen Menschen das Verbrechen in ihrer Persönlichkeit wurzelt, begehen sie unabhängig vom Wechsel der äußeren Verhältnisse immer wieder Verbrechen. Diesen Zustandsverbrechern gegenüber reicht die vom Maß der Schuld begrenzte vergeltende Strafe nicht aus, "trifft nicht die in der Täterpersönlichkeit liegende bleibende Gefährlichkeit". 47 Deshalb muß diese besondere, von tiefverwurzelter Bindungslosigkeit herrührende Gefährlichkeit durch andersartige, nämlich sichernde und bessernde Maßnahmen bekämpft werden. "Der Weg des Straf-oder richtiger des Kriminalrechts ist also ,zweispurig' . Die eine Spur führt über die Schuld zur vergeltenden Strafe, die andere über die Gefährlichkeit zur sichernden und bessernden Maßnahme."48 W elzel unterscheidet also zwei Tätergruppen, auf die jeweils gänzlich verschiedene Sanktionen anzuwenden sind. Während die Funktion des Strafrechts bei den Gelegenheitstätern sozialethischer Natur ist, muß es bei den gefährlichen Gewohnheitsverbrechern, zu denen auch die Gruppe der "Asozialen" wie Bettler, Landstreicher, Arbeitsscheue, Dirnen mit einer meist leichten Kriminalität gehört, vornehmlich auf präventiv-sichernden Rechtsgüterschutz bedacht sein. Das heißt im Klartext, daß es für die letztere Gruppe weder klare, festumrissene Tatbestände noch eine zeitlich festehende Maßregel geben soll. 49 Solange die Täterpersönlichkeit als "gefährlich" eingestuft wird, geht der Rechtsgüterschutz den Belangen des Täters vor. Insofern ist die Gruppe der ,,zustandsverbrecher" den "gefährlichen Geistesdefekten" gleichgestellt. Beiden gegenüber kann die Strafe den vollen Rechtsschutz nicht gewährleisten, sondern muß durch sichernde und therapeutische Maßnahmen ergänzt werden. Welzel faßt zusammen: "Ein wirkungsstarkes Strafrecht ist doppelspurig: Es ist ein sozialethisch fundiertes, in festen Tatbeständen umgrenztes, vergeltendes Strafrecht gegen den Gelegenheitstäter einerseits, ein - akute Sozialgefahren bekämpfendes - Sicherungsrecht gegen den Zustandsverbrecher andererseits." 50

b) Kritik Unsere Kritik an der Welzelschen Straftheorie betrifft sowohl die Funktionen, die der Strafe gegenüber dem einzelnen Täter zugeschrieben werden, wie auch die Wirkungen, die die Strafe auf die Allgemeinheit haben soll. Beide Funktionen hängen eng miteinander zusammen und haben ihre gemeinsame Wurzel in WelWelzel, Welzel, 48 Welzel, 49 Welzel, 50 Welzel, 46

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ebd. ebd. ebd. ebd. ebd.

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9. 9.

II. Straftheorien

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zels Handlungstheorie. Wir beginnen mit dem spezialpräventiven Moment von Welzels Strafkonzeption der Vergeltung und der (bessernden) Sicherung. Zunächst springt sofort ins Auge, daß Welzel den Bereich der sichernden Maßregel ungeheuer ausweitet, wenn er ihn auf den sog. ,,zustandstäter" erstreckt. Da der Kreis dieser Gruppe mit der Hereinnahme der sozial Schwächsten und der psychisch Instabilen außerordentlich weit gezogen ist, würde nach heutigem Verständnis wahrscheinlich sogar die Mehrheit der Kriminellen darunter fallen. Daß für einen derart weiten Täterkreis rechts staatliche Garantien wie das Bestimmtheitsgebot drastisch verkürzt und primär sichernde Maßnahmen vorgesehen sein sollen, dürfte heute auf allgemeine Ablehnung stoßen. Dabei sollte aber die außerordentliche Konsequenz im Denken Welzels nicht übersehen werden. Welzel nimmt seine Handlungslehre ernst, in deren Zentrum die Begriffe Freiheit (Finalität) und Schuld (Anders-Handeln-Können) stehen. Nur dem selbstbestimmten "freien" Menschen gegenüber lassen sich vergeltende Sanktionen rechtfertigen. Wer jedoch aufgrund familiärer und sozialer Defizite in der Entfaltung dieser Freiheit behindert, wer durch "schlechte Erziehungsverhältnisse" in seiner Persönlichkeit gestört ist, dem gegenüber kann kein sittlicher Tadel erhoben werden. 51 Es zeigt sich also, daß Welzel einen anspruchsvollen Begriff von Freiheit besitzt, der verhindert, daß zu Legitimationszwecken leichthin und breit gestreut Freiheit zugeschrieben wird. Eine solch unbekümmerte Verwendung der Freiheitsidee finden wir noch heute in der psychiatrischen Krankheitslehre, wo die sog. "charakterlichen Abartigkeiten" (Psychopathien) mühelos mit Freiheit und damit Schuldfähigkeit in Verbindung gebracht werden. 52 So wenig einsichtig das auch sein mag, diese Inkonsequenz ist mit der Postulierung des Schuldgrundsatzes vorprogrammiert: Man kann nicht einerseits Freiheit zur Grundlage strafrechtlicher Reaktionen machen und andererseits einem Großteil des Klienteis eben diese Freiheit absprechen. So kommt es, daß nicht - wie zu erwarten wäre - den "Gelegenheitstätern", sondern den von Welzel so genannten ,,zustandstätern" am ehesten und nachhaltigsten Schuld attribuiert wird. Diesen von jeder Beobachtung widerlegten Mißbrauch des Wortes "Freiheit" lehnt Welzel entschieden ab. Aber der Preis für seine Konsequenz ist aus tatsächlichen und aus rechtsstaatlichen Gründen untragbar. Wir erinnern uns, daß Welzel gegen den "Kausalisten" Franz von Liszt vor allem vorgebracht hat, dieser besitze keinen Begriff von Normativität. Infolgedessen verkenne er, daß die Menschen nicht aus einer legalistischen Haltung, sondern aus einer sozialethischen Gesinnung heraus Rechtstreue bewahren. Dem Strafrecht kommt die Aufgabe zu, diese kollektive Werthaltung durch symbolischen Widerspruch gegen den Normbruch zu schützen. Nun behauptet Welzel, daß diese symbolische Funktion des Strafrechts nur bei den Gelegenheitstätern "greife". Bei der "andersgearteten Krimina51 Vgl. zur sozialen Deprivation jugendlicher Vermögenstäter die empirische Studie von Beulke, Vermögenskriminalität 1974, 16. 52 Siehe dazu m. w. N. Kargi, Schuldprinzip 1982,224.

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Kap. 5: Ordnung durch Strafrecht

lität von Menschen, denen die Fähigkeit zur Bindung an sozialethische Nonnen in weitem Umfange abgeht", kommt nur präventiv-sichernder Rechtsgüterschutz in Betracht. Sollte es richtig sein, daß die letztere Gruppe einen beträchtlichen Anteil an der Gesamtkriminalität hat, so würde Welzel für diesen großen Bereich der Kriminalität einen ,,Legalismus" propagieren, den er im Prinzip ablehnt. Das bedeutet, daß er diese Gruppe der "mechanischen Dressur" aussetzt; soweit sie darauf nicht ansprechen sollte, gilt das reine Geetz des Gesellschaftsschutzes, also die ,,künstliche Selektion", die "sichernde Maßnahme". So ist im Endeffekt der positivistische Rechtsbegriff eines Liszt nicht überwunden, sondern für einen sehr relevanten Täterkreis gerade bestätigt worden. Wem "soziale Gefährlichkeit" zugeschrieben wird - wo könnte hier eine überprüfbare Grenzziehung erfolgen? - , der ist und bleibt das bloße Objekt der staatlichen Macht. Trotzdem ist festzuhalten, daß Welzel an dieser Gruppe keine Vergeltung üben will. Auch wenn er deren Größe bei weitem unterschätzt haben mag, zeigt seine Konzeption doch den tiefen Ernst, mit dem er Begriffe wie Freiheit und Schuld behandelt. Von einer solchen, ethisch notwendigen Skrupulösität ist die gegenwärtige strafrechtliche Grundlagendebatte zumeist weit entfernt: Entweder wird die Bedeutung der Begriffe zugunsten einer generalpräventiven Strafzweckbestimmung heruntergespielt oder die Begriffe werden ihres Inhalts entleert, indem man sie wider jede kriminologische Erkenntnis pauschal auf (beinahe) jegliches abweichendes Verhalten anwendet. Beide Methoden untergraben das Prinzip der Schuld. Sucht man es dagegen - wie Welzel - ernstzunehmen, muß man Ausnahmen von dem Prinzip zulassen, und die Ausnahmen weiten sich mit jedem Fortschritt der Humanwissenschaften aus. Würde Welzel die Maßstäbe, die er an das Schuldprinzip stellt, noch heute aufrechterhalten, so käme er nicht umhin, das Regel(Schuld)-Ausnahme(Gefährlichkeit)-Verhältnis neu zu bestimmen. Der Anwendungsbereich der Vergeltungsstrafe würde auf diese Weise erheblich zusammenschrumpfen. Eine andere Frage ist, ob die Vergeltungsstrafe überhaupt legitimierbar ist. Dazu haben wir aus kognitionstheoretischer Sicht das Erforderliche gesagt. Vergeltung und Freiheit sind Komplementärbegriffe. Fällt die Bastion der (Willens-) Freiheit, ist das Strafziel der Vergeltung nicht mehr zu halten. Auch hierin hat Welzel konsequent argumentiert: "Nur das, wofür der Mensch willentlich etwas kann, kann ihm zur Schuld vorgeworfen werden." 53 Das Maß dieser Schuld ist es, das vergolten werden kann. Wie HegeP4 stellt auch Welzel bei der Bestimmung der gerechten Strafe nicht auf das Talionsprinzip, sondern auf die Wert53 Welzel, Strafrecht 1969, 139. 54 Siehe Hegel, Philosophie des Rechts 1964, § 101: "Das Aufheben des Verbrechens ist insofern Wiedervergeltung, als sie dem Begriffe nach Verletzung der Verletzung ist und dem Dasein nach das Verbrechen einen bestimmten, qualitativen und quantitativen Umfang, hiermit auch dessen Negation als Dasein einen ebensolchen hat. Diese auf dem Begriffe beruhende Identität ist aber nicht die Gleichheit in der spezifischen, sondern in der an sich seienden Beschaffenheit der Verletzung, - nach dem Werte derselben."

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gleichheit zwischen Tat und Strafe ab. Mit Durkheim könnte man diese Wertgleichheit auf die Stärke der Beunruhigung, die vom Normbruch ausging, beziehen und danach die Höhe der Strafe festsetzen. Aber auch eine so verstandene "Wiedervergeltung" setzt ein "Dafür-Können", also Freiheit voraus. Unsere Untersuchung zur Selbstrefentialität des Bewußtseins hat jedoch keine Anhaltspunkte für einen ausreichenden, den Schuldvorwurf stützenden Freiheitsbegriff ergeben. 55 Die Theorie von der Zustandsdetenniniertheit des HandeIns schließt zwar eine Verantwortlichkeit für künftige Lernprozesse nicht aus, aber sie begründet noch längst keinen (sozialethischen) Vorwurf hinsichtlich vergangener deliktischer Handlungen, die es auszugleichen gelte. Das Strafziel der Vergeltung ist also aus dem Gesichtspunkt des menschlichen Freiheitsvermögens nicht gerechtfertigt. Fazit bezüglich des spezialpräventiven StraJkonzepts von Welzel: Die nach dem Maße der Schuld bemessene vergeltende Strafe scheitert an der (Zustands-) Determiniertheit menschlichen HandeIns; die nach der "Gefährlichkeit" bemessene sichernde (und bessernde) Strafe bedeutet einen positivistisch-instrumentalistisehen Rückfall in kausalistisches Denken und ist deshalb auch nicht aus dem Gesichtspunkt des Gesellschaftsschutzes zu rechtfertigen. Aber selbst wenn wir Freiheit und somit die Berechtigung zur Vergeltung unterstellen, so hat die vergeltende Schuldstrafe nicht jene generalpräventive Wirkung der "Sittenbildung", die Welzel ihr zuschreibt. Das liegt in seinem besonderen Verständnis des Begriffs ,,Normativität" begründet. Nach Welzel orientiert sich die große Masse der Bevölkerung an normativen Mustern. Die Kriminalität dieser Schicht ist "die aus einer außergewöhnlichen oder einer verlockenden Situation erwachsende Konflikts- und Gelegenheitskriminalität" . 56 Den Normalfall bildet indes die Konformität, die aus dem Gefühl der inneren Verpflichtung gegenüber den Geboten der Gemeinschaft heraus entsteht. Will man nun wissen, welchen Typus von Ordnung Welzel aus der Idee der normativen Orientierung des HandeIns ableitet, so muß man danach fragen, worauf denn eigentlich die innere Zustimmung zur "Wertwelt" beruht. Dabei ist zugleich die Frage nach der Herkunft der "Werte" zu stellen. Welzel gibt hierauf im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der "wertphilosophisch-szientistisehen" Tatbestandslehre von Erik Wolf AuskunftY Im Gegensatz zu Wolf, der das Gegenständliche des Rechts in ein Produkt theoretischer BegrijJsbildung aufgelöst habe, gelte es, das Recht wieder nach zwei Richtungen hin zu öffnen: ,,zum Sein wie zu den 'wirklichen' Werten ebendie ses Seins". 58 Auf diese Weise werden die Werte aus der begrifflichen Sphäre befreit und in ihrer "tieferen Zur kognitionstheoretischen Begründung von Verantwortlichkeit vgl. Kap. 2 11 3 d .. Welzel, Strafrecht 1969, 7. 57 Siehe dazu Welzel, Naturalismus 1975, 93. Welzel polemisiert hier insb. gegen Wolfs Schrift "Sachbegriff im Strafrecht" 1929,44. 58 Welze!, Naturalismus 1975, 7. 55

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Beziehung zum Sein" verankert. Anders als die Szientisten glauben machen wollen, sei das komplexe Sein kein chaotisches Material, das erst begrifflich zu ordnen und zu gestalten wäre: "Das Sein hat vom Ursprung an Ordnung und Gestalt in sich und bekommt diese nicht erst von irrealen Formen geborgt; und ebenso steht das Gemeinschaftsdasein des Menschen in ursprünglichen Ordnungen und Bindungen, die nicht erst durch umformende theoretische Begriffsbildungsakte an ein umgestaltetes Dasein herangetragen werden." S9 Welzel versucht hier, die gesellschaftliche Ordnung als "natürliche" Ordnung zu beschreiben. Demzufolge besteht die normative Tätigkeit nicht im Konstruieren oder "Erfinden" von sinnhafter Wirklichkeit, sondern im "Finden" von immer schon dagewesener "Werthaftigkeit" des Seins. Rechtliche Normierungen erscheinen darum nur als Deskriptionen dieses ursprünglichen Wertseins, soziale Ordnungen als mehr oder weniger geglückte Versuche, diese ontologischen Vorgaben begrifflich-theoretisch einzufangen und als "Lebensordnung" rechtlich sowie politisch ins Werk zu setzen. Es ist offensichtlich, daß diese ontologische Fundierung der Werte eine diskursive vernünftige Argumentation über den allgemeinen Nutzen bestimmter Werte erübrigt. Der aus dem ontologischen Sein gerechtfertigte Sinn bedarf nicht der gemeinschaftlichen Legitimation, denn der "Sinn" liegt logisch im gegenständlichen Gehalt begründet. 60 Das heißt jedoch nichts anderes, als daß die Geltung der Werte, also ihr Sollen im (metaphysischen) "Wesensgefüge des menschlichen Seins" verwurzelt ist. Der Diskurs vermag allenfalls die Werte zu entdecken, "begründen" im Sinne von rational Herstellen vermag er sie nicht. Daß die Ethik der streitbaren Rede entzogen und dennoch historischem Wandel unterworfen ist, erläutert Welzel am Beispiel der ,,rassischen Konkretionen des Mensch-Seins": "Die inhaltliche Fülle der Werte differenziert sich nach dem konkreten menschlichen Sein, das nach seiner leiblichen Seite hin durch die Verwandtschaft des Blutes gekennzeichnet ist. So ist die konkrete Kultur stets die gestaltgewordene Weise, in der sich die Werthaltungen des einzelnen blut- und schicksalsmäßig zusammenhängenden Volkstums ausspricht."61 Aber die Lebensstile und Werthaltungen des Volkes verändern sich, nicht anders wie das menschliche Leben selbst. Deshalb sind nur Werte, die dem neuen Lebensstrom entsprechen, wirkliche Werte, "anderenfalls sind es nur Reste eines versunkenen Lebens, die bestenfalls noch 'Dasein', aber keine lebendige Wirklichkeit mehr haben".62 Dazu konnte Welzel kein passenderes Zitat finden als das berühmte Hegelwort: "Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig." 63 S9 Welzel, ebd. 103. Ganz ähnlich wirft earl Schrnitt dem juristischen Positivismus vor, er gehe primär von konkreten Unordnungen aus, die durch Normentscheidungen erst in Ordnung gebracht werden müßten. An Stelle des alten abstrakten ,,normativistischen" Denkens fordert er das Denken in konkreten Ordnungen; siehe dazu Schmitt,

Denken 1934. 60

Zur Kritik der ,.Logik" intentionaler Gegenstände vgl. Kap. 5 I 2b.

61 Welzel, Naturalismus 1975, 86. 62 Welzel, ebd. 86.

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Am Ende übertrumpft also Welzel, der doch mit idealistischen Losungen ausgezogen war, den Positivismus Liszts. Das ist die zwingende Folge jeder Metaphysik, die sich auf das Sein, auf empirische Beobachtungen stützen will. Das Sollen verschmilzt hoffnungslos mit dem Müssen und verliert jegliche Kraft zum Widerspruch. Auch Weizei vertritt also eine faktische Geltungstheorie. Die Faktizität ergibt sich bei ihm allerdings nicht wie bei Liszt aus den gegebenen Machtverhältnissen, sondern aus der ,,Logik" des sich wandelnden menschlichen Seins, gegen den der Diskurs auf verlorenem Posten steht. Sollte das kommunikative Handeln der Gemeinschaftsmitglieder gegen die Realität des Wirklichen ,,Einspruch" einlegen, so wird es vom ,,neuen Lebensstrom ' wie Reste eines abgestorbenen Lebens weggespült. Während Liszt unbefangen von Macht und Herrschaft sprach und damit der (falschen) Wirklichkeit einen richtigen Namen gab, redet Welzel von "ontischem Dasein", von Sozialethik, von rassisch verwandtem Blut und belegt damit die falsche Realität mit einem falschen Begriff. Eine Ordnung, die aus der Ontologie und nicht aus dem konsensuellen Handeln autonomer Individuen abgeleitet wird, ist eine konformistische Ordnung. In ihr herrscht die Kontrolle des Handeins durch eine gemeinschaftliche Verankerung in Normen vor. Aber die Verankerung erwächst nicht aus der Legitimität diskursiver Argumentationsverfahren, sondern aus der Faktizität einer ontologisch begründeten Wertwelt. Die Verpflichtung auf Normen ist also keine autonome, selbstbestimmte Leistung der Individuen. Sie entspringt vielmehr den affektuellen Bindungen der Sozialisation und ist in hohem Maße äußerlich auferlegt. Deshalb ist Ordnung in dieser normativistischen Sicht auch nur als eine geschlossene möglich. Da die Individuen in der normativen Geschlossenheit der Gemeinschaft aufgehen, existieren sie - wie Parsons bemerkt 64 - gar nicht als autonome, selbstverantwortliche Individuen. Das beweist die Straftheorie Welzels in aller Eindringlichkeit. Denn das Konzept der "Normstabilisierung" bzw. der "sittenbildenden Kraft" des Strafrechts geht ja implizit davon aus, daß die Regelhaftigkeit des Verhaltens nicht als Folge gemeinschaftlichen Konsenses, nicht als Konsequenz rationaler und argumentativer Diskurse anzusehen ist. Normorientierung erfolgt danach auf der Basis von Erziehungsprozessen, die infolge der inneren und äußeren Abhängigkeit der Kinder zu einer bestimmten psychischen Motivation führen. Ein solcher auf Normen verpflichteter innerer Zustand hat wenig mit Entscheidung, ,,Freiwilligkeit", Zustimmung, also mit echtem Konsens zu tun. Er ist Ausdruck der biologischen Notwendigkeit zu strukturellen Koppelungen und mit der Gefährdung oder gar Auflösung dieser Koppelungen in ebensolcher Gefahr. So gesehen, macht es Sinn, die mit den Lockerungen der affektiven Bindungen einhergehenden normativen Desorientierungen mit Hilfe der Setzung staatlicher Zeichen ausgleichen, ,,reparieren" zu wollen. Aber man muß sich darüber im klaren sein, daß 63

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Hegel, Rechtsphilosophie 1964, Vorrede. Vgl. Parsons, Social Action 1968, 686.

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diese Art der ,,Nacherziehung", der kollektiven Bewußtseinsbildung ein Umkippen in den Positivismus bedeutet. Solange der Idealismus die "Werte" der Ontologie entlehnt und somit gegen jegliche streitbare Rede abschottet, vertritt er eine herrschaftliche Variante der Ordnung und nähert sich unaufhaltsam der machttheoretischen Position des Positivismus. Für die sogenannten ,,zustandstäter" hat Welzel - wie wir gesehen haben - die Grenze zwischen dem empiristischen Positivismus und dem historischen Idealismus völlig aufgehoben. In diesem Bereich der Kriminalität dominiert ungehemmt der Gesellschaftsschutz. Das ist die logische Folge eines Ordnungsbegriffs, der entweder auf Macht oder auf Ontologie zurückgeführt wird.

3. Ordnung durch Ko-Evolution a) Normativität und objektive Gültigkeit Bei der Bestimmung der eigenen straftheoretischen Position können wir an den Fortschritt anknüpfen, den Welzel gegenüber Liszt in die ordnungspolitische Debatte eingeführt hat. Die bedeutsame Innovation ist mit dem Begriff der "Normativität" gegeben. Anders als Liszt interpretiert Welzel den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht mehr als Konsequenz einer durch Macht und Zwang hervorgerufenen Regelmäßigkeit, sondern als Ausdruck einer gemeinsamen Wertwelt. Unsere Kritik betraf die Fundierung der kollektiven Ethik im "Sein" und die Rechtfertigung strafrechtlicher Reaktionen auf Verletzungen der Ethik durch den Schlüsselbegriff ,,Freiheit". Aber ungeachtet dieser Kritik muß es als bleibendes Verdienst Welzels angesehen werden, daß er sowohl den Bestand der Normen wie auch den Schutz dieser Normen mit außerordentlichem Ernst und großem philosophischen Aufwand zu legitimieren suchte. Dabei lenkte er die Aufmerksamkeit der Straftheorie auf die moralische Sphäre des "SolIens" , die ja per definitionem etwas anderes ist als die Faktizität des "Müssens", der gegebenen Ordnung und ihrer Institutionen. Auch wenn Welzel selbst die Kluft zwischen den beiden Sphären nicht ausdrücklich thematisiert hat, so impliziert der Wechsel von der faktischen zur normativen Geltungstheorie des Rechts doch stets ein Moment des Uneingelösten, des Zukünftigen, ja des Utopischen. Im ontologischen Freiheitsbegriff ist ein solches Moment des Widerspruchs und der Differenz zur herrschenden Normalität immer mitgemeint. Er verhindert tendenziell, daß Menschen zu Funktionen ihrer Umwelt herabsinken und als solche manipuliert werden. Zumindest in der Theorie ist dann die menschliche Autonomie als höchster Wert verankert und kann gegebenenfalls eingefordert werden. Der modemen gesellschaftsorientierten Funktionsbestimmung des Strafrechts geht es indes nicht mehr in erster Linie um die Autonomie des Individuums, sondern um die Autonomie des kollektiven Moralsystems. Wird von der Freiheit, der Schuld oder der Lernfahigkeit des Täters abgesehen, dann bleibt als Rechtferti-

II. Straftheorien

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gung herkömmlichen Strafens nur übrig, den gegebenen Nonnenbestand zum höchsten moralischen Gut zu erklären und die Maßnahmen, die das moralische System zu seiner Sicherung nötig erachtet, selbst zur Moral zu schlagen. Was zum System der Moral gehört, ist kraft dieser Zugehörigkeit auch moralisch legitim. In dieser Argumentation ist die Moral selbst einer moralischen Rechtfertigung weder fähig noch bedürftig. Sie existiert, und das ist ihre einzige Rechtfertigung. Sie sorgt für Regelmäßigkeit des Handeins, und das ist ihre Nützlichkeit. Wir haben es bei dieser Fonn der Rechtfertigung von Strafe mit einem extremen ethischen Empirismus zu tun, der alles der Moral zurechnet, was er als Prinzip einer geregelten Praxis vorfindet. Dazu zählt dann natürlich auch das Strafrecht, das die Erwartung bestätigt, daß die Nonn auch imEnttäuschungsfall durchgehalten wird. Einer solchen Strafpraxis kommt der Nonnbrecher nur als Demonstrationsobjekt ins Blickfeld: "Man sperrt den Übeltäter zur Demonstration der Fehlerhaftigkeit seines Verhaltens ein."65 Diese Instrumentalisierung des Täters kann einzig dadurch legitimiert werden, daß man das vom Strafrecht repräsentierte Moralsystem höher bewertet als die Individualrechte. Dabei übersieht man freilich, daß der Bestand des moralischen Systems nicht von vornherein der höchste mögliche Wert sein kann. Sonst wäre im Namen seiner Erhaltung alles erlaubt. Das wird niemand plausibel finden. Dennoch sucht man bei den Anhängern der Nonnstabilisierungstheorie vergeblich nach einem zuverlässigen Bollwerk gegen eine solche Überspitzung der funktionalen Betrachtungsweise. Der Nonnstabilisierungshypothese liegt also - so unsere Schlußfolgerung das Modell der "konformistischen Ordnung" 66 zugrunde. In seinen praktischen Konsequenzen ist es ein Zwangsmodell: Die Menschen handeln hier zwar nach verinnerlichten, aber doch extern gesetzten Nonnen. Könnte es sein, daß der rationalistische Idealismus den Herrschafts- und Zwangsaspekt des Nonnativismus überwinden hilft? Nehmen wir als Beispiel für das rationalistische Versprechen der Überwindung machtorientierter Ordnungsmodelle die Habennassche Theorie des kommunikativen Handeins. 67 Nach Habennas besteht das Gemeinsame der verschiedenen Handlungstypen darin, daß sie implizit Geltungsansprüche anmelden, die durch Gründe argumentativ gerechtfertigt werden müssen. So drucken nonnenregulierte Handlungen ein moralisch-praktisches Wissen aus, das auf die soziale Welt gerichtet ist und Richtigkeit beansprucht. Während instrumentelle Handlungen ein technisches, ,,kausales" Wissen verkörpern, das sich auf "Objekte" oder "Gegenstände" bezieht, treten wir im sprachlich vollzogenen kommunikativen Handeln zurechnungsfähigen Subjekten gegenüber, die wir nicht kausal manipulieren 68 , sondern 65 Jakobs, Strafrecht 1983, 5. 66 Vgl. dazu eingehender Kap. 3I12c. 67 Siehe Habennas, Kommunikatives Handeln 1981, Bd. 1,28, 105, 143, 196, 316, 435; Diskursethik 1983, 53; vgl. schon Kommunikative Kompetenz 1971, 136 und Wahrheitstheorien 1973, 252.

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Kap. 5: Ordnung durch Strafrecht

nur durch Gründe argumentativ zu Handlungen motivieren können. In alltäglichen Handlungssituationen sind die Geltungsansprüche gewöhnlich implizit und unproblematisch gegeben. Werden sie allerdings problematisch, müssen sie zum Gegenstand von Diskursen gemacht werden. In den Diskursen wird nichts anderes als gültig vorausgesetzt als diejormalen Regeln der Argumentation. Vom alltäglichen kommunikativen Handeln grenzt sich der Diskurs dadurch ab, daß jeder, der sprechen kann, teilnehmen, Geltungsansprüche aufstellen und kritisieren darf. Dabei darf er durch keinerlei externen oder internen Zwang gehindert werden. 69 Den verschiedenen Geltungsansprüchen weist Habermas entsprechende argumentative Formen ihrer Einlösung zu. 70 So werden etwa Wahrheitsansprüche von kognitivem und technischem Wissen in theoretischen Diskursen, Richtigkeitsansprüche von moralischem Wissen in praktischen Diskursen eingelöst. Soweit ist Habermas aus unserer kognitionstheoretischen Sicht zu folgen. Die Kritik setzt allerdings beim Universalitätsanspruch ein, den Habermas dem erreichten Konsens beimißt. Die formale Grundregel der Argumentation besagt nämlich, daß partikulare Geltungsansprüche auf universelle Gründe zurückgeführt werden müssen. Ein universeller Grund soll ein solcher sein, dem jeder, unabhängig von konkreten Umständen, zustimmen muß. Als einen solchen Grund der universellen Gültigkeit einer Aussage bezeichnet Habermas den zwanglos zustande gekommenen Konsens. An diesem Punkt unterscheidet Habermas nicht klar genug zwischen der universellen Gültigkeit einer Aussage und ihrer universellen Geltung. 71 Erstere meint Objektivität, subjektunabhängiges Wissen, "Wahrheit" im Sinne ewig gültiger Erkenntnis. Die universelle Geltung hingegen verweist auf Intersubjektivität, die nur sozial konstituiert ist. Besteht eine intersubjektive Übereinstimmung, dann heißt das nicht, daß die konsentierte Aussage universell gültig ist. Jeder Konsens kann immer nur ein partikularer und temporärer sein. Unabhängig von unserer hier vertretenen erkenntnistheoretischen Position ergibt sich das schon aus der Unmöglichkeit, alle diejenigen Informationen zu erhalten, die erforderlich wären, um alle Falsiflkationsmöglichkeiten einer Aussage auszuschöpfen. Diese Bedingungen sind natürlich auch von einer herrschaftsfreien, idealen Sprechsituation nicht erfüllt. In ihr mögen Vorurteile und Zwänge abgebaut sein, aber deshalb wissen wir noch längst nicht alles. Das war - wie wir gesehen haben - der positivitische Fehler der ,,Kausalisten" . Habermas, Kommunikative Kompetenz 1971, 136; Wahrheitstheorien 1973,252. 70 Siehe Habermas, Kommunikatives Handeln 1981, Bd. 1, 38, 447. 71 Zu dieser Unterscheidung vgl. Popper, Objektive Erkenntnis 1973, Kap. m; Münch, Moderne 1984, 82. Es soll hier nicht behauptet werden, daß Habermas den Unterschied zwischen objektiver Gültigkeit und faktischer sozialer Geltung gänzlich übersieht. So unterscheidet er den trügerischen vom wirklichen, nur in einer idealen Sprechsituation, im Diskurs erzielten Konsens (vgl. Kommunikative Kompetenz 1971, 135). Und er grenzt eindeutig die Gültigkeit einer Norm von ihrer sozialen Geltung ab (vgl. Kommunikatives Handeln 1981, Bd. 1,132). Das Argument lautet vielmehr, daß eine formalpragmatische Konsenstheorie der Wahrheit unvermeidlicherweise Bedingungen der sozialen Geltung enthalten muß, weil anderenfalls Intersubjektivität nicht erzielbar wäre. Objektive Gültigkeit einer Aussage ist also immer nur auf der Ebene intersubjektiver Geltung formulierbar. 68

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II. Straftheorien

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b) Normativität und intersubjektive Geltung

Wichtiger ist indes, daß es ja letztlich nicht die Bedingungen der Sprechsituation sind, die uns vom gültigen Wissen abhalten, sondern die epistemischen Bedingungen des menschlichen Erkenntnisvermögens. 72 Danach entrinnt keine Aussage - so sehr sie intersubjektiv akzeptiert sein mag - der Subjektabhängigkeit des Wissens. Sie gilt immer nur vorläufig, solange alle Widerlegungsversuche gescheitert sind. 73 Der Grund für das vorläufige Akzeptieren liegt in der Ausbildung parallelisierter kognitiver Zustände jenes Mitgliederkreises, der in Bezug auf ein bestimmtes Thema bestimmte konsensuelle Unterscheidungen getroffen hat. Mit der Erzeugung dieser (kollektiven) Unterscheidungen wird immer auch eine unbegrenzte Anzahl potentiell möglicher Unterscheidungen ausgeschlossen. Warum die einen Unterscheidungen Zustimmung finden und die anderen nicht, kann weder an der formalen Bedingung der idealen Sprechsituation noch am Gebrauch von Argumenten liegen. Denn die Anerkennung von Diskursregeln beruht auf vorgängigen nichtdiskursiven Veraussetzungen, auf die der Sprecher seine Äußerung argumentativ zurückführen kann. Und dieses Vor-Einverständnis kann sich nicht selbst auf rationale Argumente gründen, weil Sprecher und Hörer anderenfalls in einen unendlichen Regreß geraten würden und der Sprecher den Hörer nie zu einer Überzeugung und Handlung bewegen könnte. Rationale Motivation ist deshalb ohne vorrationale Intersubjektivität von Überzeugungen nicht möglich. Konsens ist also nur durch diskursive Rückbindung eines Geltungsanspruchs an einen immer schon vorhandenen Konsens erzielbar. Dies verweist nun auf die Handlungsfelder der affektuellen Komponente der Gemeinschaft und auf die empirisch-historische Komponente des Zwangs. Habermas integriert in seinem Konzept jeweils also das rationalistische Moment des Positivismus ("zufällige Ordnung") und des Idealismus ("ideelle Ordnung"). Seine Handlungstheorie reduziert sich - mit anderen Worten - auf einen idealistisch-positivistischen Rationalismus. 74 Zusammenfassend ist der Konsenstheorie von Habermas entgegenzuhalten, daß sie erstens die Normativität über Gebühr in der Rationalität verankert, und daß sie zweitens der Rationalität zutraut, absolute Wahrheit bzw. universelle Gültigkeit erreichen zu können. Gegen die erste Behauptung wenden wir ein, daß die Normativität des Konsenses nicht allein vernunfttheoretisch begründbar Zur kognitionsbiologischen Erkenntnistheorie vgl. Kap. 3 I 2. Die Nähe zum kritischen Rationalismus ist unverkennbar. Nach Fritz Sack hat er "dem sog. ,Verifikationsprinzip' des älteren Positivismus das ,Falsifikationsprinzip' entgegengesetzt. Danach kann Wissen nur über den Weg seiner ständigen Prob1ematisierung, In-FrageStellung und Suspendierung erworben werden ... Die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, systematisch Gelegenheiten des Scheitems und der Zurückweisung von Wissen und Wahrheiten zu erzeugen" (Strafrecht 1979,145). Den unterschiedlichen Wissenschaftstheorien ordnet nun Sack unterschiedliche ,,Prozeßmodelle" zu, vgl. dazu weiter unten. 74 Vgl. hierzu ausführlich Münch, Handeln 1982,21; ders., Moderne 1984,77. 72 73

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Kap. 5: Ordnung durch Strafrecht

ist. Der zweiten Behauptung haben wir das Konzept der methodischen Erkenntnistheorie Maturanas gegenübergestellt. In diesem Konzept ist die Regelmäßigkeit des Verhaltens nicht aus der Erkennbarkeit einer universellen Wahrheit herleitbar, sondern aus der Geschichte der strukturellen Koppelungen der Menschen. Allein aus dieser Geschichte erklärt sich, wie Individuen zu gemeinsamen intersubjektiv gültigen Normen gelangen, deren Einhaltung in jeder Situation Priorität vor allen anderen Handlungsalternativen besitzt, und zwar ungeachtet ihrer Konsequenzen für die Realisierung anderer Präferenzen. c) Normativität und Affektlogik

Die Antwort auf die Frage nach der Herkunft gemeinsamer Präferenzen hat schon Durkheim gegeben, der als wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen des Normensystems die Vergemeinschaftung auf der Basis affektueller Verbundenheit genannt hat. 7s Daß diese affektuelle Verbundenheit im Prozeß der Sozialisation aufgebaut wird, haben wir ausführlich bei der Ontogenese des affektlogischen Bezugssystems dargestellt. 76 Wichtigste Erkenntnis unserer Überlegungen war, daß es keinen Logos ohne Affekt, keine Rationalit&t ohne emotionale Bindung geben kann. Somit bedarf jede auf rationale Begründung aufgebaute Moralordnung auch einer nicht-rationalen Abstützung. Diese Abstützung erfordert die Entwicklung eines affektiv kognitiven Bezugssystems, in dem sich die Akteure affektuell verbunden wissen. Soziale Ordnung fundiert also nicht nur in den Standards der Rationalität, sondern ebenso sehr in der affektiven Verankerung dieser Rationalität. Diese doppelte Herkunft des Normensystems übersieht jene Variante kognitiver Sozialisationstheorien, in deren Rahmen der Versuch einer rein rationalen Begründung sozialer Ordnung unternommen wird. 77 Mit dieser Kritik sind die Grenzen des utilitaristischen Paradigmas ("zufällige Ordnung") ebenso wie die Grenzen der rationalistischen Idealismus ("ideelle Ordnung") aufgezeigt. Soziales Handeln läßt sich weder auf nutzenmaximierendes Vernunfthandeln noch auf die universelle Rationalität eines Diskurshandelns zurückführen. Es läßt sich aber auch nicht in die Grenzen der übrigen Handlungsextreme bannen, nämlich in die Zwangsordnung der Machttheorie und in die konformistische Ordnung des Normativismus. Was allen vier handlungs- und ordnungstheoretischen Extremerklärungen gleichermaßen abgeht, ist ein Begriff vom Basiskonsens, der auf einem Vor-Einverständnis der Gemeinschaftsmitglieder, auf einer vorrationalen Intersubjektivität von Überzeugungen, auf einer gemeinsamen Gefühlswelt beruht. 7S Vgl. Durkheim, Soziologie 1976, 105; ders., Erziehung 1973, 109; ders., Formen 1981,260,498,556. 76 Siehe dazu Kap. 2 11 2. 77 Vgl. z. B. Kohiberg, Turiel, Moralische Entwicklung 1978, 13; Habermas,Moralentwicklung 1976,63.

11. Straftheorien

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Nun ist offensichtlich. daß dieser Basiskonsens. der eine Ordnung durch affektuelle Verbundenheit erzeugt. in modemen. hochdifferenzierten Gesellschaften stetig abnimmt. Insofern beschreiben die Extremtypen der Ordnung ein in bestimmten historischen Situationen jeweils hervorstechendes, handlungsleitendes Moment. das den Basiskonsens abgelöst hat und an dessen Stelle getreten ist: Rationalität. Macht. Normativismus oder Diskursivität. Zwar erfassen diese Erklärungsversuche nur einen Teilaspekt des Ganzen. aber sie belegen auf je eigene Art und Weise den Rückzug. aber auch das gelegentliche Wiedererstarken des vorrationalen Konsenses. Ebenso wie die partikularen Ordnungstheorien belegen auch die ihnen zugeordneten Straftheorien den Verlust eines Konsensbegriffs. der Vernunft und Gefühl zusammenbringt. So rechnet die Abschreckungstheorie (negative Generalprävention) mit einer Ordnung. die auf dem rationalistischen Nutzenkalkül der Menschen beruht; die Resozialisierungstheorie (Spezialprävention) und das Konzept der Normstabilisierung (positive Generalprävention) vertrauen empiristisch auf die Vernünftigkeit gegebener Macht- bzw. Normensysteme. ohne sie in der tieferen Dimension der menschlichen Autonomie begründen zu können. Lediglich das Konzept der "emanzipierenden Sozialtherapie"78 ließ bislang die Idee von einer Ordnung ahnen. in der sich der verpflichtende Charakter der Normen nicht allein aus der Herrschaft oder aus der Rationalität. sondern primär aus der kommunikativen Verbundenheit der Gesellschaftsmitglieder ergibt (siehe zum Zusammenhang von Ordnungs- und Straftheorie Übersicht 23). Freilich hat die Idee der ..emanzipierenden Sozialtherapie" nicht immer die vielen gesellschaftlichen und politischen Variablen ins Kalkül gezogen. die zur Verwirklichung von Autonomie und Emanzipation erforderlich sind. Das hat ihre Akzeptanz bei Strafjuristen und Kriminologen erschwert. Aber das Emanzipationskonzept zeigt immerhin auf. was im Strafvollzug passieren muß. um einerseits die alte Vergeltungspraxis und andererseits die positivistische Verhaltensdressur zu überwinden. Als fundamentalste Veränderung fordert es die freie Entscheidung des Gefangenen zur Annahme. zur Fortsetzung und zu den Formen der Therapie. Damit hat das Emanzipationsmodell zwar die klassischen Einwände der Vergeltungstheoretiker gegen die (positivistische) Behandlungstheorie von neuem belebt und vielleicht auch den Gedanken der Behandlung in Unfreiheit überhaupt ad absurdum geführt. es hat jedoch kompromißlos den zentralen Aspekt jeder freiheitlichen Ordnung formuliert: die aktive Teilnahme nach eigener Entscheidung. die Gleichheit und Autonomie der Beteiligten. die affektuelle Verbundenheit. Mit diesen Argumenten ist zugleich der Kern dessen umschrieben. was wir unter Normativität verstanden haben. In der reinsten Form war uns diese Normativität - begriffen als innere Zustimmung und Verpflichtung auf die sozialethischen Grundlagen - in den vorstaatli78 Vgl. insb. Haffke, Sozialtherapie 1977,291; Stratenwerth, Sozialtherapie 1979,901; Kargl, Sozialtherapie 1976, 134. Kritische Stimmen sind zusammengefaßt bei Kaiser, Kerner, Schöch, Strafvollzug 1977,56.

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Kap. 5: Ordnung durch Strafrecht

Übersicht 23: Zusammenhang von Handlungsbezugsrahmen, Ordnungs- und Straftheorien sowie methodologischen Erklärungsweisen. Handlungsraum

Ordnungstheorien

Straftheorien

Methodologie

Ziele

Ökonomische Theorie (Utilitarismus)

Negative Generalprävention (Abschreckung)

Rationalistischer Positivismus. Teleonomisches Erklären

Mittel

Macht- oder Konflikttheorie

Spezialprävention (sichernde und bessemde Maßnahmen)

Empiristischer Positivismus. Kausales Erklären

Normen

Normativismus

Positive Generalprävention (Normstabilisierung)

Historischer Idealismus. Normatives Verstehen

Symbolischer Bezugsrahmen

Idealistische Kulturtheorie

Emanzipatorische Sozialtherapie

Rationalistischer Idealismus. Rationales Verstehen

chen Gesellschaften der Jäger und frühen Ackerbauern begegnet. Wir haben gesehen, daß es bei ihnen weder einen hierarchischen Aufbau noch sonst eine feste Struktur gibt, die unserer Staatsgewalt gleichkäme. Anstelle der Ordnungsprinzipien Macht und Herrschaft finden wir in den akephalen Gesellschaften die Handlungsfaktoren der "Egalität" und der "Reziprozität". Das macht eine Konfliktregelung möglich, in deren Zentrum Diskussionen und Verhandlungen stehen. Auctoritas und organisierte Gewalt sind hier nur deshalb entbehrlich, weil der soziale Zusammenhalt über die Sozialstruktur der Egalität, also über weitestgehende gesellschaftliche und ökonomische Gleichheit gestiftet wird. In dem Maße, in dem diese grundlegenden Handlungsbedingungen - etwa im Zuge zunehmender Arbeitsteilung - wegfallen, verringern sich jenes Vertrauen und jene affektiv-kognitiven Gemeinsamkeiten unter den Gesellschaftsmitgliedern, ohne die herrschaftsfreie Ordnungen nicht zusammengehalten werden können. Vertrauen wird zum Teil durch Macht und innere Verpflichtung durch ein formalisiertes Normensystem abgelöst. Am Ende der Entwicklung scheint eine konformistische Ordnung denkbar, in der die materialen Gesichtspunkte hinter die formalen völlig zurücktreten, in der die Legalitätshaltung das eigentlich normative Moment des gesellschaftlichen Zusammenhangs verdrängt.

11. Straftheorien

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In diesem Sinne ist die Entwicklung des modemen Rechts zutreffend als ein komplementärer Prozeß beschrieben worden, bei dem die Zunahme formaler Strukturmerkmale mit einer deutlichen Abnahme materialer Aspekte einhergeht. Man kann auch sagen: Mit der Ausbreitung staatlicher. Herrschaft nimmt der kommunikative Faktor ,,Konsens" kontinuierlich ab. Dies führt dazu, daß sich die nicht liquidierbaren Bedürfnisse nach Egalität, Reziprozität und affektueller Verbundenheit auf andere Verhaltenssysteme, z. B. auf Familie und Freundschaft, also insbesondere auf das gesamte moralische Gebiet verlagern. Dem Recht hingegen verbleibt dann nur noch die Zuständigkeit für das äußere Verhalten; es begnügt sich mit der Konformität und überläßt den Konsens der Moral. Ein solches Recht entspricht den machttheoretischen und normativistischen Interpretationen von sozialer Ordnung. Es vernachlässigt die Momente der individuellen Autonomie und Selbstverantwortlichkeit, - Momente, auf denen Zustimmung und innere Verpflichtung beruhen. Mit der Heteronomisierung des subjektiven Faktors geht der Komplementärprozeß der Autonomisierung der sozialen Subsysteme - vor allem der Politik und des Rechts - einher. Im fortgeschrittenen Stadium dieser Entwicklung mag es dann bei ungenauer Betrachtung so erscheinen, als ob sich das Recht zu einem autopoietischen System ausgebildet hätte, in dem die Individuen als Komponenten gar nicht mehr vorkommen 79, als ob es sich in der formalen Konstruktion der Positivität, des Legalismus und der Formalität erschöpfen würde. Die Entwicklung des modemen Rechts in Richtung auf formale Gesetzlichkeit ist nicht rückgängig zu machen. Ebensowenig wie die staatliche Herrschaft rückgängig zu machen ist, auf welcher die formalen Konstruktionsmerkmale des Rechts basieren. Unter gesellschaftlichen Bedingungen (partieller) materieller Ungleichheit dürfte ein Abbau der rechtlichen Formalität einem erheblichen Verlust an Schutzfunktionen gleichkommen. Man muß also stets bedenken, daß ein konsensorientiertes Recht ohne die dazu gehörige egalitäre Sozialstruktur dem Mächtigen Vorteile verschafft, die das positive Recht zwar nicht beseitigt, aber doch zumindest in voraussehbare Bahnen lenkt und damit an die Zügel nimmt. Dieser im Rechtspositivismus verankerte und von der staatlichen auctoritas durchgesetzte Legalismus darf nicht unterschätzt werden. Ihm haben totalitäre Regimes im Namen einer falschen Allgemeinheit bzw. eines falschen Konsenses stets den Kampf angesagt. Doch der Legalismus alleine legitimiert noch nicht. Er bindet das Recht lediglich an die Faktizität einer Ordnung, die sich vorrangig aus den handlungsleitenden Quellen der Politik und der Wirtschaft speist. Einer autonomen Rechtfertigung ist der Legalismus nicht rahig. Begnügt man sich nicht mit einem Normensystem, das lediglich den Abstand der Individuenformal überbrückt, dann muß die Legitimität des Rechts im materialen Gesichtspunkt des ,,Konsenses" aufgesucht werden. Der hier verwendete Begriff "Konsens" 79 Siehe Teubner, Autopoietic Law 1988; Luhmann, Rechtssystem 1989; ders., Positivität 1989; ders., Recht 1989.

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Kap. 5: Ordnung durch Strafrecht

verweist nicht auf die psychischen Zwänge einer konfonnistischen Ordnung, sondern auf gemeinsame Ziele und Werte, die im affektlogischen Bezugssystem der Menschen verankert sind. Das durch die kognitive Handlungs- und Ordnungstheorie einzig legitimierbare Strafziel lautet daher Ko-Evolution. 80

80 Das Strafziel der Ko-Evolution deckt sich weithin mit Luhmanns Vorstellung, wonach Gesellschaften mit hohem Innovationsbedarf Schemata ausbilden müssen, in denen die Enttäuschung der Verbrecher Platz findet; Schemata, "die auch in abweichendem Verhalten noch die Chance neuer Strukturen entdecken können; die sich also durch das rechtswidrige oder gar unmoralische Erscheinungsbild des Neuen nicht täuschen lassen, sondern in der Lage sind, ohne Entrüstung und lern bereit darauf zu reagieren. Solche Mechanismen benötigen kompliziertere und abstraktere Schemata der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen, als die einfache moralische Disjunktion zu bieten vermag. In ihnen muß auch die Normativität der normwidrigen Erwartungen, die Enttäuschung der Verbrecher, Platz fmden" (Rechtssoziologie 1972, Bd. I, 130). Ähnlich wie Luhmann will Fritz Sack die Kriminalität als Anlaß für produktive Lernprozesse der Gesellschaft nehmen, wobei es in diesem Lernprozeß darum gehen soll, die gesellschaftlichen Bedingungen der Normabweichung zu erkennen und zugleich den Lernprozeß auf die Norm selbst zu erstrecken: ,,Das würde genau . . . den Gedanken ernst nehmen heißen, Kriminalität zum Anlaß gesellschaftlichen Lernens zu nehmen und die Frage zu stellen, welches genau die Bedingungen des Scheiterns einer Rechtsordnung sind und welche Voraussetzungen und Gestalt eine Rechtsordnung besitzen muß, die die Chancen ihres Scheiterns - und nicht das ihrer Mitglieder - gering halten will" (Strafrecht 1979,145). An diese Überlegungen knüpft ]örn Kühl die Frage an, "ob nicht der Strafprozeß der Ort sein kann, in dem jene Schemata auszubilden wären; in dem auch ,die Enttäuschung der Verbrecher Platz fmden' müsse. Wo sonst sollte dieser Ort sein?" (Prozeßgegenstand 1987, 251). Danach bestünde das Prozeßziel auch und gerade darin, die Kriminalität für produktive Lernprozesse der Gesellschaft und ihrer normativen Funktionen aufzuarbeiten. Nichts weniger meint der Begriff Ko-Evolution in diesem Zusammenhang.

Glossar Affektlogik Im Begriff des affektiv-kognitiven bzw. affektlogischen Bezugssystems vereinigen sich affektive und kognitive Komponenten zu einem operationalen Ganzen, das die persönliche Geschichte aller Interaktionen mit der Umwelt integriert und als Fühl-, Denk- und Verhaltenssystem für weitere Interaktionen in ähnlichem Kontext bereitstellt. AGIL-Schema Parsons Vierfunktionenschemades HandeIns: Adaption (Anpassung an Umwelt), goalattainment (Zielverwirklichung), Integration (latent pattern), maintenance (Strukturerhaltung). Anpassung Geschieht ontogenetisch durch strukturelle Koppelung eines Organismus an sein Medium. Da Ontogenese als Driften von Strukturveränderungen des Organismus und des Mediums zu verstehen ist, gibt es keine bessere oder schlechtere Anpassung, sondern viele Möglichkeiten der Verträglichkeit des Organismus mit seinem Milieu. Anschlußfähigkeit Voraussetzung der Autopoiese durch Verweis einer Handlung auf eine andere, die wiederum auf die Ausgangshandlung zurückverweist (basale Selbstreferenz). Autokatalyse Das Produkt der Reaktion ist selbst Katalysator der Reaktion. Autonomie Bedeutet die spezifische Weise, wie sich eine Einheit durch ihre inneren Zusammenhänge von der Umwelt absetzt. In autopoietischen Systemen heißt Autonomie operationelle Abgeschlossenheit und strukturelle Determination bei gleichzeitiger energetischer Offenheit. Autopoiesis Autopoietische Systeme sindselbsterzeugende, selbstorganisierende und selbstreferentielle Systeme. Maturana verwendet Autopoiesis nur für lebende Systeme. Luhrnann unterscheidet eine Autopoiesis des Lebens, des Bewußtseins und der sozialen Systeme, wobei er als Komponenten der betreffenden Systeme Moleküle, Gedanken und Kommunikationen konzipiert. Autopoietische Systeme weisen eine Struktur auf, in der sich ihre autopoietische Organisation ausdrückt. Das hervorstechende Merkmal dieser Organisation ist die zirkuläre Verknüpfung der Komponenten. Daraus ergibt sich eine operationale Geschlossenheit des Systems, die zu struktur- bzw. zustandsdeterminiertem Verhalten führt. Daß verschiedene autopoietische Systeme aufeinander abgestimmtes Verhalten zeigen können, liegt daran, daß sie mit dem Medium, in dem sie existieren, sowie mit anderen Organismen strukturell gekoppelt sind. 37 Kargl

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Glossar

Axon Protoplasmatischer Fortsatz der Nervenzellen, der meistens imstande ist, Erregung zu leiten. Balken (Corpus callosum) Axonverbund, der die Hirnrinde beider Gehirnhälften verbindet. Beobachter Da nur der Beobachter System und Umwelt differenziert und damit Unterscheidungen trifft, ist er die letztmögliche Bezugsgröße fürjedeBeschreibung. Er ist notwendigerweise in jeder Beschreibung miteingeschlossen. Beobachtung orientiert sich an der Differenz von Gegenstand und etwas anderem. Diese Differenz hält sie probeweise fest, nicht den Gegenstand. Also ergibt sich eine dreistellige Konstellation: Beobachtung -Gegenstand - Etwas-anderes. Nach G. S. Brown ist Beobachtung die Operation des Bezeichnens anband einer Unterscheidung (distinction and indication). Beschreiben heißt, die tatsächlichen oder möglichen Interaktionen und Relationen eines Gegenstandes (Entität) aufzuzählen. Somit definiert der Beobachter einen Gegenstand und sich selbst durch Angabe seines Interaktionsbereiches. Bewußtsein Bewußtes Erleben ist immer eine Leistung des Gesamtorganismus bzw. des Nervensystems, das für die eigenen Zustände sensibel ist und so Relationen herstellt. Lernt das Nervensystem darüber hinaus, seine intern erzeugten Aktivitätszustände von seinen extern erzeugten zu differenzieren, ist das Bewußtsein zu abstraktem Denken fähig. Es kann sich ebensowenig selbst erkennen, wie ein Messer sich selbst schneiden kann. binär Aus zwei Einheiten bestehend. binäre Logik Ja / nein, alles / nichts, gut / böse wird der Widersprüchlichkeit und Polyvalenz komplexer Systeme nicht gerecht. Demgegenüber Entwurf einer mehrwertigen Logik von Gotthard Günther. Biosynthese Der Aufbau von organischen Stoffen und Zellbestandteilen im lebenden Organismus unter der katalytischen Wirkung der entsprechenden Zellkomponenten oder in zellfreien Systemen unter Mitwirkung von isolierten Zellkomponenten. Blackbox Der Beobachter muß sich selbst ebenso wie das beobachtete Objekt als black box unterstellen, da er beides nur durch Differenz erschließen kann. Codierung Nervensignale übermitteln dem Großhirn nur die Intensität der peripheren Reize, aber nicht die physikalische Natur dieser Erregungsursache (undifferenzierte Codierung; zuerst beschrieben von J. Müller 1850). Dendrit Protosplamatischer Fortsatz bei Nervenzellen in unterschiedlicher Zahl und vielfältiger Form; er leitet keine Energie.

Glossar

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Denken Operationsmodus desNervensystems, das mit einigen seiner internen Zustände so interagiert, als ob sie unabhängige Größen wären. Determination Die gesamte Vergangenheit eines individuellen Systems bestimmt nicht die Zukunft dieses Systems im absoluten Sinne, sondern lediglich die Verteilung möglicher zukünftiger Zustände (Freiheit in der Quantenmechanik). Differenz Akt der Unterscheidung, der das Aufgezeigte von einem Hintergrund trennt durch Festlegung eines Unterscheidungskriteriums, das die Eigenschaften des Aufgezeigten als Wesen, Einheit oder Objekt spezifiziert (Differenz statt Einheit bzw. Objekt). Diffusion Transport aufgrund von Wärmebewegung. Passiver Transport von Molekülen und Atomen von Orten höherer Konzentration zu solchen niedrigerer Konzentration. Dissipative Strukturen erhalten ihre Organisation unter hohem Energieeinsatz fern vom Gleichgewicht ständig selbst. Bei einer gewissen Größe erhalten solche Systeme eine gewisse Autonomie gegenüber der Umwelt. Driften Abstammungslinie, welche bei jeder Zelle aus der kontinuierlichen Erhaltung ihrer strukturellen Koppelung mit dem Milieu, in dem sie sich verwirklicht, resultiert (natürliches Driften). Wird eine Kopie als Modell für die nächste Kopie verwendet, so wird eine Serie von historisch miteinander verbundenen Einheiten erzeugt (historisches Driften; Anamorphose). Einheit Entität, Wesen, Objekt sind durch den Akt der Unterscheidung definiert und werden erst dadurch möglich. Als metazelluläre Einheit bezeichnet Maturana eine operational geschlossene Organisation von Einheiten, die sich rekursiv koppeln, aber ihre individuellen Grenzen bewahren (im Unterschied zur Symbiose, bei der die Grenzen zusammenfallen). Emergenz Systeminterne Ordnungsleistungen führen zu Systemeigenschaften, welche aus den Eigenschaften der Systemelemente nicht erklärt und nicht auf Eigenschaften der Elemente reduziert werden können. Damit bedeutet Emergenz Unterbrechung und Neubeginn des Aufbaus von Komplexität. Entropie Thermodynamische Zustandsgröße. Sie ist das zur Temperatur komplementäre Maß, das angibt, auf wie viele Detailzustände oder Freiheitsgrade sich im Mittel die in der Temperatur zum Ausdruck kommende, mittlere kinetische Energie der Wärmebewegung bezieht. Das Produkt aus Temperatur und Entropie hat die Dimension der Energie. In analoger Weise benutzt man in der Informatik die negative Entropie als mittleres Maß der aufzuwendenden Informationen. Sie gibt die Zahl der Ja-nein-Entscheidungen an, die man im Mittel benötigt, um eine Nachricht gegebener Länge zu identifizieren. Insoweit als Ordnung die Beschränkung auf einen oder wenige unter vielen möglichen Zuständen bedeutet, läßt sich Entropiezunahme als Ordnungsabnahme interpretieren. 37*

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Glossar

Entropiesatz Die freie Energie in der Welt nimmt dauernd ab; wir gehen dem Wärmetod entgegen. Daraus folgt: Die Grade möglicher Ordnung im Weltall verringern sich ständig. Der Entropiesatz gilt nicht für Organismen, da diese über metabolische und sinnkonstituierende Prozesse Ordnung (Negentropie) erzeugen. Organismen streben also nicht aufGleichgewichtszustände hin. Epistemologie In systemischer Sicht meint man damit die Positionen und Instrumente, mit deren Hilfe Menschen (Forscher, Therapeuten, Patienten oder Familien) ihre Wahrnehmung eines bestimmten Zusammenhangs organisieren, Schlüsse ziehen und Ideen verknüpfen, sozusagen ihre inneren "Landkarten", an denen sie sich orientieren. Erkennen Erkennen ist nach v. Foersterdas Er-rechnen einer Realität. Nach Maturana ist Erkennen eines Organismus ein Tun im Sinne sensoeffektorischer Korrelationen in den Bereichen von Strukturkoppelung, in denen er existiert. Ethik basiert im biologischen Bedürfnis nach gegenseitigem Respekt und Vertrauen. Soziologisch gesehen, geht es in der Ethik um Strukturen der Kommunikation, die angeben, von welchen Bedingungen Fremdachtung und Selbstachtung abhängig gemacht werden. In evolutionärer Perspektive reicht Ethik über die Durchsetzung von Verhaltensnormen hinaus; sie schließt Prinzipien wie Ungleichheit, Evolution von Strukturen, schöpferisches Potential von Krisen, die positive Rolle von Fluktuationen mit ein. Evolution Strukturelles natürliches Driften bei fortwährender phylogenetischer Selektion. Sie stellt keinen Fortschritt dar, sondern Anpassung im Vollzug der Strukturkoppelung von Organismus und Milieu. Die Rede von bestmöglicher Anpassung an eine äußere Welt isoliert einzelne Merkmale des Organismus und übersieht dabei, daß sich der Organismus als ganzer verändert. Familientherapie Diejenigen psychischen Systeme, die Probleme nicht verkraftenkönnen undReaktionen zeigen, müssen nicht Ursache des Problems sein. Deshalb muß Farnilie als System therapiert werden (systemische Therapie). Familientherapie zielt darauf ab, in einem familiären Beziehungsgefüge so zu intervenieren, daß für eine festgefahrene Situation, die es nicht mehr erlaubt, den Erfordernissen von Gegenwart und Zukunft in befriedigender Weise gerecht zu werden, möglichst symptomfreie Lösungs- und Entwicklungsmöglichkeiten stimuliert werden. Die Interventionen können sich sowohl auf das Verhalten (z. B. Verschreibungen) wie auf die Ideen (z. B. Reframing) der Familienmitglieder erstrecken. Farbwahrnehmung Farbe ist kein Licht mit einer bestimmten Wellenlänge. Es gibt keine notwendige Relation zwischen Wellenlänge und Farbe. Farbe ist vielmehr eine Geschichte von Koppelungen innerer Kohärenzen. Feedback Das System vergleicht seinen aktuellen Zustand fortwährend mit einer Norm und verwirklichtdiese Norm, indem es Störungen eliminiert (negatives Feedback). Anders die Abweichungsverstärkung (positives Feedback).

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Fluktuation Schwankung, die unvorhersagbar eintritt. Freiheit Lebende Systeme sind wie alle anderen Systeme streng determiniert. Als autopoietische Systeme sind sie jedoch im Gegensatz zu allopoietischen Systemen strukturdeterminiert, d. h. sie sind nicht außendeterminiert, sondern innendeterminiert. Menschen werden demnach von den jeweiligen Zuständen ihrer kognitiven Strukturen (affektlogische Bezugssysteme) bestimmt. Kein Geist, Bewußtsein oder Wille steht außerhalb dieser Determinationskette. Dennoch sind menschliche Handlungen nicht vorhersehbar. Aber sie können beobachtet und ihre Motive können beschrieben werden. Daraus leitet sich für den Handelnden die Verpflichtung der Selbstbeobachtung und gegebenenfalls der Selbstkorrektur ab. Fremdreferenz Das System bestimmt sich mit Hilfe seiner selbstreferentiellen Organisation als Differenz zu seiner Umwelt und verwendet genau diese Einsicht, um sich auf seine Umwelt zu beziehen. Gedächtnis ist unser wichtigstes Sinnesorgan, weil es zur Verknüpfung von früheren sensomotorischen Erfahrungen und Bewertungsprozessen zur Bewältigung komplexer Umwelten notwendig ist. Gehirn Darauf angelegt, Regelmäßigkeiten herzustellen, nach Maßgabe der eigenen Geschichte in einer Welt, die Menschen selbst geschaffen haben. Dennoch ist das Gehirn kein autopoietisches System, da der überwiegende Teil der Nervenzellen des Gehirns nicht funktionsspezifisch, sondern funktional variabel arbeitet. Das Gehirn funktioniert selbstreferentiell und selbstexplikativ (Roth). Als umweltoffenes System wäre das Gehirn fremdgesteuert, heteronom undnie in der Lage, komplexe Umwelten zu bewältigen. Gene enthalten keine Informationen, die ein Lebewesen spezifizieren. Nicht das einzelne Gen ist allesentscheidend, sondern das gesamte Netzwerk von Interaktionen aller Gene. Hauptsätze der Thermodynamik Axiome: Der erste Hauptsatz ist das Prinzip von der Erhaltung der Energie. Der zweite Hauptsatz ist der Entropiesatz. Spontane Prozesse in einem abgeschlossenen System sind immer mit einer Entropiezunahme verbunden. Das bedeutet auch, daß Wärme nicht restlos in zur Arbeitsleistung befahigte Energie überführt werden kann. Hirnrinde (Cortex) Mantel aus Nervenzellen auf der Oberfläche beider Gehirnhemisphären. Ich-Bewußtsein entsteht durch Selbstbeobachtung und tritt in komplexen, selbstreferentiell organisierten kognitiven Systemen notwendig auf. Insofern gibt es kein Zentrum des Ich-Bewußtseins im Menschen, sondern es ergibt sich aus dem spezifischen Verhalten von Organismen, die Sprache besitzen und zu Operationen der Selbstbeschreibung fahig sind. Interaktionen spezifizieren nicht, wie sich das System verhalten wird, sondern das System selbst bzw. die Struktur des Systems bestimmt, welche Ereignisse in seinem Medium mit ihm interagieren können und welche nicht (Maturana).

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lnterpenetration meint eine Fonn der geregelten wechselseitigen Beeinflussung unter Erhaltung der Eigenart der Systeme und der Spannung zwischen den Systemen. Nach Luhmann stellen sich Systeme durch Interpenetration wechselseitig Komplexität zur Verfügung, ohne daß sie verschmelzen. Katalyse Reaktionsvennittlung bzw. -beschleunigung. Der Reaktionsvennittler, ein Molekül, ein Bezirk auf einer Metalloberfläche oder ein Molekülkomplex heißt Katalysator. Kausalität Klare Ursache-Wirkungsbeziehungen kommen in komplexen Systemen nicht vor. Statt dessen muß die Rede sein von Rückkoppelungsschleifen, Diskontinuitäten, Zirkularitäten, Irreversibilitäten, Kombinationswirkungen etc. Systeme bestimmen sich also nicht durch eindeutige lineare Kausalität, sondern durch passende Operationen, durch systeminternen Reproduktionszwang. Ko-Evolution Organismus und Milieu bewahren ihre Autonomie, indem sie sich gemeinsam in kongruenter Weise verändern. Es handelt sich dabei um einen Prozeß der Ko-Evolution struktureller Koppelungen. Kognition Subjektabhängiges Phänomen, da detenniniert durch die Verwirklichung der Autopoiese des Erkennenden und nicht durch die Umwelt. Maturanas Ausgangsthese: Kognition ist ein biologisches Phänomen und kann nur als solches verstanden werden. Kommunikation ist das gegenseitige Auslösen von koordinierten Verhaltensweisen unter den Mitgliedern einer sozialen Einheit. Kommunikationsmedien machen erzeugte Komplexität übertragbar und sorgen für Anschlußmöglichkeiten, ohne daß Vorverständnisse jedesmal neu erarbeitet werden müssen (generalisierte Medien). Komplementarität Ein System läßt sich durch mehrere Aspekte charakterisieren, die sich im Gesamtbild gegenseitig ergänzen. Komplexität Der Selektionszwang besteht nicht aus Gründen der Umweltkomplexität, sondern aus Gründen der (selbsterzeugten) Systernkomplexität. Daher geht es zwischen System und Umwelt nicht um Reduktion von Komplexität, sondern um Produktion von Ordnung, Regelmäßigkeit und Invarianz. Konsensue/ler Bereich resultiert aus der strukturellen Koppelung zweier Organismen, indem strukturell bestimmte Zustandsveränderungen der gekoppelten Organismen sequentiell aufeinander abgestimmt werden. Konstruktivismus Versteht sich als Kognitionstheorie, die die traditionelle epistemologische Frage nach Inhalten und Gegenständen von Wahrnehmung durch die Frage nach dem Wie ersetzt. Der Konstruktivismus ist nicht-reduktionistisch, weil er nicht auf fundamentale Objekte

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oder Prozesse fixiert ist, auf die Wahrnehmung zurückgeführt werden sollen. Wahrnehmung und Erkennen werden vielmehr als Prozesse der Konstruktion und der Interpretation begriffen.

Leben Zur Entstehung, Erhaltung und Entwicklung des Lebens sind drei Bedingungen erforderlich: Offenheit für Energieaustausch, thermodynamisches Ungleichgewicht und selbstproduktive Organisation autokatalytischer Prozesse (Autopoiese). Lernen Keine Übernahme von Instruktionen aus der Umwelt und damit keine Repräsentation des Mediums, sondern Äußerung einer strukturellen Spezifikation, mit der das System seine Autopoiesis handhabt. Linearität Beschreibung von Zusammenhängen in Kategorien von Ursache und Wirkung; eine unabhängige Variable wird als Funktion einer von ihr unabhängigen Variablen betrachtet: ,,Etwas geschieht, weil etwas anderes geschehen ist." Lineare Erklärungen reichen dort aus, wo Feedback-Prozesse vernachlässigt werden können. In komplexeren dynamischen (z. B. therapeutischen) Zusammenhängen führen sie oft in die Irre (z. B. ,,Jemand ist verrückt, weil jemand anderer ihn verrückt gemacht hat. ") und verstellen so Lösungsmöglichkeiten; hier sind zirkuläre Modelle überlegen. Im mathematischen Sinne sollte besser von Linearität gesprochen werden, wobei Linearität der Sonderfall einer geradlinigen Funktion wäre. Macht Symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das andere dazu bringt, Weisungen des Machthabenden als Prämissen für eigenes Verhalten zu übernehmen (Luhmann). Demgegenüber betont Maturana, daß Macht durch den Gehorsam des Gehorchenden gegeben ist. Massenwirkungsgesetz Thermodynamische Beziehung, die die Mengenverhältnisse der Reaktionspartner im chemischen Gleichgewicht in Abhängigkeit von äußeren Parametern (wie Temperatur und Druck) festlegt. Metabolismus Stoffwechsel (= Umsatzenergiereicher Stoffe). Umschlag von freier-d. h. zu Arbeitsleistung befähigter - Energie. Nervensystem verkoppelt die sensorischen und motorischen Flächen mittels eines Neuronennetzes, dessen Konfiguration sehr vielfältig sein kann. Es erweitert die Interaktionsbereiche eines Organismus und funktioniert wie der Instrumentenflug, bei dem der Pilot keinen direkten Außenbezug hat, sondern sein Verhalten über die Werte der Meßgeräte anband von Differenzen reguliert. Neuron (Nervenzelle) Dem Nervensystem zugehörige Zelle, die ein Axon und einige Dendriten hat. Ontogenese Geschichte der Transformation einer Einheit infolge ihrer Interaktionsgeschichte, ausgehend von einer Anfangsstruktur.

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Ontologisieren Systeme als vorgegebene Objekte betrachten. Gegenteil: Perspektive der Selbsterzeugung einnehmen (Konstruktivismus). Organisation Relation zwischen den Komponenten, die ein System einer bestimmten Art konstituieren unddefmieren. Sie spezifiziert die Identität einer bestimmtenKlasse. Strukturen sind dagegen die konkreten Bestandteile oder Komponenten der Einheit. Perturbation Bezeichnet Zustandsveränderungen in der Struktur eines Systems, die von Zuständen in dessen Umfeld ausgelöst, aber nicht verursacht werden. Plasmodium Vielkernige Einheit als Ergebnis der Verschmelzung mehrerer einzelliger Individuen. PräJerenzsystem Welche Umweltinformationen überhaupt aufgenommen werden, wie Informationen prozessiert, verändert, ausgewertet werden, hängt von perzeptiven, motivationalen, operativen und kognitiven Präferenzen ab. Prozesse Komplexe Prozesse sind durch Nichtlinearität, Widersprüchlichkeit und Zufall gekennzeichnet. Grundlagen des Lebens sind deshalb Abweichung undInnovation. Autopoietische Systeme gründen auf Stabilisierung des Unwahrscheinlichen. Quantenmechanik Von Werner Heisenberg, Max Born, Pascual Jordan, Paul A. M. Dirac u. a. entwickelte mechanische Theorie kleinster Teilchen, die den Erfordernissen der Quantentheorie in widerspruchsfreier Weise gerecht wird. Der komplementäre Aspekt dieser Theorie, der Louis de Broglies Wellenbild materieller Partikel zur Grundlage hat, wurde von Erwin Schrödinger ausgearbeitet (Wellenmechanik). Rationalität Zwar begründet sich rationales Handeln immer auf einem vorrationalen, affektuellen Anfang, aber es unterscheidet sich vom irrationalen Handeln dadurch, daß es seine Einwirkungen auf die Umwelt an den Rückwirkungen auf sich selbst kontrolliert. Reflexion Ein Prozeß, in dem wir erkennen, wie wir erkennen, d. h. eine Handlung, bei der wir auf uns selbst zurückgreifen. Führt zur Anerkennung der Unsicherheit aller Erkenntnis. Relationsbereich Die Menge aller Relationen (Interaktionen durch den Beobachter), in denen ein Gegenstand beobachtet werden kann. Redundanz Begriff der Informationstheorie. Bezeichnet das Wiederkehren schon übermittelter Information. Re-entry Wiedereinführung einer Unterscheidung von System und Umwelt in das System, welches sich selbst durch Differenz zur Umwelt identifiziert (George Spencer Brown). Rekursivität Rückbezüglichkeit; auf sich selbst rückwirkend.

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Rückkoppelung Beeinflussung eines Prozesses durch Rückwirkung der Folgen auf die Voraussetzungen bzw. den Ablauf des Prozesses. Autokatalyse ist ein typisches Beispiel hierfür. Allgemein ist die Rückkoppelung von großer Bedeutung für Steuer- und Regelvorgänge. Selbst Organisationeller "Kern" oder Schlüssel von Konstruktionsprinzipien, mit dessen Hilfe eine Person Verhalten als ihr Verhalten synthetisiert, beobachtet, identifiziert und bewertet (Rusch). Sozialisation Unterliegt als eine Art Lernen der autopoietischen Reproduktion. Deshalb keine Übertragung von vorwegbestimmten Normen, Kognitionen, Verhaltensmustern von außen nach innen. Sprache Nicht denotativ, sondern konnotativ, verweist nicht auf selbständige Entitäten, sondern orientiert den zu Orientierenden innerhalb seines kognitiven Bereiches. Demnach gehört Sprache zum konsensuellen Bereich. Jedes Wertsystem, jede Aussage entsteht in der Sprache und kann nur von denen validiert werden, die konsensfähig und -bereit sind. Strukturen Tatsächliche Komponenten eines Systems und ihre Beziehungen untereinander. Die Struktur verwirklicht die Organisation des Systems. Sie kann sich ständig verändern, während die Organisation bewahrt bleibt. Strukturelle Koppelung Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen zweier autopoietischer Einheiten, deren Interaktionen rekursiven oder sehr stabilen Charakter haben und die sich gegenseitig perturbieren (stören und nicht instruieren). Synapse Kontaktstelle zwischen Nervenfasern und Nervenzellen zur Vermittlung der internen Kommunikation. Systemische Therapie Der Begriff wurde erstmals auf den familientherapeutischen Ansatz des Mailänder Teams angewandt und steht heute für das Selbstverständnis einer ganzen therapeutischen Richtung, die auf den Grundlagen der allgemeinen Systemtheorie und der Kybernetik aufbaut. Nicht jede Art von Familientherapie wird als systemisch bezeichnet, und nicht jede Art von Systemtherapie ist Familientherapie; auch systemische Einzeltherapie ist möglich, ebenso kann die Arbeit mit Helfersystemen therapeutische Funktionen haben. Systemische Therapeuten trachten danach, mit sorgfältigen und knappen Interventionen zu tragfähigen Lösungen beizutragen, ohne Teil des Problems zu werden. Teleologie Lehre vom Endzweck und der Zweckmäßigkeit. Als autopoietische Systeme sind lebende Systeme zweckfrei. Therapie Störung von Mustern und Ideen, die der Therapeut für dysfunktional hält. Einführung neuer kognitiver Perspektiven, die größere Freiräume, neue Optionen schaffen. Soll dem System helfen, sich neu zu organisieren. Statt des Individuums werden gestörte Kommunikationen studiert, statt Ursache-Wirkungs-Prinzip Rückkoppelungs- und Interaktionsregeln (systemische Therapie).

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Thermodynamik Lehre von den durch Zufuhr und Abfuhr von Wänne (Energie) verursachten Zustandsänderungen (Prozessen) sowie von Systemgleichgewichten innerhalb definierter Stoffmengen. Mit System wird die Gesamtheit der beteiligten Stoffe bezeichnet. Tropholaxis griech.: Nahrungsfluß Wahrnehmung vollzieht sich nicht in den Sinnesorganen, sondern im Hirn. Wir sehen nicht mit dem Auge, sondern mit den visuellen Zentren des Hirns. Wahrnehmung ist Bedeutungszuweisung zu neuronalen Prozessen, Interpretation, Konstruktion. Wille Beim Willen handelt es sich um einen regulierenden Gefühlsimpuls, der dann vorliegt, wenn eine gegebene Situation einer höheren affektiven Werthierarchie untergeordnet wird. Der Wille ist nicht frei, weil er nicht außerhalb des durch Erfahrung konstituierten affektivkognitiven Bezugssystems steht. Zirkularität Eine Denkweise, die im Gegensatz zu linearen Ideen (Linearität) Kategorien von Rekursivität und Interdependenz zu nutzen und so eine größere Komplexität von Beziehungszusammenhängen zu erfassen sucht. Die linearen Einzelaussagen "Vater ist streng, weil Sohn rebelliert" und "Sohn rebelliert, weil Vater streng ist" ergeben zusammengenommen ein zirkuläres, symmetrisches, koevolutives Prozeßmuster, mit dem dann z. B. noch Mutters Verhalten in Beziehung gesetzt werden kann. Es gibt viele Arten von Fragen, welche die Zirkularität für alle Anwesenden verdeutlicht: "Was tut Mutter, wenn Vater und Bruder streiten?", "Wie erklärt sich Vater dann Mutters Verhalten?", "Was kann Bruder tun, um Mutter auf seine Seite zu ziehen?" usw.

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Namenregister Aberle 396 Ach 171 Achenbach 214 Adams 102 Adorno 308,311,372 Adriaansens 285 Aebersold 215 Aebli 139 Agassi 20 Albert 18, 215, 292, 294 Albrecht 550 Alexander 162,283 Alexy 458 Althaus 214 Ambrosius 535 An der Heiden 38, 229 Anderson 40, 151 Apel 317 Aquin 171,214 Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 314 Aries 248 Arieti 165 Aristoteles 166, 171,201,438 PuTnstrong 176, 209 Arnheim 150 Arnold 150, 152, 154 Arlow 148 Ashby 340 Augros 84f. Augustinus 166,201,209 Austin 102,183,209,406,414 Autrum 65 Ayer 176 Ayllon 297 Azrin 297 Bachmann 341 Bachofen 386 Baecker 30 Baier 199

Bales 282, 285 Bar v. 549 Barth 191 Barton 402 Bateson 30,40 f., 72, 79 f., 167, 328 ff., 374 Battalio 297 Bauer 485 Baur 389 Baumann 212,440 f., 541 Baxter 429 Bear 90,92 Beaugrande 442 Beavin 41 Bechtereva 153 Beck 140, 153, 158, 162 Becker 291,293,296 f. Beling 489, 505, 533 Bem 95 Bendix 307 Benseler 23 Bentham 292 Berger 257,314, 317 Bergson 187, 209 Berkeley 80, 117, 129 Berofsky 173,518 Bertalanffy v. 19, 144 Berscheid 10 1 Bestenreiner 25,27,29,44 Beulke 490, 563 Bierbrauer 95, 107, 559 Binding 538, 550 Bindokat 441 Birket-Smith 387, 389, 391 Birkmeyer 550 Bishop 388 Bitterli 355 Black 252 Blei 533 ff., 538 f., 546 Bleuler 41

654

Bloch 167, 171 Bloy 534 Boas 417 Bockelmann 203, 212, 484, 535 Boeckhorst 40, 72 Bogdan 46 f. Bogen 25,88 Bohannan 385,399,401,405 Bohm 341 Bohnert 435 Bohr 28 f. Bolay 136 Boltzmann 28 Born 84 Boscol0 48 f., 72, 136 Bosse 464 Boudon 20 Bourdieu 311, 360 Bourricaud 281 Boyd 111 Bowen 41 Bower 94 Bräutigam 162 Brenner 148 Brent 341 Brewer 151 Bridgeman 117, 120 Brim 245 Bringewat 436 Brocher 108, 147, 222 Brock 102 Brown 385 Bruns 546 Buchanan 273, 291, 295, 325 Bühl 260 Bullock 128 Bunge 129 Burger 98 Buri v. 490 Burke 246 Burlingham 70, 532 Burow 330 Buss 102 Cahn 176 Caille 46 Cajal 53 Calder 127 Calliess 435, 484

Namenregister Callon 268 Campbell 201,209 Cannon 39 Capra 25, 29, 89 Cardozo 413 Carlsson 20 Carrier 25 Castafieda 355 Ceccato 117, 120 Cecchin 48 f. Chanunah 298, 300 Chew 29 Child 144 Childe 384 Chipman 147 f. Chisholm 167,201,209 Chomsky 76 Chrysipp 178 Cicero 173, 178 Cicourel 317 Ciompi 75,80,90,94,97, 115, 127, 133, 140, 144, 146 f., 149 ff., 157 ff., 168ff., 172, 180, 205, 231, 233, 514 ff., 542 f. Claparede 134 Claß 490 Clastres 356, 385 Clausius 27 Claussen 371 Cobliner 140, 148, 150, 156 Cochetti 360 Coleman 273,291,295 Collins 307 Colson 399, 403, 427 Cooper 98 Cornelison 41 Corti 69 Cramer 28,31 f., 44 Dahrendorf 307, 406 Danner 175, 195, 198,497 Darwin 493, 551 Davitz 169 Dawkins 71 Day 41 DeCharms 104 Deggau 472 Deissler 206 Deleuze 136

Namenregister

Den 38 f., 42, 46, 48, 210, 329, 337, 374 Demokrit 173 Derrida 30 Descartes 25 f., 58, 136, 171, 197,286 Deutsch 183 ff. DeVore 385 Dewey 83, 117,419 Diamond 237,356,361,366,411 Diettrich 118 Dijk 442 Dilthey 137,317 Dirlich 151 Döbert 360 Dörner D 139, 147, 215 Dörner K 26, 204 Dohrenwendt 158 Dopslaff ·440 Downs 291 Douglas 314, 369, 396 Draper 386 Dreher 166,175,189,195,202,212,214, 230, 536, 540 Dreier 406, 452, 458, 473 Dressler 442 Dubin 284 Dülmen 370 Dürig 200 Dürkop 215 Duerr 27, 29, 44, 94, 353, 358 Dulckeit 396,409,422 Dumont 291 Durkheim 20, 243, 250, 274, 325 ff., 365 ff., 391, 397, 420, 474, 546, 557 ff., 565, 572 Dyson-Hudson 387 f. Ebbinghaus 171 Eccles 53 f., 61 f., 75, 86, 89, 153, 170 Eckensberger 111, 356 Eddington 189 Edelstein 111 Eder 76, 105, 290, 295, 311, 317, 342, 356 ff., 363, 368 f., 371, 393, 459, 464, 467 Efran 46 f. Egeler 215 Ehrlich 415 Eibl-Eibesfeldt 69 ff., 387 f., 532 Eigen 25,31

655

Einstein 127, 157 Eissler 147 f. Eliade 361 EIias 133 Elkin 79, 391 EIlis A. 140, 157 f., 161,516,542 EIlis D. 294, 325 Ellscheid 216 Engelhardt 454 Engels 386, 389, 395 Engisch 436, 440 f., 483 f., 534, 539 Epiktet 165 Epikur 166 Erikson 136, 142 f. Ernst 98 f. Eser 535 Essen 230 Esser 428, 473 Euler 140, 161 Evans-Pritchilfd 385, 395, 397, 400 ff. Exner 87 Fallers 428 Fechner 120 Feeley 295 Feigl 176 Festinger 212 Feuerbach 435 Feyerabend 94, 126 Fikentscher 473 Fincke 129, 435 f., 438, 447 f. Finke 444 Fisch 136 Fischer 152 Fish 41 Fishrnan 41 Flammer 340 f. Fleck 41 Foerster v. 19, 37 f., 53, 56, 58, 60, 63, 66,87,110, 118, 138, 188 f., 197,243, 269, 282, 348 ff., 471 Folkman 162 Forschner 166 Fortes 385,395,397,405 Foucault 26,238,307 f., 310 f., 313, 371 Frank 129, 537 Fankfurt 201 Franz v. 341 Freeman 353

656

Namenregister

Freitag 473 Freksa 151 Freud 70, 106, 140 f., 149 f., 158, 166, 168, 174 f., 344,420,532 Frey 140,301 Friedman 383 Frisch v. 25, 32, 35, 51 ff., 61, 65, 114 Frisch, W. 536, 550 Fromm 141 Frommel 550 Fulde 206 Furbach 151 Gadamer 137 Gallas 556 Galtung 311 Garaudy 381 Garfmkel 273 Gazzaniga 53 f., 76, 86 ff., 163, 228 Gebsattel 157 Geertz 353 Gehlen 201,209,367,388 Geiger 382, 406 ff., 421 f., 425, 431, 451 ff., 460 ff., 466, 468, 491 Geissner 63 Gentile 171 Germann 441, 535 Gessenharter 184 Gestefeldt 41, 94 Geulen 136, 144,241,244 f., 248, 250 Giegel 257 Gierke v. 381 Giesecke 260 Ginet 175 f., 209, 519 Glansdorff 43 Glasersfeld v. 19,45,50,59,61,76,78, 93f., 109, 116 ff., 120, 127, 137, 197, 282, 340, 345 Glass 102 Gleick 44 Glotz 371 Gluckman 399, 427 Godelier 395, 399 Görres 297 Götschl 28 Goffmann 107, 317 Goldstein 244 Goolishian 40 Gough 386, 395

Gouin-Decarie 147 Gouldner 307, 383, 385, 390, 426 Grabitz 105 Graf 341 Grani 64 Grathoff 317 Gregory 57 Greuel 400 Greven 184 Gribbin 28 Gripp 262 Groeben 442 Grössing 59,62 Grof 72 Groskurth 251 Grotius 388 Grünwald 435 Grüsser 60 Grüsser-Cornehls 60 Guattari 136 Günther 19 Guericke v. 65 Gulliver 399, 406, 428 Gumin 18 Guntern 46, 144 Gusinde 391, 408 Guttmann 39 Habermas 238,259 f., 262, 274, 277,290, 307,314,317 ff., 322, 324, 327, 356 f., 371,373,431,456 ff., 464 f., 569 ff. Häberli 215 Häsing 148 Haesler 215 Haferkamp 257,268,314 Haffke 436 f., 454, 459, 573 Haft 435, 439, 536 Hahn 280 Haken 31 Haley 41, 206 Halfmann 139 Hall 157 Hampshire 209 Hare 299 Hart 452, 472 Hartfield 102 Hartland 381,403,405,425 Hartmann 21, 140, 145 f., 201, 209, 356, 498,506 ff.

Namenregister Hassemer 216, 269, 365 f., 436, 438, 441 f., 446, 449, 531, 546, 557, 559 Hassenstein 243 Haug 167 Hawking 28 Haynal 140 Hebb 118 Heffner 46 f. Hegel 30, 171, 212, 317, 326, 355, 383, 538, 564, 567 Heidegger 137 Heidelberger 25, 44, 120 Heider 100 Hein 57 Heinsohn 370 Heisenberg 28, 189 Hejl 19 ff., 31,34,57,80,226,228,233 f., 237,239 ff., 243 ff., 248 ff., 252, 254, 258,264,474 Held 57 Hell 41,94 Heller 459 Henke 320, 406 Henkel 213 Herberger 439 Herrmann 100 Herwig-Lempp 270 Herzberg 536, 540 Herzog 200 Heuser 62 Hiller 25 Hippel 212,536,549 Hirsch 41 Hirst 61 Hobart 174 Hobbes 166,174,178,209,273,291,294, 307 f., 406, 412 f., 414 f. Hoche 175 Hodgkin 55 Hoebel 382, 394, 400, 402, 404, 413 f., 417,420 Höfling 27 Hönnann 76, 78, 447 Hoerster 306, 406, 432, 452 Hoffman 40 f., 46, 49 Hoffmann 141 Hofstadter 29 Holbach v. 173 f., 209 Holst 70

657

Holtz 536 Holzhauer 485 f. Holzkamp 96, 104, 251 Homans 21 Hondrich 262 f. Honnegger 370 Honneth 238,307 f., 310 f., 313 Hoppe 163 Horkheimer 372 Horn 151, 263,441 Hospers 174, 230 ff., 209 Howard 298 Howell 400 f. Hubel 230 Huber 108, 139 Hubschmid 158 Humboldt 137 Hume 50, 129, 174, 178,202,209,291, 294 Husserl 317 Huxley 55 Illies 94 Ingold 389, 391, 399 Inhelder 78, 109 f., 112, 114, 122, 133, 135, 139, 147 f. Inwagen 183 Jackson 41 Jacobson 96, 140, 158 Jakobs 212 ff., 436, 442, 446, 536, 540, 558,560,569 James 173 Jantsch 27, 29, 37, 39 f., 43 ff., 72, 92, 127, 216, 338 Jellinek 419 Jensen 283 Jerison 64, 230 Jescheck 166, 203, 213, 435 f., 439, 441, 484,490,531,533 f., 536, 538 f., 541 Jhering v. 553 Joad 137 Jordan 189 Jung 72,436 Kail 53, 109 Kaiser 573 Kalberg 274

658

Namenregister

Kamper 371 Kanizsa 69 Kanner 162 Kant 62, 117, 129, 166, 171,205, 212, 216,273,299 f., 331, 345,418,508 Kantorowicz 412 f. Kargl J. 166 Kargl W. 32, 50, 79, 111, 148, 167, 181, 212 f., 224, 233, 249, 252, 260, 262, 279,294,369,431,433,447,463,485, 523, 559, 563, 573 Kaser 396 Kaufmann Annin 213,530 Kaufmann Arthur 102,216,436,448,498 Kaufmann L. 206 Keeney 206, 528 Keller 111, 206, 222 Kelley 304 Kelsen 470, 473 Kernberg 141, 143, 149, 152, 154 f., 515 Kerner 573 Kersten 215 Kesselring 111, 113, 124, 133 Keupp 374 Keynes 291 Kidd 103 Kierkegaard 157 Kilian 433 Killias 212 Kindhäuser 440, 531, 536 Kippenberg 358 Kirsch 292, 302, 304 Kisker 374 Kliemt 291 f. Klingeman 295 Klix 139 Klüver 244 Koch 236, 399 Köck 23,244 Köhler M. 166,440,442,466,498,537 f. Köhler W. 69, 541 König 419 ff., 425, 430, 432 f., 468 Koepping 353 Koffka 69 Kohiberg 111,327,356,359,363,456, 464, 572 Kohlrausch 202 Kohut 148 Kornhuber 86

Krahl 435 Kramer 353, 355, 383, 464 Krampen 98 ff., 104 Kranzbühler 435 Krappmann 96, 106 Krawietz 406,415 Kreissl 215 Krey 436,441 Kris 140 Kriz 19 Kroeschell 405 Krohn 19 Kronos 173 Kropotkin 389 Krüger 25, 75, 79, 83 f., 113, 119, 137, 341 Krümpelmann 535 Kruse 59, 64, 66, 69, 231 Kühl 576 Kühn 540 Küper 536 Küppers 19, 57, 61 Kuhlen 441 Kuhn 68 Kulenkampff 215 Kunert 440 Kuttler 141 Lacan 148 Lackner 535 Lämmert 371 Laing 26, 94, 107 Lange 161,331 Langer 106 Laplace 187 Larenz 436 Lasch 148 Latour 268 Laurent 122 Lave 300 Lawick-Goodall 243 Lazarus 162 LeDoux 90, 163 Lee 385 Leeuw 147 Lefcourt 106 Leibniz 236 Leipert 215 Leiris 361

Namenregister Lenckner 435,440 Lenneberg 76, 110 Leroi-Gourhan 395 Lerner 10 1 f., 106 Lettvin 59 Leukipp 166, 173 Leuninger 87, 90 Levenson 99 Leventhal 102, 230 Levine 274 Levi-Strauss 393, 395 Lewin 163, 171 Lewis 141, 265 Libet 86 Lichtrnan 21 Lidz 41,482 Lind 356 Linke 498 Linser 25,27,51,53,57 Liszt v. 486, 488 ff., 505, 511, 523, 533, 548 ff., 554, 557, 563 f., 567 f. Liszt-Schrnidt 537 Liver 441 Llewellyn 414 Locke 129, 178,209,273 Loewenstein 140 Lohmann 257 Loos 441 Lorenz 19,251, 388 Lorenzer 144, 248, 332 f., 345 Loubser 285 Luccio 69 Luchesi 358 Ludewig 47 Ludwig 215 Luce 298 Luckmann 273, 314, 317 Lüderssen 252, 257, 262, 269 f., 436 f. Lüscher 248 Lüth 76 Luhrnann 20, 23, 30, 67, 86, 96, 107 f., 134, 186, 191 ff., 196,209,212,221 f., 233 f., 246 ff., 253, 256 ff., 274 f., 283, 286, 295, 324, 327 f., 349, 360, 363, 415, 431, 458, 468, 472 f., 482, 521, 558 f., 575 f. Lukens 46f. Luther 166, 173 Lyotard 253

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Machiavelli 171, 307 Mach 120 MacKay 189 ff., 209, 520 Mackie 306 Mähler 402 Mahler 168 Maier 105, 203 Maine 381 f., 411, 414, 430 Mair 397, 400 Maiwald 435, 530 Malinowksi 78, 382, 385, 389, 391 f., 403,405,426 Man 3"87 Mandelbaum 244 Mandeville 291 Mandl 108, 113, 139 f., 151, 161 Marshall 386 f., 391 Marx 104, 295, 358, 423 Marxen 435 Matson 201 Maturana 17, 19,21 ff., 26 f., 30 f., 33 ff., 42 ff., 46 ff., 54 ff., 58 f., 61, 65 ff., 70 ff., 77 ff., 88 ff., 95 ff., 110, 114 f., 137 f., 147, 156, 161, 164, 166, 172, 178 ff., 186 ff., 190, 195 ff., 205 ff., 209,221 ff., 238 f., 242, 244, 250, 252, 255 f., 258, 261, 263, 266, 269, 271 f., 282,302, 324, 329 f., 332, 334, 337 ff., 342 ff., 363, 366 f., 372 ff., 442, 444, 468 f, 471, 511, 514, 524, 527 Matza 102 Maunsell 230 Maunz 200 Maurach 129, 435 f., 440 f., 490, 533, 536, 538, 540 f. Maurach-Zipf 212, 533 Mauss 385, 389 f., 401 Mayer 490, 536, 540 Mayr 36,46 Mazziotta 89 McCall 96 McCarthy 464 McGill 150, 514 McKenzie 291,293,296 f., 306 McLean 70, 80, 92, 170, 532 Mead 96, 104,242,353 Mecacci 53, 68, 70, 532 Meggitt 391, 408, 411, 423

660

Namenregister

Meggle 137 Meillassoux 395 Mennicken 441 Merz 255 Metzger 69,231 Mezger 212, 441, 536 Meyer 98, 104 Michelet 370 Mielke 98 f. Mikula 10 1 f. Mill 291 Miller 46,98, 144,257,265,361 Mills 307 Minuchin 41 Mises 292 Mitscherlich 141 Mittelstaedt 189 Mittelstrass 25 Mohler 18 Montada 102f., 116 Monty 98 Moore 179, 183, 202 f., 209, 483 f. Morgan 382, 384, 386, 395 Morrison 58, 61 Müller-Dietz 550, 556 Münch 106,272 ff., 280 f., 283 f., 287 ff., 291,295,305 f., 314 f., 317, 319, 321, 324 f., 376 f., 481, 570 f. Murnford 237 Murnrnendey 141 Murdock 396, 399 Murray 144 Nader 405 Nagel 20 Nakamura 151 Narr 263 Naschold 184, 186 Naucke 203, 212, 270, 435 f., 438, 441, 550,553,559 Needham 29 Neumann 212,440,454,559 Nickel 438 Nicolis 30, 43 Niemitz 22 Nietzsche 166, 171 f., 176,209,308 Niketta 98 f., 103, 105, 107 Nippold 387 f. Nisbet 366

Noelle-Neumann 437 Noll 212 f. Nonet 468 Norman 151 North 291 Nowakowski 485, 536 Nunner-Winkler 111 Oelkers 222 Oerter 139 Oeser 31,53 ff., 58, 61, 68, 77, 81, 87 Oesterreich 105 Oestmann 251 Olson 295 Onken 206 Opp 269 Ordeshook 302 Ornstein 53, 65, 86 f. Ortner 215 Osgood 169 Ostermeyer 215 Ott 452 Otto 294, 538 f. Papendorf 215 Parin 136, 361 Parin-Matthey 361 Parsons 20 f., 40, 259, 272, 275, 277, 281 ff., 288, 292, 295, 313 f., 317 f., 324, 359, 462, 475, 479, 482, 511 ff., 517, 526, 567 Patzak 300 f., 306, 317 Paulus 166 Pawlow 188 Pearson 151 Peevers 94 Peirce 83 Pellegrino 53, 109 Pelzmann 292,301 Penn 48 f. Perlmuter 98 Perls 69 Peters 523, 556 Peyer 353 Piaget 59, 78 f., 92, 98, 108 ff., 130 ff., 137,139 f., 142, 147 ff., 156 ff., 160 f., 168,170,232,248,292,340,356,362, 367,456,464,514 ff., 527 Pieper 165

Namenregister Pilgram 215 Plack 454 Planchet 134 Planck 189 f., 209 Platon 116, 137, 166, 171,214 Platt 281,288, 318 Pöhl 540 Pöppel 71 Pongratz 139 Popitz 269 Popper 21, 53 f., 61 f., 75, 86, 89, 153, 170, 174, 189, 318, 571 Pospisil 413 ff., 420, 423, 425, 428 Pothast 165, 167, 173f., 176 f., 179, 183, 190, 199, 204, 210 f., 214, 503 f., 506 Poulantzas 307 Powel 382 Powers 340 Prata 48 Preiser 214 Preuß 32, 35, 52 Prigogine 30,43 f., 217, 341 Prisching 276, 280 Probst 25,43,269 Protagoras 116 Putz-Osterloh 134 Quensel 215 Quine 238, 243 Radbruch 489 f. Radcliffe-Brown 389,391,394,405,407 Raeithel 57 Raiffa 298 Raphael 291 Rapoport 118, 140,298,300 Raub 302 Rawls 299 Redfield 87 Rehfeldt 356 Reinshagen 356 Rejen van 371 Restak 53, 56, 61 f., 64 f., 67, 75, 87 ff., 92 Reusch 232 Rexilius 251 Ribhegge 291, 306 Richards 50,59, 137,340, 395 Richter 46, 297

661

Rickert 498 Riedl 19, 25, 43 Rieppel 37 Riker 302 Ritsert 252 Ritter 385 Roberts 399,404,406 Rodis-Lewis 26 Röhl 412, 437 Rose 386 Rosenbaum 100 f. Rosenfeld 148 Ross 199 Roth 23, 31 ff., 35, 37 f., 53 f., 59 ff., 64, 66 f., 69, 86, 97, 118, 145, 180, 221, 224 f., 228 ff., 252, 257, 352, 355, 469 Rotter 98 ff., 105 Rotter-Hochreich 100 Rottleuthner 262 Rousseau 273,313,381 Rowlands 383 Roxin 202, 535, 541 Rudolphi 441,448,535,539,541 Rüping 435 Rüsen 371 Rüther 206, 428 Ruff 144 Rumelhart 151 Runciman 298 Runze 263 Rusch 23, 37, 39, 44, 50, 58, 65 f., 74, 93 f., 96, 107,222, 342, 444 Russel 127, 130, 169, 176,203 Rykoff 41 Sack 269, 524, 557, 571, 576 Sacks 67, 70, 92 Sahlin 356, 385 Sartre 167,201,209 Sampson 102 Sauer 540 Sauermann 304 Savigny 414 f. Sax 436 Schachter 94 f., 161 Schadewaldt 344 Schaeffer 341 Schäffle 313 Schapera 382

662

Namenregister

Scharfetter 172 Schebesta 409 f. Schelling 62 Sche1sky 262 Schepers 191 Schewe 531 Schlepek 18,39,330 Schild 212 Schilling 356 Schlegel 396 Sch1eiennacher 137 Schlick 20,174,183,209,483 Schlippe 19 Schluchter 274,290,317,322,369,440, 448, 467 Schmalt 104 Schmid 20, 257 Schmidhäuser 212, 432, 441 f., 536, 541 f., 548 f. Schmidt R. 550 Schmidt R. F. 53,57,61,63,70, 86 Schmidt S. J. 18 f., 342, 387 f., 443 f. Schmidt W. 447,466 Schmidt-Denter 110 f., 139, 536 Schmieder 139 Schmitt 435,463,566 Schmoller 536 Schnädelbach 137, 165 f., 171, 174 Schneider 144, 148 ff., 291, 386, 395, 399,494 Schöch 573 Schönke-Schröder-Eser 440 f. Schönke-Schröder-Kramer 539 Schönke-Schröder-Lenckner 532 Schönke-Schröder-Stree 212 Scho1z 200 Schopenhauer 171, 174, 179,484 Schorr 246 Schott 399,405 Schreiber 141, 435 ff., 441 Schröder 539 Schrödinger 130 Schroth 212, 441, 559 Schülein 263 Schüler-Springorum 215 Schünemann 435 Schütz 273,314,317 Schuh 215 Schumann H. 433

Schumann K. F. 215, 536 Schwalm 441 Schwanenberg 292 Schwartz 65 Schwarz 53, 396, 409, 422 Schwarzer 141 Schwarz-Miller 366 Schwegler 23, 38, 229 Schwemmer 273 Schweppe 215 Schwinge 441 Scull 215 Seagle 411 Searle 78 Sebald 355 Sebeck 237 Secord 94 Seeger 57 Segal 38,59 ff., 63, 79, 82, 87, 111, 118, 137 f., 189, 197 Seitelberger 31,53 ff., 58, 61, 68, 77, 81, 87, 350 Seligman 105 Sellars 176 Selten 304 Selvini-Palazzoli 47 ff., 364 Selye 162 Selznik 468 Sen 297 ff. Service 383, 385 Seve 96 Seywert 206 Shannon 80 f. Sherrington 53 Shils 282, 285 Sifneos 158 Sies 108, 147, 222 Sigrist 76, 382 f. Sirnmel 253, 261, 274 Simmons 96 Simon 163, 168,292,302 f., 439 Singer 94 f., 161 Six 100 Sliwowski 215 Smith 291,294,387 ff. Sneed 444 Sobez 141 Socarides 141 Sokrates 116

Namenregister Sorel 171 Speer 42 Spencer 326, 494 Spencer-Brown 30 Spendel 536 Spengler 171 Sperry 88 ff. Spiegel 533, 544 Spinoza 173 Spitz 144, 168 Spitzer 366 Spretnak 341 Sprondel 317 Stadler 57,64,69,231 Stachowiak 434 Stanciu 84 f. Stanek 395, 401 Stanjek 387 f. Stegmüller 444 Steiger 370 Steiner 40 f., 46, 291, 296 Steinert 215,366,557,559 Stengers 30 Steward 387,391 Stichweh 23 Stierlin 349 Stigler 302 Stone 230 Stratenwerth 212,436,440 f., 484 f., 531, 536 ff., 573 Strauss 93 f., 353 Strawson 183,209 Stree 442 Streit 292, 301 Streng 559 Stroebe 301 Sumner 421 f. Sykes 102 Szasz 26 Szeminska 111 Sztompka 286 Taylor 99,136, 173,201,209 Tenbruck 274,317 Tenorth 222 Terry 41 Teuber 23, 89 Teubner 221 f., 233, 431, 437 ff., 468 ff., 472 f., 575

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Thibaut 304,414 Thomas 291 Thomasius 418 Tiedemann 436 Tiryakin 314 Tönnies 313,419 Tomatis 69 Treiber 366, 557, 559 Trenckmann 215 Trieb 136 Trimbom 404 Tröndle 436,441 f., 536, 540 Tschanz 255 Tullock 291, 293, 296 f., 306 Turiel 327, 356, 572 Turnbald 389 Turnbull 386 f., 391, 393 f. Tversky 304 Uribe 26, 258 Ulrich 140 Utne 103 Valery 216 Valk 148 Vanberg 291, 294 f. Varela 23 f., 26 f., 31, 33 f., 36 ff., 42, 46, 49,51 f., 54 ff., 61, 65 ff., 73, 77, 79 f., 83,86,88 ff., 95 f., 138, 181, 183, 187, 221 ff., 245, 252, 255, 258 f., 346, 469, 524 Vaughan 92, 341 Verres 141 Vester 26 Vico 117, 119 Vogel 255 Volk 439, 535 Vollmer 18 f., 50, 63 Voß 215,302 Vossenkuhl 166 Wälde 433 Wagenen van 88 Wakenhut 356 Waldmann 128 Waldstein 396,409,422 Waloschek 27 Walsh 92,341 Walster 10 1 ff.

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Namenregister

Warga 157 Waschkuhn 20, 184, 262 f. Watkins 244,298 Watson 157 Watts 130 Watz1awick 41, 136, 269, 330, 344 Weakland 41, 136 Weaver 80f. Weber 185,212,266,272,274 ff., 279 f., 286, 317 f., 369, 382, 387, 393, 406, 419, 422, 425, 431, 433, 440 f., 451, 458 ff., 462 f., 466 f., 479 f., 482, 554, 558 Wegner 540 Weigend 536 Weinberger eh. 517 Weinberger O. 73,78,81,111,502,517 Weiner 100 Weinert 128 Weizsäcker 84 Welzel 418, 441, 483, 486, 492 ff., 496 ff., 513, 519, 530, 537, 548 f., 554 ff., 561 ff. Wendel 18, 119 Wender 151 Wesehe 302 Wesel 76,383,386,389 ff., 394 f., 397 f., 400, 402, 404, 409 ff., 414, 417, 420, 428,467 Wessels 129, 203, 436, 448, 533, 536, 538, 541 Wetter 215 Wheeler 84 White 183, 281, 288 Whitehead 102, 169,237 Whiting 144, 429 Whorf 137,422

Wieacker 405,470 Wieland 248 Wiener 19, 183 Wiesel 230 Wilber 72, 85, 92, 127, 130, 132 Wildgen 64, 69 Willi 47,72,524 Willke 22, 32, 47, 252, 265 Wilmsen 387 Winderman 40 Winkelmann 459 Wisdom 244 Wittgenstein 83, 137, 178 Wolf 187, 565 Wolff E. A. 535, 541 Wolff K. H. 353 Wolffersdorff-Ehlert 215 Woodburn 386 f., 391 Wors1ey 393 Wortmann 98 Wuketits 25, 37 Wunderli 31 Wynne 41 f. Xenophanes 117 Young 399,401 Zeier 54 Zenon 166 Ziegert 452 Ziehe 148 Zielinski 556 Zillmer 166, 171 Zipf 129, 435 f., 440 f., 490, 533, 536, 538,540 f. Zippelius 441 Zurek 251

Sachregister Abbildung 116 f. Abschreckung 5, 212, 523, 549, 556 Absicht 181,409,539 Absolute Straftheorien 212 Abstraktion 97, 156 Abweichendes Verhalten 49,206,214, 246 Ackerbauem und Hirten 394 ff. Adäquates Verhalten 67,98 Adaptionskonzept 355 Adaptives Handeln 283 Adaptivität 237 f., 283 Äquilibration 114 ff., 158, 162 Affekte 141 ff. Affekthierarchie 160, 169, 516 Affektive Schemata 148 Affektlogik 8, 151 ff., 572 Affektlogisches Bezugssystem 151 ff., 231, 514 AGIL-Schema 282 Agnatische Verwandtschaft 394 ff. Agnostiker 202 Akephale Gesellschaften 13,384 ff. Akkomodation 115 f., 119 Aktunwert 556 Allopoiese 45 f., 182 Allopoietische Subsysteme 12, 233, 469 Altruismus 341 Amöbe 52, 222 Anabolische Reaktion 51 Analogieverbot 436 Anders-Handeln-Können 179,200 ff., 483 Angeborenes Verhalten 70 f., 531 Anpassung 137 f.,181,283,292,309,334 Arbeitsteilung 386 Argumente 278,318,463 Askriptive Merkmale 440, 448 Assimilation 114 f. Atomistisches Weltmodell 25, 84

Attribution 100, 349 Aufklärung 331,357,370 Auslegung 440 ff. Auslese 36, 355 Außendetermination 6, 182,228,238 Außenwelt 52 f., 59, 116 Austauschtheorie 273, 294 Auszug der Invarianz 97, 156 Autogenetische Willenstheorie 171 Autonome Moral 456 Autonome Systeme 179, 182, 326 Autonomisierung des Sozialsystems 575 Autonomisierung des Rechtssystems 468 ff. Autonomie 33, 255 Autonomiemodell 47 Autopoiese 7 f., 31 ff., 161 ff. Autopoietische Sozialsysteme 12, 256, 260 Autopoietisches Recht 488 Autorität 412 ff., 416, 475 ff. Axon 53 Bedeutung 82,231,447 Bedingte Reflexe 152 Behandlung 551 Behaviorismus 171 Beitragsprinzip 102 Beobachter 75, 84 f., 197 Beschreibendes Handell'l 78 ff. Beschreibungen 75, 84 Bestimmtheitsgebot 434 ff. Bewußte Fahrlässigkeit 11, 535 ff. Bewußtsein 83 ff., 93, 97, 108 Bienenfabel 291 Binäre Schemata 259 Biologie 25 ff., 55 Biologische Einheitlichkeit 347 Biologische Kognitionstheorie 6 Biologismus 240 Bipole 144, 159

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Sachregister

Black box 118 Blutfehde 399 ff. Bootstrap-Theorie 29 Brauch 418 Chaos 42 ff. Charakter 94, 512 Charakterschuld 483 Chemische Reaktionen 43 f., 51 f. Codierung 267 Corpus callosum 87 Darwinismus 36, 354 Deduktion 50, 188 Dekarzerierung 215 Denken 74 ff., 110, 144, 149, 157 ff. Denotation 227, 443 Dendrit 53 Deskriptive Merkmale 440, 448 Desymbolisierung 332 Detektor-Konzept 59 f. Determinismus 128 f., 173 ff. Devolution 45 Dezentrierung 113,127,132,149 Differenzen 159, 164, 259 Differenzierung 97, 115 Dinge 29, 130, 240 Direkter Vorsatz 537 Diskurs 4,317,570 Dispositives Recht 432 ff. Dissipative Strukturen 44, 341, 344 Dogmatische Moral 453 Dolus eventualis 536 ff. Doppelspuriges Strafrecht 562 Doppelte Kontingenz 191 Double-Bind 41 Driften 36 Dualismus 5, 342 Dynamische Plastizität 181 Egalität 13, 385 Egozentrik 113, 149 Eigentum 387 Eingeschränkte Rationalität 302 Einigung 399 Einzeller 51 ff. Elemente des Systems 233

Emanzipierende Sozialtherapie 573 Emergenz 232 ff. Emotionen 146 Empathie 103 Empirisches Wissen 445 Empiristischer Positivismus 286 Enantiodromie 344 Entität 147 Entropie 27, 40, 341 Entscheidung 510 ff. Entwicklungsstufen der Affekte 112 Entwicklungsstufen der Erkenntnis 108 ff. Entwicklungsstufen der Moral 356, 359, 452 Entwicklungsstufen der Religion 362 Entwicklungsstufen der Sexualität 143 Entwicklungsstufen des Rechts 365, 381 ff., 492 Epistemischer Indeterminismus 187 ff., 520 Epistemologie 17 ff., 339 ff. Equity-Ansatz 101 Erfahrung 93 ff., 128, 362 f. Erfahrungsrealität 231 Erfolgsunwert 556 Erkennen 51 ff., 156 Erkenntnistheorie 17 ff., 339 ff. Erklären 287 Erlerntes Verhalten 66,531 Errechnen 83 Erwartungen 193, 196, 247, 260 Erziehung 67, 246 Ethik 195, 339 ff. Ethischer Empirismus 213 Ethnologie 353 Ethnomethodologie 314 Ethnozentrismus 355, 361 Eventualvorsatz 535 ff. Evolution 351 f. Evolutionismus 361,381 ff., 489, 492 ff., 553 f. Evolvierende Systeme 44 Exogamie 397 Externalisierung 93, 117, 127, 136 Externalismus 361 Externalität 99 Externe Störungen 43 ff., 117, 137

Sachregister Fahrlässigkeit 10 f., 409, 535 ff. Faktische Geltung 554, 587 Familientherapie 40 ff., 330, 364 Farbwahrnehmung 65, 68 Fatalismus 6,99, 176f., 519 Feldtheorie 163 Finale Handlungslehre 2 ff., 497 ff. Finalisten 6 Flexible Ethik 372 ff., 465 Fließgleichgewicht 44 Fluktuation 43, 159, 337 Folgenorientierung 343 Formale Operationen 111 Formale Rechtlichkeit 466 ff., 481, 553 Formaler Verbrechensbegriff 490 Freie Gesellschaften 384 ff. Freiheit 6, 195, 199 Freiwilligkeit 201 Fremdbeobachtung 94, 191 Fremdbestimmung 166 Fremderwartungen 193 Fremdreferentialität 33, 226 f. Frühe Ordnungstypen 426 f. Fühlen 141 ff. Funktionale Differenzierung 272 ff. Funktionaler Schuldbegriff 559 Funktionalistische Handlungstheorie 273 Ganzheitlichkeit 30, 161 Gedächtnis 61, 68, 132, 135, 154 Gedanken 86 f., 234 Gefährdungshaftung 409 Gefängnisstrafe 215 Gefangenendilemma 298 f. Gefühl 196 Gegenseitigkeit 389 ff. Gehirn 87 ff., 225 ff. Gehirnhemisphären 87 ff., 154, 163 Gehorsam 189, 332 ff. Gelegenheitstäter 530 Gelernte Hilflosigkeit 105 Geltungsansprüche 569 Geltungstheorie 567 Gemeinschaft 277 Genauigkeitstheorie 435 Generalisierte Erwartungen 99 Generalisierte Medien 277 Generalprävention 5, 212, 555 ff. Genetische Epistemologie 119, 149

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Genetische Information 33 Gerechtigkeit 101 Gerechtigkeitsforschung 101 f. Gerichte 413 ff. Geschlossene Systeme 33, 55, 179 Gesellschaft 11, 237 ff., 252 Gesellschaftsschutz 549 f., 564 f. Gesellschaftsvertrag 313 Gesetzesvorbehalt 436 Gesetzlichkeitsprinzip 434 Gesinnungswerte 555 Gestalttheorie 69 Gewalt 310 Gewohnheit 419 Gewohnheitsrecht 414 f. Gewohnheitsregeln 382, 405 ff. Gewohnheitstäter 550 Glauben an eine gerechte Welt 101 Gleichgewicht 115, 340 f. Gleichheit 384 ff. Gründe 205 f., 570 Grundrechte 460 ff. Gültigkeit 414, 568 ff.

Handlungsbezugsrahmen 231,272 ff. Handlungsplanung 232 Handungsprinzipien 273 Handlungsschemata 134 f. Handlungstheorien 1 ff., 488 f. Handlungsziel 134, 504 Harter Determinismus 173 ff., 518 f. Hebb-Synapsen 230 Hermeneutik 137 Herrschaft 13,406 Herrschaftslose Gesellschaften 384 ff. Heteronome Moral 465 Heteronomie 453 Hexerei 369 f., 403 Hilflosigkeitskonzept 105 Hirten 394 ff. Historischer Idealismus 286 Historischer Materialismus 273 Hören 69 Holismus 8, 20 f. Holistisches Weltrnodell 26 ff. Homöostase 39 ff. Homo oeconomicus 292 Hydra 54

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Sachregister

Ich-Bewußtsein 75,86 Idealismus 288 Idealistische Handlungstheorie 273 Idealistische Kulturtheorie 285, 317 ff. Idealistische Ordnungsmodelle 288 Ideelle Ordnung 317 ff. Identität 93, 96 Ideologie 310 Imitation 110 Immunisierungsstrategien 103, 106 Indeterminismus 183 ff., 187 ff. Individualismus 20, 261 Individualistische Moral 357 Individualprävention 5, 545 ff. Individuum 250 ff. Induktives Schließen 50 Induktives Verhalten 50, 240 Induktivität 49, 97 Informationelle Geschlossenheit 57 Informationen 81, 116,245 Informationstheoretisches Kommunikationsmodell 80, 158 Informationsübertragung 58, 80, 116, 207,448 Inklusion 262 Innendetermination 6, 182, 194 Instinktive Handlungen 532 Institutionalisierung 260 Institutionelles Handeln 280 Instruktive Interaktion 38, 182 Instrumentelle Handlungen 284, 569 Intellekt 146, 154 Intentionalität 181, 498 ff. Interaktion 240 ff. Interaktives System 161 Internalisierte Programme 154 Internalismus 361 Internalität 99 Interne Orientierung 99 Interpenetration 4, 262, 275 ff., 321, 482 Interpersonales Verhalten 99 Interpunktion 365 Intersubjektive Geltung 571 ff. Intersubjektivität 570 Invarianz 39 ff., 97 Inzestverbot 399 Irrationales Verhalten 48, 106 Irrationalität 105 Isomorphien 148

Jäger und Sammler 384 ff. Juristische Semantik 439 Kartesianisches Modell 25 ff. Katabolische Reaktion 51 Kausale Handlungslehre 2 ff., 488 ff. Kausales Erklären 4, 287 Kausalisten 6 Kausalität 3, 128 f. Kephale Gesellschaften 384 Ko-Evolution 14, 206, 524, 568 ff. Ko-Existenz 349 Kognatische Verwandtschaft 396 Kognition 232 ff. Kognitionsbereich 72 Kognitiv-affektives Konzept 148 Kognitive Ethik 339 ff. Kognitive Handlungstheorie 7, 510 ff. Kognitive Ordnungstheorie 7,272,322 ff. Kognitive Orientierung 528 Kognitive Psychotherapie 140 Kognitive Stile 343 Kognitive Selbstreferentialität 229 ff. Kognitives Verhalten 71 ff. Kohärenz 85 ff. Kollektive Selbstbeobachtung 524 ff. Kollektives Handeln 276, 295 Kollektivismus 261 Kommunikation 12,79,258 Kommunikationstheorie 41,273, 318 Kommunikatives Handeln 318,569 ff. Komplementarität 29, 164 Komplexität 198 Komponenten 233 Konflikttheorie 284, 307 Konformismus 195,272 f., 283 f. Konformistische Ordnung 313 ff., 567 Konformitätsprinzip 284, 313 Konkrete Operationen 111 Konkurrenzlehre 2 Konnotation 49,227,237 Konsens 13, 413 ff., 570 Konsensuelle Beschreibungen 238 Konsensueller Bereich 11, 37, 195, 247 Konsensuelles Handeln 76 ff. Konservativität 50, 254, 336 Konsistenzprinzip 285, 317 Konstruktive Methodologie 82 f., 348 Konstruktivismus 7, 137 f., 147, 172

Sachregister Konsumatorische Orientierung 284 Kontingenz 191, 196,238 Kontinuität 157 Kontrolle 5, 98 ff., 329 ff. Kontrollmodell 46 Kontrollüberzeugung 98 ff., 193 Konventionalisierung 448 Konventionelle Moral 356 Konvergenzhypothese 510 Ko-Ontogenese 77, 79 f. Kooperation 78, 367, 486 Koordiniertes Verhalten 121 f. Kreativität 195, 206 Kreisförmigkeit 31 Krisenforschung 158 Kritische Psychologie 251 Kultur 277 ff., 354 f., 367 Kulturelle Einheitlichkeit 372 Kulturelle Evolution 354 Kybernetik 45 f., 183 f. Labeling Approach 524 Lateralität 87 Lebende Systeme 31 ff. Lebensweltsoziologie 313 f. Legalismus 13, 451 ff., 491, 523, 575 Legalität 458 f. Legalitätshaltung 549 Legitimation durch Verfahren 458 Legitimität 459 f. Lernen 10, 67, 144, 180 f. Life-events-Forschung 158 Limbisches System 92 Limitierung der Macht 461 Lineage 396 Lineare Kausalität 335, 491 Linguolaxis 77 Logik 156 ff. Logik der Relationen 127 Logische Unbestimmtheit 190 Lokalisierung der Funktion 87 Lustprinzip 144, 148, 156, 168 Lust-Unlust-Prinzip 152, 155, 292 Macht 13, 185, 461 Machttheorie 284, 307 ff. Majorisierende Äquilibration 158, 341 Makroakteure 268 Marburger Programm 550 Marxismus 104,295,307

669

Maschinen 33 f. Maßnahmen 213, 562 Materie 25 ff., 35, 159, 228 Matrilinearität 396 Mechanische Dressur 564 Mechanische Solidarität 365, 557 Mechanistische Ordnung 491 Mechanistisches Weltmodell 26, 129 Medium 48, 66 f., 79 f., 83, 195, 238 Membrane 32,35 Metabolismus 31 f. Metaphysik 204 Metazeller 223 Methodische Erkenntnistheorie 19 Methodisch-rationaler Aktivismus 281 Methodologie 19 ff., 546 Methodologischer Individualismus 20 Methodologischer Kollektivismus 20 Milieutheorie 22 Monismus 8,342 Moral 418 ff. Moralische Evolution 359 Moralischer Realismus 111 Moralisch-praktisches Wissen 569 Moralismus 523 Motivierung 155 Motorik 53 ff., 109 f. Motorische Flächen 52 Münchhausen-Trilemma 18 Mutation 227 Narzißmuslehre 148 Nativismus 22 Natürliche Evolution 358 Naturreligionen 393 Negative Rückkoppelung 45 Neoevolutionismus 383 Nervensystem 51 ff., 229 ff. Netzwerk 31, 53 ff., 62 Neuronale Funktion 66 ff. Neuronale Prozesse 61,64,233 f. Neuronen 53 Neurotransmitter 54 Nichthandlungen 1,531 Nichtlinearität 44 Nicht-triviale Maschinen 37, 188 f., 471 Nominalisierung 79 Normative Muster 512 Normatives Verstehen 287

670

Sachregister

Nonnative Tatbestandsmerkmale 448 Nonnativismus 3, 313 Nonnativität 11 f., 565, 568, 571 Nonnen 284 Nonnorientiertes Handeln 273, 284, 314 ff. Nonnstabilisierung 556 ff., 567 Nullum crimen sine lege 495 Nutzenoptimierung 292 Objekte 82, 111, 120, 569 Objektkonstanz 59, 110 Objektliebe 146 Objektive Haftung 476 f. Objektive Verantwortlichkeit 204 ff., 409 Objektivierung des Sinnbegriffs 265 ff. Objektivität 197 Objektiv-teleologische Auslegung 441 Objektpennanenz 120, 149 Objektrepräsentanz 147 Ökonomische Ordnung 276 Ökonomisches Handeln 283, 290 ff. Offene Systeme 34 ff., 69 Ontogenese 77, 79 f. Ontogenetische Drift 36, 114 Ontogenetische Koppelung 78 Ontogenetischer Fehlschluß 362 Ontologie 18 Ontologischer Handlungsbegriff 565 ff. Ontologischer Indetenninismus 167, 497 ff. Ontologisches Wissen 18 Ontologische Wirklichkeit 126 Operante. Konditionierung 230 Operationale Geschlossenheit 55, 179 Operationales Wissen 19, 128, 445 Opfer 101 ff. Optimierungsprinzip 283, 290 Ordal 401 Ordnung 381 ff., 488 ff. Ordnung durch Fluktuation 43, 159, 337 Ordnungstheorie 272 ff. Ordnungstypen 272 ff. Organisation 26 f., 31 ff. Organisationelle Geschlossenheit 33, 57 Organische Solidarität 365, 557 Organismus 221 ff. Orientierendes Handeln 81 Orientierungsinteraktion 81, 242

Pädagogik 67, 246 Parallelisierung der kognitiven Systeme 239 Parallelverarbeitende Systeme 230 Parallelwertung in der Laiensphäre 448 Patrilinearität 395 Pennanente Objekte 120 ff. Perspektivenübernahme 242 Perturbationen 10, 36, 117, 137 Photosynthese 51 f. Phylogenese 36 Physik 27 f., 84, 129, 157, 159, 163, 189 Physiologischer Detenninismus 176 Plastische Systeme 34,66, 155, 194,334 Polarität 159 Politische Kybernetik 184 Politische Systeme 184 ff., 277 ff. Positive Generalprävention 212, 365, 555 ff. Positive Konnotation 49 Positive Rückkoppelung 44 Positives Recht 432 ff., 446 ff. Positivismus 3, 286 f., 325 f., 479 f. Positivistische Handlungstheorien 272 f. Positivistische Ordnungstheorien 287 Positivistischer Rechtsbegriff 479, 553,

564

Positivistische Strafrechtstheorie 486 ff. Postkonventionelle Moral 357 Präkonventionelle Moral 356 Prä-operative Stufe 110 Praktische Reihen 130 Praktische Zeit 130 Privatstrafrecht 476 Probehandlung 144 Produktionsbegriff 31, 256, 263 Prognose 188 Prognostizierendes Handeln 237 Prognostizierende Systeme 231 Programme 154, 168 Prozedurale Rationalität 357, 462 Prozeßziel 576 Psyche 139 ff., 162 f. Psychoanalyse 141 ff., 146 ff. Psychologischer Detenninismus 195 Psychologismus 23, 363 Psychopathien 563 Psycho-physische Feldtheorie 163 Psychosomatik 162,543

Sachregister Quantenmechanik 27, 129 Quantentheorie 28 f. Rache 476 Radikaler Konstruktivismus 137 f. Räumliche Permanenz 127 Rationales Handeln 290 Rationales Verstehen 287 Rationalisierung der Gesellschaft 274 Rationalisierung des Rechts 432 ff. Rationalistischer Idealismus 4, 286, 569 Rationalistischer Positivismus 4, 286 Rationalität 205,280,290 ff., 318, 327 Raum 124, 127 Reaktanz 341 Reaktionsaxiom 300 Reaktives Handeln 237 f. Reaktive Systeme 231 Realisierungsprinzip 283 Realität 20, 117, 131, 136 Realitätskonstruktion 239 Realitätsprinzip 145 Recht 381 ff., 430 ff., 488 ff. Rechtlichkeit 280 Rechtsbegriff 405 ff. Rechtsbewußtsein 546 Rechtsethnologie 381 ff. Rechtsfolgenlösung 365 Rechtsgüterschutz 556 Rechtskommunikationen 472 Rechtskultur 481 Rechtspositivismus 479 Rechtssicherheit 434 Rechtssystem 472 ff. Rechtstreue 546 Rechtswidrigkeit 2 Reduktionismus 23 Reduktion von Komplexität 198,259,266 Referenz 443 Reflexbewegungen 70,531 Reflexion 80, 123 f., 132 Reflexivität 343 Regulatoren 148, 152, 160, 170 Reine Relationen 74 Reize 57 Reizunspezifität 64 Rekursivität 154, 223 Relationale Betrachtung 29 Relative Autonomie 12, 194,271

671

Relativitätstheorie 84, 129 Reliabilität 227 Religiöse Evolution 362 Religiöse Symbolisierungen 361 Religion 173, 279, 358 ff., 393, 475 ff. Repräsentationsmodell 58, 61, 147 Repräsentative Reihen 131 Res cogitans 26 Res extensa 26 Resozialisierung 523, 549 Reversibilität 149, 159 Reziproke Koppelung 181 Reziprozität 13, 294 Rhythmik 157 Richterrecht 389 ff. Richtigkeit 491, 569 Rigide Ethik 368 ff., 453 Ritual 401 Röhren-Metapher 245 Rollenmuster 246 Rückkoppelung 42, 184 Rückwirkungsverbot 436 Sammler und Jäger 384 ff. Sanktionen 213,414,417,423 Satisficing-Strategie 303 Schemata 151, 158 Schizophrenie 40, 152, 157, 542 f. Schuld 2, 9, 200, 211, 484 f., 561, 564 Schuldformen 490 Schuldprinzip 200,203,502,522 Schuldvorwurf 497 Schuldzuschreibung 48 f. Segmentäre Ordnung 397 Sekundäre Normen 472 Selbstbeobachtung 10, 85, 192,337, 521 Selbstbeschreibung 85 Selbstbestimmung 185, 499 f. Selbstbewußtsein 85, 337 Selbsterhaltende Systme 221 ff. Selbsterhaltung 31,39,43,47,73,221 ff. Selbsterzeugung 35 Selbst-evaluierende Systeme 232 Selbsthilfe 420 Selbst-Intendierung 192, 521 Selbstkonzept 93 ff., 193 Selbstlimitierung der Macht 494 Selbstreferentialität 33, 61, 225 ff.

672

Sachregister

Selbstreflexion 521 Selbstregulierung 114, 186 Selbstsozialisation 247 Selbststeuerung 45, 114 Selbstzuschreibung 95 ffo, 107 Selektion 493, 551 Selektionsprinzip 493, 552 Senso-motorische Korrelationen 53 ffo Senso-motorische Stufe 109 Sensorik 51 ffo, 59 ff., 109 fo Sensorische Flächen 52 Sexualität 78, 141 ffo, 386 Sicherungsverwahrung 551 Sinn 265 f. Sinnesorgane 59 ff., 63 ffo, 69, 116 Sinn-intentional 500 fo Sitte 418 ffo Sittenbildung 556, 565 Situation 283 Situationsgebundenes Handeln 283 Solidarität 466 Solipsismus 113, 136 fo, 236 Soziale Gefährlichkeit 564 Soziale Handlungslehre 2 Soziale Koppelung 79 Soziales Handeln 240 ffo Soziale Subsysteme 239, 278 ' Soziale Stabilität 273 Soziale Systeme 12,31,237 ff. Sozialethisches Unwerturteil 213 f., 484 Sozialisation 244 ffo Sozialpädagogisches Strafrecht 557 Sozialtechnologie 211 Sozialtherapie 573 Sozialwissenschaften 22 fo Soziologischer Positivismus 287 Spezialprävention 5, 545 ffo Spieltheorie 300 Split-brain-Patienten 87 Sprache 76 ff., 443 fo Sprachschablonen 333 Staatliche Gesellschaften 430 ffo Staatliche Ordnung 430 ffo Staatliches Recht 356 Stabile Gruppen 121 Stabilität 40 Statik 45 Statisches Gleichgewicht 40 Stigma-Management 107

Stimmigkeit 29,41, 156 Störungen 10,36, 117, 137,340 Stoffwechsel 35 Straffunktionen 545 ff. Strafrecht 366, 488 ff. Strafrechtliche Evolution 365 Straftheorien 574 Strafzwecke 3, 212 ffo, 494 f., 502, 547 fo Strategisches Handeln 324 Strategisches Machtrnodell 307 Streitschlichtung 392 ffo Struktural-funktionale Sozialtheorie 40 Strukturell-plastische Systeme 34 Strukturelle Determination 37, 179, 205, 326fo Strukturelle Isomorphien 148 Strukturelle Kongruenz 48, 81 Strukturelle Koppelung 10, 36, 180, 222, 332 ffo Strukturelle Veränderung 36, 180, 205, 524 Strukturen 27, 34 ff. Subjektive Reihen 130 Subjektive Verantwortlichkeit 199 Subjektive Zurechnung 9, 529 ffo Subjektivierung des Systembegriffs 261 ffo Sublimierung 145 Substanzen 25 Subsysteme der Gesamtgesellschaft 278 Sühne 557 Symbole 448 Symbolische Generalisierung 259 Symbolischer Bezugsrahmen 284, 317, 461 ffo Symbolischer Interaktionismus 317 Symbolische Strafrechtsfunktion 559 ffo Symbolkonstruktion 278, 284 Synapsen 53 f. Synreferentialität 249 ffo Systematik des Rechts 422 ff., 466 ff. Systembegriff 24 Systemische Betrachtung 29 Systemtheoretischer Indeterminismus 183 ffo Systemtypen 221 ff. Systemziel 226

Sachregister Tadel 522, 559 Täterschaft 211 Tatbestandsmerkmale 440, 448 Tatbewußtsein 536, 540 Tausch 389 ff. Teilnahme 2 Teilnehmende Beobachtung 353 Teleologie 39, 500 Teleonomie 355, 366 Teleonomisches Erklären 287 Territorialverhalten 387 f. Teufel 369 Textverstehen 447 Theodizee 368 Theologie 294 f. Theorie kollektiver Güter 294 f. Thermodynamik 27, 341 Thermostat 45 Toleranz 353 Traditionelle Moral 452 Triebtheorie 144, 154 Triviale Maschinen 188 Tropholaxis 76

Überdetermination 499,506 f. Übertragung 153 Überzeugung 205 f. Umwelt 34 ff., 45 ff., 53 f., 67 f., 228 Umweltdetermination 492 Unbestimmtheit 190 f., 196 Undifferenzierte Codierung 60, 63 Unfreiheit 182 Ungehorsam 189 Ungleichgewicht 28, 43 Universalgeschichte 360, 492 Universalhistorischer Fehlschluß 363, 383 Universalismus 279 f. Universalitätsanspruch 570 Unlustprinzip 152, 155 Unordnung 42 ff., 216 Unrechtsbewußtsein 2 Unschädlichmachung 549 Unschärferelation 28, 129 Unterlassungsdelikte 2 Unterscheidungen 79 Unwerturteil 213 Urbane Revolution 384

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Ursachenzuschreibung 99 Utilitarismus 4, 291, 325

Varianz 42 ff. Veränderung 38,524 Verantwortlichkeit 9, 104, 166, 190, 194 ff., 350, 484, 518 ff., 524 Verbrechensaufbau 1,529 Verdichtung 97 Vereinbarkeitsphilosophie 179, 183, 484 Vereinigungstheorien 4 f., 212, 548 Verfassung 278 Vergegenständlichung 119 ff., 131 Vergeltung 5, 10,502, 557, 559, 561, 564f. Vergemeinschaftung 573 Verhandlung 399 Verhalten 51 Verhaltensänderung 48, 180 Verhältnismäßigkeit 216 Verhaltenssicherheit 434 Verhaltenssteuerung 230 Verhaltenstheorie 272 ff. Vermeidbarkeit 535 Vernunfttheorie 317 Verräumlichung 127 Verständigungsorientierte Ethik 464 Verstehen 447 Vertragsrecht 381 ff. Versuch 539 Verursachung 99, 128 f. Verwandtschaft 394,396 Verzeitlichung 129 ff. Vielzeller 223 Vierfunktionenschema 282 ff. Visuelles System 59 ff. Vollzugsziele 549 Voluntarismus 7,171,327 Voluntaristische Handlungstheorie 272 Voluntaristische Ordnung 272 Voluntative Orientierung 528 Voraussagbarkeit 187 f., 327 Vorhersehbarkeit 539 Vorsatz 10 f., 409, 535 ff. Vorstaatliche Gesellschaften 381 ff. Vorstellungen 86, 110,505

674

Sachregister

Vorstellungstheorie 537 Vorwertbarkeit 497,522,530 Wahl 172, 176, 191 f., 197, 512 Wahrheit 342 ff., 447 Wahrnehmung 59 ff., 154 f. Wahrnehmungslehre 498 Wandel 42 Weicher Determinismus 178 ff. Wellenmechanik 129 Weltkonstruktion 108 ff. Weltrnodelle 108 ff. Wertbegriffe 160 Werte 555 Werthierarchie 160 Wertideen 289, 516 Werturteil 195 Wiedergutmachung 365, 409, 476, 558 Wille 2, 9, 165 ff. Willensfreiheit 5,170,184,195,201,327 Willenstheorie 536 Willkürliches Verhalten 2, 489 Wirklichkeit 18, 98, 342 Wirklichkeitsanpassung 330 Wirklichkeitskonstruktion 108 Wirtschaft 276 ff. Wissenschaftstheorie 444 ff. Wörter 79

Zeit 129 ff. Zeitliche Reihen 130 Zelle 35 Zellmembran 32, 35 Zellstoffwechsel 35 Zellsystem 32 ff. Ziele 283, 364 Zielgerichtetheit 134, 283 Zirkularität 31,328 ff. Zivilisation 384 ff. Zuflillige Ordnung 290 f. Zufall 106 Zukunft 190 Zurechnung 199,489 Zurechnungsfähigkeit 11, 201, 206 Zustandsdetermination 6, 37, 179 Zustandsdeterminiertes Entscheidungsverhalten 514 ff. Zustandsdynamik 186 Zustandstäter 550, 560 Zwang 273 Zwangsordnung 307 ff. Zwangsstabilisierung 255 Zwecke 364 Zweckfreie Systeme 47 Zweckrationalität 430 ff. Zweckstrafe 199,213 f. Zweiwertige Logik 374