Denken: psychologische Analyse der Entstehung und Lösung von Problemen 3593325276

Menschliche Tätigkeit, angefangen vom Alltagsleben bis zum wissenschaftlichen Arbeiten, ist strukturiert durch Probleme

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German Pages [246] Year 1976

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Table of contents :
Vorbemerkung 8
1. Einleitung 11
1.1 Problemlösen im vorwissenschaftlichen Verständnis . . . 11
1.2 Problemlösen als Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher und praktischer Bereiche 13
1.3 Probleme und Problemverhalten als Gegenstand der
Psychologie 15
1.4 Aufgabe der Untersuchung 18
2. Die psychologische Theorie des Problemlösens. . . . 21
2.1 Entstehung und Entwicklung der Theorie des Problemlösens 21
2.2 Die Bestimmung des Problems in der Theorie des Problemlösens . 29
2.2.1 Definition des Problems in der Theorie des Problemlösens . . . . . . . . . . 30
2.2.2 Die in der Theorie des Problemlösens verwendeten Probleme 32
2.3 Die Bedeutung des Problembegriffs für die Untersuchung
des Problemdenkens 39
3. Zur naturgeschichtlichen Herausbildung von Aufgabe
und Problem 42
3.1 Vorbemerkung zu Gegenstand und Methode 42
3.2 Zur naturgeschichtlichen Herausbildung der Aufgabe . . 45
3.3 Zur naturgeschichtlichen Herausbildung des Problems . . 52
3.4 Der objektiv-notwendige und der subjekthaft-aktive
Charakter von Aufgaben . . 56
4. Die gesellschaftlich-historische Entwicklung des Problemdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
4.1 Vorformen des Problemdenkens in der Urgesellschaft . . 60
4.2 Problemdenken auf der Stufe der Wissenschaft in den
vorbürgerlichen Klassengesellschaften . 64
4.3 Der allgemeine gesellschaftlich-historische Charakter
des Problems 67
54.3.1 Freiheit und Notwendigkeit in der Problemstellung . . . 67
4.3.2 Die Gesellschaftlichkeit des Problems 71
4.3.3 Der ideelle Charakter des Problems 75
4.3.4 Probleme als Entwicklungsmomente der Tätigkeit . . . . 80
5. Die Entstehung von Problemen in der bürgerlichen
Gesellschaft 83
5.1 Die Entstehung des Problems der Kraftmaschine 85
5.2 Die Entsubjektivierung des Problems 88
5.3 Problemdenken in der bürgerlichen Gesellschaft 93
5.3.1 Trennung von Problemdenken und mechanischem
Denken 93
5.3.2 Das entsubjektivierte Problem im individuellen Bewußtsein . . . . . . 95
5.3.3 Auseinanderfallen von Problemsituation und Problembewußtsein 100
6. Die Entwicklung von Problemen bei festem Ziel - Das
abgeschlossene Problem 105
6.1 Die Entwicklung des Problems der Kraftmaschine und
seine Lösung durch J. Watt 108
6.2 Komponenten der Problementwicklung 112
6.3 Der Zusammenhang von Problementstehung, Problementwicklung und Problemlösung: die Bewegung von Ziel
und Mittel im Problemprozeß 116
6.4 Das abgeschlossene Problem 125
6.4.1 Die Fixierung von Zielen 125
6.4.2 Die Fixierung der Mittel . . 129
6.4.3 Wertheimers Parallelogramm-Auf gäbe als fixiertes Problem 132
6.4.4 Die Form des Problems in der modernen Theorie des
Problemlösens 135
6.4.5 Virtuelle Endlichkeit und virtuelle Lösbarkeit durch
Probieren 139
6.4.6 Der Begriff des abgeschlossenen Problems 148
7. Problemdenken und begreifendes Erkennen 156
7.1 Das Problem des Mehrwerts 156
7.1.1 Entwicklung und Lösung des Mehrwertproblems als rein
gedanklicher Prozeß 158
7.1.2 Die Lösung des Mehrwertproblems im Licht der psychologischen Theorie des Problemlösens 170
67.1.3 Marx'Weg zur Lösung des Mehrwertproblems 173
7.1.4 Die Mehrwerttheorie von Marx 183
7.1.5 Das Mehrwertproblem und seine Lösung als historischer
Prozeß 187
7.2 Die Schranken des in den bürgerlichen Verhältnissen
verhafteten Denkens 192
7.2.1 Die »Grundproblematik« der bürgerlichen Gesellschaft 192
7.2.2 Zur historischen Entwicklung des wissenschaftlichen
Denkens: »metaphysisches« Denken und abgeschlossenes
Problem 197
7.2.3 Grenzen und Bedeutung der »Theorie des Problemlösens«
und der Kreativitätsforschung . . 204
7.3 Uberwindung der durch die bürgerliche Gesellschaftsform
erzeugten Erkenntnisschranken 210
7.3.1 Zur historischen Entwicklung des begreifenden Erkennens 210
7.3.2 Das dialektische Problem 214
7.3.3 Perspektiven der Untersuchung des Denkens 221
Literaturverzeichnis 229
Verzeichnis der angeführten Problembeispiele 236
Personenverzeichnis 237
Sachverzeichnis 240
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Denken: psychologische Analyse der Entstehung und Lösung von Problemen
 3593325276

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Psychologische Amiyse

der Entstehung und Lösung von Problemen

Studium SCr^ifcheSmsa!wis$eii$chaft

Menschliche Tätigkeit, angefangen vom Alltagsleben bis zum wissenschaftlichen Arbeiten, ist strukturiert durch Probleme und deren Lösung. In der Psychologie erscheint die Problembezogenheit des Denkens überwiegend verkürzt als Theorie des Problemlösens, während die Entstehung und Entwicklung von Problemen als Anfang des Denkprozesses vernachlässigt werden. In diesem Band wird in historischer Analyse ein umfassender Begriff des Problems als eines notwendigen Entwicklungsmoments gesellschaftlicher Lebenstätigkeit ausgearbeitet. Anhand der Analyse zweier geschichtlicher Problemprozesse (Erfindung der Dampfmaschine durch Watt und Entstehung der Mehrwerttheorie von Marx) wird u.a. die „abgeschlossen"-formale Form des Problemdenkens und ihr Verhältnis zu begreifender Erkenntnis untersucht.

Rainer Seidel, geb. 1941, studierte Psychologie und Philosophie in Frankfurt, Freiburg und Hamburg. 1968/69 Tätigkeit als klinischer Psychologe; 1970 bis 1975 Assistent am Psychologischen Institut der FU Berlin; z.Z. dort als Lehrbeauftragter tätig. Veröffentlichungen: u.a. Gleiss/Seidel/Abholz: »Soziale Psychiatrie«, 1973.

Studium: Kritische Sozialwissenschaft Wissenschaftlicher Beirat: Franz Dröge, Bremen; Klaus Holzkamp, Berlin; Klaus Horn, Frankfurt/M.; Urs Jaeggi, Berlin; Ekkehart Krippendorff, Bologna; Hans Joachim Krüger, Gießen; Wolf-Dieter Narr, Berlin; Frieder Naschold, Berlin; Claus Offe, Bielefeld; Jürgen Ritsert, Frankfurt/M.; Erich Wulff, Hannover. Lektorat: Adalbert Hepp/Stefan Müller-Doohm

Rainer Seidel Denken - Psychologische Analyse der Entstehung und Lösung von Problemen Texte zur Kritischen Psychologie, Bd. 6, Psychologisches Institut der FU Berlin

Campus Verlag Frankfurt/New York

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Seidel # Rainer Denken , psychologische Analyse der Entstehung und Lösung von Problemen. - 1. Aufl. - Frank= furt/liain, New York : Campus Verlag, 1976. (Campus : Studium ; 527 : krit. Sozialwiss.) (Texte zur kritischen Psychologie ; Bd. 6) ISBN 3-593-32527-6

ISBN 3-593-32527-6 Alle Rechte vorbehalten Copyright (c) 1976 bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Gestaltung und Produktion: Buchteam Frankfurt Satz: Beltz, Hemsbach Druck und Bindung: Beltz, Hemsbach Printed in Germany

Inhalt

Vorbemerkung

8

1.

Einleitung

11

1.1 1.2

11

1.4

Problemlösen im vorwissenschaftlichen Verständnis . . . Problemlösen als Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher und praktischer Bereiche Probleme und Problemverhalten als Gegenstand der Psychologie Aufgabe der Untersuchung

15 18

2.

Die psychologische Theorie des Problemlösens. . . .

21

1.3

Entstehung und Entwicklung der Theorie des Problemlösens 2.2 Die Bestimmung des Problems in der Theorie des Problemlösens . 2.2.1 Definition des Problems in der Theorie des Problemlösens . . . . . . . . . . 2.2.2 Die in der Theorie des Problemlösens verwendeten Probleme 2.3 Die Bedeutung des Problembegriffs für die Untersuchung des Problemdenkens

13

2.1

3.

Zur naturgeschichtlichen Herausbildung von Aufgabe und Problem

3.1 3.2 3.3 3.4

Vorbemerkung zu Gegenstand und Methode Zur naturgeschichtlichen Herausbildung der Aufgabe . . Zur naturgeschichtlichen Herausbildung des Problems . . Der objektiv-notwendige und der subjekthaft-aktive Charakter von Aufgaben . .

4.

Die gesellschaftlich-historische Entwicklung des Problemdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.1 4.2

Vorformen des Problemdenkens in der Urgesellschaft . . Problemdenken auf der Stufe der Wissenschaft in den vorbürgerlichen Klassengesellschaften . Der allgemeine gesellschaftlich-historische Charakter des Problems

4.3

21 29 30 32 39 42

42 45 52 56 60

60 64 67 5

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

Freiheit und Notwendigkeit in der Problemstellung . . . Die Gesellschaftlichkeit des Problems Der ideelle Charakter des Problems Probleme als Entwicklungsmomente der Tätigkeit . . . .

67 71 75 80

5.

Die Entstehung von Problemen in der bürgerlichen Gesellschaft

83

5.1 5.2 5.3 5.3.1

Die Entstehung des Problems der Kraftmaschine Die Entsubjektivierung des Problems Problemdenken in der bürgerlichen Gesellschaft Trennung von Problemdenken und mechanischem Denken 5.3.2 Das entsubjektivierte Problem im individuellen Bewußtsein . . . . . . 5.3.3 Auseinanderfallen von Problemsituation und Problembewußtsein 6.

Die Entwicklung von Problemen bei festem Ziel - Das abgeschlossene Problem

6.1

6.4.6

Die Entwicklung des Problems der Kraftmaschine und seine Lösung durch J. Watt Komponenten der Problementwicklung Der Zusammenhang von Problementstehung, Problementwicklung und Problemlösung: die Bewegung von Ziel und Mittel im Problemprozeß Das abgeschlossene Problem Die Fixierung von Zielen Die Fixierung der Mittel . . Wertheimers Parallelogramm-Auf gäbe als fixiertes Problem Die Form des Problems in der modernen Theorie des Problemlösens Virtuelle Endlichkeit und virtuelle Lösbarkeit durch Probieren Der Begriff des abgeschlossenen Problems

7.

Problemdenken und begreifendes Erkennen

6.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5

7.1 Das Problem des Mehrwerts 7.1.1 Entwicklung und Lösung des Mehrwertproblems als rein gedanklicher Prozeß 7.1.2 Die Lösung des Mehrwertproblems im Licht der psychologischen Theorie des Problemlösens 6

85 88 93 93 95 100

105

108 112 116 125 125 129 132 135 139 148 156

156 158 170

7.1.3 Marx'Weg zur Lösung des Mehrwertproblems 7.1.4 Die Mehrwerttheorie von Marx 7.1.5 Das Mehrwertproblem und seine Lösung als historischer Prozeß 7.2 Die Schranken des in den bürgerlichen Verhältnissen verhafteten Denkens 7.2.1 Die »Grundproblematik« der bürgerlichen Gesellschaft 7.2.2 Zur historischen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens: »metaphysisches« Denken und abgeschlossenes Problem 7.2.3 Grenzen und Bedeutung der »Theorie des Problemlösens« und der Kreativitätsforschung . . 7.3 Uberwindung der durch die bürgerliche Gesellschaftsform erzeugten Erkenntnisschranken 7.3.1 Zur historischen Entwicklung des begreifenden Erkennens 7.3.2 Das dialektische Problem 7.3.3 Perspektiven der Untersuchung des Denkens

173 183

Literaturverzeichnis

229

Verzeichnis der angeführten Problembeispiele

236

Personenverzeichnis

237

Sachverzeichnis

240

187 192 192 197 204 210 210 214 221

7

Vorbemerkung

Ausgangspunkt der kritisch-psychologischen Kognitionsforschung ist die Auffassung, daß das Denken - wie Erkenntnis überhaupt nur aus seiner wirklichen Funktion heraus, d.h. als Bedingung und Resultat der historisch determinierten Lebenstätigkeit der gesellschaftlichen Individuen begriffen werden kann. Unter dieser Leitvorstellung sollen die bisherigen Ansätze überwunden werden, in denen das Denken gewissermaßen als für sich selbst bestehende und untersuchbare »psychische Funktion« oder als Korrelat eines ebenso abstrakt gefaßten »Verhaltens« angesehen wird. Aus der grundlegenden Einsicht von der gesellschaftlich-historischen Natur des Menschen ergibt sich zugleich die methodische Richtlinie, die Subjektivität in ihren einzelnen Momenten — Wahrnehmung, Denken, Emotionalität usw. - in ihrer Entstehung und Entwicklung, beginnend mit ihrer Naturgeschichte bis zur Praxis unter den heutigen Lebensverhältnissen zu rekonstruieren. Zu den naturgeschichtlichen Grundlagen sind bisher die Texte von S C H U R I G (Band 3 und 5 der Reihe »Texte zur Kritischen Psychologie«) vorgelegt worden. Die erste detaillierte Untersuchung eines einzelnen psychologischen Gegenstandsbereichs wurde von H O L Z K A M P (»Sinnliche Erkenntnis«, 1973) unternommen. H O L Z K A M P legt hier im Anschluß an die Ableitung von Funktion und Grenzen des nur orientierenden Erkennens die Bedeutung des Denkens als tätigkeitsvermittelte und -vermittelnde Wirklichkeitserfassung dar. Insbesondere wird hier gezeigt, daß Denken, in dem Maße, wie in ihm die Realität umfassend adäquat reproduziert wird - vom Standpunkt seines Resultats aus - wesentlich Begreifen ist: Produkt des »begreifenden Erkennens« ist der Begriff, in welchem die wirkliche Entwicklung des zu erkennenden Gegenstands rekonstruiert, festgehalten, »auf den Begriff gebracht« wird. Dieser Aspekt des Denkens ist - hauptsächlich bezogen auf mögliche Behinderung von Erkenntnis durch sprachliche Verfestigungen — in der Arbeit von U L M A N N (»Sprache und Wahrnehmung«) weiter verfolgt worden. Betrachtet man das Denken vom Standpunkt seines Anfangs, von seinem praktischen Anlaß oder Beweggrund aus und verfolgt es selbst als einen Prozeß, so stellt es sich als eine gegenstandsbezogene Entwicklung dar: das Denken beginnt mit der Aufstellung eines Pro8

blems, entwickelt dieses weiter fort, um in der Lösung des Problems zu enden Und damit weitere Probleme aufzuwerfen. Denken ist somit - wie die Tätigkeit überhaupt - wesentlich ein »Problemprozeß«. Diese zweite Bestimmung des Erkennens ist der Gegenstand des vorliegenden Buches. In der bisherigen Literatur ist die Problembezogenheit des Denkens fast ausschließlich als Problem/ösew aufgenommen worden. Untersucht man, im Sinne des kritisch-psychologischen Ansatzes, das Denken als Moment der realen historischen und individualgeschichtlichen Entwicklung, so zeigt sich jedoch, daß die Reduktion des Denkens oder auch nur seiner Problembezogenheit auf das Lösen von Problemen ein verfälschender und sehr begrenzter Ansatz ist; denn die wirklichkeitsbedingte und -verändernde Praxis des erkennenden Subjekts liegt bereits in der Stellung, der Formulierung der Probleme begründet, der Aspekt deTTroblemlösung erweist sich sogar als dem Aspekt der Problemstellung untergeordnet. Wenngleich somit gesagt werden darf, daß unser Ansatz wesentliche Schwächen der bisherigen Psychologie des Denkens zu überwinden hilft, so teilt die vorliegende Untersuchung mit den meisten bisherigen einschlägigen Arbeiten den Nachteil, daß die kognitive Seite getrennt von der emotionalen untersucht wird und die letztere kaum zum Zuge kommt. Dabei ist der Zusammenhang von Kognitivem und Emotionalem hier recht offen sichtbar; beispielsweise hängt die Entstehung oder Behinderung von Problembewußtsein eng mit dem emotionalen Bezug des Individuums zum Problemgegenstand zusammen. Eine Uberwindung dieser rein abstraktiven Trennung ist dann — und nur dann — möglich, wenn kognitiver und emotionaler Aspekt der Persönlichkeit aus ihrer gemeinsamen Grundlage heraus, d.h. auf der Basis ihrer geschichtlich herausgebildeten Funktionen in der wirklichen Tätigkeit, erfaßt werden. Diese Voraussetzung ist aber gerade im Ansatz der Kritischen Psychologie verwirklicht, wenngleich die damit vorgezeichnete Integration erst mit der weiteren Arbeit hergestellt werden kann. Den nächsten Schritt hierzu stellt der die Untersuchung des emotionalen Aspekts weiterführende, im Herbst 1976 erscheinende Teil 2 sowie ein späterer Teil 3 der »Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung« von H O L Z KAMP- O S T E R K A M P (Band 4 dieser Reihe) dar. Dem soll dann eine integrative Arbeit über Persönlichkeit von H O L Z K A M P / H O L Z K A M P - O S T E R KAMP folgen. Der inhaltliche Zusammenhang verschiedener Arbeiten ist nur möglich auf der Grundlage eines realen Zusammenhangs ihrer Produzenten in der Arbeit. In der Tat spiegelt sich in der vorliegenden 9

Untersuchung die teilweise sehr enge Zusammenarbeit mit Mitarbeitern und Studenten des Psychologischen Instituts wider. Die gegenseitige Bezogenheit wird allerdings gelegentlich durch arbeitstechnische Schwierigkeiten verzögert: so konnte ich leider die gerade erschienene Arbeit von S C H U R I G »Die Entstehung des Bewußtseins« (Band 5 dieser Reihe) und Teil 2 der o. g. Arbeit zur Motivationsforschung nicht mehr verarbeiten. Allgemein erschien es mir nicht sinnvoll zu sein, die theoretischen und methodischen Grundkonzeptionen des kritisch-psychologischen Ansatzes hier noch einmal darzustellen. Daher habe ich mich meist darauf beschränkt, die jeweiligen Ergebnisse soweit auszubreiten, wie es dem Leser einen halbwegs bruchlosen Gang der Lektüre ermöglicht; ansonsten gebe ich Hinweise auf die jeweilige Literatur. Einen besonderen Anteil am Zustandekommen dieses Buches hat K . H O L Z K A M P , der die Arbeit in allen Stufen ihrer Entwicklung verfolgte und mir mehrfach zu einer adäquateren »Problemstellung« weiterhalf, wenn mein eigener »Problemprozeß« ins Stocken geraten war.

Berlin-Charlottenburg, Juni 1976

10

Rainer Seidel

1. Einleitung

1.1 Problemlösen im vorwissenschaftlichen Verständnis

Wir werden uns zunächst in einer rein deskriptiven Betrachtung davon überzeugen, daß jegliches Denken, überhaupt jede menschliche Tätigkeit in irgendeiner Form mit Problemen zu tun hat. Probleme scheinen in unserem Leben eine große Rolle zu spielen. Die Entwicklung eines einzelnen Individuums z.B. kann verstanden werden als ein fortlaufender Prozeß, in dem sich immer wieder Probleme stellen und in dem immer wieder Probleme gelöst werden müssen. Jede neue Anforderung, veränderte äußere Umstände oder Veränderungen eines Menschen selbst können neue Probleme für ihn aufwerfen. Uberhaupt scheint uns erst das Auftauchen eines Problems dazu zu veranlassen, besondere, neuartige, d.h. über das tägliche Einerlei hinausgehende Aktivitäten zu beginnen. So wie »persönliche Probleme« im praktischen Leben für das Individuum eine zentrale Bedeutung haben, so sind sie auch beim Erwerb von Wissen, besonders dem schulischen Lernen, von Bedeutung. Hier werden dem Lernenden Probleme des Wissens nahegebracht, und im Nachvollzug solcher Probleme entstehen für den Lernenden seinerseits Probleme, d.h. Probleme der Aneignung von Wissen. Bei der Aneignung von Wissen geht es nicht mehr um die »persönlichen Probleme«, sondern um Probleme allgemeiner Art. Sehen wir genauer hin, so zeigt sich, daß in nahezu allen Bereichen des Lebens und der Wissenschaft von »Problemen« die Rede ist. In Zeitungen etwa spricht man vom Problem einer Friedensregelung im Nahen Osten, von Problemen — vielleicht unlösbaren Problemen — im Zusammenhang politischer Verhandlungen, vom Problem der Umweltverschmutzung, von den Problemen der Arbeiterschaft in wirtschaftlichen Krisensituationen usw. Der Begriff des Problems wird überhaupt oft im umfassendsten Sinn verwandt, etwa wenn man von den großen Problemen der Menschheit, den Hauptproblemen einer bestimmten Gesellschaft, den Grundproblemen einer bestimmten Zeit spricht. Um nur einmal irgendein Beispiel herauszugreifen: in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie erschien ein Bericht über den XV. Internationalen Philosophiekongreß unter dem Titel »Marxistisch-leninistische 11

Philosophie - theoretische Grundlage der Lösung der Probleme unserer Epoche« ( R U P P R E C H T 1974; Hervorh. R.S.) Auch in der Alltagssprache drückt sich die Bedeutung von Problemen aus. So ist es beispielsweise ein gängiger Ausdruck der Versicherung, daß ein Vorhaben ohne weiteres durchgeführt werden kann, daß man sagt »kein Problem, das schaffe ich« o.ä. Ein Nicht-Einverständnis mit einem gegnerischen Argument wird oft mit einer Bemerkung wie »diese Ansicht ist mir aber sehr problematisch« ausgedrückt. Werbewirksam bieten sich Unternehmen als effektive »Problemloser« an: »wir lösen ihre xy-Probleme«, wobei xy irgendein Bereich ist, sodaß es dann etwa Transport-Probleme oder Haar-Probleme oder Fernseh-Probleme oder Urlaubs-Probleme sind, für deren Lösung sich das Unternehmen empfiehlt. Wenn man einem Stellenangebot der Unternehmensberatung McKinsey & Co. glauben kann, das kürzlich in der »Zeit« inseriert wurde, so ist das Problemlösen schon zu einem selbständigen Beruf geworden: Die Firma bietet »Eine internationale Karriere >ProblemlöserProblem< entsteht z.B. dann, wenn ...«. Mit dieser Ausdrucksweise wird offensichtlich auf eine gewisse Situation hingewiesen, in der für ein Subjekt (bei D U N C K E R »Lebewesen«) ein Problem entsteht. Die Definition fährt dann fort »... wenn ein Lebewesen ein Ziel hat...«. Nach unserer Ableitung müßte man nun fortfahren etwa »und nicht über die Mittel verfügt, dieses Ziel zu erreichen«, womit wir den Widerspruch von Ziel und Mittel genannt hätten. Bei D U N C K E R lautet die Fortsetzung aber anders, es heißt da nämlich »... und nicht >weiß G. Bin ich in der ersten Phase Käufer, so notwendigerweise in der zweiten Phase Verkäufer. Was dem 160

einen recht ist, ist dem anderen billig: verkaufe ich grundsätzlich um 10 % zu teuer, so werden die anderen dies auch tun und so verliere ich meine zusätzlichen 10 % in dem Moment, wo ich dann als Käufer auftrete. Somit kann im gesellschaftlichen Durchschnitt nichts aus der Zirkulation herauskommen, was nicht schon vorher in ihr vorhanden war. Diese Überlegung betrifft, wie gesagt, das Gesamtsystem, und schließt keineswegs aus, daß gewisse Einzelkapitale oder auch einzelne Produktionszweige aus jeweiligen spezifischen Marktbedingungen (Konkurrenz, Angebot und Nachfrage) Vorteile erzielen. Diese gehen dann jedoch zu Lasten anderer Marktteilnehmer. Nun bedeutet die so bewiesene Unhaltbarkeit der Vorstellung, daß der gesellschaftliche Reichtum aus dem Handel entspringe, keineswegs, daß diese Auffassungen aus der Welt seien. Sie dürften nicht nur Bestandteil ökonomischen Alltagsbewußtseins nach wie vor sein, sondern wurden auch - wenngleich in sehr verschiedenen Formen - immer wieder in der ökonomischen Theorie herangezogen. So gehen etwa die subjektiven Wertlehren, die die Nützlichkeit des Produkts für den Käufer als Grundlage der Wertbestimmung ansehen - wie M A R X am Beispiel des Philosophen C O N D I L L A C zeigt ( M E W 23, S. 173 f.) - letztlich auch von der produktiven Funktion des Handels aus.

(2) Das Mehrwertproblem in der physiokratischen Theorie Die geschichtlich auf den Merkantilismus folgende und die merkantilistischen Auffassungen ablösende Theorie war die Lehre der sog. Physiokraten. Sie wurde hauptsächlich in Frankreich entwickelt; ihre Hauptvertreter sind Q U E S N A Y , T U R G O T , M I R A B E A U , M E R C I E R DE LA R I VIERE, wobei die Unterschiede in ihren Auffassungen für uns zu vernachlässigen sind. Wie der Begriff »Physiokratie« - übersetzt »Naturherrschaft« — schon andeutet, bezieht sie sich wesentlich auf die natürlichen Bedingungen der Produktion. Zentral wurde so der Begriff der produktiven Arbeit. Welche Arbeit ist produktiv? Für die Merkantilisten war diejenige Arbeit produktiv, deren Produkte durch den Außenhandel mehr ins eigene Land zurückbrachten als ihre Herstellung gekostet hatte. Da die Physiokraten u.a. die logische Unzulänglichkeit des merkantilistischen Prinzips, von der Zirkulation auszugehen, erkannt hatten, mußten sie die Produktivität anderswo suchen. Halten wir fest: wenn man davon ausgeht, daß das »Mehr« nicht aus der Zirkulation wie aus dem Nichts entsteht, sondern materiell-gegenständlich erscheinen und angeeignet werden muß, so kommt man zunächst einmal zu der abstrakten Auffassung, wie wir sie zu Beginn dieses Abschnitts, in der Begründung für die Auswahl des Mehrwertproblems zugrundegelegt hatten: nämlich daß in der Produktionstätigkeit des Arbeiters — durchschnittlich gesehen — mehr herauskommen muß als 161

der Arbeiter selbst verbraucht; das Mehrprodukt ist also »der Uberschuß der produzierten Materie über die konsumierte Materie« (MEW 26.1, S. 56). Dieser Sachverhalt war am anschaulichsten in der Landwirtschaft gegeben, da hier die Arbeitsteilung noch wenig fortgeschritten war und die produzierte Materie, hauptsächlich Nahrungsmittel, der Qualität nach mit dem Hauptbestandteil der Konsumtion, eben auch Nahrungsmittel, identisch ist. Wodurch kam aber das Mehr an Produkten in der landwirtschaftlichen Arbeit zustande? Offensichtlich durch gewisse Eigenschaften der Natur, von denen der Erfolg der landwirtschaftlichen Produktion für jedermann sichtbar abhängt, durch Fruchtbarkeit des Bodens, die klimatischen Bedingungen, die Produkte der Tiere usw. Kurzum, der Mehrwert ist ein Geschenk der Natur. Dies ist der eine Aspekt der physiokratischen Lehre. Der andere Aspekt, mit dessen Betonung besonders T U R G O T den Grundstein für die weitere Entwicklung der ökonomischen Theorie legte, ist der Sachverhalt, daß die Natur das Mehrprodukt nicht einfach verschenkt, sondern daß seine Aneignung stets mit der (landwirtschaftlichen) Arbeit verbunden ist. Ferner sind die gegenständlichen Arbeitsbedingungen vom Arbeiter getrennt, und das Recht der Aneignung der Produkte liegt nicht beim Arbeiter, sondern dem (kapitalistischen) Grundbesitzer. Läßt der Grundbesitzer auf seinem Land arbeiten, so kauft er die Arbeit des Arbeiters. Er macht seinen Gewinn dadurch, daß der Arbeiter sich selbst durch die Arbeit auf seinem Land ernähren kann und daß das darüber hinaus entstehende und vom Grundbesitzer anzueignende Geschenk der Natur dann von diesem verkauft werden kann. In dieser Skizze der Wertlehre der physiokratischen Theorie haben wir bereits ihre Formulierung und Lösung des Mehrwertproblems. »Also setzten die Physiokraten das Wesen der kapitalistischen Produktion in die Produktion des Mehrwerts. Dies Phänomen galt es ihnen zu erklären. Und es war das Problem, nachdem sie den profit d'expropriation des Merkantilsystems beseitigt hatten« (MEW 26.1, S. 33). Die Betonung im ersten Satz dieses Zitats liegt auf »Produktion«, und so haben wir als die allgemeine Problemstellung der Physiokraten: Mehrwert als Problem der Produktion; als Lösung innerhalb dieser Problemstellung ergab sich: der Mehrwert entspringt aus der kapitalistischen Aneignung des von der Natur gegebenen, an die Arbeit gebundenen Mehrprodukts. Mehr praktisch gesehen wurde die Vermehrung des Reichtums so zum Problem des Grundbesitzes. Die Unzulänglichkeit dieser Lösung des Mehrwertproblems springt nicht so leicht ins Auge wie bei der merkantilistischen Auffassung. Dennoch bietet die physiokratische Theorie keine hinreichende Erklä162

rung. Insbesondere liegt in ihr der folgende Widerspruch (vgl. MEW 26.1, S. 21 f.): Einerseits wird das Mehrprodukt als eine Gabe der Natur dargestellt. Andererseits aber wird die kapitalistische Aneignung des Mehrprodukts durch den Grundeigentümer vorausgesetzt, d.h. der Mehrwert wird implizit aus der Aneignung fremder Arbeit erklärt. Diese immanente Unzulänglichkeit der physiokratischen Lehre wird deutlicher, wenn wir auf die ihr zugrunde liegende Auffassung von Wert überhaupt - »Die Bestimmung des Mehrwerts hing natürlich ab von der Form, worin der Wert selbst gefaßt wurde« (MEW 26.1, S. 143/144) — zurückgehen. Bei den Physiokraten ist der Wert ein Produkt der Natur, also reiner Gebrauchswert. Damit wird es aber schon sehr schwierig, etwa die auch bei gleichbleibenden natürlichen Produktionsbedingungen beobachtbaren Schwankungen der Preise zu erklären. Allgemein bleibt zu fragen, warum die Arbeit - was empirisch ja ganz offensichtlich ist - eine unbedingte Notwendigkeit für das Erscheinen von Wert darstellt und wie ihre unbezweifelbare Bedeutung für die Bildung des Werts mit der produktiven Funktion der Natur vermittelt ist. Abgesehen von diesen inneren Unzulänglichkeiten der physiokratischen Lehre machte die geschichtliche Entwicklung der nicht-agrikulturellen Produktion, zunächst der Manufaktur, ein tieferes, gründlicheres Eindringen in die Gesetze der Ökonomie notwendig. Es bildete sich so das erste umfassende ökonomische System heraus, die klassische bürgerliche Ökonomie. (3) Das Mehrwertproblem in der klassischen bürgerlichen Ökonomie Wir können uns hier auf die beiden Hauptvertreter dieser Lehre, S M I T H und R I C A R D O , beschränken. Adam S M I T H schloß unmittelbar an die physiokratische Theorie an. Wie soeben angegeben, mußte es nun zunächst einmal um eine adäquatere Fassung des Wertbegriffs überhaupt gehen. Wir hatten schon gesehen: bei den Merkantilisten wurde Wert mit Geld identifiziert, bei den Physiokraten mit Natur. S M I T H erkannte die Notwendigkeit, für die Erklärung des Werts von allen wirtschaftlichen Bereichen insgesamt, damit auch von der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung und der dadurch bedingten Zirkulation auszugehen und so den Zusammenhang aller ökonomischen Erscheinungen zu erfassen. Auf diese Weise kam S M I T H ZU jener fundamentalen Einsicht, die man als »Arbeitswerttheorie« oder »Wertgesetz« bezeichnet. Ihr Grundprinzip läßt sich in einem Satz aussprechen: der Wert jeder Ware ist bestimmt durch die zu ihrer Produktion aufgewendete Arbeitszeit. M A R X zeigte später, daß dieses Gesetz insofern ungenau ist, als nicht die jeweils tatsächlich aufgewandte Arbeitszeit, sondern die 163

gesellschaftlich notwendige, durchschnittliche Arbeitszeit den Wert i bestimmt. Aber hiervon können wir jetzt absehen. Zum Verständnis des Folgenden ist es nötig, den Grundgedanken der Arbeitswerttheorie noch etwas zu entfalten. Hierzu stellen wir uns (in Anlehnung an eine Darstellung von M A R X in MEW 26.1, S. 42 ff.) eine voll entwickelte einfache Warenproduktion vor. Es sei so angenommen, daß alle Arbeiter für sich selbst produzieren, daß jedem Arbeiter also seine Produktionsmittel selbst gehören und er die Produkte seiner Arbeit selbst verkauft. Eine solche Vorstellung ist allerdings ein rein gedankliches Modell, denn obwohl es einfache Warenproduktion schon in sehr frühen Gesellschaftsformationen gab, so war sie doch nie die vorherrschende, durchgängige Form der Produktion. In dieser Modellgesellschaft würde sich das Wertgesetz in reinster Form zeigen: die Produzenten tauschen ihre Produkte auf der einzigen rationalen Basis, auf der ein Tausch unter gleichberechtigten Besitzern von als Waren produzierten Produkten überhaupt möglich ist, eben auf der Basis des Wertgesetzes: es tauschen sich die Waren nach Maßgabe der in ihnen vergegenständlichten Arbeit aus. Das heißt, für eine bestimmte Menge von Waren erhalte ich im Tausch andere Waren gerade so, daß die erhaltenen Waren genauso viel Arbeitszeit erforderten, wie die von mir gegebenen. Die Gleichheit der sozialen Stellung der auf dem Markt tauschenden Produzenten drückt sich somit darin aus, daß die Produzenten stets Äquivalente tauschen. Die vorher aufgegriffene Frage nach dem Wert der Warenprodukte 1 stellt sich als die Frage nach dem Wert der Arbeit. In dem Modell der gesellschaftlich-totalen einfachen Warenproduktion ist die Frage nach dem Wert der Arbeit bereits gelöst. Der Wert der Arbeit eines Produzenten ist identisch mit dem Wert der Arbeitsprodukte. Der Wert der Arbeitsprodukte ist aber dem Wertgesetz zufolge durch die zur Herstellung des Produkts notwendige Arbeitszeit eindeutig bestimmt. Nun war aber schon spätestens seit den Physiokraten die empirische Tatsache bekannt, daß in der kapitalistischen Produktion, im Verhältnis des Arbeiters zum Kapitalisten, die Produkte der Arbeit dem Arbeiter gar nicht gehören, sondern vom (agrikultureilen oder industriellen) Kapitalisten angeeignet werden. Daher war die obige Erklärung für den Wert der Arbeit rein empirisch nicht anwendbar. Ganz im Gegenteil ergab sich ein Widerspruch zum Wertgesetz: der Lohn des Arbeiters muß ja immer kleiner sein als der Wert der vom Kapitalisten verkauften Produkte, denn ohne diese Differenz gäbe es keinen Profit für den Kapitalisten und keinerlei Sinn unternehmerischen Tätigwerdens. S M I T H sah diesen Widerspruch sehr klar und zog aus ihm den Schluß, daß das Wertgesetz nur für die einfache Warenpro164

duktion gelte, die er als eine historische Vorform der kapitalistischen Wirtschaft ansah. Für die kapitalistische Warenproduktion glaubte er andere Bestimmungen des Werts vornehmen zu müssen. Seine daraus entstehenden modifizierten Auffassungen des Werts brauchen uns hier nicht zu beschäftigen. Festzuhalten ist nur, daß S M I T H aufgrund seiner uneinheitlichen, inkonsequenten Auffassung des Wertbegriffs vielfach begrifflich unklar bleibt, was auch zu Kritik und Weiterentwicklung seines Systems führte. Die entscheidende Weiterentwicklung erfuhr die von S M I T H begründete Ökonomie durch David R I C A R D O . R I C A R D O konnte zahlreiche Unstimmigkeiten des SMiraschen Systems beseitigen und neue Ansatzpunkte für die Untersuchung einer Reihe von ökonomischen Problemen finden, indem er die Arbeitswerttheorie konsequent ausarbeitete und der ökonomischen Theorie als durchgängige, einheitliche Basis zugrundelegte. Mit der absoluten Behauptung des Wertgesetzes war natürlich der oben genannte Widerspruch, der S M I T H zur partiellen Zurücknahme des Wertgesetzes veranlaßt hatte, nicht beseitigt. Im Gegenteil, er trat jetzt noch klarer hervor. Daß R I C A R D O dennoch Fortschritte in der ökonomischen Theorie erzielen konnte, hat erstens den Grund, daß er den Widerspruch des Austausches von Kapital und Arbeit gegen das Wertgesetz schlicht und einfach ignorierte. »Er löst nicht nur nicht das Problem. Er fühlt es nicht einmal bei A. Smith heraus« (MEW 26.2, S. 399/400). Es erscheint eigenartig, daß man gewissermaßen durch das Verdrängen eines Problems oder Widerspruchs (zeitweilig wenigstens) vorankommen kann. Diese Möglichkeit kam dadurch zustande, daß zweitens R I C A R D O einen Sachverhalt bemerkte, der S M I T H entgangen war: S M I T H hatte aus der impliziten Einsicht, daß der Austausch von Kapital und Arbeit kein Äquivalententausch ist, sofort den Schluß gezogen, daß das Wertgesetz im Kapitalismus generell nicht gelten könne. R I C A R D O sah dagegen, daß die Verletzung des Äquivalenzprinzips im Austausch von Kapital und Arbeit durchaus verträglich ist mit der weiteren Gültigkeit des Äquivalenzprinzips für den Austausch Ware gegen Ware. Anders ausgedrückt: R I C A R D O sah, daß der Austausch von vergegenständlichter Arbeit auch dann in Ubereinstimmung mit dem Wertgesetz erfolgen kann, wenn man annimmt, daß der Austausch von vergegenständlichter Arbeit gegen lebendige Arbeit (also der Austausch von Kapital gegen die Arbeit des Arbeiters) nicht dem Wertgesetz folgt (vgl. MEW 26.1, S. 44; MEW 26.2, S. 399 f.). Aus diesen Gründen war es R I C A R D O möglich, das Wertgesetz gewissermaßen unter dem Schutz der Ausblendung eines Problems so konsequent wie möglich auszuarbeiten. Wenn es allerdings richtig ist, daß der zunächst einmal beiseitegescho165

bene Widerspruch eine grundlegende Bedeutung hat, dann kann dieses Vorgehen nur ein Stück weit tragen. Die bürgerliche Gesellschaft ist eben wesentlich durch den Austausch von Kapital und Arbeit bestimmt - ungeachtet der Gültigkeit des Wertgesetzes - und so mußte sich über kurz oder lang das beiseitegeschobene Problem geltend machen. In der Tat führte gerade die Unfähigkeit zur Lösung dieses Problems schließlich zur Auflösung der SMiTH-RicARDoschen Schule, was jetzt näher betrachtet werden soll. Fassen wir die Problematik der Mehrwertbestimmung durch die klassische bürgerliche Ökonomie zusammen! Während die Merkantilisten den Wert als Geld, die Physiokraten den Wert als Produkt der Erde bestimmt hatten, gelangte die klassische bürgerliche Ökonomie zur Bestimmung des Werts als der im Produkt vergegenständlichten abstrakten Arbeit, gemessen durch die Arbeitszeit. Erst auf dieser Grundlage war es möglich, den gesamten gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß in seinem Zusammenhang, als System, zu erfassen. Weiterhin war - aufbauend auf den früheren ökonomischen Theorien klar geworden, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Produktion bestimmt ist durch die Trennung der gegenständlichen Produktionsbedingungen vom Produzenten, dem Arbeiter, daß also die Arbeit selbst in den Austausch einbegriffen ist, daß die Produktion also wesentlich durch den Austausch von Kapital und Arbeit bestimmt ist. Das Problem der Erklärung des Mehrwerts stellte sich also nun als Problem des Austauschs von Kapital und Arbeit auf der Grundlage des Wertgesetzes. Im Unterschied zu den früheren ökonomischen Theorien wurde von der klassischen bürgerlichen Ökonomie zu diesem Problem genau betrachtet gar keine Lösung angeboten. Es blieb als ungelöste Frage stehen, und dies veranlaßte in der Folgezeit einerseits die Kritiker der klassischen bürgerlichen Ökonomie zur Abkehr von wesentlichen Prinzipien derselben, andererseits produzierte sie positive Lösungsversuche auf der Grundlage der Haupterkenntnisse der bürgerlichen Ökonomie. Die Kritik an der klassischen bürgerlichen Ökonomie produzierte so eine Reihe von weiteren Einzelproblemen. M A R X faßt diese in seiner Schrift »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« wie folgt zusammen. Ich zitiere diese Stelle relativ ausführlich, um an einem Beispiel zu zeigen, wie auch das MARxsche Denken durch die Kategorie des Problems strukturiert ist; außerdem läßt sich hier zeigen, daß die früher beispielhaft aufgewiesene Strukturierung einer ganzen Wissenschaft anhand ih-

rer H a u p t p r o b l e m e (s. die HiLBERTschen Probleme im A b s c h n i t t 1.1 sowie

die mathematischen Probleme der altgriechischen Mathematik im Abschnitt 4.2) keineswegs auf Mathematik oder Naturwissenschaften beschränkt ist. Die Problematik der bürgerlichen Ökonomie wird von M A R X (MEW 13, S.

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47 f.) in 4 einzelnen Problemen zusammengefaßt: »Erstens: Die Arbeit selbst hat Tauschwert und verschiedene Arbeiten haben verschiedenen Tauschwert. Es ist ein fehlerhafter Zirkel, Tauschwert zum Maß von Tauschwert zu machen ... Dieser Einwand löst sich auf in das Problem: die Arbeitszeit als immanentes Maß des Tauschwerts gegeben, auf dieser Grundlage den Arbeitslohn zu entwickeln. Die (MARXsche, R. S.) Lehre von der Lohnarbeit gibt die Antwort.« »Zweitens: Wenn der Tauschwert eines Produkts gleich ist der in ihm enthaltenen Arbeitszeit, ist der Tauschwert eines Arbeitstages gleich seinem Produkt... Nun ist das Gegenteil der Fall. Ergo. Dieser Einwand löst sich auf in das Problem: Wie führt die Produktion auf Basis des durch bloße Arbeitszeit bestimmten Tauschwerts zum Resultat, daß der Tauschwert der Arbeit kleiner ist als der Tauschwert ihres Produkts? Dies Problem lösen wir in der Betrachtung des Kapitals.« »Drittens: Der Marktpreis der Waren fällt unter oder steigt über ihren Tauschwert mit dem wechselnden Verhältnis von Nachfrage und Zufuhr... In der Tat wird... die Frage aufgeworfen, wie sich auf Grundlage des Tauschwerts ein von ihm verschiedener Marktpreis entwickelt oder richtiger, wie das Gesetz des Tauschwerts nur in seinem eigenen Gegenteil sich verwirklicht. Dies Problem wird gelöst in der Lehre von der Konkurrenz.« »Viertens: Der letzte Widerspruch...: Wenn der Tauschwert nichts ist als die in einer Ware enthaltene Arbeitszeit, wie können Waren, die keine Arbeit enthalten, Tauschwert besitzen, oder in anderen Worten, woher der Tauschwert bloßer Naturkräfte? Dies Problem wird gelöst in der Lehre von der Grundrente.« Zu dieser Charakterisierung des Standes der bürgerlichen Ökonomie anhand ihrer Grundprobleme wäre allerdings — wie WYGODSKI (1967, S. 81) bemerkt - ein fünftes hinzuzufügen, das MARX zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der »Kritik der Politischen Ökonomie«, 1858/59, noch nicht entwickeln konnte. Dies ist das Problem des Durchschnittsprofits und des Produktionspreises. Bei diesem Problem geht es um Folgendes: Nach dem Wertgesetz hängt - in der Lehre von R I C A R D O — die Höhe des Profits von der Höhe des für den Ankauf von lebendiger Arbeit verwendeten Kapitalteils ab; empirisch zeigt sich aber, daß durchschnittlich gesehen alle Kapitale, gleichgültig wieviel lebendige Arbeit sie anwenden, den gleichen Profit erzielen. Man erkennt leicht, daß alle 5 Grundprobleme mit der zentralen Frage nach dem Ursprung des Mehrwerts zusammenhängen, ja gerade sich aus dieser ableiten. Wir brauchen uns jetzt nicht mit der Frage aufzuhalten, warum gerade diese 5 Probleme als Grundprobleme ausgewählt sind, ob man nicht etwa einige weitere hinzuzunehmen hätte oder — wie ENGELS im Vorwort zum 2. Band des »Kapital« (MEW 24, S. 25 f.) nur zwei Probleme nennt, an denen die »Ricardosche Schule scheiterte« (ENGELS spricht hier erstens von dem von uns als allgemeines Problem in der Erklärung des Mehrwert bezeichneten Widerspruch und zweitens von der oben als 5. Problem angegebenen Schwierigkeit.). Fragen derart, welche Eigenschaften die zentralen Probleme einer Theorie besitzen, oder wie man allgemein »Grundprobleme« zu bestimmen hat, sind schon speziellere Fragen einer — noch nicht in Sicht befindlichen — Problemtheorie und Methodologie.

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(4) Die Lösung des Mehrwertproblems durch M A R X Stellen wir die formale Struktur des Mehrwertproblems noch einmal genauer dar. Sehr knapp und klar formuliert findet sich diese sowie der logische Gedankenablauf der M A R x s c h e n Lösung in einem Vorwort von E N G E L S aus dem Jahre 1891 zu der M A R x s c h e n Schrift »Lohnarbeit und Kapital« (MEW 6, S. 594 ff.). Ansonsten sind die hier behandelten Gedanken zusammengefaßt im 17. Kapitel des »Kapital«, Bd. 1 enthalten. Ausgangsbasis ist die absolute Behauptung des Wertgesetzes: Alle Waren tauschen sich nach der Äquivalenz der in ihnen vergegenständlichten Arbeitszeit aus, jeglicher Tausch ist also ein über die Arbeitszeit bemessener Äquivalententausch. Nun hat in der bürgerlichen Gesellschaft die gesamte Produktion Tauschcharakter, d. h. die Arbeit erscheint selbst als Ware. Somit drängt sich die Frage auf: was ist der Wert der Arbeit, wie wird der Austausch von Kapital und Arbeit geregelt? Es bietet sich sofort eine erste Lösung an, die sich syllogismusartig wie folgt darstellen läßt. Prämisse 1: Für alle Waren gilt, der Wert der Ware entspricht der in ihr enthaltenen Arbeitszeit; Prämisse 2: Arbeit ist eine Ware; Schluß: Der Wert der Arbeit entspricht der in den Waren enthaltenen Arbeitszeit. Dies ist offensichtlich eine inhaltslose Tautologie, ein falscher Zirkel wie M A R X sie des öftern bei den bürgerlichen Ökonomen bezeichnet, denn Arbeitszeit ist das Maß der Arbeit, wodurch der Schluß dann zu der Beziehung »Die Arbeitszeit wird durch die Arbeitszeit bestimmt« wird. In diesem Lösungsversuch wird »Wert der Arbeit« mit »Wert des Arbeitsprodukts« identifiziert. Nun hatte S M I T H bei seinen Überlegungen zum Wert der Arbeit schon die Kategorien Wert des Arbeitsprodukts und Wert der lebendigen Arbeit unterschieden bzw. verwechselt (vgl. MEW 26.1, S. 41 ff.). R I C A R D O versuchte dann den Wert der Arbeit (als Wert der lebendigen Arbeit) durch den Wert der Reproduktion des Arbeiters zu bestimmen. Der Wert der Arbeit wird so zum Wert der den Arbeiter reproduzierenden Lebensmittel. Der Arbeitslohn entspricht offenbar genau diesen Kosten des Arbeiters selbst. Wert des Arbeitsprodukts und Wert der Reproduktion des Arbeiters sind aber notwendig verschieden, denn ihre Differenz ist gerade der Mehrwert. Also wäre der Wert der Arbeit auf der Grundlage des Wertgesetzes nicht bestimmbar bzw. widersprüchlich (vgl. MEW 23, S. 558). Von den weiteren Versuchen, den Austausch von Kapital und Arbeit mit dem Wertgesetz in Ubereinstimmung zu bringen, sei hier noch der Ansatz von J. St. M I L L erwähnt (zit. n. MEW 26.3, S. 84 f.). M I L L geht davon aus, daß der Arbeiter sein Arbeitsprodukt an den Kapitalisten verkauft, daß er also nicht seine Arbeit verkauft, sondern als selbständiger Warenproduzent dem Kapitalisten gleichberechtigt ge168

genübertritt. Aber wie soll dabei ein Mehrwert herauskommen? Entweder indem der Arbeiter die Ware unter ihrem Wert an den Kapitalisten verkauft, oder der Kapitalist verkauft seinerseits die Ware über ihrem Wert weiter. Beide Fälle verstoßen natürlich gegen das Wertgesetz. Kurzum: man kann sich drehen und wenden wie man will, der Austausch von Kapital und Arbeit scheint mit dem Wertgesetz nicht in Ubereinstimmung zu bringen. Sehen wir uns die MARxsche Lösung nun im Ergebnis an! Im Anschluß an die Darlegung des Mehrwertproblems in seiner Widersprüchlichkeit heißt es im Arbeitslohnkapitel des »Kapital« (MEW 23, S. 559) lapidar: »Was dem Geldbesitzer auf dem Warenmarkt gegenübertritt, ist in der Tat nicht die Arbeit, sondern der Arbeiter. Was letzterer verkauft, ist seine Arbeitskraft. Sobald seine Arbeit wirklich beginnt, hat sie bereits aufgehört, ihm zu gehören, kann also nicht mehr von ihm verkauft werden. Die Arbeit ist die Substanz und das immanente Maß der Werte, aber sie selbst hat keinen Wert.« Das heißt also, das^PrQbjgßijdes Austausches von Kapital und Arbeit war von der bürgerlichen Ökonomie falsch gestellt worden: Arbeit und Kapital stehen sich gar nicht unmittelbar gegenüber, nicht Arbeit, sondern Arbeitskraft wird gegen den Lohn ausgetauscht. Die Arbeitskraft aber hat - was bereits die Physiokraten implizit erkannt hatten — die spezifische Eigenschaft, daß sie mehr produziert als sie selbst verbraucht. In diesem Sinne ist auch der Begriff »Arbeitslohn« verkehrt, man müßte eigentlich von »Arbeitskraftlohn« sprechen. Uberzeugen wir uns nun, daß mit der Erkenntnis dieser Vermitteltheit des Austauschs von Arbeit und Kapital das Mehrwertproblem — als Problem dieses Austauschs unter der absoluten Gültigkeit des Wertgesetzes — tatsächlich gelöst ist! 1.) Zwischen Arbeiter und Kapitalist findet Äquivalentenaustausch statt: der Arbeiter verkauft die Ware Arbeitskraft und erhält dafür genau den Wert dieser Ware im Arbeitslohn, nämlich die zur Produktion bzw. Reproduktion der Arbeitskraft nötigen Lebensmittel (in Geldform). 2.) Der Kapitalist verkauft die Waren zu ihrem Wert, d. h. nach Maßgabe der in ihnen stekkenden Arbeitszeit, die der Arbeiter verausgabte. 3.) In diesem Austausch wird Mehrwert für den Kapitalisten produziert, denn der Arbeiter setzt mehr Wert zu als seine Arbeitskraft besaß, anders ausgedrückt: er arbeitet länger als er zu seiner bloßen Reproduktion arbeiten müßte, er verrichtet zu einem Teil unbezahlte Arbeit. (Wir stellen hier natürlich nur den Kerngedanken der M A R x s c h e n Mehrwerttheorie dar, von allen Ausformungen und Besonderheiten wie der Bildung des Durchschnittsprofits, des Handelsprofits, der vielfachen empirisch bedingten Schwankungen usw. absehend.) 169

7.1.2 Die Lösung des Mehrwertproblems im Licht der psychologischen Theorie des Problemlösens Bevor wir die Entwicklung und Lösung des Mehrwertproblems weiter untersuchen, wollen wir prüfen, welchen Beitrag die psychologische Theorie des Problemlösens (TPL) zur Analyse des Prozesses des Mehrwertproblems leisten könnte. Es war ja früher die Behauptung aufgestellt und auch teilweise schon erhärtet worden, daß die TPL das empirisch auftretende, wirkliche Denken nur sehr begrenzt erklären oder überhaupt behandeln kann. Ich möchte mich hierbei im wesentlichen auf den Ubergang von der klassischen bürgerlichen Ökonomie zur M A R x s c h e n Theorie beschränken. Im 2. Kapitel waren in der Entwicklung der TPL zwei Phasen unterschieden worden. Die erste Phase ist gekennzeichnet durch die Erklärungsweisen der Gestaltpsychologie, in deren Kern sich das Lösen eines Problems als Umstrukturieren der als Ganzheit betrachteten Problemsituation darstellt. Zunächst einmal bestätigt sich die gestaltpsychologische Auffassung für das Entstehen der SMiTHSchen Arbeitswerttheorie: wie wir sahen, gelang diese wesentliche Erkenntnis dadurch, daß S M I T H im Unterschied zu seinen Vorgängern die Wirtschaft im Ganzen betrachtete, daß er nicht gewisse einzelne Teile verabsolutierte, nicht bloß den Handel, nicht bloß den Ackerbau, nicht bloß den Verkehr usw. ins Auge faßte. In der Tat ist es ein erstes Verdienst der Gestaltpsychologie, die Unfruchtbarkeit atomistischen oder elementaristischen Denkens und die Bedeutung des Erfassens von Gesamtheiten aufgewiesen zu haben. Auch was einen zweiten Aspekt der gestaltpsychologischen Auffassung angeht, das Gestaltprinzip und die innere Dynamik der Struktur, besitzt sie einen Erklärungswert für das Verständnis der Lösung des Mehrwertproblems. In der Problemstellung der klassischen bürgerlichen Ökonomie weist dieses in der Tat eine strukturelle Ungleichgewichtigkeit auf: zwei fundamentale Einsichten stehen im Widerspruch zueinander, 1.) das Wertgesetz, das Postulat des universellen Äquivalententauschs und 2.) die Existenz und wesentliche Funktion des Mehrwerts, der einen Tausch von NichtÄquivalenten beinhaltet. So gesehen stellt sich das Problem als die Frage: wie läßt sich der nicht-äquivalente Austausch von Arbeit und Kapital auf der Basis des im Wertgesetz formulierten Prinzips des allgemeinen Äquivalententauschs erklären? Es gibt bisher noch keine psychologischen Unterscheidungen von Problemtypen; man könnte auf der Grundlage der gestaltpsychologischen Arbeiten, insbesondere von D U N C K E R U. a. einen Problemtypus herausstellen, der etwa als »Barrierentyp« des Problems zu bezeichnen 170

wäre. Bei einem solcherart gegebenen Problem sind alle wesentlichen Momente zur Lösung schon in Sicht, aber der Lösung steht eine »Barriere« entgegen, eine falsche Selbstverständlichkeit; d.h. ein Sachverhalt, eine Funktion oder Beziehung von Dingen wird unhinterfragt für selbstverständlich genommen, verhindert aber die Lösung. In unserem Mehrwertproblem der klassischen Ökonomie finden wir als diese Barriere die Unterstellung, daß Kapital und Arbeit sich zum Tausch unmittelbar gegenüberstehen. Diese falsche Sichtweise galt als absolut und selbstverständlich; vor allem wurde die Unmittelbarkeit des Austauschs von Kapital und Arbeit nicht etwa positiv als eine These behauptet, vielmehr war sie eine unausgesprochene, den Ökonomen gar nicht bewußte Selbstverständlichkeit. Das Schwierige an solchen falschen Strukturierungen besteht gerade darin, daß man sich ihrer überhaupt nicht bewußt ist, daß sie als ein fester unhinterfragter Denkrahmen ihre Wirkung ausüben. Gestaltpsychologisch gesprochen bestand die Leistung von M A R X darin, gerade diese Selbstverständlichkeit hinterfragt und dadurch die »Barriere« überwunden zu haben. In dem Augenblick aber, wo die falsche Strukturierung des Problems beseitigt ist, lassen sich die das Problem konstituierenden Unstimmigkeiten, die Disharmonie der verschiedenen Prämissen, beseitigen. Ich will diese Skizze zu einem gestaltpsychologischen Herangehen an das Mehrwertproblem nicht weiter verfolgen. Ohne Zweifel ließen sich bei einer näheren Betrachtung dieser Art weitere Erklärungsmomente finden. Insgesamt jedoch hat das gestaltpsychologische Herangehen einen entscheidenden Mangel: es bleibt oberflächenhaft-strukturell. Es erfaßt nur gewisse logisch-strukturelle Aspekte des Lösungsprozesses, und die eigentlich interessante Frage, wie es denn dazu kommt, daß das problemlösende Subjekt das strukturelle Ungleichgewicht beseitigen kann, dUT es die Barriere durchbrechen kann, bleibt völlig offen. Unerklärbar bleibt auch die Frage, warum das eine Subjekt zur Lösung kommt, das andere dagegen nicht. Zu einer genaueren Kritik des gestaltpsychologischen Ansatzes verweise ich auf H O L Z K A M P (1973, Abschnitte 8.1, 8.2). Gehen wir nun zur zweiten Phase der TPL über. Sie stellt das Problemlösen wesentlich als einen Prozeß der Informationsverarbeitung dar, wobei das Konzept der heuristischen Strategie von zentraler Bedeutung ist. Da wie eingangs von Abschnitt 7.1.1 dargestellt, das Mehrwertproblem gerade ein Musterbeispiel eines im Sinne der TPL »schlecht-definierten« Problems ist, ist es nicht leicht, mit dem Instrumentarium der modernen TPL überhaupt an einen Problemprozeß wie den hier zur Diskussion stehenden heranzugehen. Immerhin lassen sich einige Aspekte nennen, die in der modernen TPL erarbeitet wur171

den und sich mit Nutzen hier einbringen lassen. In dem für die TPL zentralen Konzept der heuristischen Strategie ist das gedankliche Durchspielen von Varianten, das Ausprobieren von Denkmöglichkeiten von besonderer Bedeutung. Betrachten wir die vor der von S M I T H gefundenen Wertbestimmung ins Auge gefaßten Versuche, so stellen sich diese als eine Art Durchprobieren der verschiedensten Möglichkeiten der Wertbestimmung durch einzelne, spezielle Qualitäten von Arbeit dar. So sagt M A R X in einem kurzen Uberblick über die Geschichte der ökonomischen Theorie: »Nachdem die besonderen Formen der realen Arbeit wie Agrikultur, Manufaktur, Schiffahrt, Handel usw. der Reihe nach als wahre Quellen des Reichtums behauptet worden waren, proklamierte Adam Smith die Arbeit überhaupt... als die einzige Quelle des stofflichen Reichtums...« (MEW 13, S. 44). Dieses systematische Durchspielen der in einem gewissen Denkrahmen sich anbietenden Möglichkeiten ist ein methodisches Element, das übrigens auch M A R X , zum Auffinden komplexer Gesetzmäßigkeiten nicht selten benutzt. So untersucht er im ersten Abschnitt des »Kapital«, Bd. 1 den »Einfluß aller möglichen derartigen Kombinationen auf den relativen Wert einer Ware« (MEW 23, S. 68/69) - gemeint sind die Kombinationen des möglichen Steigens oder Fallens der Produktivkraft in der Herstellung zweier verschiedener Waren (vgl. auch H A U G 1974, S. 101). Ein weiteres, von der TPL herausgearbeitetes strategisches Moment ist das Aufspalten von Problemen in Teilprobleme und das Herausfinden der richtigen Reihenfolge der Bearbeitung. So ist es für die Lösung des Mehrwertproblems wichtig, daß zunächst die Frage der Wertbestimmung geklärt ist; erst auf dieser Grundlage kann das Mehrwertproblem gelöst werden. Diese Einsicht war aber keineswegs selbstverständlich. Die Physiokraten etwa gingen - wie wir sahen — unmittelbar von der Bestimmung des Mehrwerts aus: aus der Produktivität der Erde schien ihnen der Mehrwert klar erkenntlich zu sein, ohne daß sie eine Vorstellung vom Wert überhaupt entwickelten. »Sie behandeln also das Problem in komplizierter Form, bevor sie es in seiner elementarischen Form gelöst hatten...« (MEW 13, S. 42). Im folgenden Abschnitt werden wir sehen, daß die Darstellung der Lösung des Mehrwertproblems im »Kapital« durch M A R X geradezu als ein Beispielfall gelten kann, wie ein Problem dadurch gelöst wird, daß man es aufspaltet bis zu einem Elementarproblem, aus dem heraus sich Schritt für Schritt die endgültige Lösung entwickelt. Man könnte unter Zuhilfenahme von Ergebnissen, die die TPL zu allgemeinen heuristischen Strategien der Problembearbeitung zur Verfügung stellt, vermutlich noch mehrere einzelne Aspekte der mit der Lösung des 172

Mehrwertproblems involvierten kognitiven Vorgänge angehen. Aber insgesamt ist das Mehrwertproblem auch in der von der klassischen bürgerlichen Ökonomie hinterlassenen Form noch viel zu offen, als daß die im Grunde nur formal-strukturellen Aspekte der TPL wesentliche Hilfen in der Untersuchung des Problemverlaufs geben könnten. Die Frage, wie etwa M A R X ZU der Lösung des Mehrwertproblems kam, bleibt nach wie vor ungeklärt: es läßt sich keine heuristische Strategie des Suchens angeben, die erklären würde, daß M A R X dazu kam, den als selbstverständlich angenommenen »Wert der Arbeit« als verkehrten Begriff zu erkennen und an dessen Stelle den Begriff »Wert der Arbeitskraft« zu setzen. Das von uns im vorigen Kapitel untersuchte »systematische Probieren« kann auch hier absolut nichts erklären, da die Probiermöglichkeiten völlig unübersehbar wären und - in den Termini der TPL gesprochen - offenbar gerade der das mögliche Probieren definierende Problemraum von M A R X erst hätte geschaffen werden müssen. Da die TPL insgesamt in der Analyse konkreter, wirklich im Leben eine Rolle spielender Problemlösungen in den entscheidenden Punkten nicht weiterhilft, ergibt sich, daß eine Weiterentwicklung der Psychologie des Problemlösens eines ganz anderen, umfassenderen Herangehens bedarf. Um hierfür einige erste Anhaltspunkte zu gewinnen, soll im Folgenden der bisher ungeklärten Frage nachgegangen werden, wie M A R X seine Mehrwerttheorie fand - bisher haben wir ja nur die Feststellung getroffen, daß er sie fand. 7.1.3

MARX'

Weg zur Lösung des Mehrwertproblems

Mit der nun anstehenden Untersuchung des subjektiven Problemprozesses von M A R X verfolgen wir zugleich die Frage, warum gerade M A R X die Lösung fand, welche spezifischen Bedingungen ihm zur Entwicklung seiner umwälzenden Theorie verhalfen. Es ist dabei besonders aufschlußreich zu verfolgen, warum der klassischen bürgerlichen Ökonomie die Lösung des Mehrwertproblems nicht gelang. M A R X selbst hat den Entwicklungsgang seiner wissenschaftlichen Arbeit kurz skizziert im Vorwort zu der Schrift »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« (MEW 13), die M A R X 1858/59 schrieb. In dieser Darstellung ist implizit eine Gliederung in drei Stufen enthalten. Hier ist eine methodische Zwischenbemerkung notwendig. Es bringt im allgemeinen bei der Untersuchung von Problemprozessen besondere Schwierigkeiten mit sich, wenn man die Selbstdarstellung eines Wissenschaftlers oder einer Versuchsperson als Materialgrundlage der Untersuchung benutzt, denn es gibt mehrere Gründe, die Selbstsicht eines ein Problem bearbeitenden

173

Individuums als unzuverlässig anzusehen (vgl. KEDROW 1972, LÜER 1973). Im Falle der Entwicklung der MARXschen Theorie sind wir aber in der glücklichen Lage, daß MARX offenbar seine Gedanken gewissermaßen im Schreiben entwickelte und so gut wie jeder Entwicklungsschritt bei ihm in Form eines Manuskripts oder einer Veröffentlichung niedergelegt und für uns zugänglich ist. TUCHSCHEERER (1968) hat den Gang der MARXschen Entwicklung bis zu den »Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie« von 1857/58 eingehend analysiert und kommt zu gerade dieser Unterteilung in drei Stufen.

(1) Die erste Stufe der

MARxschen

Theorie

Bereits das erste hier festzuhaltende Datum ist von grundlegender Bedeutung: M A R X (geb. 1 8 1 8 ) begann seine geistige Entwicklung als überzeugter Anhänger H E G E L S und schloß sich in Berlin ab etwa 1837 der demokratisch-fortschrittlichen junghegelianischen Bewegung an. Ab 1842 wurde M A R X Mitarbeiter in der »Rheinischen Zeitung« und kam dabei erstmals »in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen« (MEW 13, S. 7); aktuelle politische Fragen also gaben für ihn »die ersten Anlässe zu meiner Beschäftigung mit ökonomischen Fragen« (a.a.O., S. 8), wobei der tiefere Anlaß der Konflikt zwischen seinem demokratischen Engagement und der reaktionären preußischen Politik dieser Zeit war. Hierbei sah M A R X sich auch gedrängt, sich mit den damaligen kommunistischen und sozialistischen Auffassungen zu beschäftigen. So mußte M A R X sich auch mit seinem eigenen idealistischen philosophischen Gedankengut auseinandersetzen. »Die erste Arbeit, unternommen zur Lösung der Zweifel, die mich bestürmten, war eine kritische Revision der Hegeischen Rechtsphilosophie... Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln...« (a.a.O., S. 8). Schon in M A R X ' erster systematischen Auseinandersetzung, der »Kritik des Hegeischen Staatsrechts« von 1843, finden wir sein grundlegendes methodisches Prinzip der Erfassung der Selbstentwicklung des Gegenstandes (welches im Folgenden sich verdeutlichen wird): »So weist die wahrhaft philosophische Kritik der jetzigen Staatsverfassung nicht nur Widersprüche als bestehend auf, sie erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit... Dies Begreifen besteht aber nicht, wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen« (MEW 1, S. 296). Wir haben hier auch eine Andeutung des174

sen, in welcher Weise M A R X auf H E G E L aufbaut: H E G E L hat als erster die Subjektivität als historische gefaßt, als widersprüchliche Selbstentwicklung; M A R X übernimmt den Gedanken des Historischen, indem er zugleich die idealistische Widerspiegelung der realen historischen Bewegung bei H E G E L verwirft. Konsequenterweise begibt sich M A R X 1844 an das systematische Studium der Ökonomie, d.h. er macht sich an eine »auf ein gewissenhaftes kritisches Studium der Nationalökonomie gegründete Analyse« (MEW Erg.band, S. 467); deren Ergebnisse sind hauptsächlich enthalten in den sog. »Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten« (MEW Ergänzungsband). Hier läßt sich beobachten, daß und wie M A R X mit seinem zunächst aus der philosophischen Kritik an H E G E L abgeleiteten Prinzip, »die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen«, an die ökonomischen Kategorien herangeht. »Die Nationalökonomie geht vom Faktum des Privateigentums aus. Sie erklärt uns dasselbe nicht. Sie faßt den materiellen Prozeß des Privateigentums... in allgemeine, abstrakte Formeln, die ihr dann als Gesetze gelten. Sie begreift diese Gesetze nicht, d.h. sie zeigt nicht nach, wie sie aus dem Wesen des Privateigentums hervorgehn« (a.a.O., S. 510, Hervorh. R.S.). Die ökonomischen Kategorien müssen also historisch, als Produkt der in ihr angelegten realen Widersprüchlichkeit begriffen werden. Damit ist bereits - wenn auch zunächst nur als Forderung - der wesentliche Unterschied des M A R x s c h e n Herangehens gegenüber der Methode der klassischen bürgerlichen Ökonomie angegeben. Im Unterschied zu M A R X ' dialektischem Ansatz war die klassische Ökonomie in einem ahistorischen, mit festen, starren Begriffen operierenden Denken gefangen. (Zur genaueren Darlegung dieses Unterschieds verweise ich auf die Arbeit von ZELENY 1973, Teil I.) MARX versucht nun, das »Faktum des Privateigentums« gesellschaftlich zu bestimmen. Privateigentum bedeutet wesentlich, »daß der Arbeiter zum Produkt seiner Arbeit als einem fremden Gegenstand sich verhält« (MEW Erg.-bd., S. 512). Bei näherer Betrachtung ergibt sich, daß die Entfremdung »sich nicht nur im Resultat, sondern im Akt der Produktion« selbst zeigt, es ist also die Tätigkeit selbst, die entfremdet ist; daher findet die Verkehrung statt: die Arbeit ist »nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen« (a.a.O., S. 514). In diesen Bestimmungen finden wir den Ansatz zur späteren Mystifikations- und Verdinglichungstheorie, die einen fundamentalen Bestandteil der ganzen M A R x s c h e n Theorie darstellt. »Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber« (a.a.O., 175

S. 511). Diese Einsicht ist hier noch nicht aus dem tatsächlichen, voll begriffenen Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital abgeleitet, so wie der Begriff der Privatarbeit noch relativ undifferenziert ist, noch zu sehr am oberflächlichen Erscheinungsbild der bürgerlichen Gesellschaft klebt. Dennoch ist es genau dieser Gedanke, der später die Lehre vom notwendig falschen Schein trägt. Im Verlauf des vertieften Eindringens in das Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft kommt M A R X später dazu, dieses Gegenübertreten des Gegenstandes als fremder Macht näher zu bestimmen. Insbesondere entwickelt M A R X die genauere Auffassung, daß in den als Ware erscheinenden Produkten, den Sachen, sich menschliche Verhältnisse verbergen, daß in der Warenform »das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst ... für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt« (MEW 23, S. 86). Offensichtlich förderte das bereits ausgebildete Verständnis des entfremdeten Verhältnisses die spätere Entdeckung des vermittelten Verhältnisses im Austausch von Arbeit und Kapital (Verkauf der Arbeitskraft statt Verkauf der Arbeit): denn der Gedanke der Entfremdung, wie er in den Frühschriften ausgeführt ist, beinhaltet die Einsicht, daß die Arbeit dem Subjekt als etwas anderes erscheint als sie wirklich ist; wenn die Arbeit dem Arbeiter als eine fremde Macht entgegentritt, so hat sich etwas von ihm selbst abgelöst, verselbständigt. In der frühen Entfremdungslehre ist also der Gedanke angelegt, daß die menschliche Arbeit, menschliche Verhältnisse als etwas anderes erscheinen als sie sind. Als was sie genau erscheinen, das konnte für M A R X dann erst auf der Grundlage des weiteren inhaltlichen Studiums klar werden. Wir sehen also, daß die Entfremdungstheorie der Frühschriften eine kognitive Voraussetzung bildete für die Erkenntnis der Mystifikation. Die Erkenntnis der Mystifikation, des notwendigerweise falschen Scheins, ist wiederum konstitutiver Bestandteil der M A R x s c h e n Theorie und somit zugleich eine kognitive Voraussetzung für die Erkenntnis der Natur des Mehrwerts. Die Unmittelbarkeit des Austauschs von Kapital und Arbeit, die wie gezeigt die Erkenntnisschwierigkeit für die Ökonomie bildete, erscheint real und notwendigerweise als solche und verfestigt sich daher in der Vorstellung, wird zum absoluten Denkrahmen, zur anschaulich gegebenen Selbstverständlichkeit - was sich schlagend ja auch an der Sprache zeigt, etwa im Begriff des »Arbeitslohns«. Die Entfremdungstheorie war jedoch nicht die einzige erleichternde Bedingung für die Durchbrechung dieses falschen Scheins. Es sind hier noch weitere Aspekte der frühen MARxschen Theorie zu nennen. M A R X untersucht im Anschluß an die bisher besprochenen Gedanken aus den »Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten« weitere Be176

S t i m m u n g e n der entfremdeten Tätigkeit im Verhältnis des Menschen zur Natur und zu sich selbst als Gattungswesen. Da die Produktion das »werktätige Gattungsleben« des Menschen ist, bedeutet Entfremdung zugleich »Entfremdung des Menschen von dem Menschen« (MEW Erg.-bd., S. 517). In der Ausführung dieses Gedankens entwickelt M A R X den von uns schon angedeuteten Aspekt des Historischen zur Gesellschaftlichkeit aller menschlichen Tätigkeit. Das Gesellschaftlich-Historische erscheint hier in dem zentralen Begriff des »Verhältnisses« als eines vom Menschen selbst produzierten gesellschaftlichen Tatbestands. »Durch die entfremdete Arbeit erzeugt der Mensch also nicht nur sein Verhältnis zu dem Gegenstand und dem Akt der Produktion...; er erzeugt auch das Verhältnis, in welchem andre Menschen zu seiner Produktion und seinem Produkt stehn...« (a.a.O., S. 519). Am Ende dieser Passagen aus den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten« findet sich ein Satz, der für unseren Aspekt - die Problembezogenheit des Erkennens - aufschlußreich ist. M A R X zieht hier ein Resümee seiner Untersuchungen in der Form, daß er ihre Ergebnisse als neue Problemformulierung deutet (MEW Erg.-bd., S. 521): »Wie, fragen wir nun, kommt der Mensch dazu, seine Arbeit zu entäußern, zu entfremden?« Es soll also, gemäß der historischen Programmatik die reale Entstehung des entfremdeten Produktionsverhältnisses untersucht werden. »Wir haben schon viel für die Lösung der Aufgabe gewonnen, indem wir die Frage nach dem Ursprung des Privateigentums in die Frage nach dem Verhältnis der entäußerten Arbeit zum Entwicklungsgang der Menschheit verwandelt haben« (a.a.O.). Das heißt nichts anderes — für den Ausdruck »Frage« können wir hier ruhig »Problem« einsetzen — daß der Fortschritt erzielt wurde in Form einer neuen Stellung des Problems, einer präziseren Fassung der ursprünglichen Problemstellung. War das Problem zunächst einfach formuliert als Problem des Ursprungs des Privateigentums, so erscheint es nun als Problem der Entwicklung der entfremdeten Arbeit. Die Überlegenheit der neuen Problemstellung besteht im Ubergang von einer sachorientierten Problemformulierung (»Privateigentum«) zu einer am menschlichen Verhältnis orientierten Formulierung (»entäußerte Arbeit«): Privateigentum zuerst als Sachproblem und nun — aufgrund eines ersten Durchbrechens des falschen Scheins - als ein Problem der Beziehungen zwischen wirklichen, lebendigen Menschen. »Denn wenn man von Privateigentum spricht, so glaubt man es mit einer Sache außer dem Menschen zu tun zu haben. Wenn man von der Arbeit spricht, so hat man es unmittelbar mit dem Menschen selbst zu tun« (a.a.O., S. 521/522).

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Wir können die Diskussion der M A R x s c h e n Entwicklung in der ersten Stufe hier beenden, da die wichtigsten Aspekte benannt sind. Die auf die »ökonomisch-philosophischen Manuskripte folgenden Schriften - die noch dieser ersten Stufe zuzurechnen sind - sind hauptsächlich die »Heilige Familie« (MEW 2) und die »Deutsche Ideologie« (MEW 3 ) . In ihnen führen M A R X und E N G E L S die zunächst mehr programmatisch-entwickelten Prinzipien näher aus zu einer zusammenhängenden positiven Grundauffassung, ihrer materialistischen Geschichtsauffassung. Fassen wir zusammen! In den frühen Schriften entwickelt M A R X grundsätzliche Auffassungen über das Wesen menschlicher Tätigkeit und damit Grundbestimmungen für die Untersuchung der Ökonomie. Im einzelnen sind dabei drei zusammenhängende Aspekte hervorzuheben, die gewissermaßen als Determinanten in den M A R x s c h e n Problemprozeß eingehen. Dies ist erstens das Prinzip des Historischen der menschlichen Tätigkeit, zweitens das Prinzip der Gesellschaftlichkeit und drittens die Lehre vom notwendig durch die materiellen Verhältnisse erzeugten falschen Schein. Diese Einsichten — das muß man im Auge behalten — sind hier sämtlich noch relativ abstrakt und gewinnen erst mit der Konkretisierung der Theorie, der Durcharbeitung des empirischen Materials ihre eigentliche Bedeutung. Eine Ergänzung, speziell zur Wert- und Mehrwerttheorie ist noch zu machen. Schon bei M A R X ' erster Begegnung mit der bürgerlichen Ökonomie wurde für ihn jener Widerspruch zwischen Mehrwertproduktion und Wertgesetz zum Problem. Er führte zunächst sowohl bei M A R X als auch bei E N G E L S (S. dessen »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie«, MEW 1) zu einer Ablehnung der Arbeitswerttheorie. Auf der Grundlage des materialistischen Geschichtsverständnisses kamen M A R X und E N G E L S jedoch relativ bald mehr oder minder explizit zu der Einsicht, daß die dem Produkt zugrundeliegende Arbeit die einzige reale Grundlage der gesellschaftlichen Bestimmung des Werts einer Ware ist (näheres s. T U C H S C H E E R E R 1 9 6 8 , Teil I ) . Die vorher zitierten Gedanken aus den »Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten« abschließend heißt es bei M A R X : »Diese neue Stellung der Frage ist inklusive schon ihre Lösung« (MEW Erg.-bd., S. 522). Hier wird die für die allgemeine Problemtheorie wichtige Einsicht ausgesprochen, daß die Problemstellung es ist, die die Möglichkeiten der Problemlösung festlegt. Dies ist auch eine zentrale Thematik unserer Untersuchung. Der früher schon aufgewiesene Primat des Aspektes der Problemstellung gegenüber dem Aspekt der Problemlösung soll im Folgenden erhärtet und tiefer begründet werden. Hierzu ist nun weiter zu untersuchen, wie sich die in der ersten Stufe der M A R X 178

sehen Theorie gewonnene Problemstellung auf die Bearbeitung und schließliche Lösung des Mehrwertproblems auswirkt. (2) Die zweite Stufe der MARxschen Theorie Im Hinblick auf die Wert- und Mehrwerttheorie läßt sich das Ergebnis der ersten Stufe zusammenfassen als die Hinwendung zur Ökonomie überhaupt und die Anerkennung der Arbeitswerttheorie der klassischen bürgerlichen Ökonomie. Wir sahen, daß sich M A R X nicht einfach an die vorfindlichen Fragestellungen und Auffassungen der Ökonomen herangearbeitet hat: seine Einsicht, daß er die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft, das ökonomische Verhältnis des Privateigentums untersuchen müsse, war verbunden mit einem spezifischen Herangehen, das seinen Problemansatz - um mit den Worten der TPL zu reden: seinen Problemraum - vom Ansatz der bürgerlichen Ökonomie wesentlich unterscheidet. Wie M A R X in seiner biographischen Skizze, die wir als Leitfaden unserer Darstellung benutzen, schreibt (MEW 13, S. 10), entwickelte er »die entscheidenden Punkte unserer Ansicht« erstmals in den Schriften »Misere de la Philosophie« (Das Elend der Philosophie, MEW 4) sowie »Lohnarbeit und Kapital« (MEW 6). »Das Elend der Philosophie«, geschrieben in der ersten Hälfte des Jahres 1847, ist eine polemische Schrift, die gegen den französischen Sozialutopisten P R O U D H O N gerichtet war. Die Schrift »Lohnarbeit und Kapital«, deren Grundgedanken Ende 1847 ausgearbeitet wurden und die 1849 erschien, ist demgegenüber eine positive Darstellung der eigenen Ansichten. Da diese letztere Schrift sich für unsere Zwecke besser eignet, will ich mich hauptsächlich auf sie beschränken. Im »Elend der Philosophie« sind zwei Ergebnisse besonders wichtig. Zum einen arbeitet M A R X — sich gegen P R O U D H O N S simplifizierendes und verfälschendes Verständnis von Dialektik wendend - das methodische Prinzip der Erfassung der Selbstentwicklung des Gegenstandes näher aus. Insbesondere wird die Stellung der Kategorie des Widerspruchs herausgearbeitet. Das zweite bedeutende Ergebnis ist, daß M A R X seine früher gewonnene Einsicht, nach der ökonomische Kategorien als menschliche Verhältnisse zu verstehen sind, nunmehr unmittelbar auf die Bestimmung des Werts anwendet und so (ich folge hier der Einschätzung T U C H S C H E E R E R S 1968, S. 279 ff.) den Wert als gesellschaftliches Verhältnis faßt. Im Zusammenhang damit konkretisiert M A R X die früher entwickelte Bestimmung der Gesellschaftlichkeit der Produktion zum Begriff der Totalität, d.h. der methodischen Einsicht, daß die ökonomische Untersuchung vom Gesamtzusammenhang in der arbeitsteiligen Produktion ausgehen müsse. An dieser Stelle ist 179

kurz noch einmal auf den gestaltpsychologischen Erklärungsansatz zum Problemlösen zurückzukommen. Offenbar wäre es ganz richtig, mit der Gestaltpsychologie auf die Bedeutung der ganzheitlichen Betrachtung hinzuweisen. In der Tat sahen wir schon bei A. SMITH, welchen Fortschritt der Ubergang zur ganzheitlichen Betrachtung bedeutet. Jedoch sagt eine solchermaßen abstrakte Bestimmung im Grunde nicht viel aus: Rein vom formalen Ganzheitsprinzip ausgehend, läßt sich der wesentliche Unterschied im Herangehen der bürgerlichen Ökonomie und der M A R x s c h e n Methode nicht erfassen. Was den MARxschen Begriff der Ganzheit als Totalität ausmacht, liegt in den spezifischen Bestimmungen dieser Totalität, nämlich als eines historisch sich entwickelnden, gesellschaftlichen Ganzen von menschlichen Verhältnissen. Sehr klar drückt dies ILJENKOW (1969, S. 120) aus: »Alle Verdienste der Forschungsmethode Ricardos hängen innerlich mit dem Gesichtspunkt der Substanz zusammen, das heißt mit der Auffassung des Gegenstands als einheitliches, kohärentes Ganzes. Umgekehrt gründen alle Mängel seiner Methode im völligen Unverständnis dafür, daß dieses Ganze geschichtlich geworden ist.« Verfolgen wir nun den Ubergang zur Werttheorie und der Lösung des Mehrwertproblems in »Lohnarbeit und Kapital«! Der zu erklärende Widerspruch von Wertgesetz und Mehrwert machte sich - wie erinnerlich - sprachlich daran fest, daß der Un-Begriff »Wert der Arbeit« einmal die Bedeutung von »Wert der Arbeitsprodukte«, zum andern die Bedeutung von »Wert der den Arbeiter reproduzierenden Lebensmittel« besaß. Anschließend an den vorher referierten Entfremdungsgedanken aus den »ökonomisch-philosophischen Manuskripten« hebt MARX in »Lohnarbeit und Kapital« hervor: »Seine (des Arbeiters, R.S.) Lebenstätigkeit ist für ihn also nur ein Mittel, um existieren zu können. Er arbeitet, um zu leben... Das Produkt seiner Arbeit ist daher auch nicht der Zweck seiner Tätigkeit« (MEW 6, S. 400). Daraus ergibt sich die spezifische Sicht des Arbeiters als Verkäufer: der eigentliche Gebrauchswert der Arbeit, nämlich Produkte zu schaffen, ist für den Arbeiter völlig gleichgültig, wie für jeden Verkäufer einer Ware deren spezifischer Gebrauchswert gleichgültig ist. Mit der Ausarbeitung dieses Gedankens ist eine entscheidende Vorstufe für die Einsicht in die wahre Natur des Austauschs von Kapital und Arbeit gegeben: es ist herausgearbeitet, daß - vom Arbeiter aus gesehen — die Arbeit des Lohnarbeiters selbst eine Ware geworden ist und nicht die in der Arbeit erzeugten Produkte. Damit ist die Gleichsetzung oder Verwechslung von »Wert der Arbeit« und »Wert der Arbeitsprodukte« ausgeschaltet. Natürlich entfällt mit dieser konkretisierten Sicht des Austauschs von Kapital und Arbeit auch die Gleichsetzung vom »Wert 180

der Arbeit« mit dem »Wert der den Arbeiter reproduzierenden Lebensmittel«, denn diese verkauft der Arbeiter ja nicht, sondern erhält sie ganz im Gegenteil als Äquivalent für jenes noch nicht voll bestimmte Etwas, das er verkauft. Was dieses tatsächlich ist, liegt nun aber schon sehr nahe und bedarf nur noch eines weiteren Schrittes. Und zwar knüpft M A R X an das ebenfalls aus der ersten Stufe gewonnene Geschichtsverständnis an. Er konkretisiert es zum - wie man mit K O R S C H ( 1 9 6 7 , bes. § 2 ) sagen kann - »Prinzip der geschichtlichen Spezifizierung"äller gesellschaftlichen Verhältnisse«. »Die Arbeit war nicht immer eine Ware... Der Sklave verkaufte seine Arbeit nicht an den Sklavenbesitzer, sowenig wie der Ochse seine Leistungen an den Bauer verkauft« (MEW 6, S. 401, Originaltext lt. Fußnoten). Diese historisch-konkretisierende Sicht, die — im Unterschied zur Betrachtungsweise der bürgerlichen Ökonomie - auch die Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft von der Geschichtlichkeit nicht ausnimmt, das Abheben der modernen Gesellschaft gegenüber früheren Produktionsverhältnissen in ihren Wesenszügen, ermöglicht es nun, die Spezifik des Austauschs von Kapital und Arbeit zu erfassen: Der Sklave »selbst ist eine Ware, aber die Arbeitskraft (so im Original, R.S.) ist nicht seine Ware« (ebd., S. 401). Offenbar hat sich an dieser Stelle der Terminus »Arbeitskraft«, von M A R X nicht bewußt intendiert, bereits sozusagen eingeschmuggelt. Nun die Kontrastierung: »Der freie Arbeiter dagegen verkauft sich selbst, und zwar stückweise. Er versteigert 8, 10, 12, 15 Stunden seines Lebens an... die Besitzer der Rohstoffe, der Arbeitsinstrumente und Lebensmittel, d. h. an die Kapitalisten« (ebd., Originaltext lt. Fußnoten). Damit ist es zur endgültigen Bestimmung des Mehrwerts nur noch ein kleiner Schritt: hat man einmal eingesehen, daß der Arbeiter nicht die Produkte verkauft, sondern »sich selbst« in der Form der Arbeitszeit, in Stunden oder Tagen gemessen, so bietet es keine Schwierigkeit mehr zu sehen, daß einerseits der Austausch zwischen Arbeiter und Kapitalist ein Äquivalententausch ist, nämlich Arbeitszeit gegen das, was diese an Lebensmittel kostet, und andererseits, daß der Kapitalist durch den Gebrauch der von ihm erworbenen Arbeitszeit Profit machen kann. »Was geht vor in dem Austausch zwischen Kapital und Lohnarbeit? Der Arbeiter erhält im Austausch gegen seine Arbeit Lebensmittel, aber der Kapitalist erhält im Austausch gegen seine Lebensmittel Arbeit, die produktive Tätigkeit des Arbeiters, die schöpferische Kraft, wodurch der Arbeiter nicht nur ersetzt, was er verzehrt, sondern der aufgehäuften Arbeit einen größern Wert gibt, als sie vorher besaß« (a.a.O., S. 409, Originaltext lt. Fußnoten). Das ist die Lösung 181

des Mehrwertproblems, wenngleich noch unfertig formuliert und in ihren Konsequenzen noch nicht ausgearbeitet. Die Schrift »Lohnarbeit und Kapital« stellt sehr deutlich ein Zwischenglied in der Entwicklung der Mehrwerttheorie dar, und zwar auf eine sehr interessante Weise. »Zwischenglied«, das heißt hier, daß M A R X zur grundsätzlich richtigen Auffassung der Entstehung des Mehrwerts gelangte, daß er also im Prinzip das Mehrwertproblem gelöst hat, daß aber andererseits die Lösung noch relativ unklar, noch nicht explizit ausformuliert vorlag. Die Idee des vermittelten Austauschs von Kapital und Arbeit und seine Ubereinstimmung mit dem Wertgesetz kommt klar zum Ausdruck, aber gewissermaßen zwischen den Zeilen, ohne die begriffliche Deutlichkeit und Schärfe der voll entwickelten Auffassung, noch ohne eine hinreichende Reflexion der Lösung selbst. Äußerlich erkennt man diesen Zwischen-Charakter der Schrift »Lohnarbeit und Kapital« daran, daß der sprachlicbey logische Ausdruck der Lösung, nämlich die Ersetzung des falschen Ausdrucks »Wert der Arbeit« durch den Begriff »Wert der Arbeitskraft« noch nicht vollzogen war. Der Begriff »Wert der Arbeitskraft« bzw. »Arbeitskraft« in einem ähnlichen Zusammenhang taucht nur zweihöchstens dreimal auf - eine Stelle wurde ja zitiert —, wobei seine Verwendung aber offensichtlich nicht bewußt erfolgte. Andererseits aber konnte E N G E L S in einer Neuausgabe der Schrift 1891 - nachdem also die MARxsche Theorie entwickelt vorlag - die sprachliche Unzulänglichkeit ohne weiteres korrigieren, indem er an den entsprechenden Stellen den Terminus »Arbeit« einfach durch »Arbeitskraft«, »Gebrauch der Arbeitskraft« o. ä. ersetzte. (Meines Wissens gibt es in der Literatur kaum ein Beispiel, an dem das Verhältnis von sprachlichem Begriff und Denken in der Entstehung von Einsichten besser zu studieren wäre. Allerdings können wir im Rahmen dieser Arbeit auf die besondere Rolle der Sprache für den Verlauf von Erkenntnisprozessen und Problemlösungen nicht näher eingehen. U L M A N N (1975) hat beispielsweise in diesem Sinne das Begriffspaar Arbeitgeber-Arbeitnehmer mit der Ausdrucksweise Kapitalist-Arbeiter verglichen.) (3) Die dritte Stufe der M A R x s c h e n Theorie In der autobiographischen Skizze von M A R X heißt es nach der Erwähnung der Schrift »Lohnarbeit und Kapital«: »Das ungeheure Material für Geschichte der politischen Ökonomie, das im British Museum aufgehäuft ist, ...endlich das neue Entwicklungsstadium..., bestimmten mich, ganz von vorn wieder anzufangen und mich durch das neue Material kritisch durchzuarbeiten« (MEW 13, S. 10/11). Das heißt also, daß M A R X mit den in der zweiten Stufe gewonnenen 182

Erkenntnissen in die Empirie einzusteigen hatte. Das Problem stellte sich jetzt als die systematische Erarbeitung der Entwicklungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft auf der Grundlage dei^ Mehrwertlehre. Daß mit der Entdeckung der Quelle des Mehrwerts und damit der Triebkraft der kapitalistischen Produktion keineswegs ein Abschluß, sondern erst der eigentliche Anfang der Ausarbeitung der Theorie gegeben war, sieht man rein äußerlich schon an der intensiven Arbeit, die M A R X in der dritten und letzten Stufe leistete. Der Markstein dieser Entwicklung sind die »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie«, die 1857/58 verfaßt wurden. Sie bilden die inhaltliche Ausarbeitung der meisten Hauptteile des späteren Hauptwerks, des »Kapital«, dessen erster Band dann erst 1867 von M A R X für den Druck fertig gemacht werden konnte. Wir haben hier einen Sachverhalt vorliegen, der uns auch bei der Erfindung der Dampfmaschine durch J. W A T T begegnete und bei M E N D E L E J E W S Entdeckung des Periodensystems erwähnt wurde (im Abschnitt 6.4): daß nämlich nach der ersten Phase des Problemprozesses, die den Kern der neuen Erkenntnisse erbringt, eine lange und intensive Zeit der Ausarbeitung und Bearbeitung weiterer, auf der Grundlage der früheren Lösung überhaupt erst angehbarer und sich erst jetzt stellender Probleme gewidmet werden muß. M A R X ist selbst gar nicht mehr dazu gekommen, sein Hauptwerk zu veröffentlichen, schon der zweite Band des »Kapital« mußte nach seinem Tode im Jahre 1883 dann von E N G E L S herausgegeben werden. M A R X hatte die konkret-historische Natur des Mehrwerts, die Spezifik dieser Form des Werts erkannt und hatte weiterhin das methodische Programm formuliert, daß die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Entstehung, als notwendige Entwicklung begriffen werden müsse. Es wäre also nun nachzuzeichnen, wie auf der Grundlage dieser beiden Voraussetzungen die endgültige Erarbeitung des Bewegungsgesetzes der bürgerlichen Gesellschaft erfolgte. Da wir uns hier auf die Lösung des eigentlichen Mehrwertproblems beschränken wollten, werden wir nun aber nicht weiter den MARxschen Entwicklungsgang, die Lösung im prozessualen Sinne verfolgen, sondern uns der Lösung im Sinne des Produkts, des Resultats zuwenden (zum allgemeinen Begriff der Lösung s. 6.4). 7.1.4 Die Mehrwerttheorie von

MARX

Daß das Mehrwertproblem ein offenes, ein im Sinne der TPL schlechtdefiniertes Problem ist, zeigte sich darin, daß das Kriterium, wann das Ziel — hier die »Erklärung«, woher der Mehrwert kommt — eigent183

lieh erreicht ist, in der Problemstellung nicht festgelegt ist. Soll das Mehrwertproblem als gelöst gelten, so müssen demnach mit der Lösung zugleich auch die Kriterien der Lösung, der Zielerreichung entwickelt werden. Zwei Fragen sind somit zu stellen. Erstens: Erfüllt die bisher angegebene MARxsche Lösung die Forderung, die Entstehung des Mehrwerts müsse erklärt werden; und zweitens: Was heißt hier »erklären«? Nach dem, was bisher zur MARxschen Lösung des Mehrwertproblems angegeben wurde, besteht die Erklärung kurz darin: der Mehrwert entsteht dadurch, daß — auf der Basis des Wertgesetzes - der Arbeiter seine Arbeitskraft verkauft; die Arbeitskraft besitzt die Fähigkeit, mehr an Wert zu erzeugen als sie selbst besitzt, und dieses Mehr an Wert wird vom Kapitalisten als Mehrwert angeeignet. Anders ausgedrückt: der Mehrwert entsteht dadurch, daß der Kapitalist sich auf der Basis der universellen, durch Äquivalententausch regulierten Warenproduktion unbezahlte Arbeit aneignet. Was ist damit genau »erklärt«? Erklärt ist, wie die Produktion von Mehrwert auf der Basis des Äquivalententauschs möglich ist. »Erklären« heißt für M A R X aber wesentlich mehr als eine logisch korrekte Möglichkeit aufzuzeigen. Erklären, wie der Mehrwert entsteht, heißt in erster Linie, zu zeigen wodurch die Produktion von Mehrwert real zustande kommt. Wenn wir nun unseren vorherigen begrenzten Standpunkt verlassen und uns der Mehrwerttheorie genauer zuwenden, wird sich zeigen, daß die Erklärung des Mehrwerts für M A R X den Aufweis der Entstehung der Mehrwertproduktion als geschichtlicher Notwendigkeit bedeutet. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die elementarste Form, in der die Arbeitsprodukte in der bürgerlichen Gesellschaft erscheinen, die Ware. Eine Ware besitzt einerseits einen Gebrauchswert und ist andererseits Träger von Tauschwert, wobei der letztere sich als Erscheinungsform des Werts herausstellt. Die Ware ist also Einheit von Gebrauchswert und Wert. Während die klassische Ökonomie den Gebrauchswert lediglich als eine Vorbedingung für den Austausch ansah und ansonsten von ihm abstrahierte und den Tauschwert untersuchte, erkennt M A R X diese beiden »Faktoren der Ware« als widersprüchliche Einheit. Was heißt hier »widersprüchliche Einheit«? Nicht jeder produzierte Gebrauchswert besitzt Wert, dies ist nur der Fall, wenn das Arbeitsprodukt für Andere, für den Austausch produziert ist; der Gebrauchswert ist also - in der Ware — stets gesellschaftlich und erscheint in einer bestimmten Form, eben der Warenform. Damit ist die Warenproduktion aber auch als historisch bestimmt, denn an gerade dieser Frage, wie das Arbeitsprodukt erscheint, unterscheiden sich die verschiedenen historischen Produktionsweisen. Nun hatte die bürgerliche 184

Ökonomie in der Entdeckung des Wertgesetzes die Arbeit als die Grundlage des Werts der Waren erkannt; M A R X bezog daher konsequenterweise die Widersprüchlichkeit von Gebrauchswert und Wert auf die Arbeit selbst. Die Arbeit ist so nicht nur Maßstab des Wertes, sondern eine widersprüchliche Einheit von konkret-nützlicher und abstrakter allgemein-menschlicher Arbeit. »Diese zwieschlächtige Natur der in der Ware enthaltenen Arbeit ist zuerst von mir kritisch nachgewiesen worden«, sie ist der »Springpunkt..., um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht« (MEW 23, S. 56). Die warenproduzierende Arbeit ist aufgrund ihres »Doppelcharakters« dadurch charakterisiert, daß sie privat, von unabhängigen Produzenten betrieben wird, und sich ihr gesellschaftlicher Charakter erst im Austausch, über den Tauschwert realisiert. Die Spezifik der bürgerlichen Gesellschaft besteht demnach in der Formbestimmtheit der Produktion. Was den Austausch reguliert, ist notwendigerweise das, was allen Waren gemeinsam ist. Während der Gebrauchswert die Waren qualitativ unterscheidet, werden sie über den Wert miteinander verglichen, in Beziehung gesetzt. Das logisch einfachste Wertverhältnis ist der Austausch zweier Waren gegeneinander. Diese sog. »einfache Wertform« entwickelt bereits den Gegensatz von Gebrauchswert und Wert. Der Wert der einen Ware wird in der anderen Ware ausgedrückt, die der ersten als Äquivalent gegenübersteht. Der Wert der ersten Ware wird durch den Gebrauchswert der zweiten ausgedrückt, Wert erscheint also im Gebrauchswert. Von dieser ökonomischen »Keimform« aus werden nun die weiteren Wertformen als notwendige Entwicklungsprodukte dargestellt. Die »einfache Wertform« enthält eine in ihr selbst begründete Unzulänglichkeit: Die der Ware anhaftende Eigenschaft des Werts abstrahiert von aller qualitativen Besonderheit der Ware, die Ware ist ihrer Wertbestimmung nach auf beliebige andere Waren als mögliche Austauschpartner bezogen. In der einfachen Wertform ist sie jedoch nur mit einer einzelnen, bestimmten Ware in Beziehung gesetzt. Diese logische Unzulänglichkeit wird aber zum realen Widerspruch in dem Maße wie sich in der Geschichte die Austauschbeziehungen in der Gesellschaft entfalten. In dem Maße wie realiter alle Waren gegen alle anderen Waren ausgetauscht werden sollen - und dies ist ja ein empirischer Entwicklungstatbestand - wird die einfache Wertform unzulänglich und geht — vermittelt durch die »entfaltete Wertform« — in die »allgemeine Wertform« über, in der alle Waren ihren Wert in einer bestimmten, historisch jedoch wechselnden Ware darstellen. Die allgemeine Wertform ist aber wiederum innerlich widersprüchlich, denn 185

einerseits kann jede beliebige Ware diese »Form des Werts überhaupt« annehmen, andererseits ist die Ware, die für alle anderen Waren den Maßstab angeben soll, selbst nicht an dem allgemeinen Äquivalent meßbar. Daher muß das allgemeine Äquivalent auf eine bestimmte Ware dauerhaft übergehen, und diese Rolle übernehmen allmählich die Edelmetalle aufgrund gewisser günstiger Eigenschaften. Damit entsteht das Geld als die allgemeine Ware, deren einzige Bestimmtheit die Quantität ist. Geld wird so zur »reinen« Ware, zum »allgemeinen materiellen Repräsentanten des Reichtums« (MARX, »Grundrisse...«, S. 144). In dieser Form nun beinhaltet es einen inneren Widerspruch: einerseits ist es Reichtum schlechthin, andererseits ist es die Negation des Reichtums, nämlich eine bloße Abstraktion, eine unkonsumierbare, von seiner Qualität her kein einziges Bedürfnis befriedigende Größe. Es muß also wieder in die Zirkulation geworfen werden. Damit sind wir bei der Bewegungsform G-W-G' angelangt, die wir schon vorher als die Formel des Kapitals aufgezeigt hatten (s. S. 160). Wir können nun noch einmal den Kern der Lösung des Mehrwertproblems, den Ubergang vom abstrakten »Wert der Arbeit« zum konkreten »Wert der Arbeitskraft« nachzeichnen, diesmal von der Basis der explizit und verallgemeinert und aus der Wertentwicklung abgeleiteten historischen Charakterisierung der Arbeit aus. Mit der eben beschriebenen, notwendig entstandenen Verallgemeinerung des Warenaustauschs wird auch die Arbeit selbst durch den Austausch von Waren vermittelt. Der Arbeiter, als Besitzer von Arbeitskraft, und der Kapitalist, als Besitzer von Geld, treten sich gegenüber. Wie in jedem Tausch geht es um Kauf und Verkauf einer produzierten Ware. Von Seiten des Verkäufers, des Arbeiters, ist die Sache klar: als Beteiligter im kapitalistischen Produktionsprozeß interessiert er sich nicht für den Gebrauchswert seiner Ware, sondern gerade für das Äquivalent, das er eintauscht, das Geld, den Arbeitslohn. Der Tausch ist Äquivalententausch, wenn der Arbeiter den Geldwert für das erhält, was ihn seine Arbeit kostet, d.h. seine Lebensmittel. Was bewegt dagegen den Käufer, das Kapital bzw. den dieses repräsentierenden Kapitalisten zum Austausch? Wie bei jedem Austausch ist es der spezifische Gebrauchswert der einzuhandelnden Ware. Um diesen Gebrauchswert zu erkennen, müssen wir uns drei bisher dargestellte Erkenntnisse vor Augen halten. Zum einen den Begriff des Geldes als der »reinen Repräsentation« von Wert; aus ihm ergibt sich, daß der Gebrauchswert für das Kapital, d. h. für das Geld - wegen dessen Reduziertsein auf Wert, auf bloße Quantität, - die quantitative Vermehrung seiner selbst, der Mehrwert, ist. Der zweite für die Lösung wich186

tige Gesichtspunkt ist der Sachverhalt, daß bei gegebener Produktivkraft der Arbeit sie mehr an Wert schafft als sie besitzt oder verbraucht. Berücksichtigt man drittens, daß die hier gehandelte Ware, die Arbeit den Doppelcharakter von Wertbildung und Gebrauchswertbildung besitzt, so ergibt sich unschwer, daß es gerade die Arbeit ist, die — als Wertbildner — den vom Kapital gesuchten Gebrauchswert besitzt. Der spezifische Gebrauchswert der Arbeit ist die Schaffung von Mehrwert. Der Kapitalist gebraucht diese von ihm rechtmäßig erworbene Ware und sie produziert ihm den Mehrwert. Der entscheidende Punkt im Verständnis des Mehrwerts ist die Einsicht in die Spezifik der menschlichen Arbeit, die sie unter der Form der Warenproduktion besitzt. Um den Mehrwert zu verstehen, muß man also erkennen, daß die Arbeit, als Ware in den allgemeinen Austausch einbezogen, anders bestimmt ist als andere Waren: während bei allen anderen Waren der Gebrauchswert mit dem Tauschwert inhaltlich nichts zu tun hat, so hat die Arbeit gerade den Gebrauchswert, Wert zu produzieren. (Zur gesellschaftlich-historischen Konkretisierung des Gebrauchswerts durch M A R X , im Unterschied zur abstrakten Fassung des Tauschwerts in der bürgerlichen Ökonomie, vgl. auch K O R S C H 1967, u.a. S. 89 ff.) Hat man dies begriffen, so ist es eigentlich nur noch eine sprachliche Korrektur, daß man »Wert der Arbeit« ersetzt durch »Wert der Arbeitskraft«. Wir haben somit einen Punkt in der Entwicklung der Theorie, der dem in der zweiten Stufe der MARxschen Entwicklung aufgezeigten Punkt bei »Lohnarbeit und Kapital« entspricht. Damit können wir die Mehrwerttheorie verlassen. Wir werden sie nachher noch einmal unter kognitivem Aspekt analysieren. 7.1.5 Das Mehrwertproblem und seine Lösung als historischer Prozeß Wir haben versucht, der Frage näherzukommen, welche spezifischen Bedingungen es waren, die dazu führten, daß M A R X , im Unterschied zu seinen Vorgängern, die Entstehung des Mehrwerts erklären konnte. Es zeigte sich — wenn auch nur im Rahmen der hier gebotenen Kürze und Beschränkung — daß M A R X mit bestimmten günstigen Voraussetzungen an die Lösung des Problems heranging, daß er schon frühzeitig in der Lage war, es richtig anzufassen, d. h. es so zu stellen, daß das zu bearbeitende empirische Material in erfolgreicher Weise untersucht werden konnte. Zusammengefaßt sind die Besonderheiten des MARxschen Herangehens seine dialektisch-materialistische Geschichtsauffassung, d.h. seine gesellschaftlich-historische Auffassung vom 187

Menschen und die Bestimmung des Bewußtseins als das bewußte Sein. Als wesentliche Gründe dafür, daß M A R X wiederum zu diesen Prämissen gelangte, erwies sich sein Ausgehen von der HEGELSchen Philosophie sowie seine praktisch-politische Parteinahme für die demokratische und später die proletarische Bewegung. Damit bleibt aber immer noch ein unerklärter Rest: Man kann — und muß sogar — weiterfragen, was denn dazu geführt habe, daß M A R X - oder gegebenenfalls auch jemand anderer - die besagten Erkenntnis-Voraussetzungen entwikkelte. Noch deutlicher wird diese offene Frage, wenn wir die ökonomische Theorie vor M A R X betrachten. Wir hatten diese vorher bewußt dargestellt als eine reine Gedankenbewegung, die verschiedenen ökonomischen Theorien erschienen als bloße durchgespielte Denkvarianten. Wie kam es aber dazu, daß gerade diese Varianten möglicher Lösungswege beschritten wurden, daß sie dann jeweils durch andere Lösungsversuche abgelöst wurden? Es ist dabei auch zu beachten, daß eine gewisse Theorie erst dadurch geschichtliche Bedeutung erlangt, daß sie auf breiterer Basis rezipiert wird, daß sie zumindest innerhalb der Wissenschaft Anklang findet und weiterbearbeitet wird, sei es zustimmend oder kritisch (vgl. dazu K A N N E N G I E S S E R / K R Ö B E R 1974). Unsere Frage lautet somit: warum entstanden die jeweiligen ökonomischen Theorien als in ihrer Zeit gültige, vorherrschende oder wenigstens bekannte und maßgeblich diskutierte Auffassungen? In einem kurzen Uberblick soll dargestellt werden, daß es gerade die Theorie von M A R X ist, die die Beantwortung dieser Frage ermöglicht, ja schon in sich enthält. Beginnen wir mit der monetaristisch-merkantilistischen Auffassung des Mehrwerts als Produkt der Zirkulation! Bei der Besprechung dieser Auffassungen wurde schon erwähnt, daß sie unmittelbarer Ausdruck eines Systems wirtschaftspolitischer Maßnahmen waren, die sich primär auf den Außenhandel bezogen. Die Quelle der falschen Vorstellung des »Veräußerungsprofits« ist also die ausschließliche Bezogenheit auf den Handel. Um zu erklären, warum aus der Bezogenheit auf die Warenzirkulation die Vorstellung des Veräußerungsprofits entsteht, muß man sich die Spezifik der Bewegung des Handelskapitals klarmachen (vgl. besonders das 17. Kap. des »Kapital«, Band 3). Die Verwertung des industriellen Kapitals erfolgt dadurch, daß das vorgeschossene Geld in die Produktion geworfen wird, wodurch der Mehrwert produziert wird. Das Handelskapital dagegen hat lediglich die Funktion, den schon geschaffenen Mehrwert zu realisieren, es erzielt seinen Profit zwar tatsächlich rein im Zirkulationsprozeß, aber in der Tat besteht dieser Profit nur aus einem Anteil des in der Produktionssphäre bereits erzeugten Mehrwerts. 188

Betrachtet man nun nicht die Gesamtheit des gesellschaftlichen Prozesses, sondern, unter Ausblendung der Produktionssphäre, die Zirkulation, so muß die Ansicht entstehen, daß der Profit eine Angelegenheit der Zirkulation ist und letzten Endes aus dem Verkauf der Waren über ihrem Wert herauskommt. Warum aber bezogen sich Wirtschaftspolitik und ökonomische Auffassungen in jener Zeit des Spätfeudalismus bzw. des Beginns der kapitalistischen Produktion auf den Handel allein? Auch dies ist nach der MARxschen Theorie nicht mehr ein unerklärbares historisches Faktum, sondern erweist sich als eine notwendige Folge der Entwicklung des Kapitals selbst. Denn die Entstehung der kapitalistischen Produktion setzte die Anhäufung großer Kapitale voraus, so daß Handels- und Wucherkapital notwendigerweise dominierend am Anfang der kapitalistischen Entwicklung stehen. Die merkantilistische Mehrwertbestimmung, der falsche Schein des Veräußerungsprofits, ist also eine durch die geschichtlich bedingten Erkenntnismöglichkeiten und -notwendigkeiten falsche Problemlösung. In Abschnitt 7.1.1 hatte ich die Vermutung angestellt, daß auch im heutigen Alltagsdenken — überhaupt im Alltagsdenken in der bürgerlichen Gesellschaft — die Vorstellung vom Profit als reinem Handelsaufschlag dominiert oder zumindest eine große Verbreitung besitzt. Dies würde nach dem eben Gesagten zunächst einmal als paradox erscheinen, da die reale Quelle dieses falschen Scheins, die Dominanz des Handelskapitals, historisch nicht mehr besteht. Tatsächlich aber wird die Vorstellung des Zirkulationsprofits für das in der unmittelbaren Anschauung verhaftete, noch nicht wissenschaftliche Denken durch die besonderen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft provoziert: der Lohnarbeiter im Kapitalismus ist ja real in der Zirkulation tätig, indem er nämlich als Warenbesitzer, als Besitzer von Arbeitskraft, auftritt und somit täglich einen Austausch vollzieht. Wie wir sahen, entsteht für die in der kapitalistischen Warenproduktion befangenen Individuen notwendig der falsche Schein, daß im Austausch von Kapital und Arbeit die Arbeit bezahlt wird (»Arbeitslohn«), und dies macht die Erkenntnis der wahren Quelle des Mehrwerts unmöglich. Vermutlich ist es unter diesen Bedingungen dann am naheliegendsten, den Mehrwert in der Zirkulation zu vermuten.

Warum wurde das Problem des Mehrwerts seit der merkantilistischen Zeit überhaupt aufgeworfen, warum stellte es sich nicht schon früher oder erst später? Bisher haben wir die Existenz des Problems vorausgesetzt, als ob es eine Willkür wissenschaftlicher Individuen wäre, ein Problem zu stellen oder auch nicht zu stellen. Wie zuvor bemerkt wurde, ist die Existenz eines Mehrprodukts, d.h. eine Produktivität derart, daß durchschnittlich jedes Mitglied der Gesellschaft mehr erzeugt als es verbraucht, eine materielle Voraussetzung jeglicher Gesellschaftsentwicklung, sie liegt also schon weit vor der bürgerlichen 189

Gesellschaft. Obwohl in den vorbürgerlichen Gesellschaften ein Mehrprodukt erzeugt wurde und sich die Produktivität der Arbeit langsam steigerte, so erfolgt der entscheidende Umschlag in eine neue Qualität erst gegen Ende der feudalistischen Produktionsweise. In der Sklavenhaltergesellschaft wie auch der feudalistischen Produktion war - im Zusammenhang mit der relativ geringen Arbeitsteilung - der Uberschuß des Produzierten über das unmittelbar Lebensnotwendige immer noch so gering, daß der Austausch des Uberschusses, bzw. die Produktion für den Austausch noch nicht zur beherrschenden Bestimmung der Produktion werden konnte. Das von der jeweils herrschenden Klasse angeeignete Mehrprodukt konnte im großen und ganzen individuell konsumiert werden, Reichtum war wesentlich Reichtum der herrschenden Individuen. Erst mit der Entwicklung der Arbeitsteilung, beflügelt durch die Anhäufung von Handels- und Wucherkapital und die Manufakturperiode, erst mit dem Ubergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft realisierte die Produktion voll und ganz ihren gesellschaftlich-übergreifenden Charakter, erst jetzt wuchs das Privateigentum von der individuellen in die gesellschaftliche Dimension. Damit konnte überhaupt erst die Frage nach der Produktion des Reichtums zu einem praktisch-allgemeinen, gesellschaftlichen, d.h. die Individuen übergreifenden, also auch wissenschaftlichen Problem werden. (Diesen Aspekt der Gesellschaftlichkeit von Problemen hatten wir in allgemeiner Form in Abschnitt 4.3.2 aufgewiesen.) Die entwickelte Basis der kapitalistischen Produktion ist die große Industrie. Sie bildete sich aus der Manufaktur, der arbeitsteiligen Handwerksproduktion, heraus. Während die feudalistische Produktionsweise durch das Grundeigentum bzw. die Landwirtschaft getragen wird, entwickelt sich der Kapitalismus aus der Manufaktur heraus. Es ist klar, daß der Ubergang nicht ruckartig erfolgte, eine Zeitlang hatten Agrikultur und Manufaktur, nebeneinander, eine bestimmende, antreibende Rolle inne, bis schließlich Manufaktur und beginnende Industrie Hauptquelle des Produktionsfortschritts wurden (vgl. Projektgruppe..., 1975, bes. Abschn. 1.1.4). In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte aufgrund der günstigen Handelsentwicklung und der am weitesten vorangeschrittenen Industrie in England bereits die bürgerliche Herrschaft begonnen, während in Frankreich mit seiner vorwiegend noch agrikulturellen Produktion die bürgerliche Machtergreifung erst bevorstand. Im Weltmaßstab gesehen war die Frage nach der Entstehung des Mehrwerts schon gestellt, war also dieses — wie oben gezeigt - speziell bürgerliche Erkenntnisanliegen zum zentralen Thema der Ökonomie geworden. »Soll aber das Schaffen des Mehrwerts in der Produktionssphäre selbst 190

nachgewiesen werden, so muß zunächst zum Arbeitszweig zurückgegangen werden, worin er sich unabhängig von der Zirkulation darstellt, zur Agrikultur. Diese Initiative ist daher in einem Land vorherrschender Agrikultur geschehn« (MEW 26.1, S. 21). Dieses Land war seinerzeit Frankreich, so daß sich leicht erklärt, daß die physiokratische Lehre hauptsächlich in Frankreich entwickelt wurde. Den spezifischen Mechanismus, die kognitiven Bedingungen für die Entstehung der Vorstellung, daß der Mehrwert eine Gabe der Natur sei, haben wir schon bei der ersten Besprechung der physiokratischen Theorie zu erklären versucht. Kommen wir also zur klassischen bürgerlichen Ökonomie! Das Verdienst von A. S M I T H bestand darin, von den besonderen Formen der Arbeit zur Arbeit schlechthin, zur abstrakten Arbeit vorzustoßen. Daß S M I T H als erster den Versuch unternehmen konnte, die Produktion als Ganze, in ihrem Zusammenhang zu verstehen, war überhaupt erst möglich geworden, wo der Zusammenhang sich selbst schon weit genug entwickelt hatte. So konnte der auf der »gleichen Gültigkeit aller Arbeiten« beruhende und damit den universellen gesellschaftlichen Zusammenhang repräsentierende allgemeine Begriff des Werts erst gefunden werden, »sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils besitzt. Das ist aber erst möglich in einer Gesellschaft, worin die Warenform die allgemeine Form des Arbeitsprodukts... ist« (MEW 23, S. 74). M A R X legt diesen Gedanken im »Kapital« dar, im Zusammenhang mit der Erklärung, warum A R I S T O T E L E S trotz seiner überragenden geistigen Größe den allgemeinen Begriff des Werts nicht fassen konnte - was seine Ursache darin hat, daß die Warenproduktion in der griechischen Gesellschaft gegenüber ihrem Fundament, der Sklaverei, nur eine untergeordnete Bedeutung erlangen konnte. Daß die Politische Ökonomie gerade in England ihre Hauptvertreter fand, ist wiederum kein Zufall, da England das in der Manufaktur, später der Industrie fortgeschrittenste Land war. M A R X analysierte auch die kognitiven Bedingungen, die die Manufaktur für das Erkennen des Werts bot — im Unterschied zur Landwirtschaft: »In der Manufaktur sieht man überhaupt den Arbeiter nicht direkt weder seine Lebensmittel noch den Uberschuß über seine Lebensmittel produzieren. Der Prozeß ist vermittelt durch Kauf und Verkauf, durch die verschiedneri Akte der Zirkulation, und erheischt zu seinem Verständnis Analyse des Werts überhaupt. In der Agrikultur zeigt er sich unmittelbar im Uberschuß der produzierten Gebrauchswerte über die vom Arbeiter konsumierten Gebrauchswerte, kann also ohne Analyse des Werts überhaupt, ohne klares Verständnis von der Natur des Werts begriffen werden« (MEW 26.1, S. 14/16). Die Erkenntnis schranken der 191

bürgerlichen Ökonomie lagen wesentlich in ihrem ahistorischen Grundverständnis, das wiederum in der Anschauung der realen bürgerlichen Verhältnisse begründet liegt - wie schon besprochen wurde. Lohnarbeit und Kapital sind eine zusammengehörige widersprüchliche Einheit. Die Entwicklung des Kapitals als tote, vergegenständlichte Arbeit produziert notwendig sein Gegenteil, die lebendige Arbeit, und so treibt der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung zu einem Umschlag, in dem die produktive Klasse, die Arbeiter sich emanzipieren und mit der Uberwindung der bürgerlichen Herrschaft letztlich alle Klassen abschaffen. Vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus ist somit das Kapital nicht mehr - wie vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft selbst aus, auf den die bürgerlichen Ökonomen fixiert waren - ein ewiger Naturtatbestand, sondern vergänglich. Dieser Standpunkt ist damit die allgemeinste Vorbedingung für die Möglichkeit und historische Notwendigkeit der MARxschen Theorie.

7.2 Die Schranken des in den bürgerlichen Verhältnissen verhafteten Denkens

7.2.1 Die »Grundproblematik« der bürgerlichen Gesellschaft Mit der Untersuchung des Mehrwertproblems und dessen Lösung haben wir zugleich die Mittel bereitgestellt, um die früher festgehaltene Erscheinungsweise des Problems in der bürgerlichen Gesellschaft zu erklären. Als Charakteristikum der konkret-historischen Erscheinung von Problemen in der bürgerlichen Gesellschaft hatten wir deren »Entsubjektivierung« gefunden. Das entsubjektivierte Problem ist ja dadurch gekennzeichnet, daß der eigentliche Prozeß des Problem-Stellens, des Setzens von Zielen, das gerade den subjekthaft-aktiven Charakter der menschlichen Tätigkeit zum Ausdruck bringt, dem Subjekt entzogen ist. Die reale Bedeutung, die problemorientiertes Denken der Möglichkeit nach hat, nämlich gerade an den Springpunkten der Entwicklung der Tätigkeit die grundlegenden Widersprüche festzuhalten, zu erkennen und aufzulösen, wird in ein passives Auflösen von irgendwoher, quasi naturhaft entstandenen schwierigen Situation reduziert. Offensichtlich haben wir hier genau jenes Phänomen vor uns, das von M A R X als notwendig, d.h. aus den materiellen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft unmittelbar entspringend, falscher Schein, beschrieben wird. Die Arbeit, die immer ein gesellschaftliches Verhält192

nis ist, erscheint als Kapital-Verhältnis, als ein sachlich-gegenständlicher Zusammenhang. Alle Bewegung, die ökonomische wie auch die Bewegung von Wissenschaft und Technik als Vergegenständlichung von Wissen in der Produktion der Maschinen, erscheint als eine durch gegenständliche, sachliche Verhältnisse erforderte Bewegung. Dieser falsche Schein, daß in Wahrheit menschliche Verhältnisse als rein sachliche, dingliche erscheinen, ist auch der Schein, als ob Probleme sich selbst stellen, als ob sie mehr oder minder plötzlich, aus rein technisch-sachlichen Gründen und ohne Zutun des Menschen, einfach da sind. Probleme scheinen der einfache, naturbedingte Ausdruck von »S ach zwängen«, von rein technischen Notwendigkeiten zu sein. Die Gesellschaft scheint nur noch auf die sich selbst herstellenden Probleme zu reagieren, sie scheint nur noch die Aufgabe zu haben, das festzustellen, zu registrieren, was sich von selbst hergestellt hat, um dieses registrierte Problem dann zu lösen. Unter der Verdinglichung des Problems geht die wahre Natur von Aufgaben, nämlich daß Aufgaben - mithin auch die Probleme - letztlich stets vom Menschen selbst gestellt werden, dem Anschein nach verloren. Modellhaft, in idealisierter Form, wird der verdinglichte Charakter des Problems in der Form des abgeschlossenen Problems ausgedrückt. Das abgeschlossene Problem bringt alle Momente des entsubjektivierten Problems zum Ausdruck: angefangen bei der Fixierung von Zielen, dem damit verbundenen Ausblenden des Problem-Entstehungsprozesses, über die Fixierung der Mittel schließlich zur Reduktion der (problemlösenden) Tätigkeit auf das elementarste Niveau des organismischen Suchverhaltens. Man erkennt nun auch den tiefen Grund der verdinglichten Problemerscheinung im individuellen und alltäglichen Bewußtsein: Alle Gegenstände und Bedingungen des Lebensprozesses werden als Ware gehandelt, nicht nur die vergegenständlichte Arbeit erscheint im Produkt als Ware, auch die lebendige Arbeit, die Arbeitskraft des Arbeiters ist Gegenstand des Austauschs. Der Arbeiter muß seinen einzigen Besitz, seine Arbeitskraft tagtäglich zum Markt bringen und gegen ihre Reproduktionskosten verkaufen. Wie M A R X schon in der frühen Entfremdungstheorie feststellt (s. 7.1.3), wird die Arbeit so zum bloßen Mittel der Lebenstätigkeit. Wie sich im Ergebnis der historischen Analyse zeigt, ist der eigentliche Zweck, das eigentliche, der Natur des Menschen entsprechende Ziel nichts anderes als der Lebensprozeß selbst, die sich in bewußter Auseinandersetzung mit der Natur weiterentwickelnde Lebenstätigkeit. Und hierin zeigt sich die Verkehrtheit der kapitalistischen Produktionsweise: daß das eigentliche Ziel des Lebens zum bloßen Mittel wird. Das wesensmäßige Ziel des gesell193

schaftlichen Individuums, die produktive Tätigkeit, wird zum Gegenstand, zum bloß sachlich-nützlichen Mittel des Lebens. Hierin liegt auch die Ursache für das früher aufgezeigte (5.3.3) Auseinanderfallen von objektiv bestehendem Problem und dem Problembewußtsein. Wenn das Subjekt das Ziel seiner Lebenstätigkeit als Ware, als ihm fremde Sache veräußern muß, so können sich die eigentlichen, die eigenen »Bedürfnisziele« nicht mehr in Problemziele umsetzen. Umgekehrt erklärt sich damit auch das ebenfalls' vorher konstatierte (Abschn. 5.3.2) Phänomen, daß dem Individuum Ziele als seine eigenen Ziele, Probleme als eigene Angelegenheit erscheinen, die es gar nicht sind (Alle-in-einem-Boot-Ideologie usw.). Die Zielhaftigkeit des Lebensprozesses verschwindet ja nicht einfach. Die als Ware verkaufte Lebenstätigkeit agiert in ihrer scheinbaren Selbständigkeit: der zielbestimmte und zielbestimmende gesellschaftliche Zusammenhang stellt sich hinter dem Rücken der Produzenten als sachvermittelt her, Probleme erscheinen daher als originäre, d. h. nicht menschlich vermittelte, Sachnotwendigkeiten, die in Wahrheit menschlichen Ziele geben sich rein sachlich-objektiv. Dieser Schein läßt die privaten Ziele des je individuellen Kapitals als die allgemeinen Ziele erscheinen, so daß das »zum Markt getragene« Lebensziel des Verkäufers von Arbeitskraft ihm als objektives Sachinteresse im verdinglichten Problem zurückgespiegelt wird. Ähnlich wie im Abschnitt 4.2 die offensichtliche soziale, d.h. in den antagonistischen Klassen verfestigte Trennung von Ziel und Mittel — Arbeit als bloßes Mittel zum Ziel des individuellen Reichtums der Herrschenden - als »Grundproblematik« der vorbürgerlichen Gesellschaften bezeichnet wurde, so könnte die eben herausgestellte Verkehrung von Ziel und Mittel als die Grundproblematik der bürgerlichen Gesellschaft beschrieben werden. Der Grundwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft ist letzten Endes auch ein Widerspruch von Ziel und Mittel. »Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind (...). Das Mittel — unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte — gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandenen Kapitals« (MEW 25, S. 260, Hervorh. R.S.) Hier muß man allerdings sehen — und damit kommen wir kurz noch einmal auf das in Abschnitt 4.3.1 diskutierte Verhältnis von Freiheit 194

und Notwendigkeit zurück — daß aus der Feststellung der Verdinglichung von Problemen keineswegs folgt, daß das Gebundensein an sachliche Notwendigkeiten rein aus dem gesellschaftlichen Verhältnis resultiere. Die Lösung des Widerspruchs von Ziel und Mittel muß darin bestehen, daß die Lebenstätigkeit zu dem wird, was sie ihrer historischen Bestimmung gemäß ist, nämlich selbst das Ziel des Lebensprozesses. Die Produzenten müssen als gesellschaftliches Gesamtsubjekt den objektiven Notwendigkeiten entsprechend selbst die Ziele formulieren, die Gesellschaft muß zum selbstbewußten Subjekt ihrer Probleme werden. Dies erfordert aber, daß die Produktion durch die Produzenten selbst geleitet wird. Die bewußte, planmäßige Organisation der Produktion setzt aber die Gesellschaftlichkeit auch der Produktionsmittel und schließlich den Sozialismus voraus. »Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über den Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige, bewußte Organisation.« Dies ist eine der wesentlichen Kennzeichnungen des Sozialismus (ENGELS MEW 20, S. 264). Mit der Aufhebung der Entfremdung ist auch die Grundlage der Mystifikation, der Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse beseitigt. Für unsere Fragestellung bedeutet das, daß der Prozeß der Problementstehung von den Zufälligkeiten der profitgesteuerten Produktion befreit ist und die Setzung von Zielen voll und ganz Angelegenheit des bewußten gesellschaftlichen Subjekts werden kann. So wie das entsubjektivierte Problem an die historischen Bedingungen des Kapitalismus gebunden ist, so ist seine Uberwindung letztlich an die den Kapitalismus ablösende Gesellschaftsform, den Sozialismus gebunden. Die für die kapitalistische Gesellschaft charakteristische naturwüchsige Zuspitzung von Problemen bis hin zur Entstehung akuter Notlagen hat eine bedeutsame Folge: die Handlungsspielräume des Menschen in der Lösung der so entstandenen Probleme werden geringer. Es ist einleuchtend: je mehr die Probleme sich spontan weiterentwikkeln, je mehr sich die Widersprüche ohne lenkenden Eingriff zuspitzen, um so weniger Alternativen bleiben noch für die Lösung. Je mehr eine Situation sich erst einmal zu einem schlimmen Mißstand ausgewachsen hat, um so mehr nimmt die Lösung des Problems den Charakter etwa des Eingreifens der Feuerwehr an. Beispiele können wir heute genug finden, so etwa die Bildungsmisere oder die Umweltverschmutzung. Für solche Probleme gilt im Prinzip das Gleiche, wie für den Gang zum Zahnarzt oder die Präventiv-Medizin: das rechtzeitige, problembewußte, vorausplanende Handeln läßt adäquatere Möglich195

keiten der Problemlösung als wenn man zuwartet, bis die Mißstände sich erst einmal voll entwickelt haben. Die theoretische Begründung für diese banale Alltagserfahrung liegt in der Bedeutung des Zufälligen in der Geschichte. Wie E N G E L S (MEW 20, S. 323 u.a.) schreibt, gilt für alle Gesellschaftsepochen vor dem Sozialismus, »daß hier immer noch ein kolossales Mißverhältnis besteht zwischen den vorgesteckten Zielen und den erreichten Resultaten, daß die unvorhergesehenen Wirkungen vorherrschen, daß die unkontrollierten Kräfte weit mächtiger sind als die planmäßig in Bewegung gesetzten«. Wenn es nun durch die gesellschaftliche Leitung des materiellen Lebensprozesses zunehmend gelingt, die »unbeabsichtigten Einwirkungen« auszuschalten, so heißt das nicht, daß es keine objektiven Bedingungen menschlichen Handelns mehr gäbe, daß die Setzung von Zielen nicht mehr den Notwendigkeiten der Lebenssicherung und Weiterentwicklung unterworfen sei. Was sich ändert ist vielmehr, daß die objektive Notwendigkeit immer mehr den Charakter der Notlage, der den Bedürfnissen widersprechenden Mißstand-Situation, des Zwanges verliert und statt dessen zur Grundlage der Freiheit des Handelns wird. Hierin liegt somit der Unterschied zwischen dem »Sachzwang« des verdinglichten Problems und der Gebundenheit an objektive, sachliche Notwendigkeiten, wie sie auch in der befreiten Gesellschaft besteht. Allerdings ist mit der Enteignung der privaten Produktionsmittelbesitzer der Sozialismus als ein real gesellschaftlich produzierendes System noch nicht automatisch durchgesetzt. In wieweit in den heute existierenden sozialistischen Staaten die bewußte, gesellschaftlich getragene Planung und Entwicklung aller gesellschaftlichen Bereiche und damit auch der subjekthafte Charakter der Probleme sich durchgesetzt hat, ist eine empirisch zu klärende Frage. Maßgeblich wäre hier das erreichte Ausmaß an gesellschaftlicher Aktivität der Individuen, also etwa ihre organisierte und nichtorganisierte Aktivität in den verschiedenen Lebensbereichen, der Prozeß, in dem etwa Gesetze Zustandekommen, der reale Einfluß der Gewerkschaft, die Aktivität der Jugend, die Art und Weise der Erstellung und Erfüllung der Pläne in der Wirtschaft und den anderen Bereichen, usw. Mit der Existenz bewußter gesellschaftlicher Planung ist die wesentliche Voraussetzung für subjekthafte Zielsetzung gegeben. Natürlich muß diese Voraussetzung entsprechend genutzt werden. Ich kann auf diese Problematik hier nicht weiter eingehen, zumal sich hier noch eine besondere Schwierigkeit auftut: Die Probleme der heutigen sozialistischen Länder werden keineswegs nur durch ihre eigene, innere Entwicklung bestimmt, 196

sondern sehr stark auch durch den gleichzeitig noch bestehenden Kapitalismus. 7.2.2 Zur historischen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens: »metaphysisches« Denken und abgeschlossenes Problem Wir hatten die Kategorie des abgeschlossenen Problems aus der entsubjektivierten, verdinglichten Erscheinungsform von Problemen in der bürgerlichen Gesellschaft abgeleitet. Im Anschluß an die in dem nämlichen Zusammenhang aufgezeigten Erscheinungen des Denkens in der bürgerlichen Gesellschaft (5.3) ist nun zu fragen, welche historische Rolle das problembezogene Denken gespielt hat, um nachher schließlich die Rolle der Problembezogenheit des Denkens überhaupt würdigen zu können. Hierzu müssen wir wieder ^uf die Entwicklung der Wissenschaft zurückkommen, die uns bisher ^chon als Leitfaden der Untersuchung diente; nunmehr ist allerdings die Entwicklung des Denkens auf allgemeinere Weise zu erfassen. Nach M A R X und E N G E L S (ich beziehe mich im Folgenden hauptsächlich ai}f die einzigen explizit und ausführlicher dem Denken und seiner Entwicklung gewidmete Arbeiten von E N G E L S , die Einleitung in die »pialektik der Natur« und die Vorrede zum »Anti-Dührung«, MEW 20) ist die Geschichte des Denkens durchweg gekennzeichnet durbesser ginge