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German Pages 232 Year 2020
Leonie Otto Denken im Tanz
TanzScripte | Band 59
Editorial Tanzwissenschaft ist ein junges akademisches Fach, das sich interdisziplinär im Feld von Sozial- und Kulturwissenschaft, Medien- und Kunstwissenschaften positioniert. Die Reihe TanzScripte verfolgt das Ziel, die Entfaltung dieser neuen Disziplin zu begleiten und zu dokumentieren: Sie will ein Forum bereitstellen für Schriften zum Tanz – ob Bühnentanz, klassisches Ballett, populäre oder ethnische Tänze – und damit einen Diskussionsraum öffnen für Beiträge zur theoretischen und methodischen Fundierung der Tanz- und Bewegungsforschung. Mit der Reihe TanzScripte wird der gesellschaftlichen Bedeutung des Tanzes als einer performativen Kunst und Kulturpraxis Rechnung getragen. Sie will Tanz ins Verhältnis zu Medien wie Film und elektronische Medien und zu Körperpraktiken wie dem Sport stellen, die im 20. Jahrhundert in starkem Maße die Wahrnehmung von Bewegung und Dynamik geprägt haben. Tanz wird als eine Bewegungskultur vorgestellt, in der sich Praktiken der Formung des Körpers, seiner Inszenierung und seiner Repräsentation in besonderer Weise zeigen. Die Reihe TanzScripte will diese Besonderheit des Tanzes dokumentieren: mit Beiträgen zur historischen Erforschung und zur theoretischen Reflexion der sozialen, der ästhetischen und der medialen Dimension des Tanzes. Zugleich wird der Horizont für Publikationen geöffnet, die sich mit dem Tanz als einem Feld gesellschaftlicher und künstlerischer Transformationen befassen. Die Reihe wird herausgegeben von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein.
Leonie Otto (Dr. phil.) lehrt am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die Dramaturgin und Tanzund Theaterwissenschaftlerin war Jury-Mitglied der »Tanzplattform in Deutschland 2018«.
Leonie Otto
Denken im Tanz Choreographien von Laurent Chétouane, Philipp Gehmacher und Fabrice Mazliah
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Forschungszentrums Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Diese Arbeit wurde als Dissertation an der Goethe-Universität Frankfurt am Main angefertigt und eingereicht.
D.30
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Leonie Otto Korrektorat: Inge Adolphs Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5552-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5552-4 https://doi.org/10.14361/9783839455524 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Danksagungen ..................................................................... 7 Einleitung .......................................................................... 9 Was heißt Denken? .......................................................... 37 Martin Heideggers Umdeutung des Denkens ................................... 39 1.1.1. Wie nicht logozentrisch denken? Heideggers Unterscheidung des Denkens von Wissenschaft und Philosophie ........................ 39 1.1.2. Das Denken des neuzeitlichen Subjekts und das Vernehmen des Daseins ........................................................... 44 1.1.3. Chōrismós. Denken (aus) der ontisch-ontologischen Differenz........... 52 1.1.4. Die Lichtung des Seins und das Denken des menschlichen Leibs ........ 57 1.1.5. Das Scheitern der geschichtlichen Verantwortung des Denkens ......... 69 1.2. Ganz anders und umso mehr denken .......................................... 74 1.2.1. Heimatloses Denken. Chōra, différance, destinerrance und dissemination (Jacques Derrida) ................................... 74 1.2.2. Nicht das Sein heißt uns Denken, sondern das gemeinsame Erscheinen (Jean-Luc Nancy) ......................... 83 1.2.3. Das Denken und die Pluralität (Hannah Arendt) ......................... 90 1.3. Tanzen und Denken.......................................................... 103 1.3.1. Die Bewegungen des Denkens......................................... 103 1.3.2. Bewegungsereignisse .................................................. 113 1. 1.1.
2. Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern ............................... 127 2.1. Von der Szene des neuzeitlichen Subjekts zu einer anderen Orientierung im Raum ..................................................................... 127 2.2. Das geteilte Bedenken der Choreographie ..................................... 141
3. Philipp Gehmachers Solo with Jack .......................................... 147 3.1. Erfahrung und Erscheinung einer pluralen Singularität oder Denken im Tanz bei Gehmacher ......................................... 149 3.2. Der Abstand im Kontakt.......................................................157 4.
Ioannis Mandafounis’, Mikael Marklunds und Roberta Moscas Soli nach einer Idee von Laurent Chétouane..................................... 165 4.1. Ein Ensemble von Soli ....................................................... 165 4.2. Improvisieren? – Relationales Choreographieren oder Denken im Tanz bei Chétouane .......................................... 172
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Fabrice Mazliahs In Act and Thought mit Tänzer*innen der Forsythe Company ..................................... 181 5.1. Räume eröffnen, in denen das Denken sich ereignen kann oder Denken im Tanz bei Forsythe ........................................... 182 5.2. Nicht Versammlung, sondern Zerstreuung .................................... 188 5.3. Vom Denken der Zuschauerin – Schlusswort ................................... 197 Werkverzeichnis ................................................................. 203 Literaturverzeichnis.............................................................. 207
Danksagungen
Ich danke Philipp Gehmacher, Fabrice Mazliah sowie Angela Bedekovic, Stephanie Leonhardt, Johanna Milz und Christine Kammer und vielen weiteren an den Choreographien, die Gegenstand meiner Arbeit waren, Beteiligten für ihre Offenheit gegenüber meiner Arbeit, für die Zurverfügungstellung von Videos und das Beantworten von Fragen. Ganz besonders herzlich danken möchte ich Laurent Chétouane für die gute Zusammenarbeit und die vielen inspirierenden Gespräche und Mailwechsel. Sehr dankbar bin ich auch den Studierenden, die an der GoetheUniversität Frankfurt, an der Universität Hildesheim und an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt mit mir über das Denken im Tanz diskutiert haben. Matthias Dreyer, Mayte Zimmermann und besonders Leon Gabriel danke ich dafür, dass sie in der Zeit der Promotion interessierte und hilfsbereite Kolleg*innen waren. Für Feedback und Anregungen in verschiedenen Momenten des Entstehungsprozesses dieses Buchs bedanke ich mich bei Kathryn Enright, Ingo Diehl, Björn Fischer, Ulrike Hass, Rembert Hüser, Jason Jacobs, Krassimira Kruschkova, Bernhard Siebert, Gerald Siegmund und Marita Tatari. Ganz besonders danke ich meinem Doktorvater Nikolaus Müller-Schöll: für die gründlichen Lektüren von verschiedenen Arbeitsständen dieser Dissertationsschrift, für seinen hohen Anspruch und seine weiterführenden Hinweise, aber auch für seinen verständnisvollen Rat, seine Geduld und dafür, dass er mich selbst hat herausfinden lassen, wie diese Arbeit aussehen soll. Und nicht zuletzt dafür, dass er mit dem Doktorand*innen-Kolloquium einen Rahmen geschaffen hat, in dem ich immer wieder die Möglichkeit hatte, Arbeitsstände zur Diskussion zu stellen – allen noch nicht namentlich erwähnten Teilnehmer*innen des Kolloquiums sei an dieser Stelle für ihre vielen nützlichen Anmerkungen gedankt! Meinem Zweitgutachter Jörn Etzold danke ich vor allem dafür, dass er mich in den richtigen Momenten ermutigt
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und sich die Zeit genommen hat, sich in einige Kapitel hineinzudenken und sie tiefgreifend und ehrlich mit mir zu diskutieren. Für Lektorat und Korrekturen am Ende danke ich Olivia Ebert, Martina Groß, Uli Zimmermann – und ganz besonders Julia Schade für die große Unterstützung zum Schluss und Inge Adolphs dafür, dass sie nicht nur immer die Zeit zum Korrekturlesen, sondern auch immer noch ein paar Fehler findet. Meiner ganzen Familie danke ich dafür, dass sie den Momenten großer Zweifel immer wieder Leichtigkeit entgegengehalten hat. Gar nicht genug danken kann ich Jakob Zimmermann für unzählige Lektüren der Zwischenstände dieser Arbeit, für seine unermüdliche Gesprächsbereitschaft und Anteilnahme. Paul Zimmermann danke ich dafür, wie schön und aufregend es war, die anstrengende und einnehmende Doktorarbeit hinter mir zu lassen und mich Neuem zuzuwenden – und Elio Zimmermann dafür, dass die Arbeit nun endlich erscheint. Zum Schluss möchte ich mich noch bei Jenso Scheer, Gero Wierichs und besonders Katharina Kotschurin vom transcript Verlag für die angenehme Betreuung des Projekts, bei Gabriele Klein und Gabriele Brandstetter für die Aufnahme der Arbeit in die TanzScripte und beim Frankfurter Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften für die Förderung des Drucks bedanken.
Einleitung
Trisha Browns Frage nach der Verbindung von Bewegung und Denken »Do my movement and my thinking have an intimate connection?«1 Mit dieser Frage beschäftigte sich die Choreographin und Tänzerin Trisha Brown in ihren seit Beginn der 1970er Jahre entwickelten Accumulation-Stücken. Der Tänzer Frank Willens erinnert Trisha Browns szenisches Erforschen der Verbindung ihrer Bewegung und ihres Denkens in Tino Sehgals (ohne titel) (2000). In der 2014 auf der Tanzplattform gezeigten Version wird dieselbe Choreographie Sehgals, die Zitate aus Choreographien von Vaslav Nijinsky und Mary Wigman über Trisha Brown, Pina Bausch, Anne Teresa De Keersmaeker und William Forsythe bis zu Xavier LeRoy und Jérôme Bel kombiniert, nacheinander an drei verschiedenen Orten von Andrew Hardwidge, Frank Willens und Boris Charmatz aufgeführt.2 In der verhältnismäßig langen Episode zu Trisha Browns Serie der Accumulation-Stücke erklärt und zeigt Willens zunächst Browns Prinzip der Akkumulationen: Einer Geste – dem Hin- und Herdrehen der Arme auf Brusthöhe mit zu Fäusten geschlossenen Händen und abgespreizten Daumen – wurde eine weitere hinzugefügt: das Nachvorne-Führen des rechten Arms in einer Art Wurfbewegung. In einer strukturierten »Live-Improvisation«3 häufte Brown vorab festgelegte kurze Bewegungssequenzen an, wobei sie Dauer, Repetitionen und Reihenfolge variier-
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Trisha Brown: »Trisha Brown«, in: Joyce Morgenroth (Hg.): Speaking of Dance. Twelve Contemporary Choreographers on their Craft. New York 2004, S. 57-69, hier S. 64. Willens’ Performance ist der mittlere Akt des dreiteiligen Stücks, das eine Neubearbeitung von Sehgals Solo Twenty Minutes for the Twentieth Century oder Das 20. Jahrhundert aus dem Jahr 2000 ist. Ich beziehe mich hier auf meinen Besuch der drei Aufführungen am 2.3.2014 auf Kampnagel in Hamburg. Vgl. zu Details zu den in diesem Buch diskutierten Stücken das Werkverzeichnis. Friederike Lampert: Tanzimprovisation. Geschichte – Theorie – Verfahren – Vermittlung. Bielefeld 2015, S. 148.
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Denken im Tanz
te.4 Während Frank Willens dies vorführt, erzählt er, sich auf Browns Stück Accumulation with Talking (1973) beziehend, dass Brown habe ausprobieren wollen, ob ihre Bewegung und ihr Denken miteinander kombinierbar seien – was sie anfangs bezweifelt habe: »When you’re moving you can’t be thinking and when you’re thinking you can’t be moving so she was interested in putting the two things together«,5 erläutert Willens. Brown habe deshalb versucht, während des Tanzens zu sprechen, genauer: die Anhäufung der Bewegungssequenzen mit vorab nicht festgelegten Worten zu begleiten. Willens beendet die Ausführung mit dem lapidaren und verschmitzten Kommentar: »and she figured: she could«,6 so als würde er mitteilen wollen: Klar konnte sie beim Tanzen sprechen. Wieso sollte das nicht möglich sein? Im dritten Teil der Trilogie von (ohne Titel) (2000) hingegen, der Performance von Boris Charmatz, erklärt dieser, als er zu Trisha Browns Erforschung der Kombinierbarkeit von Bewegung und Sprechen beziehungsweise Denken kommt, dass es ihm nicht leicht falle, während des Tanzens vorab nicht festgelegte Worte zu sprechen, und er manchmal, wie paralysiert, einfach nicht wisse, was er sagen solle. Zeigt sich in diesen unterschiedlichen Ausführungen von Sehgals Choreographie die jeweilige Singularität der drei Performer,7 macht die dramaturgische Setzung, dass die performende Person erst in diesem Abschnitt der Choreographie zu sprechen beginnt, darauf aufmerksam, dass es in der Geschichte des westlichen Bühnentanzes bis in die 1970er Jahre tatsächlich kaum vorkam, dass Tänzer*innen auf der Bühne sprachen.8 Ein Video aus den 1980er Jahren einer New Yorker Aufführung von Trisha Browns Accumulation with Talking plus Watermotor (1979) zeigt zwar, dass es ihr selbst gelingt, das Sprechen und die Aneinanderreihung der Bewegungsphasen zu kombinieren, doch die lässige Gleichzeitigkeit von Frank Willens’ 4 5
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Vgl. dazu Brown: »Trisha Brown: Edited Transcript of an Interview with Trisha Brown«, in: Anne Livet (Hg.): Contemporary Dance. New York 1978, S. 44-54. Ich zitiere nach Ines Meiers Wiedergabe von Willens’ Worten. Vgl. Ines Meier: »›(ohne Titel)‹ von Tino Sehgal bei Tanz im August«, http://de.blouinartinfo.com/news/story/951838/review-ohne-titel-von-tino-sehgal-bei-tanz-im-august vom August 2016. Ich zitiere aus meinen Notizen zur Aufführung. Vgl. Nikolaus Müller-Schöll: »Das Problem und Potential des Singulären. Theaterforschung als kritische Wissenschaft«, in: Milena Cairo/Moritz Hannemann et al. (Hg.): Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit. Bielefeld 2016, S. 139-150, hier S. 144ff. Vgl. zu Sprechen und anderen Körpergeräuschen in der Tanzhistoriographie Bojana Kunst: »The Voice of the Dancing Body«, in: Frakcija 51/52 (2009). What to Affirm? What to Perform?, S. 138-151, http://wp.me/p1iVyi-1V vom August 2020.
Einleitung
Präsentation ist bei ihr nicht zu bemerken. Das könnte an der unterschiedlichen Dramaturgie der beiden Stücke liegen: Sie improvisiert vermutlich bei der Kombination der Bewegungssequenzen wie auch beim Sprechen mehr als Willens, dem es ja eher darum geht, eine Zusammenstellung von Momenten paradigmatisch gewordener Choreographien zu präsentieren als darum, sich für einen längeren Zeitraum auf Browns Experiment einzulassen.9 Auch wenn Brown selbst ihr Stück zum Zeitpunkt der Videoaufzeichnung von 1986 bereits fünfzehn Jahre lang immer wieder aufgeführt hat, funktioniert das Konzept für das improvisierte Sprechen und Tanzen noch. Es scheint nicht durch ein routiniertes Abrufen von Erinnerungen zuvor Getanztes und dazu Gesprochenes abgelöst worden zu sein. Es ist zu sehen, dass sich Brown, anders als Willens, sehr konzentrieren muss und dass sich ihre Sprech- und Tanzbewegungen gegenseitig beeinflussen: Entweder beider Tempi gleichen sich an oder der eine Vorgang wird vom anderen verlangsamt oder sogar ganz angehalten.10 Während Brown die von Willens und Sehgal zitierten Daumendrehungen mit einer Schrittfolge von kleinen Sprüngen, Hüftschwüngen und präzisen Setzungen der nackten Füße kombiniert, spricht sie: »Start. Started. Starting to talk while doing this dance is like opening a fast loading washing machine while doing a load of typewriters.«11 Sie redet nicht fließend, sondern zögert immer wieder. Wenn sie mehrere Worte aneinanderreiht, pausieren ihre Bewegungen. Etwas außer Atem resümiert sie im späteren Verlauf ihr Erleben dieses Stückes: »I could not […] keep track of my dancing while talking and vice versa«.12 Die Erfahrung dieses Tanzens, das Improvisation und Choreographie kombiniert, beschreibt sie an anderer Stelle so: »If you are improvising with a structure your senses are heightened; you are using your wits, thinking, everything is working at once to find the best solution to a given problem under pressure of a viewing audience.«13 Ihre Frage nach der 9 10
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Ich beziehe mich auf das Video von Jonathan Demme aus dem Jahr 1986. Vgl. das Werkverzeichnis für weitere Details. Ich widerspreche mit dieser Beobachtung der Tanzwissenschaftlerin Elizabeth Dempster, die schreibt, dass Brown Sprechen und Tanzen als zwei simultane, aber unabhängige Texte präsentiere. Vgl. Dempster: »Women writing the body: let’s watch a little how she dances«, in: Alexandra Carter (Hg.): The Routledge Dance Studies Reader. London/New York 1998, S. 223-229, hier S. 228. Ich zitiere Brown in: Accumulation with Talking plus Watermotor, Video-Aufzeichnung, Regie: Jonathan Demme, https://www.youtube.com/watch?v=4ru_7sxvpY8 vom August 2020. Ebd. Brown: »Trisha Brown: Edited Transcript of an Interview with Trisha Brown«, S. 48.
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vertrauten Verbindung (»intimate connection«14 ) ihres Bewegens und Denkens, die ich ganz zu Beginn zitiert habe, ergänzt Brown um die Vermutung: »First of all, I don’t think my body doesn’t think.«15 Sie wendet sich damit gegen ein seit Langem vorherrschendes Verständnis von Denken als einem vom Körper unabhängigen und getrennten Vorgang, das sich mindestens bis zu René Descartes’ berühmt gewordener Unterscheidung »zwischen Seele und Körper [inter animam & corpus], bzw. zwischen einem denkenden und einem körperlichen Ding«16 zurückverfolgen lässt.
Denken im Tanz: Die verbreitete Vorstellung von Denken hinterfragen Nicht nur in den 1644 in Amsterdam erschienenen Principia philosophiae, auch in den 1641 in Paris veröffentlichten Meditationes de prima philosophia grenzt Descartes sein denkendes »Ich« von seinem Körper ab: »demnach bin ich genaugenommen nur ein denkendes Ding [res cogitans], das heißt: Geist [mens], bzw. Gemüt [animus], bzw. Verstand [intellectus], bzw. Vernunft [ratio]. […] Ich bin nicht das Gefüge jener Körperteile, das menschlicher Körper genannt wird.«17 Das an Descartes anschließende Denken des neuzeitlichen Subjekts, auf das ich im Verlauf dieser Arbeit noch ausführlich zurückkommen werde,18 mündet in einer bestimmten Vorstellung von Denken, deren Fragwürdigkeit für Trisha Brown zum Ausgangspunkt ihres Accumulation with Talking-Experiments wird. Diese Vorstellung von Denken spitzt der Philosoph und Kurator Daniel Tyradellis in seinen Dialogen mit Jean-Luc Nancy, die unter dem an Martin Heidegger anschließenden Titel Was heißt uns denken? 14 15 16 17
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Brown: »Trisha Brown«, in: Speaking of Dance, S. 64. Ebd. René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch–Deutsch. Übers. v. Christian Wohlers. Hamburg 2005, S. 14f. Descartes: Meditationes de prima philosophia. Übers. v. Christian Wohlers. Hamburg 2008, S. 52f. Allerdings bemerkt Descartes durchaus, dass dieses »Ich« den eigenen Körper anders wahrnimmt als andere Körper, sodass er sich nach der oben zitierten Argumentation der zweiten Meditation in der sechsten Meditation fragt, ob dieses »Ich« nicht irgendwie »aus Körper und Geist [corpore & mente] zusammengesetzt« sein müsse, auch wenn es sich um zwei gänzlich verschiedene Bereiche handele, da allein die Teile der »res cogitans« (»mens«, »animus«, »intellectus«, »ratio«) sich zu einer Einheit zusammenfügten, der Körper dagegen in seiner Ausgedehntheit und Bewegtheit teilbar sei. Ebd. S. 164, S. 172ff. sowie ders.: Die Prinzipien der Philosophie, S. 15ff. Vgl. dazu Nancy: Ego sum. Übers. v. Thomas Laugstien. Zürich/Berlin 2014, S. 121ff. Vgl. Kapitel 1.1.2 und 2.1.
Einleitung
veröffentlicht wurden, als das »populäre Bild des Denkers«19 zu, das er beschreibt als das Bild eines sitzenden oder langsam dahinschreitenden Menschen – und, wenn man ihn genau beim Wort nimmt, Mannes – der entweder schweige, vor sich hin spreche oder Notizen mache. Dieses Bild sei damit konnotiert, dass »Denken in erster Linie eine Sache des Kopfes sei, der die vom Rest des Körpers produzierten Signale weitgehend ausschalten möchte«.20 In Tyradellis’ Verweis auf mit dem Wort ›Denken‹ verbundene gemeinläufige Vorstellungen manifestiert sich, dass das Wort ›Denken‹, wie im Historischen Wörterbuch der Philosophie Claus von Bormann, Rainer Kuhlen und Ludger Oeign-Hanhoff erklären, kein »von der Philosophie geprägter Terminus […], sondern ein Grundwort auch der Umgangssprache, das auch schon in ihr in vielfachem Sinn gebraucht wird«,21 ist. Das gängige Verständnis von ›Denken‹ fasst der Philosoph Franz Josef Wetz so zusammen: »Meistens wird Denken als Auffassen und Zusammenfassen, als Verbinden, Trennen, Ordnen und Vergleichen, als Kombinieren und Problemlösen im weitesten Sinne verstanden, und die dabei angewandten Regeln und erkannten Gegenstände als vorgestellte oder gedachte Objekte ins Bewusstsein gestellt.«22 Hannah Arendt bündelt das gängige Verständnis besonders prägnant: ›Denken‹ stünde meist für eine »Fähigkeit des Schlußfolgerns«,23 also des Erkennens, des Bildens von Kausalketten und des Herstellens von Zusammenhängen, kurz »des Induzierens, Deduzierens und Schließens«.24 Diese ergebnisorientierte Erkenntnisproduktion ist es nicht, die ich hier als Denken im Tanz untersuche. Ausgehend von der von Nikolaus MüllerSchöll herausgearbeiteten These, dass »Theater ein Resonanzraum ist, in und
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Daniel Tyradellis, in: Jean-Luc Nancy/Tyradellis: Was heißt uns denken? Zürich/Berlin 2013, S. 13. Ebd. Claus von Bormann, Rainer Kuhlen und Ludger Oeign-Hanhoff: »Denken«, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2. Basel/Stuttgart 1972, Sp. 60102, hier Sp. 61. Franz Josef Wetz: »›Was heißt Denken?‹, ›Grundsätze des Denkens‹ und kleinere Schriften aus dem Umkreis. Denken zwischen Forschen und Hören«, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2013 [2], S. 240-247, hier S. 241. Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. München 2014 [14], S. 360. Ebd.
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nicht vor oder nach dem das Denken stattfindet«,25 geht es mir nicht darum, dass Gedanken, Theorien oder Konzepte in Tanz übersetzt werden oder überhaupt übersetzbar seien. Vom Denken im Tanz als einem »Denken auf der Bühne«26 zu schreiben, meint keine dem jeweiligen szenischen Vollzug vorausgehend festgehaltenen Gedanken oder im Anschluss daran gefasste Überlegungen, sondern »dass man hier keinen ›Inhalt‹ im überkommenen Sinne findet, nichts, was sich vom Vollzug der körperlichen und stimmlichen Bewegung auf einer Szene ablösen, in Gestalt von Thesen oder Theorie verselbständigt nach Hause tragen […] ließe.«27 Hans-Thies Lehmann bezeichnet das Theater als einen »Denkzeitraum«28 , um zu unterstreichen, dass »Theater von Anfang an immer auch eine Art von Denken auf und mit der Bühne ist, eine Art von Denken als szenische Praxis.«29 Mein Buch reagiert auf einige Stücke der gegenwärtigen Tanzpraxis, in denen ein von mehreren geteiltes Nachdenken und Mitdenken auf der Bühne zu sehen ist: Eine verantwortungsvolle Aufmerksamkeit der Tanzenden sowohl für das Aktualisieren einer in den Proben als Choreographie oder Score entwickelten Struktur als auch für die jeweilige Situation und die an ihr Beteiligten. Trisha Browns szenische Auseinandersetzungen mit ihrer Frage nach der Verbindung von Denken und Bewegen und das Andenken Tino Sehgals, Andrew Hardwidges, Frank Willens’ und Boris Charmatz’ daran habe ich als Einstieg deshalb gewählt, weil sie besonders deutlich fünf Aspekte versammeln, die für meine Untersuchung des Denkens im Tanz wichtig waren: Mit ihrem Konzept, die Frage danach, ob und wie ihr Denken und Bewegen miteinander verbunden seien, szenisch zu erforschen, indem sie während der Improvisation mit vorab kreierten Bewegungssequenzen ihre Gedanken formuliert und ausspricht, impliziert Trisha Brown, dass die Verbindung von Denken und Sprechen als unmittelbarer oder selbstverständlicher gelte als die erst zu überprüfende Verbindung von Denken und Bewegung. Sie versucht mit ihrer szenischen Arbeit sowie deren Diskursivierung dieses Verständnis 25
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Nikolaus Müller-Schöll: »Denken auf der Bühne. Derrida, Forsythe, Chétouane«, in: Hans-Joachim Lenger/Georg Christoph Tholen (Hg.): Mnema. Derrida zum Andenken, Bielefeld 2007, S. 187-207, hier S. 206. Ebd. S. 188. Ebd. Hans-Thies Lehmann: »Wissenschaft vom Theater als Denkzeitraum«, in: Cairo/Hannemann et al.: Episteme des Theaters, S. 29-40. Ebd. S. 39.
Einleitung
des Verbs ›denken‹ beziehungsweise ›to think‹ zu öffnen. Ihre Hinterfragung des häufig anzutreffenden Dualismus von Denken und Körper wird auch in diesem Buch eine große Rolle spielen: Inwiefern ist Denken am Tanzen und damit auch an den körperlichen Prozessen des Tanzens beteiligt? Browns Experiment verdeutlicht, dass es für so eine Situation nicht einleuchtet, eindeutige Trennlinien zwischen dem Sprechvorgang und dem Bewegungsvorgang zu ziehen. Ganz gleichzeitig passieren diese Vorgänge nicht; unabhängig voneinander aber auch nicht. Eher scheinen sie in einer komplexen Resonanz aufeinander einzuwirken. Ich vertrete die These, dass in solchen Situationen mehrere verschiedene Denkweisen gleichzeitig ablaufen können, ohne dass diese in den hier und im Folgenden besprochenen Tanzstücken klar voneinander abtrennbar wären. Denken im Tanz, den Titel dieses Buchs, meine ich also als einen Plural. Browns Anhäufen der einstudierten Gesten scheint genauso viel Aufmerksamkeit und Konzentration zu erfordern wie das Formulieren und Aussprechen einiger der von Brown währenddessen bemerkten Gedanken, Assoziationen und Befindlichkeiten. Äußerlich erkennbar sind davon aber nur die Störmomente und das, was Trisha Brown auszusprechen und zu tanzen entscheidet. Trisha Browns Sprechen kann Einblicke in während ihres Tanzens passierende Denkvorgänge geben, die den Zuschauer*innen solange Brown schweigt, verborgen bleiben. Zugleich zeigt Browns Suche nach Worten, dass sie ihre Denkvorgänge beziehungsweise Ausschnitte daraus erst sprechend auf Begriffe bringt. Das in Trisha Browns Accumulation-Stücken relevante Verhältnis der Choreographie im Sinne einer vorab festgelegten und einstudierten Bewegungsfolge zur Improvisation als einem vor der Aufführung nicht willentlich festgelegten Anteil daran werde ich in meiner Auseinandersetzung mit den verschiedenen untersuchten künstlerischen Positionen auch immer wieder thematisieren. Darüber hinaus zeigen schon Trisha Browns Arbeit selbst und noch mehr Tino Sehgals Verweis auf sie in seinem Abriss einer Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts, dass das Denken einzelner Tänzer*innen ebenso wie das Denken einzelner Zuschauer*innen sich nicht unabhängig von den geschichtlichen Zusammenhängen, in denen es passiert, betrachten lässt. Dass Trisha Brown im Kontext des Judson Dance Theaters in New York in den 1970er Jahren begann, darüber zu forschen, ob Denken nicht mehr mit dem Körper in Verbindung stehe als gemeinhin angenommen, war bedingt von einem nicht nur individuellen, sondern teilweise auch kollektivem Vorwissen und Mög-
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lichkeitsraum. Dass der Kunst Browns eine bestimmte Geschichte vorausgeht und sie selbst wiederum manche Kunst prägte, die nach ihr entstand, führt Sehgals Stück vor – als seine spezifische Historiographie. Was Denken heißt, kann ich hier also nicht allgemeingültig klären, sondern nur kontextspezifisch betrachten. So kann ich aber vielleicht darauf aufmerksam machen, dass es auch andere Denkweisen gibt als diejenige, die gemeinhin mit dem Wort ›Denken‹ konnotiert ist. Meine Position dabei ist aber kein neutrales Abseits, denn auch ich als Autorin dieser Arbeit bin ebenso von bestimmten Denkweisen geprägt wie die Künstler*innen, Philosoph*innen und Theoretiker*innen, über die ich schreibe. Zunächst geht es darum, das Verständnis von Denken genauer in den Blick zu nehmen, das auch Trisha Brown hinterfragt, wenn sie überprüft, ob das Denken mit ihren Bewegungen und ihrem Körper zu tun hat. Ich beginne also damit, das im Hintergrund der vielen vagen Spielarten des Wortes ›Denken‹ stehende Verständnis von Denken als Induzieren, Deduzieren und Schließen zu betrachten, um davon ausgehend auch zu verstehen, dass Denken etwas ist, in das nicht nur die hier vorkommenden Künstler*innen, sondern auch ich als Autorin uns immer schon verstrickt finden. Dass es verschiedene Weisen des Denkens gibt, thematisiert auch Jacques Derrida Ende der 1980er Jahre. In einem Gespräch mit den Filmwissenschaftlern Peter Brunette und David Willis unterscheidet er Denken in den Künsten von der logozentrischen Denkweise der Philosophie. Damit folgt er Martin Heideggers Unterscheidung zwischen Denken und Philosophie und dessen Verdeutlichung, dass das Denken stets geschichtlich bedingt ist.30 Derrida äußert sich wie folgt: »Das Denken wird durch die Philosophie nicht ausgeschöpft. Die Philosophie ist nur ein Modus des Denkens, und somit interessiert uns hier, in welchem Maße das Denken über die Philosophie hinausgeht. Dies setzt voraus, dass es praktische Künste des Raums gibt, die über die Philosophie hinausgehen, die dem philosophischen Logozentrismus widerstehen und die nicht einfach natürliche oder, wie es manche sagen würden, animalische Aktivitäten sind, die also nicht einfach von der Ordnung der unmittelbaren Bedürfnisse sind. An dieser Stelle ist es notwendig, darzulegen, dass es Denken gibt, etwas, das Sinn hervorbringt, ohne dass es der Ordnung des Sinns
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Vgl. Kapitel 1.1.5.
Einleitung
angehört, das über den philosophischen Diskurs hinausgeht und die Philosophie befragt, das potentiell eine Befragung der Philosophie beinhaltet, die über die Philosophie hinausgeht. Das soll nicht heißen, dass ein Maler oder ein Filmemacher die Mittel besitzt, die Philosophie zu befragen, sondern dass das, was sie oder er erschafft, der Träger von etwas ist, das von der Philosophie nicht beherrscht werden kann. Es gibt da also Denken. […] Es bezieht das Denken ein im Sinne des Gedächtnisses der Geschichte […]. Das soll freilich nicht bedeuten, dass die Künstler die Geschichte […] kennen müssen, sondern die Tatsache, dass sie etwas Neues einführen, dass sie eine Art Werk hervorbringen, das, sagen wir, zwanzig Jahre zuvor nicht möglich war, setzt voraus, dass in ihrem Werk das Gedächtnis der Geschichte […] nichtsdestoweniger aufgezeichnet und folglich gedeutet ist, dass sie gedacht ist. […] Demnach ist die Idee die, auf polemische Weise anzuzeigen, dass Denken in der Erfahrung des Werkes vonstattengeht, das heißt, dass das Denken darin inkorporiert ist – da ist eine Provokation des Denkens, die vom Werk herrührt, und diese Provokation des Denkens ist irreduzibel.«31 Im Gegensatz zu dem, was Derrida hier vor allem über Maler*innen und Filmemacher*innen sagt, verbindet die verschiedenen von mir diskutierten künstlerischen Ansätze, dass sie sich mit den geschichtlichen Kontexten des Theaters und des Tanzes, in denen sie stehen, beschäftigen – wie schon das Beispiel von Sehgals (ohne titel) (2000) gezeigt hat. Die geschichtlichen Einflüsse sind sowohl im Spiel, wenn sie durchgearbeitet, erinnert und interpretiert werden, als auch, wenn sie in die Arbeiten einfließen, ohne dass von den Künstler*innen versucht wird, sich dies bewusst werden zu lassen.32
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Derrida: »Die Künste des Raumes. Gespräch mit Peter Brunette und David Willis«, in: ders.: Denken, nicht zu sehen. Schriften zu den Künsten des Sichtbaren 1979-2004. Übers. v. Hans-Dieter Gondek/Markus Sedlaczek. Berlin 2017, S. 7-40, hier S. 28f. Vgl. dazu Müller-Schöll: »Denken auf der Bühne«, S. 206f. Zum Denken in den bildenden Künsten erschienen inzwischen u.a.: Christoph Menke: Die Kraft der Kunst. Frankfurt a.M. 2014 [3], insbes. S. 111-175; Dieter Mersch: Epistemologien des Ästhetischen. Zürich/Berlin 2015, insbes. S. 50-63 und Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003 [6]. Das wurde von Müller-Schöll im Anschluss an Derrida für das Denken des Theaters weiterverfolgt. Vgl. Müller-Schöll: »Wie denkt Theater? Zur Politik der Darstellung nach dem Fall«, in: Artur Pelka/Stefan Tigges (Hg.): Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945. Bielefeld 2011, S. 357-371, hier S. 357f.
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Zum Forschungsstand Die miteinander verknüpften Themen des szenischen und/oder körperlichen Denkens, Wissens und Forschens sind in der Tanzwissenschaft der letzten Jahre und Jahrzehnte viel diskutiert worden. Auf einen groben Überblick über diesen aktuellen Fachdiskurs werde ich mich hier beschränken. Fraglos lässt sich, blickt man weiter in die Tanz- und dann noch Theatergeschichte zurück, weit mehr Literatur zusammentragen. Einen Überblick über historische Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Tanz und Denken liefert Gerald Siegmund in einem Abschnitt seiner großen Monographie über den Begriff der »Abwesenheit«.33 Eine interdisziplinäre Zusammenstellung zum Verhältnis von Theater und Denken liefern Leon Gabriel und Nikolaus Müller-Schöll mit ihrer Anthologie Das Denken der Bühne, die sich unter anderem der Theatertheorie und -praxis Bertolt Brechts, Walter Benjamins Überlegungen dazu sowie dem Theater der Philosophie bei Jacques Derrida und Sam Weber widmet.34 Mit dem Tanz wurde das Denken seit den 1990er Jahren häufiger als vorher in Zusammenhang gebracht. Der Tänzer und Choreograph Xavier Le Roy erzählt in seinem Stück Product of Circumstances (1999) von der Zeit, in der er seine Karriere als Molekularbiologe beendet und begonnen habe, als Tänzer und Choreograph zu arbeiten: »Thinking became a corporeal experience.«35 Diese Erfahrung verhandelt Le Roy auch in der Veröffentlichung des Texts einer Lecture Performance, die er auf der Konferenz Moving thoughts – Tanzen ist Denken aufführte.36 Auf dieser Tagung, die Janine Schulze und Susanne Traub im Jahr 2000 in Leipzig veranstalteten, diskutierten Tanzwissenschaftler*innen (neben Traub und Schulze unter anderem Kerstin Evert, Friederike Lampert, Claudia Jeschke, Gerald Siegmund und Mårten Spångberg) und in
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Vgl. Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart. Bielefeld 2006, S. 49-58. Vgl. zu einem Überblick über die Parallelen, Grenzen und Verbindungslinien, die zwischen Theater auf der einen und Denken, Theorie und Philosophie auf der anderen Seite gezogen werden, Lehmann: »Wissenschaft vom Theater als Denkzeitraum«. Vgl. Leon Gabriel/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie. Bielefeld 2019. Xavier Le Roy: »Score for Product of Circumstances«, www.xavierleroy.com/page.php?id=63e83a12f776477d633187bdfbdb1c24c130da87&lg=en vom August 2020. Vgl. Le Roy: »Selbstinterview am 27.11.2000 (Performancetext)«, in: Janine Schulze/Susanne Traub (Hg.): Moving thoughts – Tanzen ist Denken. Leipzig 2003, S. 77-88.
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der freien Tanzszene tätige Künstler*innen (neben Le Roy unter anderem Jerôme Bel, Thomas Lehmen und Martin Nachbar) das Verhältnis von Tanz, Choreographie, Körper und Denken in verschiedenen Epochen der Tanzforschung (unter anderem in den Ansätzen Raoul Auger-Feuillets, Fritz Böhmes und Rudolf von Labans)37 sowie in den Produktionen von manchen der eingeladenen Künstler*innen selbst, aber beispielsweise auch von Merce Cunningham, Yvonne Rainer, William Forsythe und Tom Plischke.38 Die Tagung, die daraus entstandene Publikation und das sich insgesamt in dieser Zeit mehrende Interesse am Denken im Tanz reagierten auf diejenigen Tanzstücke, die häufig ›Konzepttanz‹ genannt werden. Diese Bezeichnung fand die Tanzkritik Ende der 1990er Jahre und sie wurde kontrovers diskutiert.39 Das möchte ich hier nicht aufrollen, aber festhalten, dass die Rede vom Konzepttanz eine stilistische oder geschichtliche Kohärenz konstruiert und nicht selten abwertend verwendet wurde, um zu bemängeln, dass in den besagten Stücken zu wenig getanzt werde – im Sinne einer eher traditionalistischen Vorstellung von Tanz.40 Doch die begriffliche Anlehnung an die Rede von der ›Konzeptkunst‹ im Bereich der bildenden Kunst ist nicht abwegig, weil Konzepttanz und Konzeptkunst nicht nur den Einsatz von Sprache und die Abwendung von Virtuosität und vermeintlicher Expressivität teilen, sondern auch die Verhandlung der eigenen Produktions- und Rezeptionsbedin37
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Vgl. insbes. Claudia Jeschke: »Bewegungen denken. Körperideologien und Tanzschriften zwischen 1900 und 1930«, in: Schulze/Traub: Moving thoughts – Tanzen ist Denken, S. 45-56 und Traub: »Eine kritische Position oder: Grenzziehungen in unseren Köpfen«, in: ebd. S. 133-139. Vgl. Kerstin Evert: »Moving thoughts. The mind is a muscle«, in: Schulze/Traub: Moving thoughts – Tanzen ist Denken, S. 35-44; Gerald Siegmund: »Mind the Gap, oder: Der Geist im Zwischenraum. Differenz und Wiederholung in Tom Plischkes Solotänzen«, in: ebd. S. 107-120. Vgl. Xavier Le Roy/Bojana Cvejić/Gerald Siegmund: »To end with judgement by way of clarification«, in: Martina Hochmuth/Krassimira Kruschkova/Georg Schöllhammer (Hg.): It takes place when it doesn’t. On dance and performance since 1989. Frankfurt a.M. 2006, S. 49-58; Siegmund: »Konzept ohne Tanz? Nachdenken über Körper und Choreographie im zeitgenössischen Tanz«, in: Reto Clavadetscher/Claudia Rosiny (Hg.): Zeitgenössischer Tanz. Körper – Konzepte – Kulturen. Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld 2007, S. 42-57 und Sabine Huschka: »Tanzen, um Gedanken zu folgen. Sabine Huschka sprach mit jungen Choreographen über Konzepttanz«, in: tanzjournal 2 (2004), S. 17-19. Mit Theodor W. Adorno formuliert, zeugt dieses Unbehagen von einer Auffassung von Kunst »als Naturschutzpark von Irrationalität […], aus dem der Gedanke draußen zu halten sei«. Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 2003, S. 499.
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gungen und -möglichkeiten sowie die Verhandlung der Definition von Kunst beziehungsweise Tanz.41 Das ist Tanz – Ceci est de la danse – heißt ein Buch von Pirkko Husemann, in dem sie, angeregt von Xavier LeRoys Lecture performances, Jérôme Bels Repräsentationskritik und Meg Stuarts Verfahren der Stillstellung und Unterbrechung neue Definitionen von Tanz und Choreographie entwickelt: Tanz sei als »Metatanz«,42 als »Tanz des Diskurses«43 aufzufassen; Choreographie nicht mehr als Komposition menschlich-körperlicher Bewegung, sondern als »Reflexionsprozeß«.44 Denkbewegungen als verkörpert, als tanzend und als choreographiert zu verstehen – dafür sprachen sich in verschiedenen zwischen 2008 und 2012 veröffentlichten Artikeln auch Una Bauer, Christina Thurner und Annemarie Matzke aus.45 Das erweiterte Tanzverständnis habe zu einem Anstieg der intellektuellen Anerkennung der Kunstform Tanz geführt, konstatierte schon 2005 Janine Schulze.46 In dieser Sichtweise liegt aber die Gefahr, in Gegenüberstellungen von Sinnlichkeit und Intelligibilität zu verbleiben: Wenngleich die Verwendung des Worts Konzepttanz oft Tanzstücke meint, deren Aufführungen eine diskursive Ebene beinhalten, passiert eben nicht allein eine Verschiebung von der körperlichen Bewegung zur Denkbewegung, sondern es geht gerade auch um die von Trisha Brown und Xavier Le Roy beobachtete »Erfahrung von Körperlichkeit und Bewegung des Denkens«.47 41 42 43 44 45
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Vgl. Sabeth Buchmann: »Conceptual Art«, in: Hubertus Butin (Hg.): DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln 2002, S. 49-53. Pirkko Husemann: Ceci est de la danse. Choreographien von Meg Stuart, Xavier Le Roy und Jérôme Bel. Norderstedt 2002, S. 95. Ebd. Ebd. S. 80. Vgl. Una Bauer: »The Movement of Embodied Thought«, in: Performance Research 13 (2008), S. 35-41; Christina Thurner: »Tanz in Gedanken. Zu reflexiven (Zwischen-)Räumen in choreographischen Projekten«, in: Nicole Haitzinger/Karin Fenböck (Hg.): Denkfiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden. München 2010, S. 260-267 und Annemarie Matzke: »Bühnen der Bewegung – zum Wechselverhältnis von wahrgenommener Bewegung und bewegter Wahrnehmung im Theater«, in: Isa Wortelkamp (Hg.): Bewegung lesen. Bewegung schreiben. Berlin 2012, S. 52-64, hier S. 56. Vgl. Janine Schulze: »Du musst dir ein Bildnis machen, oder: Tanzen ist Denken«, in: Johannes Birringer/Josephine Fenger (Hg.): Tanz im Kopf. Dance and Cognition. Münster 2005, S. 113-128, hier S. 113ff., S. 127. Husemann: Ceci est de la danse, S. 80. Mit einem Argument ähnlich dem oben entwickelten wandte sich Bojana Cvejić immer wieder gegen die begriffliche Anlehnung an die Konzeptkunst: Im Tanz sei anders als in der bildenden Kunst keine Unabhängigkeit des Konzepts von einem sinnlichen Träger angestrebt worden. Vgl. Cvejić, in: Le
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Um die intellektuelle Anerkennung der Kunstform Tanz geht es oft auch den Schriften, die sich mit der Frage nach dem Wissen im Tanz beschäftigen. Dieser Trend hängt mit einem Bemühen um die kultur- und wissenschaftspolitische Stärkung der Tanzwissenschaft und der Tanzinstitutionen in Deutschland zusammen.48 Ein »Begehren des Wissens im Tanz«49 regt sich aber, wie Jurgita Imbrasaite diskursanalytisch herausarbeitet, schon viel länger, und zwar seit der mit der Gründung der Académie royale de danse im 17. Jahrhundert einsetzenden Vereinheitlichung, Verbreitung, Institutionalisierung und Akademisierung des Balletts. Imbrasaites Tanzgeschichtsforschung führt vor Augen, dass die Ballettgeschichte selbst nicht etwa vom Bereich des Intelligiblen eher unabhängig verlaufen wäre, sondern selbst stark beeinflusst vom oben skizzierten gängigen Verständnis von Denken als Erkenntnisproduktion war. Dieses Verständnis von Denken oder einfach ein schwammiges Verständnis von Denken taucht häufig auch in den Debatten um die künstlerische Forschung und um die »Performance Philosophy«50 auf: So wichtig ich vieles, was in beiden Feldern erarbeitet wird, finde – oft irritiert mich der Eindruck,
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Roy/Cvejić/Siegmund: »To end with judgement by way of clarification«, S. 50. Cvejićs Meinung ist hinzuzufügen, dass auch im Konzeptualismus der bildenden Kunst jedes Konzept an seine spezifische Ausführung gebunden ist. Vgl. Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg 2013, S. 135ff. Vgl. Sabine Gehm/Pirkko Husemann/Katharina von Wilcke (Hg.): Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz. Bielefeld 2007 und Sabine Huschka (Hg.): Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen. Bielefeld 2009 sowie dies: »Zur Disposition eines verschwiegenen Wissens im Tanz oder: Die Kunst der Beziehungsstiftung«, in: wissenderkuenste.de 3 (2014). Entwurf/Modell, o.S. Vgl. Jurgita Imbrasaite: Die révolution im Tanz: Vom König zum modernen Subjekt. München 2018. Laura Cull: »Performance Philosophy – Staging a new field«, in: dies./Alice Lagaay (Hg.): Encounters in Performance Philosophy. Basingstoke 2014, S. 15-38. Mit kritischer Distanz betrachtet Esa Kirkkopelto die Behauptung des neuen Felds der Performance Philosophy: »For what do we need performance philosophy?«, in: Performance Philosophy 1 (2015), S. 4-6. Vgl. zu Bestandsaufnahmen der Debatte um künstlerische Forschung oder »artistic research«: Marijke Hoogenboom: »If artistic research is the answer – what is the question? Some notes on a new trend in art education«, in: Victoria Pérez Royo/José Antonio Sánchez (Hg.): Cairon 13. Journal of Dance Studies (2010). Practice and Research, S. 115-124; Heike Roms: »Künstlerisch-wissenschaftliche Forschung in den Ruinen der Universität? Performance als wissenschaftliche Veröffentlichungsform«, in: Sibylle Peters (Hg.): Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen
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dass hier die Worte ›Forschung‹, ›Philosophie‹, ›Wissen‹ und ›Denken‹ nicht genug definiert oder nicht stark genug voneinander differenziert werden.51 Der Wissenschaftstheoretiker Hans-Jörg Rheinberger hat wiederholt deutlich gemacht, dass Wissenschaft und Forschung nicht auf die Wissensproduktion reduziert werden sollten. Gerade im Diskurs über die künstlerische Forschung müssten sie eher als Suchbewegungen verstanden werden, die nicht auf das Finden von Erkenntnissen abzielen, sondern im In-Frage-stellen des vermeintlich Erkannten und Bekannten ihren Ausgang nehmen.52 Dass nicht genug beachtet wird, dass Denken nicht lediglich die ergebnisorientierte Erkenntnisproduktion meinen muss, ist auch das Manko eines weiteren in der Literatur über Tanz und Denken auszumachenden Themenfeldes: dem Versuch ein vermeintlich vorsprachliches Körperdenken als anderes, sinnliches Denken zu stärken gegenüber dem als theoretisch-begrifflich davon abgegrenzten verbreiteteren Denken.53 Der Dualismus von Sinnlichkeit und Intelligibilität wird damit allerdings fortgeschrieben und Körper werden zu einem »supplement«54 von Rationalität und Sprache gemacht – so argumentiere ich hier mit einer Beobachtung, die Gerald Siegmund in einem etwas anderen Kontext entwickelt.55 Gegen die Auffassung einer vorsprachlichen Naivität der nicht primär mit Worten arbeitenden Kunst (z.B.) wendet sich auch Jacques Derrida im oben erwähnten Interview über das Denken der
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Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013, S. 205-224 und Anke Haarmann: Artistic Research. Eine epistemologische Ästhetik. Bielefeld 2019. Vgl. zu den Überlappungen zwischen ›Denken‹, ›Wissen‹ und ›Forschung‹ bspw. den aus einer Konferenz in Berlin 2012 hervorgegangenen Sammelband von Gabriele Brandstetter/Gabriele Klein (Hg.): Dance (and) theory. Bielefeld 2013. Vgl. Hans-Jörg Rheinberger/Susanne Stemmler/Lucie Strecker: »›Denken mit den Händen.‹ Objektizität und Extimität im wissenschaftlichen Experiment«, in: Susanne Stemmler (Hg.): Wahrnehmung, Erfahrung, Experiment, Wissen. Objektivität und Subjektivität in den Künsten und Wissenschaften. Zürich/Berlin 2014, S. 45-52 sowie ders.: »Episteme zwischen Wissenschaft und Kunst«, in: Cairo/Hannemann et al.: Episteme des Theaters, S. 17-27. Diese Tendenz bemerke ich in: Miriam Fischer: Denken in Körpern: Grundlegung einer Philosophie des Tanzes. Freiburg u.a. 2010. Derrida: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger/Hanns Zischler. Frankfurt a.M. 1974, S. 244ff. Derrida erarbeitet den Begriff des supplements für einen als Gegensatz zur ›Kultur‹ konzipierten Begriff von ›Natur‹. Vgl. Siegmund: »To Be Or Not To Be: Towards a Theatre of Disidentification. Or The Body as Supplement«, in: Claudia Bosse/Theaterkombinat (Hg.): Struggling Bodies in Capitalist Societies (Democracies). Genf 2014, S. 8-16, hier S. 9.
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Künste. Zwar nennt er Tanz nicht explizit, aber er spricht so von den »Künsten des Raumes«,56 dass sich Tanz hierunter subsumieren lässt. Ein weiteres Themenfeld der Literatur zu Tanz und Denken wendet sich dem philosophischen oder theoretischen Hintergrund von Tanzstücken zu und attestiert diesen Stücken dann aufgrund dieses Hintergrunds die Notwendigkeit der (Rück-)Übersetzung in Begriffe, weil sich die Stücke nur noch mithilfe dieser verstehen ließen.57 Damit wird aber außer Acht gelassen, dass es ein Denken auf der Bühne gibt, das – wie Müller-Schöll gezeigt hat – gerade nicht von dieser ablösbar ist.58 Dass Tanzstücke Philosophien oder Theorien nicht einfach enthalten, sondern im Prozess der Proben und Aufführungen weiterdenken – als »a kind of thought, that they both arise from and give rise to«59 –, hat Bojana Cvejić für die künstlerischen Praktiken von Xavier Le Roy, Jonathan Burrows, Jan Ritsema, Boris Charmatz, Eszter Salamon, Mette Ingvartsen und Jefta van Dinther verfolgt. Ein weiteres Themenfeld in der Literatur zu Tanz und Denken: philosophische Auseinandersetzungen mit den Parallelen zwischen Tanzbewegung und
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Derrida: »Die Künste des Raumes«, S. 28. Mit der Verschiebung von visuellen oder bildenden Künsten zu Raumkünsten will Derrida die philosophiegeschichtliche Verknüpfung von Denken und Sehen aufbrechen, die sich in der etymologischen Verwandtschaft zwischen ›Theater‹ und ›Theorie‹ manifestiert. Derrida verfolgt Gemeinsamkeiten von Theater und Philosophie hinsichtlich ihrer Privilegierung des Optischen, der Präsenz und des Blicks v.a. in: ders./Daniel Mesguich: »Le sacrifice«, in: Daniel Mesguich: L’éternel éphémère, suivi de Le sacrifice de Daniel Mesguich et Jacques Derrida. Lagrasse 2006, S. 142-154, hier S. 143. Vgl. z.B.: Arnd Wesemann: »Um den Verstand getanzt. Editorial«, in: ballett-tanz 3 (2003), S. 5; ders.: »Warum Tanz verstehen? Und wie? Soll man dazu Bücher lesen?«, in: ebd. S. 36-37 und Franz Anton Cramer: »Wie darf ich Tanz verstehen?«, in: ebd. S. 28-31. Dass ästhetische Erfahrungen von einem solchen Telos des Verstehens nicht profitieren, hat Hans-Thies Lehmann entschieden vertreten: Mit der Erinnerung daran, dass die Bühne »stets ein Ort war, an dem der Schiffsbruch des Verstehens erfahren wird«, argumentiert er gegen die Schließung, die die zu starke Konzentration auf das Verstehen von Kunst nach sich ziehen könne. Lehmann: »Ästhetik. Eine Kolumne. Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 5 (1994), S. 426-431, hier S. 430. Vgl. Müller-Schöll: »Denken auf der Bühne. Derrida, Forsythe, Chétouane«, S. 206. Cvejić: Choreographing Problems. Expressive Concepts in Contemporary Dance and Performance. Basingstoke/New York 2015, S. 1. Eine ähnliche Richtung verfolgt Petra Sabisch: Choreographing Relations. Practical Philosophy and Contemporary Choreography in the works of Antonia Baehr, Gilles Deleuze, Juan Dominguez, Félix Guattari, Xavier LeRoy and Eszter Salamon. München 2011.
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Denkbewegung. Die in der Tanzwissenschaft unter anderem von Pirkko Husemann, Janine Schulze, Christina Thurner und Susanne Traub hergestellte, schon von mir angesprochene Gemeinsamkeit, die Tanzen und Denken darin haben, dass beides Bewegungen sind, findet sich auch in der Philosophie. Hier wurde sie vor allem von Alain Badiou berühmt gemacht. Er schlägt in einem Kapitel seines Petit Manuel d’inesthétique vor, den Tanz als »Metapher für das Denken (comme métaphore de la pensée)«60 aufzufassen. Ausgehend von Friedrich Nietzsches Veranschaulichung eines schwerelosen Denkens durch den Tanz in Also sprach Zarathustra61 sowie von Stephane Mallarmés Schriften über den nicht referentiellen Tanz des frühen 20. Jahrhunderts,62 entwickelt Badiou eine Betrachtung von »Tanz, wie er bei der Philosophie Schutz und Aufnahme findet«.63 Die Notwendigkeit der philosophischen Inobhutnahme des Tanzes begründet Badiou nicht genauer; seine Untersuchung mündet in einer Vereinnahmung der Tanzkunst zu einer, wie es sich am besten mit Bernhard Waldenfels bezeichnen lässt, »Bewegungssymbolik«.64 Badious Ausbreitungen über den Tanz als unbedingte, sich selbst hervorbringende, virtuose, schnelle und von Musik begleitete Bewegung dienen ihm dazu, über die ereignishafte, nicht fixierbare Dimension des Denkens zu schreiben,65 was dann 60 61
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Alain Badiou: Kleines Handbuch zur In-Ästhetik. Übers. v. Karin Schreiner. Wien 2001, S. 79. Vgl. Friedrich Nietzsche: »Das Tanzlied«, »Vom Geist der Schwere«, »Das andere Tanzlied«, alle in: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 4, Also sprach Zarathustra. München 1999, S. 139-141, S. 241-245, S. 282-286 und Gisela Röller/Rudolf zur Lippe (Hg.): Tanz als Form des Denkens. Friedrich Nietzsches Denken jenseits von Schluß und Dialektik. Lüneburg 2001. Vgl. Stephane Mallarmé: »Ballets«, »Autre Étude de Danse« und »Mimique«, alle übers. v. Hans-Walter Schmidt/Gabriele Brandstetter et al., in: Gabriele Brandstetter/Brygida Maria Ochaim: Loïe Fuller. Tanz, Licht-Spiel, Art Nouveau. Freiburg 1989, S. 202-213, S. 214219, S. 218-223. Badiou: Kleines Handbuch zur In-Ästhetik, S. 86. Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2010, S. 224. In der Tanzwissenschaft ist Badiou wegen seines verallgemeinernden Blicks auf den Tanz häufig kritisiert worden. Exemplarisch sei dazu auf Bojana Cvejićs Position verwiesen. Vgl. dies.: »Introduction«, in: Anne Teresa De Keersmaeker/Bojana Cvejić: A choreographer’s score. Fase, Rosas danst Rosas, Elena’s Aria, Bartók. Brüssel 2012, S. 7-20, hier S. 7f. Cvejić kritisiert Ansätze wie den Badious, um sich für eine »›dance-philosophy‹ […] as a kind of thought which arises within the material practice of dancing« auszusprechen. Dies.: »From odd encounters to a prospective confluence: Dance-Philosophy«, in: Performance Philosophy 1 (2015), S. 7-23, hier S. 18.
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enttäuschend ist, wenn die Leser*innen sich von diesem Text mehr erwarten als eine recht klischeehafte Darstellung des Tanzes, die als Metapher funktioniert, nicht aber, um sich mit Tanz auseinanderzusetzen. Schließlich beschäftigt sich noch ein Themenfeld der Literatur zu Tanz und Denken damit, dass sich neurowissenschaftlich ein Zusammenhang zwischen Denk- und Tanzbewegung beweisen lässt.66 Die Artikel darüber erörtern den Nachvollzug der Tanzbewegung im Gehirn der Zuschauenden. Dabei würden motorische Bereiche des Gehirns aktiviert und lediglich der Impuls zur Bewegung unterdrückt; beim Sehen von Tanzen liefen also ähnliche neuronale Prozesse wie beim Tanzen selbst ab. Fraglich bleibt allerdings, ob sich das Beobachten von Bewegungen in einer Aufführung von der Beobachtung von Bewegungen in einer beliebigen anderen Situation unterscheidet, und wenn ja, wie. Ich verfolge in diesem Buch die Frage nach dem Denken im Tanz mithilfe philosophischer Beschäftigungen mit dem Denken, die nahezu durchweg ansprechen, dass die Bemühungen neurowissenschaftlicher Forschung, das Denken zu vermessen, kaum darüber hinausreichen können, mittels ihrer Datenerhebungen festzustellen, dass in bestimmten Situationen etwas in bestimmten Gehirnregionen stattfindet: »Das Wiegen kann das Denken niemals erfassen. Es kann dieses für eine Maßeinheit vorschlagen, kann aber dessen Gewicht selbst nicht wiegen. Auch kann das Wiegen das Denken nicht berühren. Es kann einige Gramm Muskeln und Neuronen anzeigen, aber den unendlichen Sprung nicht aufzeichnen, dessen Ort oder Stütze sie sind, oder der sich in ihnen einschreibt. […] Fraglos erfahren wir alle das Gewicht des Denkens. […] Aber die Erfahrung bleibt Grenze, wie jede Erfahrung, die diesen Namen verdient.«67
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Vgl. z.B. Ivar Hagendoorn: »Einige methodologische Bemerkungen zu einer künftigen Neurokritik des Tanzes«, in: Birringer/Fenger: Tanz im Kopf, S. 223-240 und Anke Euler/Wolf Singer: »Tanzen wie die Neuronen« in: ballett-tanz 4 (2009), S. 54-59. Jean-Luc Nancy: Das Gewicht eines Denkens. Übers. v. Cordula Unewisse. Düsseldorf 1991, S. 18. Vgl. dazu Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 8, Was heißt Denken? Frankfurt a.M. 2002, S. 45 und Hannah Arendt: The Life of the Mind, Bd. 1, Thinking. New York u.a. 1981, S. 61/Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. Übers. v. Hermann Vetter. München/Zürich 2013 [6], S. 61. Die Texte, die von Arendt weder auf Deutsch verfasst noch als Übersetzungen von ihr autorisiert wurden, zitiere ich aus dem englischsprachigen Original, da in den verschiedenen Übersetzungen ins Deutsche Arendts Begriffe nicht einheitlich übersetzt sind. Zusätzlich verweise ich aber auf die deutschen Übersetzungen, sofern vorhanden.
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Zu Methode und Aufbau dieses Buchs Meine Arbeit geht der Frage nach dem Denken im Tanz ausgehend von und in Rückführung zu vier Choreographien nach: der Hommage an das Zaudern von Laurent Chétouane mit Jan Burkhardt, Joris Camelin und Rémy Héritier; dem Solo with Jack von Philipp Gehmacher mit Jack Hauser; den Soli von Ioannis Mandafounis, Mikael Marklund und Roberta Mosca nach einer Idee von Laurent Chétouane und der Arbeit In Act and Thought nach einem Konzept von Fabrice Mazliah mit Tänzer*innen der ehemaligen Forsythe Company, namentlich Cyril Baldy, Katja Cheraneva, Frances Chiaverini, Josh Johnson, David Kern, Tilman O’Donnell, Natalia Rodina, Jone San Martin, Yasutake Shimaji, Ildikó Tóth und Liz Waterhouse. Wie diese Auflistung deutlich macht, greift der Untertitel: »Choreographien von Laurent Chétouane, Philipp Gehmacher und Fabrice Mazliah« eigentlich zu kurz, denn dieses Buch handelt genauso sehr von den auftretenden und an den Choreographien mitarbeitenden Tänzer*innen und weiteren Akteur*innen wie von den drei Choreograph*innen. Dass der Buchtitel Denken im Tanz als Plural zu lesen ist, meint auch, dass ich Denken in den verschiedenen hier besprochenen Stücken als die vielen einzelnen Denkvorgänge der jeweils Tanzenden, die unterschiedlich miteinander in Resonanz treten, untersuche. Außerdem werde ich mich damit beschäftigen, wie Denken in den unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen auf verschiedene Art und Weise zu beobachten ist und wie es von den Künstler*innen unterschiedlich verstanden und thematisiert wird. Dabei nutze ich nicht nur meine Erinnerungen an die besuchten Aufführungen der vier Stücke und die von den Choreographen und ihren Teams zur Verfügung gestellten Videoaufzeichnungen, sondern auch von Chétouane, Gehmacher und einigen Tänzer*innen der Forsythe Company gegebene Interviews und geschriebene Texte, in denen sie ihre Arbeitsweisen erläutern – und sich dabei alle auf den Anteil des Denkens daran beziehen. Außerdem verwende ich dort, wo es um die Arbeit Fabrice Mazliahs und der Forsythe Company geht, die Veröffentlichungen Gerald Siegmunds und Kerstin Everts über William Forsythes Produktionen mit seiner Compagnie und davor mit dem Ballett Frankfurt. Die vier Tanzstücke, die den Korpus meiner Analysen bilden, habe ich deshalb in dieser Zusammenstellung ausgewählt, weil die in den gerade erwähnten Essays und Interviews erörterten Fragen nach dem Verhältnis von Denken, Körper, Choreographie und Tanz in ihnen auch szenisch verhandelt werden.
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Eingeflossen sind in meine Forschung außerdem wichtige praktische Erfahrungen: An vier Choreographien Laurent Chétouanes war ich selbst als Dramaturgin beteiligt: Sacré Sacre du Printemps (2012), M!M (2013), 15 Variationen über das Offene (2013) und zuletzt BACH/PASSION/JOHANNES (2014). Darüber hinaus nahm ich an verschiedenen Workshops teil, in denen Philipp Gehmacher sowie Ildikó Tóth und Nik Haffner von der Forsythe Company jeweils Einblicke in ihre Bewegungsarbeit vermittelten. Die im zweiten bis fünften Kapitel meines Buchs – »Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern. Vorstellendes und vernehmendes Denken«, »Philipp Gehmachers Solo with Jack. Denkendes Innehalten des In-Bewegung-Seins«, »Ioannis Mandafounis’, Mikael Marklunds und Roberta Moscas Soli nach einer Idee von Laurent Chétouane. Dezentrales Choreographieren« und »In Act and Thought von Fabrice Mazliah mit Tänzer*innen der Forsythe Company. Vom Denken und Handeln« – auf das Denken im Tanz befragten künstlerischen Arbeiten bilden Ausgangspunkt, Fluchtpunkt und Hintergrund des gesamten ersten Kapitels »Was heißt Denken?«. Das Buch ist also entweder in zwei Teile – einen Teil über philosophische Ansätze über das Denken und einen über die künstlerischen Arbeiten – oder aber in fünf Kapitel gegliedert – eine philosophische Annäherung an das Denken und vier Kapitel über das Denken in vier verschiedenen künstlerischen Ansätzen. Die Entscheidung, die philosophischen und die künstlerischen Ansätze so voneinander zu trennen, ergab sich in Abwendung von meinem anfänglichen Vorhaben aus der Erkenntnis, dass in Bezug auf die hier verhandelte Frage nach dem Denken im Tanz weder den philosophischen Texten noch den künstlerischen Positionen in einer sie direkt miteinander verknüpfenden Darstellung gerecht zu werden war. Und doch steht keines der Kapitel für sich, sondern nimmt immer schon auf die anderen Bezug; vor allem greift die Betrachtung und Darstellung des Denkens in den künstlerischen Arbeiten auf den ersten Hauptteil zurück, welcher wiederum ohne die ständige Überprüfung an der künsterlischen Praxis und die ständige Herausforderung und Verunsicherung durch diese nicht in dieser Darstellung und Zusammenstellung entstanden wäre. Zum Inhalt der einzelnen Kapitel liefern nun die letzten Seiten dieser Einleitung eine kurze Vorschau: Im ersten Teil des ersten Kapitels vollziehe ich zu Beginn Martin Heideggers Unterscheidung des Denkens vom Wissen, von der Wissenschaft und von der Philosophie nach. Heidegger erläutert, dass das meist unter dem Wort ›Denken‹ verstandene, auf die Produktion von Erkenntnissen ausgerichtete logische Schlussfolgern lediglich ein bestimmtes Verständnis von Denken ist.
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Er zeichnet eine Linie von der aristotelischen und platonischen Philosophie bis zum die Welt von einem von dieser vermeintlich unabhängigen eigenen Standpunkt aus berechnen und beherrschen wollenden neuzeitlichen Subjekt, das verkennt, dass es immer schon von einer bestimmten Denkweise beeinflusst ist. Heidegger entwickelt, in einem Rückblick auf die antike griechische Philosophie vor Platon und Aristoteles sowie in einem Rückgriff auf das von ihm schon in Sein und Zeit herausgearbeitete »In-der-Welt-sein«68 eines »Dasein[s]«,69 ein rezeptives, die Phänomene nicht unter präexistente Begriffe subsumierendes Vernehmen als eine Art Gegenentwurf zum Denken des neuzeitlichen Subjekts, das sich die Welt als »Vorstellung«70 gegenüberstelle und diese auf sich beziehe. Wie ich zeigen will, schlägt sich das von Heidegger diagnostizierte dualistisch organisierte Denken des neuzeitlichen Subjekts auch in einem Verständnis der Bühne, des Körpers und der Bewegung nieder – und somit letztendlich auch darin, dass lange Zeit angenommen wurde, dass zwischen Denken und Körper keine Verbindung bestünde. Heidegger selbst streift das Verhältnis des Denkens zum Körper beziehungsweise Leib nur am Rande. Es lässt sich aus seinen Schriften aber doch deutlich zusammentragen, dass er nicht nur die Position vertritt, dass das Denken mit den Sinneswahrnehmungen stets verflochten ist, sondern auch, dass diese ebenso wie die Erscheinungen des Körpers vom Denken in seinen je geschichtlichen Prägungen beeinflusst sind. Die Denkweise der metaphysischen Tradition ist für Heidegger von einer Vergessenheit der Differenz zwischen Sein und Seiendem bestimmt: Sie begründe und erkläre das Anwesende und Gegenwärtige allein aus dem Anwesenden und Gegenwärtigen und vergesse dessen Unterschied zu einem weitestgehend verborgen bleibenden, sich entziehenden Sein, das sich in Heideggers Darstellung nur in je bestimmten Prägungen zeige. Auch wenn Heidegger diese Entwicklung an keiner Stelle ausdrücklich mit dem Theater oder dem Tanz in Verbindung bringt, legt seine Wortwahl dies, wie sich im Verlauf des Kapitels in einer Reihe von Zitaten zeigen wird, immer wieder geradezu offensichtlich nahe. Unmissverständlich zeigt sich
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Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 2, Sein und Zeit. Frankfurt a.M. 1977, S. 71. Ebd. S. 16. Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 5, Holzwege. Frankfurt a.M. 1977, S. 75-113, hier S. 80.
Einleitung
dies an einer Stelle, an der Heidegger erklärt, wie das Seiende sich als wechselweise Ent- und Verborgenes zeige beziehungsweise lichte: »Die offene Stelle inmitten des Seienden, die Lichtung, ist niemals eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang, auf der sich das Spiel des Seienden abspielt. […] Unverborgenheit des Seienden, das ist nie ein nur vorhandener Zustand, sondern ein Geschehnis.«71 Die von Heidegger mit dieser Figur der Lichtung skizzierte Betrachtung der Phänomene als Spiel von Anwesenheiten oder Erscheinungen, das stets von Abwesenheiten durchzogen ist, findet Eingang in die Theorien der von mir in ihren Anschlüssen an Heidegger rezipierten Philosophen, nämlich Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy, Hannah Arendt und, in seiner Arbeit über Bewegung und Tanz, Bernhard Waldenfels. Letzterer hat Derridas Schriften dahingehend als eine »marginale Phänomenologie«72 bezeichnet, die die Reinheit des Sinns, das zentrierte Menschensubjekt, die Kontinuität von Geschichte und die Ganzheit einer einzigen Vernunft in Frage stelle – was sich, wie sich im Folgenden zeigen wird, auf die hier noch aufgerufenen Betrachtungen des Denkens übertragen lässt. Waldenfels führt aus: »Die Abwesenheit in der Anwesenheit, dieser zeitliche Aufschub und diese zeitliche Verschiebung, die Derrida différance nennt, hat zur Folge, daß sich das, was sich zeigt, zugleich nicht zeigt. […] Es geht dabei nicht um die Ersetzung der Phänomene durch anderes […], sondern um Verschiebungen innerhalb der Phänomenalität der Phänomene selbst, um eine Durchsetzung des Sichtbaren mit Unsichtbarem und Unerhörtem, um ständige Möglichkeiten eines Anderssehens, dessen Andersheit nicht mehr eidetisch, transzendental oder hermeneutisch einzuholen ist.«73 Das Denken, so entwickelt Heidegger, könne das Erkennen dieser Differenz von Sein und Seiendem und der jeweiligen geschichtlichen Prägungen zwar
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Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 5, Holzwege. Frankfurt a.M. 1977, S. 1-74, hier S. 41. Bernhard Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. München 1992, S. 131. Ebd. S. 132. Waldenfels bezieht sich in seiner Einordnung der ins Wanken geratenden Phänomenologie in den 60er Jahren insbes. auf Jacques Derridas Vortrag »Les fins de l’homme« aus dem Jahr 1968. Vgl. Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie, S. 130 und Derrida: »Fines hominis«, übers. v. Henriette Beese, in: ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S. 119-142, hier S. 138f.
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Denken im Tanz
nicht willentlich herbeiführen, aber eine sich für dessen Zeigen offene Haltung des gelassenen Wartens üben. Heideggers Versuch, dem Denken im Sinne der vermeintlich souveränen und autonomen Ausübung eines Denkvermögens zu entkommen, geht mit der Entwicklung eines Verständnisses von Raum, Zeit und Bewegung einher, die diese nicht als vom Menschen messbare, steuerbare und beherrschbare Parameter auffasst.74 Wie ich im zweiten Teil des Buchs in der Betrachtung der vier künstlerischen Arbeiten sowie der Äußerungen der Künstler*innen selbst zeige, beschreiben und zeigen sie auf unterschiedliche Art und Weise eine Arbeit an einer Haltung der »Gelassenheit«75 zu ihrem Bewegen und Mit-anderen-auf-der-Bühne-Sein oder -Erscheinen. Heidegger schreibt dem Denken einerseits eine enorme Verantwortung zu, scheitert selbst jedoch daran, dass er zwar einige Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, so beispielsweise die Atombombe, auf die neuzeitliche Ausprägung des Denkens zurückführt, nicht aber die Katastrophe der Schoah, die sich sozusagen zeitgleich zu seiner beginnenden Umdeutung des Denkens ereignete. Damit, dass Heidegger dem ausgewichen ist, wie Hannah Arendt es formulierte,76 beschäftigt sich das fünfte Unterkapitel zum Denken bei Heidegger. Vom Anteil des Reaktionären und des »Archi-Faschismus«77 (wie Philippe Lacoue-Labarthe es treffend genannt hat) von Heideggers »rückwärtsgewandten Projektionen«78 (wie Jacques Derrida sie bezeichnet hat), die, wie Jean-Luc Nancy beschrieben hat, auf eine »im Grunde sehr konformistische und mythologisierende Weise«79 ein »›Schicksal‹ des Abendlandes aus einer einzigartigen, ausschließlichen, exklusiven, ja sogar exterminierenden Herkunft«80 entwerfen, distanziere ich mich entschieden. 74
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Vgl. dazu Jörn Etzold in Laurent Chétouane: »Ich habe die Wände lange gebraucht, jetzt nicht mehr. Gespräch mit Jörn Etzold«, in: Etzold/Moritz Hannemann (Hg.): Rhythmos. Formen des Unbeständigen nach Hölderin. Paderborn 2016, S. 305-316, hier S. 310. Vgl. Heidegger: »Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 13, Aus der Erfahrung des Denkens. Frankfurt a.M. 1983, S. 37-74. Vgl. Hannah Arendt: »Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt«, in: dies.: Menschen in finsteren Zeiten. München 1989 [2], S. 172-184, hier S. 353 (Endnote). Philippe Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik. Übers. v. Thomas Schestag. Stuttgart 1990, S. 155. Derrida: Chōra. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 1990, S. 17. Nancy: »Heidegger und wir«, übers. v. Alexandru Bulucz, http://faustkultur.de/1908-0Nancy-Heidegger-und-wir.html#.VtATuccaFd3 vom August 2020. Ebd.
Einleitung
Neben der deutlichen Kritik an Heidegger durch die gerade erwähnten Autor*innen – Hannah Arendt, Philippe Lacoue-Labarthe, Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy – ist aber auch zu verfolgen, wie diese das heideggersche Erbe angreifen und aufgreifen, umarbeiten, vertiefen und erweitern. Gemein ist ihnen dabei ein Anknüpfen an Heideggers Destruktion der abendländischen Philosophietradition, das sie kombinieren mit dem Herausarbeiten eines von Heidegger zwar deutlich betonten und trotzdem nicht ganz ausgeführten Aspekts: der »ursprüngliche[n] Ethik«81 des Denkens oder der »Aufgabe des Denkens«.82 Um die drei Ansätze Derridas, Nancys und Arendts geht es im zweiten großen Kapitel – »Ganz anders und umso mehr denken« – des ersten Hauptteils. Als erstes verdeutlichen mehrere Heidegger-Lektüren Jacques Derridas, wie dieser sich daranmacht, die Annahmen einer Ursprünglichkeit, einer geschichtlichen Kohärenz und eines Sinns oder einer Wahrheit, die von Heidegger zwar nicht vertreten werden, aber doch immer wieder in seiner Philosophie mitschwingen, zu zerlegen. Ein Fortsetzen der heideggerschen Destruktion der metaphysischen Tradition, das auch bei Derrida nicht in der Annahme geschieht, sich völlig von dieser Tradition freisprechen zu können. Das anschließende Unterkapitel konzentriert sich auf die von JeanLuc Nancy in mehreren Büchern, Aufsätzen und Vorträgen ausgeführten Verhandlungen, die sich, sozusagen mit den derridaschen Dekonstruktionen Heideggers im Gepäck, dem heideggerschen Dasein als »Mitsein mit Anderen«83 und als In-der-Welt-sein zuwenden. In einer Verknüpfung der heideggerschen Philosophie vor und nach Heideggers sogenannter »Kehre«84 demonstriert Nancy, was für den Tanz von besonderer Bedeutung ist: Dass sich eine jede in sich plurale Singularität in ihren körperlichen Verräumlichungen immer schon gemeinsam mit anderen solcher körperlichen Verräumlichungen – menschlichen und nichtmenschlichen – auf der Welt befindet und dass das Denken dieser gemeinsam geteilten und doch nie einheitlichen, grundlosen Exponiertheit in doppelter Hinsicht antworten könnte – im Sinne einer Rezeptivität wie im Sinne einer Verantwortung.
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Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 9, Wegmarken. Frankfurt a.M. 1976, S. 313-364, hier S. 356. Heidegger: »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 14, Zur Sache des Denkens. Frankfurt a.M. 2007, S. 67-90. Heidegger: Sein und Zeit, S. 118. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 328.
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Daran schließt das dritte Unterkapitel mit der von Hannah Arendt etwa 40 bis 50 Jahre vor Nancys Thematisierung des »Mit«85 der »singulär-pluralen Ko-Existenz[en]«86 entwickelten Theorie der »Pluralität«87 an. Ausgehend von der Einzigartigkeit jedes und jeder Einzelnen in der Pluralität der Welt, wendet sich Arendts politische Theorie des Denkens nach Heideggers Entsubjektivierung des Denkens dem Denken des oder der Einzelnen zu und betrachtet es sowohl hinsichtlich seines Abstands zur mit anderen geteilten Welt als auch hinsichtlich der Frage, ob das Denken ein schlafwandlerisches Mitlaufen oder Funktionieren verhindern könnte, ohne diesem das Fundament einer autonomen und souveränen Entität zugrunde zu legen. Dieses Selbstdenken (wobei ich die Rede vom ›Selbst‹ mit Arendt in Frage stelle) der einzelnen Tanzenden habe ich in den analysierten Stücken immer wieder beobachtet. Wie ich im zweiten Hauptteil des Buchs ausführlicher beschreibe, ließ sich immer wieder erkennen, dass die Tanzenden nicht bloß etwas vor den Aufführungen Einstudiertes ausführen ohne mitzudenken. Dieses Mitdenken scheint mir auch Trisha Brown mit ihrer zu Beginn dieses Buchs zitierten Formulierung, ihrem Tanzen oder ihrem Sprechen auf der Spur zu sein, zu meinen: »keep track of my dancing while talking and vice versa«.88 Darüber hinaus macht Arendt, die als Einzige der hier herangezogenen Autor*innen thematisiert, wie das Denken einer Person anderen erscheine, eine für dieses Buch äußerst relevante Beobachtung: Sie arbeitet heraus, dass das Denken einer Person ihre zeitweilige Abwesenheit (im Sinne der Rede von einer Geistesabwesenheit) von dem bedeuten kann, in was die Person gerade involviert ist – und für andere nur als solche, womöglich, erscheint. Besonders deutlich hat Gerald Siegmund aus einer Betrachtung von Choreographien unter anderem Philipp Gehmachers, William Forsythes, Meg Stuarts, Jérôme Bels und Xavier Le Roys herausgearbeitet, inwiefern in der vermeintlichen Präsenz oder Gegenwärtigkeit einer Aufführung immer schon »Leerstellen«89 im Spiel sind. Ein Anteil der je bei einer Person passierenden je spezifischen Denkvorgänge bleibt also in deren »Unsichtbarkeit«,90 wie Hannah Arendt es nennt, oder »Immaterialität«91 wie Jean-Luc Nancy schreibt, verborgen, und 85 86 87 88 89 90 91
Nancy: Singulär plural sein. Übers. v. Ulrich Müller-Schöll. Berlin 2004, S. 21. Ebd. Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, S. 17. Brown in: Accumulation with Talking plus Watermotor. Vgl. Siegmund: Abwesenheit, S. 10. Arendt: Thinking, S. 69/Vom Leben des Geistes, S. 75. Nancy: Das Gewicht eines Denkens, S. 18.
Einleitung
doch gibt sich Denken auch in der »Materialisierung eines Denkens«,92 als die Philipp Gehmacher eine jede künstlerische Arbeit versteht, zu sehen. Zum Abschluss vom ersten Hauptteil des Buchs verfolge ich den von Heidegger, Nancy und Arendt hervorgehobenen Aspekt der Bewegung des Denkens. Dabei diskutiere ich erst, dass Arendt die Frage nach der Mitteilbarkeit und Teilbarkeit des Denkens aufwirft und dass Heideggers Umdeutung des Denkens von einem anderen Verständnis von Bewegung als dem eines selbstbestimmten Sich-Bewegens begleitet wird. Im Anschluss daran behandle ich, vor allem in einer Lektüre dreier Texte Paul Valérys, Giorgio Agambens und Bernhard Waldenfels’, die jeweils Denken und Tanzen miteinander in Verbindung bringen, die (im obigen Überblick über die Themenfelder der Literatur zu Tanz und Denken bereits erwähnte) etwaige Verwandtschaft, Ähnlichkeit oder Parallele von Tanz und Denken als zwei Tätigkeiten oder Zuständen der Bewegung. Ohne Denken und Tanzen einander gleichzusetzen, auch ohne Bewegung als das Gegenteil von Ruhe oder Stillstand zu verstehen, möchte ich dabei lediglich verhandeln, dass Denkbewegungen ebenso wie Tanzbewegungen stets in etwas ihnen Vorausgehendes und sie erst Ermöglichendes eingebettet und zugleich stets mit den jeweilig Denkenden oder Tanzenden verknüpft sind und sich in der sich daraus womöglich ergebenden Kombination von Widerfahrnis und Eingriff mit Bernhard Waldenfels vielleicht beide als »Bewegungsereignisse«93 bezeichnen ließen. Den zweiten Hauptteil des Buchs bilden die Kapitel 2 bis 5. In ihnen greife ich auf das zuvor Entwickelte immer wieder zurück. Doch die Tanzstücke und Texte der Künstler*innen stellen auch Ergänzungen der zuvor versammelten philosophischen Positionen dar. Vor allem aber gilt in diesem zweiten Hauptteil ein Primat der künstlerischen Praxis. Es soll also – so weit möglich – vermieden werden, die zuvor dargestellten Theorien des Denkens auf diese aufzupfropfen oder zu einer möglichst kohärenten Darstellung des Denkens im Tanz zu gelangen, um den Preis, den einzelnen Arbeiten ihre jeweilige Einzigartigkeit zu nehmen. Das heißt, jeder der vier Versuche, diese Stücke und die sich in ihnen manifestierenden künstlerischen Positionen in Bezug auf die Frage nach dem Denken im Tanz zu untersuchen, wird auch Diskrepanzen zu den anderen Teilen der Arbeit enthalten. Außerdem kann es hier
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Philipp Gehmacher: »Dem Denken eine Form geben«, in: Walter Heun/Krassimira Kruschkova et al. (Hg.): Scores 10 (2013), S. 3-5, hier S. 5. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 213.
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nicht darum gehen, Behauptungen über das Denken der einzelnen Tanzenden aufzustellen – wie Trisha Browns Accumulation with Talking plus Watermotor und Derridas Interview über das Denken der Künste gezeigt haben, gibt sich Denken zwar in bestimmten Spielarten zu sehen; das Denken einer einzelnen Person in seinen je spezifischen Abläufen aber, bleibt mir als Zuschauerin unzugänglich. Vor allem widme ich mich also den Erscheinungen des Denkens in den vier Stücken und führe diese mit den vorliegenden Erklärungen der Künstler*innen selbst zusammen. Das Stück Hommage an das Zaudern des ausgebildeten Sprechtheaterregisseurs Laurent Chétouane, der sich seit etwa 2007 mehr und mehr dem zeitgenössischen Tanz zugewendet hat, untersuche ich als eine Auseinandersetzung mit der Komposition von Bewegung. Dass am Anfang des Stücks die Organisation von Körpern und Bühne im Ballett erinnert wird, beleuchte ich genauer in Bezug auf das Denken des neuzeitlichen Subjekts im Ballett, um im Anschluss daran betrachten zu können, wie die beiden Tänzer Joris Camelin und Rémy Héritier offenbar versuchen, ein anderes Denken zuzulassen: ein Vernehmen der Situation der Aufführung und besonders des Tanzpartners, aus dem sich ein nur in Abhängigkeit voneinander mögliches Verfertigen der vorab entwickelten Choreographie ergibt. Im dritten Kapitel beschäftige ich mich mit Philipp Gehmachers Stück Solo with Jack und mit Gehmachers diskursiver Aufarbeitung seiner idiosynkratischen Bewegungssprache. Gehmacher beschreibt sein Denken selbst als Innehalten oder Unterbrechung seines »In-Bewegung-Seins«.94 In seinem Solo with Jack tritt Gehmacher in Begleitung des bildenden Künstlers Jack Hauser auf und lässt die Erfahrung seiner Begegnungen mit den Erscheinungen und Empfindungen des eigenen Körpers in seiner unermesslichen und uneinholbaren Fremdheit teilweise sichtbar werden. In den Soli von Ioannis Mandafounis, Mikael Marklund und Roberta Mosca, von denen das vierte Kapitel handelt, überlagern und verflechten sich die drei Soli ebenso wie deren vorab festgelegte Bewegungsabläufe und das Improvisieren miteinander. Wenn die drei Tanzenden spontan aufeinander reagieren, gehen ihren weiteren Bewegungen Momente des Aufeinander-Achtens und Innehaltens voraus, aus denen sich das Stück dann weiterentwickelt. Erarbeitet haben Mandafounis, Marklund und Mosca die Soli gemeinsam mit Laurent Chétouane. Im zweiten Teil dieses Kapitels er-
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Gehmacher: »Dem Denken eine Form geben«, S. 4.
Einleitung
örtere ich das von ihm in Interviews und Texten erläuterte choreographische Verfahren. Die hier anklingende Entwicklung eigener Methoden des Findens und Kombinierens von Bewegungen spielt im fünften und letzten Kapitel eine besonders große Rolle. Sie bildet sozusagen den Hintergrund der von Fabrice Mazliah gemeinsam mit einigen seiner ehemaligen Kolleg*innen der Forsythe Company kreierten Ensemble-Arbeit, die angekündigt wurde mit der Frage: »Wenn Sie sich mit den Tänzer*innen während der Vorstellung unterhalten könnten, was würden Sie von Ihnen erfahren über das, was sie gerade tun oder was mit ihnen getan wird?«95 Die szenische Antwort auf diese Frage ist eine so einfache wie komplexe Studie. Sie eröffnet ein Spiel der Differenzen zwischen einer Vielzahl von Denk-, Sprech- und Tanzbewegungen, die nie komplett ineinander aufgehen – was durch den humorvollen Einbau von fiktiven Beschreibungen affirmiert wird.
95
Abendzettel: In Act and Thought, PACT Zollverein, 6./7.11.2015, S. 1.
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1. Was heißt Denken?
»Die Frage, ›Was heißt Denken?‹ läßt sich niemals dadurch beantworten, daß wir eine Begriffsbestimmung über das Denken, eine Definition, vorlegen und deren Inhalt fleißig ausbreiten.«1 Dass den Personen auf der Bühne das Denken lange Zeit abgesprochen wurde, ist darauf zurückzuführen, dass Denken gemeinhin als ein begrifflich identifizierender, logisch argumentierender, ergebnisorientierter, theoretischer und nahezu körperloser Vorgang definiert wird. Diese Definition von Denken ist aber nicht unendlich gültig, sondern gehört einer spezifischen geschichtlichen Situation an. Martin Heidegger hat dieses Verständnis von Denken als das Denken des neuzeitlichen Subjekts charakterisiert. Im Rahmen seines Versuchs, die metaphysische Philosophie so weit zu verarbeiten und sich dadurch von ihr zu befreien wie möglich, entwirft er eine Umdeutung des Denkens zum »Denken des Seins«.2 Darauf werde ich hier zurückgreifen, um dem Verständnis von Denken, das die von mir untersuchten Positionen der gegenwärtigen Tanzpraxis zeigen oder thematisieren, nahezukommen. Im Durchgang durch eine Reihe von Veröffentlichungen aus Heideggers Spätwerk wird sich jedoch zeigen, dass seine Philosophie ebenso viele Probleme oder zumindest offene Fragen aufwirft, wie sie mir hilft, ein weniger bestimmendes als sinnendes, fragendes Denken zu entwickeln. Heideggers seinsgeschichtlichen Antisemitismus werde ich innerhalb des Kapitels zu Heidegger selbst problematisieren. Außerdem bleibt zu behandeln, dass Heidegger, in seinem Ansinnen, ohne die metaphysischen Setzungen auszukommen, selbst Gefahr läuft, von der Einheit eines Urprinzips auszugehen: vom Sein in seiner undenkbaren Differenz zum Seienden. Im Anschluss an den ersten Teil dieses Kapitels – »Martin Heideggers Umdeutung des Denkens« – 1 2
Heidegger: Was heißt Denken?, S. 22f. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 316.
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Denken im Tanz
werde ich deshalb im zweiten Teil – »Ganz anders und umso mehr denken« – darlegen, wie Jacques Derrida die Vernunftkritik Heideggers, die erst nach ihm mit dem Stichwort »Logozentrismus«3 aufgerufen und weiterentwickelt werden wird, nicht fortführte, ohne sich mit den Aporien oder sogar dem Scheitern dieses Projekts auseinanderzusetzen, und wie Jean-Luc Nancy, ausgehend von nicht besonders hervorgehobenen Elementen der Gemeinschaft bei Heidegger, dessen Fokussierung auf das Sein zu einer Fokussierung auf die gemeinsame und doch nie einheitliche »Miterscheinung«4 verschiebt. Zuletzt zeige ich auf, wie Hannah Arendt, ausgehend von ihrem Konzept der »Pluralität«,5 die Verpflichtung des Denkens des oder der Einzelnen gegenüber der mit anderen Menschen geteilten Welt untersucht und dabei zwei für die Untersuchung des Denkens im Tanz wichtige Beobachtungen macht: dass Denken stets in einer Pluralität geschieht und dass Denken als Abwesenheit und Unterbrechung erscheint. Abschließend verfolge ich im dritten Unterkapitel – »Tanzen und Denken« – Heideggers, Nancys und Arendts Beschreibungen von Denken als Bewegung, um auf einen Bereich philosophischer Schriften Bezug zu nehmen, der von Friedrich Nietzsche über Paul Valéry bis zu Giorgio Agamben das Tanzen und das Denken miteinander in Verbindung bringt.
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Doris Feldmann/Hannah Jacobmeyer: »Logozentrismus«, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2013 [5], S. 469. Nancy: Singulär plural sein, S. 96. Arendt: Vita activa, S. 17.
1 Was heißt Denken?
1.1.
Martin Heideggers Umdeutung des Denkens »1. Das Denken führt zu keinem Wissen wie die Wissenschaften. 2. Das Denken bringt keine nutzbare Lebensweisheit. 3. Das Denken löst keine Welträtsel. 4. Das Denken verleiht unmittelbar keine Kräfte zum Handeln.«6
1.1.1.
Wie nicht logozentrisch denken? Heideggers Unterscheidung des Denkens von Wissenschaft und Philosophie
In Heideggers Texten spielt die Thematik und Rede vom Denken erst ungefähr seit der von ihm selbst als »Kehre«7 inszenierten Umorientierung eine wesentliche Rolle. Mit der schriftlich erstmals 1947 im Brief über den »Humanismus« erklärten Wendung vom fundamentalontologischen zum »seinsgeschichtlichen«8 Ansatz – »nicht mehr vom Menschen zum Sein, sondern vom Sein zum Menschen«9 – ordnet Heidegger, obgleich er immer auf einer Kontinuität der Wege und Gänge seiner Arbeit bestand, auch die sich auf die Wahrheit des Seins besinnende »Fundamentalontologie«10 des 1927 erschienenen Buchs Sein und Zeit dem Subjektivismus der Metaphysik zu. Besonders prägnant hebt er das Denken in den Vorlesungen Was heißt Denken? von 1951 und 1952 und im ebenfalls 1952 veröffentlichten gleichnamigen Aufsatz hervor. Die Frage »Was heißt Denken?«11 zielt nicht auf eine Definition, sondern steht für Heideggers Besinnen auf das Geheiß, das Sein in seiner Differenz 6 7
8 9 10 11
Heidegger: Was heißt Denken?, S. 165. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 328. Vgl. auch Heidegger: »Die Kehre«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 11, Identität und Differenz. Frankfurt a.M. 2006, S. 113-124. Zwischen der Zeit der Kehre (in den Jahren 1936 bis 1940) und ihrer späteren Deutung und Inszenierung durch Heidegger unterscheidet Hannah Arendt nachvollziehbar. Sie verortet die Wendung in Heideggers Philosophie zwischen seinen beiden NietzscheVorlesungen. Zunächst habe sich Heidegger in erster Linie gegen den von Nietzsche benannten Willen zur Macht des modernen Subjekts gewandt; später erst, nach der ersten Erwähnung der Kehre im Humanismusbrief, habe Heidegger sie aus seiner veränderten Auffassung der gesamten Geschichte von den Griechen bis zur Gegenwart als Neudeutung der Beziehung zwischen dem Sein und dem Menschen erklärt. Vgl. Arendt: The Life of the Mind, Bd. 2, Willing. New York u.a. 1981. S. 172f., S. 186/Vom Leben des Geistes, S. 400, S. 413. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 327. Nancy: Singulär plural sein, S. 156. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 357. Heidegger: »Was heißt Denken?«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7, Vorträge und Aufsätze. Frankfurt a.M. 2000, S. 127-143.
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zum Seienden zu denken. Später in diesem Kapitel gehe ich genauer darauf ein, wie Heidegger das Sein nicht mehr aus dem menschlichen Verstehen konzipiert, sondern, in Abgrenzung vom menschlichen Willen, als »eine Art ›anonyme Macht‹, die das Denken und Handeln bestimmt«.12 Entgegen der möglichen Erwartung, dass sich hinter dem Titel »Was heißt Denken?« eine Abhandlung über das Denken verberge, will Heidegger seine Arbeit vom Denken über das Denken gerade unterscheiden. Die Reflexion, »die das Denken zu ihrem Gegenstand«13 mache, habe sich als philosophische Disziplin der Logik, als die »Wissenschaft vom Denken, die Lehre von den Regeln des Denkens und den Formen des Gedachten«14 verbreitet. Etymologisch betrachtet, bezeichne das Wort ›Logik‹ die Wissenschaft vom lógos. Mit Wort und Rede werde lógos wahrscheinlich deshalb in Verbindung gebracht, weil das erste von zwei Fragmenten Heraklits zum lógos das Hören des lógos erwähne. Bei genauem Lesen stelle sich jedoch heraus, dass dieses Hören weniger als auditives Erfassen denn als höriges oder gehorchendes Vernehmen zu interpretieren sei. Die Logik sei also auf ein weitreichendes Missverständnis des lógos als Aussage oder »Verlautbarung«15 des Denkens, des Verstands und der Vernunft zurückzuführen. Dieses Missverständnis habe zur »Herrschaft des Denkens als ratio (als Verstand sowohl wie als Vernunft)«16 geführt sowie dazu, dass die Philosophie nicht nur als »etwas Rationales«,17 sondern als »die eigentliche Verwalterin der ratio«18 gelte. In der zur Logik gewordenen Philosophie ist nach Heidegger nicht nur der Anfang der neuzeitlichen Wissenschaften, sondern auch der Beginn der Expansion eines europäischen Denkens in den letzten etwa zweitausendfünfhundert Jahren zu sehen:
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Dirk Mende: »Brief über den ›Humanismus‹. Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie«, in: Thomä: Heidegger-Handbuch, S. 216-226, hier S. 217. Heidegger: Was heißt Denken?, S. 23. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 40, Einführung in die Metaphysik. Frankfurt a.M. 1983, S. 128. Heidegger: »Logos (Heraklit, Fragment 50)«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7, Vorträge und Aufsätze, S. 211-234, hier S. 233. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 187. Eigentlich meine lógos im antiken Griechenland vielmehr die »offenbarmachende Sammlung«, in der das Sein sich zeige. Ebd. S. 179. Heidegger: »Was ist das – die Philosophie?« in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 11, Identität und Differenz. Frankfurt a.M. 2006, S. 3-26, hier S. 8. Ebd.
1 Was heißt Denken?
»[D]as Abendland und Europa, und nur sie, sind in ihrem innersten Geschichtsgang ursprünglich ›philosophisch‹. Weil sie dem innersten abendländisch-europäischen Geschichtsgang, nämlich dem philosophischen entstammen, deshalb sind sie heute imstande, der Geschichte der Menschen auf der ganzen Erde die spezifische Prägung zu geben.«19 Dieser »Geschichtsgang« ist mit Heidegger nicht als Fortschrittsgeschichte zu betrachten: zwar unterscheide sich die neuzeitliche Wissenschaft in ihren Voraussetzungen und Methoden sowie ihrer Institutionalisierung von der ́ ē,20 doch auch diese »momittelalterlichen doctrina sowie der antiken epistēm derne[…] Wissenschaft, die als europäische inzwischen planetarisch geworden ist«,21 sei verwurzelt in der seit Sokrates und Platon als ›Philosophie‹ definierten Frage nach dem Seienden (und nicht nach dem Sein).22 Vom Entstehen der Disziplinen in der Schule Platons an sei das Denken zur Philosophie, die Philosophie zur Wissenschaft und die Wissenschaft zu einer »Sache der Schule und des Schulbetriebes«23 verkommen. Diese Entwicklung führt Heidegger darauf zurück, dass seit Platon und Aristoteles eine »technische[…] Interpretation«24 des Denkens vorherrsche: Denken wurde dadurch »τέχνη [téchne, Anm. L.O.], das Verfahren des Überlegens im Dienste des Tuns und Machens. Das Überlegen aber wird hier schon aus dem Hinblick auf πραξις [praxis, Anm. L.O.] und ποίησις [poiesis, Anm. L.O.] gesehen. Deshalb ist das Denken, wenn es für sich genommen wird, nicht ›praktisch‹. Die Kennzeichnung des Denkens als θεωρία [theoría, Anm. L.O.] und die Bestimmung des Erkennens als des ›theoretischen‹ Verhaltens geschieht schon innerhalb der ›technischen‹ Auslegung des Denkens. Sie ist ein reaktiver Versuch, auch das Denken noch in eine Eigenständigkeit gegenüber dem Handeln und Tun zu retten.«25 Infolge der Technisierung des Denkens sei die sogenannte Philosophie (Heidegger setzt sie hier in Anführungszeichen) gegenüber den sogenannten Wis19 20 21 22 23 24 25
Heidegger: »Was ist das – die Philosophie?«, S. 10. Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, S. 76f. sowie 83ff. Heidegger: »Wissenschaft und Besinnung« in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7, Vorträge und Aufsätze. Frankfurt a.M. 2000, S. 37-65, hier S. 41. Vgl. Heidegger: »Was ist das – die Philosophie?«, S. 15. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 354. Ebd. S. 314. Ebd.
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senschaften (ebenfalls in Anführungszeichen) in Bedrängnis geraten und versuche, ihre Existenz dadurch zu rechtfertigen, dass sie sich selbst als eine Wissenschaft behaupte.Mit dem Bemühen um Geltung als Wissenschaft gebe die Philosophie aus Furcht vor dem Mangel namens Unwissenschaftlichkeit das Wesen des Denkens, das eigentliche Denken, preis. Dies resultiere in der philosophischen Disziplin der Logik. Nun denke man nicht mehr, sondern beschäftige sich mit der Philosophie.26 Als Teil des herrschenden Denkens verurteilt Heidegger auch die praktizierte Philosophie als Missverständnis dessen, was Philosophie eigentlich sein könnte. Genau genommen nicht mal nur als Missverständnis, sondern als deren Ende, als »die legitime Vollendung der Philosophie«.27 Seine eigenen Erörterungen distanziert Heidegger von der Wissenschaftlichkeit. Gerade dann, wenn in ihnen ein Denken stattfinden sollte, hätten sie nichts mit den an den Universitäten praktizierten Wissenschaften und Philosophien zu tun. Weniger, weil sie aufgrund ihres Verzichts auf das Be- und Nachrechnen sichergestellter Beweise unwissenschaftlich seien, sondern vor allem deshalb, weil Wissenschaft ja gar nicht dächte: »Sie denkt nicht, weil sie nach der Art ihres Vorgehens und ihrer Hilfsmittel niemals denken kann – denken nämlich nach der Weise der Denker.«28 Diese Denker sind für Heidegger den Dichtern verwandt und neben Friedrich Hölderlin und Friedrich Nietzsche – dem denkenden Dichter und dem dichtenden Denker – für ihn vor allem unter den frühen, d.h. vorsokratischen griechischen Philosophen zu finden.29 Dass die Wissenschaft zum Denken nicht in der Lage sei, sei im neuzeitlichen Wissenschaftsbetrieb aber »kein Mangel, sondern ein Vorzug. Er allein sichere ihr die Möglichkeit, sich nach Art der Forschung auf ein jeweiliges Gegenstandsgebiet einzulassen und sich darin anzusiedeln.«30 Wie auch die zeitgenössische Kunst sei die Wissenschaft Teil des eifrigen Kulturbetriebes. Denken verflache darin zur »τέχνη, als Instrument der Ausbildung und darum als Schulbetrieb und später als Kulturbetrieb«.31
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Vgl. ebd. S. 314ff. Heidegger: »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, S. 72. Heidegger: »Was heißt Denken?«, S. 133. Vgl. Heidegger: »Wissenschaft und Besinnung«, S. 41. Ich bemühe mich um eine gendersensible Sprache. Nur verzichte ich darauf bei der Wiedergabe bestimmter Autor*innen und historischer Zusammenhänge, um diese nicht zu verfälschen. Heidegger: »Was heißt Denken?«, S. 133f. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 317.
1 Was heißt Denken?
Anstatt sich auf die anfängliche Philosophie zurückzubesinnen, würden die sich vermehrenden Einzelwissenschaften von einer »neuen Grundwissenschaft bestimmt und gesteuert […], die Kybernetik heißt«.32 Alles, was in der Konstruktion der Wissenschaften noch daran erinnere, dass sie von der Philosophie her komme, würde nun »nach den Regeln der Wissenschaft, d.h. technisch«33 gedeutet. Wir befänden uns »im Zeitalter der wissenschaftlichen Technik«,34 diagnostiziert Heidegger. Dadurch sei die Philosophie der »Sache des Denkens«35 nicht gewachsen und hinter ihren ursprünglichen Anspruch zurückgefallen: »Das Ende der Philosophie zeigt sich als der Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt«.36 In der Herausforderung, »sich auf das Planen und Berechnen von allem zu verlegen«,37 würden die Wissenschaften und Wissenschaftler die Technik als einzelne menschengemachte und von Menschen bedienbare Instrumente verkennen und dabei nicht merken, wie sehr sie selbst von der Gesamtheit der technischen Mittel gelenkt und geprägt werden. Je mehr die Technik die Welt und die Stellung des Menschen in dieser bedinge, desto mehr werde dies zur unmerklichen Selbstverständlichkeit. Die fasst Heidegger mit dem Wort »Gestell«38 zusammen, welches er weniger mit einem Gerät als mit einem Skelett konnotiert. Wie die Wissenschaften selbst ge-stellt werden, ist ihnen unzugänglich: »die Wissenschaften sind außerstande, mit den Mitteln ihrer Theorie und durch die Verfahrensweisen der Theorie jemals sich selber als Wissenschaften vor-zustellen«.39
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Heidegger: »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, S. 72. Ebd. Heidegger: »Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens«, in: ders.: Denkerfahrungen 1910-1976. Frankfurt a.M. 1983, S. 135-149, hier S. 135. Heidegger: »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 11, Identität und Differenz, S. 51-79, hier S. 51. Heidegger: »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, S. 74. Heidegger: »Der Satz der Identität«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 11, Identität und Differenz, S. 31-50, hier S. 43f. Heidegger: »Die Frage nach der Technik«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7, Vorträge und Aufsätze, S. 5-36, hier S. 20. Heidegger: »Wissenschaft und Besinnung«, S. 60.
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1.1.2.
Das Denken des neuzeitlichen Subjekts und das Vernehmen des Daseins
»›Das‹ Denken gibt es ohnehin nirgends. Wenn wir das Denken als ein allgemeines menschliches Vermögen vorstellen, dann wird es zu einem phantastischen Gebilde. Berufen wir uns jedoch darauf, daß in unserem Zeitalter überall auf der Erde eine gleichförmige Denkweise zur weltgeschichtlichen Herrschaft gelange, dann müssen wir gleichentschieden im Blick behalten, daß dieses gleichförmige Denken nur die eingeebnete und nutzbar gemachte Form jener geschichtlichen Gestalt des Denkens ist, das wir das abendländisch-europäische nennen, dessen geschickhafte Einzigartigkeit wir kaum erst erfahren und selten genug wahrhaben wollen.«40 Der neuzeitliche Subjektivismus hängt untrennbar mit dem, was Heidegger als »geläufiges Denken«41 oder »bisherige[s] Denken«42 einstuft, zusammen. Heidegger führt diesen Subjektivismus auf den menschlichen Anspruch auf eine stabile Gewissheit zurück. Diesen Anspruch demonstriert besonders deutlich die Philosophie von René Descartes. Mit der logischen Argumentation »Ich denke, also bin ich« (»ego cogito, ergo sum«)43 klopft Descartes, allen Zweifeln an der Existenz der Bewusstseinsgehalte zum Trotz, eine solipsistische Selbstgewissheit fest. Das in Zweifel gezogene Wahrgenommene kann er damit zum Außen einer unbedingten und unerschütterlichen Innerlichkeit erklären – wobei diese Innerlichkeit sich nur auf das Bewusstsein (»res cogitans«44 ) beschränkt. Schon der eigene Körper ist in seiner Materialität für Descartes nicht gewiss, sondern »res extensa, non cogitans«:45 ein ausgedehntes Ding, nicht denkend. Alle Wahrnehmung ist von nun an von dieser Feststellung: »Ich denke, also bin ich« unterlegt. Heidegger schreibt: »Das Gewisse ist ein Satz, der aussagt, daß gleichzeitig (zugleich und gleich dauernd) mit dem Denken des Menschen er selbst unbezweifelbar mit anwesend, d.h. jetzt: sich mitgegeben sei«.46 Er weist darauf hin, dass das Wort ›Subjekt‹ über das lateinische 40 41 42 43 44 45 46
Heidegger: »Grundsätze des Denkens«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 11, Identität und Differenz, S. 125-140, hier S. 139. Ebd. S. 132. Heidegger: »Was heißt Denken?«, S. 140f. Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, S. 14. Descartes: Meditationes de prima philosophia, S. 52f. Ebd. S. 158. Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, S. 108.
1 Was heißt Denken?
subjectum auf das griechische ὑποκείμενον (hypokeimenon) zurückzuführen sei: »das Vor-Liegende, das als Grund alles auf sich sammelt«.47 Deshalb bezeichnet er die von Descartes nach den Regeln der Logik analysierte Art zu denken als vor-stellen: »von sich her etwas vor sich hin stellen und das Gestellte als ein solches sicherstellen.«48 Mitvorgestellt sei darin immer der vorstellende Mensch selbst, der seine Umgebung nur in Relation zum eigenen Selbst als Zentrum und Maßgabe erfasse: »Vor-stellen bedeutet hier: das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden, zu beziehen und in diesem Bezug zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzwingen.«49 Das Gedachte wird damit als Gegen-stand im Denken repräsentiert, wobei der Mensch sich aber selbst »in die Szene«50 und »als die Szene«51 des Vor-gestellten setzt, zum Repräsentant des Seienden wird. Um dem Subjekt neben der grundlegenden Selbstgewissheit auch die Gewissheit des vorgestellten Objekts zu gewährleisten, werde es zu berechnen, zu er- und begreifen versucht. Mit »rechnen«52 meint Heidegger hier nicht allein den mathematischen Umgang mit Zahlen, sondern auch und darüber hinaus ein Operieren nach einem bestimmten Kalkül und mit den gegebenen Umständen, bei dem nichts Unerwartetes zutage treten kann. Dieses Verfügen vom eigenen Standpunkt aus über das Seiende versuche, alles ins Phantasma des Gesamtbilds einzuordnen. Darin manifestiere sich eine »völlig neue Stellung des Menschen in der Welt und zur Welt«.53 Wie sich in Heideggers Wortwahl andeutet, schlägt sich diese Stellung des Menschen in der Welt und zur Welt in der neuzeitlichen Tradition von Theater und Tanz nieder. Heidegger hat dieses Thema allerdings nie weiterverfolgt. Ich werde dem in dieser Arbeit jedoch im Kapitel über Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern ausführlicher nachgehen: Zwar entspricht es der Denkweise des neuzeitlichen Subjekts, das Denken nicht auf der Bühne – geschweige denn im Tanz – zu verorten, trotzdem ist die Inszenierung von
47 48 49 50 51 52 53
Ebd. S. 88. Ebd. S. 108. Ebd. S. 91. Ebd. Ebd. Heidegger: »Gelassenheit«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 16, Reden und andere Zeugnisse eines Lebenswegs. Frankfurt a.M. 2000, S. 517-529, hier S. 519. Ebd. S. 523.
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Körpern, Tanzbewegungen und Bühnenraum von dieser Denkweise geprägt. Das will ich an der Choreographie-Lehre des frühen Balletts zeigen.54 Über das subjektzentrierte Denken führt Heidegger weiter aus: Denken sei hier nicht nur Re-präsentation, sondern auch Re-flexion – die Zurückbeugung des in der Vorstellung Präsentierten auf das Subjekt.55 Jedes Verhältnis zum Seienden – das Wollen, das Stellungnehmen, das Empfinden werde mit Descartes cogitans, d.h. »denkend«.56 Zu einem wirklichen Denken über das Denken aber, also einer Reflexion der Reflexion, sei erst die hegelsche Dialektik gelangt: »Durch die Dialektik gewinnt das Denken jenen Bezirk, innerhalb dessen es sich selbst vollständig denken kann. […] Innerhalb dieser Dimension der Dialektik wird auf eine begründende Weise offenbar, daß und wie zum Denken nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit gehört, sich selbst zu denken, sich in sich zu spiegeln, zu reflektieren.«57 Mit dieser Entwicklung wuchs der mit dieser Art von Denken verbundene Rationalitäts- und Fortschrittsglaube. Heidegger sieht in der Dialektik die Überwindung der philosophischen Logik, da die Dialektik den Satz des Widerspruchs vernichtet habe, »um den Widerspruch als Gesetz der Wirklichkeit des Wirklichen zu retten«.58 Während die Logik den Widerspruch noch eliminieren wollte, müsse dieser stattdessen »als Grundzug alles Wirklichen gerade zur Geltung gebracht werden«.59 (Dagegen ist einzuwenden, dass die Dialektik den Widerspruch als Widerspruch ebenfalls aufhebt, indem sie es schafft, ihn zu integrieren.60 ) Im dialektisch-idealistischen Denken erkennt Heidegger die wesentliche Denktradition der Metaphysikgeschichte: ein »Denken in der Gestalt des transzendental-horizontalen Vorstellens«.61 Dies ist zum einen so gemeint wie die Redensart vom ›beschränkten Horizont‹: der Horizont übertreffe das Aussehen der Gegenstände. Zum anderen überhole die Transzendenz ihre Wahrnehmung.
54 55 56 57 58 59 60 61
Vgl. Kapitel 2. Vgl. Heidegger: »Was heißt Denken?«, S. 142f. Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, S. 108. Heidegger: »Grundsätze des Denkens«, S. 131. Ebd. S. 133. Ebd. Vgl. Derrida: Chōra, S. 29. Heidegger: »Zur Erörterung der Gelassenheit«, S. 44.
1 Was heißt Denken?
Für Heidegger löst der »zum voraus«62 gesetzte Bezug auf das Ich denke die Philosophie von dem, was ist, von dem »Boden, auf dem wir leben und sterben«,63 und verliert sich nach der solipsistischen Erkenntniskritik in den Disziplinen der Anthropologie sowie im Humanismus. Diesen kritisiert Heidegger, weil er allein »vom Menschen aus und auf den Menschen zu das Seiende im Ganzen erklärt und abschätzt«.64 Heidegger entwickelt dagegen ein nicht minder problematisches Verständnis des Worts ›Humanismus‹, das den Menschen nicht »von der animalitas her«,65 sondern »zu seiner humanitas hin«66 und somit nicht als ein Lebewesen unter anderen, sondern als ein über allen und allem Seienden stehendes Lebewesen betrachtet. Heidegger versucht, gegen den distanziert-kalkulierenden Blick des neuzeitlichen Subjekts auf die Welt eine Haltung des Interesses zu entwerfen: »Interesse heißt: unter und zwischen den Sachen sein, mitten in einer Sache stehen und bei ihr ausharren.«67 Die Abwendung von der Philosophie des neuzeitlichen Solipsismus verbindet Heideggers Arbeit vor und nach der von ihm selbst markierten Wendung der Kehre miteinander: Heidegger ist nie abgerückt vom in Sein und Zeit nachdrücklich betonten »In-der-Welt-sein«68 des menschlichen »Dasein[s]«,69 das erst von der Philosophie zu einem isolierten Subjekt gemacht werde, indem diese die sogenannte Außenwelt zuerst erkenntnistheoretisch in Frage stelle, um sie dann wieder zu beweisen zu versuchen.70 Nicht als Gegensatz dazu, sondern als wieder zur Orientierung heranzuziehenden Vorläufer des vorstellend-rechnenden Denkens erinnert Heidegger an das Vernehmen im vorsokratischen Griechenland, das sich der Mitteilung des Seienden und dem, was noch nicht bekannt, begriffen und erfasst ist, öffnet. Zugrunde liegt für Heidegger allem bisherigen Denken das griechische νοεῖν (noeín). Dies wird oft auch mit ›denken‹ übersetzt, Heidegger möchte
62 63 64 65 66
67 68 69 70
Heidegger: »Grundsätze des Denkens«, S. 136. Heidegger: Was heißt Denken?, S. 44. Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, S. 93. Vgl. auch ders.: Was heißt Denken?, S. 22ff. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 323. Ebd. Ausführlicher betrachte ich die Vorrangstellung, die Heidegger den Menschen einräumt, in Kapitel 1.1.4 und bespreche dort sowie in Kapitel 1.2 Jacques Derridas, Jean-Luc Nancys und Hannah Arendts Abwendungen davon. Heidegger: »Was heißt Denken?«, S. 131. Heidegger: Sein und Zeit, S. 53. Ebd. S. 11. Vgl. ebd. S. 203ff.
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vorsichtiger vorgehen, wie er in der Veröffentlichung der Was heißt Denken?Vorlesung im Rückgriff auf ein Fragment des Parmenides erklärt, und das Wort »vernehmen«71 als Übersetzungsmöglichkeit prüfen. Im Sinne von »aufnehmen«72 sei vernehmen recht passiv zu verstehen, als eine Rezeptivität. Das greife aber zu kurz, weil eine aktive Haltung zum Vernommenen damit komplett wegfalle. Eher gehe »uns das Vernommene so an, daß wir es eigens vornehmen, mit ihm etwas anfangen«.73 So gelangt Heidegger zur Übersetzung »In-die-Acht-nehmen«,74 womit er überleitet zu »im Andenken behalten«.75 Im Was heißt Denken?-Aufsatz formuliert Heidegger den Sachverhalt so: noeín bedeute »etwas Anwesendes bemerken, merkend es vornehmen und als Anwesendes es annehmen«.76 Es sei also ein »vornehmende[s] Vernehmen«77 und somit zwar ebenfalls ein Vorstellen, aber »in dem einfachen, weiten und zugleich wesentlichen Sinne, daß wir Anwesendes vor uns stehen- und liegenlassen, wie es liegt und steht«.78 In einer Randnotiz vermerkt Heidegger: »noch nicht ›Gegenstand‹«,79 denn hier wird nicht aus der Perspektive und mit dem Horizont der oder des Vernehmenden über das Vernommene bestimmt. »Demgemäß ist das Denken jene Präsentation des Präsenten, die uns das Anwesende in seiner Anwesenheit zu-stellt und es damit vor uns stellt, damit wir vor dem Anwesenden stehen und innerhalb seiner dieses Stehen ausstehen können. Das Denken stellt als diese Präsentation das Anwesende in die Beziehung auf uns zu, stellt es zurück zu uns her. Die Präsentation ist darum Re-präsentation. Das Wort repraesentatio ist der später geläufige Name für das Vorstellen. Der Grundzug des bisherigen Denkens ist das Vorstellen.«80 Doch Vorstellen ist nicht gleich Vorstellen. Hier spricht das, was zu denken gibt, die es Vernehmenden »daraufhin an, daß wir uns ihm zuwenden, und zwar denkend. Das Bedenkliche wird keineswegs durch uns erst auf-
71 72 73 74 75 76 77 78 79 80
Heidegger: Was heißt Denken?, S. 205. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. 125. Heidegger: »Was heißt Denken?«, S. 140. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. 141.
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gestellt. Es beruht niemals nur darauf, daß wir es vorstellen.«81 In der dem Aufsatz »Was heißt Denken?« vorausgegangenen, gleichnamigen Vorlesung beschreibt Heidegger diesen Vorgang sehr konkret anhand der gegenseitigen Begegnung mit einem blühenden Baum auf einer Wiese, die sich im wörtlichen Sinne als ein Sich-einander-Vorstellen betrachten lasse und nicht als im Kopf herumschwirrende Vor-Stellung: »Wir stellen uns einem Baum gegenüber, vor ihn, und der Baum stellt sich uns vor. Wer stellt hier eigentlich wen vor? Der Baum oder wir? Oder beide? Oder keiner von beiden? Wir stellen uns, so wie wir sind, nicht bloß mit dem Kopf oder dem Bewußtsein, dem blühenden Baum gegenüber, und der Baum stellt sich uns vor als der, der er ist. Oder ist gar der Baum noch zuvorkommender als wir? Hat der Baum zuvor sich uns vorgestellt, damit wir uns in das Gegenüber zu ihm vorbringen können? Was ereignet sich hier, daß der Baum sich uns vorstelle und wir uns dem Baum gegenüberstellen? Wo spielt dieses Vorstellen, wenn wir einem blühenden Baum gegenüber, vor ihm stehen?«82 Gewiss passiere in der sogenannten »Sphäre des Bewusstseins«83 einiges, wenn der leuchtende und duftende Baum wahrgenommen werde, führt Heidegger aus. Diese Vorgänge im Seelischen, im Kopf oder im Gehirn ließen sich mit den Methoden der Neurologie wissenschaftlich verfolgen und dokumentieren. Doch auch wenn das »streckenweise«84 hilfreich und gut gemeint sei, verfehlten derartige Ansätze, den Baum und den Menschen selbst zu bedenken: »Aber steht der Baum ›im Bewußtsein‹, oder steht er auf der Wiese? Liegt die Wiese als Erlebnis in der Seele oder ausgebreitet auf der Erde? Ist die Erde in unserem Kopf? Oder stehen wir auf der Erde?«85 Nur ein achtsameres Denken könne die Phänomene sachgerecht behandeln, ohne ihnen gleich Begriffe überzustülpen und sie und sich selbst damit einzugrenzen: »Das Denken ist demnach kein Greifen, weder ein Zugriff auf das Vorliegende, noch ein Angriff dagegen. […] Das Denken ist kein Be-greifen. In der hohen Frühe seiner Wesensentfaltung kennt das Denken nicht den Begriff. Das
81 82 83 84 85
Ebd. S. 131. Herv. L.O. Heidegger: Was heißt Denken?, S. 44. Ebd. S. 45. Ebd. Ebd.
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liegt keineswegs daran, daß hier das Denken noch unentwickelt ist. Das sich entfaltende Denken wird vielmehr noch nicht in Grenzen eingeschlossen, die es begrenzen, die seiner Wesensentfaltung Schranken setzen. Die später folgende Einschränkung aber gilt dann freilich nicht als Verlust und Mangel, sondern als der einzige Gewinn, den das Denken zu bieten hat, wenn seine Arbeit als die des Begriffes geleistet wird.«86 Das Unfruchtbare der Reflexion des Denkens liegt für Heidegger nicht nur darin, dass sie durch die Infragestellung von »Existenz und Erkennbarkeit der Außenwelt«87 die zentralen Fragen nach dieser aus den Augen verliere, sondern auch darin, dass das Hinterfragen der Voraussetzungen des Denkens dem Trugschluss unterliegt, überhaupt hinter dieses Denken reichen zu können. Dem Trugschluss also, dass das Denken lediglich ein reines Mittel zum Zweck sei. Heidegger antizipiert bereits den Vorwurf, dass seine Darstellung der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte unlogisch, irrational oder unwissenschaftlich sei. Dem entgegnet er, dass solche Kritik in den Dichotomien der Metaphysik verbleibe.88 Sein Anliegen lasse sich nicht auf einer der bei86 87 88
Ebd. S. 215. Ebd. S. 47. Das Wort ›Kritik‹ benutzt Heidegger selbst mit gutem Grund selten – seine Arbeit kreist ja gerade darum, dass ein distanzierter Standpunkt, vom dem aus Kritik möglich wäre, nicht existieren bzw. nicht erreicht werden kann. Zu Beginn des Aufsatzes Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens schreibt Heidegger in Bezug auf die Revision der eigenen Arbeit vom Versuch, »den Ansatz der Frage in ›Sein und Zeit‹ einer immanenten Kritik zu unterwerfen«, wodurch deutlich werden müsse, »inwiefern die kritische Frage, welches die Sache des Denkens sei, notwendig und ständig zum Denken gehört«. (Heidegger: »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, S. 69. Herv. L.O.) Die Möglichkeit der Kritik besteht nur in dem, was Sein und Zeit bereits innewohnt – die Frage, welches die Sache des Denkens sei, ist wiederum weniger kritisch im Sinne einer kritischen Prüfung als im Sinne eines kritischen Zustands: eine Wende ankündigend, entscheidend. (Zu dieser Bedeutung des Adjektivs ›kritisch‹ vgl. Nancy: »Critique, crise, cri (unser Zeitalter ist nicht mehr das eigentliche Zeitalter der Kritik)«, in: Diacritik vom 13.5.2016, https://diacritik.com/2016/05/13/jean-luc-nancy-critique-crise-cri-unser-zeitalter-ist-nicht-mehr-das-eigentliche-zeitalter-der-kritik/ vom August 2020.) Die von Heideggers Philosophie mit angestoßene Verunsicherung der Möglichkeit, einen unabhängigen kritischen Standpunkt zu etwas einzunehmen, wurde später u.a. von Michel Foucault und daran anschließend von Judith Butler erörtert. (Vgl. Michel Foucault: Was ist Kritik? Übers. v. Walter Seitter. Berlin 1992 und Judith Butler: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, übers. v. Jürgen Brenner, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, S. 221-246.) Im Jahr 2016 war
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den Seiten der Paare ›logisch‹ und ›unlogisch‹ oder ›irrational‹ und ›rational‹ verorten. Eher ginge es ihm darum, sich auf das zurückzubesinnen, was lógos einst meinte: »Gegen ›die Logik‹ denken, das bedeutetet nicht, für das Unlogische eine Lanze brechen, sondern heißt nur: dem λόγος und seinem in der Frühzeit des Denkens erschienenen Wesen nachdenken, heißt: sich erst einmal um die Vorbereitung eines solchen Nachdenkens bemühen.«89 Heidegger moniert an der Rationalisierungsbewegung der Moderne, dass ihr Fortschrittsglaube in Irrationalität umschlage: »Vielleicht gibt es ein Denken, das nüchterner ist als das unaufhaltsame Rasen der Rationalisierung und das Fortreißende der Kybernetik. Vermutlich ist gerade dieser Fortriß äußerst irrational. Vielleicht gibt es ein Denken außerhalb der Unterscheidung von rational und irrational, nüchterner noch als die wissenschaftliche Technik, nüchterner und darum abseits, ohne Effekt und gleichwohl von eigener Notwendigkeit.«90 Der natur- und heimatverbundene, sich unpolitisch gebende Einzelgänger Heidegger stellt die Frage nach dem Umschlag der Rationalität in Irrationalität nicht im Hinblick auf Systeme gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern vor allem angesichts des folgenreichen Eingriffs der menschlichen Spezies in die Entwicklung des Planeten Erde. Was heute meist unter dem Schlagwort Anthropozän aufgerufen wird, beginnt für Heidegger mit dem abendländisch-europäischen Denken. Es manifestiert sich für ihn am stärksten darin, dass mit der menschlichen Entdeckung der Atomkraft die Möglichkeit geschaffen wurde, die komplette Menschheit schlagartig auszulöschen – die Folgen für den als nichtmenschlich eingestuften Rest des Planeten interessieren ihn wenig. Damit, dass das abendländische Denken die »Natur zur Preisgabe der Atomenergie gezwungen« habe, sei derjenige Energiebestand der Natur, der als Atomenergie erscheine, zwar »durch das Denken gestellt«.91 Das heiße aber trotzdem nicht, dass der Mensch die Natur beherrsche:
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diese Verunsicherung Gegenstand der Tagung »Theater als Kritik« der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Vgl. Olivia Ebert/Eva Holling et al. (Hg.): Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung. Bielefeld 2018. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 348. Heidegger: »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, S. 89f. Heidegger: »Grundsätze des Denkens«, S. 134.
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»Wenn es nun aber dahin käme, daß die denkenden Wesen durch die Atomenergie ausgelöscht würden, wo bliebe dann das Denken? Was ist denn mächtiger, die Naturenergie in ihrer technisch-maschinenhaften Gestalt oder das Denken? Oder hat keines der beiden, die in diesem Fall zusammengehören, einen Vorrang? Ist dann überhaupt noch etwas, wenn alles sterbliche Wesen des Menschen auf der Erde ausgelöscht ›ist‹? Waltender als die Macht der Naturenergie und des Naturdenkens ist schon und bleibt zum voraus der Gedanke, dem ein Denken folgte, indem es die Natur auf die Atomenergie hin verfolgte. Solche Gedanken werden nicht erst durch unser sterbliches Denken gemacht, dieses wird vielmehr stets nur von jenen Gedanken in den Anspruch genommen, daß es ihm entspreche oder entsage. Nicht wir, die Menschen kommen auf die Gedanken, die Gedanken kommen zu uns Sterblichen, deren Wesen auf das Denken als seinen Grund gesetzt ist. Wer aber denkt diese Gedanken, die uns besuchen?«92 Die hier angerissene Frage nach dem Kontrollverlust des Menschen über die selbstgemachte Technik führt Heidegger weg vom Verhältnis von Mensch, Technik und Natur hin zu dem, worin und worauf für ihn alles Denken gründet – dem Sein.
1.1.3.
Chōrismós. Denken (aus) der ontisch-ontologischen Differenz
Durch die Veröffentlichung von Heideggers Vorlesung und durch den Aufsatz Was heißt Denken? zieht sich die Formel, dass das »Bedenklichste in unserer bedenklichen Zeit«93 sei, dass wir noch nicht denken. Die Art und Weise, in der schon gedacht werde, könne zwar für alles eine Erklärung finden, allerdings entgehe ihr dabei etwas. Heidegger versteht die Auf-gabe des Denkens als Vorbereitung der Verwindung des »technisch-wissenschaftlichindustrielle[n] Gepräge[s]«.94 Dabei liege die Schwierigkeit, vom betriebsamen Forschen aus betrachtet, gerade in der Einfachheit des zu lernenden Denkens: »Weil in diesem Denken etwas Einfaches zu denken ist, deshalb fällt es dem als Philosophie überlieferten Vorstellen so schwer. Allein das Schwierige besteht nicht darin, einem besonderen Tiefsinn nachzuhängen und verwickel-
92 93 94
Ebd. S. 134f. Herv. L.O. Heidegger: Was heißt Denken?, S. 7. Heidegger: »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, S. 75.
1 Was heißt Denken?
te Begriffe zu bilden, sondern es verbirgt sich in dem Schritt-zurück, der das Denken in ein erfahrenes Fragen eingehen und das gewohnte Meinen der Philosophie fallen läßt.«95 Ein konkreter Versuch, ins Denken zu gelangen, müsse jedoch scheitern. Denn dass nicht gedacht wird, habe niemand aktiv verschuldet: »Daß wir noch nicht denken, liegt jedoch keineswegs nur daran, daß der Mensch sich noch nicht genügend dem zuwendet, was von sich her bedacht sein möchte. Daß wir noch nicht denken, kommt vielmehr daher, daß dieses zu-Denkende selbst sich vom Menschen abwendet, sogar langher sich schon abgewendet hält.«96 Obwohl den Menschen das Denkvermögen gegeben sei, entziehe sich das eigentlich zu Bedenkende. Es könne nur darauf gewartet werden und innerhalb des schon Gedachten nach dem darin verborgenen Ungedachten Ausschau gehalten werden.97 Dieses Warten sei streng vom Erwarten des Bekannten zu unterscheiden, das im neuzeitlichen Vorstellen verbliebe. Damit sich das zu Denkende ereignen könne, müsse das, worauf gewartet werde, offengelassen werden.98 Heidegger versucht, dieses Ungedachte in Lektüren von Schriften Platons, Kants, Hegels oder Nietzsches aufzuspüren, d.h., diese daraufhin zu destruieren.99 Seine Arbeit entsteht deshalb immer aus der Auseinandersetzung mit anderen Denkern und ist nicht als Bruch mit diesen zu sehen:
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Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 343. Heidegger: »Was heißt Denken?«, S. 132. Vgl. ebd. S. 139. Vgl. Heidegger: »Zur Erörterung der Gelassenheit«, S. 48f. Vgl. zum Begriff des Ereignisses auch Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Übers. v. Susanne Lüdemann. Berlin 2003. Vgl. zur Verwindung der Metaphysik: Heidegger: »Aus einem Gespräch von der Sprache«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 12, Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a.M. 1985, S. 79146, hier S. 103f. Vgl. zu Heideggers Methode der Destruktion, von der aus Derrida die Dekonstruktion entwickeln wird, v.a. Heidegger: Sein und Zeit, S. 31f.: »Soll für die Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte gewonnen werden, dann bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen. Diese Aufgabe verstehen wir als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden.«
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»Meine ganze Arbeit in Vorlesungen und Übungen in den vergangenen 30 Jahren war in der Hauptsache nur Interpretation der abendländischen Philosophie. Der Rückgang in die geschichtlichen Grundlagen des Denkens, das Durchdenken der seit der griechischen Philosophie noch ungefragten Fragen, das ist keine Loslösung von der Überlieferung.«100 Dieses durch die »Geschichte des Denkens hindurch überall Ungefragte«101 sei »die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden«,102 die »ontologische Differenz«.103 Heidegger betont in seinen Ausführungen über das Wort noeín, dass Parmenides, der das Wesen des bisherigen abendländischen Denkens maßgebend bestimmt habe, in seiner Charakterisierung des Denkens immer schon von dem ausgegangen sei, was das Denken vernehme: »nämlich das Seiende in seinem Sein«.104 In diesem unbemerkten Fokus auf das Sein des Seienden, das Anwesen des Anwesenden, die Präsenz des Präsenten oder, »neuzeitlich gesprochen«,105 die Gegenständlichkeit der Gegenstände sei das Hauptproblem des metaphysischen Denkens zu sehen, welches Heidegger auf das zurückführt, was er die »Zwiefalt« nennt, die dem gesamten Denken und Sprechen vorausgehe: »Wir sprechen stets aus der Zwiefalt. Diese ist immer schon vorgegeben […]. Die Zwiefalt hat schon den Bereich entfaltet, innerhalb dessen die Beziehung des Seienden zum Sein vorstellbar wird.«106 Diese Figur sei bei Platon beschrieben, deutet Heidegger an, ohne einen genaueren Quellenverweis zu liefern, sodass – wie auch Jacques Derrida in seinen Ausführungen zu chōra (ohne Artikel) anmerkt – Heideggers Referenz auf Platon unscharf bleibt.107 Platon sage, »zwischen dem Seienden und dem 100 Heidegger: »Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger«, in: Günther Neske/Emil Kettering (Hg.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Tübingen 1988, S. 81-114, hier S. 103. 101 Heidegger: »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, S. 59. 102 Ebd. 103 Heidegger: »Was heißt Denken?«, S. 143. 104 Ebd. S. 140. 105 Ebd. S. 142. 106 Heidegger: Was heißt Denken?, S. 231. 107 Vgl. Derrida: Chōra, S. 34. Heidegger blickt in seiner Vorlesung über Platons Sophistes aus dem Wintersemester 1924/25 mit der aristotelischen Verwendung von chôra und chōrismós auf Platons »Lehre vom χωρισμό ς der Ideen«. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 19, Platon: Sophistes. Frankfurt a.M. 1992, S. 101. Helmut Meinhardt zeigt auf, dass Chorismos ein erst mit der Kritik am Platonismus häufig verwendeter Begriff für die Unterscheidung von Ideen und einzelnem Seiendem ist. Bei Platon selbst komme das Wort χωρισμός nur einmal vor, nämlich im Phaidon, für die »Absonderung der Seele
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Sein bestehe der χωρισμός [chōrismós, Anm. L.O.], ἡ χώρα [he chôra, Anm. L.O.] heißt der Ort.«108 Damit wolle er sagen, dass das Seiende und das Sein völlig verschieden verortet seien. Um überhaupt nach dem chōrismós, »der Verschiedenheit der Ortung von Seiendem und Sein«,109 fragen zu können, müsse der Unterschied oder die Zwiefalt beider schon unbeachtet vorgegeben sein. »Die Zwiefalt ist bereits im Gebrauch. Sie ist in allem Sagen und Vorstellen, Tun und Lassen das Gebrauchteste und darum das Gebräuchliche schlechthin.«110 Deshalb gelinge es auch nicht, anderes als das Sein des Seienden zu denken. Obgleich die Metaphysik das, was über die Erscheinungswelt hinausgehe und diese ermögliche, suche, verharre sie in dieser, denn »[s]ie denkt vom Seienden aus auf dieses zu«.111 Schon die Fundamentalontologie, die sich auf die Wahrheit des Seins besinnen sollte, habe dem Denken bedeutet, zu lernen, das Sein zu erfahren und zu sagen: »Das ›Sein‹ – das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund. Das Sein ist wesenhaft weiter denn alles Seiende und ist gleichwohl dem Menschen näher als jedes Seiende, sei dies ein Fels, ein Tier, ein Kunstwerk, eine Maschine, sei es ein Engel oder Gott. Das Sein ist das Nächste. Doch die Nähe bleibt dem Menschen am fernsten.«112 Hannah Arendt verdeutlicht dies mit der Redewendung, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht sehe. Ganz ähnlich lenke das Seiende ab vom dahinter verborgenen Sein.113 Dieses werde, so Heidegger, missverstanden als Seiendes als solches im Allgemeinen: »Sagen wir ›das Sein‹, so gebrauchen wir das Wort in der weitesten und unbestimmtesten Allgemeinheit. Aber schon dann, wenn wir nur von einer Allgemeinheit sprechen, haben wir das Sein in einer ungemäßen Weise gedacht. Wir stellen das Sein in einer Weise vor, in der Es [sic!], das Sein, sich niemals
vom Leibe«. Platon: »Phaidon«, in: ders.: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Griechisch und deutsch nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl u.a., Bd. 4, Hippias Minor, Symposion, Phaidon. Frankfurt a.M./Leipzig 1991, S. 185-347, hier S. 216f. (67d). Vgl. Helmut Meinhardt: »Chorismos«, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Basel/Stuttgart 1971, Sp. 1008. 108 Heidegger: Was heißt Denken?, S. 231. 109 Ebd. S. 232. 110 Ebd. 111 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 331. 112 Ebd. S. 331. 113 Vgl. Arendt: Willing, S. 174/Vom Leben des Geistes, S. 402.
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gibt. Die Art, wie die Sache des Denkens, das Sein, sich verhält, bleibt ein einzigartiger Sachverhalt.«114 Obwohl es für das Beispiellose keine Bilder gibt, will sich Heidegger ihm zumindest annähern. Seine Veranschaulichung entlehnt er von Hegel (der sie zur Kennzeichnung der Allgemeinheit des Allgemeinen erwähnt): »Jemand möchte in einem Geschäft Obst kaufen. Er verlangt Obst. Man reicht ihm Äpfel, Birnen, reicht ihm Pfirsiche, Kirschen, Trauben. Aber der Käufer weist das Dargereichte zurück. Er möchte um jeden Preis Obst haben. Nun ist aber doch das Dargebotene jedesmal Obst und dennoch stellt sich heraus: Obst gibt es nicht zu kaufen.«115 Noch viel – unendlich – unmöglicher, als Obst abgelöst von den einzelnen Obstsorten und Früchten vorzustellen, sei es, »›das Sein‹ als das Allgemeine zum jeweilig Seienden«116 vorzustellen. Die Metaphysik sei nicht in der Lage, die Differenz zwischen Sein und Seiendem zu bemerken, geschweige denn zu denken. »Die Metaphysik stellt zwar das Seiende in seinem Sein vor und denkt so auch den Sinn des Seienden. Aber sie denkt nicht das Sein als solches, denkt nicht den Unterschied beider«.117 Nicht nur das Sein sei vergessen, sondern auch die Differenz, die als solche bedacht werden müsse und aus der erst das Sein zu denken sei. Die Sache des Denkens sei also »die Differenz als Differenz«,118 »die Differenz als solche«.119 So spezifiziert Heidegger im 1956/57 erschienenen Aufsatz »Die ontotheo-logische Verfassung der Metaphysik« die früher begonnene Kehre »nicht mehr vom Menschen zum Sein, sondern vom Sein zum Menschen«,120 um noch einmal Jean-Luc Nancys Zusammenfassung der heideggerschen Umorientierung zu nutzen, mit der das Denken für Heidegger zum »Denken des Seins«121 als genitivus subjectivus und objectivus wurde. Gemeint ist damit: »Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, 114 115
Heidegger: »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, S. 72. Ebd. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit mündlichen Zusätzen. Werke, Bd. 8. Frankfurt a.M. 1992 [3], S. 58f. (§13). 116 Heidegger: »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, S. 72. 117 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 322. 118 Heidegger: »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, S. 76. 119 Ebd. S. 71. 120 Nancy: Singulär plural sein, S. 156. 121 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 316.
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dem Sein gehört. Das Denken ist zugleich Denken des Seins, insofern das Denken dem Sein gehörend, auf das Sein hört.«122 Auf Französisch (der Brief ist an den Philosophen Jean Beaufret gerichtet) scheint Heidegger es formulierbarer zu finden: »Denken ist l’engagement par l’Être pour l’Être. […] Das Denken ist l’engagement durch und für die Wahrheit des Seins.«123 Vergessen und unvorstellbar ist das Sein nach Heidegger, gerade weil es in seinem unvergleichbaren Unterschied zum Seienden für die Metaphysik nicht denkbar ist und doch alles Denken bestimmt. In der 1950 erschienenen ersten Auflage von Der Spruch des Anaximander im Klostermann-Verlag zeigt sich Heideggers Suche nach einem Namen für diese undenkbare Inkommensurabilität in einer Randnotiz: »Der Unter-Schied ist unendlich verschieden von allem Sein, das Sein des Seienden bleibt. Daher bleibt es ungemäß, den Unterschied noch mit ›Sein‹ […] zu benennen.«124 Der Unterschied sei spurlos verborgen: »Der Unterschied entfällt. Er bleibt vergessen. Erst das Unterschiedene, das Anwesende und das Anwesen entbirgt sich, aber nicht als das Unterschiedene. Vielmehr wird auch die frühe Spur des Unterschiedes dadurch ausgelöscht, daß das Anwesen wie ein Anwesendes erscheint und seine Herkunft in einem höchsten Anwesenden findet.«125
1.1.4.
Die Lichtung des Seins und das Denken des menschlichen Leibs
Die fehlgeleitete Frage nach dem Sein, der die ontisch-ontologische Differenz entgehe, könne immer nur mit dem beantwortet werden, als was das Sein sich gerade zeige. Das Sein »entbirgt«,126 »gibt«127 oder »lichtet«128 sich nämlich nur in einer jeweils bestimmten Prägung. Innerhalb der abendländischeuropäischen Geschichte sei es als »φύσις [phýsis], λόγος [lógos], Ἕν [hen], ἰδέα [idéa], Ἐνέργεια [enérgeia, alle Anm. L.O.], Substanzialität, Objektivität, Sub-
122 Ebd. 123 Ebd. S. 313f. 124 Heidegger: »Der Spruch des Anaximander«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 5, Holzwege. S. 321-373, hier S. 364. Die Randnotizen aus früheren Ausgaben sind mit Angabe von Jahr und Auflage als Fußnoten in der Heidegger-Gesamtausgabe aufgelistet. 125 Ebd. S. 364f. 126 Heidegger: »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, S. 73. 127 Ebd. 128 Ebd.
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jektivität, Wille, Wille zur Macht, Wille zum Willen« erschienen.129 Die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Seins ordnet Heidegger verschiedenen Epochen der Weltgeschichte zu: dem vorsokratischen Griechenland, dem Mittelalter, der Neuzeit.130 Das Sich-Lichten, Sich-Entbergen oder SichGeben des Seins müsse als singuläres Ereignis gedacht werden, erklärt Heidegger: »Das Wort Ereignis meint hier nicht mehr das, was wir sonst irgendein Geschehnis, ein Vorkommnis nennen. Das Wort ist jetzt als Singulare tantum gebraucht. Was es nennt, ereignet sich nur in der Einzahl, nein, nicht einmal mehr in einer Zahl, sondern einzig.«131 Das Denken des Seins könne also nicht aktiv gewollt werden, sondern wäre allein durch das Wollen des Nichtwollens zu erreichen, das eigentlich kein Wollen, sondern eine außerhalb jeder Art des Wollens bleibende Gelassenheit gegenüber den Dingen ist, die Heidegger in ihrer rezeptiven Haltung der wartenden Offenheit in die Nähe des Dankens rückt.132 Darin könne, wie er in der selten gewählten Dialogform von Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken (1944/45) sowie etwa zehn Jahre später in einer daran anknüpfenden Festrede mit dem Titel Gelassenheit (1955) entwickelt, »die Möglichkeit, uns auf eine ganz andere Weise in der Welt aufzuhalten«,133 liegen. Der Sinn des Seins, auf den das Denken sich besinnen solle, sei vom Menschen weder erfunden noch gemacht, noch ihm überhaupt zugänglich. Den Horizont, dem entsprechend das Sein sich entberge, bilde die »Gegend«134 oder »Gegnet«.135 Damit versucht Heidegger das eigentlich der Sprache und dem Denken unzugängliche Phänomen, dass das Sein sich zugleich ent- und verberge, mit einem Namen zu fassen. Dieser Horizont der Menschen, der sie zugleich als Offenheit umgebe, bestimme ihr Denken des Seins. Einerseits befänden sich die Menschen immer schon in dieser Offenheit, andererseits kehre sie ihnen – deshalb bezieht sich Heidegger 129 Ebd. 130 Michel Foucault hat dies in einer kleinteiligeren Untersuchung der Neuzeit dahingehend fortgesetzt, dass er verschiedene Episteme erkennt, die das in einem bestimmten Zeitabschnitt Denk- und Sagbare bestimmen. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 1974. 131 Heidegger: »Der Satz der Identität«, S. 46. 132 Vgl. Heidegger: »Zur Erörterung der Gelassenheit«, S. 38f., S. 68. Vgl. auch Heidegger: Was heißt Denken?, S. 149f. 133 Heidegger: »Gelassenheit«, S. 528. 134 Heidegger: »Zur Erörterung der Gelassenheit«, S. 47. 135 Ebd.
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auf die Gestalt des Horizonts – jeweils eine bestimmte Seite zu.136 Diese Gegend sei als die eine ursprüngliche, grundlegende Gegend, »in der alles zu sich zurückkehrt«,137 aufzufassen, lässt Heidegger im Feldweggespräch den Gelehrten gegenüber dem Forscher und dem Lehrer zusammenfassen. Gemeinsam verhandeln die drei die Gegnet als räumlich-zeitliche Figur des Nichtwollens: eine Weile und Weite zugleich.138 Heideggers Gegnet könne als »jene ›Umwelt‹ beschrieben werden, die der ›Gelassenheit‹ korrespondiert, auf die jene sich einlassen muss«, erklärt Jörn Etzold. Zurückzuführen sei ihre Charakterisierung auf die Mystik des Meister Eckhart.139 Als Fortführung des im Feldweggespräch Entwickelten lassen sich, worauf Heidegger am Ende des Gespräches selbst hinweist, seine von mir bereits angesprochenen Ausführungen zum chōrismós oder zur Zwiefalt von Sein und Seiendem und zur chôra als unerreichbarem (Ursprungs-)Ort dieser Zwiefalt lesen.140 Das Wort Zwiefalt kommt allerdings im gesamten Feldweggespräch nicht vor, sondern wird erst mit dem Hinweis am Ende eingeführt. In den etwa zeitgleich zur Niederschrift des Feldweggesprächs gehaltenen Freiburger Vorlesungen aus dem Sommersemester 1944, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, sind »Gegend«,141 »Gegnet«142 sowie »umgebende Umgegend«143 Heideggers Übersetzungsvorschläge für he chôra. Den vom chōrismós entfalteten Bereich, innerhalb dessen »Anwesendes als solches und Anwesen für den 136 137 138 139
Vgl. ebd. S. 50f. Ebd. S. 40. Vgl. ebd. S. 42. Jörn Etzold: »Gegend ohne Könige. Die Bühne von Hölderlins Empedokles«, in: Norbert Otto Eke/Irina Kaldrack/Ulrike Haß (Hg.): Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. Paderborn 2014, S. 305-328, hier S. 322f. Vgl. außerdem Etzold: Gegend am Aetna. Hölderlins Theater der Zukunft. Paderborn 2019, S. 20ff, S. 30ff. 140 Der Hinweis findet sich nur dort, wo der Text zuerst erschien: in Heideggers Buch Gelassenheit. Vgl. Heidegger: »Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken«, in: ders.: Gelassenheit. Tübingen 1960 [2], S. 29-74, hier S. 74. 141 Heidegger: »Logik. Heraklits Lehre vom Logos«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 55, Heraklit. Frankfurt a.M. 1994 [3], S. 335. 142 Ebd. 143 Ebd. Gerade an den Veröffentlichungen aus den Jahren 1944/45 erschreckt Heideggers Nichterwähnen des ihn umgebenden Weltkriegs immer wieder. Fast noch unangenehmer liest es sich, wenn er in der lokalpatriotischen Meßkircher Rede, die er anlässlich des 100. Todestags des ortsstämmigen Komponisten Conradin Kreutzer hält, in einer nationalistischen Opferrhetorik allein die Kriegsfolgen für Deutsche, nämlich die Teilung Deutschlands sowie die deutschen Vertriebenen, erwähnt. Ich komme darauf in Kapitel 1.1.5 zurück.
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Menschen unterscheidbar werden«,144 nennt Heidegger »die Klarheit, d.h. die Lichtung«.145 (Genau genommen lässt er diese Zuordnung von der auf ihn selbst verweisenden Figur des Fragenden in seinem zweiten Text in Dialogform, dem Gespräch von der Sprache, vornehmen.) Diese Neubesetzung des Worts ›Lichtung‹ zieht sich nahezu als Synonym zu Gegend, Gegnet und chôra durch einen Großteil von Heideggers späteren Schriften. Sie eröffnet durchaus einen Bezug zur in der Philosophie vielverwendeten Lichtmetaphorik, ist aber – so Heidegger – nicht mit dieser zu vermischen.146 Heidegger wehrte sich entschieden dagegen, seine Wortwahl als metaphorische Rhetorik abzutun, da eine solche Lesart in der die Metaphysik ausmachenden Binarität von Sinnlichem und Nichtsinnlichem verbliebe.147 Dies ist vor allem deswegen ernst zu nehmen, weil Heideggers Arbeit daran, eine neue »Sorgfalt der Sprache«148 und damit eine nicht mehr metaphysische Sprache zu etablieren, missverstanden wird, wenn seine Paläonyme der Metaphorik zugeordnet werden. Das Ungewöhnliche der heideggerschen Formulierungen, häufig als vage oder mystisch abgetan, ist auf seine »Sprachnot«,149 sich dem Anderen der Metaphysik sprachlich anzunähern, zurückzuführen. Dies belegt beispielsweise eine Randbemerkung zum Titel des Briefs über den »Humanismus« in seinem Handexemplar der ersten Auflage des Briefs im Klostermann-Verlag 1949. Die Bemerkung besagt, der Brief beruhe auf dem »Gang eines Weges, der 1936 begonnen wurde, im ›Augenblick‹ eines
144 Heidegger: »Aus einem Gespräch von der Sprache«, S. 119. 145 Ebd. 146 Die Lichtung wird besonders ausführlich behandelt in: Heidegger: »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, S. 80ff. Im ersten Teil der Veröffentlichung seiner im Wintersemester 1933/34 gehaltenen Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit geht Heidegger in einer Lektüre von Platons Höhlengleichnis ausführlich auf Licht als Bedingung der Möglichkeit jeder Sichtbarkeit ein. Vgl. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 36/37, Sein und Wahrheit. Frankfurt a.M. 2001, S. 153ff. Eine umfassende Chronologie der Verwendung der Lichtmetapher entwirft Hans Blumenberg: »Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung«, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Frankfurt a.M. 2001, S. 139-171. 147 Vgl. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 10, Der Satz vom Grund. Frankfurt a.M. 1997, S. 70ff. sowie ders.: »Das Wesen der Sprache«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 12, Unterwegs zur Sprache, S. 147-204, hier S. 195ff. 148 Heidegger: »Martin Heidegger im Gespräch mit Richard Wisser«, in: Neske/Kettering: Antwort, S. 21-28, hier S. 28. 149 Mende: »Brief über den ›Humanismus‹. Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie«, S. 219.
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Versuches, die Wahrheit des Seins einfach zu sagen.«150 Der Brief spreche »immer noch in der Sprache der Metaphysik, und zwar wissentlich. Die andere Sprache bleibt im Hintergrund.«151 Etymologisch bringt Heidegger die Lichtung in Zusammenhang mit dem Ort der Waldlichtung, aber auch dem Verb ›lichten‹ im Sinne von »etwas leicht, frei und offen machen, z.B. den Wald an einer Stelle frei machen von Bäumen«.152 Die Licht-ung sei sowohl Zustand der Unverborgenheit als auch Prozess der Entbergung. Nur lose verwandt sei das Wort mit dem Adjektiv ›licht‹ im Sinne von ›hell‹ oder dem Substantiv ›Licht‹. Denn sogar das Licht sei erst von der Lichtung ermöglicht und könne erst das bereits Offene, in der Lichtung Entborgene aufklären. Jede philosophische Disziplin, jedes Denken (auch die Intuition) bleibe auf die »immer schon waltende«153 Lichtung angewiesen. Diese Lichtung hat dabei nicht allein mit dem Bereich des Visuellen zu tun. Sie ist für Heidegger ebenso frei für »den Hall und das Verhallen, für das Tönen und das Verklingen«.154 Als »das Offene für alles An- und Abwesende«155 sei sie eine »einzigartige Sache«156 und eine »Ur-sache«:157 das »worin der reine Raum und die ekstatische Zeit und alles in ihnen An- und Abwesende erst den alles versammelnden bergenden Ort haben.«158 Erst die Lichtung bringe Denken und Sein in einen Kontakt, lasse sie »zu und für einander« anwesen.159 So liegt es hier, im Spätwerk Heideggers, überhaupt nicht mehr an den Menschen, das Sein oder die Wahrheit des Seins zu verstehen. Im Gegenteil: Das Sein komme auf die Menschen zu und öffne sich ihnen nur als die »Unverborgenheit«160 der Lichtung. Was passiert da150 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 313. Vgl. zum nicht genau möglichen zeitlichen Nachweis der Randbemerkungen das »Nachwort des Herausgebers«, Friedrich-Wilhelm von Herrmann, ebd. S. 485-487. Hier wird auch erläutert, wie sehr Heidegger selbst die Edition der Gesamtausgabe in Bezug auf Reihenfolge der Schriften und Korrekturen mitbestimmt hat. 151 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 313. 152 Heidegger: »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, S. 80. 153 Ebd. S. 82. 154 Ebd. S. 81. 155 Ebd. 156 Ebd. 157 Ebd. 158 Ebd. 159 Ebd. S. 84. 160 Heidegger: »Vom Wesen der Wahrheit«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 9, Wegmarken, S. 177-202, hier S. 188. Heidegger greift auf das häufig mit ›Wahrheit‹ übersetzte griechische Wort aletheia zurück, welches er aber mit ›Unverborgenheit‹ übersetzt. Auch
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durch bei Heidegger mit dem Denken? Der neuzeitlichen Selbstermächtigung des Subjekts setzt er eine das Denken entsubjektivierende »Selbstentmächtigung«161 entgegen. Dennoch – oder gerade deswegen – bleibt die Position der Menschen auf der Welt für Heidegger zentral, wenn auch auf andere Art und Weise. In der nichtherrschenden Position verlören die Menschen nichts, sondern gewännen, da sie in die Wahrheit des Seins gelangten. Heidegger spricht von Menschen dabei allerdings nicht im Plural, sondern in einem verallgemeinernden, die Pluralität der Menschen auf ›den Menschen als solchen‹ herunterbrechenden Singular: »Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins.«162 Zwischen Sein und Menschen besteht bei Heidegger eine Art wechselseitige Abhängigkeit. Das menschliche Denken gehöre dem Sein oder höre auf das Sein: Das Denken ist »das hörend dem Sein Gehörende«.163 Das Sein wiederum brauche den Menschen, da es, wie Hannah Arendt den heideggerschen Standpunkt erläutert, nie offenbar werden könne, wenn es nicht vom Menschen gedacht würde.164 Das Denken ein ›Hören‹ zu nennen, sei zwar durchaus ein Hinübertragen des sinnlichen Hörens »in den Bereich des nicht-sinnlichen Vernehmens, d.h. des Denkens«,165 schreibt Heidegger. Hören und Sehen könne das Denken nur im übertragenen Sinn heißen: »Das im Denken Erhörte und Erblickte läßt sich nicht mit unseren Ohren hören, nicht mit unseren Augen sehen. Es ist nicht durch unsere Sinnesorgane wahrnehmbar.«166 Allerdings, mahnt er, sei die auditive Wahrnehmung nicht als das eigentliche Hören zu verstehen, da sie, wie auch die visuelle Wahrnehmung, immer schon vom Denken beeinflusst sei. Die Bereiche des Sinnlichen und des Physischen sowie des Nicht-
hier ist Heideggers präzise Spracharbeit nicht als philologische Pedanterie abzutun, wie Daniel Loick unterstreicht: »Unter einer Übersetzung versteht Heidegger nicht bloß die Auswechslung einer Vokabel durch eine andere, die Verwendung eines anderen Signifikanten für denselben Signifikaten. Durch den Transport eines Begriffs von einem Bedeutungskontext in einen anderen verändert sich auch sein semantischer Gehalt.« Loick: »Caesarisches Sehen. Heidegger über die Verrechtlichung der Wahrheit«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 68 (2014), S. 495-526, hier S. 500. 161 Dieter Thomä: »Die späten Texte über Sprache, Dichtung und Kunst. Befangen im Singen und Nennen«, in: ders.: Heidegger-Handbuch, S. 261-270, hier S. 262. 162 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 342. Herv. L.O. 163 Ebd. S. 316. 164 Vgl. Arendt: Willing, S. 174/Vom Leben des Geistes, S. 402. 165 Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 10, Der Satz vom Grund, S. 70. 166 Ebd.
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sinnlichen und des Nichtphysischen sollten also nicht zu für sich bestehenden Bereichen gegeneinander abgegrenzt werden: »Das jeweils von uns Gehörte erschöpft sich niemals in dem, was unser Ohr als ein in gewisser Weise abgesondertes Sinnesorgan aufnimmt. […] Weil unser Hören und Sehen niemals ein bloß sinnliches Aufnehmen ist, deshalb bleibt es auch ungemäß zu behaupten, das Denken als Er-hören und Erblicken sei nur als Übertragung gemeint, nämlich als Übertragung des vermeintlich Sinnlichen in das Nichtsinnliche. Die Vorstellung von ›übertragen‹ und von der Metapher beruht auf der Unterscheidung, wenn nicht gar Trennung des Sinnlichen und des Nichtsinnlichen als zweier für sich bestehender Bereiche. Die Aufstellung dieser Scheidung des Sinnlichen und des Nichtsinnlichen, des Physischen und des Nichtphysischen ist ein Grundzug dessen, was Metaphysik heißt und das abendländische Denken maßgebend bestimmt. Mit der Einsicht, daß die gesamte Unterscheidung des Sinnlichen und Nichtsinnlichen unzureichend bleibt, verliert die Metaphysik den Rang der maßgebenden Denkweise.«167 Dieses »Er-hören und Er-blicken« ist für Heidegger allein den Menschen beziehungsweise dem Menschen möglich, der allein für ihn in der Lichtung des Seins steht. In der Lichtung des Seins zu stehen bedeutet für Heidegger, in diese hinaus, nicht aus ihr heraus zu stehen – das heißt »hin in das Aus des Auseinander des Unterschieds (das Da), nicht ›hinaus‹ aus einem Innen«,168 was eine metaphysische Konstruktion wäre. Deshalb nennt Heidegger das menschliche Dasein auch »Ek-sistenz«.169 In als Zollikoner Seminare veröffentlichten Diskussionen, die Heidegger von 1959 bis 1969 auf Anregung des Schweizer Psychiaters Medard Boss in einem Briefwechsel und Gesprächen mit diesem selbst sowie in Seminaren mit Boss und anderen angehenden und praktizierenden Psychologen und Psychiatern führte, beschreibt Heidegger diese Ex-istenz als immer schon auch leibliche. Dass Körper beziehungsweise Leib in seiner Arbeit nur am Rande thematisiert würden, erklärt er hier entwaffnend damit, dass »das Leibliche das
167 Ebd. S. 71f. 168 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 326. 169 Ebd. S. 324.
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Schwierigste«170 sei. Er zieht das Wort ›Leib‹171 und mehr noch die Formulierung »Leiblich-sein«172 dem Wort ›Körper‹ vor, weil dies meist vergegenständlichend im Sinne des Habens eines Körpers als bloßem Ding oder Gegenstand verwendet würde. Der Leib sei zwar »im Hören und Sehen beteiligt«,173 aber – und das betont Heidegger besonders – keinesfalls als a priori aufzufassen, sondern als immer schon in die raumzeitliche Einräumung der Lichtung eingebettet: »Alles nun, was wir unsere Leiblichkeit nennen, bis hin zur letzten Muskelfaser und zum verborgensten Hormonmolekül, gehört wesensmäßig in das Existieren hinein; ist also grundsätzlich nicht leblose Materie, sondern ist ein Bereich jenes nicht zu vergegenständlichenden, optisch nicht sichtbaren Vernehmen-könnens von Bedeutsamkeiten des Begegnenden, aus dem das ganze Da-sein besteht. […] So könnten wir auch nicht leiblich sein, wie wir es sind, wenn unser In-der-Welt-sein nicht grundlegend aus einem immer schon vernehmenden Bezogen-sein auf solches bestünde, das sich uns aus dem Offenen unserer Welt, als welches Offene wir existieren, zuspricht. […] Dank desselben Ausgerichtet-seins auf etwas sich uns Zusprechendes können wir überhaupt einen Leib haben, besser: leiblich sein.«174
170 Heidegger: Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe. Frankfurt a.M. 1994 [2], S. 292. Schon 1987 erschien, von Heidegger autorisiert, die von Medard Boss herausgegebene Zusammenstellung von Seminar- und Gesprächsprotokollen und dem Briefwechsel zwischen Boss und Heidegger. Erst 2018 aber, also schon nach der Verteidigung meiner Promotion, erschienen Heideggers eigene Vorbereitungen der Vorträge und Seminarsitzungen sowie sämtliche Notizen dazu als Band 89 der Gesamtausgabe. Die Seminar-Inhalte des älteren Buchs sind auch in dem von Peter Trawny herausgegebenen Band der Gesamtausgabe enthalten. Vgl. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 89, Zollikoner Seminare. Frankfurt a.M. 2018. Das zuvor unveröffentlichte Material konnte ich bei meiner nur geringfügigen Überarbeitung der Dissertation leider nicht mehr berücksichtigen. 171 Vgl. zu einem Überblick über die Begriffs- und Übersetzungsgeschichte des von Edmund Husserl und den Übersetzungen Maurice Merleau-Pontys ins Deutsche geprägten Worts ›Leib‹: Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt a.M. 2000, S. 14-17. 172 Heidegger: Zollikoner Seminare, S. 294. 173 Ebd. S. 114. 174 Ebd. S. 293f. Merleau-Ponty versteht den Leib im Gegensatz dazu als etwas a priori Existierendes. Vgl. ders.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. v. Rudolf Boehm. Berlin 1966. S. 117.
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Was diese von Heidegger der Spezies Mensch zugeschriebene besondere Stellung ausmacht, ist, dass von ihr die Tatsache, dass es etwas gibt, bedacht werde. Bei Heidegger zeichnet sich der Mensch dadurch aus, dass er das »›dass es gibt‹ des Seins als Sinn«175 bedenken kann. Jean-Luc Nancy führt dazu aus: »Der Mensch, der nicht mehr ›Kind Gottes‹, ›Ziel und Zweck der Natur‹ oder ›Subjekt der Geschichte‹ ist – das heißt der Mensch, der nicht mehr der Sinn ist beziehungsweise nicht mehr über den Sinn verfügt –, ist jenes Existierende, in dem das Sein sich als Sinn-machen ex-poniert.«176 Die Verantwortung, die Heidegger den Menschen zuschreibt, liegt in einem »unablässigen herzhaften Denken«.177 Aus diesem könne die Haltung der Gelassenheit entstehen. Das Denken ist damit »kein bloßes Vorspiel zum Handeln […], sondern die entscheidende Handlung selbst, durch die das Weltverhältnis des Menschen überhaupt erst beginnen kann, sich zu wandeln. Nötig ist, daß wir uns von einer seit langem unzureichenden Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis frei denken.«178 Dieses weder aktive noch passive, weder theoretische noch praktische Denken sei ohne Ergebnis und ohne Wirkung: »In welcher Beziehung steht nun aber das Denken des Seins zum theoretischen und praktischen Verhalten? Es übertrifft alles Betrachten, weil es sich um das Licht sorgt, in dem erst ein Sehen als Theoria sich aufhalten und bewegen kann. Das Denken achtet auf die Lichtung des Seins, indem es sein Sagen vom Sein in die Sprache als der Behausung der Eksistenz einlegt. So ist das Denken ein Tun. Aber ein Tun, das zugleich alle Praxis übertrifft.«179 Heideggers Einordnung des Denkens dürfe man aber nicht als Handeln im herkömmlichen Sinne missverstehen, mahnt Nancy. Heidegger meine damit vielmehr ein Ins-Spiel-Bringen des Seins als Sinn, und damit ein Lassen des Sinns, nicht ein Produzieren: »In Wirklichkeit ist ›Denken‹ der Name für das Handeln, weil es im Handeln um den Sinn geht. Das Denken […] ist keine herausragende Form des Handelns, es ist nicht das ›intellektuelle Verhalten‹, das anderen Verhaltensweisen vorzuziehen wäre, sondern das, was in allem Handeln den Sinn (des
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Nancy: »Heideggers ›ursprüngliche Ethik‹«, in: ders.: Das nackte Denken. Übers. v. Markus Sedlaczek. Zürich/Berlin 2014, S. 103-139, hier S. 112. Ebd. S. 120f. Heidegger: »Gelassenheit«, S. 529. Heidegger: »Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens«, S. 147. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 361.
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Seins) ins Spiel bringt, ohne den es kein Handeln gäbe. Das Denken erfordert also als solches das Handeln, im aktivsten Sinne des Wortes. Was aber das ›Aktive‹ am Handeln […] ausmacht, ist nicht aufgeregtes Agieren oder Agitieren – sondern der Sinn (oder die Wahrheit).«180 Aus dieser Argumentation Heideggers lässt sich seine Neuauslegung des Humanismus erklären: Ihm wurden die menschlichen Lebewesen bisher noch zu sehr als eine bestimmte Tierart definiert, die von den anderen Arten lediglich hinsichtlich ihrer Vernunft- oder Sprachbegabung unterschieden wurde. Heidegger verschärft die Dichotomie zwischen Menschen und anderen Tieren, indem er negiert, dass sich überhaupt Gemeinsamkeiten körperlicher Art, oder gar des Denkens, feststellen ließen. Für ihn verstellt die Sichtweise auf den Menschen als animal rationale den Blick auf die Außerordentlichkeit, die er der menschlichen Existenzform zuschreibt und die für ihn darin liegt, dass er zu wissen meint, dass allein Menschen die Frage stellen könnten, warum es »überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts«181 gibt. Deshalb geht Heidegger davon aus, dass nur Menschen zu einem Denken fähig seien, in dem das Sein sich offenbaren könne.182 Auch wenn sich gerade darin die ethische Komponente von Heideggers Philosophie ankündigt, kreiert seine Positionierung der Menschen »vor allem anderen«183 gleichzeitig einen höchst problematischen Primat der Menschen.184 Für Heidegger lässt allein die Sprache der Menschen zu, dass das Sein sich enthüllen kann: »Der Mensch […] ist nicht nur ein Lebewesen, das neben anderen Fähigkeiten die Sprache besitzt. Vielmehr ist die Sprache das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch ek-sistiert, indem er der Wahrheit des
180 Nancy: »Heideggers ›ursprüngliche Ethik‹«, S. 109. Vgl. auch S. 111. Nancy versucht die Abwesenheit des Sinns zu denken und das Wort ›Sinn‹ so zu öffnen, dass es gleichzeitig die von der abendländischen Philosophie einerseits dem Bereich des Sinnlichem und andererseits dem Bereich des Intelligiblem zugeteilten Bedeutungsebenen aufruft: den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung und den Bereich von Bedeutungs- oder Sinngehalt. Vgl. Nancy in: Nancy/Tyradellis: Was heißt uns denken?, S. 15f. und Nancy: Der Sinn der Welt. Übers. v. Esther von der Osten. Zürich 2014, insbes. S. 111ff. 181 In dieser Formulierung greift Heidegger diese Grundfrage der Philosophie auf: Heidegger: »Einleitung zu ›Was ist Metaphysik?‹«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 9, Wegmarken, S. 365-383, hier S. 382. 182 Vgl. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 319ff. 183 Heidegger: »Was heißt Denken?«, S. 139. 184 Vgl. Nancy: »Heideggers ›ursprüngliche Ethik‹«, S. 137.
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Seins, sie hütend, gehört.«185 Bei aller Kritik an der von Heidegger konstruierten Vorrangstellung der Menschen ergibt sich daraus ein für die Philologien wesentlicher Gedanke: Sprache ist, ebenso wie das Denken bei Heidegger, kein Mittel zum Zweck, sondern etwas, über das der Mensch nicht frei verfügen kann, weil er immer schon darin und damit verstrickt ist: »Die Sprache spricht. Das heißt zugleich und zuvor: Die Sprache spricht. Die Sprache? Und nicht der Mensch?«186 Verstrickt mit diesem Sprechen der Sprache ist für Heidegger folglich auch, da Denken und Sinnlich-Physisches wiederum miteinander verwoben sind, der Körper beziehungsweise Leib und vor allem die menschliche Hand (von welcher er genauso wie von dem Menschen nur als einzelner spricht): »[D]ie Gebärden der Hand gehen überall durch die Sprache hindurch und zwar gerade dann am reinsten, wenn der Mensch spricht, indem er schweigt«,187 erklärt Heidegger in der Was heißt Denken?-Vorlesung, und: »Das Denken leitet und trägt jede Gebärde der Hand«.188 In dieser Beachtung dessen, dass Denken, Körper und leibliche Wahrnehmung nicht strikt voneinander abzugrenzen sind, behauptet Heidegger aber den Menschen als von allem anderen Lebenden unendlich verschieden, und speziell das »Wesen der Hand«189 als unendlich verschieden von tierischen, für ihn nur werkzeughaften »Greiforganen«.190 Diese Passagen der heideggerschen Umdeutung des Denkens wurden besonders von Jacques Derrida hervorgehoben: »Was meint Heidegger also und warum wählt er hier die Hand aus, während er an anderer Stelle vorzieht, das Denken mit dem Licht oder der Lichtung, man könnte sagen, dem Auge, oder noch mit dem Gehör und der Stimme in Übereinstimmung zu bringen? […] Heidegger bindet in der Tat das Denken […] an ein Denken oder an eine Situierung/Erörterung des Leibes, des Leibes des Menschen als homo und des Menschen als Menschenwesen. […] Das Denken ist nicht eine Sache des Hirns oder eine des Leibes enthobene; die Beziehung auf das Wesen des Seins ist eine bestimmte Manier des Daseins als Leib. […] Es ist geboten, die Hand zu denken. Doch man kann sie nicht
185 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 333. 186 Heidegger: »Die Sprache«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 12, Unterwegs zur Sprache, S. 730, hier S. 17. Herv.i.O. 187 Heidegger: Was heißt Denken?, S. 19. 188 Ebd. S. 26. Vgl. dazu Heidegger: »Aus einem Gespräch von der Sprache«, S. 101f. 189 Heidegger: Was heißt Denken?, S. 18. 190 Ebd.
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denken wie ein Ding, ein Seiendes, und noch weniger wie ein Objekt. Die Hand denkt, bevor sie gedacht wird, sie ist Denken, sie ist ein Gedanke, sie ist das Denken.«191 Derrida verfolgt in La main de Heidegger (Geschlecht II) die Problematik, die in Heideggers Privilegierung der Hand als menschlichem Körperteil sowie als Körperteil des Menschen mitschwingt;192 und legt in De l’esprit. Heidegger et la question in seiner Dekonstruktion von Heideggers Neudefinition des Humanismus dar, dass Heidegger seinem Versuch, dem metaphysischen Denken zu entkommen, selbst eine Grenze stecke, indem er mit einer dogmatischen Hypothese alle Tiere zu einer einheitlichen Seinsart verallgemeinere.193 Hervorzuheben ist jetzt aber noch einmal: Heidegger streift in seinem Versuch, das Denken der Metaphysik und deren Dualismen zu verlassen, immer wieder den Punkt, dass Körper und Leib nie vom Denken und das Denken nie vom Körper und Leib unabhängig sind. Damit wendet er sich nicht nur von einem Dualismus von Körper und Denken ab, sondern beginnt auch aufzuzeigen, dass ein Körper in seinem Erscheinen und in seinem leiblichen Empfinden keine faktische Substanz ist, sondern von Denken und Sprache beeinflusst.194 Das Wort ›Geist‹ versucht Heidegger im Kontext seiner Schriften und Vorlesungen über das Denken zu vermeiden; schon in Sein und Zeit wirft er dem Wort vor, dass es den Zugang zur Analytik des das Dasein auszeichnenden Seins versperre, weil es sich, genauso wie die Worte ›Leib‹ und ›Seele‹ als Namen für »Phänomenbezirke«195 zu sehr an der Tradition der »antik-christlichen Anthropologie«196 orientiere. Und doch findet das Wort
Derrida: Geschlecht (Heidegger). Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 2005 [2], S. 61f. Vgl. ebd. S. 61ff. Diese Vorrangstellung, die Heidegger den Menschen einräumt, bildet einen der Anstöße von Derridas Arbeit über den »Karnophallogozentrismus«. Derrida: Das Tier, das ich also bin. Übers. v. Markus Sedlaczek. Wien 2010, S. 155; vgl. auch S. 203ff. 193 Vgl. Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage. Übers. v. Alexander García Düttmann. Frankfurt a.M. 1992, S. 69. 194 Besonders von Judith Butler wurde dieser Aspekt, anschließend an Michel Foucaults Anschlüsse an Heidegger, ausgearbeitet dazu, dass normative Einschreibungen nie auf Körper als unbeschriebenes Material treffen, sondern immer schon in Abläufe körperlicher Materialisierungen eintreten. Vgl. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Übers. v. Kathrina Menke, Frankfurt a.M. 1991, S. 191 und Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. v. Karin Wördemann. Frankfurt a.M. 1997, S. 21. 195 Heidegger: Sein und Zeit, S. 64. 196 Ebd. Vgl. auch ebd. S. 65.
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›Geist‹ ab der Rektoratsrede wieder Eingang in Heideggers Philosophie, im Versuch, es von der Bedeutungsverschiebung zur Intelligenz und zum Werkzeug zu befreien.197 Hier tritt das problematische politische »Klima«198 der heideggerschen Philosophie, dem sich jede Auseinandersetzung mit dem Erbe seiner Arbeit stellen muss, deutlich hervor: Heidegger arbeitete die geschichtliche Prägung des Denkens sowie seine Verantwortung als »ursprüngliche Ethik«199 heraus, ohne diese mit dem »Zivilisationsbruch«200 zusammenzubringen, der sich währenddessen ereignete. Darauf muss nun zum Abschluss der vorliegenden Darstellung der heideggerschen Umdeutung des Denkens dringend eingegangen werden.
1.1.5.
Das Scheitern der geschichtlichen Verantwortung des Denkens
Heidegger macht das Sein in seiner Undenkbarkeit zu einer arché, von der der Verlauf der Geschehnisse in der Welt ausgeht: »ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins.«201 Mit seiner Vokabel Geschick, die er schon in Sein und Zeit verwendet, umreißt er, dass das Individuum innerhalb der Geschehnisse, die sich zu vermeintlich linearen geschichtlichen Abläufen sammeln, in seinen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten immer bedingt wird. Jean-Luc Nancy erklärt es so: »Geschick bedeutet geschickt werden zu, in Richtung von gewissen Möglichkeiten, die nicht mehr vom Rang der höchsten Möglichkeit des Existierenden allein sind, sondern durch die eine Geschichte stattfindet«.202 Von ›Schicksal‹ ist nicht zu sprechen, da bei Heidegger Dasein nicht nur immer schon In-der-Welt-sein, sondern auch immer schon »Mitsein mit Anderen«203 bedeutet. 197 198
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Vgl. Heideger: »Die Selbstbehauptung der deutschen Universität«, S. 112 und Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 48ff. Vgl. dazu insbes. Derrida: Vom Geist, S. 33f., 40ff. Zum der heideggerschen Philosophie nicht allein äußerlichen Klima vgl. Derrida: »Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas«, übers. v. Rodolphe Gasché, in: Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1976, S. 121-235, hier S. 221. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 356. Vgl. Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt a.M. 1988. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 330f. Nancy: Singulär plural sein, S. 162. Heidegger: Sein und Zeit, S. 167. Das Mitsein bei Heidegger behandle ich mit Jean-Luc Nancys Weiterdenken des bei Heidegger Angelegten in Kapitel 1.2.2 genauer.
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Das jedem Dasein wesenhafte Mitsein mit Anderen wird bei Heidegger jedoch, wie seine Erklärung des Geschicks in Sein und Zeit darlegt, gleich äußerst problematisch gefasst: »Geschick«204 bezeichne »das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes«.205 Obgleich Heidegger den biologistischen Rassismus der Nationalsozialisten ablehnte,206 glaubte er an die Existenz einer kulturellen Einheit als ›Volksgemeinschaft‹. Die Aufgabe des Denkens ist bei ihm stets gekennzeichnet vom Konstrukt einer ›abendländisch-europäischen‹ Ethnie, in der Heideggers konservative Heimat- und Naturverbundenheit, seine Idealisierung des deutschen ›Volks‹ sowie seine Idealisierung des vorsokratischen Griechenlands verschwimmen.207 Heidegger schlägt also vor, »daß wir die Geschichte nicht nur nach den Geschehnissen vorstellen, sondern zuvor nach dem denken, was durch die Geschichte im vornhinein und alles Geschehende durchwaltend geschickt ist.«208 Einer positivistischen Konzentration auf die Gegenwart und vermeintliche Fakten des Geschehenen stellt er ein nachdenkliches Besinnen auf das bestimmende Geschick entgegen. Nur so werde nicht übersehen, dass die je aktuelle Zeit sich erst aus dem Aufeinandertreffen von Her-Kunft und Zu-Kunft öffne, schreibt Heidegger in einer zweiten Fassung der Einleitung in seine Vorlesung des Wintersemesters 1944/45 – die nach der zweiten Sitzung abbrach, weil er zum sogenannten »Volkssturm« eingezogen wurde: »Als das, was ist, gilt dem abendländischen Denken seit langem und heute noch das Anwesende, das Gegenwärtige. Allein, auch das erst Kommende ist schon in seinem Kommen. Auch das Gewesene ist noch, indem es über uns herwest und herkommt. […] Aus der Entgegenkunft der Zukunft und der Herkunft entspringt erst das Gegenwärtige. Es ist das, was aus der Entgegenkunft dem Anschein nach herausspringt und sich für sich aufspreizt und den Schein erweckt, als sei das Gegenwärtige das, was allein seiend ist, während das Gewesene nicht mehr und das Kommende noch nicht – also jedes-
204 Heidegger: Sein und Zeit, S. 508. 205 Ebd. 206 Vgl. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 94, Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931-1938). Frankfurt a.M. 2014, S. 370. 207 Vgl. dazu insbes. Heideggers Rektoratsrede vom 27. Mai 1933: Heidegger: »Die Selbstbehauptung der deutschen Universität« (1933), in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 16, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. Frankfurt a.M. 2000, S. 107-118. 208 Heidegger: »Was heißt Denken?«, S. 142.
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mal nicht sind. Das Gegenwärtige ist nur als der wechselweise Übergang des Kommenden in das Gewesene und des Gewesenen in das Kommende.«209 In Schriften von denkenden Philosophen und Dichtern ließe sich dieses erfahren, da es im »Sagen der Denker«210 bereits zur Sprache gekommen sei: »Diese bleibende und in ihrem Bleiben auf den Menschen wartende Ankunft des Seins je und je zur Sprache zu bringen, ist die einzige Sache des Denkens. Darum sagen die wesentlichen Denker stets das Selbe. Das heißt aber nicht: das gleiche.«211 Erst mit einer derartigen Einweisung in »das Gezüge und die Bezüge unserer Geschichte und d.h. der gegenwärtigen Weltgeschichte«212 gehe genügend Erfahrung im eigenen Denken – im abendländisch-europäischen Denken der Metaphysik – einher, um überhaupt »ein anderes Denken als fremdes anzuerkennen und es als Befremdendes in seiner fruchtbaren Befremdlichkeit anzuhören.«213 An den wenigen Stellen, an denen Heidegger konkretisiert, wohin sich dieses geschichtliche Nach- oder Andenken richten könnte, zeigt sich jedoch das heikle Klima seiner Philosophie. In der zweiten Was heißt Denken?Vorlesung in Freiburg – die beiden Vorlesungen im Wintersemester 1951/52 und im Sommersemester 1952 waren seine ersten Vorlesungen nach dem Ende seines Lehrverbots – rief Heidegger am 20. Juni 1952 seine Hörer*innen dazu auf, die just eröffnete Ausstellung Kriegsgefangene reden zu besuchen: »Ich bitte Sie, hinzugehen, um diese lautlose Stimme zu hören und nicht mehr aus dem inneren Ohr zu verlieren. Denken ist Andenken. Aber Andenken ist anderes als die flüchtige Vergegenwärtigung von Vergangenem. Andenken bedenkt, was uns angeht. Wir sind noch nicht in dem gemäßen Raum, um über Freiheit nachzudenken und auch nur davon zu reden, solange wir auch gegenüber dieser Vernichtung der Freiheit den Blick verschließen.«214
209 Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 50.2, Einleitung in die Philosophie. Denken und Dichten. Frankfurt a.M. 1990, S. 147. 210 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 363. 211 Ebd. 212 Heidegger: »Identität und Differenz«, S. 140. 213 Ebd. S. 140. 214 Heidegger: Was heißt Denken?, S. 161.
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Vor dem Hintergrund des ausufernden Schweigens Heideggers über die Schoah lesen sich Stellen wie diese, in denen er die Folgen des zweiten Weltkriegs für deutsche Überlebende beklagt, beklemmend. Philippe LacoueLabarthe zitiert diesen Aufruf Heideggers, um zu zeigen, dass Heidegger die Möglichkeit gehabt hätte, sein Schweigen zu brechen.215 In La fiction du politique arbeitet Lacoue-Labarthe aus, dass Heidegger, obgleich er der Erste war, »der für das Denken eine ungeheure ›geschichtliche‹ Verantwortung in Anspruch genommen hat«,216 mit seinem unverzeihbaren Schweigen zu den eigenen Verstrickungen in den Nationalsozialismus, zu den Vorwürfen, dass sein Denken faschistisch sei, sowie und besonders zum Massenmord an jüdischen Menschen ermöglicht habe, dass sein Ruf zur »Aufgabe (tâche) des Denkens«217 mit einem »Fleck (tache) im Denken«218 versehen wurde. Es sei nicht zu bestreiten, dass Heideggers Philosophie in ihrer Abkehr von Rationalismus, Aufklärung, Humanismus, Progressismus und Internationalismus politisch als »eine Philosophie ›der Rechten‹, tragisch-heroisch und revolutionär«219 eingestuft werden müsse. Da Heidegger den Rassismus und Biologismus Hitlers und der Nationalsozialisten ablehnte, sei allerdings eher von einem »Archi-Faschismus«220 zu sprechen. Peter Trawny kommt mit ähnlicher Begründung nach der Herausgabe der Schwarzen Hefte zu der Bezeichnung »seinsgeschichtlicher Antisemitismus«221 für einen »gewissen Abschnitt seines [Heideggers, Anm. L.O.] Weges«,222 nämlich den, in dem Heidegger die Seinsvergessenheit und das rechnende Denken mehr noch als dem abendländischen Europa dem Judentum zuschreiben zu können meint.223 Doch Heidegger hat diesen Abschnitt nie revidiert; nie stattdessen
Vgl. Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen, S. 164f. Ebd. S. 149f. Ebd. S. 149. Ebd. Ebd. S. 154f. Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen, S. 155. Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Frankfurt a.M. 2015 [3], S. 11. 222 Ebd. Zu einer Verteidigung Trawnys gegenüber dem häufig angebrachten Vorwurf, er würde den Heideggerschen Antisemitismus durch das vorangestellte Adjektiv ›seinsgeschichtlich‹ beschönigen, vgl. Nancy: Banalität Heideggers. Übers. v. Martine Hénissart/Thomas Laugstien. Zürich/Berlin 2017, S. 15, 18. 223 Vgl. insbes. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 96, Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Frankfurt a.M. 2014, S. 46, S. 56, S. 243; ders.: Gesamtausgabe, Bd. 97, Überlegungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948). Frankfurt a.M. 2015, S. 20. 215 216 217 218 219 220 221
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nach Gründen und Herkunft des Antisemitismus gefragt, wenngleich die Möglichkeit dazu in seiner Philosophie doch geradezu auf der Hand lag. Dieser Widerspruch und das von ihm angestoßene Scheitern des heideggerschen Projekts ließ sich lange vor der Veröffentlichung von Heideggers Aufzeichnungen in den Heften mit schwarzem Einband klar konstatieren, wie vor allem die Monographie Lacoue-Labarthes verdeutlicht. Das, was Heidegger zu denken aufrief, den »Grund«224 des Abendlandes, enthüllte sich gerade mit der Einzigartigkeit von Auschwitz, »dieser Operation, in der es schlicht und einfach um eine kalte und mit einem Maximum an Effektivität und Ökonomie (ohne jede Hysterie und ohne jeden Wahn) berechnete Beseitigung ging«.225 Nur für eine bis zu ihrem Umschlag in Irrationalität fortgeschrittene Rationalisierung war die industrielle Massentötung von Menschen mit den Mitteln der modernen Technik möglich.226 Gerade dieses ansonsten undenkbare Ereignis riss jenen »Abgrund«227 auf (wie Lacoue-Labarthe es erst mit Hannah Arendts Äußerung aus dem Fernsehinterview mit Günter Gaus nennt), war jene »Zäsur«228 (wie er später mit Hölderlin entwickelt), auf deren Denkbarkeit und Andenken Heidegger hätte vorbereiten können. Doch »[d]em Denken dieses Ereignisses hat Heidegger sich entzogen«,229 schreibt Lacoue-Labarthe. Nicht nur durch sein Schweigen und das, was er nicht bearbeitet hat, ist Heidegger hinter den eigenen philosophischen Anspruch zurückgefallen, sondern er hat durch seinen seinsgeschichtlichen Antisemitismus oder Archi-Faschismus eine – so greift Jean-Luc Nancy Arendts Erkenntnis 224 Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen, S. 63. 225 Ebd. Herv.i.O. 226 Hinsichtlich Heideggers Diagnose, dass die modernen Rationalisierungsbewegungen in Irrationalität umschlagen, lassen sich Schnittmengen seiner Philosophie mit Theodor W. Adornos und Max Horkheimers erstmals 1944 am New York Institute for Social Research erschienener Dialektik der Aufklärung ausmachen, die ebenfalls die Herrschaft des zu den Objekten distanzierten Subjekts und seines zum Werkzeug verkommenen Denkens in den Phänomenen ihre Eigenart absprechenden Begriffen ausmacht. Im Gegensatz zu Heidegger machen Adorno und Horkheimer die Zuspitzung des irrationalen Fortrisses der Moderne jedoch deutlich im Völkermord der Nationalsozialisten an mehr als sechs Millionen Menschen aus. Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 2003, S. 19, 23, 31. 227 Vgl. Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen, S. 58f. Vgl. Arendt: »Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache«, in: Günter Gaus: Zur Person. Porträts in Frage und Antwort. München 1964, S. 13-32, S. 25. 228 Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen, S. 65ff. 229 Ebd. S. 60.
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über die »Banalität des Bösen«230 auf – Banalität in seine Philosophie eingeführt.231
1.2. 1.2.1.
Ganz anders und umso mehr denken Heimatloses Denken. Chōra, différance, destinerrance und dissemination (Jacques Derrida)
Im Rahmen der Debatte um die Bedeutung der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte für die Heidegger-Rezeption meldet sich mehrmals Jean-Luc Nancy zu Wort. Er beharrt darauf, dass, trotz allem von Heideggers philosophischen und realpolitischen Verstrickungen in Nationalsozialismus und Antisemitismus ausgelöstem Unbehagen, der immense Einfluss der von Heidegger eröffneten Revision der Philosophie nicht geleugnet werden könne. Diese Revision sei noch nicht abgeschlossen, sondern bestehe im Anschluss an Heidegger in der Aufgabe, »die ›Seinsfrage‹ oder die Frage der ›ontologischen Differenz‹ vom Dispositiv der Ursprünglichkeit oder der Anfänglichkeit zu trennen.«232 Auch wenn das Sein nach dem heideggerschen Seinsverständnis auf keinen irreduziblen Grund mehr »reduzierbar oder substantiierbar«233 ist, ist das Denken des Seins bei Heidegger vom Glauben an seine einzigartige kulturelle Abstammung gekennzeichnet.234 In Heideggers Ablehnung der Moderne sowie in seiner Rückbesinnung auf das vorsokratische Griechenland, mit dem er das deutsche ›Volk‹ in eine Verwandtschaft mythologisiert, ist das nostalgische Konstrukt einer Heimat des Denkens festzustellen, aus der dieses nicht nur entspringt, sondern in die es – so zumindest die Hoffnung – zurückkeh-
230 Arendt: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Übers. v. Brigitte Granzow, München 2011 [11], S. 371. Darauf komme ich in Kapitel 1.2.3 zurück. 231 Vgl. Nancy: Banalität Heideggers, S. 8. 232 Nancy: »Heideggers Banalität«, übers. v. Kathrin M. Lagatie, in: Peter Trawny/Andrew J. Mitchell (Hg.): Heidegger, die Juden, noch einmal. Frankfurt a.M. 2015, S. 11-42, S. 41. 233 Ebd. S. 14, vgl. auch S. 11f. Vgl. dazu, dass Heideggers Philosophie über Heideggers Denken hinausreicht, sowie zu den Missverständnissen und Deutungskontroversen darüber: Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen, S. 167-188; Derrida/Hans-Georg Gadamer/Lacoue-Labarthe (Hg.): Heidegger. Philosophische und politische Tragweite seines Denkens. Das Kolloquium von Heidelberg. Übers. v. Esther von der Osten. Wien 2018 und Jürgen Altwegg (Hg.): Die Heidegger-Kontroverse. Frankfurt a.M. 1988. 234 Vgl. Nancy: »Heidegger und wir«.
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ren kann. Die Gegend, Gegnet, Lichtung oder chôra, die alles Seiende räumlichzeitlich versammelt, ist fremd und vertraut zugleich.235 Jacques Derrida beschäftigte sich in unterschiedlichen Kontexten mit der Unmöglichkeit eines solchen Ursprunges sowie damit, dass ein solcher Ursprung, selbst wenn es ihn geben würde, immer unzugänglich bliebe. Aufgrund dieser Unmöglichkeit einer Rückkehr ist dem »teleologischen Anachronismus«,236 wie Jacques Derrida Heideggers »rückwärtsgewandte[…] Projektionen«237 an einer Stelle bezeichnet, eine Heimatlosigkeit entgegenzusetzen, wobei heimatlos nicht hieße, dass es keine Heimat mehr gebe, sondern dass es diese noch nie gab.238 Erstaunlicherweise ist Heidegger, obgleich er das Sein als das Singuläre und Unvorstellbare umschreibt, noch bestrebt, einen Namen dafür zu finden: »So müßte denn die Sprache, um das Wesende des Seins zu nennen, ein einziges, das einzige Wort finden.«239 Dies ist für Derrida das, was Heidegger »von der Metaphysik beizubehalten scheint: die Suche nach dem eigentlichen Wort und dem einzigartigen Namen«.240 Dabei müsste doch klar ersichtlich sein, schreibt Derrida »daß es ein einzigartiges Wort, einen Ober-Namen nie gegeben hat, nie geben wird. […] Es wird keinen einzigartigen Namen geben, und sei es der Name des Seins. Und das muß ohne Nostalgie gedacht werden, will sagen, jenseits des Mythos […] von der verlorenen Heimat des Denkens. Das muß im Gegenteil bejaht werden, wie Nietzsche die Bejahung ins Spiel bringt, als Lachen und als Tanz.«241 Im Feldweggespräch über das Denken sieht es für eine Weile so aus, als zöge Heidegger selbst in Zweifel, dass sich »das einzige Wort«242 finden ließe.243 Im Verlauf der gemeinsamen Erörterung der besonderen Beziehung der Menschen zur Gegend oder Gegnet wird jede von einem der drei Gesprächsteilnehmer für diese Beziehung vorgeschlagene Bezeichnung zunächst nur vor235 236 237 238 239 240
Vgl. bspw. Heidegger: »Zur Erörterung der Gelassenheit«, S. 45f. Derrida: Chōra, S. 18. Ebd. S. 17. Vgl. dazu Etzold: »Gegend ohne Könige«, S. 323f. Heidegger: »Der Spruch des Anaximander«, S. 366. Derrida: »Die différance«, übers. von Eva Pfaffenberger-Brückner, in: ders.: Die différance. Ausgewählte Texte. Stuttgart 2004, S. 110-149, hier S. 146. 241 Ebd. 242 Heidegger: »Der Spruch des Anaximander«, S. 366. 243 Vgl. Heidegger: »Zur Erörterung der Gelassenheit«, S. 52ff.
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sichtig und vorläufig verwendet. Auch die zuletzt ausprobierte, von Heraklit entliehene Vokabel wird nach mehreren Übersetzungsversuchen am Ende des Gesprächs verworfen, da sie doch eher das eigene Gespräch als die Nähe der Menschen zum Sein zu bezeichnen scheine.244 Vom etwa ein bis zwei Jahre später erschienenen Aufsatz Der Spruch des Anaximander an leitet Heidegger jedoch aus dem als »der älteste Spruch des abendländischen Denkens«245 geltenden Satz Anaximanders die Bezeichnung »τό χρεώ ν der Brauch«246 her, um der »Weise, wie das Sein selbst west als die Beziehung zum Anwesenden, die das Anwesende als Anwesendes an-geht und be-handelt«247 einen Namen zu geben. Dass dieser Name gerade mit der Überlieferung und der Tradition verknüpft ist, ist bezeichnend dafür, dass die Offenheit, die Heidegger zu entwerfen versucht, hier an eine Grenze stößt. Im Folgenden werde ich einige Denkbewegungen Derridas in ihrem Weiterdenken und Umdenken von heideggerschen Ansätzen aus dem Geflecht sowohl der einzelnen Texte Derridas als auch aus dem Geflecht, das diese miteinander bilden, hervorziehen. Damit will ich anhand von Derridas Dekonstruktion einzelner heideggerscher Texte die Richtung aufzeigen, in welche das Verständnis von Denken nach Heidegger für die vorliegende Arbeit weiter zu öffnen wäre. In Derridas Lektüre von Platons Timaios soll chōra nicht mehr als Benennung fungieren, sondern als ein »vor aller Übersetzung geschützt[es]«248 Wort ohne Artikel einen unbenennbaren Komplex aufrufen. Dabei interessiert es Derrida besonders, mit Platons Figur der chōra, als einer dritten Gattung oder einem dritten Geschlecht jenseits (oder besser diesseits) der Oppositionspaare, Platon gegen den Platonismus zu lesen.249 In mehreren Passagen deutet 244 245 246 247
Vgl. ebd. S. 71ff. Heidegger: »Der Spruch des Anaximander«, S. 321. Ebd. S. 366. Ebd. S. 368. Bei dem Namen Brauch bleibt Heidegger, z.B. in einer Randbemerkung des 1964 erstmals veröffentlichten Aufsatzes Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens: »Die Aufgabe des Denkens und das Es, das gibt (die brauchende Eignis) ›brauchend‹: in den Brauch eingelassen.« Heidegger: »Beilage zum Vortrag Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 14, Zur Sache des Denkens, S. 119. 248 Vgl. Derrida: Chōra, S. 17. 249 Vgl. ebd. S. 11f. Vgl. Platon: »Timaios«, in: ders: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Griechisch und deutsch nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl u.a., Bd. 8, Philebos, Timaios, Kritias. Frankfurt a.M./Leipzig 1991, S. 197425, hier S. 293 (48e) und S. 303 (52a).
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Derrida an, dass er beabsichtige, auf Heideggers Ausführungen zur »chôra« einzugehen (die sich von dessen Beschreibungen der Gegend, der Gegnet oder der Lichtung nicht eindeutig abgrenzen lässt). Doch Derridas fragmentarischer Chōra-Aufsatz endet, bevor diese Ankündigung eingelöst wird. Derrida selbst entwirrt den raumzeitlichen Chōra-Komplex als Struktur einer »Anachronie des Seins«.250 Diese Struktur erklärt auch, dass Heidegger zu seiner seinsgeschichtlichen Philosophie nur gelangen kann, indem er mit der Annahme arbeitet, Geschichte sei zu einer seinsgeschichtlichen Ordnung oder einem seinsgeschichtlichen Telos totalisierbar.251 Diesen »teleologischen Anachronismus«252 zu zerstreuen, könne nicht aufgeschoben werden, schreibt Derrida – kennzeichnet ihn zugleich allerdings als »unvermeidlich«:253 »Wir werden niemals Anspruch darauf erheben, das richtige Wort für chōra anbieten zu können, weder, sie endlich nennen/rufen zu können, sie selbst, jenseits aller Wendungen und Umwege der Rhetorik, noch endlich an sie herangehen zu können, sie selbst, auf das hin, was sie, außerhalb jeden Gesichtspunkts, außerhalb jeder anachronischen Perspektive, gewesen sein wird.«254 Mit und gegen Platon entwickelt Derrida chōra als »einen Einschreibungsort, von dem klar gesagt wird, daß er in einer im übrigen a-logischen und a-chronischen, auch ana-chronischen Ordnung über die konstitutiven Oppositionen des Mytho-logischen als solchem […] hinaus oder diesen vorausgeht.«255 Doch dieses »hinaus« oder »voraus[…]« soll gerade nicht als Verortung im Transzendentalen gemeint sein. Was Derrida hier entwickelt, lässt sich als Versuch lesen, die von Heidegger ins Spiel gebrachte Abgründigkeit des Seins weiter ins Wanken zu bringen. Das ›Ur‹ von chōra wäre in seiner Un-Zeitlichkeit des ›immer schon da‹ als solch eine Verunsicherung aller Gewissheiten zu denken, dass dieses ›Ur‹ nie zu einer sicheren Setzung gefestigt werden kann, somit aber auch keine nach gängigen Kriterien saubere Argumentation mehr tragen könnte:
250 251 252 253 254 255
Derrida: Chōra, S. 18. Vgl. ebd. S. 18ff. Ebd. S. 18. Ebd. Ebd. Ebd. S. 49.
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»kehren wir zurück diesseits des gesicherten Diskurses der Philosophie, die vermittels prinzipieller Oppositionen vorgeht und mit dem Ursprung rechnet wie mit einem normalen Paar. Wir müssen zurückkehren in Richtung eines Vor-Ursprungs, der uns dieser Sicherheit benimmt und im selben Zug einen unreinen, bedrohten, bastardhaft unsauberen und hybriden philosophischen Diskurs einfordert.«256 Wird mit dem Ursprung gerechnet, »wie mit einem normalen Paar«, wird er mit einem Telos zu einer Binarität zu vervollständigen versucht. Außerdem wird im »gesicherten Diskurs der Philosophie« damit gearbeitet, dass ihre Dualismen einen gemeinsamen, anfänglichen Ausgangspunkt haben. Gerade diese Geschlossenheit des philosophischen Diskurses, der sich eine widerspruchslose, keine Fragen offenlassende argumentative Beweisführung durch die Vornahme von Setzungen sichert, gilt es für Derrida aufzubrechen. »Nie wird es ›vor‹ – wenn man so sagen kann – all diesen Paaren irgendeine präsentative Einfachheit gegeben haben, sondern eine weitere Falte, eine weitere nicht-präsentierbare, nicht-repräsentierbare, vielleicht werfende, jektive Differenz, die aber weder objektiv noch subjektiv noch projektiv ist. Was hat es auf sich mit dem Nicht-präsentierbaren oder Nicht-repräsentierbaren? Wie es denken?«257 Derrida versucht dieser Rechnung mit dem Ursprung zu entkommen, indem er die différance als Aufschubbewegung erfindet, als Anfang, der kein Anfang, sondern eine mise en abyme des Anfangs ist, eine Verabgründung anstelle eines Ur-Grunds. In seinem Artikel Die différance geht er der Frage nach, wie sich überhaupt das »Draußen eines Textes«, zum Beispiel »das andere des Textes der abendländischen Metaphysik«,258 denken lassen könnte. Meist wird der Différance-Artikel zitiert, wenn es um Derridas Deskonstruktion des Logozentrismus sowie des Primats der Sprache vor der Schrift geht. Seltener wird erwähnt, dass Derrida darin eine Lektüre von Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander präsentiert. Das Wort différance ist neben einer unhörbaren Umschreibung des Wortes ›différence‹ auch die Substantivierung von ›différencier‹ (Unterschiede setzen) und ›différer‹ (aufschieben) – mit dem Umweg 256 Ebd. S. 70. 257 Derrida: »Sendung«, in: ders.: Psyche. Erfindungen des Anderen 1. Übers. v. Markus Sedlaczek. Wien 2012, S. 95-141, hier S. 122. 258 Derrida: »Die différance«, S. 144.
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über das französische participe présent, dessen Endung ›-ant‹ eine Gleichzeitigkeit kommuniziert. Damit drückt die grammatikalische Flexion Zustand und Prozess zugleich aus, ähnlich wie Heideggers Licht-ung. Derrida fasst damit, wie der Übersetzer Ulrich Köppen erläutert, »die die Differenzen erzeugende ›Tätigkeit‹ und gleichzeitig die Verzögerung und den Aufschub der Präsenz, die durch diese Erzeugung bewirkt wird.«259 Dadurch vertieft und verunklart Derrida den Ab-Grund des Seins, den Heidegger den ihm philosophiegeschichtlich vorausgegangenen Letztbegründungen entgegensetzt. Das Wesen des Seins könne nur als dieses »Un- der différance«260 überhaupt zu denken sein, schreibt Derrida. Im Gegensatz zu Heideggers seinsgeschichtlichem Denken, dem zufolge das Sein über alles Seiende waltet, betont Derrida mit der Denkfigur der différance den Entzug jeglichen Fundaments: »Sie beherrscht nichts, waltet über nichts, übt nirgends eine Autorität aus. Sie kündigt sich durch keine Majuskel an. Nicht nur gibt es kein Reich der différance, sondern diese stiftet zur Subversion eines jeden Reiches an.«261 Derrida entwickelt die différance aus der unbewussten Spur, als die Heidegger die ontischontologische Differenz zeichnet. Doch sie meint mehr – oder weniger – als die Vergessenheit der Differenz bei Heidegger. Différance soll kein Neologismus für diese Differenz sein, sondern ein Wort, das den Versuch aufruft, die absolute Unrepräsentierbarkeit zu denken. Zu denken also, dass sich diese Differenz des Seins zum Seienden in der uneinholbaren Andersheit des Seins aus der Seinsvergessenheit heraus nie denken und demzufolge auch nie benennen lassen wird. Und darüber hinaus zieht Derrida mit der différance auch noch in Zweifel, ob es überhaupt einen Sinn oder eine Wahrheit des Seins beziehungsweise einen Sinn oder eine Wahrheit des Seins gibt. Gerade diesen ob seines Nihilismus »unerhörten Gedanken«262 gälte es zuzulassen. Die différance wäre hiernach das »bodenlose Schachbrett, auf dem das Sein ins Spiel gebracht ist«,263 und damit »auf eine gewisse und äußerst sonderbare Weise ›älter‹ als die ontologische Differenz oder die Wahrheit des Seins.«264 Erst wenn es gelänge, sich das zu verdeutlichen, könne man die différance als 259 Anmerkung von Ulrich Köppen in: Derrida: »Cogito und die Geschichte des Wahnsinns«, übers. v. Ulrich Köppen, in: Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 53-101, hier S. 99. 260 Derrida: »Die différance«, S. 144. 261 Ebd. S. 138. 262 Ebd. S. 139. 263 Ebd. S. 140. 264 Ebd. S. 139.
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wahrlich außerhalb alles Seienden und damit nicht vom gewohnten Denken vereinnahmt verstehen. »Einer Spur, die nicht mehr zum Horizont des Seins gehört, sondern deren Spiel den Sinn des Seins trägt und säumt: das Spiel der Spur oder der différance, die keinen Sinn hat und die nicht ist. Die nicht angehört.«265 Da der Unterschied nie als Unterschied zum Vorschein kommen kann – was auch Heidegger bereits anführt –, gibt es kein Wesen der différance. Analog zur chōra ist sie eher als eine Struktur vorstellbar. Die Suche nach einem Namen müsste damit endgültig eingestellt werden, nicht ohne zu vergessen, dass auch der Name différance in seinem Verweis auf etwas ihm Äußerliches metaphysisch bleibe. »›Dafür gibt es keinen Namen‹: diesen Satz in seiner ganzen Plattheit lesen. Dieses Unbenennbare ist kein unaussprechliches Wesen, dem kein Name nahekommen könnte: Gott zum Beispiel. Dieses Unbenennbare ist jenes Spiel, das nominale Effekte bewirkt, verhältnismäßig einheitliche oder atomare Strukturen, die man Namen, Ketten von Namenssubstitutionen nennt und in denen zum Beispiel der nominale Effekt ›différance‹ selbst herbeigeführt, wiedereingeschrieben wird, als blinder Einstieg oder blinder Ausgang immer noch Teil des Spieles, Funktion des Systems ist.«266 In ihrem unaufhörlichen, unabschließbaren, ausufernden Spiel der Differenzen beschreibt die »différance« sowohl den Entzug (»dérobement«) als auch und zugleich das Überborden (»débordement«) des Sinns.267 Gegenüber Heideggers Position, dass sich in den unterschiedlichen Entbergungen immer dasselbe Sein lichte, bedeutet Derridas Denken einen »Perspektivwechsel«.268 Während Heidegger begann, die Singularität als Singularität des Seins zu denken, verhandeln Philosoph*innen nach ihm, wie Singularitäten des Seienden denkbar wären, ohne ein gemeinsames Vorausgehendes anzunehmen. Das Interesse verlagerte sich, wie Nikolaus Müller-Schöll zusammenfasst, zu »einer Koexistenzial(de)ontologie, den je singulären Prägungen« oder der je anderen Differenz, die die jeweils einzelnen Seienden »in ihrem je singulären Bezug zu allen anderen Singularitäten zu denken er-
265 Ebd. S. 139f. 266 Ebd. S. 145f. 267 Derrida: »Außer dem Namen (Post-Scriptum)«, übers. v. Markus Sedlaczek, in: Derrida: Über den Namen. Drei Essays. Wien 2000, S. 63-121, hier S. 90. 268 Müller-Schöll: »Das Problem und Potential des Singulären«, S. 142.
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laubt, ohne dabei ein Gemeinsames als diesem Bezug Vorausgehendes anzunehmen.«269 Derridas Text mit dem Titel Envoi (so ein Wort Derridas, das, über den Umweg der Übersetzungen zwischen deutscher und französischer Sprache, in Verbindung mit Heideggers Geschick steht) verwebt eine Auseinandersetzung mit Heideggers seinsgeschichtlichem Denken (besonders im Rückgriff auf Die Zeit des Weltbildes) mit einer Meditation über das Begriffsfeld der Repräsentation (mit besonderem Bezug auf Heideggers Begriff der Vor-stellung). Dabei problematisiert Derrida den einheitlichen und gewissermaßen auch linearen Verlauf, den Heidegger dem Seinsgeschick zuschreibt. Er betont, dass die Menschen, trotz aller Bemühungen, zu sammeln und zu bewahren, »der Wirrnis des Zwiespalts ausgesetzt«270 bleiben. Das Konzept der Seinsgeschichte als einzelnen Strang eines Geschicks erweitert Derrida für »die Teilbarkeit und die irreduzible Dissemination der Sendungen«.271 Dabei führt er einen weiteren Neologismus, mit grammatikalischer Ähnlichkeit zur différance, ein: destinerrance. Die beiden meistverwendeten Übersetzungen ins Deutsche, die Substantivkomposita »Irrgeschick«272 und »Bestimmungsirrung«273 verweisen darauf, dass in destinerrance die wenigen opaken Stellen nachhallen, an denen Heidegger selbst die »Irre« erwähnt, von der »jede Epoche der Weltgeschichte«274 gekennzeichnet sei. Bei Derrida meint destinerrance, dass keine 269 Ebd. 270 Derrida: »Sendung«, S. 122. Vgl. auch Derrida: Geschlecht (Heidegger), S. 29. 271 Derrida: »No Apocalypse, not now (full speed ahead, seven missiles, seven missives)«, in: ders.: Apokalypse. Übers. v. Michael Wetzel. Wien 1985, S. 91-132, hier S. 125. Herv.i.O. Vgl. zur »dissemination« auch Derrida: »Sendung«, S. 130ff. und Derrida: »Dissemination«, in: ders.: Dissemination. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 1995, S. 323-416. 272 Derrida: Meine Chancen. Rendez-vous mit einigen epikureischen Stereophanien. Übers. v. Elisabeth Weber. Berlin 1994, S. 6. 273 Derrida: »Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie«, in: ders.: Apokalypse, S. 9-90, hier S. 80. Michael Wetzel schlägt hier für »destinerrance« die Übersetzung »Bestimmungsirrung« vor. 274 Heidegger: »Der Spruch des Anaximander«, S. 338. Heidegger hebt in seiner Beschäftigung mit der Thematik des ungerechten Werdens und Vergehens der Dinge bei Anaximander die Verborgenheit des Seins mehr als sonst hervor. Hier schreibt Heidegger davon, dass das Sein sich nur so, eher verbergend als enthüllend, lichte, dass das Denken ihm gerade nicht folgen könne: »Dergestalt beirrt das Sein, es lichtend, das Seiende mit der Irre. Das Seiende ist in die Irre ereignet, in der es das Sein umirrt und so den Irrtum (zu sagen wie Fürsten- und Dichtertum) stiftet.« Ebd. S. 337. Hannah Arendt überlegt, ob diese Passagen als eine weitere, nicht weiter verfolgte Kehre in Heideggers Werk einzustufen seien – aufgrund der nicht vorliegenden umfas-
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Äußerung ihr in Hinsicht auf Bedeutung oder Adressat intendiertes Ziel (gewiss) erreicht. Bestimmt ist jede Äußerung allein dazu, (ziellos) umherzuirren. Da, wo Derrida die destinerrance in Verbindung mit Heideggers Geschick erwähnt, verweist sie jedoch zudem und zugleich auf Geschichten der irreduziblen prä-ursprünglichen Zufälligkeit, der Unberechenbarkeit, der Unbestimmbarkeit und Uneindeutigkeit, der Ungerichtetheit, des Irrens und der Verwirrung: »Das, was ich die ›Bestimmungsirrung‹ (destinerrance) genannt habe, gibt uns nicht einmal die Versicherung eines Geschicks des Seins, eines Sammelns des Geschicks des Seins. Wenn die ontisch-ontologische Differenz das Sammeln dieses Geschicks versichert, dann gehen die Dissemination und die Bestimmungsirrung, von denen ich rede, so weit, diese ontisch-ontologische Differenz aufzuheben. Sie epochalisieren sie ihrerseits. […] Die Bestimmungsirrung der Sendungen ist einer Struktur verbunden, deren Zufälligkeit und Unberechenbarkeit irreduzibel ist.«275 Wenn auch die bereits undenkbare ontisch-ontologische Differenz ihrerseits als epochalisierbar zu denken ist, ist damit entlarvt, was an Heideggers AbGrund noch einem Fundament ähnelt und was in Heideggers Destruktion des abendländischen, »planetarisch geworden[en]«276 Denkens noch insofern von diesem vereinnahmt ist, als es nur ein anderes Denken anstrebt und keine vielen anderen Denken, im Plural. Am Ende des Envoi-Vortrags schlägt Derrida die Erfindung und Erprobung von »Schickungen beziehungsweise Sendungen des Anderen, der Anderen«277 vor. Um sich in Richtung einer solchen Pluralität des Denkens sowie einer Öffnung dieser Denken für das singuläre Andere zu
senderen Abhandlung, der der Anaximander-Aufsatz nach Heideggers eigenen Angaben entnommen sei, sei dies aber nicht eindeutig zu interpretieren. Vgl. Arendt: Willing, S. 187ff./Vom Leben des Geistes, S. 414ff. J. Hillis Miller, der dem Netz von Bezügen des Wortes destinerrance im »Labyrinth von Derridas Schriften« (S. 31, übers.v.L.O.) umsichtig nachgeht, legt nahe, dass die destinerrance ein Echo Heideggers sein könnte. J. Hillis Miller: For Derrida. New York 2009, S. 45. Jean-Luc Nancy erwähnt, ohne nähere Ausführungen, dass Werner Hamacher ihn darauf hingewiesen habe, »zu erwägen, dass ›destinerrance‹ von Heidegger stammen könnte.« Nancy: »Heidegger und wir«. 275 Derrida: »No Apocalypse, not now«, S. 125. 276 Heidegger: »Wissenschaft und Besinnung«, S. 41. 277 Derrida: »Sendung«, S. 133. Herv. L.O.
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bewegen, wäre – vielleicht, schreibt Derrida – der Verpflichtung nachzukommen, »ganz anders oder auch/und zugleich umso mehr zu denken«.278
1.2.2.
Nicht das Sein heißt uns Denken, sondern das gemeinsame Erscheinen (Jean-Luc Nancy)
»[W]ir können nichts denken, ohne dass dieses Denken von vornherein in einer Gemeinsamkeit steht. Es ist anderen verpflichtet (ob ich es weiß oder nicht) und an andere gerichtet (ob ich es will oder nicht).«279 Während Derrida in Meditationen über Heidegger-Vokabeln wie »Vorstellung«,280 »Geist«281 oder »Geschlecht«282 deren problematische Implikationen aufspürt, wagt Jean-Luc Nancy – in vielen Punkten an Derrida anknüpfend – sich über diesen hinaus daran, herauszuarbeiten, wie sich an den blinden Flecken und Widersprüchen Heideggers einhaken ließe, um diese neu zu verhandeln. Von La communauté désœuvrée (1986)283 über Être singulier pluriel (1996)284 zu La communauté affrontée (2001)285 und La communauté désavouée (2014)286 wirft Nancy die Frage auf, wie eine Gemeinschaft zu denken wäre, die keine Einheit ist und keinen gemeinsamen, ihr zugrunde liegenden Nenner hat. Dabei greift er immer wieder auf etwas zurück, das bei Heidegger angelegt ist, aber von Heidegger nicht ernst genug genommen und bei Weitem nicht zu Ende gedacht werde.287 Nancy kombiniert einen Rückgang zu Heideggers Fundamentalontologie des »mithaften In-der-Welt-seins«288 des Daseins mit der 278 Ebd. S. 141. »[M]ais engage peut-être a penser tout autrement« lautet die mehrdeutige französische Formulierung Derridas. Vgl. die Anmerkung zur Übersetzung von Markus Sedlaczek ebd. S. 219. 279 Nancy/Tyradellis: Was heißt uns denken?, S. 75. 280 Vgl. Derrida: »Sendung«. 281 Vgl. Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage. 282 Vgl. Derrida: Geschlecht (Heidegger). 283 Neu-Übersetzung ins Deutsche: Nancy: Von einer Gemeinschaft, die sich nicht verwirklicht. Übers. v. Esther von der Osten. Wien 2018. 284 Übersetzung ins Deutsche: Nancy: Singulär plural sein. 285 Übersetzung ins Deutsche: Nancy: Die herausgeforderte Gemeinschaft. Übers. v. Esther von der Osten. Zürich/Berlin 2007. 286 Übersetzung ins Deutsche: Nancy: Die verleugnete Gemeinschaft. Übers. v. Thomas Laugstien. Zürich/Berlin 2017. 287 Vgl. Nancy: Singulär plural sein, S. 168. 288 Heidegger: Sein und Zeit, S. 118.
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Struktur des Entzugs eines sich je ent- und verbergenden Seins, die Heidegger nach der Kehre umkreist hat. Auf diese Weise arbeitet Nancy heraus, dass das In-der-Welt-sein immer schon als ein »Zu-mehreren-sein«289 geschehe. Und zwar nicht nur als Zu-mehreren-sein von Menschen, sondern aller und alles Seienden, das sich als je »autistische, zerreißende und zerrissene Vielheit«290 und inmitten der »autistische[n], zerreißende[n] und zerrissene[n] Vielheit«291 einer »Welt, die nichts als Welt ist, absolut und ohne Rückhalt«292 grundlos exponiert finde. Heidegger kennzeichnet in Sein und Zeit in § 26 mit dem Titel »Das Mitdasein der Anderen und das alltägliche Mitsein«293 das Mitsein oder Mitdasein als »vorgängig konstituierte«294 Bedingung für das Dasein (jedoch nicht für das Sein des anderen Seienden): »Nach der jetzt durchgeführten Analyse gehört aber zum Sein des Daseins, um das es ihm in seinem Sein selbst geht, das Mitsein mit Anderen. Als Mitsein ›ist‹ daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer. Das muß als existenziale Wesensaussage verstanden werden. Auch wenn das jeweilige faktische Dasein sich an Andere nicht kehrt, ihrer unbedürftig zu sein vermeint, oder aber sie entbehrt, ist es in der Weise des Mitseins. […] In der Struktur der Weltlichkeit der Welt liegt es, daß die Anderen nicht zunächst als freischwebende Subjekte vorhanden sind neben anderen Dingen, sondern in ihrem umweltlichen besorgenden Sein in der Welt aus dem in dieser Zuhandenen her sich zeigen.«295 Nancy betont, dass Heidegger die »Wesentlichkeit des Mit«296 vehement bekräftige, was sich gerade darin zeige, dass er darauf achte, dass dieses Mit nicht einfach als bloß dem Dasein äußerlich missverstanden werde. Selbst wenn das »jeweilige faktische Dasein«297 sich vom Mitsein mit Anderen zurück289 Nancy: Singulär plural sein, S. 11. Nancy erklärt seine Bezugnahme auf den Heidegger vor und den nach der Kehre u.a. ebd. S. 52f. 290 Ebd. S. 11. Vgl. dazu, dass Heideggers ursprüngliche Ethik des Denkens um die Beachtung des Nichtmenschlichen ausgeweitet werden müsste, auch Nancy: »Heideggers ›ursprüngliche Ethik‹«, S. 124f., 137. 291 Nancy: Singulär plural sein, S. 11. 292 Ebd. 293 Heidegger: Sein und Zeit, S. 157. 294 Ebd. S. 164. 295 Ebd. 296 Vgl. Nancy: Singulär plural sein, S. 153. 297 Heidegger: Sein und Zeit, S. 164.
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ziehe, bleibe das Mit konstituierend. Heidegger habe die Annahme, dass das Sein der Menschen wesentlich ein Mit-Sein sei, nie revidiert, auch wenn er sie nie ausgeführt habe, unterstreicht Nancy: »Daß nie spezifisch untersucht wurde, welche Konsequenzen vor allem die Begriffe Mitdasein und Miteinandersein nach sich ziehen, ist umso bemerkenswerter, als dieses Mit als wesentlich für das Wesen des Existierenden selbst erklärt wird (wobei nichts im späteren Werk darauf hindeutet, daß diese Behauptung vergessen oder abgeschwächt würde). Heidegger hat nie aufgehört, in kollektiven oder gemeinsamen Dimensionen zu denken, und nichts rührt bei ihm an den Solipsismus.«298 Und doch beachten Heideggers Texte die wechselseitige Bezogenheit des einzelnen Daseins mit dem ihm Umgebenden wenig oder denken das Mit als Einheit eines Volkes, in der das Gemeinsame jenseits der Einzelnen steht. Dabei sei das Mit genau zwischen einzelner Person/Individuum (dem heideggerschen »Man«299 ) und Gemeinschaft (»Volk[…]«300 ) zu suchen: »Zwischen zwei Subjekten, wovon eines ›die Person‹ und das andere ›die Gemeinschaft‹ ist, gibt es für das ›Mit‹ keinen Platz, noch in allgemeinerer Weise für das, was kein ›Subjekt‹ (im Sinne einer Selbstkonstitution) ist, ohne deshalb ein bloßes Ding zu sein (im Sinne von schlicht nebeneinander gestellten Dingen, dem Sinn von Mit entsprechend, den Heidegger gerade vermeiden will.)«301 Nancy merkt die Auffälligkeit an, dass Heidegger außer Acht lasse, zu analysieren, »wie mehrere Dasein zusammen das Da sein können«.302 Auf die Frage: »Welche Da für mehrere? Ein gemeinsames Da oder die von jedem einzelnen, dann aber wie vereint? Wie ist Mitdasein möglich, und vor allem, wie läßt es sich darstellen?«303 führt Nancy drei Möglichkeiten des »›Gemeinsamen‹«304 an, wobei er zwischen der Möglichkeit der reinen Innerlichkeit (gleichzusetzen mit dem heideggerschen Terminus Man) und der der reinen Äußerlichkeit (in Heideggerschen Termini dem Volk), welche beide »a priori zumindest 298 299 300 301 302 303 304
Nancy: Singulär plural sein, S. 156. Heidegger: Sein und Zeit, S. 168. Ebd. S. 508. Nancy: Singulär plural sein, S. 157. Ebd. S. 154. Ebd. Ebd. S. 155.
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potentiell gegen das Prinzip der Wesentlichkeit des Mit verstoßen«,305 eine schwer benennbare »andere Ordnung«,306 eben das Mit, vermutet, das Heidegger der Möglichkeit nach zwar eröffne, aber dann zwischen den anderen beiden Möglichkeiten unterdrücke. Ein gemeinschaftliches Sein des Man fiele, einem simplen Verständnis von Demokratie gemäß, in ein einfaches, gar banales Nebeneinander in der Masse zurück: »Die gemein(sam)e Existenz im Sinne des ›Banalen‹. Da verhält man sich wie jedermann, und Unterschiede des Werts (Adel, Größe usw.) werden verwischt oder nivelliert.«307 Das Volk wäre demgegenüber eine totalitaristische Gemeinschaft »jenseits der Einzelnen«,308 die das Gemeinsame als verbindende Einheit und Grund setzt. Zwischen den beiden heideggerschen Bestimmungen des Mitdaseins versucht Nancy das Gemeinsame als »geteilte Eigenschaften (Beziehungen, sich Kreuzendes, Mischungen)«309 oder als »Nähe (Angrenzung und Unterscheidung)«310 zu denken. In einer »Verknüpfung von Grenze und Kontinuität«311 sei diese Nachbarschaft nicht als bloßes Nebeneinander, sondern als »Komposition«312 zu verstehen: »Für das Mitdasein muß es Kontakt geben, folglich auch Ansteckung, und Eingriff, und sei er minimal oder nur infinitesimaler Abglanz der Berührung, die sich zwischen betroffenen Eröffnungen ergibt. Es bedarf einer relativen Ununterscheidbarkeit der Ränder der Eröffnungen, und eine zumindest tendenzielle Überschneidung ihrer Sichtweisen und Horizonte. […] Das Mit muß die Naturen des ›zum‹, ›gegen‹ und ›trans‹ (wie in ›transsexuell‹) zusammenbringen.«313 Damit, mit diesem Denken davon, dass jedes Seiende »auf einzigartige Weise vielfach und auf vielfache Weise einzigartig, singular plural und plural singulär«314 ist, wäre das Sein bloß das, was »die Existierenden gemeinsam auf den Weg bringt, mit zu sein, mit allen (den Menschen, Tieren, Pflanzen, Leben-
305 306 307 308 309 310 311 312 313 314
Ebd. Ebd. Ebd. S. 157f. Ebd. S. 155. Ebd. Ebd. S. 165. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. 11.
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den und Toten, Elektronen, Galaxien …)«.315 Dass Sprache als Haus des Seins fungiere,316 sei nicht ohne Kommunikation zu denken. Wenn überhaupt von einem Sinn des Seins oder Sinn der Existenz gesprochen werden könne, dann nur im Hinblick auf die gemeinsame Exponiertheit, also dahingehend, dass die Welt voller Menschen, voller Körper, voll von Seiendem »das erste Mal entblößt dasteht als Welt, die nichts als Welt ist, absolut und ohne Rückhalt, ohne jeden Sinn außerhalb dieses Selbstseins«.317 In dieser Einfachheit, die unser ganzes Denken »entsetzt«,318 liegt etwas, das mit Nancy und im Anschluss an Heidegger Freiheit genannt werden kann: »An der Grenze der Philosophie, an die wir nicht gekommen sind, sondern geschickt sind und geschickt werden, gibt es (was nicht mehr eine Feststellung ist, sondern ein Erschrecken) – die freie Verstreuung der Existenz. Diese freie Verstreuung (deren Begriff vielleicht nur eine Tautologie sein könnte) ist weder die Diffraktion eines Prinzips noch die vielfältige Wirkung einer Ursache, sondern die An-archie – der Ursprung, der jeder Logik des Ursprungs, jeder Archäologie entzogen ist – eines singulären, mithin wesentlich pluralen Auftauchens, dessen Sein als Sein weder der Grund noch das Element oder die Ursache, sondern die Wahrheit ist, was hier gleichbedeutend ist mit der Freiheit.«319 Nancy beruft sich hier auf Heideggers Verständnis von Wahrheit als a-letheia, als Unverborgenheit oder Offenheit.320 Heidegger schreibt im Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit, dass das rezeptive »Sein-lassen«321 keineswegs als Unterlassung oder Passivität, sondern als Bewusst-werden-lassen einer vorgängigen Freiheit aufzufassen sei: »Freiheit ist nicht nur das, was der gemeine Verstand gern unter diesem Namen umlaufen läßt: das zuweilen auftauchende Belieben, in der Wahl nach dieser oder jener Seite auszuschlagen. Freiheit ist nicht die Ungebundenheit des Tun- und Nichttunkönnens. Freiheit ist aber auch nicht erst die Bereitschaft für ein Gefordertes und Notwendiges (und so irgendwie Seiendes).
315 316 317 318 319 320 321
Ebd. S. 12. Vgl. Kapitel 1.1.4. Nancy: Singulär plural sein, S. 11. Nancy: Die Erfahrung der Freiheit. Übers. v. Thomas Laugstien. Zürich/Berlin 2015, S. 9. Ebd. S. 13. Vgl. Kapitel 1.1.4. Heidegger: »Vom Wesen der Wahrheit«, S. 188.
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Die Freiheit ist alldem (der ›negativen‹ und ›positiven‹ Freiheit) zuvor die Eingelassenheit in die Entbergung des Seienden als eines solchen.«322 Nancy thematisiert diese Eingelassenheit in eine gemeinsame und doch zerstreute, grundlose Exponiertheit, indem er die schon bei Heidegger und Derrida immer wieder anklingenden Wortfelder des Theaters, der Szene und der Bühne ausbaut: »Wir sind uns gegenseitig aus-gesetzt und aus-gestellt – exponiert […]. Es ist dieses Exponiertsein, das das Theater zu sehen gibt, da eine Ex-position sich wesentlicherweise zu sehen gibt.«323 Mit der Erkenntnis der »An-archie […] eines singulären, mithin wesentlich pluralen Auftauchens«324 verschiebt Nancy Heideggers mithaftes In-der-Welt-sein des Daseins zum »gemeinsamen Erscheinen«325 in sich pluraler und von der Pluralität der Welt bedingter Singularitäten. Zusammen erscheinen diese also weder als Entitäten noch ineinander aufgehend, sondern im Sinne des »›Mit-Teilens‹ (des Aufteilens, der Verteilung, des Anteils, der Teilhabe, der Teilung, der Mitteilung, der Zwietracht, der Spaltung, der Abtretung, der Zuteilung…)«.326 Das heideggersche Denken des Seins oder der ontisch-ontologischen Differenz wird bei Nancy so zu einem Denken der »Miterscheinung«,327 oder einem »›Denken‹ von ›uns‹«,328 wie Nancy es nennt: »Das ›Denken‹ von ›uns‹, das jedem Denken vorausgeht – und in Wahrheit nichts anderes als seine Bedingung ist –, ist kein repräsentatives Denken
322 Ebd. S. 189. 323 Nancy: »Theatereignis«, übers. v. Ulrike Oudée Dünkelsbühler, in: Müller-Schöll (Hg.): Ereignis: eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld 2003, S. 323-330, hier S. 327. 324 Nancy: Die Erfahrung der Freiheit, S. 13. 325 Nancy: »Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ›Kommunismus‹ zur Gemeinschaftlichkeit der ›Existenz‹«, übers. v. Gisela Febel/Jutta Legueil, in: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt a.M. 1994, S. 194-196, hier S. 171. 326 Ebd. S. 170. 327 Mit der »Miterscheinung (comparution)« umfasst Nancy, dass keine Subjekte gemeinsam erscheinen, sondern dass »das ›Erscheinen‹, das heißt das Auf-die-Welt-kommen und Auf-der-Welt-sein, die Existenz als solche, strikt untrennbar und ununterscheidbar vom cum, vom mit ist«. Nancy: Singulär plural sein, S. 96ff. Vgl. dazu Nancy: »Theaterkörper«, übers. v. Ulrich Müller-Schöll, in: Müller- Schöll/André Schallenberg/Mayte Zimmermann (Hg.): Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert. Berlin 2012, S. 158-171, hier S. 161f. 328 Nancy: Singulär plural sein, S. 112.
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(keine Idee, keine Vorstellung, kein Begriff), sondern Praxis und Ethos: die Inszenierung der Miterscheinung, jene Inszenierung, die Miterscheinung ist. Wir sind schon dabei, schon immer, in jedem Augenblick. Das ist keine Neuigkeit – aber man muß, wir müssen sie jedes Mal neu erfinden, jedes Mal von neuem auf die Bühne treten.«329 Diese Ethik des Denkens hat, wie ich nun zeigen will, vor Nancy schon Hannah Arendt beleuchtet. Deren politische Theorie des Denkens weist in ihren Anschlüssen an und Absetzungen von Heidegger Parallelen mit denen JeanLuc Nancys auf, kommt aber aus einer anderen Richtung. Arendts journalistische, essayistische und theoretische, teilweise auf Deutsch, teilweise auf Englisch verfasste Texte lesen sich in ihrem schnoddrig-pragmatischen Schreibstil anders als Heideggers bedachte Destruktionen oder Derridas tiefgreifende Dekonstruktionen einzelner Texte, ganz anders auch als Nancys originelle, auf den vielfältigen Gehalt und die sinnliche, schriftliche und phonetische Gestalt der einzelnen Worte und ihres Zusammenspiels achtende Umkreisungen eines Themas. Es geht Arendt weniger darum, sich in den Dialog mit einzelnen Texten oder Autoren zu begeben, als darum, zahlreiche Stimmen zu versammeln. Das, was ihr an den aufgegriffenen Positionen wichtig ist, greift sie so zügig auf, dass kaum möglich ist, ordentlich zu sortieren, wann sie diese referiert und wann sie diese weiterentwickelt und miteinander verknüpft. Es ist deshalb schwierig, im nächsten Kapitel mit Texten zu arbeiten, denen die philologische Akribie der bis hierhin hauptsächlich zitierten fehlt und die dadurch mitunter hinter die bisher aufgezeigte Revision der Philosophie zurückfallen. Arendts Überlegungen über das Wechselverhältnis zwischen einzelnem, einsamen Denken und der mit anderen Menschen geteilten Welt fügen dem bisher Ausgeführten aber drei wichtige Aspekte hinzu: Erstens, dass im Denken das Potential zur Widerständigkeit liegt. Zweitens die Frage, wie das Denken der Einzelnen denn überhaupt für Zuschauer*innen in Erscheinung tritt. Und drittens, dass das Denken von einer »Pluralität«330 konstituiert wird.
329 Ebd. S. 112f. Herv.i.O. 330 Arendt: Vita activa, S. 17.
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1.2.3.
Das Denken und die Pluralität (Hannah Arendt)
»Wie redet das Denken – das Denken an […]? Wie steht das Denken zur Anrede? […] Anders gesagt, was ist das ›Gespräch der Seele mit sich selbst‹, von dem Platon spricht – wodurch deutlich wird, daß eine solche Frage oder Beunruhigung seit jeher in unserer Geschichte enthalten ist. Wenn das Denken angeredet wird, dann deshalb, weil der Sinn in der Anrede liegt, nicht im Diskurs (aber er liegt in der Anrede des Diskurses). Dies liegt an der vorrangigen ontologischen Bedingung des Mit-seins oder des Zusammen-seins«.331 Die Schriften, in denen Hannah Arendt sich dem Denken zuwendet, sind hauptsächlich der Aufsatz Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought,332 die Rede Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten,333 Ausschnitte aus Vita activa oder vom tätigen Leben,334 ein aus einer Rede zu Heideggers 80. Geburtstag entstandener Essay,335 der Vortrag Thinking and Moral Considerations,336 das Buch über den Prozess gegen Adolf Eichmann sowie das 1977 posthum veröffentlichte, unvollendete Buch Thinking.337 331 Nancy: Singulär plural sein, S. 13f. 332 Arendt: »Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought«, in: dies.: Essays in Understanding. 1930-1954. Formation, Exile, and Totalitarianism. New York 1994, S. 428-447. 333 Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede über Lessing. München 1960. 334 Arendt: Vita activa. 335 Arendt: »Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt«. 336 Auf Deutsch erschienen als Arendt: »Über den Zusammenhang von Denken und Moral«, übers. v. Ursula Ludz, in: Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994, S. 128-156. 337 Arendt berichtete für die Zeitschrift The New Yorker über den Eichmann-Prozess und entwickelte daraus das in den USA publizierte Buch Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, das ein Jahr später, 1964, in deutscher Übersetzung erschien. Vgl. Arendt: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Übers. v. Brigitte Granzow, München 2011 [11]. Die auf Englisch geschriebene Monographie Thinking erschien als Buch zusammen mit einem weiteren erst posthum veröffentlichten Buch Arendts, Willing. Die Herausgeber*innen berufen sich darauf, dass beide Bücher von Arendt als Teil eines dreibändigen Werks über »Das Leben des Geistes« bzw. »The Life of the Mind« konzipiert worden seien. Arendts Nachlassverwalter*innen gehen davon aus, dass ein dritter Teil, Judging, auf Arendts 1970/71 an der New Yorker New School for Social Research gehaltenen »Lectures on Kant’s Political Philosophy« beruht hätte, weshalb Ronald Beiner aus den Vorlesungs-Manuskripten eine Publikation erstellte, die im Piper-Verlag gar als dritter Teil zu Vom Leben des Geistes veröffentlicht wurde. Vgl. Arendt: Lectures on
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»Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken […].«338 Arendt schließt sich Heidegger darin an, dass jeder Denkvorgang als pathos, als »erleidend zu Ertragende[s], das einen befällt«,339 mit dem Staunen einsetze. Dies bezieht sich darauf, dass Heidegger – ausgehend von Platons Verortung des Anfangs der Philosophie im Staunen (thaumazein)340 – das »Vermögen, vor dem Einfachen zu erstaunen und dieses Erstaunen als Wohnsitz anzunehmen«,341 zur Notwendigkeit erklärt, um in einem denkenden Fragen »heimisch werden zu können«.342 Arendt bemängelt, dass das staunende Denken im philosophischen Verständnis lediglich die Tatsache, dass es etwas gibt,343 bewundere. Mehrmals unterstreicht sie entschieden, dass das Staunen auch von der »factual existence of disharmony, of ugliness, and finally of evil«344 ausgelöst werden könne und in diesen Fällen eher ein Entsetzen sei: ein »speechless horror at what man may do and what the world may become«.345 Dass dies weder in Platons noch in Heideggers Verständnis des Staunens einging, erklärt Arendt mit der »Weltabgeschiedenheit«346 und Einsamkeit des philosophischen Denkens. Heideggers »Ausweichen vor der Wirklichkeit«347 – sein Schweigen über den Terror der Nationalsozialisten und die Schoah – wiegt für Arendt schwerer als sein aktives nationalsozialistisches Engagement in der Zeit des Rektorats (die sie ziemlich milde als Episode einer missglückten politischen Aktivität darstellt): »Dieser Irrtum ist unerheblich gegenüber dem viel entscheidenderen Irren, das darin bestand, der
338 339 340
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Kant’s Political Philosophy. Chicago 1992 und Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Dritter Teil zu »Vom Leben des Geistes«, übers. v. Ursula Ludz. München 2012. Arendt: »Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache«, S. 30. Arendt: »Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt«, S. 179. Vgl. Platon: »Theaitetos«, in: ders.: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Griechisch und deutsch nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl u.a., Bd. 6, Phaidros, Theaitetos. Frankfurt a.M./Leipzig 1991, S. 151-367, hier S. 197 (155d). Heidegger: »Aletheia (Heraklit, Fragment 16)«, in: Heidegger: Gesamtausgabe 7, Vorträge und Aufsätze, S. 263-288, hier S. 266. Ebd. Vgl. Heidegger: »Einleitung zu ›Was ist Metaphysik?‹«, S. 382. Arendt: Thinking, S. 150/Vom Leben des Geistes, S. 151. Arendt: »Concern with Politics«, S. 445. Arendt: »Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt«, S. 180. Ebd. S. 353.
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Wirklichkeit in den Gestapokellern und den Folterhöllen der Konzentrationslager, die unmittelbar nach dem Reichstagsbrand entstanden, in angeblich bedeutendere Regionen auszuweichen.«348 Bereits 1954 betont Arendt, dass es gelte, die politische Relevanz des Denkens zu erforschen und dabei die »Pluralität«349 der Denkenden ernst zu nehmen: »Crucial for a new political philosophy will be an inquiry into the political significance of thought; that is, into the meaningfulness and the conditions of thinking for a being that never exists in the singular and whose essential plurality is far from explored when an I-Thou relationship is added to the traditional understanding of human nature.«350 Aus der ihn isolierenden Betrachtung des Menschen biete gerade Heidegger mit seinem Verständnis des immer schon mithaften In-der-Welt-seins des Daseins einen Ausweg. Stellenweise vergleichbar mit der Fortschreibung Heideggers, die Nancy bekannt machen wird, weitet Arendts Konzept der Pluralität Heideggers Erkenntnis, dass das In-der-Welt-sein des Daseins immer schon ein Mitsein mit Anderen ist, dahingehend aus, dass jede Person in ihrem »absolute[n] Unterschiedensein […] von jeder anderen, die ist, war oder sein wird«,351 inmitten der Mannigfaltigkeit des Seienden in Erscheinung trete – und zwar
348 Ebd. Dieses Urteil bringt Arendt allerdings nur in einer Fußnote unter. Etwas unentschieden behauptet sie hier, dass Heidegger sich im Nachhinein nicht nur vom Rektorat, sondern auch vom Ignorieren der Verbrechen des Nationalsozialismus distanziert habe, und leitet zur Attraktivität Heideggers für die intellektuelle Rechte über. Dass Heideggers Philosophie wegen der von mir in Kapitel 1.1.5 angesprochenen Probleme auch für die neue Rechte attraktiv ist, betont Micha Brumlik. Vgl. ders.: »Das alte Denken der neuen Rechten. Mit Heidegger und Evola gegen die offene Gesellschaft«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2016), S. 81-92. 349 Arendt: Vita activa, S. 17. 350 Arendt: »Concern with Politics«, S. 443. Herv. L.O. Schreibt Arendt in den 50er Jahren noch von einer »new political philosophy«, will sie die eigene Arbeit später nicht mehr als Philosophie, sondern als politische Theorie verstanden wissen. Vgl. Arendt: »Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache«, S. 22f. 351 Arendt: Vita activa, S. 213. Arendt führt in diesem Zusammenhang aus, dass das, was mit Heidegger Seinsgeschichte genannt werden könnte, immer wieder von der »Gebürtlichkeit« durchbrochen werde: dem Ereignis der Geburt eines jeden Menschen. Dieses wiederhole sich im stets von der Bezogenheit auf andere Menschen bestimmten Handeln und Sprechen als den Tätigkeiten, in denen die »Einzigartigkeit« eines jeden Menschen sich darstelle, als »das unendlich Unwahrscheinliche«, das zwar erhofft werden dürfe, aber nicht erwartbar sei. Arendt: Vita activa, S, 18, S. 215ff., S. 311ff.
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nicht als diesem »In-Erscheinung-Treten«352 vorausgehende konstante Wesenheit, sondern als von der jeweiligen Bezogenheit auf andere und anderes bestimmt.353 Diese nie ganz kontrollierbaren Prozesse des Erscheinens – die Arendt dezidiert nicht als zutage treten von etwas Innerlichem verstanden wissen will – bringt Arendt mit den Begriffen ›Theater‹ und ›Bühne‹ in Zusammenhang.354 Das Denken aber sei, so Arendt, durch einen »Abstand«355 von der gemeinsam geteilten sinnlichen »Welt der Erscheinungen«356 getrennt: »While thinking I am not where I actually am«.357 Zwar sei das Denken in einem »bodily self«,358 einer Erscheinung unter Erscheinungen, inkorporiert, doch da ein jeder Denkvorgang sich vom Naheliegenden, Gegenwärtigen entferne, trete der Körper währenddessen zurück.359 Dieses Phänomen beschreibt auch Heidegger in den Zollikoner Seminaren. Er spricht von einer denkenden »Vergegenwärtigung«360 von nicht Anwesendem, die die aktuelle leibliche Wahrnehmung zurücktreten lassen könne: »Wie ist mein Leib bei der Vergegenwärtigung mit im Spiel? Insofern ich hier bin. […] Aber mein Leib ist nicht das Hier. […] Als der Philosoph Thales nachdenklich einhergehend in eine Grube fiel und dabei von den Mägden ausgelacht wurde, da war gerade sein Leib nicht in den Sternen, dieser war vielmehr weg. Gerade wenn ich – wie im genannten Falle – mit Leib und Seele in einer Sache aufgehe, ist der Leib weg. Dieses Weg-sein des Leibes ist aber nicht nichts, sondern eines der geheimnisvollsten Phänomene der Privation.«361 352 Ebd. S. 214. 353 Vgl. ebd. S. 213ff. Wie nah Arendts Pluralität und Nancys singulär plural sein einander stehen, wird selten beachtet. Wohl aber verweist Nancy in einer Fußnote gleich zu Beginn seines Buchs auf den »enormen Anteil«, den Arendts Konzept der Pluralität an der Rezeption des Mitseins des Daseins bei Heidegger habe. Nancy: Singulär plural sein, S. 20. 354 Vgl. Arendt: Thinking, S. 19ff., S. 29ff., 73/Vom Leben des Geistes, S. 29ff., S. 39ff., S. 79. Vgl. zu Arendts Blick auf die Kunstform Theater auch dies.: Vita activa, S. 234. Dieser Blick wird dem (Sprech-)Theater allerdings eher im Vorbeigehen zugeworfen; er guckt hauptsächlich darauf, dass es im Drama meist um Zwischenmenschliches gehe. 355 Arendt: Vita activa, S. 204. 356 Arendt: Thinking, S. 8/Vom Leben des Geistes, S. 18. 357 Ebd. S. 85/dt. S. 91. Vgl. ebd. S. 75ff./dt. S. 90ff. 358 Arendt: Willing, S. 55/Vom Leben des Geistes, S. 290. 359 Vgl. Arendt: Thinking, S. 122/Vom Leben des Geistes, S. 127. 360 Heidegger: Zollikoner Seminare, S. 110f. 361 Ebd.
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Arendt erklärt diese gleichzeitige An- und Abwesenheit mit einer reziproken Unabhängigkeit von Denken und Körper voneinander. Diese Annahme kommt innerhalb von Thinking dadurch zustande, dass sie bei ihrem Vorhaben, Schriften aus der abendländischen Philosophiegeschichte von der Antike bis ins 20. Jahrhundert zwischen den Zeilen und gegen den Strich daraufhin zu untersuchen, wie die nicht erscheinende, unsagbare und undarstellbare Erfahrung des Denkens in diesen aufscheint, außer Acht lässt, dass sich in diesen Texten bereits die Tradition einer ganz bestimmten Denkweise niederschlägt. Arendt analysiert, dass die Erfahrung, dass der Körper als Erscheinung sowie als erfahrender und erfahrener Leib in seiner Langsamkeit, seinen Bedürfnissen und Empfindungen für das Denken nichts als eine Last oder einen Störfaktor darstelle, was in den meisten von ihr untersuchten Quellen in Varianten einer Skepsis oder Feindseligkeit gegenüber dem Körper münde.362 Sie selbst schließt sich dem aber gewissermaßen an, wenn sie folgert, dass Denken und Körper voneinander weitestgehend unabhängig sein müssten, und somit zu einer strikten Grenzziehung zwischen denkendem »Geist« (»mind«363 ) und Körper sowie den Bereichen des Nichtsinnlichen und 362 Vgl. Arendt: Thinking, S. 44, S. 83f., S. 162/Vom Leben des Geistes, S. 54, S. 89f., 163f. 363 Arendt nimmt keine etymologische Einordnung und Ins-Verhältnis-Setzung der in ihrem Versammeln einer Vielzahl von v.a. deutschen, lateinischen und altgriechischen Texten in englischer Übersetzung auftauchenden Begriffe vor; auch nicht des zentralen Terminus’ mind. Sie entwickelt eine Beschreibung des Geistes (»mind«) als etwas so Profanem wie Uneinheitlichem, als einen seltsam ortlosen und doch endlichen, polymeren Teil der wiederum polymeren und durchlässigen Punktualität eines Menschen. Einzelne Stellen von Thinking verdeutlichen nach und nach, dass sie »mind« über das lateinische mens zum griechischen Substantiv nous zurückführt, auch das Wort ›Gemüt‹ gehört für sie in diesen Zusammenhang. Vgl. Arendt: Thinking, S. 105/Vom Leben des Geistes, S. 110. Diesen Strang unterscheidet sie von der Bedeutungsverwandtschaft zwischen dem englischen ›reason‹, dem lateinischen ratio und dem griechischen logos. Vor diesem Hintergrund wäre das Wort »mind« bei Arendt von metaphysischen Konnotationen des Wortes Geist, die in Richtung Transzendentalität, Rationalität oder Idealismus weisen, abzugrenzen. Die Bedeutungsebene des Hauchs, des Atems oder der Luft in Bewegung, die pneuma und spiritus, das hebräische rûah und das deutsche Geist beinhalten, sind Arendts Formulierung »the life of the mind« allerdings inhärent, da sie betont, dass das Denken das sei, was einen Menschen erst wirklich lebendig mache, und in Anlehnung an Sokrates von einem »wind of thought« spricht. Arendt: Thinking, S. 174/Vom Leben des Geistes, S. 174. Vgl. Oeing-Hanhoff: »Geist. I. Einführung und Überblick«, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 154-157, hier Sp. 154; Gérard Verbeke: »Geist. II. Pneuma«, in: ebd. Sp. 157-162 sowie Balthasar Schrott: »Geist. III. Der jüdische und christliche Geist-Begriff«,
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des Sinnlichen gelangt. Da es Arendt nicht gelingt, diesen Dualismus zu erkennen, geschweige denn zu verwinden zu versuchen, reicht ihre Arbeit über das Denken nicht weit genug. Ich komme darauf am Ende dieses Kapitels noch einmal zurück. Arendt besuchte zwei Sitzungen von Heideggers Was heißt Denken?-Vorlesung im Mai 1952364 und tauschte sich brieflich mit ihm über ihr Vorhaben aus, in einem an Vita activa anschließenden Buch seine Umdeutung des Denkens aufzugreifen. In einem Brief Heideggers an sie heißt es: »Dein zweiter Band Vita activa wird so wichtig wie schwierig sein. Ich denke da an den Beginn des ›Humanismusbriefes‹ und an das Gespräch in Gelassenheit.«365 Heidegger erinnert hier an zwei Passagen, in denen er das Denken als »ursprüngliche Ethik«366 darstellt. Hier hakt Arendt ein und verlagert die von Heidegger dem Bedenken der undenkbaren Bodenlosigkeit des Seins zugesprochene Verantwortung zu einer »Verpflichtung«367 des Denkens gegenüber der mit anderen Menschen geteilten Welt. Sie verschärft Heideggers Unterscheidung des Denkens von der Wissenschaft und Philosophie dahingehend, dass Denken keine spezielle Expertise, Bildung oder Klugheit benötige: »Thinking […] is not a prerogative of the few, but an ever-present faculty in everybody«.368 Begleitet sei das Denkvermögen aller Menschen von der Denkunfähigkeit (»inability to think«369 ) als ständig existentem negativem Potential. Das Verhältnis zwischen Denken und Nichtdenken greift Arendts Formulierung »absence of thinking«370 am besten: Abwesend ist das Denken dann, wenn nicht gedacht wird, aber, auf andere Art und Weise, auch dann, wenn gedacht wird, da Arendt feststellt, dass mit jedem Denken
364
365 366 367 368 369 370
in: ebd. Sp. 162-169, hier Sp. 162; Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854-1961, Bd. 5, Sp. 2624, www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=geist vom August 2020. Vgl. dazu Arendts Tagebucheintrag vom 30.5.1952 zum »Heidegger-Kolleg«, in: Arendt: Denktagebuch. München 2002, S. 210f. sowie die Anmerkungen der Herausgeberinnen Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann: ebd. S. 973f. Vgl. auch Arendts Briefe an ihren Ehemann Heinrich Blücher: dies./Heinrich Blücher: Briefe 1936-1968. München 1996, S. 274f., S. 282 und zwei Briefe Heideggers an Arendt: dies./Heidegger: Briefe, S. 135, S. 137. Ebd. S. 209. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 356. Vgl. Kapitel 1.1.5. Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, S. 6. Arendt: Thinking, S. 191/Vom Leben des Geistes, S. 190. Ebd./ebd. Ebd. S. 4/dt. S. 14.
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ein »withdrawal«371 einhergehe, wenn sich die Denkenden dem, in was sie aktuell involviert seien, temporär und partiell entzögen. Für die Umgebung der Denkenden mache sich dies lediglich als Geistesabwesenheit (»absentmindedness«372 ) und somit als Unterbrechung des jeweiligen Geschehens, in das die denkende Person gerade verwickelt ist, bemerkbar. Denken sei »as Heidegger once observed, ›out of order‹. It interrupts any doing, any ordinary activities […]. All thinking demands a stop-and-think.«373 Von »außer der Ordnung« bei Heidegger über die Übersetzung seiner Worte ins englische »out of order«374 verschiebt Arendt das Denken zu einer Störung oder Unterbrechung, die, wie sie in den oben aufgeführten Schriften nach und nach mit immer größerer Vehemenz erörtert, das gedankenlose Ausführen von Vorschriften verhindern könne und frei von Zweckgerichtetheit und damit auch von Instrumentalisierbarkeit oder Verwertbarkeit sei.375 Auch wenn Arendt sich Heidegger eigentlich darin anschließt, dass das Denken »unmittelbar keine Kräfte zum Handeln«376 verleihe, kann es für sie zu einer Art Handeln werden, weil jeder Denkvorgang einer einzelnen Person ihre aktuellen Handlungen unterbreche und als dieses Innehalten zu einem Widerstand werde: »When everybody is swept away unthinkingly by what everybody else does and believes in, those who think are drawn out of hiding because their refusal to join in is conspicuous and thereby becomes a kind of action.«377 In ihrer Berichterstattung über den Eichmann-Prozess revidiert Arendt ihren von Kant übernommenen Begriff des »radikal Bösen«,378 mit dem sie zuvor die von ihr untersuchten totalitären Herrschaftsformen charakterisierte, da sie den alleinigen Antrieb von Eichmanns hauptverantwortlicher Beteiligung an der Ermordung von sechs Millionen Menschen nicht auf Radikalität, sondern auf sein nichtdenkendes Funktionieren zurückführt. Dort wo Arendt die Formulierung im Fazit ihres Berichts über Eichmann das erste Mal anbringt, schreibt sie »von der furchtbaren Banalität des Bösen, vor der das Wort 371 Ebd. S. 75/dt. S. 81. 372 Ebd. S. 72/dt. S. 78. 373 Ebd. S. 78/dt. S. 84. Herv. L.O. Vgl. außerdem ebd. S. 175/dt. S. 175. Arendt zitiert Heidegger hier nach ders.: Einführung in die Metaphysik, S. 15. 374 Heidegger: An Introduction to Metaphysics, übers. v. Ralph Manheim. New Haven 1959, S. 12. 375 Ob Denken wirklich in diesem Sinne frei sein kann, betrachte ich in Kapitel 1.3 noch etwas genauer. 376 Heidegger: Was heißt Denken?, S. 165. 377 Arendt: Thinking, S. 192/Vom Leben des Geistes, S. 191. Herv. L.O. 378 Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1995 [4], S. 701.
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versagt und an der das Denken scheitert«.379 In ihrer Arbeit über das Denken betont sie, dass diese Erkenntnis über Eichmann ihre Ambitionen, sich dem Denken zuzuwenden, angetrieben habe: »There was no sign in him of firm ideological convictions or of specific evil motives, and the only notable characteristic one could detect in his past behavior as well as in his behavior during the trial and throughout the pretrial police examination was something entirely negative: it was not stupidity but thoughtlessness. In the setting of Israeli court and prison procedures he functioned as well as he had functioned under the Nazi regime but, when confronted with situations for which such routine procedures did not exist, he was helpless, and his cliché-ridden language produced on the stand, as it had evidently done in his official life, a kind of macabre comedy. Clichés, stock phrases, adherence to conventional, standardized codes of expression and conduct have the socially recognized function of protecting us against reality, that is, against the claim on our thinking attention that all events and facts make by virtue of their existence. If we were responsive to this claim all the time, we would soon be exhausted; Eichmann differed from the rest of us only in that he clearly knew of no such claim at all.«380 Spätestens hier sollte deutlich geworden sein, dass Arendts Arbeit über das Denken deutlich von der kantischen »Maxime, jederzeit selbst zu denken«381 beeinflusst ist. Diese Position zwischen Heideggers Destruktion des Denkens des neuzeitlichen Subjekts und Kants Philosophie der Aufklärung führt Arendt mitunter in Widersprüche, auch wenn sie beide, Heidegger wie Kant recht frei aufgreift. Das »Selbstdenken«382 bei Arendt ist kein Denken, das, so wie Kant es beschreibt, »den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst […] suchen«383 kann. Denn Arendt betont, dass das Denken nicht »aus einem in sich einheitlichen und geschlossenen […] Individuum aufsteig[e]«,384 was sich besonders an ihrem Rückblick auf Descartes solipsistische Setzung des Ichs als subiectum verdeutlichen lässt. Descartes’ »Ansetzung des Ich
379 Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 371. 380 Arendt: Thinking, S. 4/Vom Leben des Geistes, S. 14. 381 Immanuel Kant: »Was heißt: sich im Denken orientieren?«, in: ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik 1. Werkausgabe, Bd. 5. Frankfurt a.M. 1977, S. 267-283, hier S. 283. 382 Ebd. 383 Ebd. 384 Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, S. 14.
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als Grund«385 nimmt auf Kants Konzeption des Selbstdenkens Einfluss, wie Heidegger betont hat: »Kant hat nach dem Vorgang Descartes’ in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ sichtbar gemacht, daß und wie alles Denken wesenhaft ein ›ich denke …‹ ist. Alles in jedem Denken Vorgestellte ist als solches auf ein ›Ich denke‹ zurückbezogen […]. Für alles Denken muß das Ich im ›Ich denke‹ mit sich einig und dasselbe sein.«386 Arendt stellt, wie ich gleich noch ausbreiten werde, diese Einigkeit und Identität des denkenden Ichs mit sich selbst in Frage. Sie beginnt ihre Erörterung des cartesianischen Solipsismus mit der These, dass mit Descartes’ (Miss-)Verständnis des Denkens als selbstbewusst, selbstgewiss und von der Wirklichkeit unabhängig zwei schon in der Antike verbreitete Annahmen über das »thinking ego«387 an Bedeutung gewonnen hätten: die der Autonomie und die der Weltlosigkeit des Denkens. Diese Annahmen finden sich zum Beispiel in dieser cartesianischen Argumentation: »Wenn wir […] alles zurückweisen, das wir auf irgendeine Weise bezweifeln können und sogar als falsch unterstellen, dann fällt es uns zwar leicht, zu unterstellen, daß es keinen Gott gebe, keinen Himmel, keinen Körper, und daß zudem wir selbst weder Hände noch Füße und zuletzt überhaupt keinen Körper besitzen, aber daß wir, die wir derartige Gedanken verfolgen, nichts sind, läßt sich nicht ebenso leicht unterstellen. Denn offenbar ist es widersprüchlich, anzunehmen, daß dasjenige, das denkt (cogitat), in eben derselben Zeit, in der es denkt, nicht existieren sollte. Und deshalb ist die Erkenntnis, ich denke, daher bin ich (haec cognitio, ego cogito, ergo sum), die überhaupt erste und sicherste, auf die jeder regelgeleitet Philosophierende stößt.«388 Nach dieser Konklusion kann der alles bezweifelnde Denkende immerhin die Existenz seiner selbst als Denkendem als gewiss annehmen. Denken umfasse also, definiert Descartes, alle selbstbewussten Vorgänge:
385 Christoph Menke: »Subjekt. Zwischen Weltbemächtigung und Selbsterhaltung«, in: Thomä: Heidegger-Handbuch, S. 320-328, hier S. 323. 386 Heidegger: Grundsätze des Denkens, S. 135f. 387 Arendt: Thinking, S. 42/Vom Leben des Geistes, S. 52. 388 Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, S. 14f.
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»Unter der Bezeichnung ›Denken‹ [cogitationis] verstehe ich alles, was auf bewußte Weise in uns geschieht, das wir also erkennen, insofern es zu unserem Bewußtsein gehört. Deshalb ist nicht nur Einsehen [intelligere], Wollen [velle], Vorstellen [imaginari], sondern sogar Empfinden [sentire] hier dasselbe wie Denken [cogitare].«389 Es wäre interessant, weiter zu betrachten, dass Descartes sogar das Empfinden als Denken definiert. Jetzt soll es aber darum gehen, dass Arendt im Gegensatz zu Descartes zwar davon ausgeht, dass ein Bewusstsein im Sinne eines Sich-seiner-selbst-gewahr- Seins (»consciousness in the sense of self-awareness«390 ) am Denken beteiligt sei, doch dass dies zum einen noch nicht wirklich Teil des Denkvorgangs selbst sei und dies zum anderen kein Selbstbewusstsein im Sinne eines Bewusstseins vom eigenen Selbst als Einheit sei. Das, was gemeinhin ›Selbstreflexion‹ genannt wird, eine Zurückbeugung zum denkenden Ich im Sinne Kants und Descartes’, ist für Arendt unmöglich. Erkennbar und mit sich selbst identisch ist ein Selbst ihrer Meinung nach nie in einer Reflexion, sondern allein als Reflektion, als Spiegelung der eigenen Erscheinung durch andere(s): »So wie ich von mir selbst als einem Selbst nur weiss [sic!], weil es Spiegel gibt, so bin ich ein Selbst, identisch Eins, nur weil ich als solches von Anderen angesprochen, anerkannt usw. werde. Gerade mein Selbst erhalte ich als Reflexion der Erscheinung. Das Bewusstsein ist nie Selbst-Bewusstsein. Im weltlosen Bewusstsein weiß ich nicht mehr, als dass etwas in mir und eventuell mit mir vorgeht. ›Cogito me cogitare‹, aber daraus wird nie ein ›sum‹ im Sinne des Selbstseins.«391 Aktiv offenbare jeder Einzelne seine »Einzigartigkeit«392 auf der »Bühne der Welt«393 im Handeln und Sprechen, doch bereits ohne eigenes Zutun träten »das eigentlich personale Wer-jemand-jeweilig-ist«394 als »einmalige Gestalt ihres Körpers«395 und »der nicht weniger einmalige Klang der Stimme«396 un-
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Ebd. S. 16f. Herv. L.O. Arendt: Thinking, S. 187/Vom Leben des Geistes, S. 186. Arendt: Denktagebuch, S. 735f. Arendt: Vita activa, S. 214. Ebd. S. 219. Ebd. Ebd. Ebd.
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kontrollierbar mit in Erscheinung, bliebe dem »Zeigenden selbst«397 aber verborgen. So entstehe eine Identität nur dadurch, wie man anderen erscheine, betont Arendt.398 Ein mit sich identisches Ich werde dagegen von der Reflexivität des Bewusstseins, also des Sich-seiner-selbst-gewahr-seins, verhindert: »We call consciousness […] the curious fact that in a sense I am also for myself, though I hardly appear to me […]; I am not only for others but for myself, and in this latter case, I clearly am not just one. A difference is inserted into my Oneness.«399 Diese Differenz verkompliziere sich im Denken zu einem lautlosen Zwiegespräch, entwickelt Arendt in Rückgriff darauf, dass mehrere platonische Dialoge das Denken als »das innere Gespräch der Seele mit sich selbst«400 diskutieren: »In brief, the specifically human actualization of consciousness in the thinking dialogue between me and myself suggests that difference and otherness, which are such outstanding characteristics of the world of appearances as it is given to man for his habitat among a plurality of things, are the very conditions for the existence of man’s mental ego as well, for this ego actually exists only in duality.«401 Aus dieser Dualität des denkenden Ichs gehe als »moral side effect«402 das Gewissen hervor, schreibt Arendt in Thinking: »the self that we all are must take care not to do anything that would make it impossible for the two-in-one to be friends and live in harmony. […] Its criterion for action will not be the usual rules, recognized by multitudes and 397 Ebd. 398 Vgl. Arendt: Thinking, S. 183/Vom Leben des Geistes, S. 182. Vgl auch dies.: Vita activa, S. 213-222. 399 Arendt: Thinking, S. 183/Vom Leben des Geistes, S. 182. 400 Platon: »Sophistes«, in: ders.: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Griechisch und deutsch nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl u.a., Bd. 7, Parmenides, Sophistes, Politikos. Frankfurt a.M./Leipzig 1991, S. 125-293, hier S. 277 (263e). Vgl. auch Platon: »Philebos«, in: ders.: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Griechisch und deutsch nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl u.a., Bd. 8, Philebos, Timaios, Kritias. Frankfurt a.M./Leipzig 1991, S. 9-195, hier S. 105f. (38dff.) sowie ders.: »Theaitetos«, S. 301 (189ef.). 401 Arendt: Thinking, S. 187/Vom Leben des Geistes, S. 186. Herv. L.O. Vgl. auch ebd. S. 74f./dt. S. 80. 402 Ebd. S. 192/dt. S. 190. Die Verwandtschaft zwischen ›consciousness‹ und ›conscience‹ führt sie auf das griechische syneidenai zurück, das sie, etwas sperrig, ins Englische überträgt als »to know with myself«. Ebd. S. 74/dt. S. 81.
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agreed upon by society, but whether I shall be able to live with myself in peace when the time has come to think about my deeds and words.«403 Ob eine Widerspruchslosigkeit mit sich selbst aber überhaupt zu erreichen sei, zieht Arendt an anderer Stelle in Zweifel.404 Auch in den von ihr selbst Denktagebuch genannten privaten Aufzeichnungen zielt sie nicht auf eine Einstimmigkeit des Denkdialogs, sondern auf das Andere im eigenen Selbst ab. In einem Eintrag aus dem Jahr 1968 schreibt Arendt, dass erst die Pluralität das Denken überhaupt ermögliche: »Der schweigende Dialog indiziert Pluralität, aber Vorbild [ist, Anm. d. Hg.] der Dialog mit einem Anderen. Nur weil ich mit Anderen sprechen kann, kann ich auch mit mir sprechen, d.h. denken.«405 Daraus folgt für Arendt: »Nicht die Beziehung zum Selbst, sondern zum Anderen ist das Kriterion allen Verhaltens.«406 Diesen Standpunkt, »dass das Soziale dem Denken vorausliegt und Denken erst möglich macht«,407 hat Judith Butler an Arendts Ausführungen über das Denken hervorgehoben: »Angesprochensein geht der Fähigkeit zur Adressierung vorher. Ethisch betrachtet wird man zur Antwort erst fähig, wenn man zuvor angesprochen wurde, wenn man zuvor von anderen konstituiert wurde; erst auf diesen Anruf kann man mit Selbstreflexion oder auch mit Denken reagieren. Nur als durch andere in die Sprache hineingebracht kann ich ihnen antworten und kann ich diese dialogische Begegnung als Teil meines eigenen Denkens verinnerlichen, und hier wird das Soziale zur belebenden Spur in allem unseren Denken. Der Dialog, der ich bin, lässt sich also letztlich nicht von der Pluralität trennen, die mich möglich macht. Dieser Dialog ist nicht vollständig auf die Plu-
403 Ebd. S. 191/dt. S. 190. Herv. L.O. Inspiriert ist Arendt hier nicht nur von Platon und Aristoteles, sondern auch wieder von Kant: Die dritte der kantschen »Maximen des gemeinen Menschenverstandes« (von denen die erste das »Selbstdenken« ist) ist diejenige der »konsequenten Denkungsart«, die Kant bestimmt als: »Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.« Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe, Bd. 10. Frankfurt a.M. 1994 [13], S. 226. 404 Vgl. Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, S. 46ff. 405 Arendt: Denktagebuch, S. 688. 406 Arendt: Denktagebuch, S. 695. Vgl. auch Arendt: Thinking, S. 191/Vom Leben des Geistes, S. 190. 407 Judith Butler: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus. Übers. v. Reiner Ansén. Frankfurt a.M. 2013, S. 204.
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ralität rückführbar, aber es gibt hier notwendige Überschneidungen, einen Chiasmus zwischen beiden Sphären.«408 Butler mahnt jedoch auch an, dass »eine genauere und konsistentere Darlegung der Pluralität«409 nicht vom Körper abgegrenzt werden dürfe, sondern anerkennen müsse, dass jedes Denken auf körperlichem Leben basiere: »tatsächlich setzt politisches Denken den Körper und sein ›Inerscheinungtreten‹, wie Arendt selbst sagt, voraus.«410 Weil Arendt den Körper ausschließlich in der privaten Sphäre verorte, die sie »ebenso folgerichtig wie irrig«411 von der öffentlichen Sphäre abgrenze, entgingen ihr die allen »verkörperte[n] Kreaturen«412 gemeinsame »Exteriorität«,413 »Verletzbarkeit«414 und damit »die Fragen der Bedürfnisse, der Reproduktion der materiellen Lebensbedingungen, das Problem der Vergänglichkeit, kurz alles, was mit dem gefährdeten Leben zu tun hat«.415 Ein erweitertes Konzept der Pluralität muss also: »von dieser Prekaritätsvoraussetzung ausgehen, um jene – durchgängig rassistischen – normativen Handlungen abzuwehren, die im Voraus darüber befinden, wer als Mensch gilt und wer nicht. Es geht hier nicht um eine Rehabilitation des Humanismus, sondern um die Annahme der menschlichen Tiernatur und der gemeinsamen Gefährdung. […] Schließlich macht unsere Interdependenz uns zu mehr als nur denkenden Wesen; sie macht uns zu sozialen und verkörperten, verletzlichen und leidenschaftlichen Wesen.«416 Arendts Ethik des Denkens müsste also, zeigt Butler, mit einem Fortsetzen des heideggerschen Ansetzens zur Auflösung der Dualismen der Metaphysik kombiniert werden, das auch an den Dualismen von Mensch und Tier oder Menschlichem und Nichtmenschlichem nicht haltmacht, um die Pluralität auch als eine »Art materieller Interdependenz«417 zu denken. 408 409 410 411
Ebd. Herv. L.O. Ebd. S. 182. Ebd. S. 206. Ebd. S. 205f. Vgl. Arendt: Vita activa, S. 129-138.Butlers Kritik an Arendt erstreckt sich auch darauf, dass Arendt »Körper« als in ihrer Materialität konstant sowie als vom Denken und somit auch von Sprache unabhängig versteht. 412 Butler: Am Scheideweg, S. 208. 413 Butler: »Über Lebensbedingungen«, in: dies.: Krieg und Affekt. Übers. v. Judith Mohrmann/Juliane Rebentisch/Eva von Redecker. Zürich/Berlin 2009, S. 11-52, hier S. 11. 414 Ebd. S. 12. 415 Butler: Am Scheideweg, S. 206. 416 Ebd. 417 Ebd. S. 208.
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1.3.
Tanzen und Denken
Dieses Kapitel bildet ein Scharnier zwischen den beiden Hauptteilen dieser Arbeit. Sowohl Martin Heidegger als auch Jean-Luc Nancy und Hannah Arendt geht es stellenweise darum, dass das Denken bewegt sei. Das will ich hier kurz darstellen, um im folgenden Abschnitt, vor dem Hintergrund einiger Überlegungen zu Bewegung, Tanz und Geste bei Paul Valéry, Giorgio Agamben und Bernhard Waldenfels, Tanzen und Denken miteinander in Verbindung zu bringen.
1.3.1.
Die Bewegungen des Denkens
Arendt vermerkt im August 1968 in ihrem Denktagebuch, dass das Denken dem Spazierengehen ähnele, weil es weder ein Ziel noch ein Ergebnis habe. Sie ergänzt: »A performing art, not a creative art«.418 Diese Worte beziehen sich nicht auf Kunstgenres im heutigen Sinne, sondern auf die aristotelische Unterscheidung zwischen poiesis und praxis, also zwischen einer Tätigkeit, die auf einen ihr äußerlichen Zweck gerichtet ist, und einer Tätigkeit, die ihren Zweck in sich selbst hat.419 In Thinking erklärt Arendt, dass das Denken zu den Tätigkeiten gehöre »which, like flute-playing, have their ends within themselves and leave no tangible outside end product in the world we inhabit.«420 Aristoteles unterscheidet das Flötenspielen (in Arendts Worten eine performing art) als praxis, deren Ziel und Zweck die Tätigkeit selbst sei, von einer herstellenden Tätigkeit wie der Baukunst (in Arendts Worten eine creative art) als poiesis.421 Der Vergleich des Denkens mit den performing arts ginge aber nicht ganz auf, merkt Arendt an. Da das Denken nicht erscheine, sei es nicht nur in seiner Potentialität als Denkvermögen unsichtbar, sondern auch in der Aktualisierung als jeweiliger Denkvorgang manifestiere es sich nicht. Es sei eine »human faculty that is not only, like other faculties, invisible so long as it is latent, a mere potentiality, but remains non-manifest in full actuality«.422 In 418 Arendt: Denktagebuch, S. 693. 419 Vgl. zur Unterscheidung zwischen poiesis und praxis bei Aristoteles insbes. ders.: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6, Nikomachische Ethik, S. 5 (1094a), S. 125f. (1140a). 420 Arendt: Thinking, S. 129/Vom Leben des Geistes, S. 130. 421 Vgl. Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 8, Magna Moralia. Übers. v. Franz Dirlmeier. Berlin 1983 [5], S. 85 (1211b). 422 Arendt: Thinking, S. 72/Vom Leben des Geistes, S. 78.
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Arendts Manuskript ihrer Lectures on Kant’s Political Philosophy findet sich eine kurze Ausführung über das Denken des Sokrates, die einerseits auf Arendts Einordnung des Denkens als performing art zurückgreift und andererseits ihre Eingrenzung des Denkens als unsichtbar beziehungsweise nicht erscheinend durchbricht. Wenngleich Arendt zumeist die Ansicht vertritt, dass erst bei körperlicher Bewegungslosigkeit sowie »Abgeschirmtheit gegen alle Geräusche, auch das Geräusch der eigenen Stimme«423 gedacht werden könne und dass verschiedene Kunstgenres zwar Resultate des Denkens präsentieren könnten, aber nie das Denken selbst,424 findet sich an dieser Stelle die These, dass ein Denkvorgang doch über das von ihm ausgelöste Innehalten hinaus erscheinen könnte – und zwar schon als der Denkdialog selbst. Sokrates, so Arendt, habe das eigentlich lautlose Gespräch mit sich selbst in einer mit anderen geteilten Öffentlichkeit, »entirely unprotected, open to all questioners, to all demands«,425 verlautbart: »What he actually did was to make public, in discourse, the thinking process – that dialogue that soundlessly goes on within me, between me and myself; he performed in the marketplace the way the flute-player performed at a banquet. It is sheer performance, sheer activity.«426 Arendt skizziert hier eine Szene des Denkens, in der das Denken nicht als seiner Aufführung Vorausgehendes später re-präsentiert wird, sondern sich erst in der Aufführung zuträgt.427 Dass Sokrates seinen Denkprozess völlig ungeschützt allen Fragenden geöffnet oder sogar gleich mit diesen diskutiert habe, lässt zudem vermuten, dass der Denkprozess hier zur potenzierten Vielstimmigkeit eines mit anderen Menschen geteilten, aber dadurch auch zerteilten und verteilten Dialogs wurde. Dass Arendts Skizze der sokratischen Aufführung des Denkens mit dem Satz »It is sheer performance, sheer activity.«428 endet, verweist auf zwei Arendt wichtige Eigenschaften des 423 Arendt: »Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt«, S. 180. 424 Vgl. Arendt: Vita activa, S. 203-208. 425 Arendt: »Lectures on Kant’s Political Philosophy«, in dies.: Lectures on Kant’s Political Philosophy, S. 7-77, hier S. 38/Arendt: »Über Kants Politische Philosophie«, in: dies.: Das Urteilen, S. 16-119, hier S. 61. 426 Ebd. S. 37/dt. S. 60. Eine ähnliche Szene des Denkens entwirft Arendt auch in ihrem Essay über Lessing. Vgl. Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, S. 16. 427 So gelesen erinnert die Szene an die viel detaillierteren Überlegungen Kleists über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Vgl. ders.: »Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Münchner Ausgabe, Bd. 2, Erzählungen/Kleine Prosa/Gedichte/Briefe. München 2010, S. 284-289. 428 Arendt: »Lectures on Kant’s Political Philosophy«, S. 37/»Über Kants Politische Philosophie« S. 60.
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Denkens. Zum einen liefert Arendt damit einen Gegenentwurf zu der von ihr auf dem etymologischen Zusammenhang von Theater und Theorie aufbauend dargelegten traditionellen Position der Denkenden als denjenigen, die nicht handeln, sondern sich in die Kontemplation und das Zuschauen zurückziehen.429 Indem Arendt das Denken als Tätigkeit, die »alle Tätigkeiten an schierem Tätigsein«430 übertreffe, entwirft, stellt sie die traditionelle Hierarchie zwischen Theorie und Praxis in Frage.431 Zum anderen setzt sie sich ab von der Auffassung, dass Denken ein Ergebnis (nämlich eine Erkenntnis der Wahrheit) habe oder gar bloß das Mittel zu dem Zweck, eine Erkenntnis der Wahrheit zu erzielen, sei: »Denken […] hat weder ein Ziel noch einen Zweck außerhalb seiner selbst, und es zeitigt strenggenommen noch nicht einmal Resultate.«432 So unterscheidet sie, ähnlich wie Heidegger, Denken von Wissens- und Erkenntnisproduktion. Sie legt dar, dass in der abendländischen Tradition seit Sokrates’ nach Platon überlieferter Beschreibung des Denkens als »Gespräch der Seele mit sich selbst«433 die Bewegung des denkenden Gesprächs in einem Spannungsverhältnis zur abschließenden Einsicht stehe. Die dialogische Denkbewegung werde hier bloß als Mittel zum Zweck der Erkenntnis aufgefasst. Der Dialog selbst gelange in Platons Darstellung nicht zu einem Ergebnis, doch im Wechsel vom dia-logos zur theōria trete eine einsehende Intuition der unsagbaren Wahrheit ein.434 In Arendts Darstel429 Vgl. Arendt: »Lectures on Kant’s political philosophy«, S. 55/»Über Kants politische Philosophie«, S. 86. Vgl. auch Arendt: Thinking, S. 93/Vom Leben des Geistes, S. 98. 430 Arendt: Vita activa, S. 414. 431 Vgl. insbes. ebd. S. 22-27. 432 Ebd. S. 206. Arendt entwirft anschließend an ihre Kritik des anthropozentrischen Utilitarismus (politisches) Handeln, Sprechen und Denken als nicht teleologische Tätigkeiten. Vgl. ebd. S. 181-189, S. 291. 433 Platon: »Sophistes«, S. 277 (263e). 434 Vgl. Arendt: Thinking, S. 117ff./Vom Leben des Geistes, S. 121ff. und dies.: Vita activa, S. 30ff. Platon lässt im Philebos die Figuren Protarchos und Sokrates entwickeln, dass nicht nur die denkende Rede, sondern auch Bilder in die einem Buch gleichende Seele eingeschrieben bzw. eingezeichnet würden. Vgl. Platon: »Philebos«, S. 105f. (38eff.). Arendt akzentuiert, dass Platon allein die Bilder, nicht aber die Gedanken, mit der Wahrheit in Verbindung bringe, weil er philosophische Einsichten als sprachlich nicht angemessen darstellbar ansehe. In der Wiedergabe der Ideenlehre in seinem Siebtem Brief stellt er das wahrnehmbare Bild, die Erkenntnis und schließlich das Urbild, also die Idee, über den Namen und die sprachliche Definition. Vgl. Platon: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Griechisch und deutsch nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl u.a., Bd. 10, Briefe, Unechtes. Frankfurt a.M./Leipzig 1991, S. 361 (342 bff.).
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lung dagegen passiert Denken als Tätigkeit einer unendlichen (also ergebnis-, zweck- und ziellosen) »Un-Ruhe«.435 Um das Denken als politische oder ethische Praxis noch mehr zu stärken, übernimmt Arendt aber ein zentrales Anliegen der traditionellen Kennzeichnung des Denkens als theōria: das Denken in eine »Eigenständigkeit gegenüber dem Handeln und Tun zu retten.«436 Sie akzentuiert nicht nur, dass es nicht als ziel- und zweckgerichtet (und somit instrumentalisierbar) verstanden werden dürfe, sondern will ihm sogar eine »Denkfreiheit«437 – also eine Unbedingtheit – einräumen, welche – weil das Denken so wie auch das Handeln eine Bewegung sei – eine Bewegungsfreiheit, ein »Aufbrechen-Können, wohin man will«,438 bedeute. Dass diese Art von Freiheit in Heideggers seinsgeschichtlichem Denken nicht gegeben ist, stört Arendt so sehr,439 dass sie die seitdem eigentlich nicht mehr ignorierbare Erkenntnis, dass Denken stets von geschichtlichen und soziokulturellen Konfigurationen bedingt und ermöglicht wird und infolgedessen weder von dem Denken als solchem noch von einem sogenannten »reine[n] Denken«440 ausgegangen werden kann, nicht berücksichtigt. Arendts Formulierung am Ende ihrer Skizze der sokratischen Aufführung des Denkens – »It is sheer performance, sheer activity«441 – ist jedoch nicht nur entgegenzuhalten, dass Sokrates’ Denkprozess aufgrund der ihn bedingenden wie ermöglichenden Voraussetzungen kein reines Denken sein kann, sondern auch, dass das wegen der daran beteiligten Körperlichkeit beziehungsweise Leiblichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit nicht möglich ist. Dieses an jedem Erscheinen beteiligte Außen der Sprache könne vielleicht ›Tanz‹ genannt werden, schlägt Jean-Luc Nancy in einem Gespräch mit der französischen Theaterleiterin und Tanzwissenschaftlerin Véronique Fabbri vor: »Man kann nicht in einer bestimmten, an jemanden gerichteten Weise eine Erklärung machen, sprechen, ohne dass der Körper unmerklich von ei-
435 Arendt: Vita activa, S. 25. Vgl. auch dies.: Thinking, S. 13ff., 57f., 62ff./Vom Leben des Geistes, S. 23ff., 66f., 70ff. 436 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 314. 437 Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, S. 15. 438 Ebd. S. 14. Vgl. zu Arendts Versuch, dem Denken eine Unbedingtheit einzuräumen, auch dies.: Denktagebuch, S. 671 sowie dies.: Thinking, S. 70/Vom Leben des Geistes, S. 76. 439 Vgl. ebd. S. 186/dt. S. 413. 440 Arendt: Vita activa, S. 414. 441 Arendt: »Lectures on Kant’s Political Philosophy«, S. 37/»Über Kants politische Philosophie«, S. 60.
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nem Tanz erfasst wird, von seinen Schwingungen.«442 Im weiteren Verlauf des Gesprächs entwickelt er, dass sich das Wort ›Tanz‹ in diesem Sinne womöglich auch mit dem Denken in Beziehung bringen ließe, und kommt, in einer Beobachtung über das platonische Konzept der theōria, zu einer behutsamen Ausführung »über das Denken als Tanz«.443 Auf Platons Höhlengleichnis Bezug nehmend, deutet er an, dass das bei Platon festzustellende Spannungsverhältnis zwischen der Anschauung und deren bewegtem Vorlauf seiner Meinung nach genauer zu untersuchen wäre: »Was geschieht in Platons Höhle, wenn man einen Gefangenen befreit? Das ist etwas, was man nie sagt: die Gefangenen rühren sich nicht […]. Offensichtlich ist alles davon beherrscht, mit dem Sehen zu enden, aber dennoch, der Anfang liegt im Drehen, in der Bewegung.«444 Darauf, dass die szenischen Aspekte des Theaters nie ganz im Dialog aufgehen könnten, insistiert Nancy in seinem Dialog über den Dialog mit Philippe Lacoue-Labarthe. Hier besprechen die beiden die jedem Theater im engeren Sinne vorausgehende und dieses erst ermöglichende »Miterscheinung«.445 Sie ziehen dafür den Namen »Archi-Theater«446 in Erwägung. Eine Wendung, die inspiriert ist von dem von Derrida vorgeschlagenen, »eine phänomenologische und transzendentale Sprache […], die sich bald als inadäquat erweisen wird«447 reproduzierenden Namen »archi-écriture«,448 mit dem Derrida die Differenz eines jeden Erscheinens »auf der Szene der Anwesenheit«449 zur selbst nie erscheinenden différance, die diese instabile Gegenwart hervorbringt, meint: 442 Nancy, in: Véronique Fabbri: »Gespräch mit Jean-Luc Nancy«, übers. v. Ronald Voullié, in: Luciano Berio/dies. et al. (Hg.): Allesdurchdringung. Texte, Essays, Gespräche über den Tanz. Berlin 2008, S. 60-88, hier S. 62. Vgl. dazu Müller-Schöll: »Gesten des Opfers (der Kunst)«, in: ders./Leonie Otto (Hg.): Unterm Blick des Fremden. Zur Theaterarbeit nach Laurent Chétouane. Bielefeld 2015, S. 83-100, hier S. 88. 443 Nancy, in: Fabbri: »Gespräch mit Jean-Luc Nancy«, S. 87. 444 Ebd. S. 87f. Vgl. Platon: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Griechisch und deutsch nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl u.a., Bd. 5, Politeia. Frankfurt a.M./Leipzig 1991, S. 509-515. 445 Nancy: Singulär plural sein, S. 96. 446 Lacoue-Labarthe/Nancy: »Dialog über den Dialog«, übers. v. Ulrich Müller-Schöll, in: Joachim Gerstmeier/Müller-Schöll (Hg.): Politik der Vorstellung. Theater und Theorie. Berlin 2006, S. 20-42, S. 21. 447 Derrida: Die différance, S. 126. 448 Die von Eva Pfaffenberger-Brückner gewählte Übersetzung ins Deutsche lautet »Urschrift«. Ebd. 449 Ebd. S. 125.
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»Die différance bewirkt, daß die Bewegung des Bedeutens nur möglich ist, wenn jedes sogenannte ›gegenwärtige‹ Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, während es das Merkmal des vergangenen Elementes an sich behält und sich bereits durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem zukünftigen Element aushöhlen läßt […]. Ein Intervall muß es von dem trennen, was es nicht ist, damit es es selbst sei, aber dieses Intervall, das es als Gegenwart konstituiert, muß gleichzeitig die Gegenwart in sich selbst trennen und so mit der Gegenwart alles scheiden, was man von ihr her denken kann, das heißt, in unserer metaphysischen Sprache, jedes Seiende, besonders die Substanz oder das Subjekt. Dieses dynamisch sich konstituierende, sich teilende Intervall ist es, was man Verräumlichung nennen kann, Raum-Werden der Zeit oder Zeit-Werden des Raumes.«450 Gerade wegen der Verräumlichung, so Nancy, bliebe »die Frage des Außen: dessen, was nicht Sprache ist, des Raums und der verräumlichten Körper, unter denen ein Dialog nur möglich ist.«451 Der derridaschen différance voraus geht, wie in den Kapiteln 1.1.4 und 1.2.1 von mir nachvollzogen, Heideggers Lichtung oder Gegend. Eben in diesem Zusammenhang hat Heidegger in wenigen Passagen Bewegung und Denken miteinander verknüpft. Sein Verständnis von Bewegung ist schon deshalb für die Tanzwissenschaft fruchtbar, weil es die Ruhe, das Noch-nicht der Bewegung oder ihre Unterbrechung nicht als das Gegenteil von Bewegung, sondern als Spielarten der Bewegung einbezieht.452 Vor allem aber arbeitet Hei450 Ebd. Derrida führt seinen Neologismus différance damit ein, dass er am Wort ›mouvance‹ aufzeigt, dass die Endung ›ance‹ des französischen Partizip Präsens das neutralisiere, was der Infinitiv als einfach aktiv kennzeichne: ›mouvance‹ meine also weder einfach das Bewegen, noch das Sich-Bewegen noch das Bewegtwerden. Ebd. S. 118f. 451 Lacoue-Labarthe/Nancy: »Dialog über den Dialog«, S. 42. Vgl. auch Nancy: »Theaterkörper«, S. 162f., 168f.; Marita Tatari: »Von der ontologischen Differenz zum Theater. Ein Kommentar zum Beitrag von Jean-Luc Nancy«, in: Müller-Schöll/Schallenberg/Zimmermann: Performing Politics, S. 172-175. 452 Vgl. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 33, Aristoteles, Metaphysik Θ 1-3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft. Frankfurt a.M. 1990 [2], S. 186. Dass Tanz in der Moderne auf die Bewegung als Dynamik und Mobilität reduziert wurde, hat v.a. André Lepecki kritisiert. Vgl. André Lepecki: Option Tanz. Performance und die Politik der Bewegung. Übers. v. Lilian Astrid Geese. Berlin 2008, S. 8-34. In der gegenwärtigen Tanzpraxis beobachten Krassimira Kruschkova und Constanze Schellow Strategien des Nichtstuns. Vgl. Kruschkova: »Der blinde Seekrebs. Zum Nicht(s)tun im zeitgenössischen Tanz und in Performance«, in: Arno Böhler/dies./Susanne Valerie (Hg.): Wissen wir, was ein Körper vermag? Biele-
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deggers Lektüre der aristotelischen Theorie der Bewegung heraus, dass jede einzelne aktuelle Bewegung als Bewirken einer (Orts-)Veränderung nur im Möglichkeitsraum eines vorherigen »Bewegtsein[s]«453 stattfinden könne. Dieses verortet er in der Was heißt Denken?-Vorlesung sowie im Aufsatz Das Wesen der Sprache in der Lichtung beziehungsweise Gegend. Die Wege des sinnenden Denkens, so Heidegger, seien in die »Be-wëgung«454 des in der Gegend Erscheinenden eingelassen: »Für das sinnende Denken […] gehört der Weg in das, was wir die Gegend nennen. […] Das Freigebend-Bergende der Gegend ist jene Be-wëgung, in der sich die Wege ergeben, die der Gegend gehören. […] Wir hören das Wort Bewëgung im Sinne von: Wege allererst ergeben und stiften. Sonst verstehen wir bewegen im Sinne von: bewirken, daß etwas seinen Ort wechselt, zuoder abnimmt, überhaupt sich ändert.«455 Damit öffnet Heidegger die aristotelische Gegenüberstellung von dynamis und energeia und deren Fortleben in der Philosophiegeschichte: »Unsere Wörter ›möglich‹ und ›Möglichkeit‹ werden freilich unter der Herrschaft der ›Logik‹ und ›Metaphysik‹ nur gedacht im Unterschied zur ›Wirklichkeit‹, das heißt aus einer bestimmten – der metaphysischen – Interpretation des Seins als actus und potentia, welche Unterscheidung von der existentia und essentia identifiziert wird.«456 Seine Rede von der »Ek-sistenz«457 des Menschen entsteht aus dieser Verschiebung des energeia-Begriffs zu einer »ex-sistentia«458 im »Außerhalb der Verursachung«,459 in dem der Mensch aber »gerade auf die Verursachung an-
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feld 2014, S. 121-136; Schellow: Diskurs-Choreographien: Zur Produktivität des »Nicht« für die zeitgenössische Tanzwissenschaft. München 2016. Heidegger: »Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 9, Wegmarken, S. 239-302, hier S. 244. Vgl. dazu Damir Barbarić: »›Das Bleiben als Kommen‹. Heidegger in Zwiesprache mit Hölderlin«, in: ders. (Hg.): Das Spätwerk Heideggers: Ereignis – Sage – Geviert. Würzburg 2007, S. 129-142, hier S. 130. Heidegger: »Das Wesen der Sprache«, S. 186. Ebd. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 316f. Vgl. zu dynamis und energeia bei Aristoteles: Metaphysik. Übers. v. Thomas Alexander Szlezák, Berlin 2003, S. 151ff. (1045bff.), S. 162 (1050a). Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 326. Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 6.2, Nietzsche. Frankfurt a.M. 1997, S. 380. Ebd.
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gewiesen«460 bleibe. Der aristotelische Begriff des Vermögens (dynamis) wird damit zu einer nicht hintergehbaren Ermöglichung umgeschrieben, welche nicht kausal eine Verwirklichung zur Folge hat, sondern als Möglichkeit wirklich ist: »Wenn ich von der ›stillen Kraft des Möglichen‹ spreche, meine ich nicht das possible einer nur vorgestellten possibilitas, nicht die potentia als essentia eines actus der existentia, sondern das Sein selbst, das mögend über das Denken und so über das Wesen des Menschen und das heißt über dessen Bezug zum Sein vermag.«461 In der Was heißt Denken?-Vorlesung unterstreicht Heidegger, dass seine Umdeutung des Denkens zu weniger beziehungsweise mehr als einem rein menschlichen Vermögen keineswegs eine bloße Passivität, also in Termini der Bewegung kein bloßes Bewegtwerden impliziere, sondern eine aktive Beteiligung des Denkenden selbst durchaus notwendig sei, damit der Weg oder die Bewegung überhaupt entstehen könne: »Das Denken selber ist dieser Weg. Wir entsprechen diesem Weg nur so, daß wir unterwegs bleiben. […] Um in das Unterwegs zu gelangen, müssen wir uns freilich aufmachen. Dies ist in einem doppelten Sinne gemeint: einmal so, daß wir uns der sich öffnenden Wegaussicht und Wegrichtung selber aufschließen, zum anderen so, daß wir uns auf den Weg begeben, d.h. die Schritte tun, durch die der Weg erst ein Weg wird. Der Denk-Weg zieht
460 Ebd. S. 381. Dass diese Aneignung und Verschiebung des aristotelischen energeia-Begriffs in Etappen verlief, lässt sich besonders an der sogenannten Rektoratsrede nachvollziehen. Hier schreibt Heidegger noch: »Zum anderen aber kämpften die Griechen gerade darum, dieses betrachtende Fragen als eine, ja als die höchste Weise der ἐνέργεια, des ›am-Werke-Seins‹ des Menschen zu begreifen und zu vollziehen. Nicht stand ihr Sinn danach, die Praxis der Theorie anzugleichen, sondern umgekehrt, die Theorie selbst als die höchste Verwirklichung echter Praxis zu verstehen.« Heidegger: »Die Selbstbehauptung der deutschen Universität«, S. 110. Hier, im Jahr 1933, also vor der Kehre, stellt Heidegger das unermüdliche Fragen, das er später als Denken bezeichnen wird, als wissenschaftliche theoria sowie als techné im Sinne des aristotelischen energeia-Begriffs dar. Weder seine spätere Distanzierung vom Wissenschaftsbetrieb noch eine Abgrenzung des Denkens vom Wissen und Wollen sind zu erkennen, wohl aber bereits eine gewisse Spannung zwischen Wollen und Rezeptivität. 461 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 317.
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sich weder von irgendwoher irgendwohin wie eine festgefahrene Fahrstraße, noch ist er überhaupt irgendwo an sich vorhanden. Erst und nur das Gehen, hier das denkende Fragen, ist die Be-wegung. Sie ist das Aufkommenlassen des Weges.«462 Für Heidegger gehen gerade mit dieser Be-wegung des Denkens seine Einsamkeit und Undarstellbarkeit einher, wie er direkt im Anschluss an die oben zitierte Stelle ausführt: »Dieser Charakter des Denkweges gehört zur Vorläufigkeit des Denkens, die ihrerseits in einer rätselvollen Einsamkeit beruht […]. Kein Denker ist je in die Einsamkeit eines anderen eingetreten.«463 Im fünf Jahre zuvor geschriebenen Brief über den »Humanismus« geht Heidegger aber noch davon aus, dass der »Beweglichkeit«464 des Denkens im »unmittelbaren Gespräch«465 schon gemeinsam nahezukommen sei. So schreibt er an Jean Beaufret: »Im Schriftlichen büßt das Denken leicht seine Beweglichkeit ein. Vor allem kann es da nur schwer die ihm eigene Mehrdimensionalität seines Bereiches innehalten.«466 Vor dem Hintergrund dieser Feststellung lassen sich zwei der von mir herangezogenen Veröffentlichungen Heideggers in Dialogform – Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken sowie Aus einem Gespräch von der Sprache – als Bemühungen Heideggers lesen, die Beweglichkeit und Mehrdimensionalität des Denkens im Schriftlichen beizubehalten. Während die drei Gesprächsteilnehmer im Feldweggespräch über das Denken, wie in Kapitel 1.2.1 ausgeführt, diskutieren, dass die Sprache »ein einziges, das einzige Wort«467 finden müsste, um »das Wesende des Seins zu nennen«,468 suchen in Aus einem Gespräch von der Sprache ein »Japaner«469 und ein »Fragende[r]«470 nach einer einzigen Gebärde. Sie entwickeln, dass »Winke und Gebärden«471 nicht auf etwas Bestimmtes hinweisen oder zeigen würden, sondern etwas Nicht-Artikulierbares zur Erscheinung kommen lassen könnten. Dieses Gespräch ist eine der wenigen Stellen, an
462 463 464 465 466 467 468 469 470 471
Heidegger: Was heißt Denken?, S. 174. Ebd. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 315. Ebd. Ebd. Heidegger: »Der Spruch des Anaximander«, S. 366. Ebd. Heidegger: »Aus einem Gespräch von der Sprache«, S. 79. Ebd. Ebd. S. 111. Vgl. dazu Kai van Eikels: Das Denken der Hand. Japanische Techniken. Bern 2004, S. 182ff.
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denen Heidegger das Theater, welches er als nachahmende Repräsentation ablehnte,472 behandelt, und zwar, in einer kurzen und idealisierenden Darstellung, das japanische Nō-Theater. Dort verlange die Leere der Bühne »eine ungewöhnliche Sammlung«,473 in der es »nur noch einer geringen Gebärde des Schauspielers«474 bedürfe, »um Gewaltiges aus einer seltsamen Ruhe erscheinen zu lassen.«475 Diesbezüglich äußert Derrida in La main de Heidegger den Vorbehalt, dass im Sinne dessen, was er als dissemination beschreibt, nur von der Unmöglichkeit einer solchen Versammlung ausgegangen werden könne.476 Heidegger erwähne bloß an einer einzigen Stelle eine Gebärde, die nicht von einer, sondern von beiden Händen ausgeführt wird – doch sind diese zu einer in die »Einfalt«477 tragenden Gebärde gefaltet. Als differierend oder andere berührend zieht er die Hände nicht in Betracht, pointiert Derrida.478 Von diesen Bildern der Einheit, Einsamkeit und Ruhe, die der »stillen Kraft des Möglichen«479 bei Heidegger anhaften, löst Derridas différance als unaufhörliches, unabschließbares und ausuferndes Spiel der Differenzen sie und erweitert sie zur »strukturelle[n] Möglichkeit«480 der »Iterabilität«:481 der Möglichkeit, dass sich mit jeder Wiederholung eines Zeichens aufgrund der je singulären Situation der Wiederholung eine nichtplanbare unkontrollierbare Veränderung der Wiederholung ereignen kann. Für die Theatertheorie (und Tanztheorie) liegt darin, wie Nikolaus Müller-Schöll schreibt, die Frage nach dem Verhältnis des singulären Ereignisses zu dem, was es bedingt und umgibt: 472 Vgl. Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, S. 29. Philippe Lacoue-Labarthe demonstriert an Heideggers Ablehnung des (westlichen) Theaters den Heideggers Arbeit inhärenten Widerspruch, dass Heidegger den Phänomenen eine sich zwar entziehende, aber doch primäre Wahrheit zugrunde legt. Vgl. insbes. Lacoue-Labarthe: Die Nachahmung der Modernen: Typographien 2. Übers. v. Thomas Schestag. Basel u.a. 2003, S. 175-201; außerdem ders.: Metaphrasis. Das Theater Hölderlins. Zwei Vorträge. Übers. v. Bernhard Nessler. Freiburg 2001, S. 10 und Marten Weise: »Heideggers Schweigen vom Theater«, in: Gabriel/Müller-Schöll: Das Denken der Bühne, S. 167-179. 473 Heidegger: »Aus einem Gespräch von der Sprache«, S. 101. 474 Ebd. 475 Ebd. 476 Vgl. zur dissemination Kapitel 2.2.1. 477 Heidegger: Was heißt Denken?, S. 19. 478 Vgl. Derrida: Geschlecht. Heideggers Hand, S. 79f. 479 Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 317. 480 Derrida: »Signatur, Ereignis, Kontext«, übers. v. Werner Rappl, in: Derrida: Die différance, S. 67-108, hier S. 85. 481 Ebd. S. 80.
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»Wie ist das Einmalige zu denken – das Ereignis, der Akt, die Geste, das Schreiben, Denken oder Spielen – wenn es doch immer schon ›auf der Szene‹ […] statt hat, im Theater der Schrift oder der Körper, kurz: in Resonanzräumen […], und dort von dem kontaminiert, was Derrida als ›Iterierbarkeit‹ (iterabilité) bezeichnet, von der anfänglichen Wiederholung, die sich aus der Entfaltung in Raum, Zeit und Material der Darstellung ergibt?«482
1.3.2.
Bewegungsereignisse
Das gerade Entwickelte werde ich nun mit einem kurzen Parcours durch eine Zusammenstellung von Paul Valérys Philosophie de la danse, Giorgio Agambens Noten zur Geste und Bernhard Waldenfels’ Abhandlung über die Leibliche Bewegung im Tanz noch etwas näher an den Tanz und das Tanzen rücken. Valérys Philosophie de la danse ist die Publikation eines vor einer Aufführung der Tänzerin Antonia Mercé y Luque am 5. März 1936 in Paris gehaltenen Vortrags. Arendt nicht unähnlich charakterisiert Valéry das Denken als nach Maßstäben der Effizienz schlechthin unökonomisch und überflüssig und leitet daraus dessen Nähe zum Tanz als einer Kunstform ab, in der sich die jegliches Maß der Notwendigkeit (»nécessité«483 ) und Zweckmäßigkeit (»utilité«484 ) übersteigenden menschlichen Handlungspotentiale, die er teilweise mit Bewegungspotentialen gleichsetzt, in besonderer Weise zeigten. Das Tanzen sei, als »Handeln des ganzen menschlichen Körpers […], das in eine Welt, eine raumzeitliche Sphäre transponiert ist, die sich vom praktischen Leben
482 Müller-Schöll: »Denken auf der Bühne«, S. 189. In der Beantwortung dieser Frage lässt sich ein roter Faden von Müller-Schölls Theaterforschung sehen. Vgl. dazu seine Überlegungen zum Singulären im Theater als dem Ereignis vergleichbar, von dem ihm Vorausgehenden aber nicht ganz getrennt, und doch verschieden. Müller-Schöll: »Das Problem und Potential des Singulären«, S. 142. 483 Valéry: »Philosophie de la danse«, in: ders.: Œuvres, Bd. 1. Paris 1957, S. 1390-1403, hier S. 1394. Ausführlicher und sie historisch genauer einordnend, widmen sich Gabriele Brandstetter, Miriam Fischer und Gerald Siegmund den Tanzschriften Valérys. Vgl. Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1995, S. 284-315; Fischer: Denken in Körpern, S. 295-315 und Siegmund: Abwesenheit, S. 4958. 484 Valéry: »Philosophie de la danse«, S. 1394.
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unterscheidet«,485 also »ganz einfach eine allgemeine Poesie vom Handeln der Lebewesen«.486 Auch im Hintergrund von Valérys Essays steht Aristoteles’ Unterscheidung von poiesis und praxis und außerdem Kants Theorie der »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«.487 Diese entwickelt Kant in der Kritik der Urteilskraft in den Paragraphen, in denen er »freie Naturschönheiten«488 wie Blumen, Vögel, »eine Menge Schalentiere des Meeres«,489 dekoratives Kunsthandwerk und das »Spiel der Gestalten (im Raume, die Mimik und der Tanz)«490 hinsichtlich der in ihnen zu betrachtenden »Zusammenstimmung des Mannigfaltigen«491 als solche Schönheiten beschreibt, welche nicht nach einer »objektive[n] Zweckmäßigkeit«492 (also entweder nach ihrer »Nützlichkeit«493 oder ihrer »Vollkommenheit«494 ) beurteilbar seien. Ein ästhetisches Urteil über solche Objekte oder Handlungen könne deshalb lediglich auf eine »bloß formale Zweckmäßigkeit, d.i. eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck«495 aufbauen. Diese Zweckmäßigkeit ohne Zweck schreibt Kant nicht den Objekten und Handlungen selbst, deren »Möglichkeit die Vorstellung eines Zwecks nicht notwendig voraussetzt«, zu, sondern dem Urteil. Und zwar, weil »wir die Ursachen dieser Form nicht in einem Willen setzen, aber doch die Erklärung ihrer Möglichkeit, nur indem wir sie von einem Willen ableiten, uns begreiflich machen können.«496 Für Valéry befindet sich die Tänzerin, über die er spricht, »in einer anderen Welt«,497 in der es »keine äußeren Ziele für Handlungen«498 gibt. Er entfaltet, von Antonia Mercé y Luques Tanz ausgehend und immer wieder
485 Valéry: »Philosophie des Tanzes«, übers. von Clemens Par, in: Valéry: Werke, Bd. 6. Zur Ästhetik und Philosophie der Künste. Frankfurt a.M./Leipzig 1995, S. 243-257, hier S. 243. 486 Ebd. S. 256. 487 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 143. Die Meinung, dass Valéry von diesen beiden Theorien beeinflusst sein müsste, vertritt auch Fischer in: dies.: Denken in Körpern, S. 307. 488 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 141. 489 Ebd. 490 Ebd. 491 Ebd. S. 143. 492 Ebd. S. 142. 493 Ebd. S. 143. 494 Ebd. 495 Ebd. 496 Ebd. S. 135. 497 Valéry: »Philosophie des Tanzes«, S. 251. 498 Ebd.
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auf diesen zurückkommend, einen »Tanz von Gedanken rund um den lebendigen Tanz«.499 Von seinen eigenen Beobachtungen beziehungsweise denen eines sprechenden Ichs leitet er zu denen eines Philosophen über und markiert so den Abstand dieser Überlegungen zu der sie ebenso anregenden wie verunsichernden Seherfahrung: »Es wird ihm bewußt, daß diese tanzende Person sich gewissermaßen in einer Dauer einschließt, die sie selbst erzeugt, die ganz aus gegenwärtiger Energie besteht, aus nichts Dauerhaftem. Sie ist das Unbeständige, verschwendet das Unbeständige, führt durch das Unmögliche, beansprucht das Unwahrscheinliche; indem sie kraft ihrer Anstrengung den gewöhnlichen Zustand der Dinge verneint, erweckt sie in den Köpfen die Vorstellung von einem anderen, außergewöhnlichen Zustand – einem Zustand, der nichts als Handlung wäre, einer Dauerhaftigkeit, die durch eine unaufhörliche Hervorbringung von Arbeit entstehen und bestehen würde«.500 Diesen Zustand bezeichnet Valéry in einem weiteren Essay über den Tanz als »Zustand des Tanzes«.501 Dort und in der Philosophie de la danse bezieht er sich auf die lyrischen Artikel, die Stephane Mallarmé in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts über Tanz und Theater schrieb. Inspiriert von der in ihren Stoff- und Lichtgebilden verschwindenden Loïe Fuller, inspiriert auch von der scheinbar der Schwerkraft entfliehenden Balletttänzerin Elena Cornalba, macht Mallarmé das Tanzen zur Metapher für sein Ideal sich von selbst schreibender Poesie: »Dies ist das Urteil – oder Axiom –, das in Sachen Ballett zu erhärten wäre! Daß nämlich die Tänzerin keine Frau ist, die tanzt, und zwar aus den gleichgestellten Gründen, daß sie keine Frau ist, sondern eine Metapher, in der sich ein Grundaspekt unserer Formerfahrung verdichtet: als Schwert, Kelch, Blume usw., und daß sie nicht tanzt, sondern im Wunder von Raffungen und Schwüngen durch Körperschrift [avec une écriture corporelle] vermittelt, was, schriftlich niedergelegt, ganzer Absätze von Prosa, sei diese nun
499 Ebd. S. 256. 500 Ebd. S. 249. Herv. L.O. 501 Valéry: »Tanz, Zeichnung und Degas«, übers. v. Werner Zemp, in: Paul Valéry: Werke, Bd. 6, S. 259-351, hier S. 271.
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dialogisch oder deskriptiv, bedürfte: ein von jeglichem Zutun des Schreibers losgelöstes Gedicht.«502 Valérys Figur des Philosophen erkennt den Tanz deshalb als ein geschlossenes System: »Der Philosoph frohlockt. Keine Äußerlichkeit! Die Tänzerin hat kein Außen … Nichts existiert jenseits des Systems, das sie sich durch ihre Handlungen schafft«.503 In den letzten Abschnitten der Philosophie de la danse führt Valéry aus, dass Tanz nicht spontan oder autonom ausgeführt werden könne, sondern immer schon gemäß gewisser Regelmäßigkeiten ablaufen müsse. Er imaginiert einen Tanz klavierspielender Hände, deren Musikspiel nicht zu hören ist. Da durch das Nichtertönen der Komposition diese weder als Ursache noch als Ziel dieses Spiels erkennbar sei, träten die weiteren Gesetze zutage, die diesen Tanz bestimmten: »Sind diese Hände nicht Tänzerinnen, die ebenso jahrelang einer eisernen Disziplin, endlosen Übungen unterworfen werden mußten? […] Sie ahnen, daß dies alles bestimmten Gesetzen gehorcht, dieses ganze Ballett Regeln folgt, festgelegt ist … […] Bei etwas mehr Aufmerksamkeit würden Sie in dieser Komplexität gewisse Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit dieser am Klavier agierenden, sich vervielfältigenden Hände entdecken. Was diese auch immer tun mögen; augenscheinlich können sie es nicht, ohne eine – ich weiß nicht welche – aufeinanderfolgende Gleichmäßigkeit zu respektieren.«504 Was er mit diesem Gedankenexperiment veranschaulichen wolle, gelte mehr noch für »alle automatischen Bewegungen, die […] nicht auf ein erkennbares, lokal begrenztes Ziel bezogen sind«,505 mutmaßt Valéry. Der Gehende, der zerstreut den Fuß Schlenkernde, der mit den Fingern Trommelnde oder der sich nachdenklich mit der Hand über das Kinn Fahrende nähmen nach kurzer Zeit eine gewisse »periodische Ordnung«506 ein. So wie diese nicht (ganz) intentional vollzogenen Bewegungsabläufe folgt für Valéry ein Tanz wie
502 Mallarmé: »Ballets«, S. 204f. Auch zu Mallarmé vgl. Brandstetter: Tanz-Lektüren, S. 332339, Fischer: Denken in Körpern, S. 287-294, 311-315 und Siegmund: Abwesenheit, S. 120123, 142-151. 503 Valéry: »Philosophie des Tanzes«, S. 251f. 504 Ebd. S. 254f. sowie ders.: »Philosophie de la danse«, S. 1401. 505 Valéry: »Philosophie des Tanzes«, S. 255. 506 Ebd.
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der der klavierspielenden Hände nicht allein einer bestimmten Handlungsanweisung (der Partitur oder Choreographie) und der Disziplinierung durch Übung, sondern außerdem den zahlreichen verschiedenen, oft vorbewussten oder unmerklichen Rhythmen (beispielsweise des Herzschlags, der Atmung oder auch der Bewegungen unseres Planeten und der anderen Himmelskörper), die auf unterschiedliche Art und Weise jeden einzelnen, menschlichen oder nichtmenschlichen Körper bewegen.507 Das ungewöhnliche Beispiel eines lautlosen Klavierspiels wählt Valéry, weil er, wie er zuvor ankündigt, den Tanz als eine Handlung darstellen wolle, »die sich aus der gewöhnlichen und zweckgebundenen Handlung ableitet, sich dann von ihr löst und am Ende sich ihr entgegenstellt.«508 Dies führt mich zu Agambens Noten zur Geste, die sich zwar nicht explizit auf Valéry, wohl aber auf die von Valéry rezipierten Tanztexte Mallarmés sowie das von beiden erdachte »Ideal der reine[n] Geste oder Bewegung«509 beziehen.510 Mithilfe einer Textstelle bei Agamben könnte der sich zu Beginn aus der zweckgebundenen Handlung ableitende Tanz als nützliche Bewegung und der sich am Ende der zweckgebundenen Handlung entgegenstellende Tanz als Selbstzweck gelesen werden. Der Schritt dazwischen aber – der sich von der zweckgebundenen Handlung lösende Tanz – wäre mit Agamben als Mittel ohne Zweck – und damit als Geste – zu bezeichnen: »Für das Verständnis der Geste ist nichts irreführender als die Vorstellung eines Bereichs zweckgerichteter Mittel (zum Beispiel Gehen als Mittel, den Körper von Punkt A zu Punkt B zu bewegen); ebenso irreführend ist es, diesem Bereich einen anderen, höheren entgegenzusetzen: den Bereich, in dem die Geste eine Bewegung ist, die sich selbst zum Zweck wird (zum Beispiel der Tanz als ästhetische Dimension). Wenn der Tanz Geste ist, so deshalb, weil er nichts anders ist als die Austragung und Vorführung des medialen Charakters der körperlichen Bewegung. Die Geste ist die Darbie-
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Vgl. dazu Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 221. Valéry: »Philosophie des Tanzes«, S. 253. Herv.i.O. Siegmund: Abwesenheit, S. 144. Vgl. zur Verknüpfung von Valéry und Agamben auch Fischer: »Tanz als rein(s)te Geste. Überlegungen zum Konzept des Gestischen im Ausgang von Maurice Merleau-Ponty und Giorgio Agamben«, in: Ulrich Richtmeyer/Fabian Goppelsröder/Toni Hildebrandt (Hg.): Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst. Bielefeld 2014, S. 149-169.
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tung einer Mittelbarkeit, das Sichtbar-Werden des Mittels als eines solchen. Sie bringt das In-einem-Medium-Sein des Menschen zur Erscheinung«.511 Der »mediale[…] Charakter[…] der körperlichen Bewegung«,512 der sich laut Agamben im Tanz als Geste zeige, übersteigt somit die Rhythmen, von denen Bewegungen laut Valéry determiniert sind, um die Medialität, innerhalb der jede einzelne Bewegung erst stattfinden kann. Die Geste könne nämlich, so zeigt Agamben mithilfe von Marcus Terrentius Varros De lingua latina, nicht in die aristotelische Unterscheidung von poiesis und praxis eingeordnet werden, sondern sprenge »die falsche Alternative zwischen Zweck und Mittel«,513 indem sie Mittel zeige, »die sich als solche dem Bereich der Mittel entziehen, ohne deshalb zum Zweck zu werden.«514 Agambens kurzer Text ist in seinem kurzangebundenen Aufgreifen einer Vielzahl komplizierter Denkfiguren teilweise schwer nachzuvollziehen. Seine Beschäftigung mit Geste, Bewegung und Tanz entwickelt er vor dem Hintergrund eines größeren Interesses an der politischen »Sphäre der reinen Mittel oder der Gesten (der Mittel also, die sich, eben als solche, von ihrer Relation auf einen Zweck hin emanzipieren)«,515 das auf Hannah Arendts Konzeption des Denkens und Handelns als nicht zweckgerichteten Tätigkeiten fußt.516 Die Geste, führt Agamben in den Noten zur Geste (jetzt in Bezugnahme auf Kant) fort, sei nicht der Bereich eines »Zwecks an sich, sondern der einer reinen und zwecklosen Mittelbarkeit«.517 Nur so, meint Agamben, erhalte »der dunkle kantische Begriff einer ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ eine konkrete Bedeutung«.518 Doch damit streift er gar nicht nur die Zweckmäßigkeit ohne Zweck (die Kant, wie ich oben schon kurz erklärt habe, entwickelt für unerklärliche Möglichkeiten, für deren ästhetische Beurteilung ein Zweck zumindest vorgestellt werden müsse), son-
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Giorgio Agamben: »Noten zur Geste«, übers. v. Elisabetta Fontana-Hentschel/Alexander García Düttmann, in: Jutta Georg-Lauer: Postmoderne und Politik. Tübingen 1992, S. 97-107, hier S. 102f. Ebd. S. 103. Ebd. S. 102. Ebd. Agamben: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Übers. v. Sabine Schulz, Freiburg/Berlin 2001, S. 9; vgl. Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin 2013, S. 236. Vgl. Kapitel 1.3.1. Agamben: »Noten zur Geste«, S. 103. Ebd.
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dern kombiniert sie mit dem Wort »Mittelbarkeit«,519 das Walter Benjamin erfindet für eine weder mit Zwecken noch als Ursache erklärbare Potentialität eines Mittels, aus der heraus dieses sich schon zweckgerichtet, aber nicht nur zweckgerichtet aktualisieren könnte. Also wie Heideggers stille Kraft des Möglichen und Derridas diese ausbauende strukturelle Möglichkeit der Iterabilité keine auf eine Verwirklichung abzielende Potenz, sondern ein als Potentialität wirklicher Möglichkeitsraum.520 Agamben geht auf das mit dem Aufgreifen von Benjamins Mittelbarkeit Angedeutete aber gar nicht weiter ein, sondern konzentriert sich auf Geste und Tanz als Unterbrechungen zweckgerichteten Handelns, wofür sie sich gerade so, wie von Mallarmé und Valéry dargestellt, als reine Bewegung, die für einen Moment ein System ohne Außen schafft, gut eignen. Laut den Anmerkungen des Philosophen Averroes zu Aristoteles’ Theorie der Bewegung führe der Tanz, so Agamben, »[z]wischen Möglichkeit und faktischer Wirklichkeit […] ein mittleres Sein ein, in dem Potenz und Akt, Mittel und Zweck sich ausgleichen und aneinander hervorbringen«.521 Nur deshalb habe Mallarmé den Tanz Loïe Fullers als »unerschöpfliche Quelle seiner selbst«522 beschreiben können. Und nur so kann 519
Walter Benjamin: »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2.1, Aufsätze Essays Vorträge. Frankfurt a.M. 1991, S. 140157, hier S. 154. Auch bei Benjamin stehen diese Überlegungen im Kontext einer Auseinandersetzung mit einer Politik der Verhältnismäßigkeit und der Möglichkeit deren Aussetzens. Vgl. ders.: »Zur Kritik der Gewalt«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2.1, S. 179-203; dazu Werner Hamacher: »Afformativ, Streik«, in: Christiaan Hart-Nibbrig (Hg.): Was heißt ›Darstellen‹? Frankfurt a.M. 1994, S. 340-371, hier S. 347 sowie, zum Verhältnis von Kants Zweckmäßigkeit ohne Zweck zu Benjamins Mittelbarkeit: Sam Weber: Benjamin’s -abilities. Cambridge/London 2008, S. 39f. 520 Vgl. Kapitel 1.3.1 sowie Müller-Schöll: »Bertolt Brecht«, in: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2011, S. 77-91, hier S. 83. Müller-Schöll erläutert, dass Benjamin diese Figur in seine Arbeit über Bertolt Brechts episches Theater zu einer Unterscheidung zwischen einem »Theater überhaupt« und dem »Theater des Menschen« transportiere. Vgl. Müller-Schöll: »Über Theater überhaupt und das Theater des Menschen. Benjamin, Brecht, Derrida, Le Roy«, in: Gabriel/Müller-Schöll: Das Denken der Bühne, S. 59-80, hier S. 60ff.; Müller-Schöll: Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt a.M./Basel 2002, S. 107-137, 140, 152f. 521 Agamben: »Noten zur Geste«, S. 107. 522 Ebd. Mich irritiert, wie Mallarmé hier ins Deutsche übersetzt ist. Die dichterische Beschwörung Loïe Fullers als »fontaine intarissable d’elle-même« meint meiner Meinung nach nicht, dass Fullers Tanz sich selbst hervorbringe, sondern dass Fuller sich selbst
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Tanz als ein »von jeglichem Zutun des Schreibers losgelöstes Gedicht«523 vorgestellt werden. Allerdings stellen Valéry und Mallarmé eine Idee von Tanz als »die reine Performativität, der reine Vollzug«524 beziehungsweise »das Ideal der reine[n] Geste oder Bewegung«525 dar. Sie gehen, wie Gerald Siegmund unterstreicht, in Bezug auf die konkreten Tanzaufführungen, die sie beschreiben, nicht von sogenannter reiner Bewegung aus, sondern erst dann, wenn sie daraus philosophische Überlegungen beziehungsweise eine Metapher für die Poesie ableiten,526 während Agamben gleich mit dieser Idee von Tanz beginnt und dadurch in seinem Text ein wenig untergeht, dass seine theoretischen Betrachtungen im Konkreten vielleicht nicht ganz zutreffen.527 Hinzugefügt werden müsste Agamben, dass Tanz wie Geste als konkrete sinnlich erfahrbare und erfahrene Bewegungen aus zwei Gründen keine reinen Bewegungen sein können: Sie sind sowohl vom Zutun, willentlichem oder unwillentlichem, der tanzenden Person, als auch von sie bedingenden Voraussetzungen und Möglichkeiten bestimmt. Das deutet Valéry mit seinem Beispiel der klavierspielenden Hände meiner Meinung nach an, dass zum einen verschiedene Gesetzmäßigkeiten, Traditionen und Vorschriften (zum Beispiel vorbewusste Rhythmen, konkrete Handlungsanweisungen oder kulturelle Normen528 ) und Unwillkürliches (zum Beispiel die je spezifischen Merkmale einzelner Menschen, die sie selbst nicht unter Kontrolle haben529 ) das Intentionale einer
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tanzend immer wieder hervorbringe: »Le poëte […] invoque la Loïe Fuller, fontaine intarissable d’elle-même«. Mallarmé: »Mimique«, S. 222f. Mallarmé: »Ballets«, S. 205. Siegmund: Abwesenheit, S. 55. Ebd. S. 144. Herv. L.O. Vgl. ebd. S. 144-151. Vgl. auch Stamer: »Ein Ohne ohne Ohne«, http://peterstamer.com/texts/ein-ohne-ohne-ohne/ vom August 2020. Gunter Gebauer und Christoph Wulf führen aus, dass Gesten üblicherweise sozial normierte, symbolisch kodierte Bewegungen sind. Vgl. Gebauer/Wulf: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 19, S. 81. Marcel Mauss legt dar, wie sehr ganze Bewegungsmuster zweckmäßiger Bewegungen kulturell tradiert sind. Damit, dass er diese als Techniken versteht, meint er zwar, dass Körper als Instrumente benutzt würden, aber auch, dass sie von diesen Techniken geformt und verändert würden und diese nicht einfach wieder abgewöhnen könnten. Vgl. ders.: »Techniques of the body«, übers. v. Ben Brewster, in: Economy and Society, 2,1 (1973), S. 70-88. Über das unwillkürliche Eigenleben von intentionalen Gesten und über Gesten, die gesprochene Mitteilungen unwillkürlich begleiten und vielleicht irritieren, denkt Walter Benjamin ausgehend vom Theater Brechts nach. Vgl. Benjamin: »Was ist das epische
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Bewegung stören und zum anderen die Bewegung ohnehin nie ganz gemäß der Intention gesehen und verstanden werden wird, sondern ihre gewollte Bedeutung sich verschiebt, zerstreut oder der Bewegung überhaupt, obwohl gar nicht gewollt, eine Bedeutung zugesprochen wird.530 Gesten, die nichts als sich selbst mitteilen; Bewegungen, die nichts anderes bezwecken als sich selbst – dass Tanz dafür einen Raum bieten könnte, ist das eigentlich Interessante an Agambens Text. Darin liegt die dritte Lesart der reinen Bewegung (die sich dem reinen Denken bei Arendt annähert). Ich führe das kurz mit Nikolaus Müller-Schölls Überlegungen zum Denken auf der Bühne aus: Müller-Schöll erörtert dort die derridasche Infragestellung »einer Sprache, die ein klares und fertiges Denken repräsentiert«.531 Angesprochen auf seine Identifikation mit der von Antonin Artaud beklagten Unfähigkeit zu schreiben, spricht Derrida über diese Erfahrung als Erfahrung einer »Ohnmacht des Denkens«.532 Das, »was man im allgemeinen als Schöpfung oder Gestaltung (création) bezeichnet«,533 werde »als eine Höhlung, die von einer Leere ausgeht«,534 erfahren. Nichts gehe »dem Akt, der Geste voraus, ob es sich um das Schreiben, das Denken oder das Spielen auf der Szene handelt«,535 schlägt Derrida eine Brücke zu Artauds Infragestellung der Hierarchie von Autor, Drama und Bühne. Wenn das auf der Bühne zu Sagende nicht vor dem Akt des Sagens existiere, sei es nötig, »Verantwortung«536 zu übernehmen und »Risiko«.537 Die Bereitschaft dazu findet Müller-Schöll in einer Reihe von zeitgenössischen Performances, Theater- und Tanzarbeiten, in denen das, was auf der Bühne passie-
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Theater? (1). Eine Studie zu Brecht«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2.2, Aufsätze Essays Vorträge. Frankfurt a.M. 1991, S. 519-531, hier S. 521; ders.: »Was ist das epische Theater? (2)«, in: ebd., S. 532-539, hier S. 536. Vgl. auch Gebauer/Wulf: Spiel – Ritual – Geste, S. 80. In Kapitel 3 geht es u.a. um Philipp Gehmachers Versuch, seine Bewegungen und Gesten weitestgehend bedeutungslos für sich stehen zu lassen. Derrida: »Die soufflierte Rede«, übers. v. Rodolphe Gasché, in: Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 259-301, hier S. 294. Derrida: »Die Stimmen Artauds (die Kraft, die Form, die Furche)«, übers. v. Nikolaus Müller-Schöll, in: Gerstmeier/Müller-Schöll: Politik der Vorstellung, S. 12-17, hier S. 12. Ebd. S. 12. Ebd. Ebd. S. 13. Vgl. Antonin Artaud: »Das Theater der Grausamkeit. (Erstes Manifest)«, in: ders.: Das Theater und sein Double. Das Théâtre de Séraphin. Übers. v. Gerd Henninger. Frankfurt a.M. 1969, S. 89-94. Derrida: »Die Stimmen Artauds«, S. 12. Ebd.
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re, für sich stehen solle, »als Mittel ohne Zweck, bzw. als bloßes oder reines Mittel«.538 Müller-Schöll führt aus: »Nichts zu sagen haben – nichts, was dem Akt oder der Geste des Schreibens, des Denkens oder des Spielens auf der Szene vorausgeht, mit dieser Behauptung oder diesem Anspruch treten heute nicht wenige von denen auf, die ihre darstellende Kunst – im Tanz, im Schauspiel oder Performance – als szenische Forschung und die Bühne als deren Resonanzraum begreifen. Wie Derrida zufolge Artaud geht es ihnen dabei darum, die Hierarchie zwischen dem Autor, Regisseur, Choreograph, Dramaturgen, Bühnenbildner oder Text auf der einen, und der Bühne, dem szenischen Geschehen auf der anderen Seite aufzulösen. Die Bühne soll […] keine Idee wiedergeben, keine ›große Erzählung‹, keinen Masterplan. Ihre Elemente sollen nicht dem Ziel der Vermittlung einer Botschaft oder eines Sinns untergeordnet werden.«539 Für Tanz und Choreographie entwickelt Müller-Schöll das mithilfe der folgenden Aussage William Forsythes weiter, in der dieser das nicht referentielle und nicht zielgerichtete Für-sich-stehen der Tanzbewegungen in seinen Stücken vielleicht wissentlich, vielleicht zufällig mit einer Paul Valérys oben zitierter Formulierung vom Zustand des Tanzes sehr ähnlichen Formulierung beschreibt: »Es reicht bei meinen Stücken nicht, eine vorgegebene Choreographie nachzutanzen. Wenn das so ist, fühlt sich ein Zuschauer vielleicht genervt, aber kaum inspiriert. Ich aber will, dass die Zuschauer sich inspiriert fühlen, einfach dadurch, dass da jemand tanzt. Die Choreographie leitet einen dazu an, diesen Zustand des Tanzens zu erfahren. Es geht darum, sich von diesem Zustand des Tanzens faszinieren zu lassen.«540 Dass Forsythe vom Tanzen statt vom Tanz spricht, betont den großen Anteil, den die Tanzenden an der Erfahrbarkeit dieses Zustands für die Zuschauer*innen haben. Müller-Schöll bezieht diese Formulierung auf das je Einmalige, »was nicht Choreographie ist, gleichwohl auch nicht einzelne Bewegung 538 Müller-Schöll: »Denken auf der Bühne«, S. 188. 539 Ebd. S. 187f. 540 William Forsythe, in: Eva-Elisabeth Fischer: »Hüpfburg für Rolexträger. Der Choreograph William Forsythe über die Perspektiven seiner neuen Company, die in Berlin gegründet wurde«, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.3.2005, S. 17. Herv. L.O. Vgl. zur sich in diesem Abschnitt andeutenden Frage nach dem Verhältnis von Choreographie, Tanzen und Denken zur Improvisation Kapitel 4.2 und 5.1.
1 Was heißt Denken?
oder aber beides«.541 An anderer Stelle, in einer Antwort auf die Frage »Was ist Choreographie?«, benutzt Müller-Schöll beide Formulierungen »Zustand des Tanzes«542 und »Zustand des Tanzens«543 für die Erfahrung einer »Grenze der Formalisierung«,544 die dem Ausführen einer jeden Choreographie als einer »sich beständig entziehende[n] Regel«,545 der die sie ausführende Person niemals ganz entsprechen könne, innewohne. Darüber komme ich zum Schluss zurück zu Paul Valéry und einer Ähnlichkeit zwischen Tanzbewegungen und Denkbewegung, und zwar dank Bernhard Waldenfels. Der betont in seinem Kapitel über »Leibliche Bewegung im Tanz«,546 das ebenfalls auf Aristoteles’ Theorie der Bewegung zurückblickt, dass Valéry in einem anderen Text – dem Dialog L’âme et la danse – die an der Tanzbewegung beteiligten Kräfte als »Kakophonie von Ursachen und Wirkungen«547 bezeichne. Waldenfels erläutert davon ausgehend, dass ein Tanzsolo nicht minder als der Tanz mehrerer von einer Differenz konstituiert werde. Insofern sei die Bewegung mit sich selbst mit dem Gespräch mit sich selbst vergleichbar: »Die Ichspaltung dessen, der zu sich spricht, wiederholt sich im Tanz in Form einer Bewegungsspaltung«.548 Gemeint ist damit aber nicht etwa die Unterscheidung von entweder selbst sprechen oder angesprochen werden, verdeutlicht Waldenfels’ weitere Ausführung, sondern (was in Bezug auf das 541 Müller-Schöll: »Denken auf der Bühne«, S. 195. 542 Müller-Schöll, in: »Antwort 13«, in: Corpus. Internetmagazin für Tanz, Choreographie, Performance. Thema 8: Was ist Choreografie?, www.corpusweb.net/antworten-0814. html#13_NikolausMuellerSchoell vom August 2020. 543 Ebd. 544 Ebd. 545 Ebd. Vgl. dazu das Choreographieverständnis von Gerald Siegmund: Er versteht die choreographische Struktur als Gesetz, von dem die einzelnen Tanzenden als Subjekte (nicht im Sinne Heideggers, sondern im Sinne Michel Foucaults und Judith Butlers) sowohl unterworfen wie auch hervorgebracht würden, dabei aber nie ganz darin aufgingen. Vgl. Siegmund: »Recht als Dis-Tanz. Choreographie und Gesetz in William Forsythes Human Writes«, in: Forum Modernes Theater 22 (2007), S. 75-93, hier S. 90f.; ders.: »Antwort 47«, in: Corpus. Internetmagazin für Tanz, Choreographie, Performance. Thema 8: Was ist Choreografie?, www.corpusweb.net/antworten-4349.html#47_GeraldSiegmund vom August 2020. 546 Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 208. 547 Valéry zit.n. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 213. Vgl. Valéry: »L’âme et la danse«, in: ders.: Œuvres, Bd. 2. Paris 1960, S. 148-176, hier S. 161 und ders.: »Die Seele und der Tanz«, übers. v. Rainer Maria Rilke, in: Valéry: Werke, Bd. 2, Dialoge und Theater. Frankfurt a.M. 1990, S. 86-117, hier S. 100. 548 Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 233.
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Denken im Tanz
Verb sprechen nicht grammatikalisch sauber formulierbar ist) von entweder sprechen oder gesprochen werden: »Wer sich leiblich bewegt, ist niemals völlig Herr seiner Bewegungen, man ist bewegend und bewegt in eins.«549 Vor allem, weil sich bewegen ein reflexives Verb sei, werde diese »Bewegungsspaltung« häufig dahingehend missverstanden, dass ein Subjekt den Körper als Objekt, also als bloßen Bewegungsträger bewege, so Waldenfels. Doch dass man »bewegend und bewegt in eins« ist, zeige, dass nicht einmal die Entweder-oder-Unterscheidung das Phänomen der Bewegung richtig beschreibt: »Wenn wir also darauf verzichten, das Sichbewegen in reines Bewegen und reines Bewegtwerden, in Bewegungssubjekt und Bewegungsobjekt zu zerteilen, worauf bezieht sich dann das Reflexivpronomen sich? Die Antwort kann nur lauten, es bezieht sich auf die Bewegung selbst. Wenn wir der Bewegung nicht einen Bewegungsträger unterschieben wollen, so sehen wir uns genötigt, von Bewegungsereignissen auszugehen, die jemanden widerfahren und in die jemand eingreift, ohne daß diese Ereignisse den impersonalen Charakter eines ›es bewegt sich‹ je völlig abstreifen.«550 Denken und Tanzen ließen sich also vielleicht darin in die Nähe voneinander rücken, dass sich die tanzende genauso wie die denkende Person immer schon in einen ihr Denken und/oder ihr Tanzen bedingenden und ermöglichenden Kontext eingelassen findet, dem sie weder entkommen, noch den sie meistern kann, und dass in der jeweiligen, nie restlos kontrollierbaren Aktualisierung sowohl Impersonales als auch von der je singulären Person Un549 Ebd. 550 Ebd. S. 213. Herv.i.O. Damit verweist Waldenfels auf Georg Christoph Lichtenbergs berühmt gewordenen Aphorismus, der die Souveränität eines denkenden Ichs in Frage stellt: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt«. Georg Christoph Lichtenberg: »Sudelbücher II«, in: ders.: Schriften und Briefe, Bd. 2, Sudelbücher II, Materialhefte, Tagebücher. München/Wien 1991 [3], S. 7-564, S. 412. Waldenfels verweist auch auf Nietzsches Lichtenberg-Rezeption, dass die Tätigkeit des Denkens nicht als Objekt und die tätige Person nicht als ihr Subjekt zu verstehen sei: »Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft«, in: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral. München 1999, S. 9-243, S. 30f. Waldenfels grenzt sich damit also von Platons und Aristoteles’ Theorien ab, dass die kinesis nur dann Wesensmerkmal des Lebendigen sei, wenn dieses sich selbst bewege. Vgl. Platon: »Phaidros«, in: ders.: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. 6, Phaidros, Theaitetos, S. 9-149, S. 59f. (245 cff.); Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 13, Über die Seele. Übers. v. Willy Theiler. Berlin 1986 [7], S. 9 (404 a) und Aristoteles: Metaphysik, S. 214f. (1070 b). Vgl. auch Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 39f., 108f.
1 Was heißt Denken?
trennbares, wenngleich von ihr weder Planbares noch Kontrollierbares enthalten ist. Mehr als mit den substantivierten Infinitiven Tanzen und Denken ließe sich dies in Anlehnung an Arendts Wahl des englischen Gerundiums, in dem substantivierte Verbform und present participle zusammenfallen, mit den Worten thinking und dancing sprachlich fassen, in denen Tätigkeit, Zustand und Geschehen zusammenfallen, sich abwechseln und sich gegenseitig durchkreuzen.
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2. Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern Vorstellendes und vernehmendes Denken
Das Stück Hommage an das Zaudern untersucht, so meine These, die vorherrschende Tanz- und Denktradition des neuzeitlichen Europas als die eigene Arbeit bedingend und auf die sich daraus eröffnenden Möglichkeiten eines anderen, auch körperlichen Denkens, das ich im Sinne des von Heidegger implizit entworfenen Vernehmens verstehe. Ich analysiere in diesem Kapitel, dass die Tanzenden in Hommage an das Zaudern versuchen, aus dem Aufrufen geometrischer (Kon-)Figurationen des frühen Balletts heraus zu einer anderen Orientierung zu finden, die auf das jeweilige Bezogen-sein achtet, und dass diese Art zu tanzen ein geteiltes Bedenken der Choreographie ist.
2.1.
Von der Szene des neuzeitlichen Subjekts zu einer anderen Orientierung im Raum
Der Bühnenbereich des Festsaals im ersten Stock der Sophiensaele, über den eben noch die Zuschauer*innen zu den ansteigenden Sitzreihen der in einer Hälfte des Raums aufgebauten Tribüne gelaufen sind, ist fast leer.1 Vorne
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Ich beschreibe und analysiere Hommage an das Zaudern ausgehend von zwei Aufführungen in den Sophiensaelen in Berlin am 12. und 13.2.2012, einem Tryout im Radialsystem in Berlin am 1.10.2011 sowie Aufzeichnungen dieses Tryouts und einer Aufführung am 10.2.2012 in den Sophiensaelen. Über Hommage an das Zaudern habe ich zu Beginn meiner Promotion einen kurzen Vortrag veröffentlicht. Vgl. Otto: »Tanz als Denkweise. Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern«, in: Cairo/Hannemann et al.: Episteme des Theaters, S. 379-387. Aus diesem Kapitel ist wiederum ein Aufsatz entstanden. Vgl. Otto: »Was heißt: sich im Tanzen orientieren? Zwei verschiedene Denkweisen auf der Bühne«, in: Gabriel/Müller-Schöll: Das Denken der Bühne, S. 215-228.
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Denken im Tanz
links steht ein etwas abgenutztes schwarzes Klavier, dessen hölzerne Rückseite zum Publikum zeigt. In der Mitte zwei einfache Stapelstühle mit metallenen Beinen. Sie sind auf dem dunklen Tanzboden so ausgerichtet, dass wer hier Platz nimmt, dem Publikum gegenüber sitzt. So verhält es sich auch mit dem Platz am Klavier. Der gesamte Bühnen- und Publikumsraum ist gleichmäßig warm ausgeleuchtet,2 sodass die großen Sprossenfenster, durch die bloß Dunkelheit zu sehen ist, die Doppeltüren, abblätternder Putz, Steckdosen, Rohre, Heizungen, Feuerlöscher, Zugstangen und Traversen gut erkennbar sind, ohne in den Vordergrund zu treten. Gemessenen Schrittes kommt Rémy Héritier links hinter der Zuschauertribüne hervor und blickt sich aufmerksam in Richtung des eingeschlagenen Wegs geradeaus in die hintere Ecke der Tanzfläche um. Er hebt einen Arm zart gebeugt über den Kopf, führt den anderen, ebenfalls zart gebeugt, auf Brusthöhe vor sich und dann beide symmetrisch zueinander waagerecht nach rechts und links. Etwas zaghaft, fast als solle es nicht gesehen werden. Er wendet wenig Muskelspannung oder -kraft auf. Dennoch erinnern sein aufrechter Rumpf, die in der vorderen Körperperipherie spielenden Arme und die damit korrelierende Kopfhaltung an Ballett. Héritier hebt die Arme etwas höher und dreht sich rechtsherum um die eigene Achse, den rechten Arm fallen lassend. Der linke bleibt wie vergessen in der Luft hängen, bis Héritier sein Gewicht wieder zu bemerken scheint und ihn wiegend im Schultergelenk dreht, bevor er ihn auch herabfallen lässt. Erst nach einem Richtungswechsel zur gegenüberliegenden Ecke sind das Gesicht des Tänzers und seine Vorderseite zu sehen. Héritier schaut ins Publikum und beginnt eine zweite kurze Variation des Ballettvokabulars: Er probiert mit beiden Armen einige Port de bras-Positionen aus; er zieht das Spielbein in ein Passé und deutet, einen Arm waagerecht nach vorne, einen zur Seite gerichtet, das Standbein leicht ins Relevé gebracht, eine Pirouette an – und geht dann, direkt vor dem Publikum, über ein wackliges Plié zu Boden, wo er auf der Seite liegen bleibt.3 Der beschriebene Auftritt dauert, wenn überhaupt, eine Minute. Héritier schaut nach oben, hebt einen Arm in die Parallele seiner Blickachse und lässt ihn wieder fallen. Er rollt sich in die Bauchlage, streckt, sich mit beiden Armen abstützend, die Beine in den Stand und richtet sich dann frontal – en face –
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Das Lichtkonzept entwickelte und realisierte Stefan Riccius. Vgl. zu weiteren Details über die Produktion das Werkverzeichnis. Vgl. zum Ballettvokabular die Übersicht in: Dorion Weickmann: Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580-1870). Frankfurt a.M. 2002, S. 368-370.
2 Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern
zum Publikum auf. Nach einer ähnlichen Bewegungsfolge wie der vorherigen springt er mit drei plump und dementsprechend lautstark aufkommenden Pas de Chat zurück in die linke hintere Bühnenecke, wo er eine weitere wacklige Pirouette, bei der das Spielbein der Drehung schlaksig nachschwingt, in der ersten Position der Füße endet und den noch angehobenen Arm, sich kurz über den Hinterkopf streichend, herabgleiten lässt. Eine Drehung später kommt Héritier über eine Vorbeugung des Oberkörpers erneut zu Boden und dort ins Liegen. Dann in drei zurückhaltenden und dementsprechend niedrigen Grand Jetés diagonal über die Tanzfläche in die Ecke vorne rechts. Dafür, wie wenig er sich für die Sprünge mit den Füßen abdrückt, landet er sehr stampfend. Schließlich lässt er sich wieder, das Aufkommen seiner Knochen auf dem Boden hörbar, herabsinken und hält eine Weile, die Decke betrachtend, inne. Von hinten rechts tritt Joris Camelin auf. Er wandert über die Bühne, hebt beide Arme in zartem Schwung auf Augenhöhe und lässt sich anschließend in die Knie gehend vorne links am Boden nieder, wo sich hinten rechts auch Héritier nach einer kurzen Sequenz von Drehungen abermals befindet. Das zögerliche Aufrufen des Ballettvokabulars, das sich keine Mühe gibt, das Ideal der Virtuosität zu erfüllen, hat etwas von Slapstick. Ganz besonders dann, wenn jede Folge von Sprüngen oder Pirouetten gar nicht erst versucht, die Schwerkraft kurzfristig zu überlisten, sondern in einem lakonischen Sich-auf-den-Boden-plumpsen-lassen endet. Und doch überwiegt, wegen der Sorgfältigkeit und Behutsamkeit, mit der beide Tänzer ihre Ballettzitate darbieten, die Ernsthaftigkeit. Von dem Moment an, in dem beide gleichzeitig liegen, ist eine aktive Bezugnahme aufeinander zu beobachten: Camelin hebt vorsichtig den Kopf und blickt zu Héritier; dieser, schon aufstehend, wartet, bis auch Camelin sich erhebt. Héritier vollführt mehrere Sprünge einer Art entlang der Bühnenrückwand; Camelin kurz darauf eine Diagonale anderer Sprünge dorthin, wo Héritier eben lag.4 Nun zu zweit, sind ihre Bewegungssequenzen noch lärmender als zuvor; ihr vorläufiges Ende nehmen sie – noch einmal – am Boden. 4
Die Diagonale in Chétouanes Choreographie horizon(s) wird von Georg Döcker als tanzhistorische Figur untersucht. Vgl. ders.: »Eine andere Grazie. Zur Aktualisierung der Diagonale in Laurent Chétouanes Tanzperformance horizon(s)«, in: Eke/Haß/Kaldrack: Bühne. Realität, Geschichte und Aktualität raumbildender Prozesse, S. 249-266, hier S. 249f., 256ff. Vgl. zu Ballettreferenzen bei Chétouane auch Ulrike Haß: »Spiel mit der Öffnung. horizon(s) von Laurent Chétouane«, in: dies./Sebastian Kirsch (Hg.): Andere Räume. Schauplatz Ruhr. Jahrbuch zum Theater im Ruhrgebiet 2012. Berlin 2012, S. 40-43, hier
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Denken im Tanz
Jan Burkhardt am Klavier spielt in der ersten Hälfte des Stückes wenig. Die Anwesenheit von Pianist und Klavier machen aber darauf aufmerksam, wie laut die vermeintliche Stille ist: das Quietschen der nackten Füße der Tanzenden auf dem Boden, das Poltern ihrer Schritte und Sprünge,5 das Räuspern, Hüsteln und Rascheln der Zuschauenden. Nachdem Camelin und Héritier ihre Bewegungsabläufe eine Weile fortgesetzt haben, finden sie in der Mitte der Bühne hinter den beiden Stühlen zusammen. Héritier mit dem ganzen Körper dem Publikum zugewandt, Camelin von der Seite zu sehen, blicken sie erst sich an und gucken dann aufmerksam ins Publikum. Sie stehen so eng zusammen, dass ihre Körper nicht zwei Vertikalen nebeneinander, sondern eher eine doppelte Vertikale im Raum bilden, von der aus sie erst die Arme, dann auch die Beine in einzelnen 45-, 90- und 135-Grad-Winkeln in einem ruhigen, aber selten verweilenden achsensymmetrischen Spiel in die Höhe, zur Seite oder nach vorn heben, bis die beiden mit einigen sukzessiven Drehungen Abstand voneinander nehmen. Camelin bringt sich kurz in eine Arabesque. Auch wenn hier eine bestimmte Bewegungssystematik und choreographische Organisation von Körpern und Bewegungen im Raum aufgerufen werden, unterscheidet sich die ausprobierende und markierende Haltung deutlich von der Tanzästhetik und -technik des Balletts. Die Ballettpositionen, -sprünge und -drehungen werden ausgehend von alltäglichem Gehen, Stehen, Sitzen und Liegen und der im zeitgenössischen Tanz verbreiteten
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S. 43 und Tatari: »Ein Tanzfeld, aus dem Theater heraus. Zu Laurent Chétouanes Tanzarbeiten«, in: Müller-Schöll/Otto: Unterm Blick des Fremden, S. 197-211, insbes. S. 202f. Bojana Kunst thematisiert, dass mit der Etablierung einer eigenen Bewegungssprache des Balletts die Disziplinierung zu deren geräuschloser Ausführung einherging. Vgl. Kunst: »The Voice of the Dancing Body«, o.S. Kunst greift auf die tanzhistorische Forschung Mark Frankos und André Lepeckis zurück. In Thoinot Arbeaus Neologismus »Orchésographie« treffen sich 1588 die griechischen Worte für Tanz (orchesis) und Schrift (graphie), woraus das ab dem 17. Jahrhundert gebräuchlichere Synonym ›Choreographie‹ hervorgeht, welches orchesis, die Tanzkunst, durch choros, den Tanzplatz ersetzt. Vgl. Arbeau: Orchésographie et traité en forme de dialogue par lequel toutes personnes peuvent facilement apprendre et pratiquer lʼhonnête exercice des dances, Hildesheim/New York 1980. Aus der sprachlichen Komprimierung von Tanz und Schreiben im Wort Orchésographie und dem ab dem 17. Jahrhundert gebräuchlicheren Synonym ›Choreographie‹ bilde sich, so Lepecki im Anschluss an Franko, »der moderne Körper selbst als sprachliche Einheit«, als welche Körper und Bewegung aber erst nach Arbeau im Tanz verstanden und eingesetzt würden. Lepecki: Option Tanz, S. 32. Vgl. auch ebd. S. 67 und Franko: The Dancing Body in the Renaissance Choreography. Birmingham 1986, S. 8.
2 Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern
Abbildung 1: Tryout von Hommage an das Zaudern im Radialsystem: Joris Camelin, Rémy Héritier (v. l. n. r.)
Foto: Sebastian Bolesch
entspannten Körperhaltung vollzogen. Weder strecken die beiden Tänzer ihre Beine bis zu den Füßen durch, noch drehen sie sie von den Hüftgelenken an auswärts, en dehors. Die Muskeln ihrer Hals- und Schulterpartien sorgen nicht für eine möglichst langgezogene Aufrichtung der Halswirbelsäule; Hände und Arme werden nicht bis in die Fingerspitzen anmutig gebeugt, um jede Pose rahmend zu begleiten,6 sondern eher etwas gestreckt, sodass sie die Linie des Unterarms verlängern. Vor allem aber ist keine Ausrichtung der Blicke gemäß den Regeln des Epaulements zu sehen. Das Konzept des Epaulements erklärt Dana Caspersen damit, dass der Blick einer tanzenden Person »eine Art Geometrie im Körper und im Raum«7 etablieren könne:
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Diese Doktrin verschriftlicht 1820 der italienische Tänzer, Choreograph und Tanztheoretiker Carlo Blasis in seinem Lehrbuch: »When the arms accompany each movement of the body with exactitude, they may be compared to the frame that sets off a picture.« Blasis: The Code of Terpsichore. A practical and historical treatise, on the ballet, dancing and pantomime. Übers. v. R. Barton. New York 1976, S. 70. Dana Caspersen: »Der Körper denkt. Form, Sehen, Disziplin und Tanzen«, übers. v. Gerald Siegmund, in: ders. (Hg.): William Forsythe. Denken in Bewegung. Berlin 2004, S. 107116, hier S. 109.
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Denken im Tanz
»Das klassische Epaulement, bei dem Kopf, Augen, Schultern, Arme, Hände und Füße in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen, ist die Krönung dieses Blicks. Der Körper besteht aus einer Reihe geschwungener Linien und Formen, die in einem bestimmten Winkel zueinander angeordnet sind. Der starke, nach außen gerichtete, geradlinige Blick des Epaulements entsteht als Resultat der inneren Richtungswechsel des Körpers. Der Winkel des Blicks reflektiert die Winkel im Körper.«8 In Hommage an das Zaudern hingegen ist nicht geregelt, wohin geblickt werden soll. Die Blicke bleiben oft staunend, fragend am eigenen Körper, am anderen oder an einem Element des Saals hängen. Zuweilen fokussieren die Augen keinen bestimmten Punkt, keine bestimmte Richtung, sondern wandern umher oder sind leicht geschlossen. Gerade dann wirkt es, als passiere die Bewegungsausführung nur beiläufig, da die Aufmerksamkeit anderswo sei. Die Kombination aus denkender Achtsamkeit und körperlicher Unangestrengtheit, mit der Camelin und Héritier Prinzipien der Bewegungsorganisation und -ausführung des Balletts zitieren, zeigt eine professionelle Kenntnis der Balletttechnik. Nur mit dieser, vielleicht sogar kombiniert mit Übung darin, scheinen mir die leichten, aber deutlichen Verschiebungen, die sie vornehmen, so exakt und deshalb gut erkennbar ausführbar zu sein. Dadurch, dass (immer noch) als anmutig Gewohntes wie filigran geformte Fingerspitzen oder die nach außen gedrehten Beine kaum zu sehen sind und stattdessen alle vier Gliedmaßen eher als gerade Linien durch den Raum geführt werden, wird deutlich, wie geometrisch die zitierte Körper- und Bewegungsorganisation des Balletts war:9 Die »Figurationen«10 der Bewegungen von Camelin
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Ebd. Vgl. zu den geometrischen Choreographien des frühen Balletts, in denen realer und idealer Körper des Königs repräsentiert wurden, Franko: Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body. Cambridge 1993, S. 8. Vgl. zur geometrischen Körperorganisation des Balletts Mónica Alarcón: Die Ordnung des Leibes: eine tanzphilosophische Betrachtung. Würzburg 2009, S. 48. Vgl. zu dem Zusammenhang, der zwischen Geometrie und neuzeitlichem Denken besteht, Arendt: Vita activa, S. 329-341. Gabriele Brandstetter: »Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung«, in: dies./Sibylle Peters (Hg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt. München 2002, S. 247-264, hier S. 257. Brandstetter geht hier nicht nur der Verwandtschaft von Choreo- und Kartographie nach, sondern erläutert auch, wie im Wortfeld von Figur und Figuration die »Raumgestalt«, die Tänzer*innen annehmen, deren »Konfiguration« zueinander sowie die »Gesamtfigur« einer Choreographie aufeinandertreffen. Ebd. S. 256f. Sie greift darauf zurück, dass nach Erich Auerbach der Begriff figura im
2 Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern
und Héritier greifen die Achsen und rechten Winkel auf, die Wände, Decke und Boden, Fenster und Türen oder die Stuhlreihen im Festsaal der Sophiensaele vorgeben.11 Damit werden choreographische Grundprinzipien des Balletts aufgerufen, die auf ein euklidisches Raumverständnis zurückzuführen sind: »Das Ballett fügt dem Tanzkörper ein imaginäres Achsenkreuz hinzu: Die senkrechte Achse bestimmt die Haltung des Körpers und die waagerechte die Haltung von Armen und Beinen. Der Torso bleibt relativ unbeweglich, während Arme und Beine verschiedene Positionen durchlaufen, die in ihrer Richtung in einer von außen herangetragenen Geometrie Orientierung finden. Das Ballett verlangt einen geometrischen Raum, der nicht aus der Perspektive des Tänzers angelegt ist, sondern von einem neutralen Standpunkt (›von oben‹) konstruiert wird. In Bezug auf diesen geometrischen Raum finden die Schritte ihre räumliche Ordnung.«12 Anhand von Raoul-Auger Feuillets Chorégraphie ou L’art d’écrire la danse par caractères, figures et signes démonstratifs lässt sich verdeutlichen, inwiefern diese organisatorischen Prinzipien mit einer bestimmten Denkweise verknüpft sind. Denn Feuillets keine 60 Jahre nach den Principia und den Meditationes von Descartes erschienenes Buch lässt sich als eine Manifestation dessen ansehen, was Heidegger als das vor-stellende Denken des neuzeitlichen Subjekts, das sich selbst (nicht aber seinen Körper) als stabile Gewissheit setzt, analysiert
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Unterschied zu dem der »Form« etwas »Lebend-Bewegtes, Unvollendetes und Spielendes« beinhaltet. Erich Auerbach: »Figura. Neuedition des Textes von 1938«, in: Friedrich Balke/Hanna Engelmeier (Hg.): Mimesis und Figura. Paderborn 2016, S. 121-188, hier S. 122, vgl. auch S. 124f. Die Abkehr davon, Innenräume in diesem Sinne gemäß einer »Schachtel« zu betrachten, hat Albert Einstein angestoßen. Vgl. ders.: »Relativität und Raumproblem«, in: ders.: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. Berlin/Heidelberg/New York 1988, S. 91-109, hier S. 93. Eine ausführliche Studie über die Arbeit mit Raum im Theater Laurent Chétouanes hat Tim Schuster vorgelegt. Die tanzende Bezugnahme auf den Bühnenraum beschreibt er in einer ausführlichen Betrachtung von Sigal Zouks Tanzen in der Inszenierung Empedokles/Fatzer als »mimetisch[es] Spiel mit dem Raum«, als denkende Raumproduktion. Ders.: Räume, Denken. Das Theater René Polleschs und Laurent Chétouanes. Berlin 2013, S. 285-291. Vgl. zu weiteren theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema Raum insbes. Eke/Haß/Kaldrack: Bühne. Realität, Geschichte und Aktualität raumbildender Prozesse; Gabriele Brandstetter/Birgit Wiens (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias. Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater. Berlin 2010. Alarcón: Die Ordnung des Leibes, S. 48.
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hat.13 Der Ballettmeister Feuillet veröffentlicht im Jahr 1700, also 39 Jahre nach der Gründung der Académie royale de danse, die von Pierre Beauchamp entwickelte Systematik einer Tanznotation. Richten sich diese Vorschriften aus der Zeit des Ballet de Cour noch mehr auf den Gesellschaftstanz als den Bühnentanz, finden sich hier doch bereits nach wie vor unterrichtete Regeln des Balletts, wie etwa die fünf Fußpositionen.14 Gleich auf den ersten Seiten präsentiert Feuillet das Einstudieren eines Tanzes als ein Verfahren, das ich mit Heideggers Worten beschreibe als »von sich her etwas vor sich hin«15 stellen und »das Gestellte als ein solches sicher«16 stellen.
Abbildung 2: Raoul-Auger Feuillet: Chorégraphie ou L’art d’écrire la danse, S. 2
Ein den Grundriss einer Tanzfläche darstellendes Rechteck wird wie eine Landkarte mit den Himmelsrichtungen mit den französischen Bezeichnungen für »oben« und »unten«, »rechts« und »links« versehen, außerdem wird jeder Ecke ein Buchstabe zugeordnet, um auch die vier Wände bezeichnen zu können. Im Zentrum und als Zentrum dieses vorgestellten Gesamtüberblicks über den Tanzraum wird in einem nächsten Schritt ein Symbol platziert, das der oder die Studierende der Chorégraphie als Referenz auf sich selbst beziehungsweise den eigenen Körper betrachten soll:
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Vgl. Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, S. 108; Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, S. 14. Vgl. Kapitel 1.1.2. Raoul-Auger Feuillet: Chorégraphie ou L’art d’écrire la danse par caractères, figures et signes démonstratifs. Paris 1713, S. 4. Vgl. zum Ballet de Cour als Tanzform zwischen Theatertanz und höfischem Tanz Claudia Jeschke: »Vom Ballet de Cour zum Ballet d’Action. Über den Wandel des Tanzverständnisses im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert«, in: Volker Kapp (Hg.): Le bourgeois gentilhomme: problèmes de la comédieballet. Paris/Seattle/Tübingen 1991, S. 185-223, hier S. 188ff. Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, S. 108. Ebd.
2 Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern
Abbildung 3: Raoul-Auger Feuillet: Chorégraphie ou L’art d’écrire la danse, S. 2
Erst nach der Positionierung eines einzelnen Körpers in der Mitte des Raumschemas fügt Feuillet dem aus einem Strich und einem Halbkreis zusammengesetzten Zeichen für den stehenden Menschenkörper die weiteren Zeichen hinzu, die dessen Weg über die Tanzfläche beschreiben. Das erste Zeichen steht für die Stellung der Füße und wird ergänzt um die Zeichen für Schritte, Sprünge und Drehungen, die mit dem Verlauf ihrer Linien zugleich Richtung und Verlauf der Wege durch den Raum darstellen.
Abbildung 4: Raoul-Auger Feuillet: Chorégraphie ou L’art d’écrire la danse, S. 26
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Für die Realisation der Chorégraphie gelte es zunächst, so Feuillet, den Anfang des jeweiligen Weges zu suchen und sich regelgemäß im Verhältnis zu den Wänden aufzustellen: »Premièrement il faut chercher le commencement du chemin«.17 Dann erst sollen schrittweise entlang des einstudierten Weges einzelne Bewegungen ausgeführt werden. Das Subjekt setzt das von ihm bewegte Körperobjekt hier aber nicht nur »in die Szene«18 des Gesamtüberblicks der Choreographie, sondern sich selbst auch »als die Szene«,19 wie sich mit Heidegger formulieren lässt. Die von Feuillets Chorégraphie dem tanzenden Körper vor- und damit eingeschriebene Ausrichtung an den Kategorien ›links‹, ›rechts‹, ›vorne‹ beziehungsweise ›oben‹ und ›hinten‹ beziehungsweise ›unten‹ geht nämlich von der Maßgabe des Subjekts selbst aus. In der Kartographie der Chorégraphie zeigt sich eine Art der räumlichen Orientierung, die besonders deutlich von Immanuel Kant erklärt wurde. In dem Essay Was heißt: sich im Denken orientieren? definiert Kant, dass die Orientierung in einer Umgebung nie nur von der Umgebung, sondern auch vom Subjekt ausgehe: »Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend […] die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel, und weiß, daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu finden. Zu diesem Behuf bedarf ich aber durchaus das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigentlichen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand. […] Also orientiere ich mich geographisch bei allen objektiven Datis am Himmel doch nur durch einen subjektiven Unterscheidungsgrund«.20 17
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Feuillet: Chorégraphie, S. 26. Feuillet erklärt, dass er die Bezeichnung »chemin« für die Linie, auf der man tanze, verwende. Diese diene sowohl dazu, die Schritte und Positionen zu schreiben, als auch: »pour faire observer la figure des Dances.« Ebd. S. 2. Brandstetter demonstriert, dass nicht nur bei Feuillet, sondern u.a. auch bei Jean Georges Noverre diese »Gesamtfigur« der Choreographie im Raum im Tanz ebenso als ›Figur‹ bezeichnet werde wie die Gestalt, die ein einzelner Körper annimmt. Vgl. dies.: »Figur und Inversion«, S. 254f.; dies.: »Figura: Körper und Szene. Zur Theorie der Darstellung im 18. Jahrhundert«, in: Erika Fischer-Lichte/Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999, S. 23-38, hier S. 28f. Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, S. 91. Ebd. Vgl. Kapitel 1.1.2. Kant: »Was heißt: sich im Denken orientieren?«, S. 269. Die Tanzwissenschaftlerin Maxine Sheets-Johnstone macht an der Entwicklungsgeschichte des aufrechten Gangs deutlich, dass die Menschen durch ihre Transformation vom Vier- zum Zweibeiner eine
2 Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern
Bei Feuillet wird jedoch das von Kant erwähnte unterschiedliche leibliche Empfinden der Hände und Arme – »Ich nenne es ein Gefühl; weil diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied zeigen«21 – der Zurschaustellung des Körpers untergeordnet. Die ersten Seiten seines Buchs führen den Überblick der tanzenden Person über die Choreographie damit zusammen, dass eine »presence du Corps«22 im »vis à vis«23 der Körpervorderseite zum Publikum entstehe. An dieser Ausrichtung der tanzenden Körper für die auf sie gerichteten Blicke ist, wie Georg Döcker gezeigt hat, zu merken, dass sich in der Beauchamp-Feuillet-Notation bereits die zentralperspektivischen Prinzipien der europäischen Bühnenarchitektur dieser Zeit andeuten: Dass Feuillet und Beauchchamp die Körpervorderseite als Strich darstellen, suggeriere, dass er für die frontal auf ihn gerichteten Blicke zu einer bildhaften Fläche werden solle.24 In Hommage an das Zaudern wird immer wieder auf diesen Primat der Vorderseite hingewiesen, etwa wenn Héritier sich diesem betont entzieht, indem er in der ersten Bewegungssequenz den ihn Anblickenden den Rücken zuwendet. Nachdem zu Beginn des Stücks nahezu jeder Richtungsänderung ein Fall vorausgeht, der die geometrische Körperorganisation einstürzen lässt und das sich aus den Bodenwegen schreibende Raster von Geraden und Diagonalen unterbricht, läuft Camelin später längere Zeit am Stück in verschlungeneren Pfaden auf der Tanzfläche herum. Manchmal ahmt er die Frontalität der Ballettfiguren noch nach, beispielsweise, wenn er, die Füße in der ersten oder zweiten Position, ins Plié geht, sodass die von Feuillet zur Darstellung der Körpervorderseite gezogene Linie kaum überschritten würde. Die Bewegungsgestaltung im Sinne der bilateralen Symmetrie treiben Camelin und Héritier auf die Spitze, indem sie auch mit der Achsensymmetrie von Armen und Beinen zueinander experimentieren, wenn sie ihre Arme als
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größere Distanz zum Gesehenen einnehmen und die Hände für das Begreifen, Abzählen oder Berechnen benutzen konnten. Erst seitdem sei ihre räumliche Orientierung von den Gegensätzen von vorne/hinten, oben/unten, rechts/links bestimmt. Vgl. dies.: The Roots of Thinking. Philadelphia 1990, S. 71-89. Kant: »Was heißt: sich im Denken orientieren?«, S. 269. Vgl. dazu Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 116. Feuillet: Chorégraphie, S. 2. Ebd. Vgl. Döcker: »Eine andere Grazie«, S. 253f. und Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform. München 2005, S. 381ff.
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Spiegelungen der Beine, entweder in den Knien beziehungsweise Ellenbogen gebeugt oder gerade gehalten, formieren.
Abbildung 5: Tryout von Hommage an das Zaudern im Radialsystem: Rémy Héritier, Joris Camelin (v.l.n.r.)
Foto: Sebastian Bolesch
Die Räume der zu Theatern umfunktionierten Gebäude, in denen viele Aufführungen der freien Tanzszene stattfinden, werden oft mithilfe von Tribünen und Lichtgestaltung in Bühnen- und Publikumsbereich getrennt. Eine solche Schauanordnung werde bei Chétouane als Wiederholung eines jeder Aufführung vorausgehenden »räumlichen Skript[s]«25 lesbar gemacht, erklärt Tim Schuster. So auch in Hommage an das Zaudern, hier vor allem durch eine Spiegelung und damit Verdoppelung dieser Schauanordnung: Die Akteure auf der Bühne sind von den ihnen Zuschauenden nicht durch eine imaginäre vierte Wand getrennt,26 sondern begegnen ihnen in einer Gegenüberstellung: Das liegt nicht nur an den ausdauernden Blicken ins Publikum, sondern auch an den zwei einzelnen Stühlen auf der Bühne. Bilden diese zu Beginn in der
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Schuster: »What time is it? Wiederholung, Blick und Alterität im Theater Laurent Chétouanes«, in: Müller-Schöll/Otto: Unterm Blick des Fremden, S. 166-178, hier S. 168. Vgl. Denis Diderot: »Von der dramatischen Dichtkunst«, in: Friedrich Bassenge (Hg.): Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 1. Übers. v. Bassenge/Theodor Lücke. Frankfurt a.M. 1968, S. 239-347, hier S. 284.
2 Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern
weitläufigen Leere des Bühnenbereichs das unbewegliche Äquivalent der beiden Tänzer, werden sie irgendwann stärker eingebunden, mal als Liegefläche benutzt oder gar in einem Schritt von der Stuhlfläche auf die Oberkante der Rückenlehne zum Umstürzen gebracht. Erst am Ende des Stücks bleiben Héritier und Camelin für einige Minuten ganz ruhig auf den Stühlen sitzen, wobei sie mal die auf sie gerichteten Blicke erwidern und mal einfach nach unten schauen oder die Augen schließen und sich ansehen lassen. Jan Burkhardt, der in Chétouanes Tanzstücken #2 und #4 als Tänzer mitwirkte, verlässt im Verlauf des Stücks seine Position in der Nähe des Klaviers nicht. Wenn er nicht spielt, sieht er den beiden Tanzenden zu. Seine Position oszilliert zwischen der eines dritten Akteurs und der eines exponierten Zuschauers. Laurent Chétouane erläutert, dass er die Bühne als einen Ort verstehe, »an dem Blicke aufeinander geworfen werden«.27 Seine Erklärung beinhaltet, dass der Versuch, sich das Angeblicktwerden bewusst zu machen, die Orientierung der Tanzenden verändert: »Es ist, als ob sie Zugang zu einem anderen Körper finden müssten, dem Körper, der blickt und auf den zurückgeblickt wird. Dieser Körper wird in dieser Form zum Tanzen gebracht. […] Dieser andere Körper existiert erst durch den Raum, der ihn umgibt. Nur durch das Wahrnehmen des Außen bzw. das Wahrnehmen der eigenen Konstitution durch das Außen gelangt man zu diesem anderen Körper. Und er ist völlig konträr zu einem Körper, der sich aus einem Zentrum heraus versteht, und von dort aus in die Welt hinein geht. […] Es geht um die Behauptung einer anderen Art, mit dem Körper zu denken.«28 Zu dieser anderen Art, mit dem Körper zu denken, kann Chétouanes Formulierung zufolge nicht einfach spontan willentlich übergegangen werden; es kann nur durch das Wahrnehmen der eigenen Konstitution durch das Außen zu ihr gelangt werden – oder sie kann behauptet werden. Mit einigen Anmerkungen Heideggers ließe sich diese andere Art, mit dem Körper zu denken, als eine Orientierung im Raum auffassen, die anders funktioniert als die Orientierung, die Feuillet und Kant erklären. Heidegger regt an, das Wort ›orientieren‹ nicht auf das Aufgehen der Sonne zurückzuführen. Stattdessen will
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Chétouane, in: Müller-Schöll: »›… wie dieser Blick sie inszeniert‹. Laurent Chétouane über seine Arbeit mit Tänzern«, in: Müller-Schöll/Otto: Unterm Blick des Fremden, S. 235246, hier S. 236. Ebd. S. 236f.
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er es mit der Lichtung als raumzeitlicher Einräumung des Offenen in Verbindung bringen.29 Er betont, dass die Menschen nicht »zuerst leiblich«30 seien und dann von diesem a priori existierenden Standpunkt aus »ein Vorne und ein Hinten, ein Oben und Unten, ein Linkes und ein Rechtes«31 unterscheiden könnten. Das ergäbe sich vielmehr erst aus einem »immer schon vernehmenden Bezogen-sein auf solches […], das sich uns aus dem Offenen unserer Welt […] zuspricht«,32 beziehungsweise aus dem Offenen dessen, was im Spiel der Differenzen »auf der Szene der Anwesenheit«33 erscheint, wäre Heidegger mit Derrida zu spezifizieren. Erst in dem von diesem Offenen gelichteten »Zwischen«34 könne eine »›Beziehung‹ vom Subjekt zum Objekt ›sein‹«,35 erörtert Heidegger im Brief über den »Humanismus«. In den Zollikoner Seminaren verknüpft er das Bezogen-sein oder Zwischen mit der Bewegung: »Jede Bewegung meines Leibes geht als eine Gebärde und damit als ein sich so und so Betragen nicht einfach in einen indifferenten Raum hinein«,36 sondern halte sich »immer in einer bestimmten Gegend auf, die offen ist durch das Ding, auf das ich bezogen bin, wenn ich zum Beispiel etwas in die Hand nehme«.37 Offen könne die bestimmte Gegend auch durch andere Menschen sein, ergänzt Heidegger immerhin in einem Nachsatz. Er fügt dem eine Überlegung hinzu, mit der sich ein immer wieder auffälliger Aspekt in Chétouanes Stücken beleuchten lässt: Als Bewegung einer Bezogenheit auf etwas sei auch das Er-
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Vgl. Heidegger: Zollikoner Seminare, S. 12ff. Vgl. zur Lichtung bei Heidegger Kapitel 1.1.4. Heidegger: Zollikoner Seminare, S. 294. Ebd. Ebd. S. 293f. In Chétouanes eigenen Termini kommt das Offene häufig vor und ist v.a. inspiriert von Nancy. Vgl. zu dessen Weiterdenken dieser »eigentümlich ekstatischen« (Heidegger: Zollikoner Seminare, S. 118) Leiblichkeit u.a. ders.: Corpus, S. 29, S. 105. Derrida: Die différance, S. 125. Vgl. Kapitel 1.2.1. Zu spezifizieren ist Heidegger hier, da er mit »Welt« im Kontext seiner Ausführungen über das Offene der Lichtung oder Gegend »überhaupt nichts Seiendes und keinen Bereich von Seiendem, sondern die Offenheit des Seins« meint. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 350. Ebd. S. 350. Heideggers Zwischen wird sowohl von Arendt als auch von Nancy aufgegriffen. (Und über Letzteren vermittelt auch von Chétouane.) Bei Arendt meint es das aus Taten und Worten entstehende »Bezugsgewebe«. Arendt: Vita activa, S. 225. Bei Nancy ein geteiltes wie teilendes Zwischen, das von keinem Grund unterlegt, von keinem Sinn transzendiert wird und nie zu einem gemeinsamen Dritten wird. Vgl. Nancy: »Theatereignis«, S. 326; ders.: Singulär plural sein, S. 25. Heidegger: »Brief über den ›Humanismus‹«, S. 350. Heidegger: Zollikoner Seminare, S. 118. Ebd.
2 Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern
röten zu verstehen, entwickelt Heidegger.38 Es sei also weniger ein Ausdruck als eine Gebärde »insofern der Errötende auf die Mitmenschen bezogen ist.«39 Die oben von Chétouane beschriebene Arbeit daran, einen »Zugang zu einem anderen Körper«40 zu finden oder eine »andere[…] Art mit dem Körper zu denken«41 zu behaupten, hieße also, sich bewusst werden zu lassen, dass eben nie ein »Außen«42 auf eine diesem vorgängige Innerlichkeit oder Körperlichkeit trifft, sondern dass Körper und Bewegungen immer schon und immer wieder von ihrem Bezogen-sein bestimmt und bewegt sind und werden. Inwiefern mit dieser Arbeit daran, zu einer anderen Orientierung zu gelangen, auch der Versuch einhergeht, eine andere Weise des Denkens zuzulassen oder zu erreichen, behandle ich nun zum Abschluss der Lektüre von Hommage an das Zaudern.
2.2.
Das geteilte Bedenken der Choreographie
Mehr noch als auf das Publikum achten Camelin und Héritier aufeinander beziehungsweise auf das sie teilende wie verbindende Zwischen. Nach und nach verlagert sich ihre Ausrichtung im Raum unter Beibehaltung der aufrechten, mittig zentrierten Körperhaltung. Ihre Gliedmaßen zeigen nun nicht mehr von ihrer vertikalen Körperachse aus in den Raum hinein, sondern weisen zum jeweils anderen hin oder gehen von ihm aus. Immer wieder nehmen sie Blickkontakt auf. Jan Burkhardt spielt jetzt Klavier, unter anderem aus Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Erik Satie und Morton Feldman. Besonnen schlägt er einzelne Töne an, mit so großen Abständen dazwischen und so wenig nachklingend, dass sie sich kaum zu einer Melodie zusammenfügen. Sie übertönen die anderen Geräusche nicht und lockern doch das konzentrierte Schweigen auf. Irgendwann beginnt Héritier unvermittelt zu sprechen. Mal unterstreicht eine Handbewegung das Gesagte, mal passt sich der Sprechrhythmus dem der Bewegungen an. Er wirkt verlegen, er nestelt am Saum seines T-Shirts und seiner Hose, als wolle er seine Hände in eine nicht vorhandene Hosentasche stecken. Während er redet und dabei treuherzig zu den Zuschauenden blickt, scheint Camelin ihm überhaupt nicht 38 39 40 41 42
Vgl. ebd. Ebd. Chétouane, in: Müller-Schöll: »›… wie dieser Blick sie inszeniert‹«, S. 236. Ebd. S. 237. Ebd.
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Abbildung 6: Tryout von Hommage an das Zaudern im Radialsystem: Rémy Héritier, Joris Camelin (v.l.n.r.)
Foto: Sebastian Bolesch
zuzuhören, sondern völlig damit beschäftigt, den Standpunkt Héritiers zu umspielen. Weder korrespondieren das Sprechen des einen und das Tanzen des anderen miteinander, noch irritieren sie sich. Camelin geht von Héritier weg und wieder auf ihn zu und arbeitet diese Linie gründlich heraus, indem er immer wieder, vorwärts und seitwärts, auf ihr auf- und abläuft und dabei mit Armen und Beinen Muster auf dieser Spur zeichnet. Später übernimmt Camelin die Position des Sprechenden. Héritier setzt sich mit angezogenen Beinen vor das Klavier und schaut und hört Camelin zu. Dennoch ist es auch jetzt schwer, dem Gesprochenen zu folgen, es wird stellenweise eher zu einer weiteren Soundebene neben der Musik. Zusammengefasst sprechen die beiden über Momente, in denen es galt, Entscheidungen zu fällen. Sie lassen verschiedene Ich-Erzähler in vielen Einzelheiten von kleinen Begebenheiten berichten, etwa von einem Wintermorgen in den Bergen oder einem nachmittäglichen Einkauf an einem Sommertag. Nur in der Sequenz, in der Héritier aus der Perspektive eines Apfels spricht, geht es eher darum, wie dieser Apfel sich, in seiner Passivität offen für das ihm Passierende, treiben ließ. So wie die Passagen des Sprechens entwickeln Camelin und Héritier auch die sich ähnelnden Bewegungsabläufe unterschiedlich. Héritiers schlaksig gebrochene Bewegungen verbleiben mehr im Vagen als die direkteren mus-
2 Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern
kulös-kraftvollen Bewegungen Camelins. Verstärkt wird das durch ihre unterschiedliche, von der Kostümbildnerin Sophie Reble ausgewählte Kleidung: Héritier in einer Art Unterwäsche, Schlaf- oder Trainingskleidung aus weißem T-Shirt und schwarzen Leggings, Camelin in hellgrauen Jeans und einem beigen Sweatshirt. Etwas später beschleunigen sie die Abläufe der einzelnen Bewegungen. Die vorher nur in die Richtung des anderen weisenden Hände tangieren jetzt auch mal leicht schlagend einen Arm oder die Brust des anderen. Fast wirkt das kämpferisch, wenn die auf- und absteigenden Molltöne des Klaviers etwas lauter und schneller werden. Dann umarmen sich Camelin und Héritier lange. Kurz danach geht Héritier noch einmal zu Boden und diesmal sieht es aus, als hätte Camelin ihn geschubst, wobei in diesem Moment, wie auch in der Umarmung, zwar die Frage nach dem persönlichen Verhältnis der beiden auftaucht, aber nicht thematisiert wird. Camelin legt sich im Anschluss, die Beine leicht angezogen, mit dem Kopf in Richtung Zuschauer zeigend, ganz vorne an der imaginären Bühnenkante auf den Boden. Héritier steht irgendwann auf und tut es ihm gleich. Er liegt ihm gegenüber, wie spiegelverkehrt. Dann stehen die beiden abwechselnd auf und lassen sich wieder und wieder, ganz langsam, in die Knie gehend, zu Boden sinken. Nicht im Sinne eines loslassenden Release, sondern immer die aufrechte frontale Haltung des Oberkörpers wahrend und die Arme nicht zur Hilfe nehmend, sodass sich ihre Beine seltsam verdrehen. Gemein ist den hier beschriebenen Sequenzen, dass das Aufeinander-bezogen-sein von Camelin und Héritier in ihnen nicht als harmonisch homogenes Verhältnis inszeniert wird, sondern als Prozess von Trennungen, Verschiebungen, Distanznahmen und Annäherungen. Tanzen Camelin und Héritier zu Beginn von Hommage an das Zaudern etwas unentschieden und wie aus dem Gleichgewicht geraten,43 verlaufen ihre Bewegungen gegen Ende weniger zögerlich, kantig und stockend. Irgendwann sind keine aneinander- und nebeneinandergereihten Gänge mehr zu sehen, die vom Liegen und Stillstehen unterbrochen werden. Héritier und Camelin beginnen, etwas schneller, leichtfüßiger und deshalb leiser zu laufen. Ihr gemächliches Kreisen mit erhobenen Armen um die eigene Achse kommt jetzt aus der Rumpfmuskulatur, die Wirbelsäule krümmt sich, die Arme unterstützen den Schwung. Sie folgen einander durch den Raum, sodass ihre Wege immer mal wieder zu einem werden. Einzelne Bewegungselemente 43
Das Aus-dem-Gleichgewicht-geraten nimmt wiederum Bezug auf das Ballett-Ideal des »equilibrium«. Blasis: The Code of Terpsichore, S. 59.
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reichen sie sich dabei sozusagen weiter, indem sie lose aufnehmen, was der andere getan hat, eine Drehung, einen kurzen Sprung, ein Beschleunigen, einen Richtungswechsel. So befinden sie sich in einem Bewegungsfluss, der sie doch unaufhörlich zeitlich und räumlich voneinander wie von sich selbst trennt und von beiden Tänzern zwar beeinflusst, aber doch nie kontrolliert wird.44 Die choreographische Vorschrift von Hommage an das Zaudern besteht aus gemeinsam erarbeitetem Bewegungsmaterial sowie einem Raster der verschiedenen thematischen oder atmosphärischen Szenen des Stücks, die von bestimmten festgelegten Sequenzen, den Wechseln des Lichts und der Musik strukturiert werden.45 Die Aktualisierung der Choreographie, ihre jeweilige Aus- und Aufführung, geschieht nicht als Ausführung eines Vorab erlernten Gesamtüberblicks ihres räumlich-zeitlichen Ablaufs, sondern in Abhängigkeit voneinander und in Reaktion aufeinander. Sie beinhaltet die Vereinbarung, dass gewisse Abweichungen möglich sind, sodass der eine Tänzer ohne den anderen nie genau weiß, was er als Nächstes machen wird und die Bewegungsphasen des einen wie des anderen aufmerksam vernimmt. So wird das Tanzen Camelins und Héritiers nicht zur verselbstständigten Aktualisierung einer im Körpergedächtnis gespeicherten, zur Gewohnheit gewordenen Folge oder, mit Arendt pointiert, nicht zu einem routinierten Funktionieren gemäß bestimmter Verhaltensvorschriften.46 Diesem mitdenkenden Tanzen zuzusehen, erschwert eine Orientierung (im Sinne Feuillets und Kants) in der räumlichen und zeitlichen Dramaturgie des Stücks, da viel stärker zu sehen ist, wie Camelin und Héritier aufeinander und auf das sie Umgebende achten. Jörn Etzold stellt fest, dass es in Inszenierungen und Choreographien Chétouanes häufig keine »Idee eines Ziels, auf das hingearbeitet wird«,47 gebe, und interpretiert dies als Versuch »eine Dimension von Zeit zu erschließen, die nicht
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Vgl. Siegmunds Erläuterung von Heraklits Verständnis von Zeit als Bewegung in ders.: »Mind the Gap, oder: Der Geist im Zwischenraum«, S. 107. Vgl. dazu Kruschkova: »Entlang eines begehrenden Widerstands«, in: MüllerSchöll/Otto: Unterm Blick des Fremden, S. 215-233, hier S. 218. Vgl. Kapitel 1.2.3. Jörn Etzold in: Chétouane: »›Ich habe die Wände lange gebraucht, jetzt nicht mehr‹. Gespräch mit Jörn Etzold«, S. 308.
2 Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern
die Zeit ist, die mit etwas rechnet, das kommen wird – sondern eine Zeit, die einfach als solche erfahren wird.«48 Hommage an das Zaudern gibt in seinem Verlauf ein geteiltes, aber nicht übereinstimmendes Denken zu sehen. Ein vernehmendes Denken, das vom Aufeinander-bezogen-sein wie von der aktiven Bezugnahme aufeinander bestimmt wird und das Camelin und Héritier auch dadurch zu erreichen suchen, dass sie zu Beginn des Stücks die neuzeitlich-europäische Tanztradition als Einfluss auf die eigene Arbeit untersuchen und so noch einmal aktiv die Erkenntnis produzieren, dass sie keinen Überblick über die Choreographie haben und nicht in ihrem Zentrum stehen. Aus dem Aufrufen der geometrischen Organisation von Körper(n), Bewegung und Bühne im frühen Ballett heraus – und damit aus der Auseinandersetzung mit dem Einfluss des Denkens des neuzeitlichen Subjekts als einer weder vergangenen noch einfach zu verlassenden Denkweise – arbeiten Camelin und Héritier daran, zu einer anderen Orientierung im Tanzen und damit zu einer anderen Art, mit dem Körper zu denken, zu finden.
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Ebd. In dem Buch Über das Zaudern von Joseph Vogl, das mindestens in den Titel des Stücks eingegangen ist, stellt Vogl das Zaudern, ähnlich wie Arendt das Denken und Agamben die Geste, als »ein Stocken, eine Pause, ein Anhalten, eine Unterbrechung« dar, die die Ziel- und Zweckgerichtetheit alltäglichen Handelns unterwandere und so das Kontinuum zeitlicher/geschichtlicher Abläufe stören könne. Vogl: Über das Zaudern. Zürich/Berlin 2008 [2], S. 24.
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3. Philipp Gehmachers Solo with Jack Denkendes Innehalten des In-Bewegung-Seins
»Everything seems, however, to point to the necessity, not of a ›return to the subject‹, but on the contrary, of a move forward toward someone – some one else in its place (this last expression is obviously a mere convenience: the ›place‹ could not be the same). Who would it be? How would s/he present him/herself? Can we name her/him? Is the question ›who‹ suitable? […] In other words: If it is appropriate to assign something like a punctuality, a singularity, or a hereness […] as the place of emission, reception, or transition (of affect, of action, of language etc.), how would one designate its specifity?«1 Die Selbstentmächtigung, die Heideggers Destruktion des Denkens des neuzeitlichen Subjekts inhärent ist, führt Heidegger selbst einmal zur Frage: »Wer denkt diese Gedanken, die uns besuchen?«2 Nancy beendet seine Eröffnung von der Tagung und später dem Buch zur Frage Who comes after the subject? mit einer weiteren (offenen) Frage »Who thinks if not the community?«.3 Wie ich im Kapitel 1.2.3 gezeigt habe, versucht auch Arendt in ihrer Arbeit über das Denken diese Fragen zu beantworten. Das Denken des oder der Einzelnen wird zwar von der Pluralität konstituiert, aber es ist doch auch von ihr abgetrennt.4 Um die trotz des aufeinander Bezogen-seins unüberbrückbare Differenz einer einzelnen uneinheitlichen Punktualität oder Singulariät zu anderen uneinheitlichen Punktualitäten oder Singularitäten kreist ein Teil der Arbeit von Philipp Gehmacher, zu dem neben Stücken auch schriftliche Publikationen und andere Aufführungsformate zählen. Davon sind für mein Buch 1 2 3 4
Nancy: »Introduction«, in: Eduardo Cadava/Peter Connor/Nancy (Hg.): Who comes after the subject? London/New York 1991, S. 1-8, hier S. 5. Heidegger: »Grundsätze des Denkens«, S. 135. Vgl. die Kapitel 1.1.1-1.1.4. Nancy: »Introduction«, S. 8. Vgl. Kapitel 1.2.3.
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Denken im Tanz
der Essay Dem Denken eine Form geben sowie die Texte aus dem Sammelband Incubator zum gleichnamigen Stück von besonderem Interesse. Gehmacher gibt hier nachträglich Einblicke in sein Denken beim Tanzen und ergänzt so das, was auf der Bühne davon zu sehen ist, um eine andere Darstellung.5 Das Solo with Jack, in dem neben Gehmacher der unter anderem als Filmemacher, Musiker und Performer tätige Künstler Jack Hauser agiert, ist ein »Rechercheprozess«6 Gehmachers »mit sich selbst«,7 in dem Gehmacher, in Begleitung Hausers, sich selbst und den eigenen Bewegungen begegnet. Ein ›Solo‹ ist, so steht es im Duden, in der häufigsten Bedeutung des Italianismus die »musikalische oder tänzerische Darbietung eines einzelnen Künstlers, meist zusammen mit einem (als Begleitung auftretenden) Ensemble«.8 Die weiteren genannten Bedeutungsebenen zeigen verschiedene Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen Solist*in und Ensemble: »Alleingang«9 und: »Spiel eines einzelnen Spielers gegen die übrigen Mitspieler«.10 Gehmacher tritt in seinem Solo mit Jack Hauser weder im Alleingang auf noch gegen diesen an, sondern selbst als Solist und Ensemble auf, begleitet von Hauser und doch nicht wirklich mit ihm zusammen. Häufig kollaboriert Gehmacher mit anderen Künstler*innen, ohne dass es darum geht, eine gemeinsame »Bewegungssprache«11 oder »Tanzsprache«12 zu finden, beziehungsweise seine 5
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Eine ähnliche Intention verfolgte auch das von Gehmacher, Jeroen Peters und Alexander Schellow initiierte Projekt walk + talk, das ab 2008 Künstler*innen einlud, die eigenen Verfahren des Tanzens und Choreographierens live zu diskursivieren. Die Aufzeichnungen der Lecture performances sind inzwischen online veröffentlicht. Vgl. Gehmacher/Peeters/Schellow (Hg.): walk + talk documents, http://oralsite.be/pages/Walk_ Talk_Documents vom August 2020. Abendzettel: Solo with Jack, PACT Zollverein, 11.10.2012. Ebd. Dudenredaktion: »Solo«, www.duden.de/rechtschreibung/Solo vom August 2020. Ebd. Herv. L.O. Ebd. Herv. L.O. Vgl. zu Gehmachers Verständnis von Bewegung als Sprache Peter Stamer: »›Die Hinterlassenschaften von Zetteln…‹ Kompilation aus Programmhefttexten, Briefkorrespondenzen, Probennotizen, Gesprächsbeiträgen zu incubator«, in: Gehmacher/Angela Glechner/Stamer (Hg.): Incubator. Wien 2006, S. 11-26, hier S. 11ff. Der Text ist eine Zusammenstellung der abgehefteten Notizen der an Incubator (2004) Beteiligten. Verschiedene Autor*innen werden zwar durch Farbwechsel der Schrift angedeutet, aber nicht benannt. Gehmacher: »Dem Denken eine Form geben«, S. 4. Christina Thurner erarbeitet, dass mit ›Sprache‹ im Tanz seit dem 17. Jahrhundert sowohl die Systematisierung von Bewegungen als auch das zeichenhafte Verweisen auf Referenten und Ausdrücken von
3 Philipp Gehmachers Solo with Jack
idiosynkratische Bewegungs- oder Tanzsprache als das verstehend, was er unvermeidlich mit in die Kollaborationen einbringt und was diese womöglich irritiert.
3.1.
Erfahrung und Erscheinung einer pluralen Singularität oder Denken im Tanz bei Gehmacher
Zwei Männer in unterschiedlichem Alter: Gehmacher geschätzt Mitte 30, Hauser vielleicht Mitte 50. Beide weiß, mit graubraunen Haaren und etwas Bart, leger in Blautönen gekleidet, Gehmacher barfuß, Hauser mit robusten dunklen Lederschuhen.13 Gehmacher verlagert das Gleichgewicht von einem abrollenden Fuß auf den anderen und schwankt dadurch leicht hin und her. Seine Arme schaukeln mit, wenn er seinen Gang beschleunigt; wenn er stehen bleibt, bewegen sich seine Fingerspitzen leicht, was erahnen lässt, dass er den dortigen Empfindungen gerade Aufmerksamkeit schenkt. Hauser hingegen spaziert gemächlich umher, seine Schultern hängen ein wenig herab, die Brust ist etwas eingefallen und der sich immer wieder anderem zuwendende Kopf leicht vorgeschoben. Gehmacher begibt sich wackelnd in die Knie. Er hebt den linken Arm mit dem rechten an und rollt sich, den Oberkörper vorbeugend, zusammen. Er dreht sich auf den Rücken, streckt sich in die Länge und windet sich über den Boden. Die Bewegungsabfolge ist uneindeutiger als meine Beschreibung suggeriert. Denn die Bewegungen sind alle etwas verwackelt, es kommt keine eindeutige Kontur zustande, weil sie auf der Mikroebene von einem leichten, aber überhaupt nicht unmerklichen Ruckeln, Schlenkern und Pendeln getragen wird. Hauser sitzt weit weg, ebenfalls auf dem Boden. Er beginnt aus der Bauchlage ein ähnliches Kriechen wie Gehmacher, bei dem ein Ziehen der sich vor dem Kopf berührenden Arme und ein leichtes Abstoßen der angewinkelten Beine ihn stückweise vorwärts schieben. Nach nur zwei Schüben bricht er ab. Gehmacher zieht sich an seinem über dem Kopf gekrümmten
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Emotionen gemeint waren. Vgl. Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten. Bielefeld 2009, S. 60-67, 81-139. Meine Beschreibung fußt auf einem Aufführungsbesuch bei PACT Zollverein am 11.10.2012 sowie einer Aufzeichnung der Aufführung im Kasino am Schwarzenbergplatz in Wien im Rahmen des ImPulsTanz-Festivals aus dem Juli 2012. Vgl. zu Details zur Produktion das Werkverzeichnis.
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Arm mit dem anderen hoch und wankt einige Schritte durch den Raum. Während Hauser immer wieder zu Gehmacher blickt, widmet dieser seine Aufmerksamkeit eher Teilen des eigenen Körpers beziehungsweise Leibs. Er untersucht seine Arme, sie anfassend und betrachtend, als ob sie nicht ihm gehörten, und scheint zugleich nachzuspüren, wie ihr Gewicht sein Gleichgewicht beeinflusst. Er tanzt als eine fragmentierte Vielheit und lässt so die Erfahrung der Begegnung mit den Erscheinungen und Empfindungen des eigenen Körpers beziehungsweise Leibs in seiner unermesslichen und uneinholbaren Fremdheit sichtbar werden. Gerald Siegmund hat diese Bewegungssprache Gehmachers so beschrieben: »Gehmacher unterteilt seinen Körper in Zonen der Bewegungslosigkeit und in Zonen der Bewegtheit. Es gibt Körperteile wie die Arme, die sich seiner Kontrolle zu entziehen scheinen, die sich unwillkürlich reflexhaft bewegen, während andere, wie die Beine, steif und regungslos bleiben. Dies legt eine Spaltung zwischen dem Tänzer als ausführendem Subjekt und seinem Körper als Material, als Objekt, das bewegt wird, nahe. Das Entgleiten der Bewegung und der damit einhergehende Kontrollverlust, der durch hilflose Versuche, etwa den auffahrenden Arm festzuhalten und in seine ursprüngliche Position zurückzuführen, verhindert werden soll, trennt den Körper von sich. Er zerfällt in einen Teil, der die Bewegung ausführt und in einen Teil, der die Bewegung als Objekt betrachtet. Der Körper führt die Bewegung zwar aus, aber er verkörpert sie nicht, weil er sich selbst fremd bleibt.«14 Diese Differenzen zwischen Bewegen und Bewegtwerden, Berühren und Berührtwerden, Empfinden und Betrachten machen Gehmachers Rechercheprozess mit sich selbst zu Selbstreflektionen,15 die nicht zu einem mit sich selbst identischen Selbst zurückfinden, sondern dieses als uneinheitliches erfahren. Gehmacher selbst beschreibt seine Erfahrungen dieser Art zu tanzen im Essay Dem Denken eine Form geben als ein mit dem Körper verbundenes Denken, das sich in seiner künstlerischen Arbeit materialisiere.16 Vielleicht sei das, was er ›Denken‹ nenne, aber auch »kein wirkliches Denken. Es steht hier als Synonym für ein Zusammenkommen unterschiedlicher Ebenen von Wahrnehmung und Erfahrung, und dem daraus resultierenden Bewusstsein,
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Siegmund: Abwesenheit, S. 33. Er bezieht sich hier auf das Stück In the absence (1999). Vgl. zu meiner Abgrenzung einer Selbstreflektion von einer Selbstreflexion Kapitel 1.2.3. Vgl. Gehmacher: »Dem Denken eine Form geben«, S. 5.
3 Philipp Gehmachers Solo with Jack
welches schon immer mein Produzieren von Form, Beziehungen und Teilhabe gestaltet.«17 Auch wenn nicht genau bestimmbar ist, was genau und wie viel von diesem Zusammenkommen unterschiedlicher Ebenen von Wahrnehmung, Erfahrung und Bewusstsein als Denken eingestuft werden kann, kann ich Gehmacher mit dem, was ich in Kapitel 1 entwickelt habe, antworten, dass das, was er hier Denken nennt, durchaus ein wirkliches Denken ist und seine Zweifel daran liegen könnten, dass es nicht dem am weitesten verbreiteten Verständnis von Denken oder der am weitesten verbreiteten Denkweise entspricht. Wie Arendt ausgeführt hat, entsteht gerade aus dem Bewusstsein als Sich-seiner-selbst-gewahr-sein eine Spaltung, die sie als Dualität bezeichnet.18 Bei Gehmacher vervielfältigt sich diese Spaltung um die im und am eigenen Körper beziehungsweise Leib erlebte Fremdheitserfahrung. Dass ein Selbst lediglich anderen als einheitliche Gestalt erscheine, sich selbst aber nur in Teilen und als Gespaltenes, ergänzt Nancy darum, dass gerade der eigene Körper sich nur als Vielheit und Fremdheit erfahren lasse.19 Bei Gehmacher ist die Erfahrung seines Körpers an die Erfahrung von Bewegung gekoppelt, wie er an mehreren Stellen erklärt. Er arbeite daran, sich der un- oder vorbewussten und (nahezu) unsichtbaren, der sichtbaren Bewegung vorausgehenden körperlichen Aktivität bewusst zu werden: »The way of being conscious about pre-movement is the base of movement in this work, of a gesture which is visible.«20 Auf diese immer schon geschehenden Bewegungen reagiere er mit einem »Innehalten«21 und dem Versuch der gleichmäßigen Bewegungsausführung: »der Körper hat ohnehin seinen Rhythmus, die Ökonomie des Beugens und Streckens, Faltens und Entfaltens gibt Wege vor, es gibt kein Entrinnen. Somit scheine ich mir ständig neue Fallen zu stellen, das Innehalten und die Gleichmäßigkeit werden Werkzeug, um dem womöglich organischen Rhythmus des Körpers zu entkommen, um neue Zustände und Formen zu
17
18 19 20 21
Ebd. S. 4. Vgl. dazu, ob und inwiefern sich ein solches denkendes Produzieren von Form auch Improvisation nennen ließe, Kapitel 4.2 und 5.1. Dazu, dass das Verhältnis von Denken und sinnlicher Wahrnehmung ein reziprokes der gegenseitigen Beeinflussung, durch das sich keine strikte Grenze ziehen lässt, ist, vgl. Kapitel 1.1.4. Vgl. Kapitel 1.2.3. Vgl. Nancy: Corpus, S. 29f. und ders.: Körper. Übers. v. Martine Ambs Lesure u.a. Wien 2019, S. 144ff. Stamer: »›Die Hinterlassenschaften von Zetteln…‹«, S. 22f. Gehmacher: »Dem Denken eine Form geben«, S. 5.
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finden. […] Denn der Körper macht sich sowieso immer selbstständig und es tanzt in mir schneller, als ich denken kann.«22 Mit dem Denken ist bei Gehmacher also »ein Bewusstsein, call it embodied consciousness«,23 für das eigene »In-Bewegung-Sein«24 verbunden: »Es ist ein Fokus, eine gerichtete Aufmerksamkeit, um einen Zustand zu erlangen, der mich Entscheidungen treffen lässt. Und das ist schwierig, da der Körperin-Bewegung sich gerne verselbstständigt und bevorzugt, seinen Impulsen zu folgen.«25 Diesen Zustand, der Entscheidungen treffen lässt, beschreibt Gehmacher als eine Unterbrechung, die überhaupt erst ermögliche, das In-Bewegung-Sein nachzuvollziehen und zu steuern: »Ich unterbreche mich dann, wenn mein Körper schneller agiert, als meine Wahrnehmung aufnehmen kann – um präziser gestalten zu können.«26 Um sich nicht in der Bewegung zu verlieren, müsse er innehalten und sich selbst unterbrechen, wenn das Handeln schneller verlaufen sei, als seine Wahrnehmung erfassen könne: »Und so entsteht dann diese Tanzsprache, der ich, warum auch immer, fast mein ganzes Leben geschenkt habe. […] Im In-Bewegung-Sein versuche ich, mir meiner Entscheidungen des Folgens, Innehaltens und Weiterführens bewusst zu werden. Manchmal ist dieses Tun ganz im Fluss, der Körper kommt in Bewegung und schwappt von einer Seite zur anderen. The Swing. Oft zu einfach, oft sehr schön. Doch ich muss innehalten. Das Innehalten wird zu einer Markierung in meinen Bewegungsabläufen, ein Halten der Situation, man müsste es eigentlich ein Tragen nennen«.27 Diese Tanzsprache meint bei Gehmacher vor allem eine gewisse Systematisierung: die lose Ansammlung eines Bewegungsmaterials sowie bestimmte Gewohnheiten, dieses zu kombinieren und zu aktualisieren. Er beschreibt dieses System einerseits als »Ausgangspartitur […] aus Körperhaltungen, Armbewegungen, Gesten und Zeichen«,28 aber auch als ihre Aktualisierung durch die Zusammensetzung dieser Ausgangspartitur in einer »Live-Komposition«.29 22 23 24 25 26 27 28 29
Ebd. Ebd. S. 4. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Mit der Tanzwissenschaftlerin Jana Parviainen lässt sich Gehmachers langjährig trainierte Tanzsprache im Anschluss an Heidegger als eine bestimmte Art von Technik, genau genommen téchnē verstehen. Téchnē sei »in der frühen griechischen Sprache«30 nicht mit ›Technik‹ im heutigen Sinne gleichzusetzen, erklärt Heidegger, sondern als eine Art des Wissens zu verstehen, als »Sichauskennen in etwas, und zwar im Herstellen von etwas«.31 Dies bedeute wiederum weniger das Produzieren als das Her-stellen: »her, nämlich ins Offenbare stellen als etwas, was vordem nicht als Anwesendes vorlag«.32 Anstatt ›Tanztechnik‹ also auf eine technische Operation mit dem als Material verstandenen Körper zu reduzieren, wäre von »dance techne«33 zu sprechen, schlägt Parviainen vor: »By dance techne I mean reaching a certain understanding of movement, but also the delimitation of that understanding, throwing it off balance, robbing it of its security.«34 Es ginge um ein Verhältnis der Gelassenheit zur Bewegung, greift Parviainen von Heidegger auf: »The only way to gain access to movement is to let movement be and to let it address us, challenge us.«35 Eine Herausforderung, die bei Gehmacher wiederum eine Spaltung entstehen lässt, die er als ein Schwanken zwischen dem Versuch, sich in der Bewegung zurückzunehmen und in einer Gleichmäßigkeit »das, was immer schon da ist«,36 sichtbar werden zu lassen, und der Unterbrechung, dem Innehalten dieser »Gleichmäßigkeit«.37 Auf die von mir schon erwähnte Forschung Bernhard Waldenfels’ über Bewegung Bezug nehmend und auf Laurent Chétouanes »Sehnsucht nach der fließenden Bewegung«,38 schreibt Gehmacher über die für ihn notwendige Unterbrechung: »Man könnte mir natürlich vorwerfen, ich könne das ›es tanzt‹, wie Bernhard Waldenfels oder Laurent Chétouane sagen, in mir nicht zulassen. Es
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34 35 36 37 38
Heidegger: Überlieferte Sprache und technische Sprache. St. Gallen 1989, S. 14. Ebd. Ebd. S. 15. Jaana Parviainen: »Dance Techne. Kinetic Bodily Logos and Thinking in Movement«, in: Nordisk Estetisk Tidskrift 27 (2003), S. 159-175, hier S. 175. Ingo Diehl und Friederike Lampert haben die Frage aufgeworfen, ob nicht im zeitgenössischen Tanz (wieder) bestimmte Methoden und Praktiken zu beobachten sind, die als »Tanztechniken« zu bezeichnen wären. Vgl. Diehl/Lampert: »Einleitung«, in: ders./dies. (Hg.): Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland. Leipzig 2011, S. 10-23, hier S. 10ff. Parviainen: »Dance Techne«, S. 175. Ebd. S. 159. Gehmacher: »Dem Denken eine Form geben«, S. 4. Ebd. S. 5. Ebd. S. 4.
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ist immer ein ›ich tanze‹.«39 Man könnte Gehmacher aber stattdessen auch dafür anerkennen, wie sehr sein Tanzen ihm selbst und den Zuschauenden das, was immer schon da ist, und die beständigen Impulse des es tanzt im Halten oder Tragen der Situation deutlich vor Augen führt, gerade weil es diese Prozesse immer wieder unterbricht, um Momente der Kontrolle herzustellen – damit zugleich jedoch betont, dass diese ihm wieder und wieder entgleitet. Ganz im Sinne dieser Momente der Unterbrechung, des Haltens oder Tragens einer Bewegung, um diese sowohl für sich stehen zu lassen als bewusst werden zu lassen, ist von besonderer Relevanz in den gehmacherschen Termini das Wort Geste, mit dem Gehmacher selbst seine vielen kleinteiligen, sich im Bereich seines Oberkörpers abspielenden Bewegungen der Arme und Hände benennt.40 Gehmachers Benutzung des Worts Geste rekurriert auch auf die »gestures«41 in der Theorie Rudolf von Labans. Laban meint mit »Gesten«42 beziehungsweise gestures keine symbolisch kodierten oder ausdrucksvollen Arm- und vor allem Handbewegungen, sondern recht technisch, bestimmte Elemente des »Bewegungsvokabular[s]«,43 das einem oder einer Tanzenden zur Verfügung stehe, nämlich einzelne Bewegungen ohne Gewichtsbelastung: »Gesten sind Aktionen der Extremitäten, in denen es zu keiner Gewichtsübertragung oder -unterstützung kommt. Sie können zum Körper hin, von ihm weg oder um ihn herum führen […].«44 Gehmacher geht es mit seiner Tanz39 40
41
42 43 44
Ebd. Vgl. zu Waldenfels Kapitel 1.3.2. Vgl. Gehmacher: »Vom Ich zum Anderen zur Gruppe zum Stück«, in: ders./Glechner/Stamer: Incubator, S. 29-46, S. 34. Vgl. zur Geste in der Arbeit von Philipp Gehmacher Stamer: »›Die Hinterlassenschaften von Zetteln…‹«, S. 18ff.; ders.: »Ein Akronym später. Neun Anmerkungen zu incubator«, in: Gehmacher/Glechner/Stamer: Incubator, S. 87100, hier S. 97ff. Vgl. zur Geste in diesem Buch Kapitel 1.3.2. Rudolf von Laban: The Mastery of Movement. Plymouth 1988 [4], S. 29. Mehr als der Titel der deutschen Übersetzung, Die Kunst der Bewegung, enthält der englische Titel das in dem Buch festzustellende Wechselspiel zwischen dem Wirken von Kräften wie der Gravitation einerseits und der Kunst, die einem wegen solcher Einwirkungen von außen nicht ganz gehörende Bewegung zu meistern oder zu beherrschen andererseits. Einen Ursprung der Bewegung verortet Laban dennoch in einem »inneren Wollen« des Menschen, von dem ausgehend dieser seinen Körper oder seine Gliedmaßen »von einer räumlichen Stellung in eine andere« transportiert. Vgl. Rudolf von Laban: Choreutik. Grundlagen der Raum-Harmonielehre des Tanzes. Übers. v. Claude Perrottet. Wilhelmshaven 1991, S. 21. Laban: Die Kunst der Bewegung. Übers. v. Karin Vial/Claude Perrottet. Wilhelmshaven 1988, S. 38. Ebd. S. 14. Ebd. S. 38.
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sprache nicht darum, auf anderes zu verweisen, etwas anderes mitzuteilen als diese Sprache selbst und doch spricht er sie im Bewusstsein, dass die Körperhaltungen, Armbewegungen, Gesten und Zeichen seiner Ausgangspartitur mit jeder Aktualisierung in ein unvermeidbares Spiel von Referenzen und Bedeutungszuschreibungen eintreten, da sie von ihm nicht erfunden, sondern gefunden werden, d.h. immer schon existierende Bewegungen an- und übernehmen und somit von einer von ihm nicht kontrollierbaren Zeichenhaftigkeit begleitet werden. Er versuche in der gleichmäßigen und gleichwertigen Ausführung der Bewegungen, den Körper erscheinen und »die Bewegung für sich sprechen zu lassen«,45 schreibt Gehmacher, und damit selbst hinter dieser zurückzutreten: »Die Gleichmäßigkeit ist der Versuch, eine Bewegung Form sein zu lassen, sie in meiner Darstellung nicht zu kommentieren […]. Und trotzdem wird die gleichmäßige, gleichwertige Bewegung einen Weg zeichnen und Spuren hinterlassen, unkommentiert.«46 Die Geste bei Gehmacher schiebt Ausdruck oder Äußerung weg von der Expression einer vermeintlichen Innerlichkeit,47 hin zu einer »Selbst-Distanz«,48 die in der zugleich ausgeführten, beobachteten und empfundenen Geste geschieht, als »Äußerung eines einzelnen Körpers, der sich Abstand (von sich) verschafft«.49 Diese Lesart des Worts ›Äußerung‹ will ich kurz mit Jean-Luc Nancys Motiv der »Synkope«50 verbinden, mit dem er das »Original des Leibes«51 in Frage stellt, von dem Maurice Merleau-Ponty in seiner berühmten Theorie der »Doppelempfindungen«52 ausgeht. Im Unterschied zu Merleau-Ponty versteht Nancy die Selbstberührung nicht ausgehend von der Innerlichkeit eines Leibes, sondern als einen sich in der Exteriorität abspielenden Vorgang, dem keine Substanz
45 46 47
48 49 50 51 52
Gehmacher: »Dem Denken eine Form geben«, S. 5. Ebd. Vgl. Kapitel 1.2.1 zur différance. Vgl. dazu, dass eine Geste nach wie vor gemeinhin als innere Empfindungen ausdrückende Körper- und speziell Handbewegungen verstanden wird, Grimm/Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Sp. 4208, www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=geste vom August 2020. Stamer: »›Die Hinterlassenschaften von Zetteln…‹«, S. 20. Ebd. Nancy: Das Gewicht eines Denkens, S. 106. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. S. 117. Ebd. S. 118. Merleau-Ponty schließt mit der Doppelempfindung an das bereits von Edmund Husserl beschriebene, beim Sichberühren der eigenen Hände passierende gleichzeitige Spüren des aktiv Berührten und des Berührtwerdens. Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. 2, Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Den Haag 1952, S. 144-147.
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und kein Innen zugrundeliegen: »Ich muß zuerst außerhalb sein, um mich zu berühren. Und das, was ich berühre, bleibt außen.«53 Nancy führt fort: »Man spürt sich als ein Außen. Und dabei geht es nicht nur um die Hände, es geht im Grunde um das Gefühl der Existenz. […] Es gibt kein Subjekt mehr ›dahinter‹. Es gibt nur ein ›Sich-Fühlen‹, als eine Beziehung zu sich selbst als Außen.«54 Jacques Derrida interpretiert diesen »Abstand[…]«,55 der Synkope bei Nancy als »eine[…] gewisse[…] Unterbrechung im Kontakt«:56 das »Eigene in dem Moment zu verlieren, da man daran rührt«,57 da sich ausgerechnet darin keine Nähe, sondern eine Differenz bemerkbar mache. Die Momente, in denen Gehmacher innehält, um die eigenen Bewegungen und die eigene Bewegtheit genauer wahrnehmen und gestalten zu können, intensivieren also die Nichtidentität von Wahrnehmen und Wahrgenommenem, Berühren und Berührtem. Als diese fragmentierte Vielheit ist Gehmacher so mit Teilen seines uneinheitlichen Selbsts beschäftigt, dass die Anwesenheit Jack Hausers in den Hintergrund tritt. Dabei ist es ja, wie Gehmacher betont hat, gerade das Besondere des Denkens im »Theaterraum«,58 dass es hier nicht allein und zurückgezogen, sondern exponiert sei: »Die Äußerungsformen des Denkens gehen über den Körper hinaus. Der Theaterraum erscheint als Ort der Betrachtung, er stellt mich aus und führt mich vor. Und darin liegt die Schwierigkeit, die Verantwortung und die Aufregung, Äußerungsformen für dieses Denken zu finden. Das Denken ist dann Theorie und Praxis, und spricht/tanzt nicht mehr für sich allein.«59 Dieses Denken im Theaterraum nicht nur auszustellen, sondern zu teilen, verstehe ich als einen Ausgangspunkt von Solo with Jack. Hier treffen Gehmachers Begegnungen mit den eigenen und doch nicht ganz aneignenbaren Bewegungen auf Jack Hauser, einen Künstler, der sonst nicht als Tänzer auftritt. Doch 53 54
55 56
57 58 59
Nancy: Corpus, S. 115. Ebd. S. 120f. Vgl. auch Nancy: »Rühren, Berühren, Aufruhr«, übers. v. Valérie Baumann, http://tqw.at/sites/default/files/Ruehren %20Beruehren %20Aufruhr.pdf vom April 2014. Nancy: Das Gewicht eines Denkens, S. 106. Derrida: Berühren. Jean-Luc Nancy. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Berlin 2007, S. 145. Für Derrida ist Nancys beharrliche Beschäftigung mit Körper(n) als Themen und Phänomenen ein philosophisches Wagnis. Vgl. ebd. S. 149ff., 369f. Vgl. zu dieser Differenz zwischen Derrida und Nancy auch J. Hillis Miller: For Derrida, S. 265. Derrida: Berühren, S. 145. Gehmacher: »Dem Denken eine Form geben«, S. 5. Ebd.
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so, wie Gehmacher sich selbst nur als fragmentierte Vielheit begegnen kann, stellt auch die Begegnung mit dem Bühnenpartner den Abstand zwischen ihnen heraus.
3.2.
Der Abstand im Kontakt
Der im Halbdunkel liegende weitläufige Bühnenbereich des Saals des Kasinos am Schwarzenbergplatz mit seinen Pilastern, Marmorverkleidungen, Stuckund Goldornamenten sieht aus, als wäre hier eine Installation aus Holzskulpturen eingerichtet.60 Zwei der Konstruktionen sehen aus wie einfache, verschieden große Schranken. Eine weist als Überkreuzung dreier gleichlanger Streben deutliche Ähnlichkeit mit einer Panzersperre, einem sogenannten ›Panzerigel‹ auf, was auf die jahrzehntelange Nutzung des Wiener Gebäudes als Militärkasino verweist, von der auch der heutige Name des vom Burgtheater als Spielstätte und Probebühne betriebenen Neorenaissancebaus zeugt, der in der Zeit der K.u.k.-Monarchie als Wohnsitz eines Bruders des Kaisers gebaut wurde. Noch heute teilt sich das Theater das ehemalige Palais mit dem Neustädter Offiziersverein.61 Über den Schranken liegt eine hell schimmernde Steppdecke ausgebreitet, die vielleicht zehnmal so groß ist wie eine gewöhnliche Bettdecke und damit die Dimensionen des meterhohen Saals, seiner Portale und der beiden Statuen halbnackter Frauen, die sich als weibliche Atlanten oben aus zwei Pilastern hervorbeugen, aufgreift. Das von Vladimir Miller entwickelte Inventar des Stücks arbeitet mit einer homogenen Farbgestaltung, die die gräulich-sandfarbenen Töne des Raumes aufgreift, grauer Tanzboden, unbehandeltes Holz, verschiedene Grautöne, unter die sich später auch die Kostüm-, Haar- und Hautfarben der beiden Performer mischen werden. Die mit Schnitzereien verzierten Doppeltüren sind ebenfalls gräulich verkleidet, sodass sie den nur halb so hohen und weit profaneren Türen daneben, über denen eine Notausgangslampe grün leuchtet, gleichen und der repräsentativen Innenarchitektur noch etwas mehr Patina auftragen. Die Bühnenfläche beginnt ohne weitere Abgrenzung dort, wo die Stuhlreihen
60
61
Obwohl ich live nur eine Aufführung bei PACT Zollverein gesehen habe, beziehe ich mich bei der Beschreibung des Raums auf den Ort der Uraufführung, da die Szenographie meiner Meinung nach eine gewisse Ortsspezifik hat. Vgl. https://www.burgtheater.at/kasino-am-schwarzenbergplatz vom August 2020.
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der Publikumstribüne enden, und wird von unterschiedlich großen Wandvorsprüngen in den hinteren Ecken verschmälert. Nachdem das heller und heller werdende Scheinwerferlicht von oben mehr und mehr Details hat sichtbar werden lassen, treten Philipp Gehmacher und Jack Hauser nacheinander durch eine der niedrigen Türen auf, die Stoffe und Graublautöne ihrer Kleidung aufeinander und auf das Bühnenbild abgestimmt.62 Unmittelbar darauf ertönt aus einem nicht zu sehenden Soundsystem ein musikalischer Willkommensgruß. Eine aufsteigende Tonfolge kräftiger Blasinstrumente und sich daran emporschlängelnder Flötentöne empfängt die beiden. Das Pathos dieser romantischen Ouvertüre, ein kurzer Abschnitt aus Franz Schuberts neunter Symphonie, wird schnell dadurch ad absurdum geführt, dass eigentlich nur zwei bis drei Takte, unzählbare Male geloopt, zu hören sind, was diese gleichzeitig betont und zunehmend verfremdet. Kontrastiert wird der feierliche Auftakt der Musik auch durch die suchenden Blicke und unprätentiösen ersten Schritte Gehmachers und Hausers, mit denen sie umhergehen und sich, jeder für sich, so genau umblicken, als beträten sie diesen Ort zum ersten Mal. Hauser schaut hinüber zu Gehmacher, der mit sich selbst beschäftigt ist, und begibt sich nun langsam über einen Umweg hinter der Schranke entlang in die Nähe von Gehmacher und kommt zum Sitzen. Er kniet erst einfach nur da und schaut immer wieder zu Gehmacher, der, auf dem Boden ruckelnd mit seinen Armen hantierend, in kleinen Verschiebungen seiner Beine und Drehungen seines Oberkörpers Beugungen variiert. Hauser nimmt eine ähnliche Position ein wie Gehmacher kurz zuvor: auf dem Bauch liegend auf die Ellenbogen gestützt, das Handgelenk des einen Arms mit der anderen Hand umfassend, die Knie seitlich angewinkelt. Er hält inne, guckt zu Boden, rollt sich auf die Seite und bleibt so, noch immer den einen Arm haltend, nahezu regungslos liegen, was besonders im Vergleich zu Gehmachers zwar stockenden, aber doch kontinuierlichen Bewegungsabläufen auffällt. Gehmacher beobachtet ihn kurz, dem Publikum den Rücken zuwendend, steht dann auf und watschelt davon. So wie hier erkunden sie die Bühnenlandschaft in Schlenkern bis in die schattigen hinteren Ecken hinein und zwischen den Holzskulpturen hindurch, in deren Mitte die riesige Decke liegt wie ein See. Als beider Wege sie
62
Die Ausstattung wurde von Lila John vorgenommen; für das Licht zeichnete Jan Maertens verantwortlich. Für weitere Details zur Produktion vgl. das Werkverzeichnis.
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nach ganz hinten vor eins der Portale verschlagen, ist die Kreuzung ihrer Blicke nahezu unvermeidlich. Einander zugewandt bleiben die beiden dort mit etwa einem Meter Abstand zum jeweils anderen stehen, jeder leicht schräg zum Publikum. Gehmacher streckt die herabhängenden Arme und hebt sie leicht an. Hauser tut es ihm gleich. Gehmacher winkelt die Unterarme nach vorne an, Hauser auch. Beide wiederholen diese Abfolge, dieses Mal heben sie die Arme etwas höher. Indem Gehmachers Fingerspitzen sich vor seiner Brust berühren, formen seine Hände und Unterarme zwei Schenkel eines Dreiecks, das er nun isoliert auf eine Seite kippt, indem er einen Unterarm in die Waagerechte bringt. Hauser spiegelt dies. Gehmacher nimmt kurz Abstand, bevor er zurückkommt und ihr Spiel von Neuem beginnt. Mit ausgestreckten Armen nähert Gehmacher sich Hauser, bis sich ihre Hände gerade noch nicht berühren, und dreht sich dann fast parallel zu ihm. Sie blicken ins Publikum und strecken jeder einen Arm nach oben. Hauser reckt sich, als wolle er sich melden, und stützt den Arm in der Achselhöhle mit der anderen Hand. Nun ist Gehmacher an der Reihe, es ihm gleichzutun. Sie schauen jeder zwischen ihren beiden Armen entlang in Richtung Decke, um anschließend die bisherige gemeinsame Abfolge erst gespiegelt, dann parallel erneut auszuführen. Später führen sie noch mehr solcher kurzen Studien aus. Einmal stehen beide im Vierfüßlerstand nah beieinander und heben immer wieder beide Hände gleichzeitig vom Boden, ohne das Gewicht nach hinten zu verlagern, sodass ihre Hände schnell wieder auf den Boden aufklatschen. Diese Szenen rücken sie in einen Vergleich, den auch ihre sich in Größe, Statur, Kleidung und Frisur erstaunlich ähnlichen Erscheinungen anregen, was Assoziationen zu einem Vater-Sohn-Verhältnis oder zwei verschieden alten Versionen derselben Person weckt. Gerade diese Ähnlichkeiten verweisen auf die Unterschiedlichkeiten ihrer Bewegungen: Vor allem lässt Hauser die vielen Mikrobewegungen, die bei Gehmacher speziell an Armen, Händen und Fingern zu beobachten sind, aus; womit zu tun haben könnte, dass sich bei ihm, anders als bei Gehmacher, nach einer Weile keine Schweißtropfen auf seiner Stirn, keine nassen Flecken auf dem Stoff über den Achselhöhlen bemerkbar machen. Erneut setzt Musik ein. Diesmal die ersten Takte von Franz Schuberts als Die Unvollendete bekannter Sinfonie in h-Moll. Eine kurzes einstimmiges, etwas düsteres Motiv von Kontrabässen und Celli. Das Prinzip ist dasselbe wie zu Beginn: dieselben wenigen Töne wiederholen sich immer wieder. Wie von der Musik herangeholt, geht Gehmacher zu Hauser, streckt von hinten
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Abbildung 7: Solo with Jack im Kasino am Schwarzenbergplatz: Philipp Gehmacher, Jack Hauser (v.l.n.r.)
Foto: Eva Würdinger
seine Arme durch den Bogen, den Hausers Arme gerade über dem eigenen Kopf bilden, und reicht sich so wie dieser selbst die Hände. So miteinander verhakt sind sie sich körperlich so nahe wie bisher im Stück noch nie. Dann lösen sie ihre Hände voneinander und treten ein wenig auseinander, wobei zwei ihrer zueinander ausgestreckten Arme sich weiter berühren, indem der eine auf dem anderen aufliegt. Gehmacher löst die Berührung kurz ganz und berührt, als er sich Hauser wieder nähert, dessen Fingerspitzen am nach wie vor ausgestreckten Arm so leicht wie nur möglich mit den eigenen Fingerspitzen. Haben sich unmittelbar zuvor schon beider Arme berührt, ist mit dieser zarten Begegnung zweier Hände eine andere Berührungsqualität zu sehen. Diesem vielleicht minimalsten Kontakt, der zwischen Fingerspitzen möglich ist, folgen weitere Berührungen, die nicht ganz so behutsam sind wie dieses erste Anfassen.63 Währenddessen blicken sie sich weniger an als bei den synchronen Bewegungen zuvor. Nach der Interaktion über Blicke erproben sie
63
Vgl. zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit Phänomen und Thema der Berührung in Philipp Gehmachers Arbeit, insbes. in the fault lines (2011) von Gehmacher, Vladimir Miller und Meg Stuart: Gerko Egert: Berührungen. Bewegung, Relation und Affekt im zeitgenössischen Tanz. Bielefeld 2016, S. 38ff.
3 Philipp Gehmachers Solo with Jack
nun eine über Berührungen. Hauser legt seinen Arm auf Gehmachers Schulter, Gehmacher legt im Sitzen den Kopf aus Hausers Oberschenkel. Gehmacher beschreibt solche Annäherungen anhand von Labans Konzept der »Kinesphäre«.64 So nennt Laban den Bewegungsbereich, der von einem bestimmten Standpunkt aus mit den Gliedmaßen erreicht werden kann: »Wir müssen unterscheiden zwischen Raum im allgemeinen und dem Raum in der Reichweite des Körpers. Um letzteren vom allgemeinen Raum zu unterscheiden, werden wir ihn persönlichen Raum oder ›Kinesphäre‹ nennen. Die Kinesphäre ist die Raumkugel um den Körper, deren Peripherie mit locker gestreckten Gliedmaßen erreicht werden kann, ohne daß man den Platz verläßt, der beim Stand auf einem Fuß als Unterstützungspunkt dient; diesen werden wir ›Standort‹ nennen. Wir können nun an der äußeren Begrenzung dieser vorgestellten Kugel mit unseren Füßen wie mit unseren Händen entlangfahren. […] Außerhalb der Kinesphäre liegt der übrige Raum«.65 Einerseits bedeutet dieses Konzept für Gehmacher, dass Körper nicht einfach an der Hautoberfläche oder dem äußeren Ende der Gliedmaßen aufhören: »Der Körper erweitert sich in alle Richtungen; er hört entsprechend nicht am Ende der Gliedmaßen auf, sondern erweitert sich in die Kinesphäre hinein.«66 So betrachtet, findet schon lange vor dem ersten Hautkontakt Hausers und Gehmachers eine Berührung und Überschneidung ihrer Kinesphären statt. Andererseits konstituiert die Kinesphäre für Gehmacher aber auch eine Grenze: »ich komme darüber nicht hinaus, denn ich bin eben hier drinnen, bei mir und in mir«,67 aber immer schon im Bewusstsein der Konstitution dieses »drinnen[s]«68 durch ein »außen«69 anderer. Auch Jacques Derrida ist der Meinung, dass die Erfahrung einer Berührung die Erfahrung einer »Gren-
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67 68 69
Laban: Choreutik, S. 21. Ebd. Stamer: »›Die Hinterlassenschaften von Zetteln…‹«, S. 20. Vgl. dazu auch Gehmachers Erwähnung eines »laban-kontinuum[s], das mir aus collegezeiten geblieben ist: ›from public to social to personal to intimate‹«, dessen Reihenfolge er im Titel seines Aufsatzes verkehrt: Gehmacher: »Vom Ich zum Anderen zur Gruppe zum Stück«, S. 36. Kleingeschrieben i.O. Vgl. zu verschiedenen soziologischen Konzepten solcher Körperräume Gebauer/Wulf: Spiel – Ritual – Geste, S. 90ff. Ebd. S. 29. Kleingeschrieben i.O. Ebd. Kleingeschrieben i.O. Ebd. Kleingeschrieben i.O.
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ze«70 ist. Als Abstand im Kontakt mache die Berührung auf eine Differenz aufmerksam, erklärt er, Nancys Figur der Synkope erneut aufgreifend.71 Hauser, der nach der Interaktion mit Gehmacher wieder hinter dessen Solo zurückritt, verlässt nach einer Weile sogar die Bühne und schaut von der ersten Stuhlreihe aus weiter zu. Gehmacher zieht sich nun im Liegen die Hose aus. Sein Hemd entpuppt sich als Teil eines Overalls – Mode, Arbeitsoder Schlafkleidung, besonders in Kombination mit der bislang seltsam unbeachtet herumliegenden übergroßen Decke, auf die Gehmacher sich kurz legt.
Abbildung 8: Solo with Jack im Kasino am Schwarzenbergplatz: Philipp Gehmacher
Foto: Eva Würdinger
Gehmacher wandert in Richtung einer Skulptur, streckt immer wieder die Arme von den Schultern an seitlich und nach vorne und nach hinten aus, so als wolle er die drei sich überkreuzenden Holzbalken so nachempfinden wie vorher die Figurationen Jack Hausers. Wieder erklingt eine geloopte Melodie; es ist dieselbe wie am Anfang. Dieses Mal unterläuft Gehmacher sie nicht, sondern reagiert stärker auf sie. Torkelnd, taumelnd, tapsend beginnt er, auf 70
71
Derrida: Berühren, S. 202. Er will sich damit von der Annahme der unmittelbaren Berührbarkeit einer vermeintlichen Einheit, die er als »Haptozentrismus« bezeichnet, absetzen. Ebd. Vgl. ebd. S. 249.
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unregelmäßigen, unvorhersehbaren Wegen in verschiedene Richtungen und in verschiedenen Tempi umherzulaufen. Das Licht aus den Scheinwerfern an der Decke wird dunkler und einzelne Neonröhren, die rechts hinten liegen, leuchten langsam immer stärker. Orange wie eine tiefstehende Sonne scheinen sie zu Gehmacher und ins Publikum und werfen neue Lichtreflexe auf die schimmernde Decke. In der eingetretenen Stille langsam auf das Publikum zugehend, beide Arme zu den Seiten anhebend, beginnt Gehmacher zu sprechen. Abwechselnd sich selbst, vor allem seine Arme und sein Publikum anblickend, läuft Gehmacher mit den Armen schlenkernd im Raum umher. Er nuschelt ein wenig, manchmal geht ein Wort in den von seinen Bewegungen hervorgerufenen Geräuschen unter, was seinen vereinzelten Aussagen über die Sehnsucht danach, Teil von etwas zu sein oder an etwas glauben zu können, von denen er sich durch Satzanfänge wie »someone said«, »he said« oder »she said«72 distanziert, keine große Wichtigkeit beimisst. Er führt seine Stimme nicht nach unten, um Sätze zu beenden, lässt ohnehin viele Pausen zwischen den einzelnen Worten, reiht höchstens mal zwei oder drei aneinander. Etwas Gelächter kommt auf, als Gehmacher zur großen Decke stolpert und hoffnungsvoll und trotzig-resigniert zugleich ausspricht: »There must be other languages out there«, womit er vom solipsistischen Zweifel an der Existenz der Außenwelt bis zu Pink Floyds Is there anybody out there? ein Konvolut von Thematisierungen eines undefinierten (Dr)außens aufruft, sei es des Ichs, der Sprache, der Kinesphäre oder unseres Planeten. Das Scheinwerferlicht von oben ist so gedämpft, dass eine abendliche Stimmung entsteht, in der die Farben immer mehr verblassen, nur kontrastiert vom gleißenden Schein der Neonröhren. Der in diesem Szenario umherwankende Gehmacher spricht, leicht außer Atem: »And you find yourself, walking onto the street, saying, I am ready to join«; er tritt einen entschiedenen Schritt vor und hebt beide Arme, als würde er ein Plakat hochhalten. Ein anhaltendes Rattern und Rauschen erklingt; Gehmacher torkelt nun, immer schneller, auf der ganzen Bühne umher, seine Bewegungen durchzucken nicht mehr nur seine Arme und Beine. Er rennt vorwärts und rückwärts, seine Worte sind, obwohl er gegen den Lärm anzusprechen versucht, kaum noch zu verstehen. Das Rattern stoppt, klingt in einem Dröhnen nach, auch Gehmacher kommt, so weit es geht, zur Ruhe. Black. 72
Ich zitiere aus der Aufzeichnung der Aufführung im Kasino am Schwarzenbergplatz. Gehmachers Text beinhaltet Zitate von Adele, Franz Kafka, Chris Marker und Wolfgang Tillmans.
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In Solo with Jack wird Bewegung nicht nur im Sinne körperlicher, sondern auch politischer Bewegung verstanden. Problematische Anklänge einer Gemeinschaft »jenseits der Einzelnen«,73 wie sie in Heideggers Konzept des Mitseins enthalten sind, werden in den Überhöhungen von Musik und Architektur und zuletzt in Gehmachers Zitaten aufgerufen. Und dann wieder ausgehöhlt durch Gehmachers und Hausers Begegnungen miteinander, die die uneinholbare Alterität des anderen wie des eigenen Selbst und Körpers/Leibs vor Augen führen.
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Nancy: Singulär plural sein, S. 155. Vgl. Kapitel 1.2.2.
4. Ioannis Mandafounis', Mikael Marklunds und Roberta Moscas Soli nach einer Idee von Laurent Chétouane Dezentrales Choreographieren
Das Stück Soli von Laurent Chétouane, Jan Maertens, Ioannis Mandafounis, Mikael Marklund und Roberta Mosca wurde im September 2015 im Antwerpener Kunstzentrum deSingel uraufgeführt. Es zeigt die Choreographien dreier Soli, die nebeneinander und miteinander entwickelt wurden und werden. Das werde ich erst beschreiben, bevor ich darauf eingehe, dass das in den Aufführungen passierende Denken von Mandafounis, Marklund und Mosca als choreographisches Finden von Bewegungen verstanden werden kann. Die in Kapitel 2 untersuchte Methode der mitdenkenden und voneinander abhängigen Wiederholung einer Choreographie wurde hier zu einem gemeinsamen Weiterschreiben dreier einzelner, aber voneinander abhängiger Choreographien fortentwickelt.
4.1.
Ein Ensemble von Soli
Das Licht ist schon da. Es begrüßt die Zuschauenden, wenn sie durch einen der Bühne gegenüberliegenden Eingang hereinkommen. Die breite, durch die ansteigenden Sitzreihen des Publikums begrenzte Bühnenfläche ist so gut wie leer, sodass die an der Bühnenrückwand mittig angebrachte Lichtinstallation von Jan Maertens gleich ins Auge fällt: Fünf unterschiedlich lange Vertikalen aus je mehreren Neonröhren sind auf der grauen Betonsteinmauer der Innenwände des großen Saals des tanzhaus nrw angebracht; der
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Denken im Tanz
schwarze Tanzboden spiegelt sie matt.1 Eine weitere Reihe der Röhren verläuft links außen über den Boden. Die beiden Lichtskulpturen erhellen den Raum nur schwach. Als Ioannis Mandafounis, Mikael Marklund und Roberta Mosca nacheinander im Halbdunkel sichtbar werden, lässt sich nicht definitiv sagen, ob sie gerade erst den Raum betreten oder schon während des Einlasses am Rande der Bühnenfläche gewartet haben. Die Beiläufigkeit ihres Erscheinens korreliert mit der Nebensächlichkeit ihrer Kleidung. Die sieht nämlich aus, als wäre die einzige Absprache, wenn es überhaupt eine gab, gewesen, dass alle drei anziehen, was sie möchten: Marklund und Mandafounis haben Trainingshosen an, der blonde Marklund dazu eine blaue Sweatjacke mit Kapuze, der brünette Mandafounis ein langärmeliges grüngraues Shirt. Mosca ist etwas weniger sportlich gekleidet, sie trägt die langen braunen Haare offen und ein Outfit aus dunkelgrauer Skinny-Jeans und hellgrauem Wollpullover. Sie und Marklund laufen barfuß, Mandafounis trägt Ringelsocken. Diese Alltäglichkeit, kombiniert mit Langsamkeit und Konzentration kennzeichnet auch den weiteren Verlauf des Stücks. Mandafounis, Marklund und Mosca gehen im hinteren Bühnenbereich ziemlich zielstrebig, weder langsam noch schnell, weder nah beieinander noch weit voneinander entfernt, auf das zentrale Arrangement der unterschiedlich stark glimmenden Neonröhren zu und schlagen von hier aus, ohne zu zögern, drei von den Lichtstreifen aus in den Raum hineinführende Bahnen ein, jede*r für sich. Sie gehen in die Knie, beugen Oberkörper vor, strecken ein Bein oder einen Arm aus, gehen und laufen vorwärts und rückwärts, drehen sich um die eigene Achse, machen vereinzelte kurze Sprünge oder legen, hocken, setzen sich auf den Boden, um dort ihre ruhigen Bewegungsfolgen fortzuführen. Schon nach kurzer Zeit verliere ich den Überblick über den Verlauf ihrer sich überkreuzenden und aufeinandertreffenden Wege, weil ich keine Systematik darin erkenne. Es macht den Anschein, als hätten die drei zu Beginn einen ungefähren Plan verfolgt, der bald von mal kaum merklichen, mal längeren Pausen unterbrochen wird. Momente des Innehaltens, in denen es vor allem darum zu gehen scheint, den Beginn 1
Ich berufe mich auf die Aufführung am 4.12.2015 im tanzhaus nrw in Düsseldorf sowie auf Aufzeichnungen der Aufführungen im Kunstzentrum deSingel in Antwerpen vom 27.9.2015 und aus Düsseldorf vom 4.12.2015. Einen Arbeitsstand meines Untersuchens der Soli bildet folgende Vortragspublikation ab: Otto: »Penser ensemble en danse. Descartes, Arendt, Chétouane«, übers. v. Eliane Beaufils, in: dies./Alix de Morant (Hg.): Scènes en partage. L’être ensemble dans les arts performatifs. Montpellier 2018, S. 167-177.
4 Soli nach einer Idee von Laurent Chétouane
der nächsten Bewegung zu finden. Das kann in allen möglichen Figurationen passieren: mal in einer Dreierkonstellation, mal bei einer oder einem alleine, mal im Stehen, mal im Sitzen. Gerade dann sind die drei so sehr jeweils mit sich selbst oder miteinander beschäftigt, dass das dem Publikum gegenüber manchmal etwas hermetisch wirken kann.
Abbildung 9: Soli im deSingel: Ioannis Mandafounis, Mikael Marklund, Roberta Mosca (v.l.n.r.)
Foto: Benoîte Fanton
Bald interagieren sie achtsam und besonnen miteinander. Einem Aufeinandertreffen von zweien schaut die dritte Person mal zu, mal reagiert sie von Weitem, mal nähert sie sich dem Paar, mal wirkt sie uninteressiert daran und weitestgehend unabhängig davon. Beispielsweise begegnen sich in einer Sequenz Roberta Mosca und Ioannis Mandafounis am Boden. Mosca führt die Gliedmaßen des sitzenden Mandafounis durch die Luft, Marklund beobachtet dies und formt mit seinen Armen und Beugungen von Rumpf und Beinen die Figurationen der beiden nach. In einer anderen Sequenz hat Mosca sich mit ausgebreiteten Armen, die ihren Oberkörper zuvor in unterschiedliche Richtungen zogen, zum Sitzen herabgelassen. Kniend stoppt sie kurz, legt die Arme nicht ganz ab, der gerade noch zurückgelehnte Oberkörper ist noch immer gespannt. Marklund und Mandafounis betrachten die ihnen den Rücken zukehrende Mosca. Marklund beugt sich in ihre Richtung, folgt der Gewichtsverlagerung mit zwei Schritten
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und macht dabei eine Kehrtwende, sodass er jetzt Mandafounis gegenübersteht. Er dreht sich auf der Stelle, die Arme mitschwingend. Mandafounis tritt nah an ihn heran, Marklund zögert kurz und lässt sich dann rücklings in Mandafounis’ Arme sinken, während Mosca hinter ihnen sich mit Schwung wieder aufgestellt hat, ohne das wachsame Tragen ihrer Arme aufzugeben. Nach einem kurzen Blick aus dem Augenwinkel zu den beiden anderen arbeitet sie eine Spur vom Publikum zur Bühnenrückwand heraus, langsam rückwärts und später wieder vorwärts gehend, mit den Armen immer wieder in einer rudernden Abfolge nach vorne weisend und nach hinten ziehend. Mandafounis und Marklund fassen sich an den Händen und verweilen so für einen Moment. Marklund lehnt sich noch mehr gegen Mandafounis’ Brust. Der zieht ihn ein Stück zu sich, um ihn dann wieder auf die eigenen Füße zu stellen, woran Marklund sich mit einem Schritt vorwärts beteiligt. Sie lösen ihre miteinander verschränkten Hände in einer Drehung, einer unter den Armen des anderen hindurch, wie in einem Gesellschaftstanz. Marklund hebt eine Hand vor seine Augen und unterbricht so den Blickkontakt zu Mandafounis. Er zieht die andere Hand nach und dreht sich, die angewinkelten Arme auseinanderführend als wären sie Flügel, bis er zu Mandafounis auf seiner einen und Mosca auf seiner anderen Seite zeigt. Er lässt den linken Arm fallen und folgt dem eigenen Fingerzeig des rechten Arms zu Mosca. Mandafounis wendet sich ab, tritt ins Dunkel des Bühnenrands und kommt von dort Marklund wieder ein paar Schritte näher. Diesem wiederum ist Mosca entgegengekommen. Sie beugen sich zueinander und lehnen sich gleich wieder zurück; dann greift sie seine Drehungen auf, aber nicht deren Gleichmäßigkeit. Sie beschleunigt und verlangsamt wieder, wartet kurz und schaut sich an, wie Marklund die Arme nach vorne schwingt, den Oberkörper folgen lässt und schließlich ein Bein waagerecht nach hinten anhebt. Sie schließt dem eine ähnliche Figuration in eine andere Richtung an, geht in die Knie; Marklund hockt sich zu ihr. Beide halten hier inne und blicken zu Mandafounis. Der hatte auf ihre Begegnung erst mit einer Krümmung des Oberkörpers reagiert und sich mit einigen die Beine überkreuzenden Schritten weiter entfernt. Nun steht er einige Meter weit weg von den beiden anderen. Er hält die einander umfassenden Hände auf Brusthöhe und blickt auf seine Hände herab. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Mundwinkel, er krümmt den oberen Rücken und hebt ein Bein nach vorne, dann führt er die immer noch verschränkten Hände über den Kopf und beugt sich nach hinten. Mosca hat sich in der Zwischenzeit Marklunds Hand gegriffen und ihn nach oben gezogen; er ihr dann seine Hand sanft auf ihren Hinterkopf gelegt und sie so an sich vor-
4 Soli nach einer Idee von Laurent Chétouane
beigeschoben. Sie dreht sich unter ihrer beider sich haltenden Händen hindurch, fasst auch Marklunds andere Hand und führt ihn über Kreuzungen der beiden gehaltenen Hände zu Mandafounis, wo sich aller drei erhobene Arme treffen. Marklund lässt Moscas eine Hand los, Mandafounis übernimmt; sie drehen sich zu dritt, erst auseinander, dann wieder zueinander, lehnen sich aneinander und gegeneinander.
Abbildung 10: Soli im deSingel: Roberta Mosca, Ioannis Mandafounis, Mikael Marklund (v.l.n.r.)
Foto: Benoîte Fanton
Mosca scheint es sich anders zu überlegen. Sie richtet sich auf, verlagert das ganze Gewicht wieder auf die eigenen Beine und unterstreicht dies durch zwei kurze, aber bestimmte Hüpfer. Dann nimmt sie sich Marklunds Hand und wird so in Marklunds Wendung um den inzwischen den Oberkörper herabhängen lassenden Mandafounis gezogen. Mosca führt Marklund langsam weiter, bis der sich auf Mandafounis’ gerundeten Rücken legt. Mandafounis
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hält Marklund, der nur noch mit den Zehenspitzen den Boden berührt, mit einem Arm fest, begradigt den Rücken, streckt sich in eine Arabesque und richtet sich so lange weiter auf, bis Marklund in den Stand kommt. Hier lehnt Mandafounis sich an den gerade noch von ihm Getragenen und lässt sich von ihm halten. Mosca hat die beiden währenddessen umkreist, beugt sich nun nach vorne, rahmt mit ihren Armen und der Beugung ihres gesamten Körpers die Gestalt der beiden anderen, streckt einen Arm nach vorne in Richtung einer Ecke, zieht ihn nach oben und erhebt sich so. Mandafounis fasst sie unter den ausgebreiteten Armen und zieht sie mit sich in einigen Umdrehungen weg von Marklund, der ihr Kreisen auf einer größeren Bahn umschreibt und sich dann rücklings auf den Boden legt. Mandafounis geht in eine Bauchlage, Mosca wechselt noch kurz zwischen Hocken und Stehen und legt sich dann auch auf den Rücken. So wie sich ihr Tanzen, wie gerade beschrieben, unregelmäßig miteinander verknotet und verflicht, zerstreut es sich – vor allem in der zweiten Hälfte des Stücks – in die Weite des Bühnenraumes. Die Lichtsäulen leuchten nur noch ganz blass kalt-bläulich, was sich mit dem rosigen Leuchten aus Glühbirnen von rechts mischt. Die oft erst im Nachhinein auffallenden Veränderungen des Lichts werden von einem Pult hinter dem Publikum nach einer vorab entwickelten Abfolge von Jan Maertens, der selbst nicht anwesend ist, zwar aus dem Off gesteuert; die Lichtskulpturen selbst aber beleuchten das Geschehen nicht nur, sondern sind starke szenographische Setzungen. Nun treten die Abstände zwischen den drei Tanzenden mehr hervor als sie selbst und ihre Interaktionen. Es sind auch Soli im geläufigen Wortsinn zu sehen: Erst tanzt Marklund eine Weile alleine, später Mandafounis, zuletzt Mosca; die jeweils anderen beiden ziehen sich solange vereinzelt an die Bühnenränder zurück. Das Stück Soli führt zwei vorab entwickelte Soli zusammen: Der Kollaboration von Chétouane, Mandafounis, Marklund und Mosca gingen das von Marklund und Chétouane erarbeitete Solo O (2012) und das von Mosca und Chétouane erarbeitete Solo with R/Perspective(s) (2014) voraus.2 Zu Beginn der Produktion von Soli fand eine gemeinsame Probenzeit von Mandafounis und Chétouane ohne die beiden anderen statt.3 Darauf,
2 3
Vgl. zu Details das Werkverzeichnis. Vgl. dazu, welches Verständnis von Bewegung, Choreographie und der Rolle der Tänzer*innen Teil dieser Probenprozesse waren, Kapitel 4.2. Vgl. für einen Einblick in den Ablauf der Probenarbeit zu zweit Laurent Chétouane und Roberta Mosca bei der
4 Soli nach einer Idee von Laurent Chétouane
dass die drei Persönlichkeiten einander mit ihren je eigenen Bewegungsgewohnheiten und -vorlieben begegnen können, legt Chétouanes Konzept für das Stück einen Schwerpunkt. Augenscheinlich greifen die drei Tanzenden nicht auf ein gemeinsames Bewegungsvokabular zurück. Im Vergleich miteinander treten je spezifische Eigenheiten ihrer Bewegungen hervor, die sich teilweise auf die Einflüsse unterschiedlicher Arbeitszusammenhänge zurückführen lassen.4 Beispielsweise erinnern Roberta Moscas asymmetrische und uneinheitliche Bewegungen an ihr langjähriges Training als Mitglied der Forsythe Company: Richtungen und Spannungen setzen sich nicht fort, sondern werden unterbrochen. Dass der linke Arm in die Luft gestreckt ist, kann heißen, dass der rechte schlapp herunterbaumelt. Sie knickt, krümmt und rotiert einzelne Körperteile aus den Gelenkscharnieren, in der Hüfte, am Hals, an Ellenbogen und Knien, in den Hand- und Fuß-, Finger- und Zehengelenken; sie dreht sich im Bereich der Wirbelsäule, sodass beispielsweise die Schulterpartie in eine andere Richtung zeigt als die Hüftpartie. Sowohl in stehenden, als auch in liegenden, als auch in sitzenden Prozessen hält sie viel Kontakt zum Boden. Ioannis Mandafounis formt sich im Vergleich dazu in gleichmäßiger An- oder Entspannung zu langen Linien, oft neigt er den Oberkörper nach vorne, geht in die Hocke oder führt einen Ausfallschritt nach hinten aus. Er agiert aus einer aufrechteren Körperhaltung. Vieles wirkt sportlichspielerisch. Manchmal rennt er einfach ein paar Meter. Er hüpft geräuschvoll, schnipst mit den Fingern oder schlägt sich mit den Handflächen auf die Seiten der Oberschenkel. Besonders im Vergleich zu den zart und zerbrechlich aussehenden Bewegungen Mikael Marklunds sind seine Bewegungen kraftvoll und entschieden. Marklund wiederum tanzt fließender als die beiden anderen. Seine Hände hängen des Öfteren kaum angespannt herab.
4
Biennale Danza 2014 im Interview, Video, https://www.youtube.com/watch?v=ssVEAdRIuEk vom August 2020. Jenny Roche legt dar, dass die Kenntnisse und Fähigkeiten der in den Produktionszusammenhängen der zeitgenössischen Tanzszene arbeitenden Tänzer*innen weniger von dem in ihrer Ausbildung Erlernten als von wechselnden Arbeitszusammenhängen geprägt sind. Roche sieht dies als multiple, sich im stetigen Wandel befindliche Körperidentitäten, die sie positiv gegenüber dem, was sie den kolonisierten Körper des Balletts und der Moderne nennt, abhebt. Vgl. Jenny Roche: »Embodying multiplicity: the independent contemporary dancer’s moving identity«, in: Research in Dance Education 12 (2011), S. 105-118. Viele Tänzer*innen und Choreograph*innen sehnen sich allerdings nach kontinuierlicheren Arbeitszusammenhängen und einer Kulturfinanzierung, die es ermöglicht, längerfristige Strukturen zu etablieren.
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So leicht und zart die Berührungen seiner Finger aussehen, berühren auch beim Laufen, in federnden Sprüngen, einem schwingenden Seitgalopp oder Drehungen oft nur seine Zehenspitzen den Boden. Er scheint am wenigsten muskuläre Spannung aufzuwenden, sondern eher mit sanftem Schwung zu arbeiten, was immer mal wieder daran erinnert, dass Marklund, bevor er begann, als freischaffender Tänzer mit Laurent Chétouane zu arbeiten, in Brüssel bei PARTS studierte und danach Mitglied von Anne Teresa De Keersmaekers Compagnie ROSAS war. Weit mehr als Mandafounis nutzt er sein Bewegungsspektrum zu den Seiten, besonders mit den oft ausgebreiteten Armen. Der Fluss einzelner Bewegungssequenzen betont mehr noch als bei den anderen die immer wieder auftretenden Unterbrechungen, in denen er abwartet oder überlegt. Mandafounis, Marklund und Mosca verbindet in den Aufführungen weder eine gemeinsame Bewegungssprache noch eine langjährige Zusammenarbeit, noch die Kenntnis des räumlichen und zeitlichen Plans der Choreographie der Soli. Es sind weder drei einzelne Soli zu sehen, die sich auch getrennt voneinander aufführen ließen, noch ist eine sich durch Raum und Zeit entwickelnde Gesamtkonstellation erkennbar. Mein anfänglicher leiser Zweifel, ob die angekündigte räumliche und zeitliche Überlagerung der einzelnen Soli nicht eher eine konzeptuelle Behauptung sei, die in der konkreten Ausführung nicht mehr von einem Trio zu unterscheiden wäre, wird schnell davon entkräftet, dass sich die drei Tänze wirklich nur selten zu einem zusammenfügen. Konsequent, dass es auch keine Musik und keinen Sound gibt, die sie auf der akustischen Ebene verbinden. Es passiert eine Begegnung, die von Mitgebrachtem und von dem Aufeinandertreffen von nicht Vorhersehbarem gleichermaßen in ihrem Verlauf beeinflusst wird. Gerade diese Grundidee des Stücks ist es, die ein Mitdenken der drei Tanzenden im Sinne eines Vernehmens des Passierenden erforderlich macht, um daraus den weiteren Verlauf der drei Solo-Choreographien hervorbringen zu können.
4.2.
Improvisieren? – Relationales Choreographieren oder Denken im Tanz bei Chétouane
Die in den Soli zu beobachtenden Pausen als Innehalten – also mit dem von Philipp Gehmacher für die denkenden Unterbrechungen der Bewegungsereignisse, aber auch von Arendts Übersetzer Hermann Vetter für Arendts »stop-
4 Soli nach einer Idee von Laurent Chétouane
and-think« gewählten Wort5 – zu bezeichnen, wird von einer Aussage von Ioannis Mandafounis im Publikumsgespräch im Anschluss an die von mir besuchte Aufführung in Düsseldorf bekräftigt: »I don’t follow the first impulse«,6 erklärt Mandafounis. Er versuche, impulsive, unüberlegte Bewegungen zu vermeiden, das heißt, der spontansten und damit naheliegendsten Bewegung zu widerstehen. Mandafounis, Marklund und Mosca berichten in dem Gespräch davon, dass sich in ihren Tänzen aus der Erinnerung aktualisiertes, von Probe zu Probe angehäuftes Bewegungsmaterial sowie aus diesen und aus den Eindrücken der jeweiligen Situation neu Entwickeltes vermischten. Das Entstehende versuchten sie nicht zu beurteilen, führt Mosca aus. Damit zeigt sich in den Soli, wie ich hier abschließend zeigen will, eine Spielart der choreographischen Methode, an der Laurent Chétouane retrospektiv mindestens arbeitet, seitdem er das Sprechtheater immer häufiger verließ, um im Tanz Regie zu führen. Seine Tanzproduktionen bauen als Wegmarken einer kontinuierlichen Suche nach einer téchnē der Hervorbringung einzelner Bewegungen und deren Kombination aufeinander auf.7 Diese téchnē ist ein Versuch, sich auf der Bühne die eigene Involviertheit und Exponiertheit bewusst werden zu lassen und daraus zu spielen, zu tanzen, zu choreographieren. Relevant wurde für Chétouanes Arbeit ein Vorstellungsmodell, das darauf beruht, dass sich Möglichkeiten für die eigene Bewegung hauptsächlich aus der Konstellation der anderen Tänzer*innen ergeben. So
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Vgl. die Kapitel 3.1 und 1.2.3. Ich zitiere aus meinen Notizen aus dem von mir moderierten Publikumsgespräch mit Laurent Chétouane, Ioannis Mandafounis, Mikael Marklund und Roberta Mosca am 4.12.2015 im tanzhaus nrw. Ich greife hier erneut auf Parviainens tanzwissenschaftlichen Aufbau auf Heidegger zurück. Vgl. Kapitel 3.1. Vgl. zu verschiedenen Etappen von Chétouanes szenischer Bewegungsforschung ders.: »Zu den ›Tanzstücken‹«, http://tanz1.tanzatlasdeutschland.de/xmlui/bitstream/handle/10886/63/Chetouane_Zu %20den %20Tanzstuecken. pdf?sequence=2 vom Januar 2015; C hétouane, in Otto: »Opferung eines Werkes. Laurent Chétouane im Gespräch über sein Tanzstück ›Sacré Sacre du Printemps‹«, in: Alte Oper Frankfurt, Saison 2013/14, S. 198-202, hier S. 200 und Chétouane: »Bewegung jenseits der Verwirklichung«, in: Marita Tatari (Hg.): Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie. Zürich/Berlin 2014, S. 125-138, hier S. 126. Heike Albrecht beschreibt den Beginn von Chétouanes Arbeit als Choreograph aus ihrer Perspektive als Leiterin der Sophiensaele in der Zeit, in der dort Chétouanes erste Tanzstücke entstanden. Vgl. Heike Albrecht: »Ohne Bild. Begegnungen mit Laurent Chétouane«, in: Müller-Schöll/Otto: Unterm Blick des Fremden, S. 212-214.
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können zum Beispiel zwischen den anderen Tänzern Korridore für den möglichen Verlauf einer eigenen Bewegung entstehen. Später wurde dieses Modell so weiterentwickelt, dass die Tänzer*innen sich über den Boden verlaufende, von ihnen selbst und den anderen ausgehende Linien vorstellten, mit denen in der eigenen Bewegung gearbeitet werden konnte. Dadurch, dass die eigene Bewegung ausgehend von etwas Anderem gefunden wird, verändert sich das eigene Verhältnis zum Raum: Stelle ich mir eine Linie zwischen meinen Füßen vor, springe über diese und blicke von der einen Seite der Linie auf ihre andere Seite, so verhalte ich mich zu dieser Linie, anstatt von mir als Mittelpunkt und Zentrum des mich umgebenden Raumes auszugehen.8 Laurent Chétouane beschreibt dieses Modell als ein sich vom Raumverständnis des modernen Subjekts unterscheidendes anderes Raumverständnis. Setzt das moderne Subjekt sich selbst ins Zentrum und als Zentrum, passiert hier eine Selbstentmächtigung, die die einem selbst immer schon konstituierende Bezogenheit auf anderes akzeptiert und aktiv bewusst werden zu lassen versucht:9 »meine Wahrnehmung nimmt als Referenzpunkt diese Linie am Boden, nicht mich. Deswegen kann ich völlig entspannt vor Dir stehen: Ich bin nicht das Zentrum, das Zentrum ist da. […] Irgendwann akzeptiert man vielleicht, dass man nur ein kleiner Punkt im Universum ist.«10 Diese Methode dafür, die Wahrnehmung der eigenen Stellung im Raum und in der Welt tanzend zu relativieren, habe er in der Arbeit am Stück Considering (2015) weiterentwickelt, erklärt Chétouane an anderer Stelle: »Die Frage der Linie […] ist das, was ich im Sinne des Choreographischen weiter entdeckt habe: dass du nicht von Punkt A zu Punkt B im Raum gehst, sondern dass du gleichzeitig dort und da bist, dass du im Bewegen im Verhältnis zum Dort und Da bist. Du nimmst einen Punkt als Referenz und dieser Punkt öffnet dir einen Raum dazwischen und er ist immer von einer Linie produziert, die auf deinen Körper zuläuft. Dadurch bist du mit Punkten überall im Raum um dich herum verbunden, aber dieser Punkt ist auf einem Strahl, auf einer Linie. Du bist durchquert von dieser Linie. Du realisierst, dass es
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Vgl. zum hier Ausgeführten auch Otto, in: Müller-Schöll/Otto: »Unterm Blick des Fremden. Theaterarbeit nach Laurent Chétouane«, in: ders./dies.: Unterm Blick des Fremden, S. 9-23, hier S. 19f. Vgl. die Kapitel 1.1.2, 1.1.4 und 2. Chétouane: »Ich habe die Wände lange gebraucht, jetzt nicht mehr«, S. 313. Vgl. auch Chétouane: »Bewegung jenseits der Verwirklichung«, S. 127.
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immer Linien gibt, die durch dich hindurchgehen und woanders rauskommen. Du bist durchquert von etwas. Und die Linie kann auch Raum werden, weil es die zwei Seiten gibt, die die Linie öffnet. Du kannst dich nur in Referenz zu dieser Linie bewegen oder du arbeitest mit dem gesamten Raum, den diese Linie auf einer Seite öffnet. Es macht einen großen Unterschied für die Wahrnehmung und für die Freiheit des Performers, ob er im Verhältnis zu dem gesamten Raum ist, den diese Linie öffnet, oder ob er nur zu der Linie steht.«11 Dieses Zitat gibt einen beispielhaften kleinen Einblick in das einzelne Denken eine*r Tänzer*in in einer Produktion Chétouanes. Er beschreibt eine Art modellhafte Struktur, nach der sich die Verhältnisse im Raum aufmerksam wahrnehmen und, auf sie reagierend, umgestalten lassen. So ist es sowohl möglich, unbekannte Situationen zu vernehmen und in ihnen zu agieren, als auch in Wiederholungen von Bekannterem, weil vorab Festgelegtem, die jeweilige Aktualisierung und deren je spezifische Besonderheit zu beachten und mitzugestalten. Die Bewegung, erklärt Chétouane, müsse »von außen gerufen werden«12 und »im Moment des Tuns«13 entdeckt werden, das achtsame Vernehmen des Geschehenden dabei stets aufmerksam für ihren weiteren Verlauf bleiben: »Die Form überhaupt taucht in der Bewegung selbst auf, ohne dass ich vorher weiß, wohin es geht. Du entdeckst eine Bewegung und du entdeckst während der Bewegung, dass es diese Drehung gibt, Du kannst dich aber nicht die ganze Zeit weiter auf diese Drehung verlassen. Du musst spüren, ob plötzlich eine andere Linie kommt, die dich woandershin mitnimmt. Du bist immer auf der Kippe. Wenn du es vorher planst, kommt nichts heraus.«14 Diese Prozesse der Bewegungsfindung beschreibt Chétouane nicht als Improvisation, sondern als eine choreographische Autorschaft, bei der die Autorin oder der Autor den Einfällen nicht einfach nachgibt, sondern bedacht mit ihnen umzugehen versucht. Das also, was Mandafounis beschreibt als: nicht dem ersten Impuls zu folgen. Dafür, entwickelt Chétouane, müsse man eine Distanz
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Ebd. Ebd. S. 126. Ebd. Ebd.
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»gegenüber den ›Einfällen‹, die auf einen zukommen, bewahren. Autor sein bedeutet nicht, sich dem Überfall der Einfälle hinzugeben, sondern beim Tun aus der Distanz heraus entscheiden. Es geht letztendlich um das Gleichgewicht zwischen sich bewegen und bewegt werden. Das Gleichgewicht zwischen Inspiration und Begleitung der Inspiration, Elan und Bremse, sich fallen lassen und sich nicht dabei verlieren. […] D.h. dass der Performer nicht da ist, um etwas auszuführen (einen fertigen Text oder einen gerade entstehenden Text), sondern um den Akt des Schreibens selbst zu zeigen, d.h. immer im Übergang zu sein, zwischen einem Davor und Danach«.15 Daran, »auf der Bühne in dieser Situation der Öffnung zu sein, zu bleiben, sich zu entfalten«,16 seien gewisse »körperliche Techniken«17 beteiligt. »Mit der Öffnung zu arbeiten heißt, kein Ziel zu haben außer dem Verweilen in den Übergängen.«18 Dieser Anspruch aber beinhaltet, ähnlich wie die heideggersche Gelassenheit eine Aporie, die Hannah Arendt als »Heidegger’s Will-not-towill«19 zugespitzt hat: Er muss von der tanzenden oder performenden Person selbst willentlich angestrebt werden – und sei es nur, weil von der Instanz des Choreographen erwartet oder zumindest erhofft: »Es geht auch darum, ob ein Tänzer alleine die Disziplin bringen will, um dieser Öffnung Raum zu geben, oder ob jemand da sein muss, für den er das tut, durch den er das tut. Ich habe als Choreograph (als Regisseur auch) bezüglich dieser Fragen in den letzten Jahren ein gewisses Wissen gesammelt, und ich helfe den Performern natürlich, diese Öffnung zu entdecken. Ich begleite sie dahin, wenn sie es wollen. Idealerweise fangen sie dann ab einem gewissen Punkt an, damit alleine zu spielen, damit selbst zu kreieren, miteinander diese Form zu teilen.«20 Hier klingt eine gewisse Spannung zwischen einer Produktionsweise, die auf einer nicht unhierarchischen Aufgabenverteilung beruht, und dem Anspruch, 15
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Chétouane, in: Müller-Schöll: »›… wie dieser Blick sie inszeniert‹«, S. 243f. Vgl. auch Chétouane, in: Müller-Schöll: »›Die Suche nach dem Körper und das Drama der Präsenz. Laurent Chétouane im Gespräch mit Nikolaus Müller-Schöll«, in: Stefan Tigges/Katharina Pewny/Evelyn Deutsch-Schreiner (Hg.): Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungsund Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance. Bielefeld 2010, S. 437- 455, hier S. 451. Chétouane, in: Müller-Schöll: »›… wie dieser Blick sie inszeniert‹«, S. 244. Ebd. Ebd. Arendt: Willing, S. 172/Vom Leben des Geistes, S. 400. Chétouane, in: Müller-Schöll: »›… wie dieser Blick sie inszeniert‹«, S. 240f.
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dass die Tänzer*innen auf der Bühne sehr eigenverantwortlich und verantwortungsbewusst (aber gemäß der Idee oder des Wunschs des Choreographen) agieren, an. Ich will der Arbeitsweise Chétouanes mit dieser Beobachtung aber nicht unrecht tun: Auch wenn er, wie in diesem Kapitel auch, häufig im Vergleich zu den Tänzer*innen, mit denen er kollaboriert, eine gewisse Diskurshoheit präsentiert, beruhen seine Stücke ausnahmslos »auf der Basis akribischen Probens«,21 dem lediglich eine anfängliche Fragestellung oder ein thematischer Ausgangspunkt vorausgeht. Als Ko-Choreograph*innen der Soli lassen sich demzufolge Mandafounis, Marklund und Mosca verstehen. In den Soli geht es also weniger um eine*n Autor*in, die oder der vor dem Akt des Schreibens nicht weiß, was sie oder er schreiben wird, als darum, dass drei gleichzeitig schreibende Autor*innen von sich selbst und den jeweils anderen nicht wissen, was sie gemeinsam und jede*r für sich schreiben werden. Das Schreiben der Choreographien geschieht nicht nur in Abhängigkeit von den Linien und Einfällen, die auf den Einzelnen zukommen oder ihn immer schon durchqueren, sondern in Abhängigkeit von den anderen. Soli ist dahingehend eine Arbeit, die Chétouanes Methode des mitdenkenden Choreographierens potenziert und nichts anderes als dieses zu sehen gibt. Sie wirkt deshalb auf Zuschauer*innen, die sich nicht dafür begeistern können, diesem Denken zuzusehen, vielleicht unfertiger, langweiliger oder hermetischer als eine stärker für ihre Blicke geformte und gebaute Choreographie. Das aufmerksame und ausgiebige Betrachten des Anwesenden mit lange verweilenden Blicken, das bei den Akteur*innen in Chétouanes Inszenierungen und Choreographien so häufig zu sehen ist, ist hier viel seltener zu beobachten. Nur kurz schauen sich Marklund, Mandafounis und Mosca gegenseitig zu, seltener noch sehen sie lange ins Publikum oder nehmen Teile der eigenen Körper in den Blick. Mitunter sind ihre Augen halb geschlossen, oder es ist keine bestimmte Blickrichtung auszumachen, was dem Anblick ähnelt, den Performer*innen bieten, die dem lauschen, was sie – für die Zuschauer*innen unhörbar – aus Kopfhörern hören. Es ist zu sehen, dass Berührungen, Köperkontakt sowie eine Aufmerksamkeit für die eigenen Empfindungen und Einfälle Anteil an der Bewegungsfindung haben. Chétouane benutzt für die eben beschriebene choreographische Autorschaft der Tänzer*innen das Wort »Hören«22 und meint damit: »sich selbst besser im Raum organisieren, sich seines Körpers und seiner Ausgesetztheit gegenüber den 21 22
Müller-Schöll: »Denken auf der Bühne«, S. 204. Chétouane, in: Müller-Schöll/Chétouane: »›… wie dieser Blick sie inszeniert‹«, S. 244.
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anderen Performern und dem Publikum besser bewusst werden«.23 Das bringe ich mit Heideggers Gebrauch des Wortes »Hören«24 in Zusammenhang, mit dem Heidegger einen Gegensatz zu einer vom eigenen Standpunkt aus über das Seiende verfügenden und es zu einem Gesamtbild zusammensetzenden Sichtweise entwirft: ein das Bezogen-sein auf andere(s) annehmendes Vernehmen. Dass auf das Hören im Sinne Heideggers in Tanz und Tanzwissenschaft irgendwo direkt Bezug genommen wird, ist mir nicht bekannt, und doch scheint es in der Verwendung der Worte ›Hören‹ oder ›Listening‹ auf. Vor allem in der Contact Improvisation soll damit eine Aufmerksamkeit für die eigene Körperwahrnehmung und die Relation zu anderen benannt werden. Dieter Heitkamp erklärt dies als Grundprinzip der Kontaktimprovisation: »Zuhören. Im Bewegungsdialog mit dem Partner, der Partnerin ist es notwendig dem eigenen Körper und physischen Mitteilungen anderer Körper zuzuhören. Wenn zwei gleichzeitig reden, permanent Signale senden, ist die Verständigung schwierig. Trotzdem gibt es im Bewegungsdialog oft Stadien zwischen Aktiv und Passiv, ein gleichzeitiges senden und empfangen, zuhören, einlassen und sich mitteilen. Wesentliche Bestandteile der Form sind der Kontakt, die Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Beteiligten, die Nähe, die Erlaubnis und das Zulassen von Berührung und Berührtsein.«25 Den von Heitkamp ins Deutsche übertragenen Begriff der Contact Improvisation, ›Listening‹, greift auch Gabriele Brandstetter auf, um tänzerische Methoden des zeitgenössischen Tanzes zu untersuchen. »Listening«26 meine einen »sehr breiten, offenen Zustand der sinnlichen/sensorischen Wahrnehmung«,27 erklärt sie und verknüpft es mit der »kinaesthetic awareness«,28 die eine Aufmerksamkeit für die Erfahrung von Bewegung meint, die »den Selbstbezug ebenso wie den Bezug zum Anderen (Partner) und zum Raum«29 23 24 25
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Ebd. Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, S. 91; vgl. Kapitel 1.1.2. Dieter Heitkamp: »Assistierte Schwebezustände oder der Zerfall der Schwerkraft«, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Köln 1998, www.contactimprovisation.ch/e/ doku/CITexte/AssistedLevitation_de.pdf vom August 2020, S. 2f., Vgl. auch: Lampert: Tanzimprovisation, S. 151-158. Brandstetter: »›Listening‹ – Kinaesthetic Awareness im zeitgenössischen Tanz«, in: Stephanie Schroedter (Hg.): Bewegungen zwischen Hören und Sehen. Denkbewegungen über Bewegungskünste. Würzburg 2012, S. 113-128, hier S. 113. Ebd. S. 115. Ebd. S. 114. Vgl. dazu ebd. S. 123. Ebd. S. 115.
4 Soli nach einer Idee von Laurent Chétouane
umfasst. Mit Bernhard Waldenfels interpretiert Brandstetter diese Aufmerksamkeit als getragen »von ›attention‹ und ›awareness‹, von gerichteter Aufmerksamkeit (aufmerken) und ›auffallen‹«,30 was sich im Deutschen mit Worten wie »Zuhören«,31 »Hören auf«,32 »Horchen und Lauschen«33 aufrufen lasse. Gemeint sei also »ein Vorgang der Kreuzung von Aktion und Ereignis«,34 macht Brandstetter deutlich. Sie betont in Bezug auf Methoden der kinaesthetic awareness deshalb die im Wort ›Improvisation‹ enthaltene Spannung zwischen Erwartbarkeit und Unvorhersehbarkeit: ›Improvisation‹ beinhaltet sowohl das italienische Wort ›prevedere‹ (›planen‹, ›vorausschauen‹, ›mit etwas rechnen‹) als auch ›improvviso‹ (›plötzlich‹, ›überraschend‹ oder ›unerwartet‹).35 Improvisation wäre also dann ein passendes Wort, wenn es dahingehend gemeint ist, dass es weniger um ein Erfinden von Bewegungen als um ein Finden von Bewegungen geht, der Anteil der Widerfahrnis darin anerkannt und nicht allein von einer willentlichen Bewegungsausführung ausgegangen wird, sondern von einem Bewegungsereignis im Sinne Waldenfels’.36 Das ›Hören‹ steht nicht nur für eine Art von Aufmerksamkeit, die weniger als das Sehen bestimmen kann, worauf sie sich richtet, sondern auch dafür, anzuerkennen, dass das Finden einer Denk- oder Tanzbewegung eine Offenheit für das, woraus sie sich generiert, benötigt. Die drei Solist*innen vernehmen sich selbst und die eigene Bewegungserfahrung und -findung also immer schon als auf die anderen und das andere bezogen. Eine Ausgesetztheit, 30 31 32 33 34 35
36
Ebd. S. 120. Vgl. Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a.M. 2004, S. 32-47. Brandstetter: »›Listening‹«, S. 115. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Brandstetter: »›Wie ich mich bewegt haben werde.‹ Spiel mit Prognosen als Performance«, in: Sigrid Gareis/Krassimira Kruschkova (Hg.): Ungerufen. Tanz und Performance der Zukunft. Berlin 2009, S. 128-132, hier S. 131 und Brandstetter: »Selbstüberraschung – Improvisation im Tanz«, in: Hans-Friedrich Borrmann (Hg): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren: Kunst – Medien – Praxis. Bielefeld 2010, S. 183-200. Vgl. Kapitel 1.3.2. Jacques Derrida unterstreicht, dass eine Erfindung, die allein von einer in der willentlichen Bewegungsausführung liegenden Potenzialität ausgeht, dagegen nicht als ›Ereignis‹ bezeichnet werden kann: »Wenn ich das, was ich erfinde, erfinden kann, wenn ich die Fähigkeit dazu habe, dann heißt das, dass die Erfindung in gewisser Weise einer Potenzialität entspricht, einer Potenz, die ich bereits in mir habe, sodass die Erfindung nichts Neues bringt. Das ist kein Ereignis.« Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, S. 31.
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die ich als Zuschauerin sehe und die ich nicht nur als Ausgesetztheit gegenüber den anderen Tänzer*innen und den Zuschauer*innen verstehe, sondern die mich zuweilen an die allen Lebenden gemeinsame grundlose Exponiertheit denken lässt.
5. Fabrice Mazliahs In Act and Thought mit Tänzer*innen der Forsythe Company Vom Denken und Handeln
In Act and Thought wurde von Fabrice Mazliah gemeinsam mit einigen seiner inzwischen ehemaligen Kolleg*innen der Forsythe Company als deren letzte Produktion entwickelt. Von den in diesem Buch besprochenen Produktionen ist es also die einzige, die von einem Ensemble erarbeitet wurde, das ein gemeinsames Repertoire und langjähriges gemeinsames Proben und Trainieren teilt.1 In den Aufführungen tanzen: Katja Cheraneva, Frances Chiaverini, Josh Johnson, David Kern, Tilman O’Donnell, Natalia Rodina, Jone San Martin, Yasutake Shimaji und Ildikó Tóth; außerdem haben Liz Waterhouse und Cyril Baldy an der Produktion mitgearbeitet. In Act and Thought thematisiert, dass das, »was im Denken eigentlich vor sich geht«,2 nicht unmittelbar darstellbar ist. Diese Unzugänglichkeit einzelner Denkvorgänge und der Denkvorgänge einzelner begreift In Act and Thought aber nicht als »Schwierigkeit«,3 sondern affirmiert sie in einer spielerischen Überlagerung des körperlichen Schreibens von Bewegungen mit sprechenden Umschreibungen der Vorstellungen, aus denen die einzelnen Tänzer*innen ihre Bewegungen generieren. In der Ankündigung des Stücks heißt es: »Im Fokus der Arbeit stehen die Tänzer*innen, ihre jeweilige Art zu denken und wie sich aus verschiedenen Individuen ein Ensemble zusammensetzt. Für das Publikum steht die Frage im Vordergrund: Wenn Sie sich mit den 1
2 3
Vgl. zu von verschiedenen Stimmen eröffnete Einblicke in diese langjährige Zusammenarbeit Siegmund: William Forsythe. Denken in Bewegung und Elisabeth Waterhouse: »Dancing Amidst The Forsythe Company. Space, Enactment and Living Repertory«, in: Brandstetter/Wiens: Theater ohne Fluchtpunkt, S. 153-181. Arendt: Denktagebuch, S. 723. Ebd.
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Tänzer*innen während der Vorstellung unterhalten könnten, was würden Sie von Ihnen erfahren über das, was sie gerade tun oder was mit ihnen getan wird?«4 In Act and Thought verlagert mit dieser Fragestellung das Thema der Vermittlung und Übersetzung von Tanz und Choreographie qua anderer Medien und in andere Medien, das spätestens seit der Veröffentlichung der Improvisation Technologies (1999) ein Teil der Arbeit der Forsythe Company war, in die Produktion und die Aufführungen eines Stücks. Ich werde zuerst auf zwei Aspekte der Tradition, in der In Act and Thought steht, Bezug nehmen – zum einen darauf, dass die Mitglieder der Compagnie ihr Tanzen als »Denken in Bewegung«,5 wie Gerald Siegmund es bezeichnet hat, verstehen; zum anderen darauf, dass für dieses Denken in Bewegung Imaginationen eine große Rolle spielen. Im Anschluss daran beschreibe und analysiere ich, wie in In Act and Thought die Tanzenden ihre Denkvorgänge zugleich auf unterschiedliche Art und Weise teilen und damit spielen, dass diese immer auch teilweise verborgen bleiben oder in den sicht- und hörbaren Handlungen verändert werden.
5.1.
Räume eröffnen, in denen das Denken sich ereignen kann oder Denken im Tanz bei Forsythe
Dana Caspersen, früher Mitglied der Forsythe Company, berichtet in Der Körper denkt von ihrem Erleben des Tanzens in den Aufführungen eines Stücks. Vielleicht greift sie mit ihrem Essaytitel den Titel von Mabel Elsworth Todds Buch The Thinking Body auf. Todd war Körpertherapeutin und bezeichnet in dem nach wie vor oder wieder vielrezipierten Buch alltägliche, aber anatomisch hochkomplexe, nicht bewusst gesteuerte oder sogar unbeachtete Vorgänge wie Gehen, Sitzen oder Atmen als Denken des Körpers.6 Caspersen wiederum legt dar, wie sie mithilfe der aufgrund ihrer Schmerzen durch eine Wirbelsäulendeformation erlernten Alexandertechnik das besser kennengelernt habe, was sie ebenfalls als Denken ihres Körpers bezeichnet. Zu verstehen,
4 5 6
Abendzettel: In Act and Thought, PACT Zollverein, 6./7.11.2015, S. 1. Siegmund: William Forsythe. Denken in Bewegung. Vgl. Mabel Elsworth Todd: The Thinking Body: A Study of the Balancing Forces of Dynamic Man. London 1937. Übersetzung ins Deutsche: dies.: Der Körper denkt mit: Anatomie als Ausdruck dynamischer Kräfte. Übers. v. Peter Gütinger. Bern 2009 [3].
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wie ihr Körper denkt, habe ihr dabei geholfen, sich in zuvor schmerzhafte Figurationen anders hineinzubegeben: »Schließlich wurde mir klar, dass ich, um mich in diese gedrehten, für meinen Körper eigentlich schädlichen Zustände versetzen zu können, verstehen musste, wie mein Körper denkt. Ich musste erst begreifen, dass er bereits damit beschäftigt war, über den ganzen Raum zu denken: über die Form und die Ausrichtung des Stückkörpers und über die Informationen, die ich von den Körpern und Stimmen der anderen Tänzer erhielt. So stellte ich zum Beispiel fest, dass ich das Abprallen und Querschlagen von Augen, Kiefer, Brustkorb und Hüften tatsächlich dann bewerkstelligen konnte, wenn ich es mir nicht als Aktivität vorstellte, sondern als Zustand, der durch meinen Körper hindurch wandert und mich mit dem ganzen Raum verbindet.«7 Diesen »Denkzustand«8 charakterisiert Caspersen mit den Worten »Der Körper denkt. Er ist Form, die sich ihren Weg durch die Zeit denkt«.9 Einige Anteile an dem, was Todd und Caspersen als körperliches Denken verstehen, hat Michael Polanyi als »tacit knowing«10 bezeichnet und damit darauf aufmerksam gemacht, »daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen.«11 Dieses »implizite[…] Wissen«12 oder inkorporierte Wissen, »das wir nicht mitzuteilen wissen«,13 sei vielleicht auch eher ein ›Können‹ als ein ›Wissen‹, beruft Polanyi sich auf Gilbert Ryles Unterscheidung zwischen ›knowing how‹ und ›knowing that‹. Daran schließt Polanyis Entscheidung an, nicht das Substantiv ›knowledge‹, das theoretisches Wissen meine, zu verwenden, sondern das substantivierte Verb ›knowing‹, um auch das praktische Wissen mit zu umfassen.14 Tacit knowing meint Fähigkeiten, die vor allem durch Erfahrungen erlernt und geübt werden, aber deren Funktionieren sich der bewussten Kenntnis teilweise entzieht, sodass diese Fähigkeiten nicht ganz willentlich steuerbar sind. Beispiele dafür sind die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu halten, oder die Fähigkeit, sich der eigenen Position im Raum bewusst zu sein.
7 8 9 10 11 12 13 14
Caspersen: »Der Körper denkt«, S. 114. Ebd. S. 109. Ebd. S. 107. Michael Polanyi: The tacit dimension. New York 1966, S. 1. Polanyi: Implizites Wissen. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt a.M. 1985, S. 14. Ebd. S. 13. Ebd. S. 14. Vgl. Polanyi: The tacit dimension, S. 7/Implizites Wissen, S. 16.
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Ein solches implizites Wissen fließt ein in das, womit Caspersens Körper beschäftigt ist. Aber das körperliche Denken, von dem sie schreibt, meint meiner Meinung nach mehr als das, nämlich, dass ein körperliches Verarbeiten neuer Eindrücke geschieht und sich daraus Reaktionen formen. Caspersen legt weiter dar, dass sie versuche, nicht zu sehr in diese körperlichen Denkvorgänge einzugreifen. Etwas Ähnliches sagt William Forsythe in einem Interview. Ein »wirklich gelungener Tanz«15 hieße für ihn, so Forsythe, sich von seinem Körper tanzen zu lassen: »dann würde der Körper übernehmen und würde tanzen, wo du nicht weiterweißt. Ich sehe das als eine idealisierte Form des Tanzens: nicht zu wissen, sondern es dem Körper zu überlassen, dich zu tanzen.«16 Das sei also eine Form der Improvisation, führt Forsythe aus, bei der an die Stelle eines aktiven Den-Körper-bewegens ein Den-Körper-dichbewegen-lassen trete: »Das schwierigste an der Art von Improvisation, wie wir sie praktizieren, ist, den eigenen Körper nicht bewusst zu formen, sondern es dem Körper zu überlassen, wie er sich bewegt.«17 Dass er dies als Ideal beschreibt, macht erneut deutlich, dass es unmöglich ist, ein Bewegungsereignis wirklich in ein Bewegungssubjekt, das willentlich ein Bewegungsobjekt bewegt, aufzudröseln – auch nicht so herum, dass der Körper das Bewegungssubjekt wird.18 Auch darin, wie Denken im Tanz in der Forsythe Company verstanden wurde, ging es also um den Versuch, zu einer Gelassenheit gegenüber der Bewegung zu finden und sich als willentlich agierende*r Tänzer*in zurückzunehmen, was mit Parviainen erneut als die téchnē einer Hervorbringung von Bewegung bezeichnet werden könnte.19 Diese funktioniert hier aber nicht durch die bedächtige Sorgfalt, die den beschriebenen Choreographien Chétouanes und Gehmachers in all ihren Unterschieden gemein ist, sondern durch eine Art Überrumpelungstaktik, die das bewusste Agieren zu überfordern versucht. Caspersen erklärt dies so: »Wir schaffen eine Situation mit vielen Regeln, die wir als Vehikel benutzen, um in ein Gebiet vorzustoßen, das sich unter weniger anspruchsvollen Regeln niemals erschließen würde.«20
15
16 17 18 19 20
Forsythe, in: Nik Haffner: »Bewegung beobachten. Ein Interview mit William Forsythe«, übers. v. Astrid Sommer, in: William Forsythe: Improvisation Technologies: A Tool for the Analytical Dance Eye. Buch und CD-ROM, Ostfildern-Ruit 2003 [2], S. 17-27, hier S. 27. Ebd. Ebd. Vgl. Kapitel 1.3.2. Vgl. Kapitel 3.1. und 4.2. Caspersen: »Der Körper denkt«, S. 107.
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Da das angestrebte Ideal, es dem Körper zu überlassen, wie er sich bewegt, kaum erreichbar ist, werde versucht, Situationen zu schaffen, in denen bewusste Entscheidungen schnell irritiert würden, verdeutlicht Forsythe: »Man trifft eine bewusste Entscheidung, bewegt sich im Raum, und dann beeinflussen Gravitation und Geschwindigkeit und verschiedene andere Faktoren diese zunächst getroffene Entscheidung und zwingen dazu, eine neue zu treffen. Das kann eine intuitive Reaktion sein […]. Oder man trifft die Entscheidung bewusst, und dann gibt es wieder eine Reaktion darauf, die entweder körperlich ist oder von den Intentionen […] beeinflusst.«21 Kann das Denken eines einzelnen Körpers aufgrund dieser Wechselwirkung von Aktionen und Reaktionen schon in einem Solo unmöglich ungestört erfolgen, ist es in den Choreographien der Forsythe Company nur ein Teil des Zusammentreffens vieler solcher denkender pluraler Singularitäten. Caspersen schreibt diesbezüglich von einem sich plötzlich eröffnenden »Denkraum«22 und Gerald Siegmund von der Eröffnung von Räumen, »in denen das Denken sich ereignen kann«.23 Diese Denkräume stehen dann vielleicht auch den Zuschauer*innen offen, verbindet Forsythe die intrinsische Perspektive auf das Tanzen seiner Choreographien mit der extrinsischen: »Es reicht bei meinen Stücken nicht, eine vorgegebene Choreographie nachzutanzen. Wenn das so ist, fühlt sich ein Zuschauer vielleicht genervt, aber kaum inspiriert. Ich aber will, dass die Zuschauer sich inspiriert fühlen, einfach dadurch, dass da jemand tanzt. Die Choreographie leitet einen dazu an, diesen Zustand des Tanzens zu erfahren. Es geht darum, sich von diesem Zustand des Tanzens faszinieren zu lassen.«24 In einem Rückblick auf die Proben für die zweite Version von The Loss of Small Detail (1991) vertieft Dana Caspersen die bisher zitierten Einblicke und erläutert, dass auch die Imagination oder Projektion von Fiktivem einen großen Anteil am Denken der Tänzer*innen habe: »Tänzer sind in der Lage, ihre Körper mithilfe ihrer gut ausgebildeten Körperinnenwahrnehmung mit einem hohen Grad an Exaktheit sowohl zu fühlen 21 22 23 24
Forsythe, in: Haffner: »Bewegung beobachten«, S. 27. Caspersen: »Der Körper denkt«, S. 108f. Siegmund: »Räume eröffnen, in denen das Denken sich ereignen kann«, in: ders.: William Forsythe. Denken in Bewegung, S. 9-80, hier S. 9. Forsythe, in: Fischer: »Hüpfburg für Rolexträger«, S. 17. Vgl. auch Kapitel 1.3.2.
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als auch zu imaginieren. […] Diese Fähigkeit des Körpers, ein inneres Bild von sich zu schaffen, ermöglicht ihm auch, sich selbst an eine Stelle zu projizieren, an der er sich gar nicht befindet. Wenn wir unsere Augen von dem üblichen funktionalen Verhältnis zum Körper ablösen, wie in der Methode des dis-focus, erleben wir eine Phantom-Eigeninnenwahrnehmung: das Gefühl eines Körpers, der außer sich ist und der sich im Verhältnis zu unseren losgelösten Augen bewegt. […] Jede Bewegung, die der Körper ausführt, wird so wahrgenommen, als fände sie auch in diesem zweiten, projizierten Körper, in dem Raum außerhalb des echten Körpers statt. Es entsteht das Gefühl, als hätte sich das Feld der Eigenwahrnehmung ausgedehnt und umschlösse nun auch jenen Raum, den unsere Körper nicht einnehmen. Dadurch entsteht der Eindruck, als sei der Raum mit komplexen gegenständlichen Fakten angefüllt.«25 Das Hervorbringen von Bewegung passiert auf diese Weise nicht nur aus dem Vernehmen der aktuellen Situation und der Aktualisierung von bereits Entwickeltem, sondern aus einer Anreicherung der wahrgenommenen Situation um imaginierte Veränderungen daran. Solche Imaginationen, die auf einem Training der Wahrnehmung der von den Formungen des eigenen Körpers und seiner Umgebung gegebenen Bewegungsmöglichkeiten aufbauen, stellt die Publikation Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye für Zuschauer*innen graphisch dar. Die aus erst für das interne Training verwendeten kurzen Filmen entwickelte CD-ROM beinhaltet hauptsächlich gefilmte kurze Unterrichtseinheiten mit William Forsythe, die in die Kapitel »Lines«,26 »Reorganizing« und »Writing« gegliedert sind. Klickt die Userin beispielsweise das Wort Lines an, blickt sie auf den vor schwarzem Hintergrund stehenden Forsythe auf einem quadratischen Tanzbodenausschnitt in der Mitte des Browserfensters. Rechts neben ihm gliedert eine Liste die Kapitel und Unterkapitel. Im ersten Unterkapitel, »Imagining Lines«, des Kapitels »Point-Point Line« erklärt Forsythe: »point-point line. You have a line between your fingers, and you can let this line stand in space.« Bei jedem »point« streckt er jeweils eine Hand aus, um auf Brusthöhe einen imaginären Punkt zu greifen, wobei tatsächlich zwei kleine weiße Punkte im Video auftauchen. Sobald Forsythe das Wort »line« ausgesprochen hat, erscheint eine weiße Verbindungslinie zwischen diesen und bewegt sich mit, wenn Forsythe die bis jetzt liegende
25 26
Caspersen: »Der Körper denkt«, S. 109ff. Ich zitiere hier und folgend aus der CD-ROM in Forsythe: Improvisation Technologies.
5 Fabrice Mazliahs In Act and Thought
Linie zum Stehen bringt, indem er die Arme so rotiert, als würde er ein überdimensionales, sich vor seinem Kopf befindliches Lenkrad drehen. Mit den Worten »you can let this line stand in space« lässt er diese eigentlich nur für die Betrachterin der bearbeiteten Videosequenz sichtbare animierte Linie los, um sie dann wieder zu greifen und weiterzubewegen: »You can grab it again and move it in any direction«, und sie schließlich schräg vor seinem Bauch in der Luft liegen zu lassen. Mit den Worten: »Now, another way to construct a line is simply to use a body part. Bump« hebt Forsythe einen Arm und legt den Unterarm auf der Linie ab, um dann zu erklären, wie man die Körperteile an diesen Linien entlanggleiten lassen könne oder wie man die Körperteile selbst als Linien verstehen und aus dem Gelenk heraus rotieren lassen könne. In den weiteren Videos zum Thema Lines erklärt Forsythe, was mit diesen einmal bemerkten Linien alles angestellt werden könne – vom Lang-Ziehen und Kurven-Ziehen über das Kombinieren, Falten, Verknoten und Transportieren der Linien bis zum Ausweichen vor einer in den Raum gestellten Linie oder dem Fallenlassen des Endes einer Linie. In Reorganizing wird das Modell der »kinetische[n] Isometrien«27 behandelt, bei dem es darum geht, die von einem Körperteil eingenommene Form entlang einer Achse zu spiegeln, zu verschieben oder zu drehen, womit auch Größe, Richtung, Kraftaufwand, Schnelligkeit oder Anspannung verändert werden könnten. Wie Forsythe in der Rubrik Writing erklärt, wäre die Rotation aus dem Ellenbogen von der Hand, die einen Kreis in den Raum zeichnet, gelenkt; insgesamt hätte diese Bewegung einen Kegel, dessen Spitze sich am Ellenbogen befindet, geschrieben. Auf die »immaterielle Raum-Schrift«28 dieser Bewegungsspuren kann ein*e Tänzer*in sich beziehen. Kerstin Evert erklärt in ihrer Forschung über die Arbeit der Forsythe Company: »Hier wird nun der Vorgang des ›Umschreibens‹ im doppelten Sinne wirksam: Einerseits als das sich um die im Raum etablierte Form Herum-Bewegen, und andererseits als das ›UmSchreiben‹, verstanden als Transformieren und Verändern des Ausgangsmaterials.«29 Dieses Schreiben, Umschreiben und Überschreiben von Bewegun27
28 29
Roslyn Sulcas: »Eine neue Welt und in ihr die alte«, übers. v. Nikolaus G. Schneider und Astrid Sommer, in: Forsythe: Improvisation Technologies, S. 29-45, hier S. 35; vgl. auch Siegmund: Abwesenheit, S. 262f. Kerstin Evert: DanceLab. Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologien. Würzburg 2003, S. 135. Ebd. Vgl. zu Um- und Überschreibungen des Ballettvokabulars in der Arbeit des Ballett Frankfurt und der Forsythe Company Siegmund: »Räume eröffnen, in denen das Denken sich ereignen kann«, S. 56 und ders.: Abwesenheit, S. 262f.
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gen bezeichnet Evert, eine von Forsythe ins Spiel gebrachte Formulierung aufnehmend, als »real time choreography«:30 Die »regelgebundene Improvisation«31 werde zum »Akt des Choreographierens«.32 Das 2016 uraufgeführte Stück In act and thought ist auf eine Art und Weise eine Retrospektive auf Spielarten dieser real time choreography, die in einem Stück viel unüberschaubarer abläuft als in der didaktisch-analytisch-systematischen Veranschaulichung der Improvisation Technologies-Publikation. In act and thought ist aber nicht einfach ein Rückblick auf die und Endpunkt von der Arbeit der Forsythe Company, denn, auch wenn es eine Ensemble-Arbeit ist, zeichnete hier mit Fabrice Mazliah ein neuer, anderer Choreograph als Forsythe verantwortlich. Jetzt geben die Tänzer*innen selbst während der Aufführungen Einblicke in ihre Imaginationen. Die aus anderen Stücken der Forsythe Company bekannte Bewegungsästhetik wird um viele Beschreibungen ergänzt. Eine neue Form der real time choreography, ein verbales Schreiben, Umschreiben und Überschreiben, das die damit einhergehenden Transformationen und Missverständnisse affirmiert. Damit wird betont, dass die auftretenden Tänzer*innen zwar eine gemeinsame Geschichte verbindet, aber sie den Zuschauer*innen nicht als einheitliche Gruppe, sondern als neun singuläre Persönlichkeiten begegnen lässt.
5.2.
Nicht Versammlung, sondern Zerstreuung
Acht mal zwei Stuhlreihen von je neun bis zehn Stühlen formen ein Achteck auf der Main stage bei PACT Zollverein.33 Dazwischen, an den acht Eckpunkten, hängen schwarze Stoffbahnen von einem das von den Stühlen gezeichnete Achteck nach oben fortsetzenden Traversensystem. In der Mitte des Achtecks steht auf dem schwarzen Tanzboden eine kleine schwarze Ballhupe. Von oben
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31 32 33
Evert: DanceLab, S. 119. Forsythe benutzt die Formulierung »real time choreography« bspw. im Interview mit Mike Figgis auf: William Forsythe. From a classical position/Just Dancing around?. DVD 2007. Evert: DanceLab, S. 135. Ebd. S. 134f. Ich beziehe mich v.a. auf die Aufführung von In Act and Thought bei PACT Zollverein am 6.11.2015, außerdem auf diejenige im Frankfurt LAB am 18.6.2015 sowie auf eine Aufführung von In Act and Thought – a score for six performers im Künstlerhaus Mousonturm am 10.11.2016. Darüber hinaus habe ich mit einer Aufzeichnung der Aufführungen im Festspielhaus Hellerau im Juni 2015 gearbeitet.
5 Fabrice Mazliahs In Act and Thought
leuchten Neonröhren in parallel zu den Stuhlreihen verlaufenden Linien. Geschlossen ist die durch Platzierung der Stühle und Beleuchtung markierte Bühnenfläche nicht. Das, was sich außerhalb dieses orchestra- oder manegenartigen Schauplatzes im Raum befindet, bleibt gut zu sehen: Technikpult, weiße Kacheln an den Wänden, offene Durchgänge zum Flur. Die Stimmung ist entspannt. Nach und nach suchen sich alle Gäste Sitzplätze. Einige durchqueren dabei die Tanzfläche, auf der sich auch schon einige Tänzer*innen aufhalten. Es wird Bekannten gewunken und geschaut, mit wem man zusammen in einer Sitzgruppe gelandet ist. Da die Tänzer*innen noch nicht innerhalb der Stuhlreihen bleiben, ist nicht sicher, wie viele sie überhaupt sind. Sie unterhalten sich auch, laufen, sitzen und stehen herum oder wärmen sich noch auf, indem sie sich beiläufig dehnen und strecken, die Arme schlenkern, Schultern oder Handgelenke kreisen, in den Knien wippen oder mit den Füßen wackeln. Immer mal wieder nicken sie begrüßend einer Person zu, meist schenken sie den hereinkommenden Zuschauer*innen aber keine besondere Beachtung. Sie tragen bequeme Trainingskleidung: kurze und lange Hosen oder Röcke, Tops, T-Shirts, Hemden und Jacken, Socken, Tanzschläppchen, Turnschuhe oder nackte Füße. Kleine Details lassen das aber schon als aufeinander abgestimmtes Kostüm erkennen: die samtigen Stoffe, die kontrastfarbenen Nähte, die dunklen, ins Bläuliche gehenden Farben.34 Alle tragen außerdem entweder ein Headset oder ein kleines, an der Stirn befestigtes Mikrophon. Nach und nach beginnen sie, sich raumgreifender, in schnelleren Rhythmen und damit auch geräuschvoller zu bewegen, jede*r anders. Katja Cheraneva sitzt mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden und stützt sich mit einer Hand ab. Sie wackelt mit den Zehen, krümmt die Füße und sieht den anderen zu. Dann winkelt sie ein Bein an und bewegt sich so, auf der einen Hand und dem einen Fuß vorwärts, wobei das noch ausgestreckte, nun angehobene Bein vibriert und die Hand des freien Arms wild über dem Boden hin und her wischt. Cheraneva stellt sich auf die Knie, hebt beide Oberarme bis auf Schulterhöhe seitlich an und schlackert mit den Unterarmen. Sie erhebt sich ganz, wippt mit beiden Beinen und zappelt mit beiden Armen. Dann sinkt sie in ein tiefes Plié und imitiert dies mit den angewinkelten Armen. In der ersten Position bleibend, setzt sie die Füße in einigen wackeligen Schritten voreinander. Anschließend trippelt sie im 34
Das Kostüm entwickelte Dorothee Merg. Vgl. zu weiteren Details zur Produktion das Werkverzeichnis.
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Relevée, die hängenden Arme schlenkernd, vorwärts. Später schwingt sie abwechselnd einen Arm vor und das entgegengesetzte Bein zurück, dann winkelt sie Arme und Beine wieder in Ellenbogen und Knien an.
Abbildung 11: In Act and Thought im Festspielhaus Hellerau: Jone San Martin, Ildikó Tóth, Yasutake Shimaji, Katja Cheraneva (v.l.n.r.)
Foto: Sylvio Dittrich
Ildikó Tóth balanciert auf den Zehenspitzen. Ihre Beine sind nach innen gedreht, Schultern und Arme vorgebeugt. Abwechselnd schmeißt sie die Unterschenkel nach hinten oben. Dann verkehrt sie dieses Muster in sein Gegenteil: Sie dreht die Beine nach außen, öffnet den Brustkorb und zieht die Schultern nach hinten. Nun zieht sie im Wechsel die Oberschenkel in die Höhe. Sie zupft den Bund ihres Rocks zurecht und zieht wieder die Fersen zum Po, diesmal stampfender, mit dem ganzen Fuß auftretend, die Daumen im Rocksaum eingehakt. In gleichmäßigen Abständen unterbricht ein kleiner Hüpfer mit beiden Beinen ihr Stampfen. Sie tippelt auf den Fersen, kreist dabei mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, und dreht den Kopf schnell hin und her. Sie läuft auf den Außenkanten ihrer Fußsohlen, rudert erneut mit den Armen und verliert trotzdem fast das Gleichgewicht. Danach lässt sie sich vorsichtig, tief in die Knie gehend und den Po nach hinten streckend, auf den Boden herab, ohne die Hände zur Hilfe zu nehmen. So wie bei Cheraneva und Tóth sind bei jeder und jedem der neun Tänzer*innen andere
5 Fabrice Mazliahs In Act and Thought
Bewegungsabläufe zu beobachten, die sich zwar vom Bewegungsmaterial her ähneln und von einem gemeinsamen Rhythmus von Beschleunigungen und Pausen strukturiert werden, aber ansonsten von jeder und jedem für sich vollführt werden. Ildikó Tóth erläutert jetzt auf Deutsch, dass sie und die anderen im Verlauf der Arbeit an In Act and Thought versucht hätten, Worte zu finden für das, »was wir tun, wenn wir tun, was wir tun«. Sowohl für das »Offensichtliche« als auch für »das, was gerne mal im Verborgenen bleibt«.35 Sie hätten bei den Proben eigentlich tun können, was sie wollten, die anderen aber darin unterrichten müssen, was sie tun und wie sie das tun. David Kern erzählt auf Englisch, seinen Bewegungsmustern weiter folgend – er schwingt eine Socke, die er sich ausgezogen hat, wechselseitig um den einen und den anderen Daumen –, dass ein Wissenschaftler sie bei den Proben besucht habe. Sie hätten ihn an einen auf einer Insel lebenden Stamm, über den er einmal geforscht habe, erinnert. Die Gruppe habe ein besonderes Verständnis von Autorschaft gehabt: Immer wenn jemand eine Idee gehabt oder etwas erfunden habe, hätten es alle Stammesmitglieder gleichermaßen als ihr Eigentum, also als Eigentum des Stammes angesehen. Diesen Vergleich fände er sehr passend und wichtig für In Act and Thought, sagt Kern. Nach den kurzen einführenden Erklärungen ziehen die Tänzer*innen die schwarzen Vorhänge aus den Ecken hervor. Mit dem Rauschen der Stoffbahnen und dem Schleifen ihrer Aufhängungen entlang der Vorhangstangen setzt ein akustisches Signal ein. Die Vorhänge unterteilen das Achteck in Separées. Von nun an sitze ich mit vielleicht 18 anderen Zuschauer*innen in einer kleinen, nach hinten offenen Kammer, deren Tanzfläche geschätzt etwa zehn Quadratmeter misst. Der unerwartete Umbau wird von einzelnen langgezogenen, nachschwingenden Tönen begleitet. Wie das Einstimmen eines Elektro-Orchesters. Die Töne verklingen und mit der Stille bereitet sich eine gewisse Erwartungshaltung aus. Auf einmal sind aus dem Außen der kleinen angedeuteten Black Box, von den anderen Seiten der Vorhänge her Stimmen zu hören. Laut genug, um zu verstehen, dass sie über jeweils andere Tänzer*innen sprechen, aber zu leise und zu vermischt, um genau zu verstehen, was. David Kern tritt zwischen den Stoffbahnen hindurch zu uns und sagt, nachdem er sich kurz als David vorgestellt und gefragt hat, ob es okay sei, wenn er Englisch spräche, dass es sehr schwierig sei, Bewegungsprinzipien in Worte zu fassen. Er führt aus, dass im 35
Ich zitiere aus der Aufzeichnung.
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Tanz oft mit bestimmten »Images«36 gearbeitet werde. Wenn man selbst mal eine Ballettstunde besucht habe, kenne man es sicher, dass im Ballett mit der Vorstellung gearbeitet werde, dass man an der höchsten Stelle des Kopfes, beispielweise an einem Zopf, nach oben gezogen werde. Diese Vorstellung bewirke zwar, dass man sich aufrichte und der Körper vermeintlich länger werde; doch in Wirklichkeit ziehe nichts oberhalb des Kopfes diesen nach oben, sondern aus dem Zusammenspiel nach oben und nach unten ziehender Muskeln, der Schulter- und Schlüsselbeinpartie, des Kopfes und Halses entstehe eine gestreckte, aufgerichtete Haltung. Was ich hier ausschließlich in Worte fassen kann, erklärt Kern sprechend und zeigend. Aus solch einer Vorstellung heraus funktioniere auch die »movement structure«37 von Katja. So wie hier verweisen die Tänzer*innen im Verlauf des Stückes einfach mit ihren Vornamen aufeinander, ohne sich genauer darum zu kümmern, ob die Zuschauer*innen wissen, wer gemeint ist – was ebenso wie ihre unkomplizierte Wortwahl, ein unbeschwerter Tonfall und die räumliche Nähe zu den Zuschauer*innen nicht unbedingt Vertrautheit, aber schon eine vertrauliche Stimmung herstellt. Katja versuche also, so David Kern, obwohl dies natürlich eigentlich nicht möglich sei, ihren Körper der Länge nach, von oben nach unten, in zwei Teile zu teilen. Dazu beginne sie, sitzend, auf den Knien, was ihr gewisse Schmerzen bereite und eine besondere Positionierung der beiden großen Zehen übereinander erfordere, über eine Teilung ihres Gehirns nachzudenken beziehungsweise diese sogar hervorzurufen. Sichtbar sei das nicht. Doch es sei zu sehen, wie sie ihre Augen beziehungsweise die von diesen erhaltenen Bilder zu trennen versuche. Dazu kneife sie immer abwechselnd das eine und das andere Auge zu, um zu unterbinden, dass das Gehirn die zwei ankommenden Bilder zu einer Überlagerung zusammenfüge. In diesem Modus, der die zwei Körperseiten voneinander abtrenne, versuche sie mit der rechten Hand die linke Hand zu fangen. Und irgendwann bewege sich die linke Hand reflexartig weg. David Kern erklärt dies noch eine Weile, macht teilweise vor, wie Katja sich die Augen abwechselnd zuhalte oder versuche, eine Hand mit der anderen zu fangen. Irgendwann, mitten im Satz, verschwindet er zwischen den Stoffbahnen. Kerns Darstellung von Cheranevas Zerteilen des gewohnten Zusammenwirkens der Reflexe und Reaktionen beeindruckt; als Cheraneva viel später im
36 37
Ich zitiere aus meinen Notizen zur Aufführung bei PACT Zollverein. Ebd.
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Verlauf des Stücks wieder zu sehen ist, wirkt ihr Tun im Vergleich dazu enttäuschend einfach: Sie kniet auf dem Boden und schlägt sich immer wieder mit einer Hand auf die andere. Dass die Erklärungen der mit den Handlungen verbundenen Denkvorgänge, Intentionen, Erkenntnisse viel komplexer wirken als die zu sehenden Handlungen, macht In Act and Thought witzig und unterhaltsam. Ich muss darüber lachen, dass jemand überhaupt auf so eine Idee kommt wie Cheraneva, bin fasziniert von der Beharrlichkeit und Ernsthaftigkeit ihrer kleinen Studie und staune darüber, dass es ihr – zumindest laut Kerns Erklärung – tatsächlich gelingt, ihre Reflexe zu verändern. Ich erfreue mich an diesen Bewegungen und Handlungen, auf die ich nie gekommen wäre, für die ich keine Zeit finde oder die auszuführen ich körperlich gar nicht in der Lage wäre, und realisiere dadurch, wie normiert und zielgerichtet meine eigenen alltäglichen Gesten und Bewegungsmuster und diejenigen, die ich in meinem Alltag sehe, sind. Andere Tänzer*innen streifen an den Vorhängen entlang durch unsere Kammer. Einige halten kurz inne, blicken uns Zuschauende an, so als würden sie überlegen, ob sie hierbleiben sollten. Andere eilen sehr beschäftigt vorbei, so als würden sie uns kaum bemerken, geradewegs in einen der angrenzenden Räume; eifrig über eine andere Person sprechend und wild gestikulierend. Es ist ein deutsch-englisches Stimmengewirr zu hören, aus dem das von Johannes Helberger entwickelte Soundsystem in den einzelnen Kammern verschiedene, nicht immer zuordenbare Stimmen heraustreten lässt. Ildikó Tóth betritt den Raum und legt sich auf den Boden. Ihre Augen sind geschlossen, sie lächelt. Nach dem, was ich über Katja Cheraneva erfahren habe, überlege ich, was Tóth sich gerade ausdenken könnte. Sie scheint darauf zu achten, ihre Füße zusammenzuhalten. Besonders auffällig ist, dass ihre Hände immer nur mit den Außenkanten den Boden berühren und leicht gekrümmt sind, die Daumen von den anderen Fingern weg gestreckt. Ich kann mir nur erschließen, dass sie offensichtlich den Boden nicht mit den Handflächen berühren will. Nach kurzer Zeit steht sie auf und verlässt das Separée wieder. Viel später, als alle Vorhänge wieder geöffnet sind, höre ich sie sagen, dass sie sich vorstelle, zwei Tassen in den Händen zu halten, in denen sich der gesamte Raum befinde, den sie immer wieder ausleere. Vorsichtig schleichen wieder einige Tänzer*innen vorbei. Manchmal streckt auch jemand kurz den Kopf zwischen den Vorhängen hervor und blickt sich um. Tilman O’Donnell kommt herein. Er schaut immer wieder hinter den Vorhang und gibt in einzelnen Sätzen wieder, was er dort –
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angeblich – sehe, beispielsweise: »Now she is doing absolutely nothing.«38 Später steht Josh Johnson vor uns und sagt aus, dass er Tilman beobachte – wenngleich dieser sich gerade nicht im Separée befindet. Johnson erläutert, er könne Tilmans Bewegungen am besten beschreiben, indem er sich vorstelle, er sähe den anderen von unten, waagerecht über sich in der Luft und etwa 50 cm groß. Johnson legt sich auf den Boden und schaut nach oben. Tilmans Becken sei dann etwa hier, zeigt er, seine Knie etwa dort. Man müsse sich Tilmans Bewegungen so vorstellen wie die des Potato Man in Toy Story. Josh Johnson selbst geht wiederholt in den Handstand und bewegt dabei seine Beine auf verschiedene Weise nach oben. Erst fast in den Spagat auseinandergestreckt, den er immer kleiner werden lässt, bis sich die Beine in der Senkrechten berühren, oder gleich so langgestreckt und dann die Unterschenkel in einem rechten Winkel gebeugt. Dann steht er wieder andersherum, auf den Füßen, und streckt die Arme in die Luft. Er kniet sich mit nach außen geschobenen Beinen hin, sodass seine Ober- und Unterschenkel jeweils zu gleichschenkeligen Seiten spitzwinkliger Dreiecke werden, und formt solche über seinem Kopf auch aus Ober- und Unterarmen. Später sieht man, wie er seine nur die Vorderfüße bedeckenden Ballettschuhe zu Handschuhen umfunktioniert. Katja Cheraneva übersetzt irgendwann im Laufe des Abends, dass Josh versuche, die Illusion zu kreieren, er könne die Aktivität seiner Hände in seinen Beinen platzieren. Nach einem lauten Hupen ziehen die Tänzer*innen die langen Stoffbahnen der Vorhänge, rauschend und schleifend, energisch auf. Eine Zeit lang laufen alle auf dem nun nicht mehr zerteilten Tanzplatz, sich viel bewegend und wild auf Deutsch und Englisch durcheinanderredend, hin und her. Untermalt wird ihr Stimmengewirr vom Klappern, Pfeifen, Tropfen, Rascheln einer Soundscape, die ein bisschen wie die Geräuschkulisse eines Dschungels oder eines Walds klingt. Frances Chiaverini nähert sich einer Reihe von Zuschauer*innen und erzählt ihnen, dass Ildikós Bewegungssystem auf Ildikós Wunsch beruhe, von ihrem Körper überrascht zu werden. Deshalb habe sie von Katja nun die Idee, ihren Körper imaginär zu zerteilen, übernommen, die Zweiteilung in links und rechts aber zu einer Teilung ihres Körpers in oben und unten transformiert. Auf diese Art und Weise bündeln und vermischen die Tänzerinnen und Tänzer nun ihre zu Beginn präsentierten Bewegungssysteme zu, wie sie es
38
Ebd.
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nennen, »Hybrids«, »Hybrids of Hybrids« und »Hybrids of Hybrids of Hybrids«.39 David Kerns anfängliche Erklärung betont, dass auch die am Anfang einer Aufführung gezeigten Systeme nicht von einer Person allein kreiert, sondern nur jeweils temporär angeeignet sind, und die gesprochenen Beschreibungen und Erklärungen eigentlich auch schon Aneignungen sind, in denen sich die Kenntnis und Interpretation des jeweiligen Systems des oder der Anderen mit der jeweils eigenen Art des Beschreibens mischt.
Abbildung 12: In Act and Thought im Festspielhaus Hellerau: David Kern, Katja Cheraneva, Ildikó Tóth, Tilman O’Donnell, Yasutake Shimaji, Natalia Rodina, Frances Chiaverini (v.l.n.r.)
Foto: Sylvio Dittrich
Zu Beginn des Stücks bezeichnen die Tänzer*innen die involvierten Muskeln so genau und gehen auf Intentionen, Tempowechsel und Positionierungen sowie auf etwaige Probleme, die die Ausführung des beschriebenen Bewegungssystems mit sich bringen kann, so genau ein, als würden sie die Zuschauer*innen in einem Workshop unterrichten. Es werden außerdem Erinnerungen an die Probenarbeit oder vorherige Aufführungen einbezogen. In Essen wird die abwesende Natalia Rodina vergegenwärtigt: »She cannot be here right now because she is pregnant«, sagt jemand, um dann auszumalen, was sie tun würde, wenn sie gerade da wäre. 39
Ich zitiere aus der Aufzeichnung.
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In der zweiten Hälfte des Stücks werden die Beschreibungen immer assoziativer und fiktiver. David Kern flüstert: »In my thoughts I am thinking about being Josh’s left testicle and by being I am flying. I am Ildikó and […] myself is split up in six million pieces«. Eine der anderen Männerstimmen beschreibt: »Natashas left arm has become her leg. So now she has one leg which has become an arm. Her toes belong to Jone. Her lungs…«.40 Vielleicht treffen ihre Worte so das Imaginierte auch teilweise präziser als die sachlicheren Worte zuvor? Das Schreiben, Beschreiben, Umschreiben und Überschreiben von Bewegungen mittels Sprech- und Tanzbewegungen verknüpft und überlagert sich nicht nur im Laufe jeder der etwa anderthalbstündigen Aufführungen, sondern auch von Aufführung zu Aufführung zu einem Dickicht, dem jede weitere Beschreibung – diese hier auch – eine weitere Schicht hinzufügt. Im Abendzettel zum Stück heißt es: »Durch die Verknüpfung von performativer Erklärung mit einem komplexen System wechselnder Vorgänge wird In Act and Thought zu einer Performance, die reale und imaginierte Bewegung hervorbringt.«41 Als performativ scheinen diese Erklärungen bezeichnet zu werden, weil nicht allein tatsächlich gesehene Bewegungen konstatiert, sondern durch die Beschreibungen weitere Bewegungen hervorgebracht werden. In diesem Spiel mit dem Anteil des Fiktiven an den Beschreibungen und Imaginationen zeigt In Act and Thought der Betrachtung des Denkens im Tanz im Anschluss an Heidegger eine Grenze auf. In den Zollikoner Seminaren auf die Frage der Imagination angesprochen, erörtert Heidegger mit den Seminarteilnehmer*innen, dass er das Wort »Vergegenwärtigung«42 im Sinne eines »Offenstehens für das Anwesende«43 verstehe. Es sei eine der verschiedenen Möglichkeiten des »Hiersein[s]«,44 sich etwas räumlich oder zeitlich Entfern40 41
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Ich zitiere aus der Aufzeichnung der Aufführung im Festspielhaus Hellerau. Abendzettel: In Act and Thought, PACT Zollverein, 6./7.11.2015, S. 2. Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Übers. v. Eike von Savigny. Stuttgart 1998, S. 43f., S. 162. Für Austin können Sprechakte im Theater wegen des anderen Kontexts nicht ihre übliche Wirkung hervorrufen – eine Unterscheidung zwischen gelungenem und misslungenem Sprechakt, die zu kurz greift. Vgl. Derrida: »Signatur, Ereignis, Kontext«, S. 90101, insbes. S. 97 und Butler: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, übers. v. Reiner Ansén, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002, S. 301-320, hier S. 314. Heidegger: Zollikoner Seminare, S. 87. Ebd. S. 94. Ebd. S. 87.
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tes zu vergegenwärtigen, verdeutlicht er am Beispiel der Vergegenwärtigung des Züricher Bahnhofs. Die Frage nach der Vergegenwärtigung von etwas nicht wirklich Existentem aber weist Heidegger zurück: »Oder fahren Sie vielleicht zu etwas, was wir nur in Gedanken haben, zu einem bloßen Bild, zu einer bloßen Vorstellung vom Bahnhof in unserem Kopf? Die Antwort erübrigt sich, weil schon die Frage Unmögliches fragt.«45 Für ein ›als ob‹ bleibt in Heideggers Philosophie kein Raum. Für Philippe Lacoue-Labarthe ist dies mit Heideggers vereinheitlichendem Denken von Gemeinschaft verbunden: »Für Heidegger ist Einsamkeit […] unmittelbar die Gemeinsamkeit. Für ihn spielen Schein und Ähnlichkeit, Simulation, Mimesis also strikt keine Rolle; zugleich auch nicht Singularität […].«46 In In Act and Thought umspielt das Changieren zwischen Fakt und Fiktion gerade die Uneinholbarkeit des Denkens der Einzelnen. Es geht nicht um eine Beliebigkeit, aber um die Affirmation der Unmöglichkeit von Eindeutigkeit – und Einstimmigkeit. Um die nie ganz übersetzbaren oder überbrückbaren Differenzen zwischen einem Denkvorgang und seiner Beschreibung, einer Imagination und der daraus entwickelten Handlung, einer gesehenen Bewegung und ihrer Beschreibung und also auch um die nie ganz überbrückbaren Differenzen von einer oder einem zur oder zum anderen.
5.3.
Vom Denken der Zuschauerin – Schlusswort
Dass die gesprochenen Beschreibungen im Stimmengewirr oft nur in Ausschnitten aufzuschnappen sind oder die gerade sprechende Person einfach mitten im Satz hinter dem Vorhang verschwindet, dass von jedem Sitzplatz aus stets nur ein kleiner Teil dessen, was passiert, zu sehen ist, überlässt den Zuschauer*innen das Gezeigte ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die Gruppe von Tänzer*innen tritt nicht als eine geschlossene auf, sondern öffnet ihr Spiel für die Zuschauenden, indem sie es ihnen von Anfang an fragmentarisch und unvollständig überlässt. Nach und nach verändert das Auf- und Zuziehen der Vorhänge immer wieder die Architektur der Szene und gestaltet auf eine simple, aber wir-
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Ebd. S. 92. Lacoue-Labarthe, in: Lacoue-Labarthe/Nancy: »Dialog über den Dialog«, S. 39. Vgl. zu Heideggers Verknüpfung von Erscheinungen und Wahrheit bzw. Unverborgenheit auch Lacoue-Labarthe: La vraie semblance. Paris 2008, insbes. S. 11ff.
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kungsvolle Weise verschiedene Gruppierungen der Zuschauenden. Später teilen die schwarzen Stoffbahnen das Achteck in drei Bereiche und erzeugen so vor den Stuhlreihen, in denen ich sitze, einen Korridor zu den Zuschauer*innen gegenüber, die zwar auch zuvor in den Verschiebungen dieses Kaleidoskops immer wieder im Hintergrund der Tanzenden zu sehen waren, aber nun durch diese Blickachse besonders auffallen. Yasutake Shimaji trägt einen schweren zweiseitigen Spiegel herein, den er mit der Hilfe anderer immer wieder um die eigenen Achsen kippt. Im Verlauf dieser Wendungen erscheinen viele Spiegelungen – zuvor Betrachtetes erscheint aus anderer Perspektive; es rücken Ausschnitte in den Blick, die eigentlich gerade hinter einem Vorhang verborgen sind oder zuvor nicht auffielen. Immer wieder spiegeln sich dabei die Reihen der Zuschauenden in den Drehungen und Wendungen des Spiegels.
Abbildung 13: In Act and Thought im Festspielhaus Hellerau: Josh Johnson, Ildikó Tóth (v.l.n.r.)
Foto: Sylvio Dittrich
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Plötzlich erkenne ich darunter mich selbst. Und erkenne mich eigentlich kaum wieder. Es entspricht weder meinem Verfolgen des turbulenten Treibens, das sich vor mir abspielte, noch der Amüsiertheit, die es immer wieder bei mir ausgelöst hat, mich dort, nur kurz, der Spiegel bewegt sich gleich weiter, so still und ernst aussehend sitzen zu sehen. Dieser Anblick meiner Spiegelung reißt mich aus meiner Selbstvergessenheit. Im Nachhinein bestätigt mir dieser Moment Hannah Arendts Position, dass das uneinheitliche denkende Ich sich seiner selbst nicht bewusst sei.47 So weist In Act and Thought mich gegen Ende der Aufführung darauf hin, dass ich für die anderen Zuschauenden bislang ebenso sehr (oder ebenso wenig) Teil der Aufführung war wie sie für mich. Jean-Luc Nancy beschreibt im Aufsatz Corps-théâtre den eigenen Blickpunkt als »blinden Fleck«48 des eigenen Erscheinens für andere. Obwohl es diesem Blickpunkt selbst immer wieder entgehe, befände er sich nicht in der Position der unbeteiligten theoretischen Kontemplation, sondern sei immer schon involviert: »Von diesem Punkt her gesehen gibt es also kein mögliches Schauspiel, sondern nur das Engagement, das Mit-der-Welt-vermischt-Sein, die Anziehungen und Abstoßungen, die Durchquerungen und Anschläge, Inbesitznahmen und Loslassungen, Ergreifungen und Ent-Ergreifungen. Auf der Welt zu sein, ist das völlige Gegenteil davon, in einer Vorstellung zu sein. Es ist darin sein, nicht davor.«49 Mit den anderen in der Aufführung Anwesenden verbindet mich dieses Involviertsein trotzdem nur teilweise. Die Spiegelung des Publikums spiegelt auch, worum In Act and Thought auch auf der Tanzfläche kreist: den »Abstand«50 zwischen den Denken der Einzelnen und dem Handeln, das sich vor all den verschiedenen Blickpunkten sicht- und hörbar abspielt. Diese Abstände zu den und zwischen den – eventuell – hier passierenden Denkvorgängen tragen – unter anderem – dazu bei, dass die Zuschauer*innen einer Aufführung ihr nie als »rezeptive Einheit«,51 sondern stets als »rezeptive Vielheit«52 beiwohnen. Und doch sind diese singulären Denken der Einzelnen nie völlig frei und 47 48 49 50 51 52
Vgl. Kapitel 1.2.3. Nancy: »Theaterkörper«, S. 166. Ebd. S. 158. Arendt: Vita activa, S. 204. Martina Ruhsam: Kollaborative Praxis: Choreographie. Die Inszenierung der Zusammenarbeit und ihre Aufführung. Wien 2011, S. 139. Ebd.
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voneinander unterschieden, da sie sich, »immer schon in Sprache, im Kontext«53 abspielen. Aber auch »immer zugleich in mehr als einem«.54 Wenngleich ich als Zuschauerin einerseits von der jeweiligen Situation und den jeweiligen künstlerischen Intentionen und dem, was aus diesen entsteht, nie völlig emanzipiert sein kann,55 bin ich andererseits nie ganz dabei. Ob ich »[m]ich einlassen oder abdriften«56 will, ist manchmal eine bewusste Entscheidung in Momenten, in denen die Aufmerksamkeit aktiv wieder hin zum Mitdenken des Aufgeführten gelenkt werden kann. Die Gegenüberstellung von Theorie und Praxis im Titel In Act and Thought kann die von Handeln und Denken auf der Tanzfläche meinen, oder die von Handelnden und Zuschauenden. Das ›and‹ verbindet Handeln und Denken und hält zugleich ihren Unterschied aufrecht. Deutlich gemacht haben sollte meine Arbeit aber, dass dies nicht mehr als Opposition von Sinnlichkeit und Intelligibilität aufgefasst werden sollte. Dass sich das Denken, der Möglichkeit nach, auf der Bühne und im Tanz ereignen kann, davon gehen die hier behandelten Künstler*innen selbstverständlicher aus als Trisha Brown in den 1960er Jahren.57 Und doch hallt die (nicht nur und nicht zum ersten Mal) von ihr aufgeworfene Frage nach der Verbindung von Denken und Bewegung, von Denken und Körpern in den Texten und Interviews der Künstler*innen über das Denken im Tanz nach. Zum Schluss dieser Arbeit sei zusätzlich noch einmal an die von Jacques Derrida mit Heidegger gemachte Feststellung erinnert, dass Denken in künstlerischen Arbeiten auch insofern involviert ist, da diese in ihrer je bestimmten Singularität zu einer anderen Zeit so nicht möglich gewesen wären. Denken kann in den von mir untersuchten Choreographien in unterschiedlichen Formungen und Materialisierungen erscheinen; es kann in verschiedenen einzelnen, auch körperlichen, Denkvorgängen der
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Müller-Schöll: »Denken auf der Bühne«, S. 193. Ebd. Ich beziehe mich hier auf Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer. Übers. v. Richard Steurer. Wien 2008, S. 12ff. Müller-Schöll hat Rancière dahingehend ergänzt, dass ein Publikum zwar keine Einheit ist, aber die einzelnen Zuschauer*innen doch eine geteilte ästhetische Erfahrung machen. Vgl. Müller-Schöll: »Das undarstellbare Publikum. Vorläufige Anmerkungen für ein kommendes Theater« in: Gareis/Kruschkova: Ungerufen, S. 82-90, hier S. 84f., S. 89. Bernhard Siebert: »Betrieb und Getriebe. Momente der Kunstkritik in Katie Mitchells Arbeit«, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Frankfurt a.M. 2016, S. 2. Vgl. Einleitung.
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Tanzenden passieren, und nicht von der Annahme eines bekannten, einheitlichen, geschlossenen und souveränen Selbsts und einem von diesem bewegten Körper ausgehend, aber doch nicht ganz frei von dem Denken, das Heidegger als Denken des neuzeitlichen Subjekts beschrieben hat. Denken passiert auch, und damit zusammenhängend, weil die Stücke in einer (weder ausschließlich einer noch einer linear und sicher zu ihnen führenden) Tradition stehen. Einer Tradition, in der seit geraumer Zeit, und dies ist den künstlerischen und philosophischen Positionen, mit denen ich mich beschäftigt habe, gemein, die Frage danach, was Denken heißt, aufgeworfen wird. Gemein ist den vier Choreographien in ihrer Diversität das Bemühen um eine Ver-antwort-ung: eine Aufmerksamkeit und Ansprechbarkeit für die unermessliche körperliche und verkörperte Andersheit des Anderen sowie des anderen im eigenen und doch nie ganz eigenen körperlichen und verkörperten Selbst. Zwar müsste ich die Frage Trisha Browns »Do my movement and my thinking have an intimate connection?«58 am Ende dieses Buchs eigentlich entschieden bejahen, doch weist das Wort ›intimate‹ dorthin, wo Bewegungen und Denken, Körper und Denken sich zugleich treffen und trennen. Sie sind nicht voneinander ablösbar und beeinflussen sich gegenseitig, sodass eine dualistische Sichtweise ihrem Verhältnis nicht gerecht wird, aber trotzdem nicht einfach durch eine vereinheitlichende Sichtweise ersetzt werden sollte.59 Viele Aussagen der Künstler*innen beschreiben diesen Grenzbereich zwischen Denken und Körpern. Nicht auf eine (noch) definitivere Umgrenzung des Denkens ist also abzuzielen, sondern eher deren Unmöglichkeit anzuerkennen. Eine von den Künstler*innen immer wieder tangierte Grenze, die auch eine Grenze meiner Arbeit ist. »Im Denken über den Körper zwingt der Körper das Denken immer weiter, immer zu weit: zu weit, als daß es noch Denken ist, doch nie weit genug, daß es Körper wäre. Daher gibt es keinen Sinn, von Körper und Denken als voneinander losgelöst zu sprechen, als ob sie jeder für sich irgendeinen Bestand haben könnten. Sie sind nur ihr gegenseitiges Berühren, die Berührung ihres Einbruchs voneinander und ineinander.«60
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Brown: »Trisha Brown«, S. 64. Vgl. dazu Nancy: Corpus, S. 122. Ebd. S. 35.
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Die hier aufgelisteten Angaben zu Beteiligten und Aufgabenverteilungen übernehmen die von den Künstler*innen selbst auf ihren Homepages, in den Ankündigungen der Spielstätten und auf den Abendzetteln gemachten Angaben. Um die Angaben nicht zu verfälschen, habe ich sie nicht in einheitliche Bezeichnungen für alle Stücke übertragen, wohl aber, gegebenenfalls, ins Deutsche. Accumulation Choreographie: Trisha Brown Sound: The Grateful Dead: Uncle John’s Band Tanz: Trisha Brown Premiere: 22.10.1971, New York University Gymnasium
Accumulation with Talking Choreographie: Trisha Brown Tanz: Trisha Brown Premiere: 12.10.1973, American Center, Paris
Accumulation with talking plus Watermotor Choreographie: Trisha Brown Text: Trisha Brown Kostüm: Susan Zucker, Trisha Brown Licht: Edward Effron Tanz: Trisha Brown Premiere: 24.2.1979, Oberlin College, Ohio
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Accumulation with talking plus Watermotor (Film) Film der Aufführung am 2.9.1986, 541 Broadway, New York Choreographie und Performance: Trisha Brown Regie: Jonathan Demme Kamera: Jacek Laskus Schnitt: Pam Wise Sound: William Sarokin Produktion: Carole Markin/Edward Saxon
Hommage an das Zaudern Konzept, Choreographie: Laurent Chétouane Tanz: Joris Camelin, Rémy Héritier Klavier: Jan Burkhardt Assistenz: Georg Döcker Kostüme: Sophie Reble Licht: Stefan Riccius Produktionsleitung: Christine Kammer, Hendrik Unger Premiere: 10.12.2011, Tanzquartier Wien
In Act and Thought Choreographie und Konzept: Fabrice Mazliah in Zusammenarbeit mit den Tänzer*innen Katja Cheraneva, Frances Chiaverini, Josh Johnson, David Kern, Tilman O’Donnell, Natalia Rodina, Jone San Martin, Yasutake Shimaji, Ildikó Tóth Künstlerische Assistenz: Liz Waterhouse, Cyril Baldy Musik/Soundkomposition: Johannes Helberger Lichtkonzept/Design: Harry Schulz Bühnenbild: Fabrice Mazliah Bühnenrealisierung: Max Schubert, Harry Schulz Kostüme: Dorothee Merg Premiere: 18.6.2015, Frankfurt LAB
In Act and Thought – a score for six performers Konzept, Choreographie: Fabrice Mazliah in Zusammenarbeit mit den Tänzer*innen Katja Cheraneva, Frances Chiaverini, Josh Johnson, David Kern, Yasutake Shimaji, Ildikó Tóth
Werkverzeichnis
Getanzt von: Katja Cheraneva, Frances Chiaverini, Josh Johnson, David Kern, Natalia Rodina, Ildikó Tóth Künstlerische Assistenz: Liz Waterhouse, Cyril Baldy Musik: Johannes Helberger kling klang klong Lichtkonzept/Design: Harry Schulz Bühnenbild: Fabrice Mazliah Bühnenrealisierung: Max Schubert Kostüme: Dorothee Merg Produktionsleitung: Johanna Milz Premiere: 26.5.2016, Chiesa della Misericordia, Venedig
O Konzept und Choreographie: Laurent Chétouane mit Mikael Marklund Tanz: Mikael Marklund Licht: Stefan Riccius Produktionsleitung: Christine Kammer, Hendrik Unger Premiere: 20.7.2012, Festival d’Avignon
(ohne titel) (2000) Konzept: Tino Sehgal Mit: Andrew Hardwidge, Frank Willens, Boris Charmatz Premiere der Wiederaufnahme 2015: 27.8.2013, Tanz im August, Berlin
Soli Idee: Laurent Chétouane Choreographie: Laurent Chétouane, Ioannis Mandafounis, Mikael Marklund, Roberta Mosca Licht: Jan Maertens Produktionsleitung: Christine Kammer, Hendrik Unger Premiere: 26.9.2015, deSingel, Antwerpen
Solo with Jack Konzept, Performance, Text: Philipp Gehmacher Performance: Jack Hauser Raum, Dramaturgie, Sound: Vladimir Miller
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Licht: Jan Maertens Kostüme: Lila John Technische Leitung: Monika Gruber, Alexander Wanko Produktionsleitung: Stephanie Leonhardt Produktionsassistenz: Angela Bedekovic Raumassistenz: Alina Huber Soundassistenz: David Kammann Unter Verwendung von Ausschnitten aus der Symphonie Nr. 8 und der Symphonie Nr. 9 von Franz Schubert, der Filmmusik von Mihály Víg für Béla Tarrs »The Man from London« und Textzitaten von Adele Adkins, Franz Kafka, Chris Marker und Wolfgang Tillmans Premiere: 23.7.2012, ImPulsTanz, Wien
Solo with R/Perspective(s) Choreographie: Laurent Chétouane, Roberta Mosca Tanz: Roberta Mosca Licht: Stefan Riccius Produktionsleitung: Christine Kammer, Hendrik Unger Premiere: 26.6.2014, La Biennale di Venezia
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Zu Trisha Brown Trisha Brown: Accumulation. Aufzeichnung (von Mark Robinson) der Aufführung am 5. Oktober 1996 im Howard Gilman Opera House, Brooklyn Academy of Music, https://www.youtube.com/watch?v=86I6icDKH3M vom August 2020.
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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein
Pina Bausch und das Tanztheater Die Kunst des Übersetzens 2019, 448 S., Hardcover, Fadenbindung, 71 Farbabbildungen, 28 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4928-4 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4928-8
Gabriele Klein (Hg.)
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Manfred Brauneck
Die Deutschen und ihr Theater Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? 2018, 182 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3854-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3854-1 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3854-7
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Theater- und Tanzwissenschaft Hans-Friedrich Bormann, Hans Dickel, Eckart Liebau, Clemens Risi (Hg.)
Theater in Erlangen Orte – Geschichte(n) – Perspektiven Januar 2020, 402 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 24 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4960-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4960-8
Mateusz Borowski, Mateusz Chaberski, Malgorzata Sugiera (eds.)
Emerging Affinities – Possible Futures of Performative Arts 2019, 260 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4906-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4906-6
Irene Lehmann, Katharina Rost, Rainer Simon (Hg.)
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