Den Drachen denken: Liminale Geschöpfe als das Andere der Kultur 9783839446638

Humans and their monsters - an examination of the dragon as the Other within and set against people with a Cultural and

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German Pages 242 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Historische Figurationen des Drachen
Drachen im alten Mesopotamien
Heilige Drachentöter
Fáfnirs Verwandlungen
Wie viel Drache braucht ein Held?
Mensch und Monster
II. Moderne und postmoderne Drachen
Die Wiederkehr der Drachen
Es hausen Drachen in unseren Wäldern ...
Smärg oder die Amoralität Phantásiens
»Fire and Blood«
Ungeheuer menschlich
III. Drachen multimedial
Schaulust, Tricktechnik und Spektakel
»Follow the screams!«
Become the Dragon
Autorinnen und Autoren
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Den Drachen denken: Liminale Geschöpfe als das Andere der Kultur
 9783839446638

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Markus May, Michael Baumann, Robert Baumgartner, Tobias Eder (Hg.) Den Drachen denken

Edition Kulturwissenschaft  | Band 196

Markus May (Prof. Dr.) lehrt Neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. Phantastik als kulturelles Phänomen, Geschichte und Theorie der Lyrik, deutsch-jüdische Literatur, Literatur- und Kulturtheorie und literarische Übersetzung. Michael Baumann (M.A.) promoviert in Neuerer Deutscher Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsfelder liegen im Bereich der Phantastik mit Schwerpunkt auf ideologischen Implikationen der Fantasy. Robert Baumgartner (M.A.) promoviert in Neuerer deutscher Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine besonderen Forschungsinteressen umschließen Phantastik- und Computerspielforschung. Tobias Eder (M.A.) studiert Informatik an der Technischen Universität München. Seine Forschungsfelder liegen im Bereich Game Studies und Phantastik, mit einem Fokus auf der Medialität des Digitalen.

Markus May, Michael Baumann, Robert Baumgartner, Tobias Eder (Hg.)

Den Drachen denken Liminale Geschöpfe als das Andere der Kultur

Gefördert vom Programm Lehre@LMU (»Forschung entdecken: Förderung von Forschungsorientierung in der Lehre«). Dieses Vorhaben wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01PL17016 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den AutorInnen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: The Doom Fulfilled (Perseus Slaying the Sea Serpent) c.1882 (gouache on paper) (Ausschnitt), Burne-Jones, Edward Coley (183398) / Southampton City Art Gallery, Hampshire, UK / Photo © Southampton City Art Gallery / Paul Carter / Bridgeman Images Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4663-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4663-8 https://doi.org/10.14361/9783839446638 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort Den Drachen denken. Liminale Geschöpfe als das Andere der Kultur

Markus May | 7

I. HISTORISCHE FIGURATIONEN DES DRACHEN Drachen im alten Mesopotamien

Johannes Bach | 27 Heilige Drachentöter Ursprung und Umdeutung des Drachenkampfmythos im christlichen Kontext

Norina Auburger | 49 Fáfnirs Verwandlungen Lindwürmer und (Flug-)Drachen in der altwestnordischen Heldenepik und ihre Reprisen in der modernen Populärkultur

Matthias Teichert | 61 Wie viel Drache braucht ein Held?

Andrea Schindler | 75 Mensch und Monster Der Drache als Spiegel des Eigenen. Beispiel einer Figuration

Matthias Langenbahn | 95

II. MODERNE UND POSTMODERNE DRACHEN Die Wiederkehr der Drachen Zur Dialektik von Natur und Technik in Alfred Döblins Berge Meere und Giganten

Markus May | 109 Es hausen Drachen in unseren Wäldern … Die kinderliterarische Remystifizierung einer entzauberten Welt

Maren Bonacker | 129

Smärg oder die Amoralität Phantásiens

Eva-Maria Kleitsch | 147 »Fire and Blood« Drachen in A Song of Ice and Fire

Christian Ehring | 161 Ungeheuer menschlich Zur Figur des Drachen in Andrzej Sapkowskis Die Grenze des Möglichen

Michael Baumann | 175

III. DRACHEN MULTIMEDIAL Schaulust, Tricktechnik und Spektakel Drachen im Kino der Attraktionen

Tobias Eder | 195 »Follow the screams!« Saurier in Steven Spielbergs Jurassic Park und die filmische Tradition des Drachen

Thomas Koebner | 205 Become the Dragon Drachen im Computerspiel

Robert Baumgartner | 219 Autorinnen und Autoren | 237

Vorwort Den Drachen denken. Liminale Geschöpfe als das Andere der Kultur Markus May

»A dragon is no idle fancy«, wie J.R.R. Tolkien in seinem Essay über das altenglische Heldenlied Beowulf schreibt, und fährt fort: »but a potent creation of men’s imagination« (Tolkien 1997: 16). Und in der Tat ist die Faszination des Drachen, jenes »fabelhafteste[n] aller Fabelwesen«, wie der Münchener Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf ihn in charmanter Tautologie bezeichnet hat (Reichholf 2012: 247), auch in der heutigen wissenschaftlich-aufgeklärten und durchtechnisierten Welt immer noch ungebrochen, wie die medienüberschreitenden Erfolge der Eragon-Reihe, von A Song of Ice and Fire bzw. Game of Thrones oder von The Hobbit bezeugen, in denen Drachen einen wesentlichen Part im Handlungsgefüge spielen. Der Umstand, dass diese Fantasy-Texte und Reihen hinsichtlich ihrer Weltenentwürfe seitens der Kritik häufig mit dem Vorwurf der Infantilität, bisweilen sogar einer bewusst regressiven Infantilisierung konfrontiert werden, hat auch die Figur des Drachen affiziert, so dass sich schon Jorge Luis Borges genötigt sah, den Drachen mit Blick auf seine lange währende kulturgeschichtliche Signifikanz (Borges 2004: 47) und in Anlehnung an Tolkien zu verteidigen: »Wir kennen den Sinn des Drachen ebenso wenig wie den Sinn des Universums, aber in seinem Bild ist etwas, das der menschlichen Vorstellungskraft entspricht, und so erscheint der Drache in verschiedenen Gebieten und zu verschiedenen Zeiten.« (Borges 2004: 11). Es ist in der Tat bemerkenswert, dass Vorstellungen von Drachen nicht nur in allen eurasischen und fernöstlichen Kulturen präsent sind (einen Überblick über Drachenvorstellungen der antiken und mittelalterlichen Kulturen bietet Merkelbach 2012), sondern dass sich die Ursprünge solcher Faszinationskomplexe bis weit in die Ur- und Frühgeschichte zurückverfolgen lassen (vgl. den Beitrag von Johannes Bach in

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diesem Band).1 Als ein Wesen, das anders als Basilisken, Einhörner oder der Vogel Rock keine evidente Grundlage in einer existenten Tierart hat (die Entdeckung der Überreste der Dinosaurier aus dem Erdmittelalter erfolgte erst in der Neuzeit und spielt für die kulturhistorisch wesentlich frühere Ausformung von Morphologie und Eigenschaften der Drachen keine Rolle, aber für moderne Adaptionen bisweilen durchaus), also ohne die Grundierung durch tatsächliche anthropologisch wirksam gewordene Erfahrungen auskommen muss, 2 hat der Drache eine erstaunliche kulturhistorische Langlebigkeit bewiesen. Nicht nur in Sage, Märchen, oder Fantasy sind Drachen schwer zu töten – das Gleiche gilt auch für das Archiv des kollektiven Gedächtnisses, das ein ›Abbild‹ bewahrt, zu dem kein erkennbares Vor- oder Urbild in der Realität existiert. Gerade diese scheinbare Diskrepanz zwischen mangelnder Realitätsgrundlage und imaginativer Wirkungsmacht bildete den Ausgangspunkt für die Konzeption dieses Buches, das der Frage nachgehen möchte, weshalb Drachen in den unterschiedlichsten Kulturen und in den unterschiedlichsten medialen Ausformungen ein so stark suggestives Wirkungspotenzial ausüben. Zwei hypothetische Grundannahmen, die bereits in eine gewisse Richtung weisen, lassen sich schon im Titel des Bandes identifizieren, an den hier nochmals erinnert sei: »Den Drachen denken. Liminale Geschöpfe als das Andere der Kultur«. Die zweite Hälfte des Untertitels

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Calvert Watkins hat in seiner großangelegten und ungemein kenntnisreichen Studie How to Kill a Dragon. Aspects of Indo-European Poetics unter Rekurs auf soweit auseinanderliegende Quellen wie dem Sanskrit der Veden und mittelirischen Texten eindrucksvoll demonstriert, wie nicht nur die Struktur des Drachentöter-Mythos den verschiedenen indoeuropäischen Kulturen gemeinsam ist, sondern wie die linguistische Formelhaftigkeit der Beschreibung des Drachentötens in den diversen Sprachen ein untereinander verbundenes System ergibt, das auf die Tiefenstrukturen einer indoeuropäischen ›Poetik‹ schließen lässt (Watkins 2001).

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Nichtsdestoweniger hat es, vor allem in der Folge der Erkenntnisse der Paläontologie, auch im 20. und 21. Jahrhundert nicht an Versuchen gemangelt, der Figuration des Drachen eine phylogenetisch verankerte, reale »Erfahrung« des Menschen zu unterlegen. So beruft sich Heimito von Doderer in einem bemerkenswerten Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel »Die Wiederkehr der Drachen« auf Albert Paris Güterslohs »Gesetz von der ›Symbiose der Zeiten‹« (Doderer 1996: 22), um unter Bezugnahme auf kulturhistorische wie biologische Quellen (z.B. zur Erforschung der Komodo-Warane) eine reale Erfahrungsgrundlage des Drachen-Mythos zu postulieren, die selbst eine gegenwärtige Begegnung mit solchen Geschöpfen nicht ausgeschlossen erscheinen lässt.

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erläutert sich gewissermaßen fast selbst. Denn der Drache figuriert stets als ein Widerpart zum Menschen und seiner Kultur, seiner Lebenssphäre und – auch dies ist im christlichen Kontext keinesfalls zu vernachlässigen – seiner ethischen und religiösen Normen. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Erscheinung, seiner Kraft, seiner Fähigkeiten, seiner Monstrosität und auch seines Naturbezugs (in einem chthonischen, also gewissermaßen ›unterweltlichen‹ Sinne) stellt der Drache einen Konkurrenten zum Menschen dar, der diesem dessen hegemonialen Anspruch auf Domestizierung, Kultivierung und Beherrschung der Welt und ihrer Phänomene durchaus streitig macht.3 Der Drache ist der Antipode des Dominium Terrae-Gebots, und dies nicht nur im engeren christlichen Sinne, er ist der mächtige Konkurrent des Menschen im Kampf um die Herrschaft über die Welt. So entwickelt bereits die frühmittelalterliche Theologie besondere Vorstellungen, was die Herkunft der Monstren anbelangt, die vermeintlich auf den Stammvater Kain, Urahn aller Ungeheuer, zurückverweist (Simek 2015: 141; im Beowulf werden Grendel und seine ebenso monströse Mutter explizit als »Caines cynne«, als »Nachkommenschaft Kains« apostrophiert, Beowulf 2005: 46, V. 107). Die physische Bedrohlichkeit wird dadurch auch metaphysisch abgesichert und begründet. Die im Christentum dominante Gleichsetzung des Teufels mit dem Drachen (Bächtold-Stäubli 2008: 370f.) wurde vor allem durch den apokalyptischen Drachen in der Offenbarung des Johannes befeuert (siehe den Beitrag von Norina Auburger in diesem Band). Der Drache figuriert im Christentum also als der Widersacher, der Antipode schlechthin, als eine Verkörperung des AntiChrist, was sich auch an drachenartigen Skulpturen an Kathedralen der Gotik ablesen lässt, die teilweise theriomorphe und anthropomorphe Züge miteinander hybridisieren (Baltrušaitis 1997: 192-200). Bei dieser Vorstellung des Drachens als Widersacher spielt seine Bindung an die gewissermaßen stets unheimlichen Mächte der Natur,4 des Inneren der Erde, eine wesentliche Rolle – Drachen hau-

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Interessanterweise konstatiert Isodor von Sevilla in seiner um 623 n.Chr. veröffentlichten monumentalenzyklopädischen Etymologiae eine Urfeindschaft zwischen den Drachen und dem größten sonst bekannten Landtier, dem Elefanten (Isidor 2008: 458).

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Diese Mächte versucht sich der Mensch, der den Drachen bezwingt, zu eigen machen, wie dies etwa in der Siegfried-Sage des Nibelungenliedes der Fall ist. Residuen dieses Denkens lassen sich auch in späteren Epochen der Kulturgeschichte ausfindig machen und dann auch entsprechend literarisch verwerten. In Daniel Kehlmanns Roman Tyll sucht der barocke Universalgelehrte Athanasius Kircher nach einem Drachen, um aus dessen Blut ein Heilmittel gegen die Pest zu gewinnen (Kehlmann 2017: 351f.) – ge-

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sen nicht zufällig in Höhlen, die schon in der Antike, aber besonders auch im Mittelalter als die Verbindung zur Unterwelt angesehen wurden (und daher tritt auch in Dante Alighieris Divina Commedia im Höhlenkrater des Infernos ein aus dem mythologischen Inventar der Antike stammender Drache, Geryon, wieder in Erscheinung). Die schon in den antiken Kulturen zu beobachtende Symbolisation des Drachen als Ausdruck des Chaos, der bedrohlichen Mächte der Natur, die sich in allen indoeuropäischen Kulturen wiederfindet (Watkins 2001: 297300), wird im Christentum im Gefolge der Rezeption der Johannes-Offenbarung mit deren evidenter Identifikation von Drache und Satan zu einer Art Theologoumenon. Der Drache hypostasiert das christliche Misstrauen gegen die Mächte der ›gefallenen‹ Natur als Konsequenz des Wirkens Satans – was damit einhergeht, dass »Schlange« und »Drache« häufig in den antiken Sprachen wie Assyrisch und Griechisch Synonyme waren. Yuval Noah Harari hat mit Blick auf das Sündenfall-Narrativ der Genesis darauf verwiesen, dass in den meisten semitischen Sprachen das Wort »Eva« »Schlange« bzw. sogar »weibliche Schlange« bezeichnet (Harari 2017: 109), wodurch die Vorstellungen von »Drachen« und »(Jung-)Frau« in dieser Urszene der Religionsgeschichte gewissermaßen miteinander verschmolzen werden. Dies liefert auch in psychoanalytischer Hinsicht einen interessanten Aspekt, erweist sich die – häufig mit Misogynie einhergehende – Leibfeindlichkeit des Christentums doch hier ins Monströs-Bedrohliche, aber auch Faszinierende aufgebläht: Drachen verfügen nämlich in den meisten Überlieferungen nicht selten über eine äußerst ansehnliche Gestalt, ihre Verführung geht häufig von ihrer imposanten Körperlichkeit wie auch von ihren rhetorisch-schmeichlerischen Fähigkeiten aus (Peter Jackson hat dies seiner Version des Drachen Smaug in der Hobbit-Filmtrilogie angedeihen lassen, wobei der englische Starmime Benedict Cumberbatch dank seiner enorm modulationsfähigen Stimme dem Drachen eine ungeheure Suggestionskraft verleiht). Die den Drachen seit der Antike, etwa in der Perseus-Sage, zugeschriebene Affinität zu Jungfrauen als bevorzugtem Opfer gehört auch in diesen Kontext der Imagina-

mäß des noch im 17. Jahrhundert geläufigen epistemologischen Systems der Analogien bzw. der Signaturenlehre, was im ästhetischen Gefüge des Romans auf die manifeste Identität der Vorstellungen des als Ketzerei und Hexerei verfolgten magischen Denkens mit denjenigen einer von der Katholischen Kirche sanktionierten ›Wissenschaft‹ verweist. Der Drache bleibt innerhalb der Handlung unaufgefunden, jedoch berichtet irritierenderweise der Erzähler am Kapitelende in einem Exkurs vom Tod des »letzte[n] Drache[n] des Nordens« (Kehlmann 2017: 392), sodass kritischsatirische Elemente von solchen des Phantastischen überlagert werden.

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tion sexueller Macht und Potenz, die auf den Drachen projiziert wird. Der anthropophage Akt des Verschlingens, der Einverleibung, ist nur die letzte Stufe einer ins Perverse gesteigerten Vereinigung, in der Eros und Thanatos ineinander aufgehen, wobei das animalische Moment in der raubtierhaften Anthropophagie den Grundton dieser Art von ›Liebestod‹ liefert. Mit der Jungfrau als Opfer bildet der Drache auch eine ebenso konkrete, weil die menschliche Reproduktion zerstörende, wie symbolische, weil den theologisch fundierten hegemonialen Anspruch des homo sapiens als Krone der Schöpfung negierende Bedrohung des Fortbestands der Menschheit und ihrer Kultur. Ebenso ist dem Drachen die souveräne Herrschaft über das Feuer zu eigen, jenem Element, das einerseits auf den Ausgangspunkt jeglicher menschlicher Kultur verweist – mit der Beherrschung des Feuers beginnt in prähistorischer Zeit der lange Weg des Menschen von einem Natur- zu einem Kulturwesen (Goudsblom 1995). Anderseits aber ist die Macht des Feuers eine unheimliche, zerstörerische, die immer eine bedrohliche und vernichtende Wirkung entfalten kann. Gerade diese Ambivalenz des Feuers in Hinblick auf kulturanthropologische und kollektiv psychische Dispositionen wird hypostasiert im Bild des feuerspeienden Drachens, der Faszination und Grauen zugleich erweckt. »Dragons are fire made flesh, and fire is power«, heißt es in George R.R. Martins epischer Saga A Song of Ice and Fire (Martin 2011: 426; siehe dazu den Beitrag von Christian Ehring in diesem Band). Die ambivalente Alterität des Drachens als eines Phantasmas der Kultur, das die ausgegrenzten Ängste und Sehnsüchte in ein ebenso potentes als auch persistentes Bild fasst, wäre damit einigermaßen umrissen. Sie kommt selbst dort noch zum Tragen, wo der Drache als Protagonist einer gesellschaftskritischen Satire fungiert und sein ›Nutzwert‹ im Rahmen eines elaborierten ökonomischen Modells diskutiert wird, wie dies in Stanisław Lems Erzählung Vom Nutzen des Drachen. Aus den Forschungsreisen Ijon Tichys von 1983 der Fall ist, in der eine außerirdische Zivilisation, beheimatet auf dem Planeten »Abrasien« (Lem 1990: 187), geschildert wird, deren Wirtschaftssystem ganz darauf ausgerichtet ist, einen Drachen von kontinentalen Ausmaßen und mit unmäßigem Appetit am Leben zu erhalten. Obwohl der Drache außer übelriechenden Ausscheidungen, dem »sogenannte[n] Drachenfleisch« (Lem 1990: 196), nichts produziert und die Bevölkerung unter der Belastung seiner Existenz leidet, ist er doch, so erklärt ein abrasischer Dracologe dem verblüfften Sternenreisenden Ijon Tichy, absolut notwendig nicht nur zur Aufrechterhaltung der dortigen Wirtschaft, sondern sogar als leitende »Idee« die Verkörperung der »Staatsräson« (Lem 1990: 199). Neben einer genauer referentialisierbaren zeitkritischen Dimension im Umfeld des Kampfes der politisch-ökonomischen Systeme der frühen 1980er Jahre enthält Lems satirische Fiktion nicht zuletzt den generelleren Hinweis auf die gesell-

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schaftsstiftenden Funktionen des Anderen, als deren vieldeutige Verkörperung der Drache sein ambivalentes symbolisches Potenzial ausspielen darf. Der Begriff des »Liminalen«5 in »liminale Geschöpfe« (in der Encyclopedia of Fantasy, »liminal beings«, Clute/Grant 1999: 581f.) hingegen versteht sich nicht so einfach von selbst und bedarf einer spezifischeren Erläuterung, wenngleich bestimmte Aspekte, etwa hinsichtlich der Etymologie des semitischen Wortstamms »Eva« oder der Sprachfähigkeit vieler Drachenfiguren, schon ein wenig angeklungen sind. Drachen sind Grenz- und Schwellenwesen (Clute/Grant 1999: 295), d.h. sie markieren in verschiedener Weise Grenzen: Zum einen bezeichnen sie topographisch die Grenze zwischen dem bekannten und dem unbekannten Raum, der geordneten, vermessenen Welt und dem Chaos. Typisch hierfür ist der Hunt-Lenox-Globus von etwa 1503-1507, einer der ältesten Globen überhaupt. Hier findet sich die die Beschriftung »H[I]C SVNT DRACONES« auf den Küstengebieten Südostasiens, die damals in Europa noch unbekannt und mithin nicht erforscht waren. Und ganz häufig markiert die Existenz von Drachen in einem spezifisch abgegrenzten Gebiet symbolisch einen entfernten, fremden und ominös bedrohlichen Raum, wie dies etwa in Ursula K. Le Guins Earthsea-Reihe der Fall ist – so heißt der entsprechende Roman The Farthest Shore, (dt. Das fernste Ufer) (Le Guin 1993: 301-478). Die Drachenhöhle oder das Drachenland wird für den Helden häufig zum Initiationsraum, das gilt für Siegfried oder Sigurd wie auch für Jim Knopf. Die Konfrontation mit dem Anderen, als das der Drache figuriert, wird für den Helden zu einer existenziellen Prüfung und zum Anfang eines für seine Persönlichkeit elementaren Erkenntniswie Entwicklungsprozesses, der im Fall der Überwindung des Widersachers zum Weg der Reife und Vollendung führt, was durch eine Vielzahl von QuestErzählungen, in denen der Drachenkampf den entscheidenden Test und Höhepunkt der Heldenreise markiert, Bestätigung erfährt. Der Drache als das absolut Andere wird so gleichermaßen zum ultimativen Prüfstein wie zum antipodischen Spiegelbild des Heros, der sich im Drachen wiedererkennt bzw. sich in dieser Konfrontation selbst findet, Klarheit über seine eigene Identität wie auch über

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Der Begriff der Liminalität, der ursprünglich aus dem Ritual-Modell des Ethnologen Victor Turner stammt und sich auf Arnold van Genneps Erkenntnisse zu Übergangsriten stützt, wird hier in einem weiteren Sinn der performativen Kulturtheorie verwendet, wie sie Jörg Volbers beschrieben hat, und bezeichnet den Schwellenstatus und die damit hervorgerufenen Ambivalenzpotenziale, die Konstrukten zukommen, die auf der Grenze von bestimmten kulturellen Ordnungsvorstellungen situiert sind (vgl. Volbers: 2014: 73f.).

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die geheime Ordnung der Welt erlangt. 6 Damit verknüpft ist auch der Aspekt, dass dem Drachen menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden, d.h. er ist selbst auf der Grenze zwischen Mensch und Tier situiert. Am eklatantesten ist hier natürlich die Sprachfähigkeit: Viele Drachen können sprechen, und zwar in einer dem Menschen verständlichen Sprache, wenngleich auch spezifische Drachen-Sprachen in unterschiedlichen Überlieferungszusammenhängen auftreten können, deren Beherrschung zumeist mit großer (magischer) Macht verknüpft wird, wie in Skyrim aus der Computerspielreihe The Elder Scrolls, für das eigens eine solche Drachensprache nebst dazugehörigem, auf Runen basierendem Schriftsystem entwickelt wurde. Verbale Sprachen sind sonst das Alleinstellungsmerkmal der Spezies Mensch, und sind mit der Struktur des menschlichen Geistes aufs Engste verbunden. Wenn also Drachen über Sprache verfügen und sich – wie in der Edda, aber auch wie in dem Earthsea-Roman Tehanu von Ursula Le Guin (Le Guin 1993: 479-691) – in Riesen oder Menschen verwandeln können, steckt hierin schon eine besondere Affinität dieses Fabelwesens zum homo sapiens, die die Grenze zwischen tierischer und menschlicher Natur gewissermaßen fluide werden lässt. Ähnliches gilt für die Drachen in vielen Überlieferungen nachgesagte Gier nach Gold (Bächtold-Stäubli 2008: 384f.), die eine völlig ›unanimalische‹ (Charakter-)Eigenschaft ist und damit wieder auf exklusiv menschliches Verhalten verweist (trotz der dadurch symbolisch zum Ausdruck gebrachten Verbindung des Drachen mit den Schätzen im Inneren der Erde). Diese Nähe des Ungeheuers zum Menschen, und speziell zum Helden, der sich auf den Drachenkampf einlässt, hatte der präraffaelitische Maler Edward Burne-Jones sicherlich im Sinn, als er den Drachenkampf in seinem achtteiligen, bei Burne-Jones’ Tod 1898 unvollendeten Perseus-Bilderzyklus gestaltete, der den Umschlag dieses Bandes ziert: Während Andromeda, bereits losgekettet, links am Bildrand nackt in der schimmernden, fast weißen Vulnerabilität und

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Eine ins Kollektiv gewendete Variation dieses Motivzusammenhangs bietet Kazuo Ishiguros 2015 veröffentlichter Roman The Buried Giant. Dort wird durch die Tötung eines weiblichen Drachens mit Namen Querig durch den sächsischen Krieger Wistan eine Art kollektiven Vergessens aufgehoben, das der Drache durch seinen Atem, der sich in »Nebel« verwandelt über das Land gelegt hat, bewirkte. Ishiguros hochgradig allegorischer Text ist eine Auseinandersetzung mit den traumatisch bedingten Formen und Folgen des Vergessens, der Wirkungsweisen und Intentionen der Verdrängung sowie den Bedingungen individueller wie auch gemeinschaftlicher Selbstvergewisserung durch Akte memorialer Rekonstruktion (Ishiguro 2016).

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Sinnlichkeit des bloßen Fleisches passiv dem Betrachter den Rücken zuwendet, sind die rechten drei Viertel des Bildes der Darstellung von Perseus und dem Meeresdrachen Ketos vorbehalten. Ketos hält mit seinem schlangengleichen Leib wie ein Knäuel Perseus umschlungen. Da der Held in seiner Rüstung und das Ungeheuer in exakt demselben Farbton gemalt sind – ein stählern-metallern schimmerndes, fast unwirkliches und undurchdringbar scheinendes Blau – und da die geschwungenen Linien der beiden Körper über-, unter- und zwischeneinander geführt werden, ist es schwierig auszumachen, welches Element zu welchem der beiden Körper gehört – die Grenzen zwischen Ungeheuer und Held verschwimmen, beide werden im Kampf einander ähnlicher, ja ununterscheidbar. Während Andromeda abseitsstehend die Szene beobachtet – ihr Körper ist isoliert und berührt weder den des Helden noch den des Ungeheuers – trifft sich der ernste Blick des Perseus mit dem Blick Ketos’, dessen Kopf auf gleicher Höhe wie derjenige der Andromeda am rechten Bildrand erscheint. In ihrer nachgerade überwirklichen – und damit auch übermenschlichen – Erscheinung entsprechen sich Held und Ungeheuer fast völlig, der Kampf erscheint als die ultimative Vereinigung der Körper und der Blicke. 7 Der Mythos des Drachentöters ist der heroische Mythos schlechthin, der Drachenkampf ist der ultimative Test und Ausweis des Heldentums, wodurch der Drache metonymisch, symbolisch

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Der Biologe Josef H. Reichholf, der im Tierreich nach möglichen realen Vorbildern für Fabeltiere wie Einhorn, Phönix oder Drache gesucht und die Transformationen unter Rekurs auf kulturhistorische und kulturanthropologische Bedingungen zu erklären versucht hat, kommt im Fall der Drachen zu dem erstaunlichen Schluss, dass für den Ursprung dieser Vorstellungen kein wirklich existentes Tier in Betracht gezogen werden kann. Vielmehr, so Reichholf, sei es wahrscheinlich, dass die Sagen um Drachen in Verbindung mit dem Bergbau und der Verhüttung von Metallen ständen, da die frühen Bergleute es vorgezogen hätten, ihre Beschäftigung im Verborgenen und ohne Störung durch andere Menschen auszuüben. Besonders solche Elemente der Drachenkonzeption wie das Hausen im Erdinnern und in den Bergen, die Fähigkeit des Feuerspeiens sowie das Bewachen von Schätzen würden diese These von den »[m]enschengemachten Drachen« (Reichholf 2012: 260) stützen (Reichholf 2012: 260-281). Das erklärt auch, weshalb eine Nähe zwischen der Vorstellung vom Drachen und vulkanischer Aktivität besteht, die in den Überlieferungen, z.B. jenen aus Island stammenden altnordischen Erzählungen, teilweise bewahrt wurde: Vulkane sind mit dem Erdinnern verbunden, durch die Magmaströme gelangen wertvolle Metalle aus den Tiefen an die Oberfläche, und ein Vulkanausbruch entspricht als Naturereignis am ehesten der Vision vom verheerenden Feuerspeien der Drachen.

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und heraldisch für den Helden selbst einsteht, mag dieser nun Perseus, Herakles, Beowulf, Georg, Siegfried, Sigurd oder Jim Knopf heißen. Dieses kulturanthropologisch bedeutsame Dispositiv bildet gewissermaßen den Kern der mythopoetischen Potenzen der Narration, dessen, was und warum man von diesen Heroen zu erzählen hat. Und so ist die selbstreflexive und fiktionsironische Volte von Walter Moers nur konsequent, wenn der Autor die Tradierungsverhältnisse des Narrativs umkehrt und mit Hildegunst von Mythenmetz einen dichtenden Drachen einführt (Moers 2002: 229-255, Moers 2016: 12-15). Hier kommt noch ein anderes Moment der Liminalität von Drachen zum Tragen: Sie stellen nicht nur die Grenze zwischen Tier und Mensch, sondern auch die Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen infrage. Einerseits werden sie durch die tierischen Elemente ihrer Erscheinungsform, die zumeist irgendwelche reptilienartige Züge trägt, rückgebunden an die Welt der Tiere als Exponenten einer animalischen Existenz. Aber durch die bereits genannten Eigenschaften stehen sie anders als die anderen Tierwesen auch mit übernatürlichen Mächten in Verbindung, kennen etwa nicht nur die Geheimnisse der Natur, sondern auch andere, zumeist dunkle Geheimnisse, weshalb Drachen bisweilen auch mit prophetischen Fähigkeiten begabt erscheinen und über ganz besondere magische Fähigkeiten verfügen (Wynne Jones 2006: 53) bzw. mit diesen assoziiert sind (wie Fáfnir im Fáfnismál der Edda, aber auch die Drachen in Ursula Le Guins Earthsea und George R.R. Martins Welt von A Song of Ice and Fire, wo die Existenz von Magie an die Existenz der Drachen gebunden erscheint). Drachen sind Vertreter einer anderen als der bloß natürlichen Ordnung, die sich etwa in dem Wissen um die dunklen, numinosen Zusammenhänge der Welt manifestiert. Als Repräsentanten einer »monströse[n] Ordnung[…]« (Geisenhanslüke/ Mein 2009)8 provozieren Drachen die anthropozentrische, durch Akte kultureller Selbstbestätigung und -vergewisserung rituell aufrechterhaltene Ordnung, und zwar gerade durch die den Drachen eigene Funktion, Grenzen zugleich zu markieren und zu überschreiten. Drachen sind geradezu ein Emblem für die Problematik der durch Operationen mittels Alterität und Differenz gewonnenen Kategorien menschlicher Ordnung, eine sublime Erinnerung daran, dass Inklusionsund Exklusionskriterien kultureller Weltentwürfe und -deutungen nicht ontologi-

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Für Michel Foucault stellt die Hybridität, und speziell die Vermischung vom Menschlichem und Animalischen, den paradigmatischen Fall der Kategorie des Monströsen dar, wie sie epistemologisch vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert aufgefasst wurde (Foucault 2016: 86).

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scher, sondern ideologischer Art sind, und dass Grenzen – im Geistigen wie im Konkreten – keine unüberwindlichen Hindernisse darstellen, sondern bestenfalls Schwellen, die jederzeit überschritten werden können. Drachen sind mithin liminale Geschöpfe par excellence. Die erste Sektion des Bandes ist den »Historische[n] Figurationen des Drachen« gewidmet. Johannes Bach geht in seinem Beitrag den »Drachen im alten Mesopotamien« und ihren Wandlungen nach. Drachenartige Mischwesen mit schlangenhaften Zügen erscheinen schon in den ältesten sumerischen Texten, häufig in Verbindung mit Chaos-Kampf-Motiven und dem Totenreich. Bach umreißt zunächst die Problematik der Bezeichnung »Drache«, die ja auf einem späteren griechischen Etymon basiert, im Vergleich mit altvorderasiatischen Konzepten, deren Ursprünge bedeutend früher situiert werden müssen, um dann detailliert die Entwicklung des mušḫuššu-Drachens nachzuzeichnen, der von einem Todessymbol schließlich zu einem Apotropaikon gerät, das im neubabylonischen Reich, nun als rituelles Begleittier des Stadtgottes Marduk, schließlich zu einem Symbol des Schutzes und der Abwehr inkorporiert wird – die Stadttore Babylons waren mit mušḫuššu-Darstellungen verziert, gemäß der Wächterfunktion, die diesem Drachenwesen zugeschrieben wurde. Damit liefert Bach eine paradigmatische Analyse der kulturellen Prozesse in der Auseinandersetzung mit der Alterität, die dieser Drachenvorstellung zu Grunde liegt, ein signifikantes Beispiel für die von Hans Blumenberg umrissene »Arbeit am Mythos«, wodurch sich der liminale Charakter dieser Figuration im Kontext von Ausgrenzung und Einhegung erweist. Eine kulturhistorisch bedeutsame Verschiebung erfuhr das DrachenDispositiv im Kontext des heraufziehenden Christentums. Norina Auburger arbeitet in ihrem Aufsatz »Heilige Drachentöter – Ursprung und Umdeutung des Drachenkampfmythos im christlichen Kontext« den Kampf mit dem Ungeheuer als den motivischen Kern christlicher Drachenvorstellungen heraus. Als Verkörperung des Teufels, des Bösen schlechthin, erscheint der Drache als Widersacher der christlichen Ordnung, wobei der Offenbarung des Johannes eine zentrale Rolle zukommt. Auburger betont, dass die jüdische Überlieferung des Tanach den Umstand akzentuiert, dass auch das Böse von Gott geschaffen ist, während die der Offenbarung des Johannes folgende christliche Tradition den Kampf mit dem das Satanische verkörpernden Drachen und schließlich seine Überwindung als mythopoetisches Grundkonzept favorisiert, mit weitreichenden Auswirkungen auf die Ikonographie und die Literatur. Auburger konstatiert zwei Tendenzen im hagiographischen Schrifttum, die sich auf die Strategien zur Überwindung des »Teufelsdrachen«: neben der gewalttätigen Lösung mit den Mitteln des Kampfes seht die zweite Option der gewaltlosen Bezwingung rein durch die

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Kraft des Glaubens und des Gebets. Hieran zeigt sich der Sublimationsakt im Prozess einer sich verfeinernden und intellektualisierenden Religion, die den Drachen immer mehr als eine Allegorie begreift. Eine auch für die zeitgenössischen Drachen-Konzepte immer noch relevante Quelle bietet die altgermanische und besonders die altnordische Überlieferung. Matthias Teichert demonstriert dies an »Fáfnirs Verwandlungen. Lindwürmer und (Flug-)Drachen in der altnordischen Epik und ihre Reprisen in der modernen Populärkultur«. Teichert betont die beiden in der altskandinavischen Kultur unterschiedenen Drachen-Konzeptionen von Flug- und Kriechdrachen, die in der Heldenepik zumeist aufrecht erhalten werden, obgleich in späteren Überlieferungen sich diese Vorstellungen vermischen, wobei besonders in der Figur des Fáfnir auch die Metamorphose der Gestalt von Mensch zu Drachen angelegt ist. Dadurch entfaltet sich hier eine Dialektik des Liminalen, die nicht zuletzt das Schema von Held und Ungeheuer bzw. die Gut-Böse-Dichotomie untergräbt. Diese bereits in mittelalterlichen Texten angelegte Tendenz verfolgt Teichert bis in die zeitgenössische Literatur, indem er auf die Entdämonisierung der Figur des Drachens in der Kinder- und Jugendliteratur hinweist. Der durchaus nicht unberechtigten Frage »Wie viel Drache braucht ein Held?« geht Andrea Schindler in ihrem Beitrag nach. Sie analysiert das Erzählschema Drachenkampf an den Beispielen Iwein, Tristan und Wigalois und demonstriert, dass der Triumph über das Ungeheuer mit der Restituierung der sozialen Position und damit der gesellschaftlich fixierten Identität des jeweiligen Helden einhergeht. Demgegenüber stehen jedoch auch Drachen-Narrative, die mit den Erwartungen des Publikums bezüglich des sowohl in der Heldenepik als auch im höfischen Roman etablierten Erzählschemas spielen. Hierin zeigt sich ein subversives Potenzial des Drachen-Dispositivs, ebenso wie auch der von intertextuellem Wissen geprägte systemische Charakter der mittelalterlichen Literatur. Die zweite Sektion, »Moderne und postmoderne Drachen«, eröffnet der Aufsatz von Matthias Langenbahn, »Der Drache als Spiegel des Eigenen – Beispiel einer Figuration«. Langenbahn versucht in einer kulturanthropologisch geprägten Argumentation nachzuweisen, dass gerade in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts den Gestaltungsformen des Drachen die Funktion zukommt, die Ambivalenz des Eigenen der Kultur zu externalisieren, gewissermaßen die Momente der Selbstverunsicherung aufgrund der Erfahrung des Fremden innerhalb der eigenen kulturellen und psychischen Disposition auszugliedern und auf die Figuration des Drachen zu übertragen. Drachen in modernen und postmodernen Texten sind demnach ästhetische Konkretisierungen dessen, was Sigmund Freud

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als das »Unbehagen in der Kultur« fixiert hat, ein metaphorisch ›verdichtetes‹ Emblem der Sublimationszwänge. Dass Drachen durchaus eine Rolle auch bei Autoren spielen, die für ganz andere ästhetische Paradigmen bekannt sind, zeigt der Beitrag des Verfassers dieses Vorworts über »Die Wiederkehr der Drachen. Zur Dialektik von Natur und Technik in Alfred Döblins Berge Meere und Giganten«. Döblins monumentales Epos über die Zukunft der Menschheit bis ins 28. Jahrhundert behandelt neben vielen anderen Aspekten auch und vor allem das Verhältnis von technischer Kultur und den Mächten der Natur, ein Lieblingsthema Döblins insbesondere in seinen Werken der 1910er und 1920er Jahre. Bei der mit gigantischem Aufwand betriebenen »Enteisung Grönlands« im Zuge eines Siedlungsprozesses entfesselt der Mensch ungeahnte Naturkräfte, deren Eigendynamik er nicht mehr beherrschen kann. Durch bizarre Experimente kehren die Dinosaurier wieder, nun aber in durch Strahlung verursachter mutierter Form; sie werden im Roman explizit als »Drachen« tituliert. Es wird nachgezeichnet, wie Döblin an diesem Komplex in Berge Meere und Giganten eine Dialektik entfaltet, in der Mensch und Drache die Positionen tauschen. Die intrinsische, reziproke Beziehung zwischen dem Drachentöter und dem Drachen, die auf einer ins Monströse gesteigerten Gewalt des Agons beruht, dient hier der Hinterfragung dessen, wer eigentlich das Monstrum ist. Auch hier zeigt sich die Funktion des Drachens als einer liminalen Figur, die die Ordnung sowohl markiert als auch überschreitet, weshalb Döblin hier ganz dezidiert und mit Blick auf die kulturhistorische Tiefendimension dieses Dispositivs den Begriff »Drachen« verwendet. Eine tour d’horizon der Drachenfiguren in der internationalen Kinderliteratur unternimmt Maren Bonacker. Ihr Aufsatz »›Es hausen Drachen in unseren Wäldern‹ – Die kinderliterarische Remystifizierung einer entzauberten Welt«. Drachen, so argumentiert Bonacker, verkörpern das Mysterium schlechthin, dass Geheimnis in einer durch den erwachsenen Blick völlig profanierten und banalisierten Wirklichkeit. In der Kinderliteratur wird häufig die kindliche Perspektive gegen die erwachsene Sichtweise stark gemacht, weshalb sich hier auch andere Wirklichkeitsbereich erschließen, die der Drache (der oft nur von den kindlichen Protagonisten wahrgenommen wird) symbolisch repräsentiert. Dabei verbindet sich der Drache – als Exponent des Wunderbaren mit besonderem Bezug zur Natur – oft mit tabuisierten oder verdrängten Themen wie Krankheit und Tod, aber auch mit denen des Naturmissbrauchs und der Ökologie. Eva-Maria Kleitschs Beitrag widmet sich einem bereits zum Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur avancierten Roman, Michael Endes Die unendliche Geschichte. In »Smärg oder die Amoralität Phantásiens« steht einmal nicht Fuchur, sondern ein anderer Drache der Erzählung im Zentrum der Betrachtung.

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Kleitsch argumentiert, dass der vom Protagonisten Bastian durch seine Wünsche erschaffene »böse« Smärg das moralische Dilemma versinnbildlicht, das sich aus Emphase einer Befreiung der kindlichen Phantasie und einer Reifung zu einer ethisch verantwortlichen Person ergibt, welches auch der Autor Ende nicht aufzulösen vermochte. Auch hier offenbart sich wieder die ideologisch heikle Natur von Zuschreibungen moralischer Kategorien, die der Drache als liminales Wesens provoziert. Vom weltweiten Erfolg der HBO-Serie Game of Thrones hat auch das Interesse an der literarischen Vorlage, dem Roman-Zyklus A Song of Ice and Fire von George R.R. Martin, profitiert. Drachen sind nicht nur die heraldischen Symbole des Hauses Targaryen, einer alten Herrscherfamilie des fiktiven Kontinents Westeros, vielmehr kommt es im Verlauf der Reihe wie auch der Serie zu einer Wiedergeburt der Drachen, die aus der fiktiven, mittelalterlich anmutenden Welt, in der die Ereignisse stattfinden, eigentlich schon verschwunden waren. Christian Ehring unternimmt es in seinem Beitrag »›Fire and Blood‹ – Drachen in George R.R. Martins A Song of Ice and Fire«, den Zusammenhang von Drachen und Magie sowie die Relevanz der Drachen für die Legitimation des Herrschaftsanspruchs der Targaryens darzulegen. Die gewissermaßen sympathetischsymbiontische Verbindung, die legitime Mitglieder des Hauses Targaryen mit ihren Drachen unterhalten, kulminiert in einer Identifikation von Mensch und Drache, die weit über totemistische Vorstellungen hinausreicht, genealogische Zusammenhänge suggeriert, und die einmal mehr die Grenzen zwischen den Identitäten verschwimmen lässt, ebenso wie sie eine auf dichotomischen Kategorien gründende Ordnung durch ihren liminalen Status in Frage stellt. Die Fantasy-Romane und -Erzählungen des polnischen Autors Andrzej Sapkowki sind bevölkert von einem ganzen Arsenal liminaler Kreaturen, Hybridwesen, Gestaltwandler, Hexer, theriomorpher und anthropomorpher Ungeheuer usw., und liefern auf diese Weise – ähnlich wie seinerzeit die Science FictionTexte Stanisław Lems – einen subtilen, satirisch-sarkastischen Kommentar zu den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Polen, insbesondere seit dem Ende des Kommunismus. Michael Baumann untersucht in seinem Aufsatz »Ungeheuer menschlich. Der Drache in Andrzej Sapkowskis Die Grenze des Möglichen« exemplarisch eine der zentralen Fragestellungen dieses Autors, nämlich auf welcher Grundlage Kategorien des Handelns getroffen werden: Wer wird mit welcher Legitimation zum ›Anderen‹, zum Monster erklärt? Was gibt jemandem das Recht, andere ausgrenzen und im Extremfall auszulöschen? Wenn man ein Monster tötet, wird man dann nicht selbst zu einem Solchen? Baumann exemplifiziert anhand der Mimesistheorie René Girards die Rolle des Drachen im Kontext der Gewalt und des Opfers und zeigt die besondere Funktion des

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Drachen als menschlichstem aller Monster für den von Sapkowski in seinem Geralt-Zyklus im Gewand der Fantasy etablierten kritischen polithistorischen Diskurs auf. In der dritten Sektion, »Drachen multimedial«, werden exemplarisch die medialen Transformationen ausgeleuchtet, die das Drachen-Dispositiv in den unterschiedlichen Künsten durchlaufen hat. Tobias Eder belegt in seinem Beitrag »Schaulust, Tricktechnik und Spektakel. Drachen im Kino der Attraktionen«, dass das neue Medium schon seit seinen Anfängen gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die offensichtlichen Schauwerte setzte, die Drachenfiguren zu bieten haben, wenngleich erst mit Fritz Langs Die Nibelungen von 1924 eine wirklich überzeugende Tricktechnik zur einigermaßen realistisch wirkenden Belebung des Ungetüms auf die Leinwand gebracht werden konnte. Der Kontinuität der Drachendarstellung als durchgängiges Motiv im Film steht eine immer perfekter entwickelte Illusionserzeugung gegenüber, die in den CGI- und Motion CaptureVerfahren ihren gegenwärtigen Höhepunkt erreicht hat – der Drache aus dem Computer, ein digitales Hybridwesen. Diese Kontinuität verfolgt Thomas Koebner in dem Aufsatz »›Follow the screams!‹ Saurier in Steven Spielbergs Jurassic Park und die filmische Tradition des Drachen«, der die Verknüpfung zwischen der Darstellungsweise der mythologischen Drachenfigur und der durch genetic engineering wiederbelebten Dinosaurier im Film akzentuiert. Dies erstreckt sich auch auf die mit solchen Figurationen verbundenen ideologischen Botschaften, denn Spielberg unterlegt seiner Vision vom Kampf mit dem Drachen/Saurier, wie Koebner überzeugend aufzeigt, eine nun wieder aus der Theologie entlehnte Warnung, nämlich, dass der Mensch nicht an der Schöpfung Gottes herumexperimentieren soll. Damit kehrt die in den Filmen Spielbergs enthaltene Modernekritik gerade im Motiv der Reproduktion der eigentlich vor sechzig Millionen Jahren ausgestorbenen Dinosauriern auf eine theologisch fundierte Begründung zurück, also auf einen Diskurszusammenhang, der in der (Kultur-)Geschichte des Drachen-Dispositivs lange Zeit prägend wirkte. Den Abschluss dieser Sektion wie auch des ganzen Bandes bildet Robert Baumgartners Aufsatz »Become a Dragon: Drachen im Computerspiel«. Baumgartners Studie, die in ihren Analysen narratologische Ansätze mit solchen der Ludologie kombiniert, zeigt die Evolution der Drachen im Computerspiel von frühen Formen Ende der 1970er Jahre bis zu den neuesten Entwicklungen im Game-Bereich. Das Intrikate bei Computerspielen stellt, so Baumgartner, die Möglichkeit dar, per Avatar nun selbst den Drachen zu verkörpern und in den interaktiven Strukturen als Drache zu agieren, gewissermaßen die Innenperspektive des Drachens einzunehmen, mit ihm innerhalb der Spielmechanik wie auch

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in der Spielnarration zu verschmelzen. Die Immersionsqualitäten solcher Spiele werden dadurch noch gesteigert, dass, wie Baumgartner demonstriert, durch unerwartete Wendungen mit Rezipienten-Erwartungen gespielt wird. Das bedeutet, dass im Computerspiel bei fortgeschrittener Entwicklung ein ebensolcher fiktionsreflexiver Umgang mit dem Drachen-Dispositiv zu beobachten ist, wie dies schon für die mittelalterliche Epik gilt. Der vorliegende Band geht auf eine Tagung der Ludwig-MaximiliansUniversität München unter dem Titel »Liminal Creatures – Figurationen des Drachen als das Andere (in) der Kultur« zurück, die am 29. und 30. Oktober 2016 stattfand. Die Herausgeber bedanken sich bei der Internationalen Jugendbibliothek unter der Leitung von Dr. Christiane Raabe, die zum zweiten Mal ihre wundervollen, dem Thema das entsprechende Ambiente verleihenden Räume auf Schloss Blutenburg zur Verfügung stellte. Ferner gilt unser großer Dank dem Programm Lehre@LMU für die Bereitstellung der finanziellen Mittel, ohne die diese Tagung und die Publikation des vorliegenden Bandes nicht möglich gewesen wären. Der Anblick eines Drachen kann allein schon überwältigen – die Tagung sowohl optisch vielfältig bereichert als auch durch den Verkaufserlös finanziell unterstützt haben dankenswerterweise die Drachen von Eva Schuster (Pommer Lampenschirme) und Corinna Boyce (DrachenSkulpturen). Und vor allem sind wir den DracologInnen, KryptozoologInnen, PhantastikforscherInnen und VertreterInnen anderer ›obskurer Wissenschaften‹ einschließlich der Philologie zu Dank verpflichtet, deren Referate und Diskussionsbeiträge der Tagung und dem vorliegenden Band zu einer fabelhaft animiert-animierenden Existenz verholfen haben.

LITERATUR Bächtold-Stäubli, Hanns (Hg.) (2008): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Band 2: C.M.B - Frautragen [1930]. Unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Augsburg: Weltbild. Baltrušaitis, Jurgis (1997): Das phantastische Mittelalter. Antike und exotische Elemente der Kunst der Gotik. Aus dem Franz. übers. von Peter Hahlbrook. Berlin: Gebr. Mann. Beowulf (2005). Eine Textauswahl mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Glossar. Hg. von Ewald Standop. Berlin u. New York: De Gruyter. Borges, Jorge Luis (mit Margarita Guerrero) (2004): Einhorn, Sphinx und Salamander: El libro de los seres imaginarios/Das Buch der imaginären Wesen.

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Übersetzt von Ulla de Herrera, Edith Aron und Gisbert Haefs. Frankfurt a.M.: Fischer. Clute, John u. John Grant (Hg.) (1999): The Encyclopedia of Fantasy. New York: St. Martin’s Griffin. Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla (2008). Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Lenelotte Müller. Wiesbaden: marixverlag. Doderer, Heimito von (1996): »Die Wiederkehr der Drachen«, in: Ders.: Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze, Reden, Traktate. Vorwort von Wolfgang H. Fleischer. Hg. von Wendelin Schmidt-Dengler. 2., durchges. Aufl. München: Beck, S. 15-35. Foucault, Michel (2016): Die Anomalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975). Aus dem Französischen von Michaela Ott und Konrad Honsel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Geisenhanslüke, Achim u. Georg Mein (Hg.) (2009): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Unter Mitarbeit von Rasmus Overthun. Bielefeld: transcript. Goudsblom, Johan (1995): Feuer und Zivilisation. Übersetzt von Heike Hammer und Elke Korte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Harari, Yuval Noah (2017): Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München: C.H.Beck. Ishiguro, Kazuo (2016): The Buried Giant. London: Faber& Faber. Kehlmann, Daniel (2017): Tyll. Roman. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. Le Guin, Ursula (1993): The Earthsea Quartet: A Wizard of Earthsea. The Tombs of Atuan. The Farthest Shore. Tehanu. London: Penguin. Lem, Stanisław (1990): »Vom Nutzen des Drachen. Aus den Forschungsreisen Ijon Tichys«, in: Ders: Vom Nutzen des Drachens. Erzählungen. Aus dem Polnischen von Hubert Schumann und Hanna Rottensteiner. Frankfurt a.M.: Insel, S. 187-199. Martin; George R.R. (2011): A Clash of Kings. New York: Bantam. Merkelbach, Reinhold (2012): »Drache«, in: Ders.: Philologica. Ausgewählte Kleine Schriften. Hg. von Wolfgang Blümel u.a. Berlin: De Gruyter, S. 352379. Moers, Walter (2002): Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien. München: Goldmann. Moers, Walter (2016): Die Stadt der träumenden Bücher. München u. Zürich: Piper. Reichholf, Josef H. (2012): Einhorn, Phönix, Drache. Woher unsere Fabelwesen kommen. München: C.H. Beck.

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Simek: Rudolf (2015): Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln/Weimar/Wien: Böhlau. Tolkien, J.R.R. (1997): »Beowulf. The Monsters and the Critics«, in: Ders.: The Monsters and the Critics and Other Essays. Hg. von Christopher Tolkien. London: Harper Collins, S. 5-48. Volbers, Jörg (2014): Performative Kultur. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS. Watkins, Calvert (2001): How to Kill a Dragon. Aspects of Indo-European Poetics. Oxford / New York: Oxford University Press. Wynne Jones, Diana (2006): The Tough Guide to Fantasyland. Revised and updated edition. New York: Firebird.

I. Historische Figurationen des Drachen

Drachen im alten Mesopotamien Johannes Bach

EINFÜHRUNG Bereits seit der vor- und frühschriftlichen Zeit gehörten transzendente Zwischenwesen zur Geisteswelt des antiken Mesopotamien. Sie durchdrangen alle Bereiche des menschlichen Daseins, und waren im herrschaftlichen Kontext ebenso zu finden wie im magisch-medizinischen Bereich oder in übelabwehrenden Alltagsritualen. Drachen oder drachenähnliche Entitäten nahmen innerhalb dieser Gruppe insgesamt aber keine Sonderstellung ein (die ›klassische‹ Studie zum Thema ist van Buren 1945). Wie andere mesopotamische Monster (zur Taxonomie mesopotamischer Zwischenwesen siehe Sonik 2013)1 unterlagen diese Wesen sowohl in Erscheinung als auch in Signifikanz dem historischen Wandel. Möglicherweise schon früher, spätestens aber seit etwa der Mitte des dritten Jahrtausends v.u.Z. wurden Schlangen- und Drachenfiguren mit Bereichen des Unbekannten und Anderen in Verbindung gebracht, hauptsächlich mit dem Tod und der Totenwelt. Bereits in sumerischen Bilddarstellungen und Texten begeg-

1

Mesopotamische Monster entstammen einer anderen raumzeitlichen Anordnung als die Menschen. Sie sind metaphysische »interstitielle Wesen, […] soziale Exilanten, […], ›Andere‹«, deren äußere Form und Habitate in den »prekären und veränderlichen Zonen, wo die geordnete Welt auf die chaotische trifft, « die »Räume zwischen den konzeptuellen und kognitiven Kategorien« besetzen (Sonik 2013: 107-109, meine Übersetzung). Sie interagieren primär mit Göttern oder, selten, mit vergöttlichten Helden, und operieren fast ausschließlich auf der kosmischen Ebene. So bedrohen sie zwar die menschliche Welt mit Chaos und Unordnung, bleiben darin aber aufgrund ihres Status als »fundamentale Kulturkonstruktionen […] abstrakt und entfernt« (Sonik 2013: 113-114, meine Übersetzung).

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nen sie als Begleittiere von Totenweltgottheiten oder als Antagonisten göttlicher Helden. Jüngere akkadische Mytho-Epen bringen den Drachen mušḫuššu expliziter mit der Störung oder gar Zerstörung von menschlicher und göttlicher Ordnung in Verbindung. Dennoch können mesopotamische Drachen- und Schlangenentitäten, ebenso wie viele andere Zwischenwesen des Zweistromlandes, zugleich auch als Symbole für die Integration der von ihnen vertretenen Bereiche in das Eigene und Bekannte angesehen werden (Sonik 2013: 114). Beispielsweise standen sie als Wesen des Todes zwar für etwas zum menschlichen Leben fundamental Anderes, versinnbildlichten so aber auch die ultimative göttliche Ordnung der Welt in Form der Sterblichkeit irdischer Wesen. Wegen dieser ihnen oder der ihnen übergeordneten Gottheiten eigenen Schrecklichkeit wurden Schlangen und Drachen in Beschwörungen und Ritualen auch als apotropäische Schutzwesen angerufen oder eingesetzt. Dadurch sollten bestehende Ordnungen geschützt oder gestörte Ordnungen wiederhergestellt werden.

DIE BEZEICHNUNG ›DRACHE‹ IN ALTGESCHICHTLICHASSYRIOLOGISCHER PERSPEKTIVE Unsere zeitgenössische Designation ›Drache‹ ist das Produkt von historischen Überformungen und Bedeutungsverschiebungen eines ursprünglich aus der griechischen Antike stammenden Wortes, und kann so nicht unbedingt auf die teils bedeutend älteren mesopotamischen Kulturen übertragen werden. Die beiden Hauptsprachen des alten Zweistromlandes, das Sumerische und das Akkadische, kennen zwar zwei tendenziell generische Begriffe, die man durchaus als ›Drachenbezeichnungen‹ verstehen kann. Zwischen den hinter der mesopotamischen Eigenbegrifflichkeit stehenden Konzepten und den klassisch antiken bis modernen Drachenvorstellungen liegen zwar Gemeinsamkeiten vor, diese liefern aber wegen der genauso bestehenden Unterschiede keine Rechtfertigung für eine unkritische Gleichsetzung. Das neuhochdeutsche Wort Drache lässt sich problemlos über das Mittelhochdeutsche (hier: trache, tracke, drache, drakke) auf althochdeutsch trahho zurückführen. Letzteres wurde aus lateinisch draco entlehnt, was wiederum auf ein griechisches Wort δράκων zurückgeht (o.N. 2012).2 Griechisch δράκων bedeutet ›große Schlange‹ und in diesem Sinne auch ›Drache‹.

2

O.N. »Drache« Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hrsg. Seebold, Elmar. 252012, 212.

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Beispielsweise wird in Zeile 300 des homerischen Hymnos an Apollon das von diesem bei Pytho bekämpfte Wesen namens Delphyne als δράκαινα ›Großschlange bzw. Drachin‹ bezeichnet (Allen/Sikes 1904: 103; Chappell 2006). Die Wörter δράκων und δράκαινα sind verwandt mit dem Verb δέρκομαι, welches ›sehen, blicken bzw. ansehen, erblicken‹, aber auch ›anstarren, anfunkeln‹ bedeutet. δέρκομαι wiederum leitet sich von indogermanisch *derk̂-: ›blicken‹ ab, während δράκων, über das ältere δράκαινα, auf den N-Stamm des entsprechenden Wurzelnomens *δρά(κ)- ›Blick‹ zurückgeführt werden kann (Beekes / van Beek 2010: 317-318 und 351). Hier sei auf die mythologische Figur der Gorgo Medusa verwiesen: Der Blick der ihr anstelle von Haaren aus dem Kopf wachsenden Schlangen war tödlich, da er Lebewesen zu Stein erstarren ließ. Die Drachenfiguren der griechischen Antike zeichneten sich also ursprünglich vor allem durch ihre Schlangenhaftigkeit (Ophidität) und ihren starrenden Blick aus, während andere prominente Merkmale wie etwa ein Feueratem 3 erst später belegt sind (vgl. Ogden 2013: 2-4 und 215-246). Im alten Mesopotamien waren reale Schlangen grundsätzlich eher negativ konnotiert.4 Nach den überlieferten Textzeugnissen wurde der Blick einer Schlange, besonders der sogenannte ›Erstblick‹, dem des griechischen δράκων vergleichbar stets als besonders unheilvoll wahrgenommen. Etwa seit der altbabylonischen Zeit sind Beschwörungen und Listeneinträge belegt, in denen versucht wurde, die Farbpalette von Schlangenaugen zu erfassen (Pientka-Hinz 2010: 169-171 und 175-181). Der Blick der Schlange galt als so mächtig, dass er leicht den Tod einer angestarrten Person nach sich ziehen konnte. Dies zeigt beispielsweise der Anfang eines mittelassyrischen Abwehrrituals gegen Schlangenübel (Heeßel 2007: Texte Nr. 10, Vs. 11ˈ-15ˈ und Nr. 14, Vs. i, 13ˈ-16ˈ, Übersetzung zitiert nach Pientka-Hinz 2010: 172-173):5 »11ˈ [Wenn beim Neujahrsfest am 1. Nisannu oder am 1. Ajjaru], entweder im Verlauf des Tages oder (während) [der Nacht],

3

Ein feuerspeiender Drache begegnet in der antiken griechischen Literatur erstmals in Aischylosˈ Gefesseltem Prometheus.

4

Zu Schlangen (und Drachen) im Hethitischen und in Syrien siehe Collins 2009, Lambert 1985; für indogermanische Sprachen siehe bes. Watkins 1995.

5

Der Ritualtext bezieht sich klar auf den Beginn der 22. Tafel der Omenserie Šumma ālu (»Wenn die Stadt…«; Zeilen 1 und 21), wo eine ganz ähnliche Formulierung vorliegt (Freedmann 2006a: 8-11; Pientka-Hinz 2010: 173 mit Fn. 14).

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12ˈ [eine Schlange jemanden anschaut]: Dieser Mann wird (noch) im Laufe des selbigen Jahres sterben. 13’. [Wenn dieser Mann (trotzdem) darauf aus ist weiterzuleben, macht er sich ein Loch in seinen Kopf] (und) rasiert seine Wangen, einen Tag ! lang wird er sich quäle[n, aber dann wird er genesen], .«

Derartige Schlangen-Omina und Schutzrituale, die zur Abwehr des durch den Schlangenblick dräuenden Verhängnisses auf Analogiemagie beruhende Methoden nutzten, waren im mesopotamischen Raum weit verbreitet (Pientka-Hinz 2009: 212-213; Freedman 2006b). Schlangen hatten aber auch Anteil am Diskurs der Gerechtigkeit, und wurden manchmal angerufen, um Eidbrüchigen und Dokumentfrevlern mit ihrem Gift den strafenden Tod zu bringen (Wiggermann 1997c: 43; vgl. Kahler 2015: 66). Die explizite Verbindung von Schlangen mit Unheil und Tod blieb bis zum Ende der neubabylonischen Zeit und darüber hinaus bestehen. Dennoch hatten Schlangen wegen ihrer Verbindung zur Unterwelt auch einige positive Konnotationen und wurden, ebenso wie Skorpione, bereits seit der altsumerischen Zeit als Symbole chthonischer Fertilität angesehen (Pientka-Hinz 2009: 216). Das Sumerische kennt zwei Begriffe zur Bezeichnung von Schlangen: Einmal das Wort MUŠ, welches allgemein ›Schlange‹ bedeutet, und dem akkadischen ṣerru entspricht. Des Weiteren gibt es die Bezeichnung UŠUM, welche wohl aus akkadisch wašmu, einer dialektalen Variante des ›regulären‹ Wortes bašmu, entlehnt worden ist (Wiggermann 1992: 166). Beide Begriffspaare bezeichneten wohl ursprünglich reale, gehörnte Schlangen. Die beiden häufigsten Vipern des heutigen Irak, die Wüsten-Hornviper und die Sandviper, tragen Hörner. Diese Tiere sind bereits seit vielen Jahrtausenden in den Gegenden des Zweistromlandes heimisch (Pientka-Hinz 2009: 202-210; Habeeb und RastegerPuyani 2016; zur Ikonographie der Schlange vgl. auch Kahler 2015). Die große Mehrzahl sumerischer Bezeichnungen sowohl für reale Schlangen als auch für mythische Schlangenmonster und Drachenwesen sind Erweiterungen von entweder MUŠ oder UŠUM. Beispielsweise ist der Name des bekanntesten Drachen Mesopotamiens, des mušḫuššu, als eine Verbindung der Wörter MUŠ ›Schlange‹ und ḪUŠ ›wütend‹ zu analysieren. Der Begriff UŠUM / bašmu steht für eine mythologisch konnotierte Schlange oder Großschlange ohne Beine oder mit nur zwei kleinen Vordergliedern. Ein vom Wort UŠUM abgeleiteter mythologischer Begriff, UŠUM.GAL, akkadisch ušumgallu, bedeutet ›großes UŠUM-Wesen / große UŠUM-Schlange‹. Die Taxonomie dieser ušumgallū (so der akkadische Plural) war zwar nicht auf rein ophide Elemente eingeschränkt, diese gehörten aber meist mit dazu. In sumerischen Hymnen werden ušumgallū

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als auch mit Löwentatzen und Adlerklauen ausgestattet beschrieben. Eher als ihr Aussehen waren jedoch Giftigkeit, Entschlossenheit zum Töten und eine Aura der Furcht, die selbst die Götter ängstigen kann, die für die ušumgallū signifikanten verbindenden Eigenschaften. Sekundär wurde der Begriff ušumgallu daher auch als Epitheton für manche Götter oder Götterwaffen sowie v.a. assyrische Herrscher genutzt. Besonders UŠUM / bašmu und UŠUM.GAL / ušumgallu können als generische Bezeichnungen aufgefasst werden. Weit mehr als MUŠ / ṣerru wandelten sich die beiden letztgenannten Begriffe im Lauf der Zeiten, was schon früh semantische Überschneidungen und Mehrfachassoziationen nach sich zog. Beispielweise wurde akkadisch bašmu nicht nur mit sumerisch UŠUM, sondern immer wieder auch mit sumerisch MUŠ.ŠÀ.TÙR, ›Schlange der Gebärmutter bzw. Geburtsgöttin‹, gleichgesetzt. In der seit der altbabylonischen Zeit belegten lexikalischen Liste u5.ra = ḫubullu wird die bašmu-Schlange zudem mit sumerisch MUŠ.A.AB.BA, »die Meeresschlange [Hydra?]« in Verbindung gebracht (Wiggermann 1992: 166-168; Gane 2012: 197-204). Dieser kurze Vergleich zeigt Möglichkeiten einer Anwendung des Drachenbegriffes auf das antike Zweistromland. Generell sollte dabei aber eine kontextuelle Bewertung des bezeichneten Objektes mit einhergehen. So scheint es am tragfähigsten, die Allgemeinbezeichnung ›Drache‹ für das alte Mesopotamien vor allem in einem komparatistischen Sinne zu gebrauchen, und in reflektierter Weise auf Wesenheiten zu beschränken, die sich – vergleichbar zur griechischen Antike – durch eine hauptsächliche Schlangenhaftigkeit und/oder hervorstechende schlangenhafte Merkmale (darunter auch die Blickkraft) auszeichneten. Mesopotamische Eigendesignationen und die dahinterstehenden Konzepte (so sie uns denn fassbar sind) sind jedoch, wenn möglich, immer vorzuziehen.

ÄLTESTE DRACHENÄHNLICHE WESEN: SERPOPARDEN UND SIEBENKÖPFIGE SCHLANGEN Aus Mesopotamien liegen bereits vor der Erfindung der Schrift Bildzeugnisse vor, die bei der Genese von Drachenfiguren eine grundlegende Rolle spielten. Aus der sog. »protoliteraten Phase« und der anschließenden Frühdynastischen Zeit des Zweistromlandes (ab ca. 3300 v.u.Z.) stammen Darstellungen von kräftig gebauten Quadrupeden mit langen, umeinander gewundenen Hälsen und Felidenköpfen. In der Forschung werden diese Erscheinungen oft als ›Pantherdrachen‹ oder ›Löwendrachen‹ bezeichnet, jedoch kennen wir keine zeitgenössischen Begriffe. Unverfänglicher ist es, hier vorerst nur von Kompositgestalten bzw. Zwischenwesen, oder, so gewünscht, von ›Serpoparden‹ zu sprechen. Dies

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soll aber nicht in Abrede stellen, dass der gewundene Hals der Pantherwesen möglicherweise aus einer Übertragung von Schlangenmerkmalen auf eine andere Tiergattung entstanden ist, noch, dass diese Darstellungen gewissermaßen eine ausbaubare Blaupause für spätere, mehr im heutigen Sinne ›drachenähnliche‹ Wesen lieferten (Uehlinger 1995: 56-57; Wiggermann 1997b: 457).

Abbildung 1: Serpoparden auf einem Zylindersiegel aus Uruk (ca. 3000 v.u.Z.). Photo: Marie-Lan Ngyuen 2010; Bildlizenz: CC BY 3.0 (Änderungen: Monochrom). Andere bildliche Darstellungen aus der ›protoliteraten Phase‹ zeigen einen göttlichen Heros im Kampf mit einer an die klassische Hydra gemahnenden siebenköpfigen Schlange (MUŠ.SAG.INIM) oder einem siebenköpfigen Serpoparden (Frankfort 1935: 108 Abb. 4; Frankfort 1955: Abb. 478 und 497; Wiggermann 1997c: 52 Abb. 3.c; Uehlinger 1995: 59-61 und Abb.7-10). Dieses Narrativ hat einen Nachhall in der Mytho-Epik um den Gott Ninurta (vgl. Annus 2002). Die Episode vom Kampf des göttlichen Helden gegen die siebenköpfige Schlange wird in den Mytho-Epen lugal-e ud melam-bi nergal (»König, Sturm, dessen Strahlenglanz herrschaftlich ist«) und angimdimma (»Dem Himmel gleich ge-

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schaffen«) erwähnt, aber leider nicht weiter ausgeführt (Uehlinger 1995: 63-65). Dort heißt es lediglich: Lugal-e, 133-134 (Ms. U; zitiert nach van Dijk 1983: 68-69): »133 mušen-an-imzuxmušen muš sag-inim 134 dnin-urta kur-ra hé-mu-e-ni-ug5 133 Den Anzû-Vogel und die siebenköpfige Schlange, 134 Ninurta, du hast sie im Gebirge erschlagen! angimdimma, 33 (zitiert nach Cooper1978: 60-61): 33 [ušum ur-s]ag bàd gal kur-ra-ta n[am-t]a-an-è 33 Er (= Ninurta) holte den UŠUM, den Helden, aus seiner großen Festung im Gebirge heraus angimdimma, 55 und 62 (zitiert nach Cooper 1978: 64-65): 55 ušum ur-sag sag-dúr-ra-ka bí-in-lá [bašmu qar]rādu ina sa[ssi ilul] 55 Er hängte UŠUM/bašmu, den Helden, an die Plattform (seines Streitwagens), […] 62 mu[š s]ag-inim tum za-gìn-na-ka bí-in-lá [Akkadischer Text nicht erhalten] 62Die siebenköpfige Schlange hängte er an das glänzende *t u m* (seines Streitwagens).«

In Angimdimma 138 und 139 wird zudem Ninurtas siebenköpfiger Streitkolben als »siebenköpfige, siebenzähnige ›Großschlange‹ (MUŠ.MAḪ)« sowie als MUŠ.ḪUŠ.A.AB.BA, »mušḫuššu des Meeres« bezeichnet (Cooper 1978: 80-81; zur Heldendesignation der besiegten Gegner vgl. Black 1988).

DER MUŠḪUŠŠU-DRACHE IM 3. UND 2. JAHRTAUSEND V.U.Z. Wie bereits weiter oben erwähnt wurde das sumerische Wort MUŠ ›Schlange‹ eher alltäglich gebraucht. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von transzendenten Figuren, deren Namen sich direkt davon ableiten. Unter diesen ist auch ein sumerisch als MUŠ.ḪUŠ, akkadisch als mušḫuššu (›Wütende Schlange‹) bezeichnetes Wesen. Der mušḫuššu ist unter allen mesopotamischen Zwischenwesen

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dem, was wir heute als Drache bezeichnen würden, wohl am ähnlichsten. Etwas überspitzt formuliert (und mit der retrospektiven Brille auf der Nase) könnte man den mušḫuššu durchaus als den ›echten‹ draco mesopotamicus bezeichnen. Wohlbekannt ist seine Darstellung auf dem Ištartor aus dem Babylon Nebukadnezzars II., d.h. aus dem 6. Jhd. v.u.Z.

Abbildung 2: mušḫuššu auf dem Ištartor zur Regierungszeit Nebukadnezzars II. (605-562 v.u.Z.). Photo: Miguel Hermeso Costa 2004; Bildlizenz CC-BY-SA 4.0 (Änderungen: Monochrom). Diese ›klassische‹ Gestalt des mušḫuššu, das heißt langhalsig, geschuppt, mit Kopf und Zunge einer Schlange, Schwanz und Vorderpfoten eines Löwen, rückwärtigen Adlerklauen sowie den die Göttlichkeit anzeigenden Hörnern ist aber schon viel älter, und hatte sich bereits zum Ende der altakkadischen Zeit etabliert (ca. Ende des 23. Jhd.s v.u.Z.). Seit seinem ersten Auftreten auf altakkadischen Siegeln war die Erscheinung des mušḫuššu jedoch einigen Wandlungen unterworfen (Lambert 1984; Wiggermann 1997b; Gane 2012: 204-206; Watanabe 2015). Bereits die frühesten Darstellungen zeigen den mušḫuššu als Begleittier des Vegetations- und Unterweltsgottes Ninazu. Ursprünglich war der mušḫuššu wohl eine einem ›Todesengel‹ vergleichbare Monster-Entität. (Wiggermann 1989: 122; Gane 2012: 221). Ninazu, dessen Name ›Herr Heiler‹ bedeutet, war – je nach Tradition – ein Sohn der Ereškigal, Königin des Totenreichs, und des ›großen Herren‹ Gugal-ana bzw. ein Sohn des Enlil und der Ninlil (der beiden obersten Gottheiten des sumerischen Pantheons). Die bedeutendsten Zentren seiner

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Verehrung waren die Städte Enegi, und, etwas später dann, Ešnunna, wo ihm der Esikil genannte Haupttempel der Metropole geweiht war. Ninazu stand in Harmonie mit den Jahreszeiten. Im Frühling wurde er als ein Gott der Vegetation und des Ackerbaus (wieder-)geboren und hielt sich für die warme Jahreszeit auf Erden auf, im Herbst starb er und verbrachte den kälteren Teil des Jahres im KUR, dem sumerischen Totenreich.6 Hier fungierte er als erster Statthalter und Botschafter des ›Landes ohne Wiederkehr‹. Als chthonische Gottheit war Ninazu zugleich ein Schlangengott. In einer altbabylonischen Beschwörung trägt er unter anderem den Titel ›Herr der Schlangen‹. Sein Wesir war der Gott Ipaḫum, d.h. ›die Viper‹. Zu Ninazus Regalia zählte möglicherweise auch der Caduceus, der von Schlangen umwundene Stab. Der mušḫuššu als Ninazus Begleittier entspricht dessen allgemeiner Todes- und Schlangenaffinität. (Wiggermann 1989; Wiggermann 1997c: 35-37 und 39-42; Wiggermann 2000a; Stevens 2013). Auch Ninazus Sohn Ningišzida wurde mit dem mušḫuššu assoziiert (Stone 2016; Wiggermann 2000b: Vacín 2011). Auf den ältesten Siegelbildern aus der späten Uruk-Zeit und der Frühdynastischen Periode (zusammen ca. 3100-2334 v.u.Z.) ist der mušḫuššu noch eine Gestalt mit Felidenkopf (Boehmer 1965: Abb. 283, vgl. Wiggermann 1997b: 462 Abb.1). Wenig später wird er auf einem Siegel aus der altakkadischen Zeit (2334-ca. 2150 v.u.Z.) als ein vierbeiniges langhalsiges Wesen mit noch deutlich katzenartigem Aussehen dargestellt. (Wiggermann 1997c: 52 Abb. 3.a). Eine Plastik aus Ešnunna zeigt auf der Vorderseite den geschuppten Ninazu mit Gläubigen, auf der Rückseite den mušḫuššu als Wesen mit einem geschuppten Körper und langgestrecktem Hals (Frankfort 1943: Plate 70, Abb. 331). Von den Raubkatzenelementen blieben aber schließlich nur die Vorderpfoten und der Schwanz übrig, der Felidenkopf wurde durch einen Schlangenkopf ersetzt. Ein solcher, nun auch Hörner tragender mušḫuššu ist auf dem altakkadischen Siegel eines gewissen Bēlī-BALs abgebildet (Boehmer 1965: Abb. 570; Wiggermann 1997a: 233; Wiggermann 1997c: 51 Abb 2.c). Etwa 200 Jahre später wurde der zu Ninazus Sohn Ningišzida gehörige mušḫuššu auch geflügelt dargestellt. Diese Variante blieb aber auf die Regierungsperiode des Gudea von Lagaš (2122-2102 v.u.Z.) beschränkt (van Buren 1934: 72 mit Fig. 1; Wiggermann 1997a: 239; Suter 2013: 319; zu Gudea siehe Suter 2000: 15-28).

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Die sumerische Vorstellung vom Totenreich (KUR) projizierte den Ort des Nachlebens fern in die östlichen Berge. Das Bild einer unterirdischen Domäne des Todes ist in der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends primär in akkadischen Texten zu finden, vgl. Geller 1999; Katz 2003, 63-77 und 102-112; Katz 2014a; Katz 2014b.

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Im Verlauf der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends v.u.Z. wurden die akkadischen Einflüsse im Zweistromland immer stärker. Dies führte dazu, dass an vielen Orten neue Gottheiten die alteingesessenen ablösten und ihre Plätze einnahmen. So etwas geschah auch in Ešnunna, eigentlich ja eine Stadt des Gottes Ninazu, welcher hier aber seinen Status an den akkadischen Gott Tišpak (›der Ausschütter [von Wolken]‹) verlor. Ninazus altes Begleittier, der mušḫuššu, wurde während dieses Prozesses von seinem bisherigen Herrn gelöst und stattdessen dem Tišpak beigestellt (Ornan 2005: 48-49; vgl. Pongratz-Leisten 2015: 235 Abb. 36). Da Tišpak selbst aber kein Totenweltgott war, wurde der mušḫuššu beim Übertragungsprozess seinem ursprünglichen locus teilweise enthoben. Ninazu, dessen Kult in der Folge zwar nie ganz schwand, aber bei weitem nicht mehr so bedeutsam war, wurde nun nicht mehr mit dem mušḫuššu, sondern mit UŠUM- / bašmu-Schlangenwesen verbunden (Wiggermann 1989; Wiggermann 2000a: 333; zur Ikonographie siehe Braun-Holzinger 2003: 156-159). Ein hochinteressantes, ursprünglich wohl auch aus Ešnunna selbst stammendes, aber nur aus späteren Zeitstufen überliefertes akkadisches literarisches Werk, der sogenannte labbu-Text (CT 13, 33-34), spiegelt diesen Vorgang ins Mythologische übertragen wieder.7 Das Mytho-Epos berichtet vom Kampf des Gottes Tišpak gegen einen zerstörerischen mušḫuššu: Die menschliche Zivilisation ist durch einen vom Gott Enlil entworfenen und von der See (i.e. Tiamat) erschaffenen mušḫuššu zerstört worden (vgl. leicht anders Pongratz-Leisten 2015: 234-235). Die Ausmaße dieses mušḫuššu sind mit 50 Meilen Länge, einer Meile Höhe, einem Mund von sechs Ellen, und Ohren sowie einem weiteren Körperteil von jeweils 12 Ellen Länge bzw. Umfang wahrhaft gigantisch. 8 Tišpak wird von den anderen Göttern beauftragt, gegen den mušḫuššu zu kämpfen, und nach dem Sieg wieder die Königsherrschaft über das Land einzurichten. Tišpak überwindet den mušḫuššu schließlich mit einem Sturmwind, einem Pfeil und wohl auch seinem als Waffe gebrauchten Siegel. Im Anschluss übernimmt er den unterlegenen Gegner als seinen eigenen Diener (Rekonstruktion des Mytho-Epos folgt Wiggermann 1989: 117-120; vgl. auch Wiggermann 1997c: 3739; Lambert 2013: 235-236; Gane 2012: 221-222; Lewis 1996; Foster 32005:

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Das Wort labbu, welches auch ›Löwe‹ bedeutet, ist hier mit Wiggermann 1989: 118 als epithetische Adjektivbildung labbu ›wütend‹ zu labābu ›wüten; wütend sein‹ aufzufassen.

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In KAR 6, einer neuassyrischen Interpretation desselben Plots, kämpft der Gott Nergal gegen eine 60 Meilen lange, im Meer geschaffene bašmu-Schlange (Foster 32005: 579-581).

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581-582). Solch ein Vorgang ist in der Literatur des alten Mesopotamien öfters belegt: So wird etwa Ninurta in lugal-e nach seinem Sieg über den bösen Azag auch Herr über dessen Steinarmee. Ebenso wird der in einem anderen MythoEpos besiegte Anzû-Vogel nach seiner Niederlage zum Dienerwesen Ninurtas. Und in angimdimma schmückt Ninurta seinen Streitwagen mit den Abbildern seiner besiegten Feinde (Black 1988; Annus 2002: 109-121). Setzt man den labbu-Text mit Tišpaks historischem Aufstieg sowie dessen Ikonographie in Perspektive, kann man den mušḫuššu als ein vergleichbares Symbol der – mitunter gewalttätigen – Aneignung des ›Anderen‹ sehen. Bis in die altbabylonische Zeit hinein blieb Ešnunna ein starkes regionales Machtzentrum. Als Ḫammurapi von Babylon etwa 1760 v.u.Z. Ešnunna seinem Reich einverleibte, wurde der mušḫuššu auf Marduk, den Stadtgott der Siegermacht, übertragen (für einen historischen Überblick bis zum Ende der altbabylonischen Zeit siehe Charpin 2004; vgl. Pongratz-Leisten 2015: 116-132; Gane 2012: 222). Tišpak selbst wurde danach ohne Schlangenbegleiter dargestellt, oder, wie zuvor schon Ninazu, mit anderen Schlangenwesen, (v.a. der bašmuSchlange) assoziiert (Wiggermann 1989: 121-122; Wiggermann 2000a: 333). Wieder kristallisiert sich die machtvolle Übernahme des Anderen symbolisch in derselben Drachenfigur. Während der alt- und mittelbabylonischen Zeit gibt es literarisch gesehen jedoch wenig Aufregung um den mušḫuššu. Das älteste Textzeugnis für Marduk mit dem mušḫuššu ist die Inschrift des Agum-Kakrime, die auf etwa 200-250 Jahre nach der Eroberung Ešnunnas durch Ḫammurapi zu datieren ist. In diesem Text wird der mušḫuššu als ›Reittier‹ von Marduks »großer Göttlichkeit« bezeichnet (Kolumne iii, Zeilen 13-15, siehe Oshima 2012: 225-252). Bildliche Darstellungen des mušḫuššu sind in der mittelbabylonischen Periode erst zur Regierungszeit des babylonischen Königs Meli-Šipak (1186-1171 v.u.Z.) nachweisbar (Ornan 2005: 24; Seidl 1989: 77-80), der älteste Beleg hierfür ist ein sogenannter kudurru (ein Grenzsteindokument). Aus dem ersten Jahrtausend v.u.Z. sind dann deutlich mehr mušḫuššu-Darstellungen bekannt. Diese zeigen ihn entweder mit Marduk oder Nabû, oder als Schutzfigur vor einem stilisierten Tempel mit deren jeweiligem Göttersymbol (siehe Slanski 2003/2004), oftmals auf den schon erwähnten kuddurū, aber auch auf Siegeln oder als Ritzzeichnungen auf zum Aufhängen gedachten »Tafeln mit (durchbohrter) Hantel« (früher: Amuletttafeln, vgl. dazu Panayotov und Llop-Raduà 2013; Wiggermann 2011: 313-314). Auf dem sogenanntem ›Göttersiegel‹ des Marduk, einem großen Lapislazuli-Rollsiegel, das vermutlich von der Statue des Gottes im Esangila um den Hals getragen wurde, kauert der mušḫuššu zu Füßen seines göttlichen Herren (Potts 2012: 44). Auch Marduks Sohn Nabû wurde mit dem mušḫuššu asso-

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ziiert. Nabûs mušḫuššu hatte einen Löwenschwanz, während der mušḫuššu seines Vaters Marduk manchmal auch mit einem Federnschwanz dargestellt wurde (Lambert 1985; Wiggermann 1997b: 459; Lambert 2013: 235).

Abbildung 3: Bild auf dem ›Göttersiegel‹ des Marduk. Zeichnung von Stephen H. Langdon (Langdon ²1964: 301; Urheberrechte 2007 verfallen).

DER MUŠḪUŠŠU-DRACHE IM 1. JAHRTAUSEND V.U.Z. Im Verlauf der Zeit scheint die historische Herkunft des mušḫuššu in Vergessenheit geraten zu sein – oder war nicht mehr zeitgemäß. Etwa um den Beginn des ersten Jahrtausends v.u.Z. wurde mit der Abfassung des enūma eliš (»Als oben…«, kurz: ee; Lambert 2013), dem babylonischen Mytho-Epos von Marduks Kampf mit Tiamat, eine neue Aitiologie für die Verbindung von Babylons höchstem Gott mit dem mušḫuššu geschaffen. Letzterer ist nun neben einer Vielzahl von Monstern, darunter auch die bašmu-Schlange, Teil der Armee Tiamats, gegen die Marduk im Auftrag der anderen großen Götter und mit dem Versprechen der obersten göttlichen Königswürde zu Felde zieht. Tiamat selbst wird aber an keiner Stelle des Mytho-Epos als ein ›Drache‹ oder mit schlangenhaften Zügen dargestellt (Lambert 2013: 224-232 und 236-240; Gane 2012: 202-203; Wiggermann 1997a: 238-239). Im Text heißt es (zitiert nach Lambert 2013: 8081):

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»ee III, 89ušziz bašmu mušḫuššu u dlaḫāmī […] ee III, 89 Sie (= Tiamat) bot auf die bašmu-Schlange, den mušḫuššu, und die ›Haarigen‹ […]«

Wie einstmals Ninurta in lugal-e und angimdimma und Tišpak im labbu-Text übernimmt Marduk im ee die besiegten Feindesmonster später als seine Diener. Mehr ins Detail wird dabei aber nicht gegangen. Im 7. Jahrhundert v.u.Z. kann man dann noch einmal eine Übertragung des mušḫuššu auf eine andere Gottheit feststellen. Die Babylonier hatten 694 v.u.Z. gegen die assyrische Oberherrschaft rebelliert und Aššur-nādin-šumi, den in der Stadt als König eingesetzten Sohn Sanheribs, ans Feindesland Elam ausgeliefert, wo dieser ermordet wurde. Fünf Jahre später wurde Babylon von Sanherib in einem Vergeltungsfeldzug erobert und geschleift (vgl. Pongratz-Leisten 2015: 306-321). Ähnlich wie früher wurde dabei der mušḫuššu auf den Gott der Sieger übertragen, d.h. nun auf den obersten assyrischen Gott Assur. Einige Bildzeugnisse aus der Zeit von Sanheribs Sohn Assarhaddon wie etwa die Cinçirli-Stele zeigen den Gott Assur an Marduks Stelle auf dem mušḫuššu stehend. Assarhaddon ließ im Zuge seiner assyrisch-babylonischen Aussöhnungspolitik beim Wiederaufbau des Esangila-Tempels in Babylon aber auch eine für dort bestimmte, neue mušḫuššu-Darstellung anfertigen. Die Verbindung von Assur mit dem mušḫuššu war nur von kurzer Dauer, denn nachdem Assyrien durch die vereinten Kräfte von Medern und Babyloniern in den Jahren 614-609 v.u.Z. zu Fall gebracht worden war, waren Marduk und sein Sohn Nabû wieder dessen alleinige Herren (Wiggermann 1997b: 459-460; Gane 2012: 222-223; zu Babylon in neuassyrischer Zeit siehe Frame 22007: 52-101 und 245-255). Mit der Entstehung des neubabylonischen Reiches unter Nabûpolassar (621605 v.u.Z.) und seinem Sohn Nebukadnezzar II. (605- ca. 562 v.u.Z.) kam der babylonische Hauptgott Marduk, und mit ihm sein Begleittier mušḫuššu, erneut zu großer Prominenz (zur neubabylonischen Ikonographie vgl. Gane 2012: 206214). An den Stadttoren Babylons waren apotropäische mušḫuššu-Bilder und -Statuen installiert, und das Ištartor zeigt den mušḫuššu als Schutzgestalt am Eingang zum heiligen Bereich des Esangila, dem Tempel des Marduk. Nebukadnezzar II. berichtet davon, auch das Innere seines Palastes wie das Ištar-Tor gestaltet zu haben (VAB 4:132 vi, 4-7): »Mit lapislazuliblauen Ziegeln, auf denen Stiere und mušḫuššu abgebildet waren, habe ich (den Palast) kunstvoll ausgeschmückt.«

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Eine andere Inschrift desselben Königs vermerkt mit gleichen Worten, dass ein neugebautes Tor an einem Gewässer (nicht das Ištar-Tor) auf die gleiche Weise geschmückt wurde (VAB 4:132 v, 64). Auch Nebukadnezzars Sohn Neriglissar (560-556 v.u.Z.) ließ laut seinen eigenen Inschriften ebenfalls mušḫuššuStandbilder als Torhüter anfertigen (VAB 4: 210, i 26-27), darunter »sieben bronzene, wütende mušḫuššū, die den Feind mit Todesgift anspeien.« (Watanabe 2015: 215-217 und 221-223; Gane 2012: 214-220).

SCHÜTZENDER SCHRECKEN: DER MUŠḪUŠŠU ALS TODESSYMBOL UND ALS APOTROPAIKON Der mušḫuššu hat niemals seinen bedrohlichen und todesverbundenen Charakter verloren. Auf einer neuassyrischen Amulett-Tafel aus dem sechsten Jahrhundert v.u.Z. bricht ein mušḫuššu als Verkörperung des verhängnisvollen Übels unter dem Bett eines Schlafenden hervor, wird aber von löwenköpfigen »großen Sturmdämonen« bekämpft. (Wiggermann 2011: 313-314; vgl. abweichende Identifikation als bašmu in Gane 2012, 200, die hier noch Wiggermann 2007: 106 mit Abb. 2 folgt). Und in einem hochinteressanten neuassyrischen Text, der sogenannten »Unterweltsvision eines assyrischen Prinzen« (UWV) wird das Aussehen des Todes wie folgt geschildert (zitiert nach Livingstone 1989, 71): UWV, r. 3 »r.3 […] dmu-ú-t[u] SAG.DU MUŠ.ḪUŠ ša-ki-in ŠUII-šu LÚ GÌRII-šu […] […] dmūt[u] rēš mušḫušši šakin qatā-šu amēli šepā-šu […] r.3

[…] Der Tod hatte den Kopf eines mušḫuššu, seine Hände waren die eines Men-

schen, seine Füße […]«

Trotz, oder gerade wegen seiner fürchterlichen Konnotationen hatte der mušḫuššu aber auch apotropäische Funktionen inne, die sich bereits ab der Zeit des Gudea von Lagaš (ca. 2122-2102 v.u.Z.) nachweisen lassen. Gudea berichtet, dass der mušḫuššu zusammen mit dem Stier des Wettergottes und der Löwin der Inanna/Ištar als Schutztier am Eingang des Tempels Eninnu angebracht war, entweder in Form einer Statue oder als Fassadenrelief (Gudea Zylinder A = RIME 3/1.1.7, Kolumne xxvi, 22-25). Diese Tradition lässt sich durch die Zeiten hindurch nachverfolgen: Für die altbabylonische Zeit wissen wir von mušḫuššuStatuen oder -Reliefs am Eingang des Ištarān-Tempels in Der, und am »furchteinflößenden Tor« in Ešnunna (vgl. hierzu auch Frayne 1982). Die mušḫuššuDarstellungen, die sich seit der altbabylonischen Zeit auf einfachen Tonplaketten

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oder ähnlichen Bildträgern finden, haben wohl eine ähnliche Funktion in privaten Haushalten erfüllt. Auf einem mittelbabylonischen Räucherständer bewachen mit Spaten bewaffnete mušḫuššu einen Tempel. Später, in der neuassyrischen Zeit (911-609 v.u.Z.), waren mušḫuššu-Reliefs am Westeingang des Nordpalastes von Niniveh angebracht (Absatz folgt Wiggermann 1997b: 460 und Watanabe 2015: 219-221). Apotropäische mušḫuššuStatuetten aus Kupfer wurden in dieser Periode auch in die Levante und weiter ins westliche Mittelmeer exportiert, wie einige auf Samos gemachte Funde zeigen (Curtis 1994). Ebenfalls aus dem ersten Jahrtausend stammen Ritualtexte, die zur Abwehr von drohenden Gefahren die strategische Platzierung von Schutzstatuetten des mušḫuššu, der bašmu-Schlange und anderer Wesenheiten in einem Gebäude beschreiben (vgl. Nakamura 2004 und Wiggermann 1992). Das Aufstellen übelabweisender Standbilder wurde auch mythologisch reflektiert: Im enūma eliš ist es der siegreiche Gott Marduk, der Statuen seiner unterworfenen Gegner, darunter der mušḫuššu, am Eingang zur Unterwelt des Apsu als Wächter positionierte (ee V, 73-76, vgl. Lambert 2013: 100-103).

ZUM ABSCHLUSS: EIN DRACHENKAMPF IM MOND? Nach dem Ende der neubabylonischen Zeit werden die Textbelege für den mušḫuššu zunehmend seltener. Die jüngsten Informationen finden sich auf der sogenannten »spätbabylonischen mappa mundi«.9 Auf der Tafelvorderseite vermerkt der oberhalb der Zeichnung der ›Weltkarte‹ eingeschriebene Text in Z. 3‘5‘, dass Marduk nach seinem Sieg über Tiamat (s.o.) seine unterworfenen Gegner, darunter bašmu und mušḫuššu, in die »Mitte der See« gesetzt habe (Horowitz 1998: 22-23 und 33-36, vgl. Wiggermann 1992: 456). Bemerkenswert ist auch noch eine seleukidenzeitliche Tafel, die eine Zeichnung des babylonischen »Mannes im Mond« zeigt (VAT 7851). Der Mond wird von einer göttlichen Heldenfigur ausgefüllt, die eine den Mondrand bildende Monstergestalt bekämpft. Paul-Alain Beaulieu versteht die Darstellung als eine späte Transformation der traditionellen Geschichte vom Kampf eines Götterhelden gegen mušḫuššu oder andere Schlangenmonster, und interpretiert die gegnerische Figur als eine Konflagration mehrerer Chaos symbolisierender Entitäten. Er verweist in diesem Zuge darauf, dass dem Mond in der mesopotamischen Sternkunde des

9

Die jung- oder spätbabylonische Periode bezeichnet die Zeit der achaimenidischen Herrschaft über Mesopotamien (539-330 v.u.Z.).

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ersten Jahrtausends sehr ähnliche Ausmaße wie dem mušḫuššu im labbu-Text zugeschrieben werden: Der Mond hat einen Umfang von 60 Meilen, während die Länge des mušḫuššu 50 Meilen beträgt. Eine neuassyrische Fassung des labbuPlots lässt dann den Gott Nergal gegen eine im Meer geschaffene bašmuSchlange kämpfen (KAR 6), diese ist hier nun 60 Meilen lang. Andere astronomische Texte des späten ersten Jahrtausends berichten des Weiteren davon, dass das Innere der Sonne von Marduk und der bašmu-Schlange ausgefüllt werden, während sich im Mond Marduks Sohn Nabû und die Mutter der bašmuSchlange, Tiamat, feindlich gegenüberstehen. Die Schlangenfigur auf VAT 7851 mag symbolhaft für Tiamat stehen, ist selbst aber mit Beaulieu primär als eine Verquickung von bašmu und mušḫuššu zu einem (neuen) Sinnbild chaotischer Mächte anzusehen. Da die Tafel sonst aber keinerlei textliche Informationen zur Darstellung des kosmischen Kampfes liefert, bleibt diese attraktive Interpretation vorerst leider nur eine gelehrte Vermutung (Beaulieu 1999). Unter allen mesopotamischen Schlangenmonstern entspricht der mušḫuššu am ehesten unserer heutigen Vorstellung eines Drachens. Während UŠUM/bašmu- und UŠUM.GAL-/ušumgallu-Wesen zwar Kriterien eines Drachens erfüllen, ist es doch vor allem der mušḫuššu, der uns auch heute noch unmittelbar als ein solcher anspricht. Mehr als zwei Jahrtausende lang war der mušḫuššu den Bewohnern Mesopotamiens ein Symbol für Schutz und Gefahr zugleich, ein Todesdrache, dessen Furchtbarkeit Verderben bringen oder eben auch abwehren konnte. Seine wechselhafte Geschichte zeigt seine hohe Bedeutung für die antike Lebenswelt des Zweistromlandes, und unterstreicht seinen simultanen Charakter als störende Bedrohung und ordnendes Apotropaikon.

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Heilige Drachentöter Ursprung und Umdeutung des Drachenkampfmythos im christlichen Kontext Norina Auburger

DIE ANFÄNGE DES DRACHENKAMPFMYTHOS Der Drache an sich gilt schon in frühsten Texten als das personifizierte Chaos und Sinnbild des Bösen (McConnell 1999: 172). Durch seine Beschaffenheit – vor allem durch seine fast vollständige Unverwundbarkeit und seine Stärke – ist überhaupt nur ein wirklich mächtiger Held in der Lage, ihn zu bezwingen. »Der Sieg über einen Drachen stellt in besonderer Weise die Exemplarität des Helden unter Beweis, er ist eine exemplarische heroische Tat schlechthin« (Hammer 2010: 143). Neben den ›profanen‹ Helden der mittelalterlichen höfischen Literatur stehen die christlichen Heiligen als Helden der Hagiographie. In den Heiligenlegenden bekommt das Motiv des Drachenkampfes aber eine ganz andere Motivation als in den Heldenepen oder dem höfischen Roman: Der Drache steht nicht immer – aber sehr oft – für den Teufel selbst. Die Assoziation mit dem alles überlagernden Übel findet nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, zuerst in der Bibel statt, sondern bereits tausende Jahre zuvor. In den mesopotamischen Religionen ist das Schema des heiligen Streites ein essenzieller Teil mythischer Erzählungen (Steffen 1984: 36ff.). In einem der ältesten Schriftzeugnisse, dem Enuma elish, kämpft die Urmutter Tiamat, die das lebensfeindliche Prinzip des Salzwassers verkörpert, gegen Marduk, den Letztgeborenen der Götter. Die elf von Tiamat geschaffenen Ungeheuer, darunter Drachen und auch Drachenschlangen, werden nach der Unterwerfung Tiamats und der Erschaffung der Welt (Steffen 1984: 75) ihrer Monstrosität beraubt und

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in der neuen Weltordnung des Gottes Marduk geradezu domestiziert (Steffen 1984: 38ff.).1 Mit den abendländischen Glaubens- und Traditionsvorstellungen dringt dieses Kampfmotiv auch in die europäische Kultur ein. Die Bibel greift dieses auf und wandelt es nach ihren Maßstäben um. Dabei muss auch auf die Unterschiede zwischen dem Neuen Testament und dem Alten Testament geachtet werden, denn dem Drachen oder dessen Gestalt wird innerhalb der Bibel (Dan 14, 23-27, Offb 12, 3-9) und später in den Heiligenlegenden zunehmend mehr Macht zugeschrieben. Vor allem durch die rund 60 Überlieferungen von christlichen Heiligen (eine Auflistung findet sich bei Obermaier 2007: 58), die einen Drachen bezwingen, kristallisiert sich zunehmend die Vorstellung heraus, dass der Drache nicht nur etwas beliebig Böses ist, sondern eine Verkörperung des Teufels selbst (Rebschloe 2014: 72).

DER DRACHE ALS TEUFEL Der Teufel hat in der christlichen Mythologie viele Formen. Er erscheint als Verführer in der Gestalt eines wunderschönen Jünglings oder als nach Schwefel stinkendes Mischwesen mit Bocksbeinen und Hörnern (Rebschloe 2014: 58). Doch findet sich auch eine andere Form, die vor allem in der Ikonographie des Mittelalters häufig zum Tragen kommt: die des Drachens. Die Assoziation eines Teufels in Drachengestalt ist vor allem der Darstellung des Satans in der Offenbarung des Johannes geschuldet. »Die Vorstellung von Drachen als Widersacher des (göttlichen) Lebens ist religionsgeschichtlich weit verbreitet und auch Offb 12 bereits mit der Tradition vorgegeben (vgl. auch Jes 27,1)« (Holtz 2008: 93). In monotheistischen Religionen entsteht die Gestalt des Teufels durch eine Teilung der Weltordnung in ein unvereinbares Gegeneinander von Gut und Böse. Im Zoroastrismus zeigt sich eine klare Veränderung von einem Gott, der Gutes und Böses in sich vereint, zu einem ausschließlich guten Gott und einem ungeheuer bösen Gegenspieler. Der Drache wird Werkzeug dieses Widersachers und »der Kampf gegen den Drachen wird zum Kampf gegen das radikale Böse« (Steffen 1984: 65). Der Sieg bedeutet »die endgültige Erlösung der Menschheit und die Wiederherstellung des glücklichen Zustandes der Welt« (Steffen 1984: 66). Auch im jüdischen und christlichen Glauben scheint sich ein solcher Mächtedualismus gebildet zu haben. Dennoch steht »eine dualistische Erklärung, wonach alles Gute auf ein positives Prinzip, d.h. auf Gott, alles Böse aber auf ein

1

Vgl. der Artikel von Johannes Bach in diesem Kapitel.

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negatives Wesen zurückzuführen sei, […] im Widerspruch zum Anspruch Jahwes, die alleinige Ursache alles Geschaffenen zu sein« (Grübel 1991: 36). Selbst wenn es oft einen anderen Anschein hat, so ist der Teufel zwar Gegenspieler Gottes, doch auch sein Geschöpf. In der Tora, dem ersten Teil des Tanach, heisst es, Jahwe ist der eine Gott, der alles aus dem Nichts erschaffen hat. Es gibt folglich keine Theogonie. Doch »[...] schon der Schöpfungsbericht der Priesterschrift (1. Mose 1,1-2.4a) macht deutlich: 1. Der altorientalische Mythos vom Kampf mit dem Chaosdrachen ist bekannt. 2. Er ist vom monotheistischen Gottesglauben, der keinen Raum für ein zweites Prinzip läßt, entscheidend umgeformt worden.« (Steffen 1984: 75)

Der Sündenfall ersetzt das Drama der Erschaffung des Menschen aus einem Verräter, so wie es im Enuma elish beschrieben ist. Die Schlange im Paradies verführt den Menschen dazu, an Gott zu zweifeln (Grübel 1991: 128) und sorgt somit für den Glauben an das Böse. Dennoch ist auch das Böse in Form der Schlange allein von Gott geschaffen (Steffen 1984: 76). Die Schlange an sich ist jedoch in den orientalischen Religionen durchaus ein positiv besetztes Tier (Rebschloe 2014: 32). Selbst in der Bibel wird ihre Klugheit hervorgehoben (Gen 3, 1). Doch gerade durch ihre positive Bedeutung bei Völkern und Religionen der nichtjüdischen Kulturkreise der Region hat sie bei den Israeliten eine umso negativere Deutung bekommen (Pohl 1989: 105f.). »Oft mit dem Schlangenbild verbunden, ist der Drache in seiner negativen Gestalt der ewige Gegner und Versucher des Menschen und die Inkarnation des Bösen in der Welt, des Teufels Geselle« (McConnell 1999: 174). Die erste Erwähnung eines richtigen Drachen in der Bibel findet sich im Alten Testament im Buch Daniel: »₂ ₃ Es gab auch einen großen Drachen, den die Babylonier verehrten. ₂ ₄ Der König sagte zu Daniel: Von diesem Drachen kannst du nicht sagen, er sei kein lebender Gott. Also falle vor ihm nieder! ₂ ₅ Daniel erwiderte: Vor dem Herrn, meinem Gott, falle ich nieder, denn dieser ist ein lebender Gott. ₂ ₆ Du aber, König, gib mir die Erlaubnis, den Drachen zu töten, ohne Schwert und Keule! Der König sagte: Ich gebe sie dir. ₂ ₇ Da nahm Daniel Pech, Talg und Haare, schmolz alles zusammen, formte Kuchen daraus und warf sie dem Drachen ins Maul. Der Drache fraß sie und zerbarst. Da sagte Daniel: Seht, was ihr für Götter verehrt!« (Dan 14, 23-27)

Hier steht der Drache, stellvertretend für alle Drachen, als reales Wesen im Plural (Rebschloe 2014: 62). Das bedeutet, dass dieser Drache nicht die Verkörperung des Teufels darstellen kann. Er ist lediglich eines der zahlreichen von heid-

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nischen Göttern geschicktes Ungeheuer, dass die Menschen bedroht. Diese ›gewaltlose‹ Variante des Bezwingens eines Monsters findet sich vor allem in den Heiligenlegenden des Mittelalters wieder. Das, was den Drachen in dieser Geschichte besiegt, ist Daniels virtus, sein ungebrochener Gottesglaube. Doch das wohl bekannteste Szenario eines Drachenkampfes befindet sich im Neuen Testament in der Offenbarung des Johannes. Diese Textstelle steht sowohl in der jüdischen Apokalyptik als auch in der christlichen Tradition (Steffen 1984: 67f.). »Hinter dem Bild vom Sturz des Drachen aus dem Himmel steht der jüdische Mythos vom Engelsturz vor der Erschaffung der materiellen Welt« (Steffen 1984: 99). Die Stellung am Ende der Bibel spricht diesem Kampf eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie stellt heraus, dass die zentrale Schöpfungstat Gottes darin besteht, dass der Teufel, in Gestalt eines Chaosdrachens, bezwungen und nach dem tausendjährigen Reich endgültig von seinen Boten in den Abgrund geschlagen wird. »₃ Ein anderes Zeichen erschien am Himmel, und siehe, ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und mit sieben Diademen auf seinen Köpfen. ₄ Sein Schwanz fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde herab.« (Offb 12, 3-4).

Das Bild des siebenköpfigen Drachens stellt eine Parallele zu der Beschreibung des babylonischen Chaosdrachens dar (Steffen 1984: 98). Seine zehn Hörner sind ein Zeichen für totalitäre, politische Macht. Diese visualisiert sich ebenfalls in der Zornesröte des Drachen (Pohl 1989: 99f.). Indem er den dritten Teil der Sterne auf die Erde wirft, zeigt er seinen Unmut, denn »er schlägt die von Gott gestiftete Ordnung und will lichtloses Chaos« (Pohl 1989: 96). Sein Ziel ist es, das ›Kind der Gebärenden‹ zu verschlingen. Die Bedrohung eines Helden nach der Geburt stellt seine Außergewöhnlichkeit deutlich heraus und ist ein Motiv aus dem Altertum (Steffen 1984: 98). Auch wenn das Kind keinen Namen hat, ist die Vermutung, dass es sich bei ihm um Jesus Christus handelt, nicht von der Hand zu weisen. Die Gebärende ist aber nicht etwa Maria, denn »in der Gestalt der Frau ist die Gemeinde des Alten Bundes mit der Gemeinde Christi, der ›christlichen‹, zusammengeschlossen« (Holtz 2008: 92, vgl. ebenso Pohl 1989: 101). Indem das Kind in den Himmel entrückt wird, ist es für den Drachen unerreichbar, womit sich der Groll des Untiers auf die Gebärende richtet. Der sintflutartige Wasserschwall, der sie vernichten soll, gibt dem Drachen einerseits die Funktion des Chaosstifters, andererseits verweist er auf die Verbindung, die der Gestalt des Drachens und dem Wasser innewohnt (Steffen 1984: 101, ebenso Rebschloe 2014: 70). Man erkennt die Schnittstelle zur älteren mesopotamischen

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Mythologie wieder, in der es Tiamat, das Salzwasser, ist, die die Drachen und Drachenschlangen erschafft. Auch später in der nordischen Mythologie, vor allem in Bezug auf die Midgardschlange, taucht dieses Motiv wieder auf (McConnell 1999: 174, ebenso Steffen 1984: 68f.). Diese Herleitung begründet ebenfalls den Umstand, dass der Leviathan (Jes 27,1) als Teufelsgestalt wahrgenommen wird (Steffen 1984: 138). Hält man sich an die älteren Überlieferungen, so ist ein Drache einer Seeschlange ähnlicher als dem feuerspeienden, fliegenden Monster der modernen Vorstellung (Pohl 1989: 104). Um die Gebärende zu schützen, kämpfen der Erzengel Michael und seine Engel mit dem Drachen und dessen Engeln: »₇ Da entbrannte im Himmel ein Kampf: Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, ₈ aber sie hielten nicht stand und sie verloren ihrem Platz im Himmel. ₉ Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen.« (Offb 12, 7-9).

Der Drache wird in der Offenbarung klar als Teufel oder Satan benannt, anders als zuvor in Gen 3,1-24. Die Gleichsetzung der Paradiesschlange mit dem späteren Teufel – und mit der Offenbarung des Johannes auch dem Drachen – geht aus dieser Betrachtungsweise hervor (Rebschloe 2014: 70). Dennoch ist der Teufel hier nicht etwa der Gegner Gottes, sondern der seiner Engel. Er stellt hier keinen Gegengott dar, sowie es oft gesehen wird. Der Mächtedualismus von gutem Gott gegen bösen Gott bleibt aus (Pohl 1989: 104). Das Kämpfen und Besiegen des Ungeheuers, sei es in Schlangen-, Drachen- oder einer Mischgestalt, wird zum Kampf der Boten Gottes (Grübel 1991: 43) gegen die gottesfeindliche Macht des Teufels. Erst Cassiodorus stilisiert im 6. Jh. nach Chr. »die Auseinandersetzung zu einem Kampf zwischen Gut und Böse« (Wunderlich 1996: 512). Das Bild des Teufels als Gottesgegner wird dennoch durch die Bedeutung, die die Offenbarung in der Bibel hat, auf die vorigen Stellen, vor allem die Verbannung des Menschen aus dem Paradies, übertragen. Die Verbindung des Drachens aus der Offenbarung mit der Paradiesschlange bleibt jedoch nicht die einzige Übertragung, die zu späterer Zeit passiert. In der christlichen Tradition der alten Kirche wird der Erzengel Michael als Verteidiger des Gottesvolkes an die Stelle von Jesus Christus gesetzt (Pohl 1989: 111, ebenso Steffen 1984: 109). Da Jesus in den Himmel entrückt ist, muss jemand anderes den Kampf gegen das Böse aufnehmen. Doch auch wenn er ›nur‹ von den Boten Gottes aus dem Himmel geworfen wird, stellt sich der Drache mit der Erschaffung von Götzen vor seiner endgültigen Niederlage gegen die Ordnung Gottes. Indem er dem von ihm ge-

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schaffenen Tier aus dem Meer seine Macht übergibt, erreicht er eine gottgleiche Anbetung durch die Menschen (Offb 13, 1-4). Auch hier ist der Bezug des Drachens zum Wasser zu erkennen. Er schafft aus dem Meer etwas Böses, dass sich gegen Gottes Ordnung stellt, eine Inkarnation seiner selbst. Die Anti-Trinität wird durch das aus der Erde aufgestiegene zweite Tier, das wie ein Drache redet, komplettiert (Steffen 1984: 102f.). Es übt die Macht des Drachen aus, indem es ein Zeichen, die Teufelszahl 666, prägt und Götzenbilder, die das Böse vergegenwärtigen, erbauen lässt. Diesen verfallen die Menschen aus Angst und niederen Beweggründen (Offb 13, 11-18). Der göttliche Zorn, in Form seiner Engel, richtet die beiden Vasallen des Teufels und wirft diese in einen See aus brennendem Schwefel (Offb 19, 20). Der apokalyptische Kampf selbst ist in zwei verschiedene Szenarien aufgeteilt, einmal den Sturz aus dem Himmel auf die Erde sowie den endgültigen Sturz des Teufels in den Abgrund und die ewige Verdammnis (Pohl 1989: 102). Wieder ist es der Erzengel Michael, der sich dem Teufel in Drachengestalt stellt. »₁ Dann sah ich einen Engel vom Himmel herabsteigen; auf seiner Hand trug er den Schlüssel zum Abgrund und eine schwere Kette. ₂ Er überwältigte den Drachen, die alte Schlange – das ist der Teufel oder Satan –, und fesselte ihn für tausend Jahre. ₃ Er warf ihn in den Abgrund, verschloss diesen und drückte ein Siegel darauf, damit der Drache die Völker nicht mehr verführen konnte, bis die tausend Jahre vollendet sind.« (Offb 20, 1-3)

Als der Teufel nach den tausend Jahren erneut versucht, die Menschen zu verführen, scheitert er erneut, diesmal jedoch endet er für immer in demselben See, in dem bereits die beiden Tiere leiden (Offb 20, 7-10). Michael wird in der Offenbarung als Stellvertreter Gottes und Jesus Christus als Gegenpart eingesetzt und zieht als Vorbild für den miles christianus (Grübel 1991: 43) eine große Wirkungsgeschichte nach sich (Steffen 1984: 108). Die Hagiographie des Mittelalters setzt neben Michael, der »den Antichristen im himmlischen« bekämpft, den menschlichen Ritter »St. Georg im irdischen Bereich« (Wunderlich 1996: 513).

DER DRACHE DER HEILIGENLEGENDEN Die mittelalterliche Literatur kennt über 60 Drachenheilige und zahlreiche Helden aus den Sagenstoffen. Doch die Akteure der verschiedenen Textgattungen sind nicht genau gleich.

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»Sie unterscheiden sich […] grundlegend darin, dass der Held seine außergewöhnlichen Fähigkeiten aus sich selbst hervorbringt, seine Exorbitanz allein in ihm selbst begründet ist. Beim Heiligen ist sie hingegen Teil der göttlichen Begnadung, seine virtus gründet niemals in ihm selbst, sondern stets in Gott.« (Hammer 2010: 154)

Speziell die Szene, in der Siegfried im Nibelungenlied den Drachen tötet, in dessen Blut badet und dadurch beinahe unverwundbar wird, zählt zu den bekanntesten literarischen Darstellungen eines Drachenkampfes. In vielen Heldengeschichten dient »der Kampf […] vor allem dem Zweck, dem Helden einen Gegner zu verschaffen, an dem er seine Fähigkeiten, sein heroisches Potential, erproben kann« (Hammer 2010: 143). So kurz die Stelle im Nibelungenlied auch sein mag – sie umfasst gerademal eine Strophe (Handschrift B Str. 98, Handschrift C Str. 100) –, so prominent ist sie innerhalb der Sagentradition. Eine solche Erhöhung einer einzelnen Tat findet sich auch wieder in einer der bekanntesten Heiligenlegenden, der des heiligen Georg. Das Georgslied ist die älteste deutsche Heiligenlegende überhaupt (Flood 1996: 592). Obwohl das Drachenkampfmotiv erst sehr viel später hinzukommt – im Georgslied wird es noch nicht einmal erwähnt –, verehrt man den Heiligen vor allem als Drachentöter. Die Figur des Drachens wurde wahrscheinlich »bereits mit Blick auf ihren spezifischen Symbolgehalt ausgewählt« (Obermaier 2007: 53). Die ursprüngliche Georgslegende erzählt von dem Martyrium, das Georg unter Kaiser Diokletian, auch »Höllendrache« genannt, erleidet. Dass also der Drache eine Figuration von diesem ist, liegt nicht fern. Doch erst das Mittelalter macht Georg zum miles christianus. Statt Märtyrer und Wundertäter zu sein, wie in den orientalischen Vorlagen, wird er zum Drachentöter und Befreier edler Jungfrauen (Flood 1996: 593ff.). Aufgebaut ist die Geschichte des deutschen Georgsliedes trotz ihres Legendenstoffes eher nach dem Schema der Heldenepik: Eine Stadt wird von einem Drachen bedroht. Um ihn zu besänftigen, opfern die Bewohner ihm all ihr Vieh, und als es keines mehr gibt, entscheidet das Los, welcher Mensch sich dann dem Ungeheuer opfert. Eines Tages trifft es die Königstochter, die sich freiwillig ihrem Schicksal ergibt. Das Jungfrauenopfer spiegelt in der Tradition des Drachenkampfes ein allgegenwärtiges Motiv wider (McConnell 1999: 174). Ihr Vater, der König, wird bewusst als defizitär dargestellt, denn selbst die Macht, die ein weltlicher Herrscher hat, kann einen Drachen nicht besiegen. Bemerkenswert ist, dass in späteren Versionen die eigentlich heidnische Prinzessin zu Maria betet. Sie erbittet einen Retter in letzter Minute: Georg. Sein Erscheinen ist somit

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kein Zufall, es ist gottgewollt. Durch dieses Detail wird die Wirkmächtigkeit Gottes klarer herausgestellt (Hammer 2010: 173). Der Kampf entspinnt sich und wird in einigen Erzählungen, wie in der von Andreas Hammer (171) Berliner Georg genannten Handschrift, in epischer Breite ausgemalt. Im Gegensatz dazu handelt es sich in der Legenda aurea, ähnlich wie im Nibelungenlied, nur um eine sehr kurze Passage, die im Lateinischen gerade einmal einen Satz umfasst: »Tunc Gregorius equum ascendens et cruce se muniens dracorem contra se advenientem audiaciter aggreditur et lanceam fortiter vibrans et se Deo commendans ipsum graviter vulneravit et ad terram deiecit dixitque puellae: »Proice zonam tuam in collum draconis nihil dubitans, filia« (LA 1, 196).« (Aber Georg sprang auf sein Ross, machte das Kreuz vor sich und ritt gegen den Drachen, der wider ihn kam; er schwang die Lanze mit großer Macht, befahl sich Gott, und traf den Drachen also schwer, dass er zu Boden stürzte. Dann sprach er zu der Jungfrau ›Nimm deinen Gürtel und wirf ihm dem Wurm um den Hals, und fürchte nichts.‹ (LA 2, 393).)

Der Drache steht in der Legenda aurea jedoch noch nicht für den Teufel selbst, sondern für ein von ihm geleitetes Monster. Das Besondere an diesem Heiligenkampf besteht darin, dass Georg in ritterlicher Manier, mit Speer und Schwert, gegen das Ungetüm kämpft. In anderen Versionen als der Legenda aurea tritt Georg dem Drachen zwar ritterlich gerüstet gegenüber, doch besiegt er diesen lediglich mit dem Kreuzzeichen und/oder einem Gebet. Gerade die Gewaltlosigkeit, die man einem Heiligen abverlangt, wird durch den Gebrauch von ›geistigen‹ Waffen beschrieben. Allein durch ihren Glauben, durch Heilsgewissheit und das Gebet siegen die Heiligen über das Böse. Dass die jungfräuliche Königstochter den Drachen nur mit einem Gürtel fesseln kann, gehört ebenso in diesen Kontext des gewaltlosen Bezwingens (Steffen 1984: 230). Der Drachenkampf stellt den Wendepunkt verschiedener Übergänge dar: Einerseits wird eine alte Ordnung, die zuvor von dem Drachen zerstört worden war, in eine neuere und stabilere umgewandelt, andererseits dient der Kampf als Bewährungsprobe, Initiation, symbolische Wiedergeburt oder Brautwerbung des Helden (Hammer 2010: 149). Dem Aufbau der Heldenepik folgend, wird dem Ritter die gerettete Prinzessin als Braut angeboten, doch findet hier ein klarer Schemabruch statt, denn Georg lehnt dies ab. An die Stelle der Hochzeit als freudiges, abschließendes Ereignis, tritt die Taufe der Dorfbewohner (Steffen 1984: 224f.). Erst nach der Bekehrung der Dorfbewohner wird dem Drachen von Georg der Kopf abgeschlagen, um diesen Übergang zum christlichen Glauben noch deutlicher hervorzuheben.

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Ein Beispiel für das gewaltlose Bezwingen des Drachens ist die Legende vom Heiligen Philippus. Der Heilige soll in Samaria vor dem heidnischen Altar einer Götzenstatue opfern. Unter der Statue kriecht jedoch in diesem Augenblick ein Drache hervor. Der Heilige Philippus aber vertreibt das Monstrum mit dem Kreuzzeichen: »Glaubet mir, wenn ihr dieses Bild zerbrechet und an seiner Statt das Kreuz des Herrn anbetet, so sollen eure Kranken gesund und eure Toten lebendig werden. […] Also gebot Philippus dem Drachen, dass er an einen wüsten Ort gehe, da er keinem Menschen schaden könnte; und der Wurm hob sich alsbald von hinnen und ward darnach nicht mehr gesehen.« (LA 2, S. 439f.)

Anders als in der Offenbarung stellt die Wüste hier keinen Ort dar, um selbst Schutz zu erlangen. Vielmehr dient diese Wüste in ihrer Kargheit und Einsamkeit als eine Art Gefängnis für das Böse (Grübel 1991: 115), welches die umliegenden menschlichen Siedlungen schützt (Rebschloe 2014: 75). Auch die Drachenbezwingung des Papstes Silvester I. verläuft nach diesem Schema. Die Verbindung des Heiligen zu Gott und seiner Macht wird jedoch stärker betont. »Und da Silvester betete, erschien ihm Sanct Peter und sprach ‚Du sollst ohne Furcht mit zweien deiner Priester in die Grube gehen, da der Drache ist, und so du zu ihm kommst, so sprich zu ihm: Unser Herr Jesus Christus, geboren von einer Jungfrau, gekreuziget, begraben und auferstanden, sitzend zur rechten Hand Gottes, wird kommen zu richten die Lebendigen und die Toten: des sollst du Satanas in dieser Grube warten. Und binde ihm seinen Rachen mit einem Faden und drücke mit einem Ring, darein das Zeichen des heiligen Kreuzes gegraben ist, ein Siegel darauf.« (LA 2, 120)

Die Parallele zur Offenbarung (Offb 20, 2-3) ist hier mehr als deutlich, alle Elemente werden erwähnt, sowohl der Abgrund, die Fesseln als auch das Siegel sind deckungsgleich zur Bibel. Die Menschen, die das Wunder der Heilung mitansehen, werden Christen, sowohl bei Philippus als auch bei Silvester. Die Bekehrung der Heiden ist, wie in der Legende des heiligen Georg, in gewisser Weise ein initialer Schöpfungsakt so wie es die Erschaffung der Welt nach Tiamats Tod in Enuma elish ist. Der Heilige konstituiert mit diesem Akt eine dauerhafte Ordnung: das Christentum (Hammer 2010: 158). Eine weitere gewaltlose Drachenbezwingung schildert die Geschichte der heiligen Margarethe. Bemerkenswert hieran ist, dass es sich um eine Drachenkämpferin handelt, die jedoch keineswegs die einzige weibliche Bezwingerin in

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den Legenden ist (Steffen 1984: 229). Ausgang dieser Legende ist der Glaubensstreit zwischen Margarethe und einem heidnischen Präfekten. Sie wird von ihm in den Kerker geworfen und grausam gefoltert. Doch auch die schlimmste Folter kann sie nicht von ihrem unverrückbaren Gottesglauben abbringen. Im Kerker bittet sie Gott, ihr den wahren Feind zu zeigen, woraufhin ihr der Teufel in Drachengestalt erscheint. Die Überlieferungen gehen hier etwas auseinander, in der deutlich brutaleren Version des Passionals wird sie verschlungen, in der Legenda aurea jedoch wird ihr dies nur angedroht. Das Verschlingen Margarethes und das Zerbersten des Drachenleibes durch das Kreuzzeichen sind als Motiv eine »symbolische Wiedergeburt […], die […] in Zusammenhang mit dem mythischen Substrat derartiger Erzählungen« (Hammer 2010: 149) steht. Aus dieser Wiedergeburt gestärkt kann Margarethe zu späterer Zeit dem Teufel, diesmal in der Gestalt eines schönen Jünglings, der die Jungfrau zu verführen versucht, gegenübertreten. Hier kommt zum ersten Mal eine Tugendprobe als sexuelle Komponente hinzu, die bei den männlichen Drachenbezwingern nicht existiert (Hammer 2010: 160). Die glaubensfeste Jungfrau wirft den Teufel nieder und zwingt ihn, ihr von seiner Niederlage – dem Luzifersturz – zu erzählen, bevor sie ihn wieder frei lässt. Ihn zu töten, ist nicht notwendig, denn er hat keinerlei Macht mehr über sie (Hammer 2010: 159). In dieser Legende geht es vor allem um die Tugendprobe der christlichen Jungfrau. Sowohl ihre Frömmigkeit als auch ihre Standhaftigkeit gegenüber der Verführung werden betont. Eine Frau als Bezwingerin des Teufels ist in doppeltem Sinne ein Sieg über das Böse (Steffen 1984: 230f.). Einerseits besiegt der Glaube an Gott den Teufel in Drachengestalt und andererseits siegt eine schwache Frau über die Verführung, die Eva im Paradies zum Verhängnis geworden ist. Die Geschlechterdifferenz ist aufgehoben, denn es ist nicht mehr die Kraft des Mannes, der das Böse in die Flucht schlagen kann, sondern der beiden Geschlechtern innewohnende Glaube an Gott (Hammer 2010: 160).

ZUSAMMENFASSUNG Das Mittelalter kennt viele verschiedene literarische Darstellungen von Drachenkämpfern. Trotz der Unterschiede zwischen einem Helden aus der Epik und einem christlichen Heiligen gibt es starke Parallelen zwischen den Textgattungen. Die Erzählung vom Heiligen Georg in der Legenda aurea weist eindeutige Motive der Heldenepik und des höfischen Romans auf. Wie der klassische Artusritter reitet der heilige Georg aus, um Abenteuer zu finden. In dieser Legende findet sich ebenfalls das mittelalterliche Brautwerbungsschema, welches jedoch

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funktionslos wird, da es nicht zu einer Heirat führt. Auch der Kampf mit dem Drachen steht außerhalb der Legendentradition. Georg kämpft zwar mit der von Gott verliehenen Kraft, doch ist sein Sieg alles andere als gewaltlos. Hier sieht man noch deutlich die Parallele zu Michaels Drachenkampf in der Bibel. Im Unterschied zum Kulturheros (so etwa Siegfried), der seine Kraft aus sich selbst schöpft und durch den Sieg über das mächtige Monster seine Exorbitanz und somit seine Stellung in der Welt behauptet und untermauert, ist die Macht des Heiligen – seine virtus – ganz allein auf Gott zurückzuführen und dient einem höheren Zweck: dem Sieg des Guten über das Böse. Von Gott geleitet und allein erfüllt von dessen Macht, besiegen Philippus, Silvester und Margarethe den Teufel und symbolisieren so die Allmacht des einzig wahren, christlichen Gottes in der Welt. Eine weitere Differenz liegt in der Deutungsmöglichkeit der Kontrahenten, Drachen und Drachenkämpfer. Der Drache steht in der Hagiographie immer in einem christlich-theologischen Kontext. Er ist die Präfiguration des Gottesfeindes und somit vor allem des Teufels. Doch wie die verschiedenen Auslegungen der Georgslegende beweisen, kann der Drache auch als Sinnbild des heidnischen Glaubens an sich gelten. Der Drache der Heldenepik steht für sich selbst voller Macht und Stärke und wird von einem noch mächtigeren, noch stärkeren, exorbitanten Helden bezwungen. Hier gebührt der Ruhm dem siegreichen Drachentöter allein und wird zu dem Beispiel seiner Exorbitanz. In der Hagiographie werden die Heiligen für die Drachenbezwingung zwar verehrt, doch der Ruhm kommt allein Gott zu. In der christlichen Literatur versinnbildlicht der Drache das Böse und Chaosstiftende in der Welt, welches nur durch den unverrückbaren Glauben des heiligen Drachenbezwingers an Gott besiegt werden kann.

LITERATUR Flood, John L. (1996): »Sankt Georg«, In: Müller, Ulrich/Werner Wunderlich (Hg.): Herrscher Helden Heilige. St. Gallen: UVK, S. 589-605. Grübel, Isabel (1991): Die Hierarchie der Teufel. Studien zum christlichen Teufelsbild und zur Allegorisierung des Bösen in Theologie, Literatur und Kunst zwischen Frühmittelalter und Gegenreformation. München: tuduv. Hammer, Andreas (2010): »Der heilige Drachentöter. Transformationen eines Strukturmusters«, in: Hammer, Andreas/Seidl, Stephanie (Hg.): Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 143-179.

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Holtz, Traugott (2008): Die Offenbarung des Johannes. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. McConnell, Winder (1999): »Mythos Drache«, in Müller, Ulrich/Wunderlich, Werner: Dämonen Monster Fabelwesen. St. Gallen: UVK, S. 171-184. Obermaier, Sabine (2007): »Der Heilige und sein Tier, das Tier und sein Heiliger – ein Problemaufriss«, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 12.2 (2007): S. 46-63. Pohl, Adolf (1989): Die Offenbarung des Johannes. Wuppertal: Brockhaus. Rebschloe, Timo (2014): Der Drache in der mittelalterlichen Literatur Europas. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Steffen, Uwe (1984): Drachenkampf. Der Mythos vom Bösen. Stuttgart: KreuzVerlag. Voragine, Jacobus de (1921): Legenda aurea. Deutsch nach Richard Benz. Jena: Diederichs (zitiert im Text als LA 2). Voragine, Jacobus de (2016): Legenda aurea. Lateinisch/Deutsch. Stuttgart: Reclam (zitiert im Text als LA 1). Wunderlich, Werner (1996): »Vom Sankt Michael zum Deutschen Michel? Zur Karriere eines seltsamen Nationalheiligen«, in: Müller, Ulrich/Wunderlich, Werner (Hg): Herrscher Helden Heilige. St. Gallen: UVK, S. 511-524.

Fáfnirs Verwandlungen Lindwürmer und (Flug-)Drachen in der altwestnordischen Heldenepik und ihre Reprisen in der modernen Populärkultur Matthias Teichert

Vor der Folie christlicher Tiersymbolik erscheinen der Drache und die mit ihm prototypensemantisch eng assoziierte Schlange wesentlich als Inkarnation des Bösen, Diabolischen und Satanischen (vgl. Röhrich 1981: Sp. 794), und dieses Deutungsmuster ragt bis weit in die epischen Traditionen der mittelalterlichen germanischen Sprachen und Dialekte hinein. Die alt(west)nordische 1 Literatur indes nimmt hier eine gewisse Sonderstellung ein. Eponymer Mittelpunkt und gewissermaßen die Hauptattraktion der nachfolgenden Ausführungen soll Fáfnir sein, der Drache aus der altwestnordischen Nibelungenüberlieferung, allgemeinen bekannt durch Wagners Siegfried, dem Zweiten Abend des Rings des Nibelungen – dort in der Namensform Fafner – und eine der Inspirationsquellen für die Figur des Smaug aus Tolkiens Mittelerde-Universum. Die beiden Hauptquellen für den (Schlangen-)Drachen Fáfnir und seine Begegnung mit dem Helden Sigurd (altwestnordisch Sigurðr; sagengeschichtlich identisch mit Siegfried aus dem Nibelungenlied) sind die vielleicht aus dem 12. Jahrhundert datierenden Heldenlieder Reginsmál (»Reginnlied«) und Fáfnismál (»Fafnirlied«) aus der sog. Lieder-Edda sowie die darauf basierende Prosaerzäh-

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Als »westnordisch« werden sprachgeschichtlich Norwegisch, Isländisch und Färöisch (oder Färingisch) bezeichnet, als »ostnordisch« Schwedisch, Dänisch sowie das einst auf Gotland gesprochene, stark mit niederdeutschen Einflüssen durchsetzte Gutnisch. Literaturgeschichtlich stammt das Gros der überlieferten Texte aus Norwegen und vor allem Island. Vgl. hierzu einleitend Uecker 2004, S. 9.

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lung Vǫlsunga saga (»Die Saga von den Völsungen«), eine um 1250 verfasste Gesamtdarstellung der nordischen Wölsungen- und Nibelungengeschichte in Erzählprosa. Darüber hinaus existieren diverse ikonographische Quellen, etwa in Form von Felszeichnungen wie die von Ramsundsberg aus Schweden, geritzt wohl um das Jahr 1000 (vgl. hierzu Düwel 2003: insbesondere S. 125-127). Die nordische Nibelungentradition überliefert bezüglich des Drachens und seiner Überwindung, in sehr geraffter Inhaltsangabe folgenden Plot: Der verwaiste Königssohn Sigurd wächst als Exilant am dänischen Königshof auf, wo er von dem zwergengestaltigen Schmied Reginn erzogen wird. Reginn hetzt seinen Zögling dazu auf, den Drachen Fáfnir zu töten und somit in den Besitz des Nibelungenhortes zu gelangen; tatsächlich plant Reginn insgeheim, Sigurd nach erfolgter Drachentötung zu beseitigen und sich selbst den Schatz anzueignen. Fáfnir ist eigentlich der Bruder Reginns und hat sich durch Ermordung seines Vaters in den Besitz des Hortes gesetzt (und sich später in einen Drachen verwandelt), den dieser einst den Asen, also den nordischen Göttern, als Bußzahlung für die ›versehentliche‹ Tötung seines dritten Sohnes abgepresst hatte. Die Asen wiederum hatten den Hort dem Zwerg Andvari geraubt, der den Schatz daraufhin verflucht hat, so dass er jedem nachfolgenden Besitzer den Tod bringen soll (zu dieser mythischen Vorgeschichte des Horts vgl. Heizmann 2014). Sigurd begibt er sich zur Drachenhöhle, stellt sich Fáfnir aber nicht im offenen Kampf, sondern tötet ihn mit einer List, indem er ihn, verborgen in einer Grube, von unten sein Schwert unter den Bug stößt. Der sterbende Fáfnir warnt Sigurd vergeblich vor dem Fluch des Schatzes. Als Sigurd auf Reginns Anordnung das Herz des Drachen brät, gelangt er zufällig mit dem Drachenblut in Berührung und versteht daraufhin die Stimmen der Vögel, die ihn vor der Heimtücke Reginns warnen. Sigurd tötet Reginn, verzehrt selbst Drachenherz- und -blut und eignet sich den verfluchten Hort sowie den rätselhaften Schreckenshelm an, den zuvor Fáfnir getragen hatte. Die außerordentliche Bedeutung, die das Altnordische Sigurds Drachentötung zumisst, ist etwa in dem in den Texten sehr häufig verwendeten Epitheton Fáfnisbani (»Fafnirstöter«) ablesbar, mit dem Sigurd nicht nur von der heterodiegetischen Erzählerinstanz markiert, sondern auch fiktionsintern von den anderen Figuren belegt wird. Im Gegensatz zum namenlosen und auch sonst äußerst schemenhaft bleibenden linttrachen2 des Nibelungenliedes (Str. 98 [100]) hat dessen nordisches Pen-

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Dieser mittelhochdeutsche Begriff ist tautologisch, da beide Bestandteile des Kompositums so viel wie »Drache; Schlange« bedeuten. Dasselbe gilt für das synonyme

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dant mit Fáfnir einen individualisierten Eigennamen. Fáfnir hat weiterhin eine erzählbare, »prä-dracomorphe« Vorgeschichte. Hinsichtlich seiner äußeren Erscheinung nach der fiktionsinternen Metamorphose vom Riesen zum Drachen ist zu sagen, dass diese als schlangengestaltig vorzustellen ist, es sich bei dem verwandelten Fáfnir also um ein Reptil ohne Extremitäten handelt, das Gift schnaubt. Fáfnir steht damit in einem gewissen Kontrast zum bekannteren Konzept des feuerspeienden, mit klauenbewehrten Extremitäten und gepanzerter, schuppiger Haut ausgestatteten Flugdrachens, wie es die populäre Drachenvorstellung im europäisch-christlich geprägten Kulturraum im Wesentlichen bis heute dominiert und in die moderne fantasy fiction und Kinder- und Jugendliteratur nachwirkt. Der Folklorist Lutz Röhrich hat in seinem grundlegenden »Drache«-Artikel in der Enzyklopädie des Märchens die fiktive Gattungsgeschichte des Drachen im Spiegel der mittelalterlichen europäischen Literaturgeschichte rekonstruiert und einige Spezifika des germanischen Kulturraums notiert: »Sprachlich und begrifflich ist der Drache erst durch die Römer zu den Germanen gekommen. Zuvor kannten die Germanen nur das Wort Wurm als Sammelbegriff für Reptilien. Drache verdrängt, besonders unter kirchlichem Einfluß (Drache = Teufel), das ältere Wort fast völlig. […]. Zwei ursprünglich getrennte Vorstellungen haben sich vermischt: auf der einen Seite die einheimische von riesigen Schlangenwürmern, auf der anderen Seite die ostmittelmeerisch-kleinasiatische von Mischwesen aus Krokodil und Raubvogel. Kunst und Literatur der mittelalterlich-europäischen Oberschicht übernahmen die mischgestaltigen Wesen, während die Drachenwürmer im Bereich des Volksglaubens angesiedelt blieben. Der ältere Kriech-Drache des mittelhochdeutschen Epos wird schließlich immer mehr durch den Flug-Drachen, das geflügelte Krokodil, abgelöst. Die verschiedenen Drachen-Vorstellungen haben sich jedoch seit dem Mittelalter in Heldenepos, Volksbuch und mündlicher Folklore einander angenähert. Obwohl der Drache ein monströses Fabel- oder Phantasiewesen ist, kombiniert er doch Eigenschaften mehrerer real existierender Tiere. Die Kombination dieser Fähigkeiten ist nicht zufällig: Der Drachen ist das mythische Wesen, das sich in allen vier Elementen bewegen kann: Er kann fliegen, schwimmen, gehen oder kriechen.« (Röhrich 1981: Sp. 789-790)

Obgleich die eddischen Sigurdlieder und die Vǫlsunga saga als literarische Texte einer hochmittelalterlichen Überlieferungsschicht angehören, bewahren sie fossilierte Relikte älterer Zeit, und in diesen Kontext gehört auch die Darstellung

mhd. Kompositum lintwurm (daraus nhd. Lintwurm oder Lindwurm) und dessen altnordisches Äquivalent linnormr.

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der äußeren Gestalt des reptilisierten Riesen Fáfnir als giftschnaubende Riesenschlange. Was nun Psychogramm, Lebensgewohnheiten und soziale Verhaltensmuster Fáfnirs anbelangt, macht schon die grobe Lektüre des Textes deutlich, dass der sekundär draconisierte Fáfnir weder lediglich Objekt zur Demonstration der überlegenen Kräfte des Helden ist (wie die Drachen im Zaubermärchen) noch die bloße Inkarnation sinistrer, ›böser‹ Mächte wie in der biblisch geprägten christlichen Drachenvorstellung vorderorientalischer Provenienz. Fáfnirs anthropomorphe Vorgeschichte einschließlich eines persönlichen Namens und der Einbindung in das soziale Netzwerk einer wenngleich konfliktreichen und blutigen Familiengeschichte, seine Beherrschung der menschlichen Sprache weisen in diese Richtung ebenso wie die Tatsache, dass sowohl der verschwörerische Hetzer Reginn als auch Sigurd selbst am Verzehr von Drachenherz und -blut interessiert sind. Neben der Wirkung von Drachenblut und -herz und dem allseits bekannten Drachen-Gold-Nexus sind noch drei weitere klassische Elemente ›vor-/außerchristlicher‹ Drachenmythologie in der Fáfnir-Erzählung vorzufinden: Zum einen die Zeichnung des (Schlangen-)Drachen als chthonisches Wesen, eine Zuschreibung, die sich aus seiner serpentinen Extremitätenlosigkeit und kriechenden Bewegungsart speist; zum zweiten die Bindung des Drachen an das Element Wasser; zum dritten – wenngleich lediglich schemenhaft – die Funktion des Drachen als repressive männliche Figur und insbesondere als Bewacher und Wärter einer gefangenen Jungfrau oder Königstochter, auf die es der menschliche (scil. männliche) Held ›abgesehen‹ hat (vgl. hierzu Röhrich 1981: Sp. 814). Ein Gegenstück zu Sigurds Tötung Fáfnirs findet sich in der Hrólfs saga kraka, eine erst um 1300 umfangreiche Prosaerzählung aus dem Umkreis der Skjöldungensagen und damit stofflich eng mit dem Beowulf verwandt, dessen Pendant Bödvarr Bjarki (altnordisch Bǫðvarr Bjarki) der Hauptheros der Sagas ist. Bödvarr Bjarki stellt sich dem Angriff eines geflügelten Monsters, das alljährlich zur Julzeit die Halle des Königs heimsucht, und exterminiert es in ›klassischer‹ Drachenkämpfermanier, indem er dem Untier sein Schwert unterhalb des Bugs in den Körper rammt. Zugrunde liegt die Vorstellung, dass die Unterseite eines (reptilien- oder drachenartigen, also geschuppten oder gepanzerten) Ungeheuers seine einzige verwundbare Körperregion ist. Nachdem das Untier verendet ist, wendet sich Bödvarr Bjarki dem feigen Höfling Höttr zu, den er gegen dessen Willen mit zum Kampf genommen hat und der sich während der Tötung des Monstrums ängstlich verkrochen hatte. Bödvarr Bjarki lässt ihn zwei große Schlucke vom Blut des Flugdrachens sowie einen Bissen von seinem Herzen essen. Auch diese, vermutlich in archaischen Jägerriten wurzelnde Handlung hat Analogien in der Sigurdsage, ist hier aber etwas anders akzentuiert. Während

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laut Fáfnismál und Vǫlsunga saga der Genuss des Drachenblutes Sigurd die Vogelsprachenkundigkeit verleiht sowie das Verspeisen des Drachenherzens gemäß Vǫlsunga saga Klugheit und Grimmigkeit erhöhen und beides dazu beiträgt, den Charakter des Konsumenten ins ›Monströse‹ und Antisoziale zu verändern (vgl. Teichert 2014), ist die psychopharmakologische Wirkung von Drachenblut und -herz in der Höttr-Episode – im Sinn der ständisch gegliederten Kriegeraristokratie – positiver und ›sozialverträglicher‹. Der verzagte Höttr verwandelt sich umgehend in einem gewaltigen Kämpen. Die soziopsychologischen Konsequenzen sind der von Sigurds Drachentötung also geradezu entgegengesetzt, und auch die Figur des Drachens ist teilweise anders akzentuiert: Es handelt sich um einen Flugdrachen, der anders als Fáfnir keine anthropomorphe Prähistorie hat, nicht der menschlichen Sprache fähig ist und mit seinen Tötern auch nicht verbal interagiert. Zu der für den nicht-nordistisch ›vorgebildeten‹ Außenstehenden vielleicht verwirrenden Kompliziertheit der skandinavischen Nibelungenüberlieferung gehört neben dem Nebeneinander von versepischen (Edda) und prosaischen (Sagaliteratur) literarischen Genres und ihren ikonographischen Gegenstücken insbesondere die Tatsache, dass der Nibelungenstoff in Nordeuropa in zwei grundsätzlich verschiedenen Fassungen bewahrt ist. Den älteren Zweig, die nordische Nibelungensage i.e.S., repräsentieren die bereits genannten Quellen, die auf eine vergleichsweise frühe Rezeption des ursprünglich südgermanischen Nibelungenstoffes basieren; die hier nicht näher beleuchtete skaldische Dichtung (neben der Eddik die zweite Hauptform altnordischer Versdichtung) bewahrt Indizien, die nahelegen, dass der Nibelungenstoff und damit die Sigurdsage in ihrer oben skizzierten Gestalt spätestens im mittleren 9. Jahrhundert in Norwegen bekannt gewesen sein muss. Ein jüngerer Zweig gründet nach expliziter Auskunft nordischer Quellen auf heute größtenteils verlorenen niederdeutschen Dichtungen um die Nibelungen und Dietrich von Bern, die wohl im 12. und 13. Jahrhundert im Rahmen intensiver Handelsbeziehungen zwischen der Hanse und der norwegischen Stadt Bergen nach Norwegen gelangt sind. Die so entstandenen altnorwegischen Erzählungen sind in der Þiðreks saga af Bern kodifiziert, ein um 1260 niedergeschriebenes Sammelwerk, das neben der Heldenvita der Titelfigur des Þiðrekr (= Dietrich) auch eine geraffte, aber inhaltlich vollständige Nacherzählung des Sigurd- und Nibelungenzyklus enthält. Für die hier zu diskutierende dracologischen Zusammenhänge wichtig ist der Umstand, dass die Sigurdgeschichte in der Þiðreks saga in einer Gestalt vorliegt, die sehr markant von der aus Edda und Vǫlsunga saga bekannten Version abweicht. Symptomatisch ist dabei die Schilderung von Sigurds Begegnung mit dem Drachen (der hier infolge einer eigenwilligen Verschiebung des Namensmaterials »Reginn« heißt).

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»Kaum hatte er [Sigurd] dies gesprochen, kam ein großer Lindwurm auf ihn zu. Da sprach Sigurd: ›Vielleicht kann ich mich nun erproben […]‹. Damit sprang er ans Feuer, nahm den größten Baumstamm, der darin glühte, lief auf den Wurm zu und schlug ihn aufs Haupt, daß er nicht Gift schnauben konnte, sondern der Kopf zur Erde sank. Er versetzte ihm Schlag auf Schlag, bis der Drache tot war. Dann packte er seine Axt und schlug ihm damit den Kopf ab. Danach setzte er sich; er war ganz müde geworden. Der Tag war mittlerweile vorgeschritten. Er merkte, daß er bis zum Abend nicht heimkommen konnte, und wußte nicht, woher er sich etwas zum Essen verschaffen sollte. Am besten schien ihm der Gedanke, sich den Drachen zum Nachtmahl zu kochen.« (Geschichte Thidreks von Bern [1924]: 220)

Die altnordistische Literaturgeschichte und Heldensagenforschung hat der Þiðreks saga wiederholt eine Art ›Entheroisierung‹ der alt(ehrwürdig)en Narrative zugeschrieben und angemerkt, sie substituiere das eigentliche heroische Welt- und Menschenbild durch eine volkstümliche Sicht einer »gelegentlich recht unheldischen, mehr kaufmännisch gewitzten Lebensauffassung« (von See 1971: S. 19), die zugleich mit einer gewissen Verrohung und derben Überzeichnung bestimmter Elemente einhergehe. Literatursoziologisch ist dieser Stilwechsel zweifellos durch die hanseatische, sozusagen ›frühbürgerliche‹ Schicht als Zielpublikum der Saga erklärbar, die hier den (Krieger-)Adel als traditionelle Trägerschaft von Heldendichtung abgelöst hat. Für Otfried Ehrismann befindet sich die Saga gattungsgeschichtlich »auf dem Wege zum ›Volksbuch‹« (Ehrismann 1987: S. 53). Die Episode um Sigurds Drachenkampf – der hier tatsächlich ein Drachenkampf und keine bloße Drachentötung wie in Edda und Vǫlsunga saga ist – kann als herausstechendes Beispiel für die in der gesamten Þiðreks saga schwelende Tendenz zur Rustikalisierung und Primitivisierung des alten heroischen Zeichensystems gelten. Zumal im unmittelbaren Vergleich mit Fáfnismál und Vǫlsunga saga auch der signifikante Paradigmenwechsel augenfällig wird. Aus dem elegant und gezielt, gleichsam mit ›chirurgischer‹ Präzision auf die einzig verwundbare Stelle am Körper des Kriechdrachens abzielenden Schwertstich von unten wird hier unversehens ein eher plumpes, brutales ›Draufhauen‹ mit einem Baumstamm, den der eher tölpelhaft agierende Sigurd so oft auf den Drachen krachen lässt, bis dieser totgeschlagen zur Erde sinkt. An die Stelle des zufälligen Kontaktes mit dem Drachenblut und dem quasi-(jagd-) rituellen Verzehr des Drachenherzen tritt hier das mit bloßen Hunger erklärte Verspeisen des gesamten Drachenkörpers, das Sigurd zumindest in die Nähe des Typus des kognitiv unterbelichteten riesenhaften ›Vielfraßes‹ aus dem Märchen rückt.

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Ähnlich rustikal, bizarr und teilweise grotesk vollziehen sich in der Þiðreks saga weitere Drachenkämpfe unter Beteiligung des Titelhelden Þiðrekr. Dies gilt etwa für die Begegnung mit einem anthropophagen Flugdrachen, die Þiðrekr gemeinsam mit seinem Waffenbruder Fasold in zu bestreiten hat: »Als sie aus dem Wald herauskamen, erblickten sie etwas Neues und höchst Wunderbares. Sie sahen nämlich einen großen, langen und dicken Flugdrachen. Er hatte dicke Beine und scharfe und lange Krallen. Sein Kopf war groß und fürchterlich. Er flog dicht über der Erde, und jedes Mal, wenn seine Klauen sie berührten, war es, als wenn man mit einem scharfen Pflug gepflügt hätte. In seinem Maul schleppte er einen Mann. Den hatte er von den Füßen bis hinauf unter die Arme verschlugen, aber Kopf und Schultern hingen aus dem Rachen heraus. Die Hände staken zwischen den Unterkiefern. Aber der Mann lebte noch. Sobald er Thidrek und Fasold reiten sah, rief er ihnen zu: ›Wackre Gesellen‹ (sagte er), ›reitet hierher und helft mir. Dieses abscheuliche Ungeheuer holte mich von meinem Schild, während ich schlief. Im Wachen wäre mir das nicht zugestoßen.‹ Als die beiden Schwurbrüder das hörten, sprangen sie rasch von ihren Pferden, zückten ihre Schwerter und hauten beide auf einmal auf den Drachen los. Aber weder Thidreks noch Fasolds Schwert hafteten. Obwohl dieser Drache groß und stark war, ging es doch über seine Kraft, den Mann in voller Rüstung zu tragen. Deshalb konnte er nicht hoch fliegen und sich wehren, als wenn er frei wäre. Da rief der Mann im Drachenmaul Fasold zu: ›Ich sehe, daß dein Schwert nicht haftet an ihm. Denn er ist gefeit. Nimm hier das Schwert, das im Drachenrachen steckt. Es ist zu erwarten, daß das am ehesten zerbeißt, was unter seine Schneiden kommt, vorausgesetzt, daß ein Held es führt.‹ Fasold sprang unverzagt hinzu, langte zwischen die Kinnbacken des Drachen, riß das Schwert los und schlug stracks damit auf ihn. Dieses Schwert schnitt so vorzüglich, wie das schärfste Schermesser den Bart. Jetzt rief der Mann Fasold wieder zu: ›Hau vorsichtig! Meine Füße hängen im Drachenschlund. Nimm dich in acht! Denn ich möchte mir nicht gerade von meinem eignen Schwert eine Wunde zuziehen, wenn du darauf achten kannst, und es ist haarscharf.‹ Darauf fuhr er fort: ›Schlagt zu, alles was ihr könnt. Denn jetzt kneift der teuflische Drache mit seinen Kiefern so fürchterlich, daß mir das Blut aus dem Mund springt, und ich weiß nicht, wie ihr mit ihm fertig werden sollt.‹ Sie aber schlugen so lang gewaltig auf ihn ein, bis er tot war.« (Geschichte Thidreks von Bern [1924], S. 168-169)

Hier handelt es sich also um einen mit Extremitäten (Klauen) ausgestatten Flugdrachen, der phylogenetisch auf das Konto europäisch-›südlicher‹ Drachenvorstellungen mit christlicher Konnotation zurückgeht und auch von der Erzählerinstanz als negative Schreckensgestalt markiert wird. In späteren Texten, die nur noch sehr lose mit der heroischen Tradition verbunden sind, kommt auch die

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›Mischform‹ eines giftschnaubenden Flugdrachens vor, so in der um 1300 verfassten märchenhaften Sigurðar saga þǫgla (»Die Saga vom schweigsamen Sigurd«): »[…] und zugleich sahen sie, daß ein schrecklicher Drache mit aufgerissenem Rachen über das Heer hinwegfliegt; und als sie diese furchtbare Erscheinung erblickten, wurden sie von Angst erfüllt und laufen zusammen; und in diesem Augenblick fliegt dieser gräßliche Drache über sie hinweg und speit in Stößen so viel Gift aus, daß darin sechzig Männer aus dem Gefolge der Brüder umkamen […].« (Die Saga von Sigurd Thögli [1998], S. 235)

Die eingangs als vorläufig markierte idealtypische und simplifizierende Dichotomie zwischen giftschnaubendem Kriech- und feuerspeiendem Flugdrachen lässt sich also mit Blick auf die spätaltisländischen Dracologica nicht in dieser Klarheit aufrechterhalten, vielmehr scheint es auch auf Island im diachronen Verlauf der Drachen-Erzählungen zu Synkretismen, Überschneidungen und Annäherungen gekommen zu sein. Betrachtet man auf der Basis der hier referierten Textauswahl die Entwicklungslinien der altnordischen Literatur bezüglich der in ihnen bewahrten Drachendarstellungen systematisch, so lassen sich gewisse einzeltextübergreifende Tendenzen ablesen, wenngleich diese – wie eben anhand des Motivs des Giftschnaubens/Feuerspeiens exemplifiziert – cum grano salis aufzufassen sind. Auf rein sprachlicher Ebene ist augenfällig, dass nach Einführung des Konzepts und Begriffs dreki (< draco) das Simplex sehr rasch durch das Kompositum flugdreki (mit präzisierender Angabe der primären Fortbewegungsart) verdrängt wird. Dies ist der Grund, weshalb das Ordbog over det norrøne prosasprog (www.onp.ku.dk) für dreki (in der Bedeutung »Drache; Schlange«) die auf den ersten Blick verwunderlich geringe Anzahl von lediglich sieben Belegen listet, für flugdreki hingegen mit dreißig Belegen ein Vielfaches. Gattungsgeschichtlich ist anzumerken, dass das hier behandelte Genre der Heldenepik hinsichtlich ihrer Drachenperzeptionen insgesamt konservativer zu sein scheint als andere narrative Formen. In der mythologischen Epik etwa begegnet bereits in dem um das 1000 n. Chr. entstandenen Visionsdichtung Vǫluspá (Der Seherin Gesicht) ein stark eschatologisch codierter Flugdrache mit dem sprechenden Namen Níðhǫggr (»der hasserfüllt Schlagende«), eine Figur, die offenkundig erst aus der christlichen Mythologie und Visionsliteratur in die nordgermanische Mythologie geraten ist und zu deren jüngster Schicht gehört (vgl. Teichert 2014a, S. 194-196). Und in der kurz nach 1220 verfassten Kormáks saga Ögmundarsonar (»Die Saga von Kormak Ögmundarson«; auch »Kormak der

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Liebesdichter«), eine der ältesten Isländersagas, ist bereits explizit von einem Flugdrachen die Rede. Sowohl die mythologische Dichtung als auch die nichtheroische Sagaliteratur scheinen demnach allochthone Drachenbilder früher aufgegriffen zu haben als die Heldensage und -dichtung, die noch Mitte des 13. Jahrhunderts (Vǫlsunga saga) in der Lindwurmvorstellung verharrt und erst mit der Übernahme ganzer ›südlicher‹ Stoffkomplexe (Dietrich von Bern, deutsche Nibelungensage, Artusstoffe) auch deren Flugdrachenkonzept adaptiert. Die Übernahme allochthoner Drachenvorstellungen beschränkt sich indes keineswegs auf bloße Modifikationen der fiktiven Anatomie vom kriechenden Lindwurm zum fliegenden Krokodil, sondern geht mit einer weitreichenden Metamorphose des gesamten ›Zeichensystems Drache‹ und seinen semantischen, semiotischen und ästhetischen Implikationen einher. Letztere ließen sich in einer ausführlicheren Analyse teilweise in den Parametern der Ästhetik Julia Kristevas als Abjektivierung – oder Abjektion – beschreiben (vgl. Teichert 2014: 156 sowie Kristeva 1982). Vor allem der Flugdrache erscheint hier expressis verbis als feindliche (Höllen-)Kreatur, dessen Gefährlichkeit und Bösartigkeit nicht nur von handelnden Figuren vermerkt, sondern auch vom heterodiegetischen Erzähler ausdrücklich anhand einschlägiger Signalwörter und mit einer gewissen Normativität festgestellt wird. Das Spektrum der Horribilisierungs-, Bestiarisierungs- und Diabolisierungstendenzen ist dabei allerdings einigermaßen differenziert und reicht von relativ schwach (in der ›klassischen‹ Heldendichtung eddischen Zuschnitts) bis sehr stark (aventiurehafte Dietrichepik, märchenhafte Sagas); eine Art Mittelstellung nimmt die »Verbauerung« der Episode um Sigurds Drachenkampf in der Þiðreks saga ein. Gleichwohl lässt sich keine völlig stringente und kohärente Entwicklungslinie rekonstruieren, mit der sich eine systematische Metamorphose der altnordischen Drachenvorstellungen generalisierend nachzeichnen ließe. Hybridisierungen des anatomischen Set-ups (giftschnaubender Flugdrache) kommen ebenso vor wie ›Asymmetrien‹ zwischen (›neuer‹) Drachendarstellung und (›altem‹) sie umgebendem Erzählmaterial (Hrólfs saga kraka); in der literarischen Praxis entstehen Überlappungen und Amalgamierungen. Durchgängig feststellbar ist hingegen eine gewisse Form von Reziprozität zwischen Drachentöter/kämpfer und bekämpftem drachenartigen Ungeheuer, die narrativ in einer ausgefeilten Technik von motivlichen und strukturellen Spiegelungen zwischen beiden Figurentypen Gestalt gewinnt (vgl. hierzu ausführlich Teichert 2014 und die dort referierte Forschungsliteratur). Etwas anders nuanciert als der für Ungeheuerkampf-Episoden typische ›Rollenwechsel‹ zwischen Held und Monster ist der Stellenwert des Drachenkampfes und seiner unmittelbaren Vor- und Nachgeschichte in unterschiedlichen literari-

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schen Gattungstraditionen. Es wurde verschiedentlich festgestellt, dass der Drachen- bzw. Ungeheuerkampf häufig den Kulminationspunkt einer idealtypischen Heldenbiographie darstellt und/oder deren Peripetie einleitet (vgl. De Vries 1961: 282-289). Die Tendenz zur sukzessiven Episierung, die zumal in der altnordischen Heldendichtung festzustellen ist – von notizartigen Verweisen und Allusionen in der älteren Skaldik (spätes 9. Jh.) bis zum breit ausgeschilderten »Heldenroman« in Sagaprosa (13. Jh.) – bringt dabei eine ausführlichere biographische Entfaltung des Heldenlebens von Zeugung/Geburt über Jugend, Aufstieg, Klimax und Fall mit sich. Dieser ›Hyperbiographisierung‹ steht eine gewisse ›Entbiographisierung‹ des Drachens/Ungeheuers gegenüber, die sich schon daraus erklärt, dass in einer elaborierten Heldenbiographie mit Stationen wie Ungeheuerkampf, Jungfrauengewinnung, Unterweltsfahrt, etc. dem Drachenkampf als ›nur‹ eine von mehreren Etappen (wenngleich der vielleicht wichtigsten) zwangsläufig eine marginalere Stellung zukommt als in Erzählungen, die primär oder ausschließlich auf diese eine heroische Großtat hin ausgerichtet sind. Hinzu kommt, dass mit der Pejorisierung und Dämonisierung des Figurentypus Drachen im Zuge der Rezeption allochthoner Drachenvorstellungen zugleich eine Topoisierung und Verflachung dieses Figurentypus und eine sich verschärfende Schwarz-Weiß-Zeichnung des vormals ambivalenten Verhältnisses zwischen Drachen und Drachenkämpfer/-töter einhergeht. Ein Drache, der als Inkarnation diabolischer Mächte konzeptualisiert oder lediglich Mittel zum Zweck zur Demonstration der Überlegenheit des Helden über das Monstrum ist, erfordert keinerlei individuelle biographische Behandlung, wie sie etwa in der vergleichsweise ausführlichen Lebens- und Delinquenzgeschichte Fáfnirs in Edda und Vǫlsunga saga vorliegt. Der Drache büßt in dieser Lesart also seine Funktion als (physisch wie psychologisch) verzerrtes Alter Ego des drachenkämpfenden/-tötenden Helden als exorbitanter ›Übermensch‹/Tier- bzw. Ungeheuermensch in dysproportionaler Relation zu dessen epischer Biographisierung ein. Helden- und Ungeheuerbiographie verhalten sich also in diesen Fällen nach dem Prinzip kommunizierender Röhren. Gleichzeitig jedoch – und dies lässt sich am »Fall Fafnir-Sigurd« besonders luzide veranschaulichen – wird durch die ›Abdunklung‹ von Heldenfiguren als Folge der Explizierung der ›schwarzen‹ Seite des Helden die Drachenfigur frei für andere, z.T. auch christliche, Zuschreibungen, wodurch die paradoxe Situation einer Invertierung des ›Gut-gg.Böse‹-Antagonismus zwischen Held und Monstrum entstehen kann. Eine solche liegt bis zu einem gewissen Grad in der Beziehung zwischen dem aggressiven, hedonistischen Sigurd und dem (vor dem Fluch des Nibelungenhorts) warnenden Fáfnir vor (vgl. Teichert 2014 und die dort aufgeführte Literatur).

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Die hier skizzierten Tendenzen der altnordischen Perzeptionen von draconitas im Altnordischen hinsichtlich der sukzessiven Diabolisierung, ›Enthumanisierung‹ (in Gestalt des Verzichts auf eine anthropoide Vorgeschichte des Drachens) und Aviatorisierung lassen den mediterran beeinflussten Flugdrachen als »extreme version of the other« (Goetsch 2002: 5) und (satanisiertes) Ungeheuer erscheinen. Vor allem der Flugfähigkeit ist, entgegen seines neuzeitlich verbreiteten Rufs als ›Menschheitstraum‹, eine starke Nuance der Liminalität und des Unheimlichen inhärent, wie die im Volksglauben für Hexen und Vampire bezeugte Fähigkeit zum Fliegen ebenso belegt wie die traditionelle Assoziation von Insekten der Gattung Fliegen (Brachycera) mit dem Teufel (hebr. Beelzebub = »Herr der Fliegen«). Innerhalb der altnordischen Literatur ist der dämonische Schmied Vǫlundr (Wieland), ein Kindermörder und Vergewaltiger, in der Lage zu fliegen. Eben diese Eigenschaft der Aviatorik ist es indes, die den Flugdrachen in den Rang eines spectaculum, einer phantastischen Erscheinung, erhebt und seine signifikante Frequenz als Benennungs- und Bildmotiv in Automobilistik, Luftschifffahrt und Astronautik erklärt. Die literarische Fiktionalisierung des Automobils als Phantasticon setzt bereits bemerkenswert rasch nach seiner realtechnischen Erfindung ein, nämlich spätestens mit Gustavs Meyrinks ebenso bizarrer wie brillanter Kurzgeschichte Das Automobil (1913), in dem selbiges als groteskes und zugleich unheimliches (weil den physikalischen Gesetzmäßigkeiten, auf denen seine Konstruktion doch augenscheinlich beruht, urplötzlich und in einer entscheidenden Situation widersprechendes) Objekt inszeniert wird. In eine verwandte Richtung zielen Narrative um Horror-Automobile wie Josef Nesvadbas Erzählung Vampir Ltd. (1963), die von einem mit menschlichem Blut statt mit fossilem Brennstoff angetriebenen Auto handelt und zu den originellsten Variationen des Vampirmythos zählt, sowie Stephen Kings Bestseller Christine von 1983. Als Comic- und Filmmotiv und speziell in den in den Genres Superhelden- und (Super-)AgentenErzählungen beliebt ist das hypertechnisierte und z.T. auch beseelte ›Wunderauto‹ wie etwas das Batmobil (aus dem Batman-Franchise), Green Hornet, K.I.T.T. (aus der 1980er Trash-TV-Serie Knight Rider) oder die diversen superautomobilen Spielereien, mit denen James Bond in seinen Kinofilmen ausstaffiert wird. Realiter war der altnordische Drachenname Fáfnir, also die Bezeichnung eines flugunfähigen Kriechdrachens, in seiner eingedeutschten Form Fafnir Namenspate für eines der ältesten deutschen Automobilunternehmen, das bis 1926 bestand. Das tertium comparationis zwischen mittelalterlicher (literarisierter) Drachenvorstellung und früher Automobilistik ist wohl in erster Linie in den semantischen Bereichen ›Fremdheit‹ (weil Neuartigkeit des Automobils) und einer gewissen Unheimlichkeit oder zumindest Rätselhaftigkeit zu sehen, da die

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Funktionsweise eines Automobils – also eines wörtlich »sich selbst bewegenden« mechanischen Objekts – dem mit dieser Novität nicht vertrauten Laien zu Beginn des automobilen Zeitalters durchaus geheimnisvoll und undurchsichtig erscheinen mochte. Hinzu kommen als weiteres Motiv vielleicht das Ausstoßen von Feuer und Dampf bzw. Abgasen sowie die mit dem Anlassen und Betrieb des Motors verbundene Geräuschkulisse, die mit einiger Fantasie gedanklich mit Drachengebrüll verbunden werden mochte. Noch aussagekräftiger als derlei eher lockere assoziative Verbindungen sind die Verwendung und Rezeption von Dracomorphie als Chiffre, Benennungsmotiv, Maskierung oder Tarnung für Automobile, Schienen-/Kettenfahrzeugen und insbesondere Flugmaschinen. Zu nennen wären hier u.a. die 1848 von Henschel&Sohn vorgestellte Lokomotive Drachen; die deutschen Bezeichnungen eines Spiel- und Sportgeräts (englisch kite) sowie eines motorlosen Luftsportgeräts zur Beförderung menschlicher Lenker (englisch hang glider); die neuisländische Panzer-Bezeichnung skríðdreki (wörtlich »Kriechdrache« [sic!]); das sehr frequente Vorkommen dracophoner Bezeichnungen wie Dracon, Drakon, Draco, Dragon etc. als Namen realer und fiktiver (in der Science Fiction) Raumschiffe, u.a. in der Produktpalette des privaten US-Luft- und Raumfahrttechnikherstellers SpaceX (Dragon V1, Dragon V2, Red Dragon); als Drachen ›verkleidete‹ Fahrzeuge (so in dem James-Bond-Film Dr. No von 1962). Deutlich wird aus dieser Aufzählung, dass in derlei populären Rezeptionsmustern zu einem erheblichen Teil auf positive Eigenschaften der draconitas rekurriert wird, und zwar zum einen auf die Assoziation mit progressiv-innovativer, hochkomplexer Technologie (Raumfahrt), zum zweiten auf Aspekte wie (physische) Größe, Stärke, Robustheit und ›Unverwundbarkeit‹, und zum dritten auf Liminalität und Alienität (Sujet des Vorstoßes in neue, unbekannte Dimensionen). Eine ausgesprochen positive Perzeption des Figurentypus Drachen unter den Vorzeichen einer Verharmlosung und ›Infantilisierung‹ ist schließlich auch für die moderne Fantasy- und Kinder- und Jugendliteratur charakteristisch, in der Drachen häufig als freundliche Helferfiguren, Unterstützer von (kindlichen) Helden oder gar hilfsbedürftige Außenseiter auftreten, so etwa in Michael Endes Die unendliche Geschichte – deren Drachenname Fuchur möglicherweise nicht ganz zufällig eine gewisse phonetische und graphematische Ähnlichkeit zu Fáfnir/Fafnir/Fafner aufweist – und Jim Knopf. Aus der modernen Rezeption der (nordischen) Nibelungensage seien abschließend zwei Kuriosa vermeldet. In Harald Reinls Verfilmung von 1966/67 (vgl. hierzu Teichert 2008: 384-392) erscheint der Drache, entgegen den literarischen Vorlagen aus Nibelungenlied, Edda und Vǫlsunga saga, als feuerspeiendes Wesen mit Extremitäten. In der seit 1953 erscheinenden Comic-Serie Sigurd,

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eine Art deutsche Antwort auf Tarzan und Prinz Eisenherz, bekommen es Titelheld und Leser in Band 7 »Der Kampf mit dem Drachen« mit einem Gegner zu tun, der sehr eindeutig nach dem Vorbild eines Tyrannosaurus Rex gestaltet ist (Abbildung bei Wunderlich 1977: 104) – eine etwas abstruse, aber nicht uninteressante fiktionale Replik auf die seit dem 20. Jahrhundert zu verzeichnende ›Paläontologisierung‹ der Drachenrezeption, die das einstige Schreckens- und Fabelwesen als Fiktionalisierung urzeitlicher Säugetier- und Reptilienarten auf Basis von Fossilien- und Knochenfunden entsprechender Größe erklären (vgl. Röhrich 1981: Sp. 806-807).

LITERATUR Die Geschichte Thidreks von Bern (1924). Übersetzt von Fine Erichsen. Thule. Altnordische Dichtung und Prosa. Hg. von Felix Niedner. Band XXIII. Jena: Diederichs. Die Saga von Sigurd Thögli (1998). In: Isländische Märchensagas. Ritter- und Heldengeschichten aus Islands Spätmittelalter. Hgg. von Jürg Glauser und Gert Kreutzer. Aus dem Altisländischen übersetzt von Jürg Glauser, Gert Kreutzer und Herbert Wäckerlin. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 209-311. Ehrismann, Otfried (1987): Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung. München: Beck. Goetsch, Paul (2002): Monsters in English Literature. From the Romantic Age to the First World War. Frankfurt am Main: Lang. Heizmann, Wilhelm (2014): »Die mythische Vorgeschichte des Nibelungenhortes«, in: Millet, Victor/Sahm, Heike (Hgg.): Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period. Berlin /New York, S. 305-337. Kristeva, Julia (1982): Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York: Columbia University Press. Röhrich, Lutz (1981): »Drache«, in: Ranke, Kurt et. al. (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Band 3. Berlin/New York: de Gruyter, Sp. 787-820. von See, Klaus (1971): Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung. Frankfurt am Main: Athenäum. Teichert, Matthias (2014): »Der monströse Hero oder Wenn der ungeheure Held zum Ungeheuer wird. Zur Rezeptionsgeschichte des Figuren-Typus »Drachenkämpfer« in der altnordischen und altenglischen Literatur«, in: Millet,

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Victor/Sahm, Heike (Hgg.): Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period. Berlin/New York, S. 143-173. Teichert, Matthias (2014a): Im Kabinett des Grauens. Elemente des Fantastischen, Unheimlichen und Abjekten in der altwestnordischen Erzählliteratur In: Nedoma, Robert (Hg.): Erzählen im mittelalterlichen Skandinavien II. Wien: Praesens Verlag, S. 152-207. Teichert, Matthias (2008): Von der Heldensage zum Heroenmythos. Vergleichende Studien zur Mythisierung der nordischen Nibelungensage im 13. Und 19./20. Jahrhundert. Heidelberg: Winter. Uecker, Heiko (2004): Geschichte der altnordischen Literatur. Stuttgart: Reclam. De Vries, Jan (1961): Heldenlied und Heldensage. Bern: Francke. Wunderlich, Werner (1977): Der Schatz des Drachentödters. Materialien zur Wirkungsgeschichte des Nibelungenliedes. Stuttgart: Klett-Cotta. www.onp.ku.dk, [13.05.2017].

Wie viel Drache braucht ein Held? Andrea Schindler

Als Drache [...] gilt jedes Wesen, das im Originaltext als Drache bzw. mit einem synonymen Begriff, etwa Wurm, Wyrm, Draca, Lint, Lintdrache, Lintwurm oder dergleichen bezeichnet wird. (Rebschloe 2014: 15.)

So umschreibt Timo Rebschloe den Gegenstand seiner Studie zum »Drache[n] in der mittelalterlichen Literatur Europas« und ergänzt, dass »ggf. auch andere Kreaturen als Drachen untersucht [werden], wenn sie keine solche Bezeichnung, aber Merkmale aufweisen, wie sie vor allem Drachen zuzukommen scheinen« (Rebschloe 2014: 15). Damit ist zum einen bereits die Problematik einer Definition benannt, zum anderen auch ein Weg der Annäherung über mittelalterliche Bezeichnungen beschrieben. Was ein Drache ist, ist selbst synchron – etwa bezogen auf das 13. Jahrhundert – nicht eindeutig zu klären, eine diachrone Definition muss auf wenige Gemeinsamkeiten zurückgreifen, gleichsam den kleinsten gemeinsamen Nenner von ›Drachenfiguren‹ bestimmen. Das hat seinen Grund letztlich nicht darin, dass ein Drache ein Fabelwesen ist, sondern es liegt in der Natur der Sache: Die ›Art‹ Drache ist in ihrer Allgemeinheit ebenso wenig klar zu definieren wie die ›Gattung‹ Epik oder Drama, wesentlich leichter ist eine Beschreibung von Subgattungen oder Einzelexemplaren (etwa des Bürgerlichen Trauerspiels oder des Hungarian Horntail). Darüber hinaus ist es nur scheinbar leichter zu definieren, was etwa ein Löwe im Mittelalter ist; die Tatsache, dass wir diese Großkatze heute biologisch exakt einordnen und beschreiben können, hilft letztlich nicht, wenn es darum geht, Natur, Wesen und Bedeutung des Löwen in mittelalterlichen Texten zu bestimmen – im Gegenteil: es könnte sogar hinderlich sein.

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Bei einer Analyse von Drachen in mittelalterlicher Literatur muss demzufolge direkt auf die Texte zurückgegriffen werden. Die Crux besteht darin, dass Texte nicht nur das transportieren, was die Textoberfläche bietet, sondern auch in Bezug auf Drachen Vorstellungen eingeschrieben haben – bewusst oder unbewusst –, die ebenso eine Rolle für die Deutung der Drachen spielen. Ein Autor kann im 12. oder 13. Jahrhundert kaum über Drachen schreiben, ohne den ihm präsenten christlich geprägten negativen (teuflischen) Hintergrund mitzudenken und in sein Werk zu inskribieren. Die Trennung dessen, was im Mittelalter impliziert wurde und was wir heute herauslesen, ist nicht leicht, mitunter unmöglich. Zu Beginn der folgenden Überlegungen stehen entsprechend zwei Definitionsversuche – ein mittelalterlicher und ein philologischer. Anschließend werden einige zentrale ›Drachenkämpfer‹ der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters in den Blick genommen, wobei nach der Beschreibung der Drachen zu fragen ist – etwa danach, ob der Drache tatsächlich als liminales Wesen gekennzeichnet ist – sowie die Funktion im narrativen Gefüge umrissen und die Relation zwischen Drache und Drachenkämpfer betrachten werden sollen. Ergänzend werden solche Erzählungen von Drachen thematisiert, die von diesem (scheinbaren?) Schema abweichen.

DRACHENBILDER Dass alle mittelalterlichen Menschen an Drachen glaubten, wird wohl ebenso wenig zutreffen wie die Annahme, Drachen gehörten generell ins Reich der Phantasie. Funde von Fossilien dürften die Phantasie der Menschen durchaus angeregt haben und Berichte aus fernen Ländern taten vermutlich ein Übriges. Löwen oder Elefanten hatten sicher auch die wenigstens Leute nördlich der Alpen selbst gesehen, dennoch gab es sie. Entsprechend ›phantasievoll‹ sind auch einige Abbildungen solcher Wesen, die oft wohl weder der Maler oder Autor noch das Publikum je am ›Original‹ abgleichen konnte. Das Bild, das Konrad von Megenberg in seinem Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen Buch von den natürlichen Dingen1 von Drachen zeichnet, differiert erwartbarer Weise auch deutlich von unserem Drachenbild, das sich in der Regel an realen Tieren wie Dinosauriern oder Waranen orientiert – auch wir können unseren am Sichtbaren gebildeten Vorstellungswelten nicht entkommen:

1

Vgl. dazu grundlegend Steer, bes. Sp. 331-334.

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»Draco ist der groesten tier ains, daz di werlt hat, sam Jacobus vnd Augustinus sprechent. Daz tier hat niht vergift. Er ist gechroent auf dem haupt nach der groezzen seins leibes, reht als er ainen grozzen champ hab. Er hat ainen engen munt vnd hat chlain hals adern. Wenn er get, so rekt er sein zvngen fuer den munt. Er greint vnd ginet mit dem maul, aber er schat mit den zenden niht vil. Jdoch ist sein pizz gar schad […]. Aber der gar grozz schad chuemt niht von den zenden: er chuemt da von, daz er vergiftes dinch ist. Wen der trach mit seim zagel pint, den toet er, wan vor dem mag der grozz helfant niht sicher gesein. […] Er wont daz merertail in holen pergen vnd allermaist, da stain ruetschen sein. Daz tuot er […] auch etzwen durch der grozzer hitz willen, die von der sunnen chuemt sumer zeiten, wan dev hitz ist gar grozz in den landen gegen der sunnen aufganch, da der trach wonet. Sein stimm vnd sein geschray erschreket die læut. Sein gesiht ist so graussam den læuten, daz sie ez niht erleiden muegent vnd daz sie etwenn da von sterbent. […] Sein fluegel sint hæutein, reht als ain grozzew haut aufgespannen sey in der weis, sam div fledermaus fluegel hat in irr mauzze, aber dez trachen fluegel sint gar grozz nach der grzz seins leibes. Wa er wont, da vervnraint er den luft mit seim autem, der im auz dem hals get. Er hat ein todpringendes anhuchen oder anplasen auz seinem hals. Da mit pringt er toetleich siechtuem. Ez ist auch ainrlay trachen, der hat niht fuezz vnd slingt nevr auf der pruest an der erden, vnd ainr anderlay trachen habent fuezz, aber die sint seltzen. Adelînus spricht, daz man auz seim hirn ein stein sneyd, der haizt dracontia oder dracontides vnd haizzet ze dæutsch drachenstain […]. Aber der stain hat chain adel, man zieh in dann aus dez lebendigen drachen hirn, wan man sleht si mit aim slag vngewarnt oder vnfuersihticleich, wenn sie sumer zeiten an der sunnen ruoend, vnd sleht si durch daz haupt vnd zevht den stain her auz, wenn si dan noch chrefticleich zabelnt. Dez trachen zung vnd sein gall, gechocht in wein, sint ein ertzney den, die anvehtung habent von den poesen gaisten, wenn man ir leib da mit salbet. […] Er fuerht dez donrs galm vnd daz himel platzen mer dann chain ander tier, vnd darvmb, wenn er den donr hoert, so flivht er in dev hoelr, vnd daz ist pilleich, wan der donr ist im scheder denn chaim andern tier, sam Plinius spricht. […] Der trach wehset zwaintzig daumeln lang oder mer vnd wirt so groz, daz er sein auf sitzer gar verr fuert auf im selber, aber so er mued wirt, sô senket er sich vnd die puerd in daz mer.

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Wenn man in veriagen wil oder vorhtig machen, so nimt man ein aufgeplasen platern vnd sleht dar auf mit coralleinn gærtleinn: Den don oder daz clæppern fuerht er vnd entweicht vnd wirt gehorsam.« (BdN 2003: 296f.)2

Zusammenfassend lässt sich sagen: Drachen sind große Tiere – ausgehend von einer Daum-Elle von (minimal) 50cm ist hier die Rede von mindestens zehn Metern – mit fledermausartigen Flügeln und einem Kamm, sie haben in der Regel keine Füße, sind also schlangenähnlich (Konrad ordnet sie in seiner Systematik auch unter die »slangen« ein), haben einen tödlichen Atem und ein furchterregendes Aussehen bzw. einen Blick, 3 der kaum zu ertragen ist. Sie leben am liebsten in felsigen Höhlen (in Richtung Orient) und fürchten Lärm (realen oder imitierten Donner). Der im Kopf sitzende Drachenstein besitzt positive Kräfte4 und Teile des Drachen sind medizinisch nutzbar. Interessant ist freilich, was Konrad nicht erwähnt: ›Sein‹ Drache speit kein Feuer und hütet keine Schätze, er raubt keine Jungfrauen und wird nicht mit dem Teufel gleichgesetzt, er spricht nicht und verfügt über keinerlei magische Kräfte. Diesem Bild eines schlangenartigen Riesen-Wesens entsprechen auch viele der möglichen Bezeichnungen im Mittelhochdeutschen. Neben die schon im Zitat von Rebschloe genannten Wörter wurm, lintrache und lintwurm treten serpant oder eben tracke bzw. trache. Der ›wurm‹5 stellt ebenso wie die Tautologie ›lintwurm‹6 und das dem Lateinischen entlehnte ›serpant‹7 eine direkte Relation zu Schlangen her. Das dem Lateinischen (›draco‹) entlehnte Wort ›tracke‹ bzw. ›trache‹ geht auf Griechisch ›drakon‹ zurück, das ursprünglich ›der scharf Blickende‹ bedeutet (vgl. Kluge 1995: 191b); diese Eigenschaft des lähmenden oder sogar tödlichen Blicks verbinden wir heute eher mit der Sphinx oder dem Basilisken, doch bei Konrad wird sie auch für den Drachen erwähnt. Die Suche nach

2

Die Superskripte der Edition sind aus drucktechnischen Gründen aufgelöst.

3

Mhd. ›gesiht‹ = »das sehen, ansehen, anblicken« bzw. »ansicht, anblick« (Lexer I, Sp. 913).

4

Im entsprechenden Abschnitt über den »dracken stain« heißt es, er helfe gegen Gift, vgl. BdN, S. 480.

5

Mhd. ›wurm‹ umfasst Kleintiere wie Würmer, Spinnen und Insekten, aber eben auch »natter, schlange, drache« (Lexer III, Sp. 1008f.). Diese Bedeutungen sind auch in anderen Sprachen (bis heute) nachzuweisen, wobei es offenbar jeweils eine Spezialisierung gibt (vgl. Kluge, S. 899a).

6

lint = Schlange; vgl. Lexer I, Sp. 1929, sowie Kluge, S. 520b-521a.

7

Vgl. Lexer III, Sp. 891 (lat. ›serpens‹ = Schlange, Drache).

Wie viel Drache braucht ein Held? | 79

Drachen in der mittelhochdeutschen Literatur muss sich – wie schon Rebschloe feststellt – an diesen Termini ausrichten.8

DAS ERZÄHLSCHEMA ›DRACHENKAMPF‹ Ein Held,9 der auszieht, um ein Land und/oder eine Dame von einer Bedrohung zu befreien und dabei selbst Ansehen (mhd. êre) zu gewinnen, entspricht dem klassischen Âventiure-Schema, das v.a. in den so genannten Artusromanen greifbar ist. Der erste Drachenkämpfer in dieser Reihe ist der Artusritter Iwein im Roman Hartmanns von Aue. Auf dem Weg aus seiner (selbstverschuldeten) Krise, die ihn in den Wahnsinn und den Identitätsverlust geführt hat, wird Iwein nach seiner ersten erfolgreichen Rittertat nach der Heilung Zeuge eines heftigen Kampfes: »lûte âne mâze

Über die Maßen laut

hôrter eine stimme

hörte er eine Stimme,

clägelich und doch grimme.

jammernd und doch grimmig.

nune weste mîn her Îwein

Herr Iwein wußte nicht,

von wederm si wære under den zwein,

von wem von beiden,

von wurme ode von tiere:

Drachen oder wildem Tier, sie stamme,

er bevandez aber schiere.

aber er fand es gleich heraus.

wan diu selbe stimme wîst in

Denn eben die Stimme führte ihn

durch michel waltgevelle hin

durch einen großen Waldbruch.

dâ er an einer blœze ersach

Dort sah er, daß auf einer Lichtung

wâ ein grimmer kampf geschach,

ein grimmiger Kampf stattfand.

dâ mit unverzagten siten

Dort kämpften voller Kampfeswut

ein wurm unde ein lewe striten.

ein Drache und ein Löwe.

der wurm was starc unde grôz:

Der Drache war stark und gewaltig.

daz viur im ûz dem munde schôz.

Das Feuer schoß ihm aus dem Rachen.

im half diu hitze und der stanc,

Hitze und Gestank machten,

daz er den lewen des betwanc

daß der Löwe

8

Die darüber hinaus gehende Suche nach Wesen mit ähnlichen Eigenschaften, die Rebschloe in seiner umfassenden Studie vornimmt, wird hier ausgespart.

9

Ich verzichte hier und im Folgenden auf eine Definition des Begriffs ›Held‹; die untersuchten Drachenkämpfer werden unter diesem Begriff subsummiert ungeachtet der Gattung und des Ausganges des Kampfes.

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daz er alsô lûte schrê.«

so laut brüllte.

(I 3828-3845)

Bemerkenswert ist hier zweierlei: Zum einen wird der Drache – hier konsequent als ›wurm‹ bezeichnet – nicht nur als »starc unde grôz« beschrieben, sondern er kann Feuer speien und setzt dies offenbar äußerst erfolgreich im Kampf gegen den Löwen ein. Zum anderen wird hier zwischen ›wurm‹ und ›tier‹ unterschieden; was uns ungewöhnlich erscheint, ist für das Mittelalter eine übliche, wenn auch nicht immer eindeutig durchgehaltene Unterscheidung: Auch Konrad von Megenberg trennt die beschriebenen Wesen u.a. in ›tyr‹ (darunter fallen auf dem Land lebende Vierbeiner), ›gefuegel‹ (also Flugtiere wie Vögel oder Fledermäuse), ›vische‹ (die sowohl Krebse als auch Delphine einschließen) und eben ›slangen‹ sowie ›wurm‹ (hauptsächlich Insekten). Drachen gehören also einer (mehr oder weniger definierten) Gruppe von Wesen an und sind damit klar zuzuordnen. Iwein überlegt nun, für wen er Partei ergreifen soll: »hern Îwein tete der zwîvel wê

Herrn Iwein quälte der Zweifel,

wederm er helfen solde,

wem er helfen sollte,

und bedâhte sich daz er wolde

und er entschloß sich,

helfen dem edelen tiere.

er wolle dem edlen Tiere helfen.

doch vorhter des, swie schiere

Doch fürchtete er, sobald

des wurmes tôt ergienge,

der Drache tot sei,

daz in daz niht vervienge,

ließe es sich nicht vermeiden,

der lewe bestüende in zehant.

daß ihn der Löwe sogleich angriffe.

[...]

[...]

er erbeizte und lief den wurm an

Er saß ab und stürmte auf den Drachen los,

und sluoc in harte schiere tôt

schlug ihn gleich tot

und half dem lewen ûz der nôt.«

und half dem Löwen aus der Bedrängnis.

(I 3846-3864)

Gegen den Drachen zu kämpfen ist also keinesfalls von vorneherein die einzige Option, wenngleich Iwein seine Entscheidung offenbar schnell fällt. Der Löwe als ›edeles‹, d.h. vornehmes, herrliches Tier steht in der Werteskala eindeutig über dem Drachen, doch die potenzielle Gefahr, die von ihm ausgeht, ist wie beim Drachen nicht gering zu schätzen. Insofern beweist Iwein auf doppelte Weise seinen Mut: Er kämpf gegen den Drachen in Erwartung, dafür vom Löwen angegriffen und evtl. sogar getötet zu werden. Dieser jedoch erweist sich als wahrhaft edel und weicht seinem Retter wie ein treuer Hund von nun an nicht mehr von der Seite. Der Drache selbst wird aber nur indirekt durch die Entschei-

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dung Iweins als negativ konnotiert und in keiner Weise mit dem Teufel o.ä. assoziiert.10 Im Tristan Gottfrieds von Straßburg ist nun das beinahe ›klassisch‹ gewordene Schema ›Drachentöter gewinnt die Prinzessin‹ verwirklicht. Um für seinen Onkel Marke die irische Königstochter Isolde zu werben, tritt Tristan gegen einen Drachen an, der das Land verwüstet und für dessen Tod König Gurmun von Irland seine Tochter als Preis ausgelobt hat.11 Im Unterschied zu Hartmanns Iwein wird der Drache12 hier gleich bei der ersten Nennung als »leide[r] vâlant« (T 8909) – als ›verhasster Teufel‹ – bezeichnet; diese Verbindung zu Höllenmächten wird mehrfach wiederholt (vgl. etwa T 8976, 9052). Darüber hinaus wird die Bedrohung, die von ihm ausgeht, eindringlich geschildert: Er hat »liute unde lant / mit alsô schedelîchem schaden / sô schedelîchen überladen« (T 89108912) und er ist so stark und gefährlich, dass bereits »tûsende[ ] den lîp« (T 8920) verloren haben. Der Drache lebt tief in der Wildnis, speit Rauch und Flammen sowie »wint« (T 8975)13 und hat eine furchterregende Stimme (»egeslîch[ ]«, T 9001). Nach hartem Kampf kann Tristan aber schließlich – die Hörererwartung erfüllend – den Drachen töten und damit Isolde Tochter (für Marke) gewinnen. Auf der Handlungsebene hat Tristan damit erfolgreich als Brautwerber für seinen Onkel agiert; über das Erzählschema wird hier aber die eigentliche Be-

10 Man kann diese Passage freilich psychologisch dahingehend interpretieren, dass der sich neu findende Iwein sich für Mut und ›Ritterlichkeit‹ (eben den ›edlen‹ Löwen) und gegen den negativ besetzten Drachen entscheidet, ein close reading gibt dafür jedoch keine konkreten Hinweise. 11 »daz mære saget unde giht / von einem serpande, / der was dô dâ ze lande. / der selbe leide vâlant / der hete liute unde lant / mit alsô schedelîchem schaden / sô schedelîchen überladen, / daz der künec swuor einen eit / bî küniclîcher wârheit, / swer ime benæme daz leben, / er wolte im sîne tohter geben, / der edel und ritter wære. / diz selbe lantmære / und daz vil wunneclîche wîp / diu verluren tûsenden den lîp, / die dar ze kampfe kâmen, / ir ende dâ genâmen; / des mæres was daz lant vol. / diz mære erkande ouch Tristan wol: / diz eine starcte in dar an, / daz er der reise ie began, / diz was sîn meistiu zuoversiht, / anderes trôstes hete er niht.« (T 8906-8928). 12 Gottfried variiert die Bezeichnung von serpant (z.B. 8907) über trache (z.B. 8945) bis zu slange (z.B. 9042). 13 Vgl. das ›todpringende anhuchen‹ bei Konrad von Megenberg.

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stimmung von Tristan und Isolde füreinander einmal mehr deutlich:14 Der Drachentöter gewinnt die Prinzessin. Diese Botschaft versteht aber nur, wer das Schema (er-)kennt. Im Wigalois Wirnts von Grafenberg schließlich wird dieses Muster potenziert. Auch für Wigalois geht es um die Befreiung einer Dame und ihres Landes, doch der Drache Pfetan ist nur eines von vielen (meist ebenso schrecklichen) Hindernissen auf diesem Weg. 15 Die ausführliche Beschreibung des Drachen – den Wigalois freilich besiegt (wenn auch zu einem hohen Preis) – ist allerdings einzigartig: »sîn houbt was âne mâze grôz,

Sein Haupt war maßlos groß,

swarz, rûch; sîn snabel blôz,

schwarz, behaart, sein bloßes Maul

eins klâfters lanc, wol ellen breit,

maß einen Klafter in der Länge, eine Elle in der

vor gespitzet, unde sneit

Breite und schnitt, vorn spitz zulaufend,

als ein niuwesliffen sper;

wie eine frisch geschliffene Lanze;

in sînem giele hêt er

in seinem Rachen hatte er

lange zene als ein swîn;

Zähne so lang wie die eines Ebers;

breite schuopen hürnîn

breite Hornschuppen

wâren an im über al;

bedeckten ihn überall;

von dem houbet hin ze tal

vom Kopf den Rücken hinab

stuont ûf im ein scharfer grât,

zog sich ein hoher scharfer Grat

als der kokodrille hât,

wie bei einem Krokodil,

dâ er die kiele kliubet mit;

das damit die Schiffe von unten zersägt.

der wurm hêt nâch wurmes sit

Der Drache besaß nach Drachenart

einen zagel langen;

einen langen Schwanz;

dâ mit hêt er bevangen

damit hielt er

vier rîter lussam . . . «

vier anmutige Ritter umschlungen . . .

(W 5028-5044)

14 Bereits der Prolog lässt keinen Zweifel daran und Gottfried setzt immer wieder Signale, die dies bestätigen, etwa in den herausragenden musikalischen Fähigkeiten seiner beiden Protagonisten. 15 Der Held trifft beispielsweise auf das Waldweib Ruel, das ihn töten will, auf den Zentaur Marrîen und zuletzt auf den Teufelsbündler Roaz. Der Drachenkampf ist allerdings auch ganz konkret mit der Rettung einer Dame bzw. von deren »liebe[m] man« (W 4948) verbunden.

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»einen kamp hêt er als ein han,

Er hatte einen Kamm wie ein Hahn,

wan daz er ungevüege was;

nur daß er gewaltig war;

sîn bûch was grüene alsam ein

sein Bauch war grasgrün,

gras,

seine Augen rot, die Seiten gelb.

diu ougen rôt, sîn sîte gel;

Der Drache war von oben nach unten kegelförmig

der wurm der was sinwel

zulaufend

als ein kerze hin zetal;

(geformt) wie eine Kerze;

sîn scharfer grât der was val;

sein scharfer Grat war gelb;

zwei ôren hêt er als ein mûl;

seine Ohren waren wie die eines Maultiers;

sîn âtem stanc, wand er was vûl,

sein Atem war übelriechend, denn er war faulig,

wirs dan ein âs daz lange zît

schlimmer als bei Aas, das lange Zeit

an der heizen sunnen lît;

in der Sommerhitze liegt.

ouch hêt er vil unsüeze

Außerdem hatte er sehr unförmige

als ein grîfe vüeze,

Füße wie ein Greif;

die wâren rûch als ein ber;

sie waren behaart wie bei einem Bären;

zwei schœniu vetiche hêt er

zwei schöne Flügel hatte er,

gelîch eins pfâwen gevider;

die wie Pfauenfedern schillerten;

sîn hals was ihm vil nider

sein Hals bog sich fast

gebogen ûf daz grüene gras;

bis an das grüne Gras nieder.

sîn drozze gar von knurren was,

Seine Kehle war ganz

als ein steinbockes horn.«

wie aus dem Horn eines Steinbocks gemacht.

(W 5055-5074)

Dieser Drache scheint aus Versatzstücken verschiedener Tiere zusammengesetzt zu sein; dabei kommt er – abgesehen vielleicht von der Farbigkeit – unserem Drachenbild schon recht nahe, wie auch mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Abbildungen zeigen.16 Auch Pfetan ist teuflisch konnotiert, wenn auch nicht direkt durch den Erzähler, sondern durch Wigalois’ Gottesfurcht und seine Worte, in denen er den Drachen mehrfach als »tievel« bezeichnet (W 5080, 5084). Die drei Beispiele zeigen, dass ein Drache in einem solchen (höfischritterlichen) Erzählkontext durchaus ähnlich wie ein ›Erzählkern‹ funktioniert. Als ›Erzählkern‹ bezeichnet Jan-Dirk Müller

16 Vgl. etwa die Holzschnitte in der Prosaauflösung, z.B. im Druck Straßburg 1519 (http://digital.onb.ac.at/OnbViewer/viewer.faces?doc=ABO_%2BZ17931010X, 02.2017).

22.

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»die regelhafte Verknüpfung eines Themas bzw. einer bestimmten thematischen Konstellation (die ihrerseits ihre Wurzel in übergreifenden kulturellen Konstellationen hat) mit einem narrativen Potential, aus dem verschiedene narrative Konfigurationen generiert werden können.« (Müller 2007: 22)

Tritt ein Drache in einem solchen Roman in Erscheinung, ist damit zu rechnen, dass der Held gegen ihn antritt und ihn besiegt. Insofern scheint das ›narrative Potential‹ festgelegt zu sein – in den Worten Andreas Hammers: »Der Kampf dient vor allem dem Zweck, dem Helden einen Gegner zu verschaffen, an dem er seine Fähigkeiten, sein heroisches Potential, erproben kann […]« (Hammer 2010: 143) –, eine »narrative Entfaltung« (Müller 2007: 22), die Müller als zentral für Erzählkerne beschreibt, wäre nicht zu erwarten. Liminal sind diese Drachen dann weder in ihrer Beschreibung noch in ihrer narrativen Funktion – das Ende ist von vorneherein bekannt, der Sieg des Helden steht außer Frage und damit auch der Tod des Drachen. Ein Blick auf die Relation von Drache und Ritter bzw. auf die Funktion des Drachenkampfes in den Texten macht dennoch etwa deutlich: Der Drachenkampf hat offenbar etwas mit der ›Identität‹ 17 des Helden zu tun. »Iwein muss nach seinem Wahnsinn und der Heilung nach seinem Namen auch einen Weg aus seiner (selbstverschuldeten) Krise finden und sich als Ritter wieder etablieren. Der Drachenkampf führt dazu, dass er im geretteten Löwen einen treuen Begleiter hat und im Folgenden als ›Ritter mit dem Löwen‹ bekannt wird, also eine neue (Zwischen)Identität erhält und so »die Reintegration des Helden in die Gesellschaft« (Hammer 2010: 161) beginnen kann. Tristan erringt mit dem Drachenkampf die ihm als Bestem bestimmte Schönste, die Prinzessin Isolde, und geht damit mit dieser (vorläufig letzten) Rittertat einen großen Schritt auf dem Weg zu seiner (eigentlichen) Identität als Liebender. Wigalois wird nach dem Drachenkampf, als er ohnmächtig ist, von Fischern seiner Kleidung und damit aller Standes- und Identitätszeichen beraubt und glaubt schließlich, sein früheres Leben sei nur ein Traum. Erst eine junge Dame kann ihm alles wieder als Realität ins Gedächtnis rufen« (vgl. W 5791ff.).

17 Ich verzichte hier auf eine Diskussion dieses Begriffs im Kontext mittelalterlicher Literatur; die angesprochenen Phänomene beziehen sich auf konkrete ›Identitätsmarker‹ wie Namen, Beinamen oder aber die einer Figur untrennbar zugehörige Geschichte.

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Hier entfalten sich nun tatsächlich verschiedene »narrative Verläufe« (Müller 2007: 22.), obwohl das Thema der Identität ihnen gemeinsam ist: Iwein erreicht mit dem Sieg über den Drachen eine gewissermaßen liminale Identität, die es ihm ermöglicht, letztlich seinen Platz in der Gesellschaft wieder einzunehmen; Tristan wird durch den Drachenkampf in letzter Konsequenz zu dem ›liebenden Tristan‹, der er – wie es der Prolog sagt – immer sein sollte; und Wigalois schließlich verliert vorübergehend seine Identität und muss ihrer von außen erst wieder versichert werden. Der Erzählkern ›Drache‹ ist, ausgehend von diesen Texten, mit den Themen ›Identitätssuche‹, ›Identitätsgewinn‹ und ›Identitätsverlust‹ verbunden, markiert also – symbolisiert in der Exorbitanz des Gegners – jeweils Schwellenzustände der Helden.

DAS SPIEL MIT DEM SCHEMA Die mittelalterliche deutsche Literatur bietet aber durchaus auch einige ›andere‹ Drachengeschichten. Mit dem Ortnit und dem Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven sollen zwei Geschichten in den Blick genommen werden, die sich dem gezeigten Schema bzw. der Relation von Drachenkampf und Identitätsthematik entziehen oder diese verkehren. Zunächst zum Lanzelet. Dieser Artusroman fügt sich nicht in die verbreiteten Schemata – etwa der Doppelwegstruktur – und erzählt ohne (bekannte) französische Vorlage eine völlig andere Lanzelot-Geschichte als die bekannte Ehebruchsgeschichte zwischen König Artus, Ginover und eben Lanzelot. Lanzelet durchlebt keine Krise, dafür muss er von Beginn an nach seinem Namen und damit nach seiner Identität suchen. Nachdem er die nötigen Kämpfe bestanden hat, am Artushof in die Tafelrunde aufgenommen wurde und mit der ihm an Tugendhaftigkeit ebenbürtigen Iblis zusammengekommen ist, bricht er erneut auf, um eine ›âventiure‹ zu bestehen, die ihm Iblis zuvor beschreibt. Ein ihr bekannter Ritter sei in einen »wilden foreht« (L 7845) geritten: »dâ vant der selbe guote kneht

[Da] [fand] er einen gewaltigen Drachen […],

einen grôzen wurm, der was gebart,

schrecklicher anzusehen

daz nie tier sô vreislich wart.

als jedes andere Tier.

er sprach rehte als ein man.

Nun verfügt der Drache über eine menschliche

er ruofte den recken dicke an,

Stimme

daz ern durch got kuste.

Und bat den Helden wieder und wieder,

den degen des niht geluste,

ihm doch um Gottes willen einen Kuss zu geben.

er dûht in ungehiure.«

Dem Helden war aber gar nicht danach zumute,

(L 7846-7853)

denn das Tier erschien ihm gar zu schrecklich.

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Eine außergewöhnliche Drachen-Âventiure! Lanzelet will sie selbstredend bestehen, reitet zum Drachen, findet ihn so schrecklich vor, wie beschrieben, und wird von dem ›Ungeheuer‹ ebenfalls angefleht, es zu küssen. Verwundert fragt Lanzelet den Drachen: »wannen kom dir menschlich stimme?« (L 7897) Ebenso erstaunlich wie die Sprachbegabung des ›serpants‹ (auch ›wurm‹ kommt als Bezeichnung vor) ist dessen Antwort: Er sei eines von Gottes zahlreichen Wundern. Lanzelet erweist sich (erneut) als »der beste ritter, der nu lebet« (L 7921), indem er den Drachen küsst. Dieser zieht sich zurück – und verwandelt sich in »daz schœneste wîp« (L 7938) der Welt. Elidia von Thile – so ihr Name – wurde wegen ›valscher minne‹ zur Strafe in einen Drachen verwandelt. In dieser etwas anderen ›Froschkönig‹-Geschichte wird der Drache vom Helden nicht besiegt und ist damit auch kein Marker für dessen Identitätsgewinn oder -verlust (es wird lediglich bestätigt, was schon bekannt ist, dass Lanzelet der beste aller Ritter ist), sondern er ist selbst der liminale Zustand, in dem sich Elidia befindet und aus dem sie durch Lanzelet befreit wird: Nach der beendeten Strafe für ›valsche minne‹ »bleibt [sie] am Artushof als Richterin in Minnefragen« (Neugart: Sp. 64.) und hat damit die offenbar erwünschte Entwicklung vollzogen. Die Geschichte des Königs Ortnit vom Lamparten (der Lombardei) scheint zunächst ganz dem gängigen Schema zu folgen bzw. dieses nur leicht abzuwandeln: Ortnit wirbt um die Tochter des Königs Machorel von Syrien; es ist eine gefährliche Brautwerbung, denn der Vater will seine Tochter nicht freigeben. Mit List und Kampfkraft und auch ein bisschen magischer Unterstützung kann Ortnit seine Braut (mit deren nachträglichem Einverständnis) in sein Reich entführen. Machorel sinnt auf Rache: Als Geschenk getarnt, schickt er Dracheneier an Ortnits Hof und sorgt mittels seines Boten dafür, dass diese auch im Lande Ortnits schlüpfen. Auch hier wird damit der Drache mit dem Erwerb einer Dame verbunden, wenn auch der Drachenkampf nicht Bedingung, sondern Folge der Werbung ist. Die Drachen verwüsten nun das Land und vermehren sich, die Ritter Ortnits sind machtlos, sodass er schließlich selbst loszieht. Keine Warnung kann ihn davon abhalten; er erhält allerdings eine unzerstörbare Rüstung und den Rat des Vaters, keinesfalls einzuschlafen. Nach mehreren schlaflosen Tagen und Nächten, in denen Ortnit keine Spur der Drachen finden konnte, schläft er schließlich doch ein – und wird von einem Drachen gefunden. Ortnits treuer Hund, der ihn begleitet, versucht ebenso verzweifelt wie erfolglos, seinen Herrn zu wecken: »Der hunt wolt in peizzen,

do er het den wrm vernomen:

do mocht er vor dem helm nicht zu dem haubet chomen. der wrm ungeheur

racht seinen snabel her fur:

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sein munt wart weiter

dann ein mæzzigeu tuer.

Untz an die sporn paide

den ritter er verslant.

daz chom von den schulden, dem chleinen hundelein

daz er in slaffunde vant.

wolt er sam haben getan.

er ramt sein mit dem zagel:

der prache im chaume entran.

Dem wrm waz von dem paum gein der stainwende gach. durch seines herren trewe untz fur daz gepirge,

lief er dem wrm nach

da sein geniste waz.

do vorcht auch im der prache

und getorste nicht furbaz.

Die jungen heten dar inne

vor hunger grozz not.

swi er unverhauwen wær,

doch must er ligen tot.

er trug in seinen chinden

in einen holn perch:

die mochten in nicht gewinnen

und saugten in durch daz werch.«

(O 571-574)18

Ortnit, der zu Beginn des Textes als größter König seiner Zeit gerühmt wird (vgl. O 3,1f.) und unbestrittener Herrscher und bester Kämpfer ist, endet ziemlich unrühmlich als eine Art mittelalterliches Dosenfutter für Jungdrachen. Die Drachen erweisen sich weniger als liminal, sondern vielmehr als letal für den Helden. Folgt man Walter Kofler, dann ist Ortnits Scheitern »die geradezu zwingende Konsequenz einer ungebührlichen Machtanmaßung« (Kofler 2003: 135) und entsteht aus vorherigem Fehlverhalten und Selbstüberschätzung und die Drachen symbolisieren letztlich diese Unfähigkeit Ortnits. Dennoch schmälert dies in der

18 Der Hund wollte ihn beißen, als er den Drachen hörte: / Da konnte er wegen des Helmes den Kopf nicht erreichen. / der schreckliche Drache reckte seinen Schnabel: / Sein Maul wurde größer als eine kleine Tür. // Bis zu beiden Sporen verschlang er den Ritter. / Das kam deswegen, weil er ihn schlafend fand. / Das kleine Hundchen wollte er ebenso verschlingen. / Er zielte mit dem Schwanz nach ihm: Der Bracke entkam nur knapp. // Der Drache eilte von dem Baum zur Felswand. / Der Hund lief ihm aus Treue zu seinem Herren nach / bis zum Gebirge, wo das Drachennest war. / Da fürchtete auch der Bracke den Drachen und traute sich nicht weiter. // Die Jungen im Nest litten großen Hunger. / Obwohl Ortnit unverwundet war, musste er sterben. / Der Drache trug ihn seinen Jungen in die Höhle: / Die konnten ihn nicht aus der Rüstung holen und saugten ihn heraus. (Übersetzung A.S.)

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Rezeption Ortnits ›Heldenstatus‹ nicht: In der historischen Dietrichepik wird seine Geschichte in einer recht ausführlichen Inhaltsangabe erzählt – bis hin zum Tod durch die Drachenbrut. Dabei wird immer wieder betont, dass Ortnit »biderb« (DF 2039) sei, »manheit« (DF 2040) besitze, sein Ansehen stets mehre (vgl. DF 2100f.) und ein ausgesprochen großer Kämpfer sei (vgl. DF 2115). Während aber für Ortnit offenbar schon ein Drache zu viel ist, gibt es einen mittelalterlichen Helden, bei dem sich im Lauf der Zeit das Motiv des Drachentöters beinahe zu verselbständigen scheint: Siegfried. In dem um 1200 verschriftlichten Nibelungenlied wird der Kampf Siegfrieds gegen einen Drachen nicht dargestellt. Wir erfahren lediglich vom wissenden Hagen bei Siegfrieds Ankunft in Worms, dass dieser den Nibelungenhort errungen und zwölf Riesen, ›siben hundert recken‹ (NL 94,4), die Nibelungenkönige Schilbunc und Nibelunc erschlagen sowie Alberich die Tarnkappe abgenommen habe, und Hagen fährt fort: »Noch weiz ich an im mêre, einen lintrachen

daz mir ist bekant.

den sluoc des heldes hant.

er badet’ sich in dem bluote: des snîdet in kein wâfen;

sîn hût wart hurnîn.

daz ist dicke worden scîn.«

(NL 100)

Wichtig ist der Drache – der aus der nordischen Tradition in der mündlichen Überlieferung dem Publikum sicherlich bekannt war – letztlich indirekt durch die Hornhaut Siegfrieds, die ihm das Bad im Drachenblut verschaffte und die ihn (fast) unverwundbar macht. Der Sieg über den Drachen manifestiert damit seinen Status als exorbitanter Held (der er freilich schon vorher ist). Die Figur des Siegfried ist untrennbar mit dem Drachenkampf verbunden – Siegfried ›verkörpert‹ den Sieg gewissermaßen und nimmt die eigentlich dem Drachen zugeschriebene Eigenschaft der Unverwundbarkeit an. Im Spätmittelalter bzw. in der Frühen Neuzeit wird in einer Art inhaltlichem und narrativ-motivlichem Zoom der Drachentöter Siegfried ins Zentrum einer Erzählung gestellt und – in deutlicher Anlehnung an schon erwähnte narrative Verläufe und Erzählschemata – mit dem Erwerb Kriemhilds kombiniert, der im Nibelungenlied in keinerlei Verbindung zum Drachenkampf steht.

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Das Lied vom hürnen Seyfrid19, das im 16. und 17. Jahrhundert mehrfach gedruckt wurde, erzählt – angelehnt an die nordische Tradition20 – zunächst Seyfrids Jugendgeschichte, in der er bereits mehrere Drachen tötet: Der Schmied, bei dem er aufwächst und den er drangsaliert, schickt ihn in den Wald zum Köhler in dem Wissen, dass auf dem genannten Weg ein grausamer Drache seinen Aufenthaltsort hat. Seyfrid tötet diesen kurzerhand, kommt ein Stück weiter »in ein gwilde / Da so vil Trachen lagen / Lindtwuerm, Kroetten und Attern« (HS 8,13), wie er nie zuvor gesehen hat. Doch auch diese »Vermehrung der Gegner zu einer außergewöhnlich großen Ansammlung von Giftreptilien verschiedener Art« (Kreyher 1986: 47) kann Seyfrid bestehen: Er errichtet über diesen einen Scheiterhaufen und verbrennt sie; die durch die Hitze flüssig gewordene Hornhaut verschafft Seyfrid seine Unverwundbarkeit. Schließlich erfährt er, dass Krimhilt (die er von früher kennt) von einem Drachen entführt wurde, und will sie retten. Nach einem mehrfach wieder aufgenommenen Kampf gegen einen Riesen und mit Hilfe eines Zwerges kann Seyfrid auf den Felsen gelangen, auf dem Krimhilt gefangen gehalten wird. Der Drache kommt mit 60 weiteren Drachen, die der kampfbereite Held aber in die Flucht schlagen kann. Er tötet schließlich seinen Widersacher und kann Krimhilt heiraten.21 Dieses (wie Horst Brunner es nicht ganz zu Unrecht nennt) »ästhetisch geringwertige[ ] Gedicht[ ]« (Vgl. dazu Brunner 1983: Sp. 322), hat deutlichen Unterhaltungscharakter; durch die Vervielfältigung der Drachen verliert dieses Motiv seinen zentralen Wert für die Zeichnung des Protagonisten bzw. für das Erzählschema der gefährlichen Brautwerbung. Seyfrid ist als Drachentöter etabliert und wird über diese Funktion rezipiert – das zeigt nicht zuletzt »das Attribut ›hürnen‹«, das im Spätmittelalter »als fest mit seinem Eigennamen verbundenes persönliches Epitheton« (Kreyher 1986: 49) gilt.22 Liminal sind weder Seyfrid noch die Drachen, auch wenn zum einen der Drache, der Krimhilt entführt, eigentlich ein verfluchter

19 Vgl. dazu Brunner, Sp. 317-326. Die Superskripte der Edition sind aus drucktechnischen Gründen aufgelöst. 20 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Kreyher. 21 Die Anschlüsse an die Nibelungensage werden immer wieder deutlich gemacht durch Vorhersagen von Seyfrids, Krimhilts und der Burgunden Ende. 22 »[D]ie Geschichte der Entführung Krimhilts durch den Drachen und ihrer Befreiung [hat] um 1400 schon existiert« (Brunner, Sp. 321), mehr lässt sich über den Entstehungszeitpunkt allerdings nicht sicher sagen. Die Wirkung des Hürnen Seyfrid ist allerdings deutlich: Neben einer ›Volksbuchfassung‹ hat u.a. Hans Sachs den Stoff in eine ›Tragedie‹ verwandelt (vgl. Brunner, Sp. 324-326).

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Mensch ist, der aber keine Möglichkeit der tatsächlichen Überwindung dieses Zustandes hat, und zum anderen Seyfrid durchaus eine Entwicklung zugeschrieben wurde vom nicht in die Gesellschaft integrierbaren jungen Mann zum Ehemann und Landesherren (Vgl. dazu Brunner 1983: Sp. 323), was man aus dem Text freilich extrahieren kann, was aber gewiss nicht im Vordergrund steht. Während die Siegfried-Gestalt von Beginn an mit dem Drachenkampf verbunden ist, wird dem Heiligen Georg dieser erst im Laufe der Zeit zugeschrieben.23 Im althochdeutschen Georgslied wird sein dreifaches Martyrium berichtet und auch die Georgslegende des Reinbot von Durne kennt keinen Drachenkampf; erst über die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine wird die an den antiken Perseus und Andromeda-Mythos erinnernde Episode greifbar,24 die letztlich Eingang in die Spiel-Tradition findet (etwa im Augsburger Georgsspiel) und natürlich in die Ikonographie. Wie Andreas Hammer deutlich macht, wird hier das Schema ›Held tötet Drache und erringt Dame‹ durch das legendarische Keuschheitsgebot für den Heiligen unterlaufen, sodass es nicht zu einer Heirat kommen kann; »seine Aufgabe ist mit der Erlösung und Taufe von Königstochter und Bevölkerung erfüllt« (Hammer 2010: 177).

FAZIT Der ›Erzählkern‹ Drache ist als solcher in der mittelalterlichen deutschsprachigen Literatur sowohl im höfischen Roman als auch in der Heldenepik zu fassen. Dabei ist zum einen zu konstatieren, dass gerade im höfischen Roman häufig eine Relation zwischen dem Drachenkampf und der Identität (bzw. der Entwicklung) des Helden besteht, dass dies aber zum anderen auch direkt unterlaufen werden kann. Die Drachen selbst sind in der Regel nicht liminal, sie sind zwar höchst gefährlich und daher für die ultimative Prüfung des Helden bestens geeignet, sie verfügen aber nicht über menschliche oder magische Eigenschaften und stehen damit nicht zwischen den Gattungen (Mensch/Tier) oder den Welten (magisch/nicht magisch). Der Drachenkämpfer jedoch beendet durch den Kampf eine Schwellenphase oder beginnt sie (oder beides wie Iwein). Dies wird im

23 Vgl. zu heiligen Drachentötern den Beitrag von Norina Auburger in diesem Band. 24 Diese Verknüpfung stammt aber vermutlich bereits aus dem 12. Jahrhundert, vgl. Schwarz, S. 85f. Stephen K. Wright konstatiert noch 2008: »The origins of the tale are hopelessly obscure« (Wright, S. 52).

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Lanzelet durch die Verzauberung Elidias in den Drachen verkehrt; durch Lanzelets Mut kann sie erlöst werden und den Status der Liminalität verlassen. Erzählkerne können dann (besonders) produktiv werden, wenn sie in der jeweiligen (literarischen) Kultur verankert sind, d.h. wenn mit ihnen eine gewisse Erwartungshaltung verbunden wird; dass dies der Fall war (und ist), zeigt das Scheitern Ortnits, der das bekannte Schema trotz immer wieder gerühmter höchster Helden-Qualitäten nicht zu erfüllen im Stande ist. Ein Nachfolger wird freilich in Wolfdietrich gefunden, sodass am Ende alles wieder seine (narrative) Ordnung hat. Die Freude und das Interesse an Drachen bzw. dem Drachenkampf zeigen die Entwicklungen der Siegfrieds- und der Georgsfigur in ganz unterschiedlichen Kontexten. Der Heilige Georg ›braucht‹ offenbar auch einen Drachen, um ein heiliger Held zu werden (das dreifache Martyrium ist heute kaum noch bekannt) und Siegfried kann schließlich nicht genug Drachen bekommen. Insofern lautet die Antwort auf die ›Titelfrage‹: mindestens einen.

LITERATUR Brunner, Horst (1983): »Hürnen Seyfrid«. Verfasserlexikon. Hg. von Kurt Ruh u.a. Bd. 4, 2. Sp. 317-326. Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe (2003). Hg. von Elisabeth Lienert und Gertrud Beck. Tübingen: Max Niemeyer. (Sigle DF). Gottfried von Straßburg (2004): Tristan. Bd. 1: Text. Hg. von Karl Marold. Unveränderter fünfter Abdruck nach dem dritten, mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten kritischen Apparat besorgt und mit einem erweiterten Nachwort versehen von Werner Schröder. Berlin, New York: de Gruyter. (Sigle T). Hammer, Andreas (2010): »Der heilige Drachentöter: Transformationen eines Strukturmusters«. Helden und Heilige: Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters. Hg. von Andreas Hammer und Stephanie Seidl in Verbindung mit Jan-Dirk Müller und Peter Strohschneider. Heidelberg: Winter, 143-179. Hartmann von Aue (2001): Iwein. 4., überarbeitete Auflage. Text der siebenten Ausgabe von G.F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff. Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer. Berlin, New York: de Gruyter. (Sigle I). Kluge, Friedrich (1995): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 23., erweiterte Auflage. Berlin, New York: de Gruyter.

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Play (ca. 1486) «. Research opportunities in medieval and Renaissance drama 47: 51-71.

Mensch und Monster Der Drache als Spiegel des Eigenen. Beispiel einer Figuration Matthias Langenbahn

DER DRACHE – EINE DICHOTOMIE? Ist dank der modernen Fantasy der Drache in der Alltagskultur längst kein unbekanntes Wesen mehr, so stellt sich doch die berechtigte Frage nach seinem Wesenskern. Es genügt längst nicht mehr, den Drachen bloß als eine mythische Figur wahrzunehmen. Besonders die Breite der Kinder- und Jugendliteratur demonstriert, dass Drachen bereits früh in der imaginativen Lebenswelt der Menschen integriert werden.1 Diese tragen so nicht nur entscheidend zur Auseinandersetzung mit dem Drachen als fantastisches Element bei, sondern eröffnen im Kontext der Literatur- und Kulturwissenschaft darüber hinaus auch die Perspektive, den Drachen nicht alleinig als literarische Figur oder bloßes Sinnbild einiger Genretypisierungen anzusehen. Dieser Beitrag sieht sich bemüht, eine ebensolche Perspektive auf den Drachen aus dem Umfeld der Literatur- sowie Kulturwissenschaften zu schaffen, in der das fantastische Wesen des Drachen ebenso zur Geltung kommt wie seine kulturtheoretische und interkulturelle Dimension als Ausdruck zutiefst menschlicher Wesenszüge und Verhaltensweisen. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Drache nicht bloß als Variable zwischen anderen gleichberechtigten Figuren

1

Insbesondere wohlwollend oder humorvoll dargestellte Drachenfiguren aus dem Bereich der Kinderliteratur zeigen dies explizit auf, vgl. Bonacker 2009.

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zu positionieren ist, sondern ihm im Kontext einer solchen Positionierung eine entscheidende Sonderstellung zugestanden werden darf.2 Eine grundsätzliche Vorstellung des Drachen als fantastisches, mythologisches Wesen darf nicht versäumen, die Vielzahl von Unterschieden in der Darstellung und Figuration des Drachen zumindest rudimentär zu betrachten. Dazu gehört auch, die teilweise signifikanten Unterschiede zwischen verschiedenen Vorstellungen des Drachen aus unterschiedlichen Kulturkontexten heraus zu beachten. Zeugnisse von außereuropäischen Drachenbildnissen aus etlichen Kulturen zeigen, dass der heute weithin bekannte Drachentypus oftmals eine Archetypisierung bestimmter realer, jedoch mythifizierter Inhalte darstellt (vgl. Rebschloe 2014: 382). Um dieser Figuration zunächst zwei fokussierende Positionen zuzugestehen, wird im Folgenden die Unterscheidung zwischen einem europäisch-westlichen und einem asiatisch-östlichen Drachen gemacht, in denen etliche Charakteristika der modernen Drachenfigur bereits angelegt sind (vgl. Rebschloe 2014: 15). Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass diese bloß eine Auswahl von Deutungen und Motiven der Drachensymbolik darstellen; es ist an dieser Stelle auf die Vielfalt von aztekischen, australischen sowie babylonischen und indischen Manifestierungen des Drachen zu verweisen (vgl. Honegger 2009).

POSITIVE SYMBOLFIGUR? DER ÖSTLICHE DRACHE Im asiatischen, insbesondere chinesischen Kulturkontext stellt der Drache seit jeher eine Verkörperung hoher Ideale sowie gemeinhin angesehener Tugenden dar (Röhrich: Sp. 789). Steht der Drache hier als Symbol für Langlebigkeit, materiellen Wohlstand sowie gesundheitliches Wohlbefinden, so ist er vor allem durch seinen unmittelbaren Zusammenhang mit der kaiserlichen Herrschaftswürde (seit der Sung-Zeit, ca. 960-1279) in China bekannt (Röhrich: Sp. 789). Doch der Ursprung des asiatischen Drachen reicht weitaus tiefer. Der chinesische Drache Lóng steht als wirkungsmächtige Symbolfigur einerseits für eine mythologische, auf eine nicht sinnlich wahrnehmbare Erscheinung verweisende natürliche Ordnung. Demnach lässt sich der Drache als ein zugleich mehrteiliges Wesen begreifen: Einerseits in Form einer elementaren Unterschei-

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Begründet durch Hervorhebung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ist die Figur des Drachen potentiell in der Lage, Sinnbild für Konflikte sowie steten Wandel und Veränderung zu sein, siehe: Rebschloe 2014: 388.

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dung zwischen dem Feuer- und dem Wasserdrachen, denen jeweils inhärente Charaktereigenschaften der menschlichen Psyche sowie der physikalischen Naturgesetzmäßigkeiten zugeschrieben werden (De Visser 1913: 42), andererseits als eine Personalisierung menschlicher Wünsche und Hoffnungen, die mit direkter oder indirekter Zuwendung und Verehrung verbunden sind. Abseits davon ist der Drache jedoch nicht bloß eine wohlwollende Figur, sondern verkörpert zudem Gefährlichkeit, Angst und unberechenbare Gewalt (De Visser 1913: 38). So werden einige lokale Gottheiten oder auch der jeweilige herrschende Kaiser, insbesondere in der unmittelbaren Nachfolge der Zeit der streitenden Reiche (De Visser 1913: 42f.), mit dem Drachen gleichgesetzt bzw. als ein solcher dargestellt. Diese allgemein positive Konnotation des Drachen wird jedoch aus dem gleichem kulturellen Umfeld auch durch negative Darstellungen ergänzt, die den Drachen als Vorboten oder unmittelbaren Bringer von Unheil, etwa Naturkatastrophen gleichsetzen (De Visser 1913: 38). Dies betont seine Ambivalenz selbst unter positiv bemessenen Deutungen, da somit neben Ehrfurcht und Weisheit auch drohendes Unheil von der Figur des Drachen ausgehen kann. Dass der Drache jedoch generell ein positiv besetztes Symbol bildet, zeigt unter anderem auch der Vermerk: »the dragon belonged to the six symbolic figures painted on the upper garment of the emperor« (De Visser 1913: 39), wo er neben Schildkröte, Phönix und dem Einhorn als Beispiel für eine Integration von Fabelwesen in die reale Tierwelt genannt werden kann. De Visser betont vor allem in späteren chinesischen Texten den Kontrast zwischen dem himmlischen Prinzip, für das der Drache stellvertretend angenommen wird, sowie dem irdischen Prinzip, für das der Tiger eine zentrale Figur sein kann. »The tiger [...] is the god of the mountains and woods, as the dragon is the divinity of water and rain« (De Visser 1913: 109), was zugleich als eine potenzielle Kontrastierung für die Deutung steht, den Drachen als »ein altes Symbol für Verwandlung und Anpassungsfähigkeit« (Shaughnessy 2001: 7) wahrzunehmen. Wichtiger jedoch ist, dass der Drache »eine Personalität besitzt, inklusive alle[r] menschliche[r] Emotionen und Charaktereigenschaften« (Yanting 2001: 62). Dies positioniert ihn somit auch im Feld der trans- sowie interkulturellen Kommunikation, wobei sich zeigen lässt, dass es im Variationsreichtum der Drachendeutungen kaum zu einem einheitlichen Drachenbild kommen kann. Als ambivalentes Prinzip, dessen Grundstruktur jedoch eher dem positiven Deutungsgrad beizumessen ist, steht der Drache im ostasiatischen Raum nicht zuletzt auch für die fortwährende Erneuerung, zudem ist er als ein die Kunst schätzendes Wesen bekannt, dessen hortbewachender Charakterzug deutlich ausgeprägt ist (vgl. De Visser 1913: 68). Dies zeigt sich in der westlichen Dra-

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chenfigur fortgesetzt, wo sie, wie innerhalb moderner Literatur explizit aufgezeigt werden kann, zu einem zentralen Charakteristikum des westlichen Drachens wird.

TEUFELSSYMBOL? DER WESTLICHE DRACHE Vor allem in der Literatur des mittelalterlichen Europa erhält der Drache das oftmals recht unspezifische Attribut, ein Vorbote des Bösen, genauer der teuflischen Kräfte auf Erden zu sein.3 Diese Wahrnehmung vertieft sich bis hin zu einer Gleichsetzung mit dem Teufel selbst, den das vorherrschende, christliche Menschenbild des europäischen Mittelalters4 stark in den Vordergrund rückt. Diese Auslegung provoziert zudem die Frage, was nach historisch-literarischen Kriterien als Drache verstanden werden darf. Als Drache im Sinne dieser Betrachtung kann nahezu jedes Wesen gelten, welches in einer jeweiligen Quelle als solcher bezeichnet wird oder mit den Alternativen »Wurm, Schlange, Wyrm, Draca, Lint, Lintdrache, Lintwurm oder dergleichen« (Vgl. Rebschloe 2014: 15) benannt werden kann. Gesamtheitlich stellen derartige Textstellen jedoch vordergründig eine Analogie des Teufels dar. Der Drache wird als Prinzip des Bösen verstanden, das der Menschheit durch seine Macht exponentiell überlegen ist. Jedoch muss bei einer solchen Annahme festgehalten werden, dass die mittelalterliche Weltauffassung die Omnipräsenz des Drachen als Prinzip des absoluten Bösen ebenso mit einschloss, wie die Allgegenwart Gottes als das absolute Gute (Hammer 2009: 210). Für eine solche Auslegung spricht, dass etliche mittelalterliche Texte den Drachen als die »symbolische Deutung, als Sinnbild des Teufels« (Tuczay 2014: 14) betrachten. Letztendlich stellt dies die Vorstellung in den Mittelpunkt, den Drachen im Kontext des christlich geprägten Welt- und Menschenbildes des Mittelalters als Ansammlung von Eigenschaften und Vorstellungen zu verstehen, welche metaphysische und nicht sinnlich ohne Beweisführungen und moderne Analysemittel erfassbare Inhalte als übernatürlich bzw. widernatürlich, folgerichtig also teuflisch abtun. Für die Literatur ist seit jeher das Motiv des Drachenkampfes in der europäischen Geistesgeschichte von zentraler Bedeutung. Besiegt Siegfried nach allge-

3

Vgl. bspw. Goetz Encylopedia Britannica: 209.

4

Der zugegeben recht unspezifische Terminus des Mittelalters ist in seiner Ausdeutung durchaus vom Epochenschwerpunkt abhängig, siehe: Schumacher 2011: 8.

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meiner Überlieferung den Drachen (Anonymus: 1992: Aventiure 104, 20), so stellt Beowulf im gleichnamigen Epos Grendel zum Kampf und überwindet ihn (Vgl. Millet 2008: 79f.). Daraus ergibt sich ein nicht an die Notwendigkeit christlicher Morallehren gekoppeltes Bild: Der Drache wird nicht nur als Teufelsfigur wahrgenommen, sondern gilt auch unabhängig von religiös motivierter Dichtung und Schilderung als gefährliches Untier, das überwunden werden muss. In dieser Überwindung steckt zugleich ein weiteres, intrinsisches, insbesondere frühchristliches Motiv: Siegt der heidnische Held wie etwa Siegfried über den Drachen, so beseitigt er damit ein potenzielles Feindbild der christlichen Religion (Millet 2008: 202). Im Gegenzug erhält der Held selbst beim Sieg über das Ungeheuer etwas Mythisches: Siegfried badet im Drachenblut und wird dadurch zu einem schier unüberwindlichen Kämpfer. Er nimmt selbst teilweise das Monströse in sich auf und wird dabei in gewisser Form entmenschlicht, was den Helden in seiner Außergewöhnlichkeit unterstreicht (Millet 2008: 78). Dieses Charaktermerkmal macht es notwendig, dass der vormals als Held dargestellte Protagonist zur antagonistischen Gestalt mutiert, insofern er, bedingt durch seine Taten am Königshof zu Worms, selbst mit dem christlichen Bild eines Helden bricht. Die logische Konsequenz ist, dass der heidnisch dargestellte Held als unangenehm empfunden wird und aus der Erzählung austritt, womit er zugleich den Sieg des Christentums symbolisch vorbereitet. Ein solcher Sieg über den Drachen wiederum schafft einen unmittelbaren Zugang zum antiken Mythos. Selbiger kennzeichnet den Helden als eine herausragende Figur, die oftmals königlicher oder gar göttlicher Abstammung ist. Hat der Mythos unter anderem die Funktion, diejenigen Bilder und Motive zu liefern, die den Menschen motivieren, so stellen sie zugleich auch eine Präsentation von Taten dar, welche den Helden aus dem Kontext des Alltäglichen hinausgreifen lassen (Campbell 2011: 42). Der Drache gilt, so lässt sich zunächst recht unspezifisch sagen, als Mythenfigur. Hier nicht als Kontrastierung zur Wirklichkeit verstanden, präsentiert der Mythos stattdessen eine spezifische Form der Wirklichkeitswahrnehmung und -gestaltung. Seine spezifische Erzählform ist es, die gleichnishaft und auf metaphorischer Ebene bedeutsame Inhalte zu tradieren in der Lage ist, so dass leicht die Schlussfolgerung gezogen werden kann: Existiert der Drache als mythische Figur, so ist er im Bewusstsein der Menschen präsent, die mit den mythischen Erzählungen umgehen.

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EIN HYBRID? DER DRACHE IN DER MODERNEN LITERATUR Die Präsenz des Drachen ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert durch die Wirkung von Märchen und Volkssagen nicht mehr wegzudenken. Durch die Aufklärung und ihre strikten, rational ausgerichteten Strukturen, welche sich in nahezu allen Kulturbereichen ausgeprägt finden, ließe sich annehmen, der Drache sei aus der Literatur zunächst verschwunden. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Drache präsenter und facettenreicher auftritt als je zuvor. Vor allem in der Fantasy, hier insbesondere in Kinder- und Jugendbüchern findet der Drache eine Vielzahl von Ausdeutungen, die von psychologischmotivierten Erstlesewerken (Bspw. Korschunow 1978) zu politisch-kritischen Werken (Müller 1962) reichen. Dies wiederum lässt den Rückschluss zu, dass die Traditionen des Drachen sowohl dem modernen Autor als auch dem Leser noch immer bekannt ist und eine Identifikation daher leicht zugänglich gemacht werden kann. Der Drache selbst ist dabei nicht notwendigerweise auf das Bild des Ungeheuerlichen oder Wunderbaren reduziert, als das er angesichts älterer Sagen- und Erzählungsstoffe aufgefasst werden kann, sondern zeichnet sich durch eine stark ausgeprägte Individualisierungstendenz aus. Dies bedingt sich nicht zuletzt durch seine Vielzahl unterschiedlicher Darstellungen. Als magischer Helfer zeichnet sich etwa in Korschunows Kinderbuch der Drache als Mittler zum eigenen Selbstvertrauen aus, während er in Tolkiens Werk Der kleine Hobbit das Bild des nahezu übermächtigen Widersachers einnimmt, der selbst seine eigene Überlegenheit prahlerisch zur Schau stellt (Tolkien 2003: 250). Dabei übersieht Smaug in Analogie sowohl zu Siegfried als auch Fafnir seine eigene verwundbare Stelle an der linken Brust, was erlaubt, das Monströse und Übermächtige, das er prätendiert, zu überwinden. Die Verbindung zwischen dem Drachen sowie dem Drachentöter zeigt sich in beiden Richtungen als reziproke und notwendige Verbindung: Einerseits muss sowohl der Drache, der fürchterliche und monströse Attribute in sich vereint, zu Grunde gehen, um somit Raum für die ihn überdauernde Erzählung zu liefern, andererseits ist der Drachentöter, oftmals »ein vom Schicksal bestimmter, menschlicher Einzelkämpfer mit einer traditionsgestärkten Waffe« (Krege 1999: 97) notwendigerweise eine ebenso tragische Figur, wie der Drache selbst: Siegfried stirbt durch Kenntnis seiner verwundbaren Stellen zwischen den Schultern (Anonymus 1992, Aventiure 995f., 149), den Drachen Smaug ereilt in Tolkiens Erzählung der Tod durch einen Pfeil (Tolkien 2003: 276). Auf ähnliche Weise stirbt der Drache Glaurung in Tolkiens Silmarillion, doch zeigt sich bei ihm, der als »Vater der Drachen« (Tolkien 1999: 202) beschrieben wird, eine weitere

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Ambivalenz: Einerseits wird ihm die Funktion eines prototypischen Drachen für die Welt von Mittelerde zuteil, andererseits weist er selbst in der sprachlichen Bezeichnung eine starke Verwandtschaft zur Gattung der Schlangen auf (Krege 1999: 95). Insbesondere Smaug und Glaurung zeichnet darüber hinaus eine starke, individuelle Persönlichkeit aus: Beide waren den dunklen Herrschern nicht grundsätzlich bedingungslos ergeben oder hätten sich gar in einer Knechtschaft befunden, sondern waren potenziell ihre eignen Herren. Dies lässt Raum für die Annahme, den Drachen als eine eigenständige Persönlichkeit des Monströsen, als eigenständiges und nicht zuletzt unabhängiges Wesen wahrzunehmen. Speziell in der Nachfolge Tolkiens zeigt sich dieses Motiv, wenn auch mit einem Rückgriff auf mittelalterliche Tradierungen versehen (Rebschloe 2014: 377), dass der Drache eine eigene Identität besitzt, die ihn nicht zuletzt variantenreich darstellt und zunehmend als Protagonisten in den Mittelpunkt gesellschaftlichen Interesses rückt.

AMBIVALENZ: DER DRACHE IN MENSCHENGESTALT Gewinnt der Drache zunehmend an Raum für den Ausdruck unterschiedlicher Bedeutungen, so lässt sich dies nicht nur für seine Präsenz im literarischen oder filmischen Umfeld konstatieren. Stattdessen sind es vor allem die mit ihm verknüpften Motive, welche eine vielfältig ausdifferenzierte Erscheinungsform möglich machen. Treten gutherzige Drachen in modernen Fantasy-Buchreihen oder Verfilmungen auf, so lassen sich diese kaum mehr begründet mit ihrem mittelalterlichen Vorbild gleichsetzen, dessen Hauptmerkmale seine teuflische und zerstörerische Natur sind. Die Frage sei jedoch erlaubt: Warum besteht das Bild des zerstörerischen Drachen in der kulturellen Forschung dennoch weit über seine Zeugnisfunktion fort? Eine mögliche Antwort dazu fällt großteilig eher unbefriedigend aus: Im Einzelfalle besteht dieses Bild fort, im Allgemeinen eher nicht. Die Tatsache, dass ein einheitliches Drachenbild hinsichtlich sowohl seiner physischen Erscheinung als auch seiner Charakteristika in der modernen Fantasy nicht mehr länger vorhanden zu sein scheint, zeigt deutlich auf, dass es auch in kulturwissenschaftlicher Betrachtung eine leichte Übertragbarkeit des weltweit verwendeten Drachenmotivs gibt. Besonders im Kontext aktueller Weltgeschehnisse, die, ausgelöst durch wirtschaftliche sowie bewaffnete Konflikte und politische Umbrüche eine sich stän-

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dig wandelnde Umstrukturierung bekannter Phänomene mit sich bringen, ist auch das Motiv des Drachen als im Wandel befindlich zu sehen. Vordergründig mag es hierbei genügen, durch das christliche Drachenmotiv seine Gleichsetzung mit dem Teufel, zumindest aber jedoch mit Gefährlichkeit und zuweilen unüberschaubaren Risiken für das Eigene, zu sehen. Dieser vieldeutige Begriff, der in kultur- medien- sowie sozialwissenschaftlichen Kontexten eine unterschiedliche Ausrichtung erfährt, stellt jedoch in seiner Grundsätzlichkeit die Frage nach der Identität des Selbst bzw. der personalen Identität. Das Eigene besitzt darüber hinaus die Fähigkeit, stellvertretend für eine spezifische Gruppe zu sein, die eine kleinere oder größere Gemeinschaft umfasst. Jedoch beschreibt es in jedem Fall das Vertraute, welches ebenso aus dem kulturellen Kontext heraus bekannt ist. In diesem Umfeld bewegt sich der Mensch sicher, kann über die Grenzen seines eigenen Selbst oftmals nur mit geringem Aufwand hinausgreifen und interagiert unter der Prämisse des Eigenen gewissermaßen routiniert und selbstständig. Insofern stellt das Eigene auch immer über seinen vertrauenserweckenden Identifikationscharakter eine Schutzfunktion für den Menschen dar, der alle Dinge in seinem Umfeld auf eine bestimmte, jeweilige Art mehr oder weniger kontrollieren kann. Wird diese als vertraut wahrgenommene Umgebung jedoch von etwas gestört, so befindet sich das Vertraute aus Sicht des Menschen in der akuten Gefahr, durch Einflüsse von außerhalb überlagert, möglicherweise sogar absorbiert oder substituiert zu werden. Dieser Einfluss, der gemeinhin als das Fremde bezeichnet wird, stellt all dasjenige dar, welches der Mensch in seiner jeweiligen, gewohnten Umgebung des Eigenen nicht kennt. Lexikalisch gehört der Begriff sowohl zur Soziologie wie auch den Kulturwissenschaften und beinhaltet immer »einen Moment des Verdachtes, welcher Angst, Vorbehalte und schließlich Gefährdung artikuliert« (Yousefi 2016: 210). Mit diesem Moment des Fremden als Gegensatz zum Eigenen ausgedeutet, zeigt sich der Drache insbesondere durch die ausschließliche Fokussierung als gefährliche, monströse und vor allem bösartige, gar teuflische Macht als ein Motiv des Fremden, das es zu fürchten und, in logischer Konsequenz, zu vernichten gilt. Dem liegt eine dichotomisierende Weltsicht zu Grunde: Zeigte sich der Drache ausschließlich als negative und bösartige Macht, so stünde er als ein Bild des Monströsen sichtbar als Hindernis einer Gesellschaft, die darum bemüht ist, durch Interdependenz- und Inklusionsbereitschaft eine prinzipielle Offenheit und Toleranz zu propagieren, im Weg. Mit dem Drachen werden auf diese Weise Ängste geweckt, die aus der Ur-Angst des Menschen vor dem Unbekannten, demjenigen, das er weder in der Lage ist, zu kontrollieren noch bereits vorwegzunehmen, resultieren. Wenn ein derartiges Drachenbild gesellschaftlichen

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Missständen, wie offenen Anfeindungen, Misstrauen oder Fremden- oder Religionsfeindlichkeit entspräche, so müsste die Frage gestellt werden, wozu ein solches Bild dient. Eine mögliche Antwort auf dieses nicht allzu fernliegende Gedankenexperiment kann darin gesehen werden, das Fremde gewissermaßen als eine Projektion des Eigenen zu sehen. Indem mit dem Fremden all dasjenige umfasst wird, wessen der Mensch bemüht ist, sich zu erwehren, so schafft es stets eine räumliche und inhaltliche Distanz. Eine derartige Sichtweise beinhaltet hierarchische Strukturen, die eindeutig eine Wertung beinhalten. Einerseits wird das Eigene gegenüber dem Fremden aufgewertet, selbst wenn eine rationale Betrachtung der Substanz ergäbe, das Eigene in Abhängigkeit zum Fremden zu stellen. Andererseits wird das Fremde grundsätzlich abgewertet und als Störfaktor oder Gefahr empfunden. Ein solches Vorgehen zeigt deutlich eine stufentheoretische Anthropologie, die vollumfänglich als Konstrukt begriffen werden kann. Schärfer formuliert könnte eine solche Position lauten: Der Drache dient als Motiv dieser Angst, da der Mensch sonst gezwungen wäre, zuzugeben, dass er für sich und andere selbst zum Monster geworden ist. Dies stellt einen Rückgriff auf die Apotheose des Helden in der Volkssage dar, der in Drachenblut gebadet nahezu unverwundbar wird oder gar die Sprache der Tiere beherrscht. Einige moderne Darstellungen der Fantasy-Literatur gehen hierbei sogar weit darüber hinaus und stellen vor, dass der Mensch durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Drachen und durch magische Helfer die eigene Menschlichkeit in doppeltem Sinne – einerseits als Fähigkeit, emotionale Reaktionen zu verstehen und selbst zu äußern, andererseits als Begrenzung seiner Möglichkeiten in Form seiner physischen Gebundenheit an seine Körperlichkeit – zurücklässt, und selbst zum Drachen wird.5 Darüber hinaus wird dem Drachen selbst im Rahmen der Fantasy eine Persönlichkeit zugeschrieben, die das überwiegend als bösartig wahrgenommene Ungeheuer der christlich-mittelalterlichen Literatur nicht besitzt. Der Drache ist Ratgeber, menschenähnlicher Bewohner seiner Welt oder sogar potenziell ein Wesen des Guten und nimmt darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Positionen ein, die eine Reduktion auf das bloße, menschenfeindliche Monster nicht ausschließlich ermöglichen. Vor diesem Hintergrund ist leicht zu ersehen, dass das Drachenmotiv ein großes Potential besitzt, vielfältige Deutungen auszugestalten. Das Fremde im interkulturellen Kontext ist damit längst nicht so fremd, wie es

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U.a. Ed Greenwood zeigt dies in seiner Der Ring der Vier-Reihe, siehe: Greenwood 2004: 359.

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zunächst erscheinen mag, sondern lässt sich, mit dem Begriff des Anderen bezeichnet, als eine, in allen wissenschaftlichen Diskursen verwendete Terminierung verstehen, die dasjenige bezeichnet, »was wir in gewohnter Umgebung nicht kennen, was aber dennoch eine vertraute Nähe ausstrahlt« (Yousefi 2016: 56). Als solches artikuliert das Andere zwar noch immer eine Distanz zum Eigenen, besitzt jedoch einen reziproken Bezug zu selbigem und schafft eine neue Verhandlungsbasis für die eigene Identität, die beständig darum bemüht schient, eine Selbstdefinition über den Anderen zu erhalten. Das Andere propagiert somit eine gewisse Neutralität, dem keine ablehnende Fremdheit als Merkmal, sondern bloß eine Andersartigkeit zugeschrieben werden kann. Diese definiert sich auf unterschiedlichen Ebenen des Toleranzbegriffes.

SCHLUSSBETRACHTUNGEN In der modernen Fantasy-Literatur ist es kaum möglich, den Drachen unter dem Vorzeichen ausschließlich einer der hier bloß grob umrissenen Gestalten zu betrachten. Das Genre der Fantasy stellt mannigfach dar, wie wenig verwunderlich es ist, in der Figur des Drachen mehrere Deutungen vorzufinden, die etliche, teils stark voneinander abweichende Kontrastierungen besitzen. Der Drache konstatiert sich einerseits als schier übermächtiger Widersacher des volkstümlichen Heroen, der das Untier bezwingen muss, andererseits als zuweilen hochintelligentes und höchst magisches Geschöpf, dem Verehrung und Respekt entgegengebracht werden. Die behauptete Dominanz des Teufels- Motivs ist, angesichts der Vielzahl von fantastischen Texten, die den Drachen behandeln oder ihm Auftritte zugestehen, kaum haltbar, so man den Drachen als facettenreiches und zugleich etliche Elemente und Ursprünge kulminierendes Motiv wahrnehmen kann. Wollte man den Versuch unternehmen, den Drachen auf ein bestimmte Sinndimension festzulegen, so lässt sich spätestens anhand der hier vorgenommenen Anrisse des komplexen und ebenso vielfältigen Themas ersehen, dass er immer auch eine Bezüglichkeit zu seiner Umwelt, ihren Figuren und Charakteristika aufweist. Diese Relation ist es, in der der Drache, als eigenständiges Motiv gedeutet, immer zugleich die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen der ihn umgebenden Welt sowie der Welt seiner Rezipienten formuliert. Diese können von Macht, Stärke und anderen, positiv wie negativ bemessenen Klassifikationen ebenso gekennzeichnet sein, wie die Tatsache, dass seine Abhängigkeit speziell zum Helden zeigt, dass die Welt trotz der Einflüsse des Fantastischen immer

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auch eine relativ unumstößliche und von ungeheuerlichen Bedrohungen befreite Ordnung besitzt. Doch letztlich figuriert der Drache als eine Kulmination derjenigen Merkmale, die das Wesen des Phantastischen ausmachen.

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II. Moderne und postmoderne Drachen

Die Wiederkehr der Drachen1 Zur Dialektik von Natur und Technik in Alfred Döblins Berge Meere und Giganten Markus May

Zu den Paradigmen des Monströsen hat die Moderne mit ihrer Faszination an Phänomenen der Exzentrik, der Devianz, des Pathologischen und des Anormalen (Foucault 2016, Geisenhanslücke/Mein 2009: 11) nicht Unerhebliches beigetragen. Dies äußert sich nicht zuletzt in ästhetischen Projekten, die in ihrem Anspruch wie in ihrer Struktur selbst Züge des Monströsen aufweisen: Alfred Döblins 1924 erschienener Roman, den man in der gattungspoetischen Diktion der Zeit als einen ›utopischen‹ oder ›Zukunftsroman‹ bezeichnen dürfte (diese Begriffe waren im deutschen Literaturraum kurrent vor der Durchsetzung des Terminus ›Science Fiction‹), ist ein Text-»Ungetüm« (Klotz 1978: 515), ein in höchstem Maße hybrides Sprach-Ungeheuer. Zum einen gilt dies für die Anlage des Texts, die durchaus einen megalomanen Zug aufweist: Auf über sechshundert Seiten wird die zukünftige Geschichte der Menschheit bis ins 27. Jahrhundert hinein entworfen, beginnend mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, also der Entstehungszeit des Romans – für die Döblin allerdings nur wenig Interesse zeigt, wenn man den geringen Umfang bedenkt, den er der Schilderung dieses historischen Ausgangspunkts zugesteht. Die Antizipation einer technischen Kultur und der wandelnden Phasen der gesellschaftlichen Reaktion auf die mit der Beherrschung der Technik einhergehenden Machtverhältnisse ist ein zentraler

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Der Titel bezieht sich bewusst auf den gleichnamigen Essay von Heimito von Doderer, in dem sich Spekulationen naturhistorischer Art mit mythopoetischen Konzepten vermischen. Dies weist erstaunliche Affinitäten zu den narrativen Konzepten in Döblins Berge Meere und Giganten auf (Doderer 1996).

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Aspekt, der Döblins großangelegte Zukunftsvision prägt, wobei – wie noch zu zeigen sein wird – dem Verhältnis von Technik und Natur im Verlauf des Romans eine ganz besondere Rolle zukommt. Die breite Anlage dieses Texts verdankt sich nicht zuletzt Döblins anhaltendem Experimentieren mit der Romanform. Spätestens seit Wallenstein, Döblins wesentlichem Beitrag zum historischen Roman, der 1920 veröffentlicht wurde, ging es dem Autor in seinem Schreibprojekt darum, den Roman, der gattungsgeschichtlich traditionellerweise mit dem Wort Goethes als »subjektive Epopöe« umrissen wird (Goethe 1998: 498), wieder zum Epos zurückzutranszendieren, d.h., mit seinen Romanexperimenten versuchte Döblin wieder hin zu einer umfassenderen Totalität der Weltbeschreibung zu gelangen, wie sie Hegel in seiner Ästhetik dem (antiken) Epos zugeschrieben hatte, welches dem Philosophen zufolge eine »einheitsvolle Totalität« repräsentiert (Hegel 1990: 373). In theoretischer Hinsicht kulminieren diese Tendenzen in Döblins Essay Der Bau des epischen Werks von 1928, wo als Darstellungsziel dieses »epischen Werks«, das der Autor von einer in seiner Epoche zur bloßen Konvention erstarrten Romantradition abzugrenzen sich bemüht, das Konzept einer »Überrealität« (Döblin 1989: 217) eingeführt wird, die sich inhaltlich freilich von dem gleichlautenden Terminus der Surrealisten deutlich abgrenzt. Zudem aber ist auch die sprachliche Gestaltung des Texts von Berge Meere und Giganten einigermaßen monströs, wenn man, wie Rasmus Overthun, die Kategorie der Hybridität als ein zentrales Merkmal des monströsen Körpers auffasst (Overthun 2009: 46) und auf semiologische und medienreflexive Paradigmen im Sinne einer ›monströsen‹ Diskurs-Ordnung überträgt (Overthun 2009: 67-75). Denn auch stilistisch ist Döblins Berge Meere und Giganten ein mixtum compositum, da sich Passagen abwechseln, deren Sprachduktus bisweilen expressionistisch, bisweilen neusachlich und bisweilen neuromantisch tönt. Letzteres findet sich vor allem bei jenen Textstellen, die Zwischenmenschliches, häufig in der ansonsten im Roman über weite Strecken eher absenten Dialogform, abhandeln. Und auch was die formale Anlage des in neun Büchern unterteilten Werks anbelangt, zeigen sich große Disproportionalitäten: So nimmt die im 27. Jahrhundert situierte Enteisung Grönlands einschließlich ihrer Vorarbeiten und Konsequenzen fast die Hälfte des Umfangs des gesamten Texts ein, sie umfasst die Bücher sechs bis neun, während anderen Zeitläuften und -abschnitten wesentlich weniger Raum konzediert wird. Also zeigt sich in der Disposition der Textmassen ebenfalls ein beachtliches Ungleichgewicht (vgl. Sander 1988: 195-215), was für eine Geschichte, welche die Zukunft der Menschheit von der Gegenwart bis in die Fernen des 27. Jahrhunderts zu skizzieren sich anschickt, ebenfalls ungewöhnlich ist. Döblin selbst hat dies bereits bemerkt, wenn er im Nachwort zu seiner eigenen stark gekürzten Umarbeitung des

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Werks, nun nur noch Giganten betitelt und 1932 publiziert, hinsichtlich der Urfassung von Berge Meere und Giganten den Vergleich zwischen Textgestalt und Körpergestalt der Giganten bemüht, um so das Monströse zu betonen: »Das Buch erinnerte mich im ganzen selbst an eine der überfließenden Figuren aus dem Kapitel Giganten. « (Döblin 1963b: 372) Dies hat Kritik herausgefordert, selbst bei jenen, die mit Döblins Oeuvre insgesamt intim vertraut sind. So kommt Klaus Müller-Salget in seiner ersten großen Würdigung des Gesamtwerks des Autors, der die Döblin-Forschung wesentliche Impulse verdankt, zu dem Schluss, Berge Meere und Giganten sei »wohl Döblins unkontrolliertestes Buch« (Müller-Salget 1988: 202). Und in Oliver Bernhardts Döblin-Biografie heißt es: »Das Werk sprengt alle bis dahin gültigen Romankonventionen.« (Bernhardt 2007: 61) Diese Befunde lassen sich jedoch, bei Wechsel der Betrachtungsweise und ihrer Prämissen, durchaus auch ins Positive wenden: So hat sich Erich Kleinschmidt Döblins ästhetisches Verfahren als eine bewusste »Poetik der Unordnung« charakterisiert (Kleinschmidt 2007: 189), bei der im Rahmen der Entregelungsprozesse der programmatischen Avantgarde Momente des Kontingenten in den Schreibvorgang einbezogen werden, sodass »Bemächtigung und Bemächtigtwerden im sprachlichen Produktionsprozess […] sich bis zur Ununterscheidbarkeit an[nähern]« (Kleinschmidt 2007: 200f.). Und auch Günter Grass, der sich auf Döblin als seinen »Lehrer« im Bereich der Literatur mehrfach berufen hat (Grass 2012), spricht nicht zu Unrecht von »visionärem Überdruck« (Grass 1997: 457), unter welchem Berge Meere und Giganten verfasst wurde. In der Tat lässt sich der Eindruck einer anschießenden Überfülle der Gesichte, Visionen und Ideen, die den Autor heimgesucht haben, beim Lesen kaum vermeiden. Dies mag nicht zuletzt der spezifischen Arbeitsweise Döblins geschuldet sein, der eine Unmenge an Exzerpten, Skizzen und Entwürfen aus der zeitgenössischen Fachliteratur, aber auch aus Expeditionsberichten anfertigte, während er zugleich am Manuskript seines Romans arbeitete – das im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar befindliche umfängliche Konvolut zu Berge Meere und Giganten legt davon ein beredtes Zeugnis ab (zum Nachlasskonvolut siehe Sander 1988: 74-98). Der Autor konsultierte dabei Schriften zur Geologie, Geografie, Mineralogie, Meteorologie, Ozeanologie, aber auch Ethnologie und Anthropologie (vgl. Schoeller 2011: 246f., Sander 1988: 76-88). Döblin schrieb zu seiner Arbeitsweise bei der Abfassung von Berge Meere und Giganten: »Ich zeichnete Spezialkarten von Island, trieb Vulkan- und Erdbebenkunde. Es ging rasch ins Geologische und Mineralogisch-Petrographische hinein. Wie immer schrieb ich zugleich und arbeitete im Material. Ich lebe da von der Hand in den Mund.« (Döblin 1963a: 350, vgl. Sander 2013: 636) Gaetano Mitidieri hat angesichts solcher Verfahrensweisen denn auch zutreffend von

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einer »Vermengung aller Gattungen und Stile aus der Erzähl- und der Fachliteratur« gesprochen (Mitidieri 2016: 563), die Döblins Text charakterisiert. Der immense Detailreichtum, gerade was die Schilderungen der geologischen Aktivitäten, der klimatischen und meteorologischen Phänomene insbesondere in der zweiten Hälfte des Buches betrifft, ist letztlich dieser intensiven Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Fachliteratur geschuldet. Ritchie Robertson erkennt darin sogar das Prinzip einer »Poetry of Fact« und rückt dies in die Nähe von gegenwärtigen Konzepten des Posthumanen (Robertson 2009). Die Breite, die diese Schilderungen einnehmen, verweist allerdings auf einen in der Grundkonzeption des Romans verankerten Aspekt, nämlich das Verhältnis des Menschen zur Natur, bei dem Döblin häufig, und besonders in Berge Meere und Giganten, zwischen naturwissenschaftlich präziser Beobachtung und naturmystischer Grundierung changiert. Dieser Doppelaspekt bei der Sicht auf die Natur ist ebenso eigenartig wie zugleich charakteristisch für das döblinsche Schreiben. Schon der Wallenstein-Roman hatte sich von den historischen Begebenheiten des Dreißigjährigen Kriegs entfernt, um in einer fiktiven Erzählung über Kaiser Ferdinands II. Rückzug aus der Geschichte und seinen mystischen Eingang in die Natur zu enden: Ferdinand begegnet einem ›Kobold‹, wird schließlich von diesem getötet und verschmilzt geradezu mit dem Wald und dem Wasser des Regens (Döblin 1965: 735-738), was man als eine schaurig-groteske Natur-Apotheose mit durchaus regressiven Zügen deuten könnte. Durch Döblins Werk zieht sich eine lebensphilosophisch grundierte, bisweilen eminent monistische und bis zu Gustav Theodor Fechner zurückreichende Linie naturmystischer Vorstellungen (vgl. Bartscherer 1997: 197-202). Später, etwa mit der Veröffentlichung des Essays Das Ich über der Natur von 1927 (vgl. Döblin 1927), wird diese Naturmystik peu à peu wieder in eine eher traditionelle Religiosität einmünden, die dann prägend wird für das Spätwerk Döblins (vgl. Bartscherer 1997). In den Bemerkungen zu Berge Meere und Giganten schreibt der Autor retrospektiv in Hinblick auf den Entstehungsprozess des Werks: »Aber etwas merkte ich bald in diesem Beginn: ich war ausgezogen, um den schrecklichen mystischen Naturkomplexen auszuweichen. Und – saß mitten drin. Mitten drin.« (Döblin 1963a: 350) Für Döblin ging es in Berge Meere und Giganten nicht allein darum, den Konflikt zwischen menschlicher Technik und Naturunterwerfung und den widerstrebenden Mächten der Natur zu gestalten, sondern er erweiterte das Spektrum des eigentlichen epischen Konzepts, dessen Totalität ursprünglich anthropozentrisch entworfen ist – wovon in der Ilias trotz des Eingreifens der olympischen Götter kein Zweifel sein kann – um die Perspektive einer autochthonen Geosphäre, die ein eigenständiger Akteur ist, der sich gegenüber den menschlichen Instrumentalisierungs- und Zurichtungsversuchen, die nachgerade wie eine destruktive Ver-

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gewaltigung der Natur beschrieben werden, zur Wehr setzt, was durchaus in Einklang mit neueren Ansätzen der Gaia-Hypothese zu bringen wäre (vgl. Hien 2012). Dies erinnert frappierend an gegenwärtige Ansätze einer neuen Ökologie, wie sie Bruno Latour in seiner Akteur-Netzwerk-Theorie vertreten hat, bei der die Dinge und die Dinge der Natur zumal als den Menschen geleichberechtigte Akteure bzw. Aktanten aufgefasst werden, die eine eigene agency, eine Handlungsmacht, haben und denen auch die gleichen Rechte konzediert werden müssen, wie Latour die in seinem großen Plädoyer für eine neue politische Ökologie, entworfen hat, das auf Deutsch den Titel Das Parlament der Dinge trägt (Latour 2010). Döblin hat in Berge Meere und Giganten gewissermaßen das Anthropozän antizipiert (Crutzen 2011, Hien 2012), jenes zur Beschreibung des heutigen Zustands der Welt ausgerufene Erdzeitalter, das dadurch geprägt ist, dass der Mensch mit seiner hochtechnisierten Kultur und ihren negativen Begleiterscheinungen das Antlitz der Erde auf eine solche nachhaltige Weise verändert, wie dies früher nur global wirksame klimatisch-meteorologische, geologische oder kosmische Phänomene vermochten – von Vulkanausbrüchen, tektonischen Plattenverschiebungen, klimatischen Veränderungen wie anhaltenden Kälte- und Hitzeperioden bis zu Deep-Impact-Kontakten, Einschlägen von größeren Asteroiden aus dem All. Insofern müsste man mit Blick auf die Korrelation der im Text gestalteten Sphären korrekterweise Berge Meere und Giganten nicht als ein Menschheitsepos, sondern als ein Welt- oder Geoepos bezeichnen. Denn Döblin selbst hatte als die Grundtendenz von Berge Meere und Giganten die Frage aufgeworfen: »Was wird aus dem Menschen, wenn er so weiter lebt?« (Zit. nach Sander 2013: 630) Zugleich betont er, dass der Ausgangspunkt für die Projektionen, die der Text entwirft, die eigene Gegenwart ist. Döblins Perspektive auf die Gegenwart der frühen Weimarer Republik ist durchsetzt von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, dem ersten wirklich hochtechnisierten Krieg, in dem auch Massenvernichtungsmittel wie Giftgas eingesetzt wurden und der die neuen technischen Errungenschaften und Erfindungen wie Flugzeug, Zeppelin und UBoot sofort einem militärischen Zweck überführte. Bei der Darstellung der Technik und des technisierten Fortschritts dominieren in Berge Meere und Giganten dann auch dementsprechend die furchtbaren Gewalt- und Zerstörungspotenziale der Erfindungen, die von einzelnen Technokraten wie Marduk oder Delvil im Sinne ihrer Politik mit rücksichtsloser Härte und ohne Blick auf die menschlichen Verluste zur eigenen Machterhaltung eingesetzt werden. Der Typus des Technokraten, des ›homo faber‹ ist vorherrschend im Roman, die Technikbeherrschung ist hier die Grundlage jeglicher politischer Macht, weshalb das Wissen um die Naturwissenschaften wie um die Technik nur den eingeweihten Eliten vorbehalten ist und eifersüchtig gehütet wird. Außer technokratisch legi-

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timierten Oligarchien oder Diktaturen kennt der Roman – sieht man von der retrotopisch wirkenden, allerdings den zeitgenössischen agrarutopischen Gesellschaftsentwürfen verpflichteten Siedlerbewegung 2 des letzten Buchs, »Venaska« (Döblin 2013: 547), ab, das ebenfalls in naturmystischen Bildern ausklingt – nur noch die Anarchie der Masse als politische und gesellschaftliche Kraft: ein düsteres Bild, das sich aus den gesellschaftlich zerrissenen Verhältnissen der frühen Weimarer Republik speist, ebenso wie die im Text vorherrschenden Staatsgebilde der miteinander konkurrierenden »Stadtschaften« (Döblin 2013: 21), d.h. Megacities, in denen die technische, ökonomische, militärische und politische Macht konzentriert ist und die die umliegenden Gebiete beherrschen – auch diese eine ins Zukünftige verlängerte, stark expressionistisch getönte Vision der modernen Großstadt, in der sich bereits die mythische Dimension der als ›Hure Babylon‹ apostrophierten Großstadt Berlin in Berlin Alexanderplatz ankündigt (vgl. dazu Leidinger 2010), ein Moloch, der seine Kinder verschlingt. Ein wirklicher gesellschaftlicher Fortschritt, der einher gehen würde mit den im Text entworfenen evolutionären Entwicklungen oder den erstaunlichen technischen Erfindungen, etwa im Sinne einer eher demokratischen, freiheitlichen und egalitären Staatsordnung, ist nicht auszumachen – eher das Gegenteil, nämlich die Rückkehr zu feudalen, aristokratischen Lebensformen der Oberschicht bei gleichzeitiger Unterdrückung der Massen. Auch dieser für einen linken Autor zutiefst pessimistische, zivilisationskritische Befund basiert auf den Erfahrungen der Anfangsphase der Weimarer Republik und verrät eine große Hellsichtigkeit für den Zusammenhang von technokratischen und faschistischen Strukturen, der sich nur wenige Jahre nach Abfassung von Döblins Roman im sogenannten Dritten Reich in konkreten Formen manifestieren würde. Der prognostische Anspruch korreliert mit Döblins Postulat, dass der Ausgangspunkt seiner prospektiven Fiktion die eigene Gegenwart sei und die darin behandelten Problematiken im Makroskopischen auf seine eigenen Bemühungen im Mikroskopischen zurückverweisen würden. So heißt es in Döblins begleitenden Essay Bemerkungen

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Solche Modelle einer neuen, der Natur verpflichteten und auf agrarische Wirtschaft ausgerichteten Gemeinschaft sind in der Zeit um und nach 1900 extrem verbreitet. Das Spektrum der unterschiedlich orientierten ideologischen Milieus reicht von lebensreformerisch akzentuierten Bewegungen der Neuen Gemeinschaft von Julius und Heinrich Hart sowie Gustav Landauer in Berlin Schlachtensee oder der Kolonie Monte Verità im Tessin über zionistische Kibbuze im Zuge der Alija bis hin zu rechtskonservativen Modellen, wie sie etwa von Knut Hamsun und anderen entwickelt wurden, was teilweise in die Blut-und-Boden-Literatur der NS-Autoren mündete.

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zu Berge Meere und Giganten: »Es ging mir selbst, wie das Thema sagte: die menschliche Kraft gegen die Naturgewalt, die Ohnmacht der menschlichen Kraft. Ich hatte, ohne zu wissen und zu wollen, ein Spiegelbild meiner kleinen Spezialbemühungen gegeben.« (Döblin 1963a: 350, vgl. Links 1981: 86) Wie passen nun allerdings Drachen in dieses Bild einer Zukunftsvision? Um zu verstehen, welche Position diese Geschöpfe innerhalb der Konstruktion des Romanganzen einnehmen, sei es erlaubt, das narrative Umfeld zu skizzieren, in dem diese Wesen auftauchen und wie sie erzählerisch innerhalb dieses Komplexes des Verhältnisses von Technik und Natur spezifisch fungieren. (In Parenthese sei angemerkt, dass bestimmte Aspekte, wie zum Beispiel die Siedlerbewegung und die Landgewinnung ebenfalls frappierend auf in der unmittelbaren Zukunft der Romanentstehung sich real ereignende Vorkommnisse vorverweisen.) Nach einem verheerenden Uralischen Krieg, der große Teile Osteuropas und Asiens in Feuerstürmen modernster Waffen vernichtet hat (und der im zweiten Buch geschildert wird), besteht die Notwendigkeit einer Landgewinnung, um die sich neuformierende Siedlerbewegung zu akkommodieren. (Ebenfalls in Parenthese sei erwähnt, dass der stetige und quantitativ hohe Zustrom von Immigranten aus Afrika ebenfalls ein rekurrentes Motiv des Romans bildet.) Daher wird der Entschluss gefasst, Grönland zu enteisen, um so ein neues Siedlungsgebiet außerhalb der bisherigen Stadtschaften zu schaffen. Der junge Schwede Kylin, ein Mitglied der technokratischen Elite, macht sich daran, den Plan einer Enteisung Grönlands zu realisieren. Dazu wird eine gewaltige Expeditionsflotte nebst Begleitflugzeugen und enormen Energieressourcen aufgeboten. Die zur Enteisung Grönlands nötige Wärme soll durch die Ausbeutung der isländischen Vulkane erfolgen. Um dies zu erreichen, wird in einer gewaltigen Aktion Island gewissermaßen auseinandergesprengt – die extrem detaillierte Schilderung dieses ersten Teils der Expedition nimmt den gesamten Raum des sechsten Buches ein, das auch »Island« betitelt ist (Döblin 2013: 351). Der Duktus dieser Schilderungen changiert zwischen dem Erhabenen und dem Apokalyptischen, zudem wird die Tätigkeit der Expedition, die viele Opfer an Menschenleben fordert, mit dem Vokabular des Kriegs geschildert, Begriffe wie »Kampf[…]« (Döblin 2013: 356) und »Angriff[…]« (Döblin 2013: 406) kehren immer wieder, um die aggressive Tätigkeit zu beschreiben, die in einer völligen Zerstörung Islands mündet. Dabei werden ungeheure Kräfte und Elemente der Erde freigesetzt, deren Kontrolle durch den Menschen nicht gänzlich möglich ist. Immer wieder kommt es zu meteorologischen und geologischen Extremphänomenen sowie zu Strahlungsaktivitäten, die den Expeditionsteilnehmern zusetzen und immer wieder Teile des Expeditionskorps vernichten. Ein weiterer Rohstoff, der aus den Eingeweiden Islands zur Verwendung bei der Enteisung Grönlands gewonnen wird,

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ist Turmalin. Diese Kristalle werden gereinigt, gesammelt und zurück auf das Festland geschickt, wo in riesigen Fabriken Heerscharen von Arbeiterinnen und Arbeitern gigantische Netze aus Turmalinfäden knüpfen. Auch die Herstellung dieser Netze fordert immense Opfer, da kaum ein Arbeiter diese Tätigkeit einen ganzen Tag lang ausüben kann, ohne dass er schwere gesundheitliche Schäden davonträgt oder sogar stirbt. Doch die Technikherren treiben das Projekt ohne Rücksicht auf menschliche Verluste voran. (Auch hier sei eine Seitenbemerkung erlaubt: Döblins Schilderung der zu Tode ausgebeuteten Arbeiter illustriert, was Adorno und Horkheimer als doppelte Entfremdung von der Natur konstatiert haben: Die Entfremdung von den äußeren Zusammenhängen der Natur wie auch die von der Natur und Kreatürlichkeit des eigenen Körpers; vgl Adorno u. Horkheimer 2003.) Wozu diese merkwürdigen Netze gebraucht werden, zeigt sich im nächsten Buch, denn nun wird die »Enteisung Grönlands« (so auch der Titel dieses siebten Buchs; Döblin 2013: 409) buchstäblich in Angriff genommen. So werden die warmen Lavaströme nach Grönland umgeleitet und mittels gewaltiger Energiemengen die Gletscher zum Schmelzen gebracht. Dort, wo die von den Gletschern abgehenden Wassermassen ins Meer stürzen, werden die Turmalinnetze eingesetzt, die durch ihre energetische Aufladung verhindern, dass die Flutwellen auf die Schiffe hereinbrechen. Sie bilden also einen Schutzwall gegen die Naturkräfte, welche sich gegen diese Angriffe und diese Vergewaltigungen durch die menschliche Expedition zur Wehr setzen. Zudem nehmen die Turmalinschleier aber auch diese Energie, die durch die Vulkane freigesetzt wurde, auf und speichern sie. In den Turmalinkristallen sind die elementaren Kräfte enthalten, die Döblin in seinem naturmystischen Kosmos »Urwesen« (Döblin 2013: 400) nennt und damit in ein gewissermaßen monistisches Konzept einer vitalistischen Energie inkorporiert, die allen natürlichen Erscheinungsformen eignet. Dies wird schon zu Beginn des Romans in der »Zueignung« deutlich, in der vom »Tausendnamige[n]« (Döblin 2013: 8) die Rede ist und von »Tausendfuß Tausendkopf Tausendgeist« (Döblin 2013: 9) als den Erscheinungsformen des Lebendigen, welches als das Grundprinzip alles durchwaltet. Gerade in dem Motiv des Turmalins offenbart sich die intrikate Dialektik von Natur und Technik bei Döblin. Denn Turmalin ist ein in der Natur vorfindliches Kristall mit pyroelektrischen Eigenschaften. Diese Eigenschaften werden nun von den Vertretern der technischen Kultur ausgenutzt, um sie gegen die Natur zu wenden. Jedoch sind die Qualitäten und Effekte des Turmalins nicht vollständig durch die Menschen beherrschbar: Das zeigt sich schon bei der Fertigung der Netze, die mit großen Opfern an Menschleben verbunden sind – Turmalin scheint also tödliche Nebeneffekte zu besitzen – aber auch solche des unkontrollierten Wachstums. Diese manifestieren sich in besonderer Weise bei den Transportschiffen, welche die

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Turmalinschleier geladen haben. Die Schiffe sind nämlich völlig von polymorphen pflanzlichen und tierischen Gewebeformen und auch miteinander verschmolzenen und verbackenen Lebensformen überwuchert. Diese Transportschiffe werden von den anderen Expeditionsteilnehmern zunehmend als unheimlich empfunden und selbst nun als »Ungeheuer« bezeichnet (Döblin 2013: 416) – sie sind durch die synthetisierende und hybridisierende Wirkung des Turmalins zu heterogenen, biomorphen Monstrositäten mutiert: »Es war, als wenn sich die Pflanzenwiesen vom Meeresboden hochhoben losrissen, an die Schiffskörper hingen. Mit ihrem lebenden Gewichte beschwerten sie die riesigen Turmalinfrachter. Die schienen nichts davon zu fühlen. Ihr Bug hob sich von Stunde zu Stunde höher aus dem spritzenden Ozeanwasser. In den Nächten liefen sie wie glühende Wesen über das Wasser. […] Es waren keine Schiffe mehr. Es waren Berge Wiesen.« (Döblin 2013: 417f.)

Hier zeigt sich der dialektische Umschlagpunkt von Technik und Natur: Indem sich die Naturkräfte gegen ihre Beherrschung durch den Menschen zur Wehr setzen, indem ihre Wirkungen, die zu menschlichen Zwecken instrumentalisiert werden sollten, sich nun entfesselt unkontrolliert ausbreiten, wird die prometheische Hybris der Unternehmung in ihrem ganzen Ausmaß erkennbar. Doch die Überwucherung der Schiffe ist erst der Anfang des Schreckens. Die verheerende grotesk-hypertrophische Wirkung des Turmalins wird während und nach der Enteisung Grönlands offenbar. Denn beim Aufbrechen der Eis- und Erdschichten mittels der Turmalinschleier kommen nun Urzeitechsen wieder zum Vorschein, die durch die Einwirkungen des Turmalins ein entartetes Riesenwachstum an den Tag legen und ebenfalls Tiere, Pflanzen und Menschen in sich aufnehmen und so inkorporieren: »Straßenlange Schlangenleiber ringelten Echsen über die Felder, stürzten sich ins Wasser, die erst blassen, dann schwärzlich-braun anlaufenden Wesen, denen Stacheln aus den schmalen bezahnten Schädeln wuchsen und die unten im Wasser brünstig grunzend mit ihren breiten Schwimmschaufeln wateten. Wie diese Tiere das Wasser durchschwammen, kämpften sie mit anderen, mußten sich in dem Wust des aufkommenden, sie selbst durchrieselnden, über sie zusammenschlagenden Lebens behaupten. Von Felsplatten, von der kochenden und dunstenden Erde lösten sich die abenteuerlichsten Wesen ab, die sich zuerst nicht entschieden, ob sie mit dem Schwanz und den Füßen in der Erde wurzeln wollten, die dann ihre Glieder vom Boden wie von einem Teig abzogen und schon dumpf um sich blickten, die Bäume betrachteten, mit ihren Riesenkiefern in die weichen Stämme hieben. Schwer standen sie auf der wühlenden Erde, den muskulösen Schwanz ange-

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stemmt, mit den beiden Stirnhörnern Bäume rammend und fällend. Die Bäume nahmen sie wie Gräser in die Mäuler, zermahlten sie mit den Kronen Gastpflanzen und hängendem Getier. Langhalsige gebuckelte Ungeheuer zogen sich einzeln und in Gruppen durch die lärmerfüllten Täler, über das Flachland. Vor ihrem donnerartigen Gewieher erschraken sie selbst. Von einer Doppelreihe hoher Knochenplatten war ihr Rücken bestanden, ein Knochenkragen schützte den Hals, aber vorn bewegten sie menschenähnliche trübe gewaltige Häupter langsam hin und her. Wasser lief aus ihren Augen. In Wälder brachen sie ein. […] Von den Felsen der höchsten Berge stürzten sich Vogelwesen in die lebendige Brandung. Mit Hälsen wie Gazellen, die Flügel breit werfend, trugen sie auf ihren langen Krokodilsköpfen ganze Wiesen und Bäume mit sich. Maulwurfsartige Wesen, die zwischen ihren Flügelfedern nisteten, verließen sie auch im Fluge nicht. Diese zähnefletschenden Vogelechsen brauchten keine Hörner zum Rammen und Spießen. Die Hügelteile, die sie auf ihren Köpfen mit sich trugen, trieben Spitzen hervor, die die Härte der Steine hatten. Als die großen Meuchler erschienen diese schlagenden krallenden stürzenden Wesen über der Brandung Grönlands. Sie wüteten schlimmer als die Flammen, schlitzten die wandelnden Gallerten auf, zerquetschten sich senkend Tiermassen.« (Döblin 2013: 483f.)

Erkennbar ist diese Passage von den evolutionsbiologischen und paläontologischen Erkenntnissen geprägt, über die Döblins Zeit bereits verfügte. So tragen die beschriebenen Wesen etwa Merkmale von Dinosaurierarten, etwa des Stegosaurus oder des Triceratops. Doch diese vor dem neuzehnten Jahrhundert unbekannten Erscheinungsformen der erdgeschichtlichen Jura-Epoche werden im Verlauf des weiteren Texts von Berge Meere und Giganten mehrfach explizit als »Drachen« (Döblin 2013: 509, 527 etc.) apostrophiert. Denn auch sie werden durch die Einwirkung des Turmalins einerseits und durch ihren alles verschlingenden Appetit anderseits zu gewaltigen Ausmaßen und einer entstellten Gestalt, die »grünes Feuer« emittiert (Döblin 2013: 493), aufgebläht – so kommen sie zuerst über die Flotte der Grönlandfahrer, um sich dann den weiteren Gebieten Europas im Süden und Südosten zuzuwenden. Sie entwickeln sich zu einer Bedrohung von katastrophalen Ausmaßen, die ganze Landstriche verheert und die Bevölkerung sowie die Herren der Stadtschaften zu drastischen Maßnahmen zwingt. So werden, mit London beginnend, die großen Städte von der Erdoberfläche unter die Erde verlegt, um sich vor diesen Ungeheuern zu schützen. Große Teile der europäischen Restbevölkerung ziehen sich ins Innere der Erde zurück. Daneben sucht der Technokrat Delvil, der von einem besonderen Hass auf die Ungeheuer beseelt ist, nach einem Abwehrmittel gegen die Gefahr, die immun ist gegen die von den Menschen eingesetzten Strahlenwaffen. Mittels grauenvoller Menschenexperimente, bei denen Personen den Einwirkungen des Turmalins

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ausgesetzt werden, gelingt es Delvil, sowohl das Wachstum zu steigern als auch die Verschmelzung des Menschen mit anderen tierischen, floralen und mineralischen Stoffen. Es entstehen riesengroße »Turmmenschen« (Döblin 2013: 524), die schon im Titel des Romans aufgeführten »Giganten«, die sich nun ihrerseits die Urzeitmonster einverleiben. Der naturwissenschaftlich breit gebildete Arzt Döblin antizipiert hier gewissermaßen die Gentechnik – buchstäblich in all ihren monströsen Auswüchsen, die diese vom Menschen selbst initiierte Stufe seiner Evolution mit sich bringen. Soweit zum Handlungszusammenhang, in dem das Auftauchen der Ungeheuer im Roman situiert ist. Warum aber werden diese aller naturwissenschaftlicher Erkenntnis zum Trotz, die der Autor Döblin in hohem Maße in seinem Roman reflektiert, nicht nur als ›Echsen‹ etc. bezeichnet, sondern als ›Drachen‹? Meine These lautet, dass gerade in der Verwendung dieses Begriffs nicht allein die mythischen Dimensionen und Vorstellungen aufgerufen werden sollen, welche sich mit dem Drachen verbinden, sondern dass in der gewählten Bezeichnung gerade die Dialektik zwischen Technik und Natur zum Ausdruck kommt, die sich zwingend entfaltet, wenn der Mensch in seiner Hybris hinsichtlich der angemaßten Naturbeherrschung (und dies beinhaltet auch Vergewaltigung und Zerstörung) zu weit geht, er wie Goethes ›Zauberlehrling‹ die Kräfte entfesselt, die er nicht beherrschen kann – und dies gebiert letztlich Monstrositäten, die sonst nur im Imaginären zu existieren schienen. Das ist, wie es im Text heißt, die »Rache der Erde« (Döblin 2013: 501). Der Drache ist eine solche Imago in der kollektiven Phantasie, und als solche wird sie vor dem Auftauchen der Ungeheuer schon vom Erzähler metaphorisch anzitiert, um das technologische Projekt der Enteisung Grönlands in mythischen Dimensionen zu kommentieren: »Grönland war eine verwunschene Prinzessin, von Drachen umgeben.« (Döblin 2013: 356) Im Verlauf des Texts wird diese metaphorische Zuschreibung in eine metonymische verwandelt, wenn die durch diese Aktion befreiten, wiederbelebten und mutierenden Untiere nun als ›Drachen‹ bezeichnet werden. Hieran zeigt sich der für den Roman konstitutive Prozess einer »Reversion von Modernität in Antimodernität: Rationalität geht in Irrationalität über, Technikkult schlägt in Naturmystik um, die Zukunft weist zurück auf Vergangenheit« (Grätz 2008: 314). Im Kampf mit den Ungeheuern macht der Mensch selbst eine Verwandlung durch, die ›Giganten‹ sind selbst Monstren, die als liminale Existenzen alle Grenzziehungen zwischen Tier und Mensch, zwischen Organischem und Anorganischem, zwischen Geist und Materie hinter sich gelassen haben. Diese dialektische Entsprechung ist dem Verhältnis zwischen Drachen und Drachentöter seit jeher eingeschrieben (wie dies auch im Umschlagbild des vorliegenden Bandes von Edward Burne-Jones in der Verklammerung vom Held Perseus und dem Monster

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Ketos zum Ausdruck kommt, vgl. die Einleitung zu diesem Band). Dies zeigt sich in besonderem Maße an der Figur Delvils, bei der Assoziationen zum englischen Wort »Devil« (Scherpe 2003: 153) wie auch zum Topos des ›mad scientist‹ kaum vermeidbar sind, ebenso wie sich Anklänge zur romanischen Etymologie finden, die bei dieser onomastischen Fügung an den Repräsentanten einer dezidiert städtischen Zivilisation denken lassen. Delvil erschafft durch seine »Menschenversuche[…]« (der Begriff fällt tatsächlich, Döblin 2013: 505) jene ›Giganten‹, die schließlich die Ungeheuer besiegen, indem sie diese Ungeheuer verschlingen und dadurch in ihrer eigenen Monstrosität ebenfalls zunehmen, was sich unter anderem am graduellen Verlust der Sprachfähigkeit der ›Giganten‹ ablesen lässt. Über Delvil äußert Ten Keir, der Kopf der Brüsseler Stadtschaft, den Gedanken: »dieser Delvil hatte selbst etwas von den grauen und grauenhaften Urtieren an sich.« (Döblin 2013: 503) Noch signifikanter tritt die spiegelbildliche Entsprechung zwischen Delvil und den Drachen zu Tage, als Delvil Scharen von vor den Ungeheuern Flüchtenden am westlichen Rand der Londoner Stadtschaft beschießt: »Feuer und Strahlen ließ er in die chaotische Menge schleudern. Seine Megaphone schrien über sie: Er sei der Drache, der Drache käme. Und schon war der heiße Atem über ihnen, nicht aber aus den Mäulern der Riesenlurche, sondern aus seinen Maschinen. Und sie wurden angeglüht gebrüht gebrannt. Delvil ließ sie zu Kohle werden. […] Die Wut Delvils schwang Peitschen über sie. Sie hatten vor den Drachen und Delvil zu flüchten.« (Döblin 2013: 497)

Diese Selbstzuschreibung Delvils als Drache hat werkgenetisch ihren Vorläufer in Döblins vorausgegangenem Roman,3 der sich ebenfalls mit den menschenvernichtenden Gräueln eines Krieges, in diesem Fall des Dreißigjährigen Krieges, befasst: So wird der Feldherr Wallenstein im gleichnamigen Roman Döblins ebenfalls mehrfach als ›Drache‹ bezeichnet und sogar in einer ins Konkrete gewendeten semantischen Entfaltung dieser Metapher veritabel als ein solcher porträtiert:

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Das Drachen-Motiv taucht bei Döblin bereits in der 1911 erschienenen Erzählung Der Ritter Blaubart auf. In Döblins Version des auf Charles Perrault zurückgehenden Märchens ist es ein Meerdrache, der in der verwunschenen Kammer erscheint, und der letztlich für die Tode der Gemahlinnen des Protagonisten Baron Paolo de Selvi verantwortlich gemacht wird. Auch in diesem Fall wird eine elementare Verbindung zwischen Ungeheuer und männlicher Hauptfigur insinuiert (vgl. Döblin 1962: 73-75).

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»Der Friedländer [Wallenstein; M.M.] ihm [Tilly; M.M.] gegenüber, ein gelber Drache aus dem böhmischen blasenwerfenden Morast aufgestiegen, bis an die Hüften mit schwarzem Schlamm bedeckt, sich zurückbiegend auf den kleinen knolligen Hinterpfoten, den Schweif geringelt auf den Boden gepreßt, mit dem prallen, breiten Rumpf in der Luft sich wiegend, die langen Kinnladen aufgesperrt und wonnig schlangenwütig den heißen Atem stoßweise entlassend, mit Schnauben und Grunzen, das zum Erzittern brachte.« (Döblin 1965: 243f.)

In beiden Fällen wird durch die Gleichsetzung eines Tod und Verderben bringenden Kriegsherrn mit einem Drachen die Enthumanisierung, das Monströse und das Menschenfeindliche dieser Figuren im mythologischen Bild zum Ausdruck gebracht, in Berge Meere und Giganten jedoch auf der Ebene der Diegese und des Plots durch Rückbindung an die tatsächlich wiederkehrenden ›UrzeitDrachen‹ und durch die anschließende Verwandlung Delvils in einen Giganten die Hybridisierung von Drache und Mensch auf die Spitze getrieben, um die bedenkliche Dialektik von Natur und Technik, die so bezeichnend ist für das Gesamtkonzept von Berge Meere und Giganten, ins Extreme zu führen. Die Analogie von Drache und Tyrann verweist daneben auch auf lange Traditionen in der politischen Theorie, als locus classicus etwa bei Platon in seiner Politea, und im Bild des Leviathans in der gleichnamigen Staatstheorie des Thomas Hobbes (vgl. Lauer 2012), wobei das Frontispiz der Erstausgabe von 1651 sogar eine riesenhafte allegorische Gestalt mit Schwert, Bischofsstab und Krone ziert, die sich drohend über einer kleinen Landschaft erhebt. In dieser Repräsentanz des Body Politic, oder des Commonwealth, verstanden als Staatswesen, finden sich eine Unzahl kleinerer Figuren, die diesem gewaltigen Körper gewissermaßen ›einverleibt‹ sind. Döblin kannte Hobbes und seine allegorische Versinnbildlichung des Staates, wie aus einer Passage des 1938 erschienenen Essays Prometheus und das Primitive hervorgeht, in der er den Staatsdiskurs Descartes’ mit dem Hobbes’ vergleicht (siehe dazu Hahn 2003: 365-3:67). Hobbes’ Konzeption des Leviathan im Text wie auch auf dem Titelkupfer erinnert gerade in seiner ikonischen und textuellen Verbindung, ja Ineinssetzung von Riese und Leviathan doch stark an die Darstellung Delvils und seiner monströsen Mutation in Döblins Roman. Der Hinweis auf die Traditionszusammenhänge des Drachen in der politischen Theorie scheint im Hinblick auf die in Berge Meere und Giganten und in Wallenstein verhandelten Paradigmen von einiger Relevanz, da sich im DrachenMotiv mit der von Döblin besonders akzentuierten Liminalität der Figuren sowohl gesellschaftstheoretische als auch natur- und lebensphilosophische Phänomene verdichten.

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Die von Döblin akzentuierte Identifikation von Drache und Mensch verweist jedoch mit Blick auf die kulturanthropologische Dimension des DrachenMythologems noch auf ganz andere Zusammenhänge, die auf die Ätiologie dieses Geschöpfs hindeuten: Der Münchener Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf ist in seiner aufschlussreichreichen Untersuchung Einhorn, Phönix, Drache. Woher unsere Fabeltiere kommen (Reichholf 2012) der Frage nachgegangen, inwieweit Fabeltiere sich auf in der Wirklichkeit existierende Tierarten zurückführen lassen, wobei vermeintliche Eigenschaften oder bloße Zuschreibungen ebenso eine Rolle spielen wie phänotypische Elemente, die durch Überzeichnung oder Projektionen der Dimensionen oder Proportionen dann für bestimmte Vorstellungen dieser Wesen verantwortlich gemacht werden können. Diese in unterschiedlichen medialen Formen und Überlieferungen präsenten Vorstellungen analysiert Reichholf, um dann ihre Ursprünge bei tatsächlichen Tierarten aufzufinden, wobei Reichholf eine beeindruckende Fülle an kulturhistorischen Faktoren berücksichtigt. So lässt sich beispielsweise das in der Antike entwickelte Bild vom Phönix auf afrikanische Flamingos und ihre spezifischen Bedingungen von Brut und Lebenszyklus zurückführen (Reichholf 2012: 13-65). Die besondere Pointe besteht nun darin, dass während der Zoologe für jedes andere der Fabeltiere ein Vorbild im Tierreich ausmachen kann, er für den Drachen kein solches zu finden vermag, das alle Eigenschaften, die man dem Drachen zuschreibt, in sich vereinen kann – daher darf Reichholf den Drachen im Rahmen seiner Argumentation völlig zu Recht als »das fabelhafteste aller Fabelwesen« (Reichholf 2012: 247) bezeichnen. Dabei werden die üblichen Kandidaten wie Schlange, Echse usw. deshalb ausgeschlossen, weil ihnen wesentliche dem Drachen zugeschriebene Qualitäten (Reichholf macht ganze zwölf ›drachentypische‹ Eigenschaften aus; Reichholf 2012: 256f.) fehlen, etwa das Feuerspeien oder die Vorliebe für Gold und Jungfrauen. Die letztgenannten Elemente entsprechen auch keineswegs tierischem Verhalten, einer ontologisch manifesten Tiernatur, was Reichholf dazu veranlasst, die Suche nach Vorbildern im Tierreich aufzugeben und eine andere Hypothese über den Ursprung der Drachen zu formulieren: »Es waren Menschen, die sich zu Drachen gemacht hatten.« (Reichholf 2012: 260). Für Reichholf hängt die Drachen-Imago mit dem Beginn des Bergbaus und der Metallurgie zusammen, denn ›drachentypische‹ Elemente wie der Drang nach Gold, das Hausen in unterirdischen Berghöhlen und vor allem die Herrschaft über das Feuer sind auch charakteristisch für den Abbau und die Verhüttung von Erzen, die in kulturhistorischer Perspektive eine neue zivilisatorische Stufe in der Geschichte der Menschheit einläuteten. Reichholf zufolge ist die Vorstellung vom Drachen eine künstlich von denjenigen erzeugte, die ihre im Bergbau gewonnenen Schätze vor der Zudringlichkeit und den Begehrlichkeiten anderer

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Menschen schützen wollten und auch ihre diesbezüglichen Tätigkeiten selbst geheim halten wollten. Daher, so Reichholf, lag es nahe, die mit dem Schürfen und Verarbeiten der kostbaren Metalle verbundenen Aktivitäten, die nicht ganz unbemerkt und im Verborgenen geschehen konnten, als Eigenschaften auf ein monströses Ungeheuer zu projizieren, das den Menschen genug Angst einjagte, um dessen Revier zu meiden (Reichholf 2012: 267-276). Zur Verbreitung solcher Vorstellungen setzten die Propagatoren der Drachen-Mythe nicht zuletzt auf die Macht und die Weitergabe von Erzählungen, wobei die symbolische Qualität des Drachen und sein Faszinationspotenzial das Ihre dazu beitrugen, den Drachen als eine archetypische Figur in einen kontinuierlichen Tradierungsprozess eintreten zu lassen. Auch wenn man vielleicht Reichholfs These und Argumentation nicht in allen Punkten folgen mag, so ist doch der kausale Konnex von Drache und Technik(-geschichte) bemerkenswert. Die Ätiologie des Drachen wird aus dem Beginn einer menschlichen Technologie erklärt, die bis heute die Zivilisation, ihre Ökonomie, ihre Machtstrukturen, ihre Kriege prägt. Der ›homo faber technicus‹ ist der Drache, eine mächtige, furchteinflößende, monströse Gestalt – und dies ist nicht zuletzt Teil der Botschaft, die Döblin mit seiner titanischen Figur des Delvil in Berge Meer und Giganten vermitteln will, die in einer Potenzierung des prometheischen, faustischen, frankensteinschen Strebens sich zu einer derartigen Form des Übermenschen heranbildet, dass ihr jegliche Menschlichkeit abhandengekommen ist – ein Hybrid aus Drache und Mensch, aus Natur und Technik, ein Cyborg (vgl. Haraway 1991), der alle Formen des Organischen und Anorganischen in sich aufgenommen hat, eine absolut liminale Existenzform und so ein Ausdruck des Abjekten (zum Begriff des Abjekten vgl. Kristeva 1982) – und damit eine veritable Figuration des Posthumanen (zu Konzepten des Posthumanismus vgl. Herbrechter 2012). In der Verklammerung von Fortschritts-Titanismus mit dem Mythisch-Archaischen, die in der Hybridisierung von technokratischem Tyrann und urtümlichen Drachen ihren emblematischen Ausdruck erhält, offenbart sich die Dialektik einer Moderne, deren Verheißungen nurmehr in einer potenzierten Revitalisierung des archaischen Schreckens münden. Diese Problematik war Döblin sehr genau bewusst, wie aus dem Nachwort zu der umgearbeiteten Fassung seines Romans, Giganten, hervorgeht. Dort verteidigt er einerseits mit großem, an Nietzsche gemahnendem Pathos das unablässige menschliche Streben des Individuums als eine anthropologische Grundtatsache, spricht aber anderseits auch von dessen missgeleiteten Versuchen, die fürchterliche Resultate, »Entartungen« (ein schon 1932 nicht unproblematischer Terminus), zeitigen:

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»Ja, wir sind auch gegen die Natur, gegen jede Natur! Keine Natur, keine Formung kann uns fesseln, wir sind in einer ständigen Bewegung, auf einer ständigen Flucht. Und jede Natur, so sinnvoll sie ist, müssen wir als eine Eierschale hinter uns lassen. Das ist Menschenart. Es ist das Wahrste und Allermenschlichste in uns, das uns bei aller Daseinsfreude von Ablösung zu Ablösung treibt, jede Natur, jedes Gewordene in Frage stellt. Wir haben ein stolzes, freies, selbstverantwortliches Ich in uns. Da bin ich also nicht mehr geneigt, Beifall zu klatschen, wenn ›Berge‹ und ›Meere‹ über Menschen, auch wenn sie ›Giganten‹ sind, fallen. Ich muss mich auf seiten der ›Giganten‹ stellen. Ich kann aber Unterschiede im menschlichen Handeln sehen. Es gibt Fehler, Verstöße, Entartungen. Und hier ist von der gigantischen Entartung des Menschen die Rede.« (Döblin 1963b: 373f.)

Uns so scheint doch Döblins Drachen-Komplex in Berge Meere und Giganten letztlich eine grundlegende Lehre erneut zu bestätigen, die sich durch die annähernd gesamte phantastische Literatur zieht, und deren Ursprünge vielleicht sogar in der Tragödie Antigone des Sophokles aufzufinden wären: Ganz gleich, wie monströs die Ungeheuer auch seien mögen, die der Phantasie entspringen, das größte Ungeheuer ist – und bleibt – der Mensch.

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Es hausen Drachen in unseren Wäldern ... Die kinderliterarische Remystifizierung einer entzauberten Welt Maren Bonacker

›Es hausen Drachen in unseren Wäldern...‹ Das zumindest wollen uns zeitgenössische Autorinnen und Autoren kinderliterarischer Werke glauben lassen. Um die Illusion zu wahren, greifen sie tief in die Trickkiste und bringen so die Drachen nicht nur bis vor unsere Haustüren, sondern mitten hinein in unsere Bücherregale: Fiktive Forscher werden zu glaubhaften Erzählern ihrer exotischen Autobiographien oder Kinder zu begeisterten Zeugen phantastischer Abenteuer mit Drachen. Die kinderliterarische Sach- und Bilderbuchwelt wird mit Enzyklopädien und bebilderten Lexika über Drachenarten angereichert, die so überzeugend sind, dass es den Lesern immer schwerer fällt, Fiktion und Wahrheit zu trennen. Und werden dann noch kindliche Leser zu ›Drachologen‹ ausgebildet, die mit ihrem Diplom gleichzeitig die Berechtigung für die Pflege eines Dracheneis erwerben, mag vielleicht auch manch erwachsener Leser geneigt sein, (wieder) an die Existenz von Drachen zu glauben. Dabei haben die Drachen über die Jahre einige Entwicklungen durchlaufen und stellen keinesfalls eine konstante Größe dar. Neben mehrköpfigen Ungeheuern, die nur dann Ruhe halten, wenn ihnen mindestens einmal im Jahr eine Jungfrau geopfert wird, wie wir sie etwa im Grimm’schen Märchen »Die zwei Brüder« kennenlernen, haben schon früh auch der sehr gemütliche und friedliebende Reluctant Dragon (1898) von Kenneth Grahame und der furchteinflößende, Rätsel liebende Smaug das Bild des Drachen in der Kinder- und Jugendliteratur geprägt. Alle drei sind mit verschiedenen Neuauflagen bis in die gegenwärtige Kinder- und Jugendliteratur zum Teil über mehr als ein Jahrhundert präsent geblieben und hatten keinen geringen Einfluss auf zahllose weitere Vertreter ihrer Art. Während aber in der Fantasy Fiction für Erwachsene oft ein Zurückgreifen

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auf altbekannte Traditionen erkennbar ist, wird in der Kinder- und Jugendliteratur interessanterweise häufiger mit der literarischen Vorlage gespielt. Phantasievolle Variationen und bewusste Brüche mit der Erwartungshaltung stehen da im Vordergrund. Die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abzeichnende Tendenz, die gefürchteten, prinzessinnenverschlingenden Drachen à la Brüder Grimm gerade in der Kinder- und Jugendliteratur zu anatomisch interessant geformten Eidechsen zu degradieren, die meist nicht einmal mehr in der Lage sind Feuer zu speien, wurde in den vergangenen Jahren bereits mehrfach zum Untersuchungsgegenstand in der Literaturwissenschaft. In den Monographien und Aufsätzen liegt der Schwerpunkt dabei in der Regel auf der Figur des Drachen selbst, unabhängig davon, welchem literarischen Genre er jeweils entstammt. Tina Hanlon etwa stellt 2002 anhand ihrer eindrucksvollen Untersuchung von über 60 meist amerikanischen Bilderbüchern die Verharmlosung der Drachen in der anglophonen Kinderliteratur dar, während Bernard Ribémont in seiner Untersuchung Caractères et métamorphoses du dragon des origines (2004) der Frage nachgeht, wie aus einem mittelalterlich geprägten Ungetüm, das es zu überwinden und zu töten galt, sein harmloser Kinderbuchvertreter werden konnte – mit allen damit verbundenen Fragen rund um die Symbolkraft dieser mythischen Kreatur. Auch Gerhard Haas untersucht in seinem Aufsatz »Böse Drachen – Gute Drachen« (2011) den Wandel der Drachendarstellung in der Kinder- und Jugendliteratur und geht dabei besonders auf das ambivalente Spiel mit der Figur des Drachen ein. Bernhard Rank analysiert in »›Gute Drachen‹ in der phantastischen Kinderund Jugendliteratur« (2011) die Funktionsveränderungen des literarischen Motivs des Drachen, und ich selbst habe mich in meinem Aufsatz »Domestizierte Drachen – Von der Zähmung und Auswilderung kinderliterarischer Drachen« (2009) ebenfalls mit der Verschiebung des Drachenbildes in kinderliterarischen Texten auseinandergesetzt. Meine damalige Analyse endet mit den Texten, die um die Jahrtausendwende herum erschienen sind und gibt einen Ausblick auf die mögliche Tendenz einer weiteren Verschiebung der kinderliterarischen Drachen, die etwa seit dem Jahr 2000 zu beobachten ist: Es scheint, als hätte der Drache nach langen Jahren der Verniedlichung einen Weg zurück zu alter Wildheit gefunden. Damit verbunden scheint jedoch außerdem auch eine Wandlung des Genres von statten gegangen zu sein, in dem der Drache meist beheimatet ist. Vormals oft in Märchen und Fantasy zu finden, rückt der Drache des frühen 21. Jahrhunderts den Leserinnen und Lesern spürbar näher und findet, beginnend in einzelnen Werken des ausgehenden 20. Jahrhunderts, einen Weg in eine unserer außerliterarischen Realität nachempfundenen Welt, in der er selbst bisweilen den einzigen Bruch mit der Wirklichkeit darstellt. Dort haust er versteckt in den

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Wäldern, und wenn er denn wirklich einmal entdeckt wird, dann zumeist von umweltbewussten und sehr engagierten Kindern und Jugendlichen, die seine Besonderheit erkennen und bereit sind, alles zu tun, um ihn vor neugierigen Blicken, übereifrigen Wissenschaftlern und Taxidermisten zu schützen. Wie sich der Wandel des Drachenbildes vollzogen hat und welche Auswirkungen dies möglicherweise auch auf die Art des Erzählens hat, ist Gegenstand dieses Beitrags, der außerdem auch versuchen wird, eine Antwort auf die Frage zu finden, was ausgerechnet dem Drachen über Jahrzehnte hinweg als einer der beliebtesten Figuren der Kinder- und Jugendliteratur eine solch anhaltende Attraktivität verleiht.

KAMPFVERWEIGERER UND RÄTSELFREUNDE: ERSTE DRACHEN IN DER KINDER- UND JUGENDLITERATUR Abgesehen von den Drachen, die von Märchen, Mythen und Sagen her Einzug in die Kinder- und Jugendliteratur fanden, halten sich, wie oben kurz erwähnt, vor allem zwei Drachen sehr hartnäckig in den Bücherregalen der Kinder: einer ist erklärter Pazifist, der andere ein gefürchtetes und todbringendes Ungeheuer. Als modernen Charakter bezeichnet schon Dieter Petzold Kenneth Grahames Reluctant Dragon (Petzold 2009: 180). Der Drache, der nicht kämpfen wollte, der 1898 zunächst in einem Prosaband veröffentlicht wurde und erst später als eigenständiges Kinderbuch mit Illustrationen von Ernest H. Shepard auf den Markt kam, stellt ein literarisches Versatzspiel mit der Legende um den Heiligen Georg dar. Als sensibler, dichtender letzter Vertreter seiner Art liegt es ihm fern, Menschen zu fressen. »In seiner Verweigerung der vorgegebenen Rollenmuster ist er ein Anti-Viktorianer« konstatiert Petzold in seinem Beitrag über den Wandel des Drachenbildes in der spätviktorianischen Literatur (Petzold 2009: 182). Aber auch der heilige Georg, der es schließlich als einziger Kämpfer wagt, sich dem Drachen zu nähern, bricht mit seinem Rollenbild: Anstatt den Drachen zu töten, ist er auf Bitten eines Jungen (des eigentlichen Helden der Geschichte) bereit, sich mit ihm auseinanderzusetzen und den Sinn seines Auftrags zu hinterfragen. Man einigt sich schließlich auf einen Schaukampf, der die Sensationsgier der Dorfbewohner stillt, bei dem aber letztlich niemand ernsthaft zu Schaden kommt. Arm in Arm gehen Junge, Drache und Heiliger Georg nach getaner Arbeit und anschließendem Festgelage nach Hause. Das Buch hat nicht nur zahlreiche Bearbeitungen als Film und Hörspiel erfahren, sondern auch immer wieder Neuauflagen. Die Idee des Schaukampfes

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zwischen Held und Drache wird zudem im Fantasyfilm Dragonheart (1996) aufgegriffen und zum handlungsbestimmenden Element, das sowohl dem Helden als auch dem Drachen einiges an Reichtum einbringt. Darüber hinaus wurde Grahames Geschichte auch in der moderneren Kinderliteratur adaptiert und modernisiert und etwa im Rahmen einer Hommage Tony DiTerlizzis an den Autor in eine tierisch verfremdete Fantasywelt verlegt, in der sich das Kaninchen Kenny (kurz für Kenneth) und der Drache Grahame anfreunden. Als die Existenz des Drachen bekannt wird, geraten die Dorfbewohner in Panik, und ausgerechnet Kennys anderer Freund, der freundliche Dachs und Buchhändler Georg, soll dem Drachen ein schnelles und grausiges Ende bereiten. Kenny und der Drache (2008; dt. 2010) bietet inhaltlich eigentlich wenig Neues, sorgt aber allein durch die Namengebung der Figuren dafür, dass sich Kenner der älteren Geschichte besinnen. Einen Drachen ganz anderer Art und deutlich näher an den Vorstellungen der Leser liefert J.R.R. Tolkien in seinem Roman The Hobbit, or There and Back Again (1937). Smaug ist ein Drache, dem sein Ruf vorauseilt. Er ist nicht nur unvorstellbar groß und mächtig, er verfügt auch über die Macht des Feuerspuckens und kann als geflügelter Feuerdrache zudem fliegen und seine Feinde aus der Luft angreifen. Tolkien stattet seinen Drachen mit großer Liebe zum Gold der Zwerge aus, außerdem lässt er sich von Rätseln faszinieren. Anders als der Reluctant Dragon bewegt sich Smaug ganz klassisch in der literarischen Tradition der Drachen. Und liest man die zahllosen Fantasyromane für Kinder und junge Erwachsene, findet man in vielen von ihnen deutliche Zitate und Anleihen an Smaug: Riesig, listig, sprachbegabt und gefährlich, mit einem sehr genauen Wissen um den immensen Schatz, auf dem er ruht und den er bis ins kleinste Detail kennt. Smaug ist eine klare Bedrohung – und wie in den alten Märchen, Sagen und Legenden erfährt er das Schicksal aller Drachen: Er muss sterben. Der Tod des Drachen ist jetzt aber genau der Punkt, den mancher Leser nicht einfach so hinnehmen will. Was, wenn der Drache letztlich gar nicht so böse wäre? Immerhin schien er ja in seinen Gesprächen mit dem Hobbit nahezu zivilisiert, Grahames Drachen nicht unähnlich, bevor Bilbo ihm den Kelch stahl. Ausgerottet wird er also, weil er sich dagegen verwehrt, dass ihm Unrecht getan wird. An dieser Stelle bricht mancher Schriftsteller in der Tradition von Kenneth Grahame – das Wortspiel möge hier verziehen werden – eine Lanze für den Drachen und wirft eine Frage in den Raum, die alles verändert: Was, wenn letztlich alles nur ein großes Missverständnis gewesen wäre?!

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ALLES NUR EIN GROSSES MISSVERSTÄNDNIS?! DRACHEN IN DER FANTASY FICTION DES 20. JAHRHUNDERTS Dass Drachen bei Weitem nicht so schlimm sein müssen wie ihr Ruf, erzählte die Engländerin Joyce Alice Bissell Thomas schon 1936 – also vor dem Erscheinen des kleinen Hobbit – sehr humorvoll in ihrem Märchenroman The Prince of the Dragon Green. Am Beginn der Geschichte steht der vollkommen fehlgeschlagene Erziehungsversuch eines Königs, der seine Tochter auf einer einsamen Insel aussetzt, um ihr Angst zu machen. Obwohl er die Prinzessin mit dem grauenvollen Drachen einschüchtern will, der auf der Insel hausen soll, glaubt er selbst nicht an dessen Existenz. Umso größer ist sein Entsetzen, als er, dessen Schiff am Horizont zu verschwinden droht, gerade noch wahrnimmt, dass sich ein riesiger Drache am Strand niederlässt, wo der königliche Hofstaat soeben die Prinzessin abgesetzt hat. Er ahnt nicht, dass es dem Drachen fern liegt, die Prinzessin zu fressen. »[He] once ate three in one afternoon – and [he] was so sick – [he] said [he]’d never eat another one.« (15-16) Und noch viel weniger kann er ahnen, dass sich eine zarte Liebesgeschichte zwischen Prinzessin und Drachen anbahnt, die durch eben die Halsstarrigkeit der Prinzessin begünstigt wird, für die der König sie bestrafen wollte. Thomas spielt in der Eingangskonversation zwischen Drache und Prinzessin mit Märchenkonventionen, wenn sie die generelle Namenlosigkeit der Figuren im Märchen persifliert und den Lesern eine begreifliche Erklärung dafür liefert: »›My name?‹ said the dragon. ›I’m called the dragon.‹ ›Yes, of course,‹ said the princess nervously, ›but what dragon? Haven’t you got a name?‹ ›No,‹ answered the dragon. ›All the other dragons have got names except me. I’m the biggest and most important – so I’m called the dragon.« (13-14)

Das leuchtet der Prinzessin ein, auch wenn sie ein Kichern unterdrücken muss, und sie stellt sich in der Folge ihrerseits als »the princess« (14) vor. Der Name gebührt ihr zurecht, denn in ihrer Unerschrockenheit fungiert sie als relevantes Vorbild für spätere Prinzessinnen, die sich ebenfalls nicht scheuen, einem (oder mehreren) Drachen gegenüberzutreten. Ihrem Beispiel folgt später zum Beispiel Prinzessin Cimorene aus den Enchanted Forest Chronicles (1999, dt. 2002ff.), die sich lieber in die Obhut der Drachen begibt, als den Prinzen zu heiraten, den ihr Vater für sie vorgesehen hat; und auch Karen Duves Protagonistin aus Die entführte Prinzessin (2005) entspricht so gar nicht der Klischee-

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vorstellung einer Prinzessin – wie auch der Drache nicht dem klischeehaften Drachen entspricht. Drachen, so lernen wir in diesen Fantasyromanen, fressen keine Prinzessinnen. Bisweilen verlieben sie sich in sie, aber Schlimmeres passiert in der Regel nicht. Auch die Fantasy-Drachen, die in ihrer fiktionalen Umgebung nicht mit Prinzessinnen konfrontiert werden, sind nicht zwangsläufig böse. So gibt es etwa eine besondere emotionale Verbindung zwischen Jungen und Drachen, wie sie schon Bruce Coville in seinem phantastischen Roman Jeremy Thatcher, Dragon Hatcher (1991; dt. 2004) dargestellt hatte und sie Christopher Paolini später in seinem Fantasyroman Eragon (2002; dt. 2004) wieder aufgreift. Und auch Boris Koch setzt in Drachenflüsterer (2008) darauf, dass ein Drache mit Geduld und Zuneigung ebenso gezähmt werden kann wie jedes andere Tier. Diejenigen Drachen, die bei Koch tatsächlich eine Gefahr darstellen, wurden vorher von den Menschen aufs Ärgste gequält – etwa ihrer Flügel beraubt, damit sie als Arbeitstiere eingesetzt werden und nicht fliehen können. Die bisher geschilderten Drachen bevölkern fast ausschließlich die Fantasy Fiction. Doch parallel dazu entwickelt sich etwa seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein weiterer Erzählstrang, in dem Drachen eine große Rolle spielen. Diese Drachen sind nicht mehr wie etwa Smaug oder Eragon in eigenen, von Magie durchdrungenen Welten beheimatet, sondern sprengen den Rahmen von Geschichten, die – vom Motiv des Drachen abgesehen – in einer deutlich realistisch geprägten Welt spielen. Dieser veränderte erzählerische Rahmen und das andere Genre haben einen Einfluss auf die Gestaltung der Drachen: Damit sie in einer weitgehend der Realität nachempfundenen Welt nicht für Angst und Schrecken sorgen, sind die meisten von ihnen deutlich kleiner als ihre Artgenossen in der Fantasy.

DRACHEN IN DER STRUMPFSCHUBLADE – KINDERLITERARISCHE DRACHEN PUNKTEN MIT CHARME UND NIEDLICHKEIT Wendet man sich in der Lektüre der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur zu, um auch dort auf Drachensuche zu gehen, fällt neben der deutlich reduzierten Größe der schuppigen Protagonisten eine literaturtheoretische Problematik auf: Während die Fantasy in der Kinder- und Jugendliteratur nur unwesentlich von der an Erwachsene gerichteten Fantasy Fiction abweicht, ist es schwer, die kinderliterarische Phantastik mit den üblichen Theorien zu definieren. Der Drache

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als phantastisches Element, dessen Auftauchen in der Erwachsenenliteratur als klarer Bruch mit der Realität empfunden wird, als »déchirure«, um mit Roger Caillois zu sprechen (14f.), hat in den meisten Werken der Kinderliteratur einen ganz anderen Stellenwert. Die handelnden Kinder nehmen den Drachen nur selten als Realitätsbruch wahr, und wenn es ihnen tatsächlich bewusst wird, dass die Existenz von Drachen unseren physiologischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten widerspricht, dann empfinden sie diese »déchirure« nicht als Beunruhigung sondern freuen sich über das außergewöhnliche Abenteuer. So wird das Eindringen eines phantastischen Wesens aus einer wie auch immer gearteten impliziten Sekundärwelt weder auf der Handlungs- noch auf der Rezeptionsebene wirklich als Realitätsbruch empfunden und allenfalls mit Staunen, kaum aber mit Zweifeln oder gar Verstörung wahrgenommen. Trotzdem will ich hier mit den gängigen Begrifflichkeiten arbeiten und meine, wenn ich von phantastischer Kinder- und Jugendliteratur spreche, diejenigen Werke, die in einer unserer Realität nachempfundenen Welt spielen, in der sich von wenigen widernatürlichen Lebewesen oder Ereignissen abgesehen alles so zutragen könnte wie es dargestellt wird. Die Verniedlichung der Drachen in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur erfolgt abschnittsweise, und wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass sie mit der Zeit immer kleiner wurden, erklärt Dietlind Neven-du Mont in ihrem 1970 erschienenen Kinderbuch Das Getüm: Weil die Menschen sich immer weiter auf der Erde ausbreiteten, blieb für die Ungetüme immer weniger Raum. Hinzu kam, dass die Menschen der Meinung waren, Ungetüme würden Jungfrauen fressen, weswegen sie ihnen regelmäßig ein paar opferten – was die Ungetüme aber eigentlich gar nicht wollten. Mit den Jungfrauen kamen die tapferen Ritter, um sie zu befreien, und so reduzierte sich die Zahl der Ungetüme immer mehr. Übrig blieben nur ganz kleine Getüme, die in der Welt der Menschen nicht weiter auffielen (Getüm, 8-12). Finden wir in der gegenwärtigen Kinderliteratur meist kindliche Protagonisten, wird die Begegnung mit dem Getüm und Mäxchen (und seiner Fliege William) aus der Sicht eines Erwachsenen erzählt. Die beiden Getüme tauchen bei einer Journalistin auf und nisten sich bei ihr ein, ohne dass diese etwas dagegen unternehmen kann. Sie erzählen ihr allerhand Geschichten über sich und ihre viel größeren Vorfahren. Das Wort »Drache« taucht dabei im Text überhaupt nicht auf, aber alles, was in den Geschichten erzählt wird, weist – ebenso wie die Illustrationen der Autorin – deutlich auf Drachen hin. Und auch die Eigenschaften und das Verhalten der Getüme zeugt unmissverständlich vom Einfluss der Drachen: ihre Liebe zu Geschichten, ihre Bemühungen, Feuer zu spucken, ihr Hang zum Hüten von Schätzen, wobei die Getüme ihre ›Schätze‹ recht wahllos

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aus allerlei Kram zusammensuchen und sie in den Kindergartentäschchen verstauen, die sie um den Hals hängen haben. Die Getüme sind im Rahmen dieser Publikation von allen wohl die ›liminalsten‹ Kreaturen der Kinder- und Jugendliteratur. Denn stellen sie sich einerseits selbst in die Familie der Ungetüme (also Drachen), erinnern sie den erwachsenen Leser doch recht deutlich an Kinder: Sie sind klein, schleppen Unmengen an Dreck herein, schaffen es in kürzester Zeit ein Wohnzimmer zu verwüsten und fordern in einer Tour ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Die kinderliterarischen Drachen, die den Leserinnen und Lesern in der Folge begegnen, sind nicht nur eindeutiger als Drachen zu klassifizieren, sie werden zumeist auch einem kindlichen Protagonisten (meistens einem Jungen) an die Seite gestellt. Das 1978 erschienene, oft auch als Schullektüre verwendete Kinderbuch Hanno malt sich einen Drachen von Irina Korschunow zählt dabei auch lange Jahre nach seiner Ersterscheinung zu den bekanntesten. Korschunow gelingt es, die Geschichte des kleinen, leicht dicklichen Hanno und des Drachen, der sich eines Tages aus einer in den Sand gekritzelten Zeichnung erhebt, so zu schreiben, dass sie auch nach den Kriterien Tzvetan Todorovs zur Phantastik gezählt werden kann: Dadurch, dass dem Leser das Geschehen allein durch die Sicht des kleinen Hanno vermittelt wird und außer ihm nie jemand den Drachen zu Gesicht bekommt, stellt sich die Frage, ob es ihn tatsächlich gibt, oder ob er Hanno lediglich in der Funktion eines imaginären Freundes ermutigend und bestärkend zur Seite steht. Die kindliche, märchenhafte Lesart der Geschichte steht gleichberechtigt neben einer erwachseneren, psychologischen Lesart. Diese Art des Erzählens ist in der Kinder- und Jugendliteratur die Ausnahme. Die überwiegende Zahl der an Kinder gerichteten Drachenbücher behandelt den Drachen als real existierendes, wenn auch sehr exotisches Tier, das oft nur von Kindern und sehr wenigen ausgesuchten Erwachsenen gesehen oder wahrgenommen werden kann. Den Geschichten ist dabei eins gemein: Die Kinder brauchen den Drachen. Es sind nie die coolen, angesagten Kids, die einen Drachen bekommen, sondern in der Regel kleine Außenseiter. Der dickliche Hanno, Alastair, der aufgrund eines Knochenbruchs nicht mit ins Ferienlager fahren kann (Brenda Seabrooke: The Dragon that Ate Summer, 1992), Josh, dessen einziger Freund mit seiner Familie nach Italien ausgewandert ist (Tim Kennemore: Sabine, 2003) – fast immer befinden sich die kindlichen Protagonisten zu Beginn der Erzählung in einer für sie nachteiligen Situation, die jedoch an Schwere und Bedeutung verliert, sobald der Drache in ihr Leben tritt. Dass sie in den Besitz eines Dracheneis oder eines jungen Drachen kommen, fordert die Kreativität der Kinder. Sie müssen herausfinden, wie sie den Drachen ernähren, wie sie ihn am besten unterbringen und ob der Drache etwaigen anderen Haustieren gefährlich

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werden kann. Sie müssen ihn häufig vor ihren Eltern oder fiesen Klassenkameraden verstecken und sich Erklärungen für merkwürdigen Brandgeruch ausdenken. Für einen Drachen sorgen zu müssen stellt die Kinder vor so große Herausforderungen, dass ihre bisherigen Sorgen kleiner zu werden scheinen. Dass sie sich erfolgreich um einen so außergewöhnlichen Schützling kümmern können stärkt außerdem das Selbstwertgefühl der Kinder in so hohem Maß, dass sie es künftig leichter finden, sich in ihrem Leben zu behaupten. Die Drachen ihrerseits sind meist klein, können in Sockenschubladen oder Puppenhäusern untergebracht werden und überraschen ihre Besitzer mit putzigen kleinen Tricks und Fertigkeiten, die sie allmählich erlernen.

BACK TO BAD: VON BEISSERN UND FEUERSPEIERN Bei solchermaßen geballter Niedlichkeit stellt sich die Frage, ob es denn im Kinderbuch gar keine bösen Drachen mehr geben darf. Tatsächlich sind sie selten, aber es gibt sie. Zu den wohl eindrucksvollsten bösartigen Drachen der Kinderund Jugendliteratur zählt das Drachenweibchen Katla aus Astrid Lindgrens Märchenroman Die Brüder Löwenherz (dt. 1973). Astrid Lindgren bereitet den ersten Auftritt des Drachen in ihrer Geschichte gut vor. Immer wieder lässt sie von Katla erzählen, die als schrecklichste Waffe des grausamen Herrschers Tengil gilt. Der ältere der beiden titelgebenden Brüder Löwenherz, Jonathan, weiß um Katlas Besonderheit, aber er weigert sich, seinem kleinen Bruder davon zu erzählen. Zu schrecklich sei sie, als dass Krümel (bzw. Karl Löwenherz) von ihr erfahren müsse. Gerade dieses Nicht-Wissen jedoch schürt die Angst, und das sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Rezeptionsebene. Die diffuse Ahnung um ein Untier, das früher oder später auftauchen und Tod und Verderben bringen wird, lässt handelnde Figuren und Leser sein erstes Erscheinen voller Unbehagen erwarten; und als es endlich kommt, findet Karl kaum Worte, um das zu beschreiben, was sich da inmitten eines Gewittersturms über die Felsen wälzt. Im auflodernden Licht von Blitzen sieht er Katla und kann als Erzähler wenig mehr sagen als dies: »[…] in diesem Licht sah ich Katla. Ich sah Katla.« (167) Der Drache wird nicht weiter beschrieben. Stattdessen folgt eine doppelseitige Illustration, die Katla als gewaltige, sich schwarz vor dem dunklen Nachthimmel abzeichnende Kreatur mit glühenden Augen darstellt, neben der die Brüder Löwenherz winzig und verloren wirken. Ein weiterer grausamer Drache wird in Cornelia Funkes phantastischem Roman Drachenreiter (1996) dargestellt: Nesselbrand der Goldene verschlingt al-

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les, was ihm begegnet und wird von den wenigen noch lebenden Silberdrachen auf der Welt über alles gefürchtet. Bezeichnenderweise ist Nesselbrand streng genommen kein Drache! Zwar hat er die Gestalt eines riesigen, flügellosen Drachen, tatsächlich aber ist er das schreckliche Produkt eines Alchemisten, der den goldgepanzerten Drachen mit seinen schwarzen Künsten aus einer Kröte entstehen ließ, um mit seiner Hilfe die letzten noch lebenden Drachen zu vernichten. Mit Chris Wormells George and the Dragon (2002) kennt auch das Bilderbuch böse Drachen. Die kleine Maus George zieht in einen kleinen Felsspalt neben der Höhle eines Drachen, der so gewaltig ist, dass er auf den meisten Doppelseiten über den Bildrand hinausragt. Der Drache hat – so lassen die überall herumliegenden Knochen und Schädel vermuten – einen ausgeprägten Appetit und kulinarische Freude an Menschenfleisch. Er hat außerdem (und das ist sein Geheimnis) große Angst vor Mäusen, was dazu führt, dass der kleine George versehentlich eine Prinzessin vor dem Gefressenwerden rettet, als er seinen Nachbarn um ein Tässchen Zucker bitten möchte. Es gibt also gattungsübergreifend neben den netten auch die bösen Drachen, doch sind sie verhältnismäßig selten. In den Vordergrund hingegen rücken in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts diejenigen Drachen, die weder gut noch böse, sondern ganz einfach ungezähmt und wild sind. Drachen, wie man sie sich vorstellen könnte, wenn sie wirklich als wilde Tiere in unserer Welt hausen würden.

DIE REMYSTIFIZIERUNG UNSERER WELT – NATURWISSENSCHAFTLICHE BETRACHTUNGSWEISE EINER RAREN SPEZIES (ODER: DIE DRACHEN UND DER ARTENSCHUTZ) Drachen, so lassen etliche Bücher der Kinder- und Jugendliteratur vermuten, hat es ja eigentlich schon immer gegeben. Ganz selbstverständlich werden sie in Geschichten erwähnt, die insgesamt eher historisch als phantastisch anmuten und in denen es weder um Zauberei und Magie noch um große Questen geht, sondern in erster Linie um lange vergangene Abenteuer. So zählen Drachen beispielsweise zum selbstverständlichen Figurenarsenal in Cressida Cowells Wikingergeschichten How to Train your Dragon (2003ff.), und in Kirsten Boies insgesamt akribisch recherchierten Kinderbüchern um den kleinen Ritter Trenk (2006ff.), deren begleitende Handbücher sogar in der Schule rund um die Unterrichtseinheit »Mittelalter, Ritter & Burgen« eingesetzt wer-

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den, ist das nicht anders. Es scheint, als würden die Geschichten erst mit der Existenz von Drachen noch spannender, noch faszinierender, noch lesenswerter. Dabei beginnt sich das Bild des Drachen erneut zu wandeln. Von den mächtigen Geschöpfen der Fantasy Fiction über die verharmlosten und verniedlichten Drachen in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur geht die Entwicklung zurück zur Urgewalt und Wildheit der Drachen. Bemerkenswert dabei ist, dass die Rückbesinnung auf den Drachen als gewaltiges und bisweilen gefährliches Raubtier nicht an die seit spätestens Harry Potter Band 3 zu beobachtende Erfolgswelle der Fantasy Fiction gekoppelt ist. Anstatt mit ihrer wieder zunehmenden Größe und Wildheit in die Fantasyliteratur zurückzukehren, verharren viele Drachen seit der Jahrtausendwende vielmehr in unserer Welt. Damit werden sie (be-)greifbarer, wirklicher – die Illusion, dass bis heute Drachen im Verborgenen unserer Wälder hausen könnten, beflügelt die Phantasie kindlicher und jugendlicher Leser, und auch erwachsene Leser lassen sich von der literarisch hervorgerufenen Möglichkeit faszinieren, dass unsere durch und durch rationalisierte und erklärte Welt doch noch das eine oder andere Geheimnis bergen könnte. Erste Anzeichen für diese Entwicklung zeigen sich im ausgehenden 20. Jahrhundert. So birgt bereits Astrid Lindgrens phantastische Erzählung Der Drache mit den roten Augen (dt. 1986) Hinweise, dass Drachen weit mehr Potential haben als weitläufig verbreitet und sie nicht nur als verniedlichte Kuscheltiere dargestellt werden müssen. In der kurzen, als Bilderbuch erschienenen Geschichte finden Kinder im Schweinestall nicht nur zehn neugeborene Ferkel, sondern auch einen Drachen, den sie mit Kerzenstummeln füttern und großziehen, ohne jemandem davon zu erzählen. Obwohl sie sich gut um ihn kümmern, bleibt der Drache ungezähmt und fliegt schließlich davon. Zu den Vorreitern gehört in dieser insgesamt stark anglophon geprägten Literatur neben der Schwedin Astrid Lindgren auch eine deutsche Autorin: Schon 1988 bringt Cornelia Funke mit Die große Drachensuche keinen weiteren niedlichen kleinen Hosentaschendrachen in die kinderliterarische Welt, sondern ein gewaltiges Tier, das sich in einer leer stehenden Fabrikhalle den Blicken der Menschen entzieht und wohl zugrunde gehen würde, wenn sich nicht der Junge Ben um ihn kümmern würde. Ob sie mit dieser umweltkritischen Darstellung in einem nicht durchweg realistischen Kinderbuch ihrer Zeit vorweg war, lässt sich heute nicht mehr eindeutig klären. Sicher hingegen ist, dass Cornelia Funke kaum zehn Jahre später mit dem phantastischen Roman Drachenreiter (1997), der fast wie die überarbeitete Fassung der Drachensuche wirkt, eine deutlich größere Leserschaft erreichte als noch wenige Jahre zuvor. Während sich heute kaum mehr jemand an Die große Drachensuche erinnert, obwohl der ersten Ausgabe im Hardcover noch eine Ta-

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schenbuchausgabe folgte, zählt Drachenreiter zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur. Cornelia Funkes Drache steht symbolisch für die vom Aussterben bedrohten Tiere unserer Welt. Die Umwelteinflüsse, die ihm zu schaffen machen, quälen weit mehr als nur die Fabelwesen der Kinder- und Jugendliteratur, und der verzweifelte Versuch des Jungen Ben, Lung als vermeintlich letzten Drachen dieser Welt zu retten, steht sinnbildlich für das Engagement all derjenigen, die in der extrafiktionalen Realität für den Erhalt bedrohter Tierarten kämpfen. Cornelia Funke bedient sich nicht eindeutig literarischer oder kunsthistorischer Vorbilder einer westlichen oder östlichen Drachentradition, sondern verbindet Einflüsse beider kultureller Hintergründe. So ist Lung – wie schon sein Name andeutet – mit den asiatischen Drachen verwandt, sein friedliches Wesen und seine Klugheit lassen ebenfalls auf asiatische Wurzeln schließen. Sein Äußeres hingegen erinnert stark an die westeuropäischen Drachen: Lung bewegt sich auf vier Beinen fort und hat Flügel, während sich ein asiatischer Drache den Erzählungen nach ohne Flügel federleicht durch die Luft bewegen kann. Später setzte Cornelia Funke diesen Roman mit Die Feder eines Greifs (2016) fort. War der Drache Lung schon in Drachenreiter nicht das einzige Fabeltier in der wirklichen Welt (zum phantastischen Personal gehörten außerdem das Koboldmädchen Schwefelfell, der Homunkulus Fliegenbein, eine ganze und ausgesprochen zahlreiche Familie von sprechenden Ratten und einige mehr), werden die der Phantasie entlehnten Lebewesen in Die Feder eines Greifs noch um etliche Exemplare erweitert. Ben bewohnt mittlerweile als Adoptivsohn der Familie Wiesengrund ein Ressort und Refugium für alle bedrohten Fabeltiere der Welt, von denen manche, wie etwa der Nebelrabe, so wirklich scheinen, dass die Grenzen zwischen selten gewordenen und erfundenen Tieren verschwimmen. Die Wiesengrunds haben es sich zur Aufgabe gemacht, sich weltweit um bedrohte (Fabel-)Tierarten zu kümmern und ein Netzwerk geschaffen, das es ihnen ermöglicht, auch über weite Strecken hinweg auf dem Laufenden zu bleiben. Drachen im Himalaya, Pegasi in Griechenland, Greife in Indonesien – ganz im Sinne der Kryptozoologie spielt Cornelia Funke mit den Möglichkeiten, die sich eröffnen, wenn man von der Annahme ausgeht, dass es all die der Mythologie entsprungenen Wesen tatsächlich geben könnte und mystifiziert so unsere technologisierte Welt, ohne ihr aber gleichzeitig auch Magie zuzuschreiben. Fabeltiere und Computertechnologie stehen ebenso gleichberechtigt nebeneinander wie Trollmagie und Flugzeugmechanik. Mit dieser Art der Weltgestaltung steht Funke nicht allein. Besonders der dem Pseudonym Dr. Ernest Drake zugeschriebene Prachtband Expedition in die geheime Welt der Drachen (2004) räumt Drachen so glaubhaft einen festen Platz

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in unserer Welt ein, dass es schwer fällt, nicht an sie zu glauben. Drakes (oder korrekter: Dugald A. Steers) großformatiges Bilderbuch ist wie ein klassisches Sachbuch aufgebaut – es führt mit einem Kapitel über die Drachenkunde in eine geographisch, historisch und biologisch fundiert verfasste Studie ein, die nicht nur detaillierte anatomische Zeichnungen der verschiedenen Stadien des Wachstums eines Drachen im Ei beinhaltet, sondern auch Proben von der Haut verschiedener Drachenarten präsentiert. Kleine Werbeanzeigen etwa für feuerfeste Hüte oder eine Drachenpfeife, Briefe und aufwendiges Kartenmaterial tragen ebenso zum Schein der Authentizität bei wie physiologische Studien und genaue Beschreibungen des Aufbaus von Knochen, Augäpfeln, Krallen und Flügeln der Drachen. Der kleingedruckte Hinweis des deutschen Verlages, dass der vorliegende Band das Faksimile eines Buchs aus dem Jahr 1896 sei, für dessen Wahrheitsgehalt der Verlag keine Gewähr übernehme (Vorsatz), ist Teil dieses literarischen Spiels mit der Realität. Steers vermeintliches Sachbuch steht an einem interessanten Wendepunkt in der Entwicklung der kinderliterarischen Drachen. Ihm folgen verschiedene Kinderbücher und Romane, in denen der Drache zur alten Urgewalt der Märchen und Fantasy zurückkehren darf, und die dennoch in einer uns vertrauten Welt spielen. Zwar laufen auch die Fantasyromane weiter, ebenso wie es weiterhin kleine niedliche Drachen gibt, die das Leben ihrer Protagonisten gehörig durcheinanderbringen, doch sind besonders diejenigen Texte interessant, die diese beiden Traditionen miteinander verbinden. Hier ist etwa die Trilogie The Menagerie von Kari und Tui T. Sutherland (2013ff.) zu nennen, in der es nicht nur Drachen, sondern gleich einen ganzen, geheimen magischen Zoo gibt, den es vor den Menschen geheimzuhalten gilt. Und auch die unübersichtliche Wormestall Farm in Veronica Cossantelis The Extincts (2013) dient neben zweiköpfigen Schweinen, Babykraken, Uroboros und Dodos auch einem waschechten Lindwurm als Zuhause. Ähnlich wie Cornelia Funke wecken die Sutherlands und Cossanteli eine geheime ForscherSehnsucht in den Herzen ihrer Leser. Alle stellen die Frage nach dem »waswäre-wenn«, loten die Möglichkeiten versteckter Parks, Zoos und Lebensräume aus und vermischen dabei reale, ausgestorbene Lebewesen mit den Kreaturen der Mythologie und den Produkten ihrer eigenen Phantasie. Indem sie ihre abenteuerlichen Geschichten nicht in einer Fantasywelt verorten, sondern sie in klar definierten Ländern und Städten unserer Welt spielen lassen, tragen sie in einer allzu aufgeklärten, durch und durch technologisierten Welt zu deren Remystifizierung bei.

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FAZIT Es hausen Drachen in unseren Wäldern … ein kurzer Einblick in die Entwicklung der Drachenliteratur der vergangenen 100 Jahre zeigt, dass die Liebe der kindlichen Leser zu diesen außergewöhnlichen mythischen Figuren nie nachgelassen hat. Es scheint – im Gegenteil – eher so, als würde die Sehnsucht nach einer Begegnung mit ihnen immer stärker brennen. Über die in diesem Beitrag stichprobenartig herausgegriffenen Drachen und Geschichten hinaus gibt es eine Fülle multimedialer Bearbeitungen, in denen einzelne Drachen (oder ganze Herden von Drachen) eine zentrale Rolle spielen. Sie in märchenhaft verfremdeten, eigenen Welten leben zu lassen, wie dereinst Smaug, reicht dabei nicht mehr. Sie als kleine bunte Eidechsen im Kinderzimmer zu verstecken, wird ihnen längst nicht mehr gerecht. Und so werden die Drachen seit der Jahrtausendwende wieder größer, dürfen zu alter Urgewalt heranwachsen und sind doch vor den Blicken derer, die nichts von ihnen wissen wollen oder dürfen, gut geschützt. So gewaltig sind die Drachen, dass sie in mehreren literarischen Genres einer Heimat bedürfen. Sie bevölkern die Fantasyliteratur, tauchen in mittelalterlichen Geschichten auf, in denen sie allein den realistischen Rahmen sprengen, und werden neben zahlreichen weiteren mythischen Figuren zum Mittelpunkt in der neueren phantastischen Literatur. Wie es mit ihnen weitergeht, kann mit Spannung verfolgt werden – denn dass es mit ihnen weitergeht, steht außer Frage. Es hausen Drachen in unseren Wäldern, und es ist an uns, sie zu finden.

LITERATUR Bissell Thomas, J[oyce Alice] (1975): The Prince of the Dragon Green. Illustriert von Vernon L. Soper. London: Abelard-Schuman. Boie, Kirsten (2006): Der kleine Ritter Trenk. Illustriert von Barbara Scholz. Hamburg: Oetinger. Bonacker, Maren (2009): »Domestizierte Drachen. Von der Zähmung und Auswilderung kinderliterarischer Drachen« Good Dragons are Rare. Hrsg. Chen, Fanfan und Thomas Honegger. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. 191214. (Arbeiten zur Literarischen Phantastik, 5). Caillois, Roger (1966): »De la féerie à la science-fiction- L’image fantastique« Images, images. Essais sur le rôle et les pouvoirs de l’imagination. Paris: José Corti. 9-59.

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Cossanteli, Veronica (2014): The Extincts. Frome: The Chicken House, 2013. [Deutsche Ausgabe: Wilder Wurm entlaufen. Aus dem Englischen von Ilse Rothfuss. Hamburg: Chicken House.] Coville, Bruce (2004): Jeremy Thatcher, Dragon Hatcher. A Magic Shop Book. Illustriert von Gary A. Lippincott. San Diego: Jane Yolen Books, 1991. [Deutsche Ausgabe: Ein Drache in der Schultasche. Aus dem Amerikanischen von Petra Wiese. Illustriert von Almud Kunert. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag Otto Maier.] Cowell, Cressida. How to Train Your Dragon, by Hiccup Horrendous Haddock III. Illustriert von der Autorin. London: Hodder Children’s Books, 2003. [Deutsche Ausgabe: Drachenzähmen leicht gemacht. Aus dem Englischen von Angelika Eisold-Viebig. Illustriert von Jutta Garbert. Würzburg: Arena, 2004.] DiTerlizzi, Tony. Kenny and the Dragon. Illustriert vom Autor. New York: Simon & Schuster Books for Young Readers, 2008. [Deutsche Ausgabe: Kenny und der Drache. Aus dem Amerikanischen von Anne Brauner. Illustriert vom Autor. München: cbj, 2010.] Drake, Ernest. → siehe Steer, Dugald A. Duve, Karin (2005): Die entführte Prinzessin: Von Drachen, Liebe und anderen Ungeheuern. Frankfurt a.M.: Eichborn. Funke, Cornelia (1988): Die große Drachensuche. Illustriert von der Autorin. Würzburg: Arena [Neuauflage als TB 1991]. Funke, Cornelia (1997): Drachenreiter. Illustriert von der Autorin. Hamburg: Dressler. Funke, Cornelia (2016): Die Feder eines Greifs. Illustriert von der Autorin. Hamburg: Dressler. Grahame, Kenneth. »The Reluctant Dragon« Dream Days. (1898). [Seitenzahlen nicht ermittelbar]. Neuausg. als eigenständiger Text: The Reluctant Dragon. Illustriert vorn Ernest H. Shepard. New York: Holiday House, 1938. [Deutsche Ausgabe: Der Drache, der nicht kämpfen wollte. Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk. Illustriert von Ernest H. Shepard. Hildesheim: Gerstenberg, 1997.] Grimm, Jacob und Wilhelm (1850): »Die zwei Brüder« Kinder- und Hausmärchen (Band 1). Göttingen: Dieterich. (KHM 9). Haas, Gerhard (2011): »Böse Drachen – Gute Drachen. Von Smaug und Nesselbrand bis Fuchur und Lung – Das ambivalente Spiel mit dem Drachenmotiv in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur« Hasenfuß und Löwenherz. Tiere und Tierwesen in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur.

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Smärg oder die Amoralität Phantásiens Eva-Maria Kleitsch

In Michael Endes Unendlicher Geschichte finden wir den Drachen in zwei Kategorien vor. Zum einen gibt es hier die Glücksdrachen, im Text repräsentiert durch eine der bekanntesten Figuren der UG, Fuchur. Von Glücksdrachen heißt es, sie gehörten zu den »seltensten Tieren in Phantásien.« (UG, 68) Sie sind »Geschöpfe der Luft und der Wärme, Geschöpfe unbändiger Freude, und trotz ihrer gewaltigen Körpergröße so leicht wie eine Sommerwolke. […] Sie schwimmen in den Lüften des Himmels wie Fische im Wasser. […] Das Wunderbarste an ihnen ist ihr Gesang.« (UG, 68/69)

Zum anderen gibt es »gewöhnliche […] Drachen oder Lindwürmer […]« (UG, 68). Diese gewöhnlichen Drachen beschreibt der Text als eine Art erdbewohnender, schleimiger Schlangen: »Solche Ausgeburten des Chaos sind meist von boshaftem oder grämlichem Charakter, haben fledermausartige Hautflügel […] und speien Feuer und Qualm.« (UG, 68) Auf der einen Seite also Chaos und Bosheit, auf der anderen Gesang und Freude: Diese Opposition ist nicht neutral. Es ist, grob vereinfacht gesagt, die Opposition von Negativem und Positivem, von Gut und Böse, die sie strukturiert. Der Drache Smärg, von dem hier die Rede sein soll, ist weniger bekannt als Fuchur. Er hat einen vergleichsweise kurzen Auftritt in den Kapiteln siebzehn und achtzehn, danach verschwindet er von der Bildfläche. Dennoch hinterlässt er (genauer: hinterlässt die Problematik, die er repräsentiert) eine breite Spur im Text.

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Smärg, in dessen Name Tolkiens Smaug anklingt1, wohnt nicht in einer Erdhöhle; dem Typus des übellaunigen Chaosdrachen ist er gleichwohl recht eindeutig zuzurechnen. Die Frage, die sich an seine monströse Gestalt knüpft, ist keine geringere als die Frage nach der Konzeption des Guten und des Bösen in der Unendlichen Geschichte überhaupt. Ehe dies ausführlich dargelegt werden kann, bedarf es zweier vorbereitender Abschnitte. Der erste fasst den Verlauf der Unendlichen Geschichte bis zum siebzehnten Kapitel zusammen. Der zweite gibt einen Überblick über Michael Endes ästhetische Konzeptionen und deren Sedimentation im Gerüst der Unendlichen Geschichte. Der gesamten Analyse liegt dabei die Annahme zugrunde, dass es sich bei der Unendlichen Geschichte letztlich (zumindest auch) um eine episch ausformulierte ästhetische Theorie Michael Endes handelt2.

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Die Ähnlichkeit der beiden Namen wird bereits in einer der frühesten Monografien zur UG erwähnt, nämlich in einer Fußnote auf Seite 90 in Claudia Ludwigs »Was du ererbst von deinen Vätern hast... Michael Endes Phantásien - Symbolik und literarische Quellen«.

2

Diese Annahme kann innerhalb des vorliegenden Textes nicht weiter begründet werden, sie ist den Untersuchungen axiomatisch vorangestellt. Verwandte, wenngleich nicht identische Grundannahmen finden sich etwa bei Martin Götze, der von der UG als einem »Roman der Einbildungskraft« spricht, welcher »den Prozess der ästhetischen Erfahrung als Spiel der produktiven Einbildungskraft zum Gegenstand der Darstellung erhebt und darüber hinaus in nuce eine Poetik der Einbildungskraft enthält« (Götze, S. 165), oder bei Markus Pissarek, der in der UG »ein herausragendes Beispiel eines poetologischen Textes für Kinder und Jugendliche« (Pissarek, 116) sieht. Auch Hans-Heino Ewers These, die UG sei ein vor allem mythentheoretischer Text, man habe es mit »der Verankerung und erzählerischen Umsetzung eines konsequenten Mythenverständnisses im Roman« (Ewers, 142) zu tun, kann hier genannt werden. Anders als ich gehen allerdings sämtliche der genannten Autoren von einem weitgehenden Gelingen der Integration von Poetologie und Text aus.

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BASTIANS WEG NACH PHANTÁSIEN – ZUSAMMENFASSUNG Die Ausgangssituation der Unendlichen Geschichte ist die: Bastian Balthasar Bux – Schulversager, Außenseiter, Vielleser – stiehlt in einem Antiquariat ein Buch mit dem Titel Die unendliche Geschichte und zieht sich damit auf den Dachboden des Schulhauses zurück. Der Text, den er liest, handelt von einem Reich namens Phantásien. Dieses Reich ist grenzenlos; seine Mitte und sein Seinsgrund ist die Kindliche Kaiserin. Der Binnentext erzählt, wie Phantásien von einer ominösen Macht bedroht wird, nämlich vom sich ausbreitenden Nichts, das anscheinend mit der mysteriösen Erkrankung der Kindlichen Kaiserin korreliert. Nun kommt die Hauptfigur des Binnentextes ins Spiel: Atréju, ein Junge aus dem Volk der Grünhäute, wird auf die »Große Suche« (UG, 43) nach einem Heilmittel für Phantásien und die Kindliche Kaiserin geschickt. Bei dieser Suche schützt und führt ihn Auryn, das Zeichen der Kindlichen Kaiserin und Phantásiens. Die Macht Auryns indes darf Atréju nur eingeschränkt gebrauchen, da er, als Bote der Kindlichen Kaiserin, ebenfalls zu der ihr eigenen Toleranz gegen gute wie böse Geschöpfe verpflichtet ist. Ab dem vierten Kapitel steht Atréju der obengenannte Fuchur helfend zur Seite. Beider Große Suche führt zu folgenden Erkenntnissen: • Die Kindliche Kaiserin braucht einen neuen Namen, um gesund zu werden

(und – das fällt in eines – damit Phantásien gesund wird). • Einen neuen Namen kann ihr nur ein Menschenkind geben. • Da Phantásien keine Grenze hat, kann Atréju – so meint er – keinen Menschen

zu Hilfe rufen. Letzteres stellt sich jedoch als Irrtum heraus. Als Atréju der Kindlichen Kaiserin all seine Erkenntnisse mitteilt, zeigt sich, dass sie all das schon weiß. Sie erklärt, die Große Suche sei notwendig gewesen, weil gerade sie den Retter herbeigerufen habe. Dieser Retter, dies wird nun immer deutlicher, ist der Leser Bastian, der sich (auf dem Weg seiner Lektüre) der Binnenhandlung immer stärker angenähert hat. Bereits im Verlauf der Großen Suche haben sich die Textebenen mehrfach einander angenähert, Bastian wurde in die Handlung des Buches, das er las, involviert. Als nun Atréju vor der Kindlichen Kaiserin steht, erreicht diese Annäherung der Welten eine neue Stufe. Auch Bastian sieht nun in einer kurzen Vision die Kindliche Kaiserin vor sich. Von diesem Augenblick an weiß er ihren neuen

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Namen: Mondenkind. Er wagt aber nicht, ihn auszusprechen (und damit selbst nach Phantásien zu gelangen), da er fürchtet, dort ebenso wie sonst in der Schule ausgelacht zu werden – immerhin ist er ein reichlich unheroischer, ängstlicher, dicker Junge. Erst als die Kindliche Kaiserin ihn durch eine Art metaleptischer Ebenen-Implosion quasi dazu nötigt, überschreitet er die Schwelle, indem er ihren Namen ausspricht. Damit beginnt der zweite Teil des Textes. Bastians Phantásienaufenthalt fängt mit einer Art Ur-Dunkel an. Nun soll er Phantásien neu erschaffen. Anfangs ist die Kindliche Kaiserin bei ihm, später ist sie es nur noch vermittels ihres Substitutes Auryn, dessen Träger nun Bastian ist. Die rückseitige Inschrift des Amuletts – Tu, was du willst – wird zum uneindeutigen Leitspruch von Bastians Weg durch Phantásien, bald klassifiziert als »Weg der Wünsche« (UG, 228). An seinem Ende soll die Selbstfindung stehen, das Erkennen des eigenen Wahren Willens. Was dieser Weg in etwa bedeutet, umreißt im fünfzehnten Kapitel der Löwe Graógráman, das erste Wesen (und die erste Instanz), der Bastian in Phantásien nach der Kindlichen Kaiserin begegnet. Graógramán erklärt, der Weg der Wünsche sei von allen Wegen der gefährlichste, er erfordere, »höchste Wahrhaftigkeit und Aufmerksamkeit, denn auf keinem anderen Weg ist es so leicht, sich endgültig zu verirren« (UG, 228). Als Bastian daraufhin fragt, ob es denn nicht immer gute Wünsche seien, die man hege, antwortet Graógramán mit der rhetorischen Wendung: »Was weißt du, was Wünsche sind! Was weißt du, was gut ist!« (UG, 228) Abgesehen vom ersten Wunsch (dem Wunsch, Mondenkind noch einmal zu sehen, im Grunde dem Wunsch nach Licht) konzentrieren sich Bastians anfängliche Wünsche darauf, sich selbst mit diversen Eigenschaften auszustatten, die er für erstrebenswert hält. Er hat sich schön, stark, abgehärtet und mutig gewünscht. Für jeden dieser Wünsche (ausgenommen den allerersten), muss er etwas vergessen, nämlich, dass er die gewünschte Eigenschaft früher nicht besessen hat. Jeder Wunsch kostet ihn eine Erinnerung, doch dies weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nach dem Zusammentreffen mit Graógramán verändern sich Bastians Wünsche. Der nächste Wunsch ist der, dass er nicht länger allein sein möchte; daraufhin gelangt er vermittels des Tausend Türen Tempels in die Stadt Amargánth, wo er Atréju und Fuchur wieder trifft. Dieser Wunsch kostet ihn, wie der allererste, nichts. Bastian hat Amargánth zusammen mit einer Prinzessin namens Oglamár und vier Rittern betreten, nämlich den Herren Hýkrion, Hýsbald, Hýdorn und Hynreck. Hynreck, der heldenhafteste der vier, wirbt um Oglamár und wird von Bas-

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tian im Turnier vernichtend geschlagen. Dies wird zum auslösenden Moment der Smärg-Episode. Vor dieser findet aber noch eine entscheidende Modifikation von Bastians Wunschfähigkeit statt. Ausgangspunkt dafür ist Bastians Wunsch, Atréju mit etwas zu beeindrucken, was außer ihm in Phantásien niemand kann, nämlich Geschichten zu erfinden: »Atréju sollte sehen, daß er, Bastian, ein großer Dichter war! […] Oder noch besser wäre es, wenn alles, was er erzählen wollte, Wirklichkeit würde! Hatte Graógramán nicht gesagt, daß Phantásien das Land der Geschichten sei und deshalb sogar längst Vergangenes neu entstehen könnte, wenn es in einer Geschichte vorkommt?« (UG, 256)

Der Wunsch erfüllt sich: Am nächsten Morgen findet ein Dichterfest statt, bei dem Bastian den sehr begrenzten Geschichtenvorrat der Amargánther aufstockt, indem er ihnen eine wahr-werdende Geschichte erzählt. Die Geschichte schenkt der Stadt sowohl einen Gründungsmythos, als auch eine Bibliothek, in der Bastians gesammelte ›Werke‹ zu finden sind (alle Geschichten nämlich, die er sich früher in seiner Welt, ausgedacht hat). Für die Erfüllung dieses Wunsches vergisst er, dass er in seiner Welt für seine Neigung zum Geschichtenerfinden ausgelacht wurde. Auch das kleine Mädchen, das ihm damals als einziges zugehört hat, vergisst er. Das Vergessen nimmt an dieser Stelle einen anderen Charakter an, es bezieht sich nun ganz explizit auf Episoden und Personen, nicht mehr nur auf Eigenschaften. Mit dem Wunsch nach kreativer Potenz hat Bastian die Art und Weise seines Wünschens in Phantásien überhaupt verändert: Zum unbewussten oder halb-unbewussten Wünschen ist die bewusste Gestaltung seiner phantásischen Umwelt getreten. Bastian kann seine eigenen Wünsche immer noch nicht willentlich herstellen (dies betont der Text später ausdrücklich). Er kann aber die Umsetzung dessen, was er wünscht, (scheinbar) kontrollieren. Anders gesagt: Bastian gestaltet Phantásien nun, indem er aktiv Fiktion produziert. Spätestens an dieser Stelle wird offensichtlich, dass Phantásien und die Sphäre der Dichtung einander irgendwie entsprechen. Ein guter Moment also, um die Handlung der Unendlichen Geschichte vorläufig zu verlassen und den anderen Aspekt des Textes zu betrachten: Die in ihn eingearbeiteten Elemente ästhetischer Theorie.

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ÄSTHETIK Michael Ende hat nie eine große einheitliche Schrift zur Ästhetik verfasst. Die folgenden Thesen über seine ästhetischen Grundannahmen sind daher verschiedenen Quellen entnommen: Kleineren Texten, Essays und aufgezeichneten Gesprächen. Allerdings gibt es für jede der hier genannten Thesen Endes mehr als nur eine Quelle. Zunächst: Michael Ende geht von der Existenz einer geistigen Realität aus, von der Existenz einer Anderswelt; einer irgend-jenseitigen Daseinssphäre. In einem kurzen Text über Märchen aus dem Zettelkasten heißt es etwa: »Die echten Märchen sind Erfahrungsberichte aus einer anderen (sagen wir: inneren) Wirklichkeitswelt, mitgeteilt von anonymen Autoren, die bis in alle Einzelheiten hinein sehr genau wußten, was sie sagten. Da dem modernen, westlichen Menschen aufgrund seiner begrifflichen Denkweise die Erfahrung dieser anderen Wirklichkeit so gut wie völlig abhanden gekommen ist, deutet er […] diese Berichte entweder historisch […] oder psychologisch. Beides halte ich für falsch oder doch mindestens für unzureichend. Das Märchen spricht nicht von einer äußeren gesellschaftlichen Welt, und wenn es Elemente daraus verwendet, dann nur als Metapher für jene andere Wirklichkeit. Dort gibt es eben die Hexe, den Königssohn, den Drachen und das Zauberschwert – und wird sie immer geben.« (Zettelkasten, 160)

Die innere ›Wirklichkeitswelt‹ im Sinne Endes ist also nicht durch eine soziale, diskursive, sprachliche Ordnung konstituiert, sondern allenfalls affiziert. Sie besitzt Eigenständigkeit, sie ist, gewissermaßen, aktiv und autark. Dass sie gleichwohl kulturelle und subjektive Formen annimmt, widerspricht dem – im Denken Endes – nicht, denn Ende nimmt generell keine strikte Trennung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt an. Er geht vielmehr (dies gilt auch für das, was er als materielle Welt klassifiziert) von einer Beeinflussung des Betrachteten durch den Betrachter aus, ohne dem Betrachteten deshalb das eigenständige DaSein abzusprechen. Er ist kein Konstruktivist, weder in Bezug auf das, was er geistige, noch in Bezug auf das, was er materielle Welt nennt. Dennoch ist der genaue Status der sogenannten geistigen Realität bei Ende auf Basis seiner Äußerungen schwer zu bestimmen. Ebenso unklar ist, in welchem Maße das, was Ende als Innenwelt bezeichnet, mit der von ihm postulierten geistigen Wirklichkeit, der von geistigen Wesenheiten bevölkerten Sphäre, zusammenfällt. Allem Anschein nach verwendet Ende diese beiden Begriffe (Innenwelt und geistige Wirklichkeit) weitgehend synonym, aber doch nicht ganz einheitlich.

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Was, so ist zu fragen, bedeuten diese angenommenen geistigen Wirklichkeiten nun für Endes Kunstverständnis? Sie sind für ihn, zumindest unter anderem, das, was Kunst darstellen und erfassen (allerdings nicht abbilden) soll. In einem Gespräch mit Jörg Krichbaum von 1985 findet sich folgende Aussage Endes: »… die Welt der sinnlichen Wahrnehmungen ist eine - und die dahinter stehende geistige Realität ist eine ganz andere. Und wenn ich das übersetzen will in sinnlich Wahrnehmbares, da muß ich etwas völlig anderes machen. […] Erst dadurch entsteht etwas im wahrsten Sinne des Wortes Selbständiges.« (Ende/Krichbaum, 41/42)

Zu untersuchen ist nun, inwieweit Ende diese Konzeption von geistiger Wirklichkeit in der Unendlichen Geschichte umsetzt. Man kann Phantásien keinesfalls einfach mit der geistigen Wirklichkeit gleichsetzen. Phantásien ist nicht nur das Andere, das sich offenbart. Es ist zugleich der Raum, in dem solche sich offenbarenden Erscheinungen stattfinden – also der Ort, wo der Mensch mit Zauberschwertern und Drachen in Berührung kommt. Es ist allerdings ebenso ein Raum, der durch den Menschen aktiv gestaltet wird; der Raum, in dem der Mensch – in Berührung mit den geistigen Wesenheiten – schöpferisch wird. Eine Zwischensphäre also; mithin: Sphäre der Kunst, zumindest: auch der Kunst. An diese Kunst stellt Ende verschiedene Ansprüche; sehr entschieden zunächst den, dass sie nicht didaktisch sei, nicht argumentierend, nicht an Erkenntnis orientiert. Das künstlerische Gebilde soll, nach Ende, keine Botschaften vermitteln, sondern Erleben ermöglichen und Bilder schaffen. Wiederholt veranschaulicht er das am Beispiel Othello. So formuliert er in einem Gespräch mit Joseph Beuys 1989: »Es wäre töricht, aus dem ›Othello‹ herauszukommen und zu sagen: Jetzt habe ich wieder einmal gelernt, daß ich nicht eifersüchtig sein soll; […]. Das hieße einfach, das Ganze eben gerade nicht verstanden zu haben.« (Beuys/Ende, 100)

Die Ablehnung argumentierender Literatur bzw. einer argument-orientierten Lesart findet sich in der Unendlichen Geschichte als Positionierung einer Figur: Der Text schreibt Bastian bereits im ersten Kapitel eine Abneigung gegen Bücher zu, die einen »zu was kriegen« (UG, 26) wollen. Solchen Büchern wird die Unendliche Geschichte, die Bastian liest, entgegengesetzt. Versteht man diese Figurenperspektive als Ausdruck der Textintention, rückt diese Passage in die Nähe zum performativen Widerspruch: Insofern nämlich,

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als dann eine fiktionale Figur die Ansicht verkündet, dass eine fiktionale Figur keine Ansichten verkünden solle.3 Ansonsten ist die Unendliche Geschichte, die Bastian liest, zwar fordernder als jede Tendenzliteratur, sofern sie ihn zur Rettung Phantásiens kriegen will; zugleich aber stellt sie insofern eine Umsetzung der Forderung nach einer nichtargumentativen Kunst dar, als ihre Einwirkung auf Bastians Handeln, Denken und Empfinden tatsächlich nicht über das Argument, sondern über das Erleben funktioniert. Das heißt: Innerhalb des Textes setzt die fiktive Unendliche Geschichte das Programm ihres Autors um, während man der realen Unendlichen Geschichte durchaus einen parabolischen, teilweise argumentativen und eben auch didaktischen Charakter zuschreiben könnte. Der nächste Punkt ist vielleicht der wichtigste: Die höchste Form von Kunst ist laut Ende jene, die sich am Konzept des zweckfreien Spiels orientiert, dessen einziges Kriterium die Schönheit ist. Ansonsten steht dieses Spiel »außerhalb aller moralischen Kategorien« (Zettelkasten, 189). Im Vortrag Über das EwigKindliche heißt es: »Sie können dabei ans Schachspiel denken oder an das Spielen von Musikinstrumenten, an Zirkusspiele oder an die Spiele von Kindern – niemals stellt sich dabei die moralische Frage, solange alle Beteiligten sich an die Spielregeln halten, das heißt, so lange das Spiel wirklich Spiel bleibt. […] Für die Dauer des Spiels stehen Sie außerhalb aller moralischen Notwendigkeiten. Gerade darin liegt ja das Erlebnis der Freiheit in allem Kunstgenuß.« (Zettelkasten, 189)

Amoralische Schönheit also ist nach Ende das höchste Ziel der Kunst; allerdings nur der Kunst: »So unsinnig es wäre, in das freie Spiel moralische Kategorien hineinzutragen, so schädlich wäre es auf der anderen Seite, ästhetische Maßstäbe zur Grundlage der Entscheidungen im täglichen Leben zu machen.« (Zettelkasten, 192)

Was Ende fordert, ist eine sehr strikte Trennung der real-moralischen und der imaginär-ästhetischen Sphäre. In Das Bild des Bösen formuliert er:

3

Dieser performative Widerspruch findet sich in Endes Werk häufig, etwa in einzelnen Texten in Der Spiegel im Spiegel oder im Gauklermärchen.

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»Die Darstellung des Bösen ist nicht selber böse, so wie die Darstellung des Guten und Heiligen nicht selber gut oder heilig ist. […] Die Maßstäbe des Künstlerischen oder Poetischen haben mit moralischen Kategorien nichts zu tun.« (Zettelkasten, 92)

Während allerdings der Inhalt des Kunstwerkes den handlungsrelevanten moralischen Kriterien entzogen und eine direkte Tendenz des Kunstwerkes verneint wird, ist die Existenz des Kunstwerks – also dass es Kunst, dass es zweckfreies Spiel gibt – höchst normativ besetzt, und zwar bis zu einem Punkt, wo es zur Aufgabe des Dichters wird, den Wert des Menschen »immer von neuem zu schaffen« (Zettelkasten, 186). Das Dasein von Kunst und der Umgang mit ihr unterliegen bei Ende also sehr wohl einer normativen Bewertung. Die Forderung nach einer amoralisch-spielerischen Kunst spiegelt sich in der Struktur der Unendlichen Geschichte in hohem Maße wieder, am prägnantesten vielleicht in der Figur der Kindlichen Kaiserin, von der es wiederholt heißt, dass »das Böse und das Gute, das Schöne und das Häßliche, das Törichte und das Weise« (UG, 43) gleich vor ihr gelten, und dass alles gleichermaßen durch sie existiert. Indem und während die Kindliche Kaiserin – und in der Funktion als ihr Gesandter auch Atréju – alle Geschöpfe Phantásiens gleichermaßen gelten lassen, handeln sie zugleich im Interesse einer höheren Ordnung: Sie bemühen sich um die Rettung Phantásiens; und unterstehen damit einer anderen Normativität als jener, welche die Figuren Phantásiens in Gute und Böse unterteilt. Auch während Bastians Weg der Wünsche durch Phantásien lebt der Gedanke eines amoralischen Binnen-Phantásiens weiter, wird hier aber zunehmend widersprüchlicher, wie sich spätestens ab und in der Smärg-Episode zeigt. Ehe diese Episode genauer betrachtet wird, soll hier Endes Position zum Verhältnis von Ästhetik und Moral in einem synthetisierenden Modell zusammengefasst werden: Es gibt bei Ende im Grunde drei sich voneinander unterscheidende Normebenen,4 gewissermaßen drei Formen von Moral: Die soziale, die ästhetische und die fiktionale Moral.

4

Auf der Grundlage dieser Feststellung wäre Nils Kulik massiv zu widersprechen, der die Konstellation des Guten und Bösen in der UG mit derjenigen in Werken wie Astrid Lindgrens Mio, mein Mio oder Otfried Preußlers Krabat weitgehend analog auffasst und befindet, dass »die Differenzierung zwischen zwei Perspektiven kaum innovativ wirkt, da sich die Phantásien betreffenden Merkmale unter die übergeordnete Perspektive subsumieren lassen.« (Kulik, S. 218)

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Unter sozialer Moral soll hier die im realen Leben (gewissermaßen: in der Außenwelt) geltende Handlungsethik verstanden werden. Dies ist die Moral, von der der Kunstproduzent sowie der Rezipient für die Dauer ihrer Beschäftigung mit dem Kunstwerk suspendiert sind. Übertragen auf die Unendliche Geschichte wäre dies die Moral, nach der Bastian in der ersten, äußeren Realitätsebene des Buches handelt; bzw. generell eine Moral, die, (um mit der Sprache des Textes zu sprechen) nur Menschenkinder in der Menschenwelt etwas angeht. Die ästhetische Moral betrifft das Verhältnis von realer und ästhetischer Sphäre. Sie fordert das Bestehen beider Sphären sowie ihre kategoriale Trennung. In der Unendlichen Geschichte betrifft diese Moral sowohl Menschen als auch Phantásier. Phantásische Instanzen, die über das Verhältnis der beiden Welten Auskunft geben, agieren als Sprachrohre dieser Moral. Fiktionale Moral schließlich meint jenes Normensystem, nach welchem das Handeln einer fiktionalen Figur als gut oder böse klassifiziert wird. Wenn Ende davon spricht, dass gute und böse Figuren in der Kunst gleichermaßen berechtigt sind, muss er ein solches Normensystem annehmen; das gleiche gilt, auf Textebene, für die Kindliche Kaiserin, die gute und böse Kreaturen gleichermaßen gelten lässt.

SMÄRG: EINE IRRITATION Zurück zu Smärg: Bastian hat also Held Hynreck im Turnier demütigend geschlagen; Hynreck sitzt verzweifelt in einem Gasthaus, da Prinzessin Oglamár nach seiner Niederlage nichts mehr von ihm wissen will. Die anderen Helden schlagen Bastian vor, Hynreck mittels seiner neuerworbenen Fähigkeit, die phantásische Realität mit Geschichten zu beeinflussen, zu helfen. Atréju macht dazu, wie der Text sagt, »wieder sein undurchdringliches Gesicht« (UG, 265). Daraufhin erzählt Bastian Hynreck, Oglamár sei von einem der schrecklichsten Ungeheuer in Phantásien entführt worden, und er, Held Hynreck, müsse sie retten. Die genauen Umstände von Entführung wie Rettung formuliert Bastian in einer Geschichte: »Sehr weit von hier […] gibt es ein Land, das heißt Morgul oder das Land des Kalten Feuers, weil dort die Flammen kälter sind als Eis. […] Mitten in diesem Land gibt es einen versteinerten Wald mit dem Namen Wodgabay. Und wiederum mitten in diesem versteinerten Wald steht die bleierne Burg Ragar. Sie ist von drei Burggräben umgeben.

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Im ersten fließt grünes Gift, im zweiten rauchende Salpetersäure, und im dritten wimmeln Skorpione […].« (UG, 266)

Herr der Burg ist, so Bastian, Smärg: »Seine Flügel sind aus schleimiger Haut und haben eine Spannweite von zweiunddreißig Metern. […] Sein Leib gleicht dem einer räudigen Ratte, aber sein Schwanz ist der eines Skorpions. Selbst die leichteste Berührung mit dem Giftstachel ist absolut tödlich. Seine Hinterbeine sind die einer Riesenheuschrecke, aber seine Vorderbeine […] gleichen den Händen eines kleinen Kindes. Doch […] gerade in diesen Händchen liegt eine furchtbare Kraft.« (UG, 266)

Weiter erfindet Bastian für Smärg einen einziehbaren Hals mit drei Köpfen: »Einer ist groß und gleicht dem Kopf eines Krokodils. Aus diesem Maul kann er eisiges Feuer speien. Aber dort, wo bei einem Krokodil die Augen sind, hat er zwei Auswüchse, die noch einmal Köpfe sind. Der rechte sieht aus wie der eines alten Mannes. Mit ihm kann er hören und sehen. Zum Sprechen hat er den linken, der wie das schrumpelige Gesicht eines alten Weibes aussieht.« (UG, 266)

Von diesen pittoresken Details einmal abgesehen, gehört Smärg in die Reihe der eingangs erwähnten schleimigen, hautflügligen gewöhnlichen Drachen; er verkörpert also eine (gemäß der fiktionalen Moral) böse Figur. Es ist nun interessant, zu sehen, wie die einzelnen Figuren – konkret: Atréju, Fuchur und Bastian – auf das Problem Smärg reagieren. Die ersten beiden reagieren ambivalent: Fuchur erklärt sich aufgrund seiner entfernten Verwandtschaft mit dem Drachen Smärg »halb im Scherz« (UG, 274), wie der Text sagt, für nicht ganz einverstanden mit der bevorstehenden Drachentötung. Atréju wiederum ist das Ungeheuer offenbar suspekt: Kaum dass Bastian mit dem Herbeierzählen fertig ist, erscheint der leibhaftige Smärg in all seiner Monstrosität am Himmel über der Stadt. Kurz darauf schaut Atréju Bastian von der Seite an, und schlägt ihm vor, nun den Rückweg in seine Welt anzutreten. Wie, muss man fragen, ist diese Reaktion einzuordnen; welche Rolle spielt Atréju in der Unendlichen Geschichte? Im ersten Teil agiert er sowohl als Vertreter des Guten im Sinne der fiktionalen Moral, als auch als Vertreter der ästhetischen Moral. Der Konflikt zwischen beiden Normsystemen ist hier noch relativ gering, wenngleich vorhanden. Im zweiten Teil ist Atréju weiterhin ein guter fiktiver Charakter, doch inwieweit er auch Vertreter der ästhetischen, also der beide

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Welten umfassenden Moral ist, ist fraglich. Eine oberflächliche Lektüre der Unendlichen Geschichte könnte leicht dabei landen, in Atréju die Verkörperung des Guten generell zu sehen, da er gegen Bastians allmählich stattfindende Mutation zum verblendeten Alleinherrscher opponiert; doch man darf nicht vergessen, dass Atréju selbst ganz am Schluss über sich und Bastian urteilt: »›Wir hatten beide recht […] und haben uns beide geirrt. […]‹« (UG, 415) Atréju wird nicht als moralisch fehlgehend dargestellt, aber er hat auch nicht die volle Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten seiner Welt oder gar der Menschenwelt bzw. der ästhetischen Sphäre. Auch für Bastian ist der in Phantásien reale Smärg ein Problem. Während der Reise in den Tagen, die auf die Erschaffung des Drachen folgen, stoßen die Wandernden immer wieder auf Spuren der Verwüstung, die Smärg angerichtet hat; versteinerte Bäume und Fußabdrücke. Dies löst einen Reflexionsprozess bei Bastian aus: »Sicherlich, Held Hynreck brauchte etwas, woran er sich bewähren und wogegen er kämpfen konnte. Aber es war ja durchaus nicht gesagt, daß er siegen würde. Was, wenn Smärg ihn umbrachte? […] Und von alledem einmal abgesehen, wer weiß, was Smärg sonst noch in Phantásien anrichtete. Bastian hatte da, ohne sich viel dabei zu denken, eine unabsehbare Gefahr geschaffen, die nun ohne ihn weiterbestehen und vielleicht unsägliches Unheil über viele Unschuldige bringen würde. Mondenkind […] machte in ihrem Reich keinen Unterschied zwischen Bösen und Guten, zwischen Schönem und Hässlichem. Für sie war jedes Geschöpf in Phantásien gleich wichtig und berechtigt. Aber er, Bastian – durfte er sich denn ebenso verhalten wie sie? Und vor allem, wollte er es denn überhaupt? Nein, sagte sich Bastian, er wollte durchaus nicht als Schöpfer von Ungeheuern und Scheusalen in die Geschichte Phantásiens eingehen. Viel schöner wäre es, wenn er für seine Güte und Selbstlosigkeit berühmt wäre, […] wenn man ihn den ›guten Menschen‹ nennen oder wenn er als der ›große Wohltäter‹ verehrt werden würde.« (UG, 274/275)

Bei Beginn dieser Reflexion überträgt Bastian sein moralisches Bewertungssystem, also die soziale Moral, auf sein Da-Sein in Phantásien. Er betrachtet Phantásier quasi als Mitmenschen, deren Schicksal er in seinen Handlungen zu berücksichtigen hat. Indem er sich von Mondenkinds Perspektive abgrenzt, erteilt er dem Konzept des frei spielenden Künstlers eine Absage. Zwischen der Frage Durfte er sich denn ebenso verhalten wie sie? und der Frage Wollte er es denn überhaupt? verändert sich Bastians Reflexion. Der Beginn der Überlegung folgt, wie gesagt, noch der sozialen Moral: Bastians Gedanken kreisen hier um Tun und Sein. Die zweite Frage hingegen leitet

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Reflexionen ein, die um den Anschein kreisen. Hier stellt Bastian sich nicht mehr die Frage, ob er ein guter Mensch sein will, sondern ob er als ein guter Mensch scheinen, das heißt: ein guter Phantásier, eine gemäß dem fiktionalen Moralsystem gute Figur sein möchte. Seine Sehnsucht danach, ein guter Phantásier zu sein, führt ihn direkt zum nächsten Wunsch, der Verwandlung der traurigen, aber herrliches Silberfiligran schaffenden Acharai in die hysterisch-vergnügten, jedoch unproduktiven und destruktiven Schlamuffen. Bastians Position in Phantásien ist paradox, denn er agiert zugleich als Autor seiner Geschichte (und der Geschichte der Wesen um ihn herum), wie auch als Protagonist. Diese widersprüchliche Konzeption Bastians wird nicht sofort augenfällig, da Phantásien nie einfach nur von ihm Geschaffenes, sondern zugleich eigenständige, selbsttätige Umwelt ist. Indem Bastian immer wieder auf tatsächlich oder scheinbar autonome Gegenüber trifft, tritt der fiktionale Charakter der Phantásier ebenso wie Bastians fiktionales und doch nicht fiktionales Phantásien-Ich in den Hintergrund. Unter der Oberfläche bleibt die Unvereinbarkeit von Autoren-Rolle und Protagonisten-Rolle latent wirksam; ein Konflikt, der einerseits die Texthandlung vorantreibt, andererseits aber die Deutbarkeit des Textes massiv beschädigt. Es lohnt sich, der Spur des bösen Drachen Smärg zu folgen, wenn man diese Beschädigung genauer ins Auge fassen und tiefer in die Logik und Unlogik Phantásiens eindringen möchte.

LITERATUR Beuys, Joseph/Ende, Michael (1989): Kunst und Politik: ein Gespräch. Wangen: Freie Volkshochschule Argental. Ende, Michael (1979): Die unendliche Geschichte. Stuttgart: Thienemanns Verlag. Ende, Michael (1994): Zettelkasten. Stuttgart; Wien: Weitbrecht. Ende, Michael/Jörg Krichbaum (1985): Die Archäologie der Dunkelheit: Gespräche über Kunst und das Werk des Malers Edgar Ende. Stuttgart: Edition Weitbrecht. Ewers, Hans-Heino (2018): »Michael Ende neu entdecken«. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag. Götze, Martin (2008): Roman der Einbildungskraft. Zu Michael Endes Unendlicher Geschichte. Aus: »Literatur und Ästhetik. Texte von und für Heinz Gockel«. Hg.: Julia Schöll. Würzburg: Königshausen & Neumann.

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Kulik, Nils (2005): Das Gute und das Böse in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Eine Untersuchung bezogen auf Werke von Joanne K. Rowling, J. R. R. Tolkien, Michael Ende, Astrid Lindgren, Wolfgang und Heike Hohlbein, Otfried Preußler und Frederik Hetmann. Frankfurt am Main: Peter Lang. Ludwig, Claudia (1988): Was du ererbst von deinen Vätern hast ... Michael Endes Phantásien – Symbolik und literarische Quellen. Frankfurt am Main: Peter Lang. Pissarek, Markus (2013): Michael Endes Die unendliche Geschichte - Internationaler Klassiker oder Fantasy-Gesinnungskitsch? Aus: »Klassiker der Internationalen Jugendliteratur, Band 2: Kulturelle und epochenspezifische Diskurse aus Sicht der Fachdisziplinen«. Hg.: Anita Schilcher/Claudia Maria Pecher. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

»Fire and Blood« Drachen in A Song of Ice and Fire Christian Ehring

VORÜBERLEGUNGEN »For dragons are fire made flesh, and fire is power.« (ACOK 426) So beschreibt die mysteriöse Priesterin Quaithe die zentrale Bedeutung der neugeborenen Drachen gegenüber der mother of dragons Daenerys Targaryen. Hiervon ausgehend sollen in diesem Beitrag die Funktionen der Drachen innerhalb des Kosmos von ASOIAF ergründet werden. Die moderne (High) Fantasy verhandelt als Genre schon seit ihrer (nachträglich zugeschriebenen) Gründung durch J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings1 und vor allem dem dazugehörigen Prequel The Hobbit die Figur des Drachen. In Mittelerde waren die Drachen Tolkiens die klassischen antagonistischen Ungeheuer, die dem Sprachwissenschaftler Tolkien durch die Beschäftigung mit mediävistischen Texten2 geläufig waren.3 Seitdem der Drache Smaug die literarische Bühne betrat sind Drachen ein zentraler Topos der Fantasy-Literatur, allerdings mit fortwährenden Neuinterpretationen. So wandeln Drachen sich in Ursula K. Le Guins Earthsea-Saga vom

1

Die Genredefinition findet sich unter anderem bei: James/Mendlesohn (2012).

2

Zur Rolle der Drachen im Mittelalter als Gegner siehe die Beiträge von Auburger und Schindler in diesem Band, zu Tolkiens Beschäftigung mit mediävistischen Texte siehe u.a.; Tolkien, J. R. R. (1983).

3

In seinem späteren Werk, dem Simarillion, entwickelt Tolkien noch unterschiedliche Arten von Drachen, die sich dann zwar in ihrer äußeren Form unterscheiden aber in ihrer Funktion als ›Diener des Bösen‹ einheitlich bleiben.

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antagonistischen Monster zu einem Freund und Verbündeten des Protagonisten und eröffnen so einen spannenden und immer noch sehr aktuellen Diskurs um Heterogenität, Akzeptanz und Toleranz. In J.K. Rowlings Harry Potter4 sind Drachen zwar wieder in erster Linie Monster, die es vom Protagonisten zu überwinden gilt, aber sie sind in diesem Falle dem Bereich des Biologisch-Tierhaften zugeordnet. Drachen stehen hier für Fragen um den Artenschutz und im Besonderen um die Integrationsmöglichkeiten von großen Raubtieren in die moderne Welt. Um die Frage der Drachen in ASOIAF zu klären werde ich zuerst einen Abriss über die äußere Gestalt von Drachen und ihre Bedeutung für die Geschichte innerhalb des fiktionalen Kosmos geben. Im zweiten Abschnitt wird der Zusammenhang von Drachen und Magie beleuchtet. Abschnitt drei klärt, in wie fern Drachen für die Identifikation von Auserwählten wichtig sind. Der vierte Abschnitt widmet sich allen weiteren Repräsentationsformen von Drachen innerhalb des ASOIAF-Kosmos. Der fünfte Abschnitt stellt sich der Frage, ob es bei Martin eine klare Funktionszuschreibung von Drachen gibt.

VON DER GESTALT UND DER GESCHICHTE Drachen in ASOIAF folgen scheinbar dem tolkienschen Vorbild. Es sind große, geschuppte, reptilienartige Ungeheuer mit einem langen Schwanz und einem Stachelkamm (AGOT 229), der sich von Kopf bis zum Schwanz zieht. Mit ihren zwei Flügeln können sie sich einer Fledermaus ähnlich in die Luft erheben 5 und Feuer speien. Drachen schlüpfen etwa mit der Größe einer Katze (ACOK 190), wachsen in ihrem Leben aber immer weiter und so können die ältesten Drachen riesige Dimensionen einnehmen. (ADWD 981) Über das maximale Alter von Drachen kann nur spekuliert werden, der älteste bekannte Drache ist Balerion mit über 200 Jahren: »A dragon’s natural span of days is many times as long as a man´s, or so the songs would have us believe … but the dragons the Seven Kingdoms knew best were those of House Targaryen. They were bred for war, and in war they died.« (ASOS 108) Im Gegensatz zum klassischen Bild besitzen die Drachen von ASOIAF jedoch nur zwei Beine und bewegen sich mit Hilfe ihrer Flügel als Beinersatz wie Fledermäuse auf dem Boden fort. Sie sind ähnlich

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Drachen werden vor allem in den Bänden Harry Potter and the philospher‘s stone (2014) und Harry Potter and the goblet of fire (2014) behandelt.

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Westeros.org (2007)

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ihrem Pendant in Harry Potter eher instinktgetriebene Kreaturen, die mit Menschen nicht kommunizieren können. Genauso wenig sind Drachen einheitlich gefärbt, von schwarz über rot, grün und gold bis hin zu weißlich-beige sind alle Farben möglich. Am wichtigsten ist jedoch das Geschlecht. Sie vermehren sich zwar ovipar, doch ist nicht bekannt, wer die Eier legt und wie die Befruchtung stattfindet. Eine eindeutige Geschlechtszuordnung ist aufgrund nicht erkennbarer Geschlechtsmerkmale nicht möglich. Auf diesen Umstand wird im Verlauf des Berichts noch später eingegangen. Die Entstehung der Drachen wird in ASOIAF nicht weiter erörtert. Es wird vermutet, dass Drachen ursprünglich aus den Shadowlands und Asshai, Ländern im mythologisch behafteten Osten von Essos, stammen. Essos ist neben Westeros der zweite Kontinent in Martins Welt und eher Nebenschauplatz. Aus Sicht der Westerosi, den Bewohnern von Westeros, ist der Kontinent ein barbarischer Ort, um den sich Legenden ranken. So mysteriös wie die Herkunft der Drachen ist auch ihre Verbreitung. Als erster gesicherter ›historischer Fakt‹ lassen sich Drachen bei der Entstehung des valyrischen Imperiums nachweisen. Dieses Imperium breitete sich von der namensgebenden Stadt Valyria im zentralen Süden von Essos über die gesamte westliche Hälfte des Kontinents aus. Auf einer der östlichen Inseln vor dem Kontinent Westeros wurde sogar eine Kolonie errichtet. Die Stadt Valyria wurde auf einem vulkanischen Archipel gegründet und diese Lage schien die Zucht von Drachen zu begünstigen. Diese Bedingungen ermöglichten dem Stadtstaat, eine große Anzahl Drachen ins Feld zu führen. So waren die Drachen der Grundstein des valyrischen Imperiums. (TWOIAF 32) Es ist auch nicht verwunderlich, dass sich auch das politische System des Staates auf Drachen stützte. Die herrschende Schicht bildeten die Familien der so genannten dragonlords, also jene Familien, die die Kontrolle über die Drachen innehatten. Doch waren die Familien der dragonlords keine homogene Gruppe – zwischen den Familien gab es gewaltige Unterschiede an Macht und Einfluss. Valyria etablierte sich sowohl zum politischen und ökonomischen Zentrum als auch zum Höhepunkt der Zivilisation innerhalb der bekannten Welt. »At its apex Valyria was the greatest city in the known world, the center of civilization. Within its shining walls, twoscore rival houses vied for power and glory in court and council, rising and falling in an endless, subtle, oft savage struggle for dominance.« (TWOIAF 32)

Das valyrische Imperium fand seinen Niedergang in dem nicht näher beschriebenen Kataklysmus des Doom of Valyria, bei dem die Stadt Valyria ihren Untergang fand und mit ihr das gesamte Imperium zusammenbrach. Mit dem Doom of

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Valyria ging nicht nur viel Wissen um Magie und Technik verloren, es starben auch nahezu alle Drachen. Auf Grund einer Prophezeiung konnte sich eine eher unbedeutende Familie der Dragonlords, die Targaryens, in der Kolonie in Westeros in Sicherheit bringen. Auf der Insel Dragonstone überlebten sie und ihre Drachen den Doom of Valyria und dessen Nachwehen. Die Drachen der Targaryen waren somit die letzten Drachen der bekannten Welt. 6 Von ihrem neuen Stammsitz aus wand sich nach einiger Zeit Aegon, der amtierende Lord des Hauses, dem von Bürgerkriegen zerrütteten Essos ab. Stattdessen begannen er und seine beiden Schwestern mit ihren drei Drachen die Eroberung des Kontinents Westeros. Dort trafen ihre Drachen auf kaum bis keine Gegenwehr und so schaffte es Aegon the Conquerer, sechs der sieben Königsreiche zu unterwerfen und zu einem großen Reich zu vereinen. Allein das südlich gelegene Dorne konnte seine Eigenständigkeit bewahren, da die weitläufigen Wüsten und schroffen Gebirge kein geeignetes Terrain boten, um Drachen einzusetzen. In dem neugegründeten Reich kam es in den nachfolgenden Generationen wieder zu einer Vermehrung von Drachen. Doch Kriege und vor allem der Krieg um die Nachfolge als Herrscher der Königslande zwischen zwei Parteien der Targaryen, der als Dance of Dragons in die Geschichte einging, reduzierten den Bestand der Drachen wieder. Zusätzlich war jede neugeborene Generation von Drachen scheinbar kleiner und schwächer als die vorangegangene Generation. So starben die letzten Drachen der Targaryen unter Aegon III., genannt Dragonbane. Sowohl Aegon als auch viele seiner Nachfahren unternahmen verschiedenste Versuche, Dracheneier auszubrüten, aber kein Einziger hatte Erfolg. Am prominentesten ist hier der Versuch von Aegon V. zu nennen. Durch einen nicht näher geklärten Unfall wurde während des Ausbrütens die Sommerresidenz der Targaryen Summerhall komplett niedergebrannt und dieser Unfall forderte neben dem Leben des Königs auch zahlreiche weitere Opfer. (TWOIAF 110)

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»It’s safe to say that the Targaryens were the only nobles with dragons who escaped the destruction of Valyria.« G.R.R. Martin in einem Interview mit asshai.com in Barcelona im Juli 2012. Dies steht zwar etwas im Gegensatz zu TWOIAF, laut dem auch andere dragonlords wie Aurion den Doom of Valyria überlebten. Dieser verschwand aber kurz nach der Katastrophe bei dem Versuch das Imperium und die Stadt neu zu errichten. Für die Welt von ASOIAF zählt in diesem Fall also nur die Tatsache, dass auf längere Sicht einzig die Drachen der Targaryen überlebten.

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Mit ihrem Verschwinden rückten Drachen eher in die Welt der Mythen. Die Existenz von Drachen in der Vergangenheit wurde zwar nie bestritten, aber kaum jemand wusste genaueres über Drachen als die landläufigen Legenden. Erst der Zufall brachte die Drachen zurück in die Welt von ASOIAF. Drei Dracheneier wurden als Grabbeigabe in einem Scheiterhaufen mit verbrannt. Als das Feuer niedergebrannt war, schlüpften aus ihnen drei Drachen. (AGOT 806) Wichtig hierbei ist der Blick auf den Schauplatz des Geschehens: Die Drachen werden nicht in Westeros, sondern in Essos geboren, dem Land der Fremde aus der Perspektive der meisten handelnden Figuren in ASOIAF.

VON DER MAGIE Drachen sind in ASOIAF eng mit der Magie verbunden. So wird schon das ›Verschwinden‹ der Magie mit Drachen in Verbindung gebracht: »Magic had died in the west when the Doom fell on Valyria and the Lands of the Long Summer, and neither spell-forged steel nor stormsingers nor dragons could hold it back« (AGOT 235). Und so ist auch die Geburt der Drachen ein magisches Ereignis: Während der Bestattungszeremonie ihres Mannes sieht Daenerys einen roten Kometen über den Himmel ziehen. (AGOT 804) Dieses Zeichen wird im Verlauf dieses Beitrages noch gesondert behandelt. Während das Feuer an Intensität zunimmt, hört Daenerys knackende Geräusche aus den Flammen, die eine seltsame Anziehungskraft auf sie ausüben. Während sie auf das Feuer zugeht, versuchen mehrere Anhänger, Daenerys von dem scheinbaren Suizid durch Zurufe abzubringen. Doch Daenerys denkt nur noch an das Feuer: »[…] The fire is mine. I am Daenerys Stormborn, daughter of dragons, bride of dragons, mother of dragons, don’t see you? […] Unafraid, Dany stepped forward into the firestorm, calling to her children.« (AGOT 806) Daughter of dragons und bride of dragons lässt sich noch relativ einfach erklären. Daenerys ist die Tochter von König Aerys II. und seiner Frau Rhaella, beides Mitglieder des Hauses Targaryen. Das Wappen der Targaryen ist ein roter, dreiköpfiger Drachen auf schwarzem Feld in Anlehnung an Aegon the Conquerer und seine beiden Schwestern. Bride of dragons lässt sich über die Heiratspolitik der Targaryens erklären. Bei den Targaryens ist es Brauch, innerhalb der Familie zu heiraten. Nicht nur Cousin und Cousine, sondern auch Bruder und Schwester. Ziel dieses Inzests ist die Erhaltung der Reinheit des alten valyrischen Bluts. Nur wenn kein passender Partner innerhalb der Familie gefunden wird, wird außerhalb der Familie geheiratet. Daenerys ging, getreu dem Familienbrauch, davon aus, dass sie ihren älteren Bruder Viserys heiraten wird. Interessant hingegen ist die Formulierung mo-

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ther of dragons. Zu dem Zeitpunkt der Gedanken hat Daenerys noch keinen Drachen gesehen oder gehört. »She heard a crack, the sound of shattering stone« (AGOT 805). Die Dracheneier sind versteinert, aber wie kann Daenerys vom Krachen von zerbrechendem Stein auf die Geburt der Drachen schließen – oder müssen diese Gedanken viel mehr als Prophezeiung gesehen werden? Die Fertigkeit der Prophezeiung wird später genauer betrachtet. Ein weiteres magisches Detail ist das unversehrte Überleben von Daenerys. Lediglich ihre Haare sind in dem meterhohen Scheiterhaufen verbrannt, ansonsten fehlt ihr nichts. Dieses Phänomen ist durch nichts außer der Magie des Moments zu erklären. Zwar haben alle Targaryens die Fähigkeit, Hitze besser zu ertragen als normale Menschen: »They filled the bath with hot water [….] The water was scalding hot, but Daenerys did not flinch or cry out. She liked the heat. […] Besides, her brother had often told her that it was never too hot for a Targaryen. ›Ours is the house of the dragon,‹ he would say. ›The fire is in our blood‹.« (AGOT 32)

Targaryens haben demnach eine weitaus höhere Toleranz gegenüber Hitze, sie können aber trotzdem vom Feuer verbrannt werden. Dies kann man bei der Hinrichtung von Viserys erkennen, als ihm geschmolzenes Gold über den Kopf gegossen wird und dies zum Tode führte. (AGOT 500) Martin betont die Magie und die Einzigartigkeit des Momentes bei der Geburt der Drachen nachträglich bei einem Interview: »No, no Targaryens are immune to fire. The thing with Dany and the dragons, that was just a one-time magical event, very special and unique. The Targaryens can tolerate a bit more heat than most ordinary people, they like really hot baths and things like that, but that doesn't mean they're totally immune to fire, no. Dragons, on the other hand, are pretty much immune to fire«7 Die Magie tritt aber nicht nur bei der Geburt der Drachen auf. Auf ihrer Reise durch Essos wird Daenerys vermehrt mit magischen Phänomenen konfrontiert, die sie sich selbst schwer erklären kann. So trifft sie in der Stadt Quarth auf einen Feuermagier, der sogar eine Leiter aus Feuer errichten und erklimmen kann. Daenerys ist über den Trick verwundert, doch ihre Begleiterin, die Priesterin Quaithe, erläutert ihr, dass es sich nicht um einen Trick handelt, sondern um wahre Magie:

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Shaw, Robert: Interview with the Dragon, 2003. Onlinefassung: web.archive.org/web/20051103091500/http://nrctc.edu/fhq/vol1iss3/00103009.htm

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»Half a year gone, that man could scarcely wake fire from dragonglass. He had some small skill with powders and wildfire, sufficient to entrance a crowd while his cutpurses did their work. He could walk across hot coals und make burning roses bloom in the air, but he could no more aspire to climb the fiery ladder than a common fisherman could hope to catch a kraken in his nets […] And now his powers grow, Khaleesi. And you are the cause of it. […] You are the Mother of Dragons, are you not?« (ACOK 582)

Seit der Geburt der Drachen verfügt nicht nur Daenerys über magische Kräfte, auch bei anderen Personen steigert sich das magische Potential. Dieser Effekt erstreckt sich nicht nur über Essos, sondern reicht bis nach Westeros. Dort wundert sich der oberste Pyromancer Hallyne während eines Gesprächs, dass die Produktion von wildfire besser voranschreitet als gedacht: »›[...] certain spells, hmmm, ancient secrets of order […] They, hmmm seems to be working better than they were‹ Hallyne smiled weakly. ›You don´t suppose there are any dragons about, do you?‹ […] ›I was remembering something old Wisdom Pollitor told me once, when I was an acolyte. I´d asked him why so many of our spells seemed, well, not as effectual as the scrolls would have us believe, and he said it was because magic had begun to go out of the world the day the last dragon died.‹« (ACOK 717)

Wenn also die Magie auf der Welt an dem Tag verschwand, an dem der letzte Drache starb, so ist es durchaus möglich, dass die Magie mit den Drachen am gleichen Tag zurückkehrt. Passend zu dieser These kehren im Prolog des ersten Bands auch die White Walkers, oder auch the Others genannt, im wilden Norden Westeros zurück. The Others sind magische Wesen, die Untote befehlen und mit ihren magischen Fähigkeiten Eis formen können. »The Others can do things with ice that we can't imagine and make substances of it.« (Shaw 2003) Mit the Others stehen den Drachen ebenbürtige Feinde entgegen. Getreu dem Dualismus aus Ice and Fire. Weiterhin erlernen auch andere Charaktere magische Fertigkeiten. So entwickelt Bran Stark nach seinem Sturz von einem Turm und der darauffolgenden Lähmung die Fähigkeiten der Prophetie, bei ihm greenseeing genannt, und des Körperwechsels mit Tieren und Menschen, genannt skinchanging. (ADWD 493) Diese Fähigkeiten waren vorher nur Teil von Legenden, es gab keine bekannten Menschen mit diesen Gaben. Auch treten mehrere Priester des Gottes R´hllor mit magischen Fähigkeiten auf. Allen voran sei Melisandre genannt. Sie tritt dem Gefolge von Stannis Baratheon bei. Ihre magischen Fertigkeiten beinhalten Prophetie, sie kann die Zukunft in Flammen sehen (ACOK 19) und auch über Schatten gebieten. So sendet

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sie einen Schatten aus, um Renly Baratheon zu töten. (ACOK 502). Neben Melisandre tritt auch der R´hllorpriester Thoros of Myr mit magischen Fähigkeiten auf. Er kann durch ein Gebet und Blut die Klinge von Schwertern in Flammen aufgehen lassen. (ASOS 469) Dies war ihm nach eigenen Angaben vor der Geburt der Drachen nicht möglich. Zu diesem Zeitpunkt überzog Thoros die Klingen seiner Schwerter noch behelfsweise mit alchimistischem wildfire, um zumindest den gleichen optischen Effekt zu erzielen. Das wildfire beschädigte beim Verbrennen die Klinge so stark, dass er nach jedem Wettkampf ein neues Schwert benötigte (ACOK 308), während die wahre Magie die Klingen jedoch unbeschädigt lässt. Auch Thoros kann nach der Geburt der Drachen durch Flammen in Sphären außerhalb seiner Reichweite blicken: »Sometime he sees things in the flames […] The past. The future. Things happening far away.« (ASOS 590). Doch seine mächtigste magische Fähigkeit ist die Kunst der Wiederbelebung. Als Teil einer Widerstandsgruppe belebt er den Anführer dieser Gruppe, Lord Beric Dondarrion, sechsmal wieder (ASOS 536). Diese Fähigkeit besitzt sonst nur noch der eben genannte Beric Dondarrion. Er benutzt den kiss of life, wie die Wiederbelebung genannt wird, nur einmal. Doch muss Dondarrion im Gegensatz zu Thoros sein Leben opfern, um Catelyn Stark wiederzubeleben (AFFC 914). Als letzten Punkt möchte ich noch auf die Beziehung von Targaryens und Drachen zur Magie eingehen. »There have always been Targaryens who dreamed of things to come, since long before the Conquest.« (AKOSK 353) Einige Mitglieder der Targaryens besitzen ebenfalls die Gabe der Vorhersehung. Bei ihnen wird diese Fähigkeit dragondreams genannt. Wie der Name bereits andeutet, handeln diese Träume immer von Drachen. Drachen sind in diesen Träumen aber nicht nur Drachen selbst, sondern können auch Metaphern für z.B. bestimmte Menschen sein. Schon in der Vorzeit der Geschichte von ASOIAF hatte Daenys Targaryen einen prophetischen Traum, in dem sie von der vollkommenden Zerstörung Valyrias träumte. Ihr Vater vertraute auf diese Fähigkeit und brachte die Familie in der Kolonie auf der Insel Dragonstone in Sicherheit. Deshalb waren die Targaryens die einzige Familie, die den Doom of Valyria überlebte. Auch von anderen Familienmitgliedern sind dragondreams überliefert. So träumt Daenerys in ihrer Hochzeitsnacht von dem Erscheinen der Drachen (oder genauer von einem Drachen): »Viserys was hitting her, hurting her. She was naked, clumsy with fear. She ran from him, but her body seemed thick and ungainly. He struck her again. She stumbled and fell. ›You woke the dragon‹, he screamed as he kicked her. ›You woke the dragon, you woke the dragon.‹ Her thighs were slick with blood. She closed her eyes and whimpered. As if in

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answer, there was a hideous ripping sound and the crackling of some great fire. When she looked again Viserys was gone, great columns of flame rose all around, and in the midst of them was the dragon. It turned its great head slowly. When its molten eyes found hers, she woke, shaking and covered with a fine sheen of sweat.« (AGOT 100)

Kurze Zeit später sah sie in einem Traum ihre besondere Beziehung zu ihrem späteren Drachen Drogon vorher: » […] she dreamt the dragon dream again. Viserys was not in it this time. There was only her and the dragon. Its scales were black as night, wet and slick with blood. Her blood, Dany sensed. Its eyes were pools of molten magma, and when it opened its mouth, the flame came roaring out in a hot jet. She could hear it singing to her. She opened her arms to the fire, embraced it, let it swallow her whole, let it cleanse her and temper her and scour her clean. She could feel her flesh sear and blacken and slough away, could feel her blood boil and turn to steam, and yet there was no pain. She felt strong and new and fierce.« (AGOT 228)

Nach der Geburt der Drachen folgte für sie ein weiterer Traum, in dem sie eine zukünftige Auseinandersetzung mit the Others sieht: »That night she dreamt she was Rhaegar, riding to the Trident. But she was mounted on a dragon, not a horse. When she saw the Usurper’s rebel host across the river they were armored all in ice, but she bathed them in dragonfire and they melted away like dew and turned the Trident into a torrent. Some small part of her knew that she was dreaming, but another part exulted. This is how it was meant to be. The other was a nightmare, and I have only now awakened.« (ASOS 375)

Auch das dritte, in ASOIAF aktiv handelnde, Mitglied der Targaryens, Maester Aemon, träumt von der Geburt der Drachen: »I see them in my dreams, Sam. I see a red star bleeding in the sky. I still remember red. I see their shadows on the snow, hear the crack of leathern wings, feel their hot breath. My brothers dreamed of dragons too, and their dreams killed them, every one.« (AFFC 545) Aber nicht nur Targaryens haben die Fähigkeit der dragondreams. Auch die Bastardlinie Blackfyre, die aus der illegitimen Verbindung zweier Targaryens hervorgegangen ist, träumt von Drachen. Gerade am dragondream Deamon des Zweiten wird deutlich, dass mit den Drachen in den Träumen nicht zwangsläufig Drachen gemeint sind. »Deamon dreamed that a dragon would be born at Whitewalls and it was. The fool just got the color wrong.« (AKOSK 535) Der Drache ist hier der spätere König Aegon V., der inkognito als Knappe eines verarm-

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ten Ritters umherzieht und scheinbar zufällig in eine Verschwörung gerät. Er hilft bei der Aufklärung der Verschwörung mit und kann sich im Nachgang auch gegen seinen Onkel in der Rolle als Prinz behaupten. Mit der Geburt eines Drachen ist hier der Prozess der Adoleszenz des jungen Aegon gemeint.

VON DEN AUSERWÄHLTEN Wie schon im vorherigen Abschnitt gezeigt sind Drachen sehr stark mit prophetischer Magie verbunden. Durch die Handlung von ASOIAF zieht sich eine Prophezeiung wie ein roter Faden. Es ist die Suche nach the prince that was promised. Diese über fünftausend Jahre alte Prophezeiung (ASOS 865) besagt, dass eines Tages der Auserwählte mit the Song of Ice and Fire kommen und die Welt von der Dunkelheit erlösen wird. Diese Prophezeiung wird in der Handlung von ASOIAF mit mehreren Personen in Verbindung gebracht. Hauptsächlich wurden Prinzen des Hauses Targaryen als mögliche Erlöser identifiziert. Dies liegt vor allem an der ehemaligen Vormachtstellung der Familie in den sieben Königreichen und ihrem Überlegenheitswahn. Dieser gründet sich auf der Abstammung aus dem old Valyria und zeigt sich vor allem in den weißblonden Haaren und den violetten Augen der meisten Targaryens. So spricht man in Anlehnung auf die Herkunft und das Wappen der Targaryens auch vom blood of the dragon. (AFFC 744) In seiner Jugend dachten sowohl Rhaegar als auch sein Großonkel Maester Aemon, dass Rhaegar der Erlöser sei. Der Hinweis in der Prophezeiung, dass der Auserwählte aus Rauch und Feuer geboren wird, wurde mit der Tragödie um den Brand des Sommersitzes Summerhall in Bezug gesetzt. Der Rauch stand aus dieser Perspektive für den Rauch des Feuers und das Salz für die salzigen Tränen der Trauer, die vergossen wurden. (AFFC 742) Nachdem mit der Zeit offensichtlich wurde, dass Rhaegar nicht der Prinz ist, war Rhaegar überzeugt, dass mit seinem neugeborenen Sohn Aegon die Prophezeiung in Erfüllung gehen würde. Gestützt wurde diese Annahme durch einen Kometen, der zu Aegons Geburt zu sehen war. Die Prophezeiung spricht von einem bleeding star, der die Ankunft des Erlösers ankündigt. (AFFC 742) Als letzte Person der Familie Targaryen kommt noch Daenerys in Frage. Mit ihr lässt sich auch eine Verbindung zwischen Drachen und der Prophezeiung herstellen. Wie schon im Magie-Abschnitt erwähnt sah Daenerys kurz vor der Geburt ihrer Drachen einen roten Kometen am Himmel. Auch erfüllt sich bei ihr der Abschnitt smoke and salt, da Daenerys während des Bürgerkriegs innerhalb eines großen Sturms auf einer Insel geboren wurde. Weiterhin starb ihre Mutter

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bei der Geburt. Somit kann sich Maester Aemons Deutung des (Feuer-)Rauchs und der Tränen als richtig erweisen. Daenerys hat im Sinn der wörtlichen Überlieferung nur ein Problem: sie ist weiblich und der erwartete Prinz ist eindeutig männlich. Doch für dieses Problem fällt Maester Aemon eine Lösung ein: »What fools we were, who thought ourselves so wise! The error crept in from the translation. Dragons are neither male or female, Barth saw the truth of that, but now one and now the other, as changeable as flames. The language misled us all for a thousand years. Daenerys is the one, born amidst salt and smoke. The dragons prove it.« (AFFC 742)

Die R‘hllorpriesterin Melisandre kennt die Prophezeiung auch, wenn auch durch ihren Glauben leicht verändert. Sie glaubt, dass der Prinz der Azor Ahai, ein legendärer Held aus unbekannter Vorzeit, ist. Sie identifiziert Stannis Baratheon als den wiedergeborenen Azor Ahai. Sie bezieht sich bei der Geburt im Sinne der Prophezeiung nicht auf die natürliche Geburt, sondern auf den Zeitpunkt, an dem Stannis den alten Glauben abgelegte und zum R’hllorglauben übertrat. Dies geschah auch auf der Insel Dragonstone. »When the red star bleeds and the darkness gathers, Azor Ahai shall be born again amidst smoke and salt to wake the dragons out of stone. Dragonstone is the place of smoke and salt.« (ADWD 713) Weiterhin ist in der Prophezeiung von dem legendären Schwert Lightbringer die Rede, welches der Prinz mit sich führt. Dies ist ein brennendes oder auch glühendes Schwert. Melisandre erschafft für Stannis so ein Schwert auf Dragonstone. Doch Maester Aemon ist der Ansicht, dass das Schwert nur eine Täuschung sei, da Stannis Schwert zwar leuchtet, aber kühl ist. Er ist der Meinung, dass das Schwert von großer Hitze sein müsse. (AFFC 744) Weitere konkrete Hinweise zum Lightbringer sind nicht zu finden. Schließlich deutet Martin noch eine weitere Person als den möglichen Prinzen an: »I pray for a glimpse of Azor Ahai, and R'hllor shows me only Snow.« (ADWD 449) Weitere Beweise für Jon Snow als Auserwählten lassen sich jedoch nicht finden.8 Weiterhin behauptet Maester Aemon, dass the prince, that was promised nicht alleine erscheinen wird. »The dragon must have three heads […] but I am too old and frail to be one of them.« (AFFC 745) Hier spielt Aemon auf Aegon the Conquerer an, der mit seinen beiden Schwester-Ehefrauen die sieben Königslande unterwarf. Aemon identifiziert Daenerys als einen der drei Köpfe, doch

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Zumindest nicht in ASOIAF. In der Fernsehserie Game of Thrones ist dieser Handlungsstrang weiterausgebaut.

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macht er keine Angaben, wer die anderen beiden Köpfe sein könnten. Es müssen auf jeden Fall Personen sein, die zumindest indirekt von den Targaryen abstammen, also dragons blood in sich tragen.

VON DEN KLEINEN DINGEN Es gibt in ASOIAF noch kleinere Drachenmetaphern zu finden, auf die ich in diesem Abschnitt eingehen möchte. Als erstes sind hier die Goldmünzen der sieben Königslande zu nennen. Sie zeigen auf dem Avers das Portrait des Königs, in dessen Regierungszeit sie geprägt wurden. Auf dem Revers befindet sich das Wappen der Targaryens, ein dreiköpfiger Drache. (AKOSK 35) Nach dem Symbol auf dem Revers hat diese Münze auch ihren Namen erhalten: Drache. Dabei ist die Abbildung des Wappens des Herrschers reine Machtpolitik. Die Familie des Herrschers wird mit der höchsten Kaufkraft im Lande assoziiert. Weiterhin betreibt der Herrscher mit dieser Symbolik eine Legitimation der Erbmonarchie, getreu der Logik, dass die Drachen immer am höchsten anzusehen sind. Interessant hierbei ist, dass es keine Währungsreform nach Robert´s Rebellion gegeben hat. Warum dies nicht, wie eigentlich zu erwarten, der Fall ist, bleibt leider ungeklärt. Drachen sind auch auf Wappen zu finden. An erster Stelle muss hier das Wappen des Hauses Targaryen genannt werden. Sein Wappen zeigt einen roten, dreiköpfigen Drachen auf schwarzem Grund. Dieser Drache symbolisiert Aegon the Conquerer und seine beiden Schwester-Ehefrauen. Das Wappen des Bastardhauses Blackfyre ist dem Wappen der Targaryens sehr ähnlich. Das Haus Blackfyre ist aus einer illegitimen Verbindung innerhalb des Hauses Targaryen hervorgegangen und aus diesem Grund wurden einfach nur die Farben vertauscht. Das Wappen zeigt einen schwarzen, dreiköpfigen Drachen auf rotem Hintergrund. Schließlich sei noch das Haus Toland aus Dorne erwähnt. Sein Wappen zeigt einen grünen Drachen auf gelbem Grund. Die Bedeutung des Wappens ist nicht bekannt. Als letzte Metapher möchte ich Obsidian nennen. Obsidian ist ein vulkanisches Glas, aus dem in Valyria magische Gegenstände wie immer brennende Kerzen hergestellt wurden. Auch die children of the forest (die mythischen Ureinwohner Westeros) kannten Obsidian und stellten aus ihnen Waffen her. Obsidian wird jenseits der Mauer auch dragonglass (AGOT 737) genannt. Die Waffen aus Obsidian stellen die einzig wirksame Waffe gegen the Others und ihre Diener dar. »Dragonglass.[…] Frozen fire, in the tongue of old Valyria. Small wonder it is anathema to these cold children of the Other.« (ASOS 1079)

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ZUSAMMENFASSUNG Abschließend betrachtet nehmen Drachen in ihren vielfältigen Gestalten einen sehr präsenten Platz in der Welt von ASOIAF ein. Von der Währung über die Selbstbezeichnung eines Adelshauses bis hin zu den wahrhaftig lebendigen Drachen decken die Kreaturen ein breites Spektrum ab. Die Frage nach der Funktion von Drachen in ASOIAF kann so einfach nicht beantwortet werden. Die Figur des Drachen ist ein Schmelztiegel unterschiedlichster Funktionen: von der machtpolitischen Kraft einer Atombombe9 bis zum Schlüssel für die Wiedererweckung von Magie. Desweitern sind Drachen Kreaturen des Feuers und sind somit die wohl mächtigste Personifikation einer Hälfte des namengebenden Song of Ice and Fire. Drachen üben auf Grund ihrer fremdartigen Beschaffenheit eine große Faszination aus. Doch Martin gelingt es, Drachen mit vertrauten Funktionen zu belegen und somit handlungsbestimmende Kreaturen zu erschaffen. Über diese Kreaturen erfährt der Leser hingegen nur wenig und so bleibt den Drachen stets etwas Mythisch-Unberechenbares anhaften. In dieser wilden Ungewissheit liegt schlussendlich auch ein großer Reiz für den Leser.

LITERATUR asshai.com (2012): Interview in Barcelona. Online. 28.07.2012 < http://www.westeros.org/Citadel/SSM/Entry/Asshai.com_ Interview_in_Barcelona/>. [12.04.2017]. Druckfrisch (2012): George R.R. Martin: Das Lied von Eis und Feuer, 23.09.2012. Das Erste. Onlinefassung. [12.4.2017]. Le Guin, Ursula K. (2016): Earthsea, the first four books, London: Puffin Books. Martin, George R.R. (2011): A Game of Thrones, New York: Bantam Books. (Sigle AGOT). Martin, George R.R. (2011): A Clash of Kings, New York: Bantam Books. (Sigle ACOK).

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Vgl. George R.R. Martin: Das Lied von Eis und Feuer, Druckfrisch, 23.09.2012. Onlinefassung: http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/videos/ george-r-r-martin-das-lied-von-eis-und-feuer-100.html

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Martin, George R.R. (2011): A Storm of Swords, New York: Bantam Books. (Sigle ASOS). Martin, George R.R. (2011): A Feast for Crows, New York: Bantam Books. (Sigle AFFC). Martin, George R.R. (2012): A Dance with Dragons, New York: Bantam Books. (Sigle ADWD). Martin, George R.R./ Garcia, Elio/ Antonsson, Linda (2014): The world of ice & fire, the untold history of westeros and the game of thrones, New York: Bantam Books. (Sigle TWOIAF) Martin, George R.R. (2015): A Knight of the Seven Kingdoms, London: HarperVoyager. (Sigle AKOSK) Rowling, J.K. (2014): Harry Potter and the Goblet of Fire. London: Bloomsbury. Rowling, J.K. (2014): Harry Potter and the Philosopher´s Stone, London: Bloombury. Shaw, Robert (2003): Interview with the Dragon. Web Archive. Onlinefassung: [12.4.2017]. Tolkien, J.R.R. (1994): The Lord of the Rings, London: HarperCollins. Tolkien, J.R.R. (1983): The Monsters and the Critics: And Other Essays, London: Allen Unwin. Westeros.org (2007): Comic-Con (New York City, NY; February 23-25), Onlinefassung: www.westeros.org/Citadel/SSM/Entry/2267/ [20.10.2018].

Ungeheuer menschlich Der Drache in Andrzej Sapkowskis Die Grenze des Möglichen Michael Baumann

Tolkien als den Urstein moderner (High) Fantasy zu sehen besticht nicht durch Originalität, dennoch lässt sich seine umfassende Bedeutung und seine Rolle als Trendsetter kaum unterschätzen – »most subsequent writers of fantasy are either imitating him or else desperately trying to escape his influence« (James 2012: 62). Auch Tolkien steht selbstredend in – vor allem mediävistischen – Traditionslinien, entlang derer sich auch seine Drachen ausformen: weit mehr als nur bestia, sind sie neben ihrer tierhaften Natur mit spezifisch menschlichen Eigenschaften wie Habsucht, Hinterlist und Rachsucht ausgestattet sowie sprachbegabt. Auch wenn keineswegs alle Schreiber nach Tolkien diesem Muster folgen, ist der Drache als primus inter pares des Fantasy-Bestiariums doch fest etabliert. Die derzeit sicherlich prominestete Emanation des Drachen liegt mit George R.R. Martins A Song of Ice an Fire bzw. der HBO-Serie A Game of Thrones vor, die sie als Wesen von schier überwältigender machtpolitischer Bedeutung und enger Verbindung zu uralten, das Wesen der Welt bestimmenden mystischmagischen Kräften zeigt (Vgl. Ehring in diesem Band). Dieser Beitrag hingegen beschäftigt sich ebenfalls mit einer Transformation des uralten Motivs des Drachen in zeitgenössische Fantasy, allerdings einer gänzlich anders angelegten. Die Geralt-Saga1 des polnischen Autors Andrzej Sapkowski war in Polen seit ihrem Erscheinen ein Bestseller. Neben einer Reihe anderer Gründe – Humor,

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Ein reiner Marketingbegriff des Buchhandels, den Sapkowski selbst nirgends gebraucht. Sie umfasst zwei Kurzgeschichtenbände und fünf Romane sowie einen 2015 erschienen Roman, der nicht Teil der Gesamterzählung ist; vgl. überblicksweise für

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Spannung und andere Qualitäten des Schreibstils, allgemeines Interesse an Fantasy, das ›Treffen des Zeitgeistes‹, gutes Marketing – ist als ein Grund dafür sicher zu nennen, wie sehr die Serie spezifisch polnische Fantasy ist. Tolkiens Versuch, den Engländern einen ›nationalen Mythos‹ zu erschaffen, würde Sapkowski vehement ablehnen, seine Konzeption von Fantasy ist eine gänzlich andere2 und er ist sicher kein ›Mythopoet‹. Dennoch ist ihm, vielleicht teils unfreiwillig, etwas recht Ähnliches gelungen. Ob im Konflikt mit dem Ritteroden der Flammenrose der Deutsche Orden und seine ambivalente Rolle zwischen Unterdrücker und Zivilisator (im polnischen Nationaldiskurs seit dem 19. Jahrhundert) aufgegriffen wird, ob lange tabuisierte Fragen nach dem polnischen Antisemitismus und der Haltung Polens im und zum Holocaust sich im Rassismus gegen ›Anderlinge‹, Elfen und Zwerge, einschließlich Ghettoisierung und Pogromen widerspiegeln, ob im Schicksal des wieder und wieder zerschlagenen und zerteilten Königreichs von Cintra die polnischen Teilungen verarbeitet werden – die spezifisch polnische Historie ist ein wesentlicher Motivgeber der secondary world der Bücher.3 Der große Erfolg in Polen führte 2001 zu einer Verfilmung als FernsehKleinserie; der große internationale Erfolg kam auch für die Bücher erst im Zuge der ab 2007 erschienen Witcher-Computerspiel-Serie, eine der meistverkauften und meistgelobten Fantasy-RPGs überhaupt; Netflix befindet sich aktuell in fortgeschrittenen Planungen für eine größere Fernsehserie zum Thema.4 Dies nur als erste Einordnung des Untersuchungsgegenstandes; kommen wir zurück zu den Drachen. In den Büchern gibt es fast keine Drachen, genauer gesagt, sie tauchen nur in einer einzigen Kurzgeschichte eines einzigen Bandes auf, in Die Grenze des Möglichen im Band Das Schwert der Vorsehung. (Sapkowski 2018: 7-106) Auch Martin etwa setzt seine Drachen spärlich ein, in Tolkiens

die

deutschsprachigen

Titel

https://de.wikipedia.org/wiki/Geralt-Saga

(Aufruf

10.03.2019). 2

Aus der (später verfassten) Vorbemerkung zu einer sehr frühen Kurzgeschichte Sapkowskis, Der Weg, von dem niemand zurückkehrt: »Da ich entschieden für die Theorie eintrete, dass Fantasy in keinem ›Damals‹ spielt und dass sowohl eine altertümelnde wie auch eine besonders stilisierte Sprache verfehlt sind, habe ich […] Parowskis Korrekturen eliminiert und bin zu meinem ursprünglichen Manuskript zurückgekehrt. « (Sapkowski 2012: 10)

3

Zur spezifischen Be- und Verhandlung polnischer und mitteleuropäischer Historie in der Geralt-Saga vgl. Baumann 2016.

4

Auch hier sei der Kürze halber auf den Wikipedia-Link in Fußnote 2 verwiesen.

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Hobbit geht es keineswegs nur um Smaug, dennoch scheint dies für ein Drachenthema eine karge Textbasis. Doch Sapkowski setzt Drachen vielleicht noch ein wenig spärlicher, aber dennoch höchst bewusst und zielsicher ein. Im Folgenden soll sich zeigen, dass dieses eine Auftauchen von Drachen eine Schüsselstellung in der Konzeption von Sapkowskis Welt einnimmt – außerdem, wie zentral das Motiv der verschwimmenden Grenze zwischen Mensch und Monster, Menschlichem im Monster und Monströsen im Menschen für die Buchreihe ist. Dass dem so ist, dürfte eigentlich wenig überraschen: »Wer und was bin ich?«, die Frage nach der Identität, ist eine der zentralen Fragen der Moderne. Warum sollte ausgerechnet Fantasy, eines der literarischen Kinder der Moderne, andere Fragen behandeln?

WAS VOM HELDEN ÜBRIGBLIEB Helden und Heilige benötigen (wie nicht zuletzt einige Beiträge dieses Bandes zeigen), um Helden und Heilige zu sein, ein Monster. Da unter der möglichen Auswahl an Schrecken der Drache einen besonderen Rang einnimmt, so wird es auch hier nicht zufällig genau dieses Monster sein, an dem der Held sich zu messen hat. Auch Sapkowskis (übrigens frappanter Weise nicht benannte) Fantasywelt kennt allerdings eine Vielzahl von diversen Monstren und Geistwesen aus Mythen, Folklore, Fantasy wie auch aus Eigenschöpfungen des Autors. Sie alle sind bezahlte Beute für den Hexer Geralt, einen übermenschlichen Mutanten im Dienst der Menschheit und zugleich auch Soldkämpfer für den eigenen Unterhalt. Hexer werden schon als (ganz normales menschliches) Kind einer Reihe von Veränderungen unterzogen, wobei Magie und Genmutation gleichermaßen eine Rolle spielen. Die wenigen Überlebenden sämtlicher Prüfungen sind stärker und schneller als Menschen, können im Dunkeln sehen, sind nahezu resistent gegen Gifte, heilen mit großer Geschwindigkeit, beherrschen elementare magische Tricks, verfügen über spezielle Kampftechniken und Waffen, vor allem das magische Silberschwert, und können ihre Fähigkeiten durch Einnahme spezieller Tränke steigern. Somit wären denn eigentlich alle Voraussetzungen für einen Helden in einer dark and gritty fantasy world gegeben – die Wahrnehmung aber ist eine andere. Zitat aus dem – fiktionsinternen – altertümlichen Buch der Ungeheuer, das ganz im Stil eines Bestiariums oder eines der Werke der frühneuzeitlichen Buntschriftstellerei diverse Monstren sowie gegen sie anzuwendende Hausmittelchen aufzählt:

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»Der Hexling. Ist sehr gefährlich, ihn zu rufen, doch wohl nötig, denn so gegen Ungeheuer und Ungeziefer nichts hilft, so hilft der Hexling. […] Hab jedoch acht, dass du den Hexling nicht anrührest, denn magst davon die Krätze kriegen. Und die Mägde sollst du vor ihm verbergen, denn der Hexling ist lüstern über jegliches Maß, so auch der Hexling sehr gierig ist und nach dem Golde trachtet.« (Sapkowski 2007: 304 f.)

Nicht zufällig findet sich der Hexer mitten im alten Buch der Ungeheuer – die ihm zugeschriebenen Eigenschaften sind denn auch mehr die des Monsters als des Helden: Man kann ihn rufen, um sich vor Gefahr zu schützen, doch scheint man damit den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Seuchenbringer und Verführer der Unschuld ist er, darin auch an die christliche Gleichsetzung zwischen Drache und Teufel gemahnend, das Märchenmotiv der geraubten Jungfer aufgreifend – und vor allem zeichnet ihn die Dracheneigenschaft schlechthin aus: Goldgier. Doch auch die fiktionsintern schon zeitgenössische Wahrnehmung scheint ihn mehr dem Ungeheuer zuzuordnen als dem Helden: »Ich habe von Hexern gehört. […] Man macht Ungeheuer aus ihnen, die andere Ungeheuer umbringen sollen. Ich habe gehört, es sei höchste Zeit, dass jemand anfinge, Jagd auf Hexer zu machen. Denn Ungeheuer gäbe es immer weniger, Hexer aber immer mehr.« (Sapkowski 2007: 103)

Alles offensichtlich eine Frage der Perspektive, denn so spricht immerhin Nivellen, durch einen Fluch mit dem Kopf einer veritablen Wildsau ausgestattet, der, übermenschlich stark und magiebegabt, allein in einem verwunschenen Schloss lebt und sich eine Vampirin zur Gespielin genommen hat. Es ist schwer, unter diesen Bedingungen ein Held zu sein. Ein praktisches Werkzeug ist ein Hexer aber dennoch – und so finden wir in unserer speziell zu betrachtenden Geschichte den Hexer auch vor: Er kriecht mit einem toten Basilisken aus dem Keller. Die Schaulustigen haben bereits nicht mehr an sein Überleben geglaubt, und einige weniger zart Besaitete hätten sich bereits seinen Lohn, sein Pferd und sein weiteres Hab und Gut angeeignet, wenn nicht der zufällig hinzukommende Ritter Borch den Diebstahl verhindert hätte. Zunächst hat er mit seinem Einspruch wenig Erfolg, trägt er doch keine Waffen – »Ich brauche keine zu tragen« (Sapkowski 2018: 9), sagt er. Das sind wahre Worte, wenn man ein Drache in Menschengestalt ist. Der Leser und mit ihm Geralt werden dies erst viel später erkennen. Sapkowski arbeitet in den Kurzgeschichtenbänden häufig mit Märchenmotiven; so auch hier. Der Drache in Menschengestalt ist ein häufiges Motiv gerade osteuropäischer Märchen, womit er auch deutlich ambi-

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valenter ist als die sonst übliche Teufel=Drache-Typologie im christianisierten Raum (vgl. Kuprina 2010, insb. 137-151, sowie Auburger in diesem Band). Hier kommt aber noch ein (nicht nur Märchen-)Motiv hinzu: Das eigentlich Offensichtliche bleibt den Figuren lange verborgen; klassisch dürfte da der Fremde sein, den man im Walde trifft, und der einem Hilfe aus der Not verspricht. Ein rotes Wams, ein spitzer Bart, die Hahnenfeder am Hut und das bocksbeinige Hinken – eigentlich wäre der Teufel klar zu erkennen, doch durch die magischen Gesetze des Märchens ist er das nicht. Der Ritter Borch – von durchaus gemütlichem Äußeren, fett, braungelockt, in gedeckte Herbstfarben gekleidet (Sapkowski 2018: 8) – ist da zugegeben schwerer zu enttarnen. Dem gemütlichen, gesetzestreu auftretenden Monster stünde nun der durch seine Profession wie durch den blutigen toten Basilisken klar als Monsterslayer gekennzeichnete – Held? – gegenüber, mit einem Lächeln, »das auf dem bleichen Gesicht erblühte wie eine aufbrechende Wunde« (Sapkowski 2018: 10) – und spätestens hier, wo sich die sichtbaren Vestigia des Menschen und des Monsters so vermischen, muss die Frage geklärt werden, was denn nun eigentlich als Monster zu verstehen sei.

VERSUCH AM MONSTER Einer eindeutigen Definition vermag sich das Monster weitgehend zu entziehen, und diese Tatsache wiederum ist in gewisser Weise seine Definition: Das Monströse schlechthin ist für Foucault das Mischwesen, das Unbestimmbare, an dem die Zuordnung in binären Kategorien scheitern muss, sondern dass sich wedernoch und doch sowohl-als auch zuordnen lässt (vgl. Foucault 2007) – Geralt ist sowohl Mensch als auch (ungeheuerlicher) Hexer, ist weder ganz Mensch noch ganz Monster. Borch ist Drache und Mensch – und damit doch weder ganz Mensch noch ganz Drache, sondern fällt auch als Drache, als einzigartiger, sprechender, gestaltwandlerischer goldener Drache nämlich, aus allen Kategorien. Beide sind Schwellen- und Übergangswesen, für beide gilt und wird sich noch deutlicher zeigen: Ganz besonders sind sich »Mensch und Monster also ähnlich und stehen in einem Spiegelungsverhältnis zueinander« (Overthun 2013: 424). Ein Differenzphänomen, das gegen Normen und Normalität verstößt, insgesamt bedrohlich (vgl. Parr 2009: 19) – auch das haben wir für beide Figuren schon gesehen. Dass es mit der Grenzziehung (oder deren Verletzung) zwischen Natur und Kultur, Wildnis und Zivilisation, die als konstituierende Bedingungen des klassischen Monsters gelten (vgl. Macho 1990: 69) bei Geralt und Borch nicht mehr so ganz funktionieren will, kann angesichts Sapkowskis world building

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kaum überraschen, in dem ein solcher Gegensatz nicht mehr funktional ist. Ganz anders als etwa bei Tolkiens Mittelerde (oder in dieser Hinsicht seinerseits hybriden Gebilden wie Martins Westeros) befinden wir uns bei Sapkowski in einer nach-aufklärerischen Welt mit nach-aufklärerischen, wissenschaftlich klassifizierten Monstern, die ihren »Platz in der Ordnung des Wissens« (Overthun 2013: 427) erhalten haben und gerade durch ihre Andersartigkeit die Konstituierung der wissenschaftlichen Norm ermöglichen (vgl. Overthun 2013: 427). Nicht nur ließe sich (entsprechendes Expertenwissen vorausgesetzt) aus jedem Kind ein Hexer formen – durch Genetik und Training mehr denn durch Magie –, auch lassen sich Ungeheuer normieren: Geralt kann schwarze, rote, grüne und weiße Drachen genau beschreiben nach Aussehen und Lebensweise, sie von Gabelschwänzen und Flugschlangen scheiden – und verweist als Experte den goldenen Drachen ins Reich der Mythen, oder lässt ihn allenfalls als einmalige Mutation gelten, die somit unfruchtbar sein müsse – einen Preis, den auch Hexer entrichten müssen. (Sapkowski 2018: 17-20) In etablierter, aber durchaus problematischer Tradition der Postmoderne hat nun also die Unfähigkeit zu einem genauen Definitionskriterium sich selbst zur Definition hochgedient – folgen wir diesem Ansatz erst einmal weiter durch die Erzählung. Nimmt man zunächst als Hilfskonstruktion das Normabweichen per se (was immer denn per se bedeutet, wird doch die Norm gerade durch ihre Verletzung erst als Norm definiert), so finden sich Hinweise auf den versteckten Drachen zuhauf.

SUCHE NACH DEM MONSTER Borch benötigt auch im Wortsinn keine Waffen, denn sie folgen ihm nach: »Die beiden Mädchen lächelten, ließen die Zähne blitzen und die Augen funkeln, von deren Winkeln die breiten blauen Streifen einer Tätowierung zu den Ohren liefen. Auf den kräftigen Schenkeln, die unter den um die Hüften geschwungenen Luchsfellen zu sehen waren, und den bloßen runden Armen oberhalb der Kettenhandschuhe spielten die Muskeln. Über den ebenfalls von Kettenhemden bedeckten Schultern ragten die Griffe von Säbeln empor.« (Sapkowski 2018: 9)

Diese menschliche (und wohl auch männliche) Fantasie lässt sich weit zurückverfolgen; antike wie antikisierende Vorstellungen von Amazonen haben ihre Umsetzung in Bilder der Fantasy längst erfahren. In solchen exotischen Bildern des Fremden finden sich natürlich auch sexistische, xenophobe, rassistische und

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misogyne Stereotypen zuhauf wieder, wobei speziell Sapkowski in dieser Darstellung schon ein gerüttelt Maß an Ironie und Genreparodie zugebilligt werden sollte. Der fachkundige Leser weiß natürlich längst: Es handelt sich um Kriegerinnen aus dem fernen Serrikanien, barbarisch, schön, wild, äußerst gefährlich und – Drachenanbeterinnen. Später wird sich Geralt auch erkundigen, warum die freien Kriegerinnen ausgerechnet mit Borch reiten: »›Er ist …‹ Mit gerunzelter Stirn suchte die Serrikanerin nach Worten. ›Er ist … der ...Schönste.‹ Der Hexer nickte. Die Maßstäbe, nach denen Frauen männliche Attraktivität beurteilten, waren ihm nicht zum ersten Mal ein Rätsel.« (Sapkowski 2018: 21)

Borch und Geralt werden Reisegefährten und bringen auf ihrem Weg den Rezipienten schnell in weitere Situationen, die auf Abnormität hinweisen. Borch bestellt im nächsten Wirtshaus ein Fass Bier, Käse, Aale in Essig und Öl, marinierte Paprika, ein weiteres Fass Bier, Muschelsuppe, Lammbraten, Krebse und Hammel – aber schön eins nach dem anderen, man sei ja nicht zum Fressen gekommen. Zum Nachtisch noch einen gebackenen Braten – die Krebse haben Borch hungrig gemacht. Außerdem mehr Bier. (Sapkowski 2018: 13-21) Postmoderne Erzählungen lassen schwerlich einen intertextuellen Bezug ausmachen; unmöglich, in diesem Rahmen sämtliche möglichen Vorbilder dieser Szene aufzählen, daher nur ein Beispiel aus der Liederedda: Der Gott Thor will, als zukünftige Braut des Riesen Thrym verkleidet, den ihm gestohlenen Hammer zurückholen. Die Maskerade fliegt jedoch fast auf: »Früh fanden Gäste zur Feier sich ein, Man reichte reichlich den Riesen das Ael. Thor aß einen Ochsen, acht Lachse dazu, Alles süße Geschleck, den Frauen bestimmt, Und drei Kufen Meth trank Sifs Gemahl. Anhob da Thrym, der Thursenfürst: »Wer sah je Bräute gieriger schlingen? – Nie sah ich Bräute gieriger schlingen, 5

Nie mehr des Meths ein Mädchen trinken.«

5

Die Edda, Übersetzung Karl Simrock (1876), 10. Thrymskvidha, 84: 24 und 25.

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Nur dem findigen Loki ist es zu verdanken, dass Thor nicht auffliegt: Aus Vorfreude habe die Braut neun Tage gefastet, beruhigt Loki den Riesen. Das Beispiel ist nicht ganz zufällig gewählt, denn es ist überaus gefährlich, das (wiederum aus Perspektive der Riesen) Monster am eigenen Tisch zu verkennen: Als Thor seinen Hammer zum Brautgeschenk bekommt, ist es um die Riesen geschehen... Borchs Appetit erweist sich noch in anderer Hinsicht als monströs: »›Findet sich bei dir ein Zuber? So für die Wäsche, solide und groß?‹ ›Wie groß, Herr?‹ ›Für vier Personen.‹ ›Für … vier …‹ Dem Wirt blieb der Mund offen stehen.« (Sapkowski 2018: 22)

Über das anschließende gemeinschaftliche Bad der Serrikanerinnen mit Drache und Hexer schweigt sich des Sängers Höflichkeit aus, immerhin erfahren wir noch, dass die Frage der genauen Paarbildung erst im Zuber gelöst werden soll. Sexuelle Devianz ist ein weiteres relativ sicheres Zeichen des Abnormen. Immerhin: Auch die Drachenanbeterinnen akzeptieren Geralt, zumindest für eine Nacht im Zuber, als Äquivalent zum ›Schönsten‹, dem Monster aller Monster. Gleich und gleich gesellt sich gern: Als Borch Geralt nach ihrem Kennenlernen ins Wirtshaus einlädt, gibt sich Geralt als Hexer zu erkennen, und warnt Borch: »Es gibt Leute […] die die Gesellschaft eines Aussätzigen der eines Hexers vorziehen würden.« (Sapkowski 2018: 12) Borch entgegnet »Es gibt auch Leute […] die ein Schaf einem Mädchen vorziehen. Nun ja, sie können mir leidtun, die einen wie die anderen.« (Sapkowski 2018: 12) Im Gespräch interessiert sich Borch dennoch sehr für Geralts Beruf, und wir erfahren zwei Dinge: Erstens, Geralt tötet keine Drachen. (Sapkowski 2018: 17) Einen Grund dafür erfahren wir noch nicht, doch nach der Holmes’schen Methode der Schlussfolgerung lautet das notwendige Fazit: Da Hexer Ungeheuer töten, können Drachen keine Ungeheuer sein. Zweitens, wie bereits erwähnt, glaubt Geralt nicht an die Existenz des sagenhaften Goldenen Drachen – es sei denn, er war eine einmalige Mutation: »›Und wenn es so war, dann hat ihn das Los aller Mutanten ereilt. ‹ Der Hexer wandte den Kopf ab. ›Er war zu verschieden, um überdauern zu können.‹« (Sapkowski 2018: 19)

Geralt muss es wissen – die übermenschlichen Fähigkeiten des Hexers haben ihren Preis: Hexer sind, wie übrigens auch Zaubererinnen, nicht fortpflanzungsfähig.

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In der realen mittelalterlichen Welt oder auch in letztlich irgendeine Form von Transzendenz ermöglichenden pseudomittelalterlichen Welten der Fantasy ist der körperliche Tod nicht das notwendige Ende der Existenz, es gibt Formen des Jenseits. Sapkowskis Welt kennt zwar die Religion, aber auch den Atheismus – ein Jenseits ist also keineswegs gesichert. Diese Erkenntnis brachte auch die Aufklärung (zumindest on the long run) mit sich; die Frage nach der eigenen Identität ist also immer auch eine Frage nach dem eigenen Überdauern. Zudem kennt, für Fantasy eher untypisch, Sapkowskis Welt explizit das Prinzip der Genetik; die innerfiktionale Einschätzung von Kinderlosigkeit ist also eine andere: Unfruchtbarkeit ist nicht etwa der Wille Gottes oder Pech, sondern eine genetische Abweichung von der Norm, so wie wir sie bei Hybriden wie dem Maultier konstatieren würden. In dieser Abweichung – und nur vordergründig in den speziellen Fähigkeiten des Hexers – liegt der Grund seiner de-facto-Aussätzigkeit. Sapkowski hat die Vorstellung, durch die eigene Nachkommenschaft fortzuleben, nun nicht erfunden – aber auch hier zeigt sich Fantasy als der Moderne oder Postmoderne zugehörig: Wo die unsterbliche Seele fehlt, wird das Kind als deren Surrogat konstruiert. Und damit, anders als bei zufällig oder durch freie Entscheidung Kinderlosen, ist Geralt (und natürlich Borch, denn auch er ist unfruchtbar und damit Geralt mehr verbunden als jeder der beiden anderen Drachen oder Menschen) seelenlos. Zunächst sind zwischen Borch und Geralt aber nun die Fronten geklärt, die beiden Außenseiter ziehen gemeinsam weiter. Borch jedoch hat, anders als Geralt, ein Ziel bei seiner Reise: Er möchte sich einer Expedition anschließen, die einen verwundeten Drachen zur Strecke bringen will. Nach kleinen Wirren stoßen die beiden zu einer bunten Truppe: Da wären der junge König Niedamir, der mit einem Drachenkopf als Brautgabe sich das Nachbarland billiger einverleiben könnte als durch Krieg, Yarpen Zigrin und seine sieben Zwerge, eine erfahrene Gruppe von Drachentötern, die drei Haudegen, Brüder und ebenfalls berufliche Drachenbeseitiger, und der Schuster Ziegenfras, dessen Idee, das Monster mit einem vergifteten Schaf als Köder zu erwischen, der Drache seine Verwundung verdankt, sozusagen ein Hobbydrachentöter. Außerdem noch der drachenfreundliche Zauberer Dorregaray sowie Yennefer, die ehemalige Geliebte des Hexers – eine Zauberin, die insgeheim hofft, durch Drachenzähne ihre Unfruchtbarkeit heilen zu können.6 Nun noch Geralt, der Yennefer zurückgewinnen will, und Borch mit (vordergründig) unklaren Zielen – wie der Haudegen Boholt konsta-

6

Ein seit der Kadmos-Sage kulturhistorisch nicht sehr aussichtsreiches Unterfangen: Die Saat von Drachenzähnen ist letztlich nicht fruchtbar.

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tiert: »Gegen einen Drachen zieht immer ein Haufen Leute, der reinste Jahrmarkt, ein Bordell auf Rädern.« (Sapkowski 2018: 38) Bei dieser ebenso profanen wie profitablen Angelegenheit fehlt der Drachentöter aus Überzeugung, der Ritter ohne Furcht und Tadel,7 ein wahrer Heiliger Georg natürlich nicht: Der ehrenwerte Ritter Eyck von Denesle, das personifizierte Verderben von Drachen und sonstigen Monstern zum höheren Ruhme Gottes. Wenn nicht gerade kämpfend, kniet er meistens in voller Rüstung auf harten Steinen, schaut gen Himmel und betet. Was von einer solchen Figur in dieser Welt zu halten sei, charakterisiert Haudegen Boholt treffend: »Bei uns in Cinfrid […] hält man solche im Stall, an einer Kette, und gibt ihnen ein Stück Kohle, dann malen sie seltsames Zeug an die Wände.« (Sapkowski 2018: 43) Ritter Eyck passt in der Tat wenig in diese Welt, und um vorzugreifen: der erste Zusammenprall mit dem Drachen wird ihn auch dauerhaft aus der Erzählung schleudern. Seine erzählerische Funktion erfüllt er natürlich getreulich: Er macht klar, dass für ihn in dieser Welt kein Platz ist. Aber auch ohne den strahlenden Helden erfahren wir in den Diskussionen einiges Drachentheoretisches – und nähern uns der Funktion des Ungeheuers an: Yennefer vertritt die These, der Drache sei der ärgste Feind des Menschen, denn als einziges Ungeheuer könne er ganze Städte und befestigte Orte einäschern, somit die feste Niederlassung verhindern, das Bevölkerungswachstum senken und den notwendigen Fortschritt der Menschheit verhindern, seine Ausrottung sei also eine biologische Notwendigkeit. Wer sich die Denkfigur des manifest destiny der Weißen in Amerika ansieht, wird auch dort nichts so Anderes finden. Der gelehrte Zaubererkollege Dorregaray argumentiert umgekehrt; der lebende Drache sei sogar äußerst notwendig für den Fortschritt der Menschheit, eben weil er der natürliche Feind der Menschheit sei. Würde er ausgerottet, führe das notwendigerweise zur Degeneration der menschlichen Rasse. Man reife ja an seinen Aufgaben und so weiter und so fort; Thomas Malthus hätte sich mit Dorregaray wohl recht gut verstanden. Ein ebenfalls gelehrter Gegner würde beiden Positionen antworten, dass sie Darwin gründlich missverstanden hätten – weder sei die Evolution auf ein Ziel ausgerichtet, noch könnten ihre Mechanismen in irgendeiner Weise moralische Begründungen sein. Aber Geralt ist nun mal ein einfacher Hexer, der nur weiß, dass

7

Was selbstredend die moderne Annahme des Typus eines »alten« Drachentöters ist, die Wirklichkeit ist komplexer (vgl. v.a. Schindler und Teichert in diesem Band).

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»wenn die Drachen keine Schätze hätten, sich kein Schwein für sie interessieren würde, und erst recht kein Zauberer. Eigenartig, dass bei jeder Drachenjagd ein Zauberer dabei ist, der enge Beziehungen zur Juweliersgilde hat. Und obwohl anschließend eine Flut von Steinen auf den Markt strömen müsste, kommen es irgendwie nicht dazu, und die Preise sinken nicht.« (Sapkowski 2018: 59-60)

Auch wenn der gelernte Wirtschaftswissenschaftler Sapkowski sie mit der Güterverknappung relativ fein ausgeführt hat: Geld regiert die Welt ist eine Binsenweisheit. Das macht sie noch nicht falsch, und für die Unterscheidung vorgeschobener Begründungen gegenüber wirklichen Motiven ist sie in diesem Fall recht sinnvoll; das ökonomische Prinzip ist in Sapkowskis Welt nicht die einzige, aber die vorherrschende Dimension. Und so ist auch der Drache in dieser Welt sinnvoll zu erfassen weder als religiöse Metapher des Teufels noch mit biolog(ist)ischen Begründungen, sondern vielmehr als Wirtschaftsfaktor. Das wird sich auch in den Parteiungen des abschließenden Showdowns zeigen. Denn natürlich endet, nach dem mysteriösen Verschwinden Borchs in den Wirren einer Gerölllawine, auch diese Drachengeschichte mit einem Kampf. Hinter einem Hügelkamm schließlich liegt er, der goldene Drache, von katzenhafter Eleganz, funkelnd im Sonnenlicht – und natürlich hatten die Serrikanerinnen recht: Er ist der Schönste, womit bei Geralt dann auch endlich der Groschen fällt. Villentretenmerth, so sein Drachenname, bittet nach allen Regeln der hövescheit zum Kampfe – eine Aufforderung, der nur der Fanatiker Ritter Eick zu folgen bereit ist, mit schon erwähntem Ausgang. Der Drache ist zu schnell und zu stark – die positiven Auswirkungen der Mutation. Dorregarays Rettungsaktion für den Drachen, der ja die Menschen zu ihrem Wohle selektieren soll, endet ähnlich für den Zauberer. König Niedamir beschließt, auf den Drachen zu pfeifen und sich das Nachbarkönigreich mit Gewalt zu holen. Somit verbleiben denn nur noch die professionellen Drachentöter für Geld sowie Yennefer, die in ihrer Verzweiflung Geralt ihre wahre Absicht gesteht: Der Goldene Drache könne ihre Unfruchtbarkeit heilen. Schließlich jedoch wechselt Yennefer die Seiten: denn Villentretenmerth bewacht zwar in der Tat einen Drachenschatz, der besteht allerdings im frisch geschlüpften Kind jener Drächin, der die Jagd ursprünglich galt. Sie ist allerdings nicht an ihren Verletzungen gestorben, sondern hat die Flucht gewählt und ihren Schatz – das Kind – dem goldenen Drachen überlassen: er ist ein gedungener Rächer. Denn auch Drachen, die von menschlichen Ungeheuern bedroht werden, haben ihr Äquivalent und Spiegelbild zum Hexer (Sapkowski 2018: 105): den unfruchtbaren Mutanten Borch alias Villentretenmerth. Die Trennung in Mensch und Monster verwischt abermals: hätten wir klassisch die Trennung von Mensch zu Drache, so können wir hier doch auch in

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abnorm zu normal trennen: unfruchtbar-monströs gegen fruchtbar-normal. Dies ist aber zugleich die Trennung an ethischen Werten des Schutzes und der Verteidigung gegenüber unethischen Werten wie Rachsucht und Geldgier (typische Drachentugenden, nebenbei). Interessant in diesem Zusammenhang auch Yennefer, die sofort zur Verteidigung des Drachenkindes umschwenkt, ganz anders als die Drachenmutter, die das Kind ja problemlos verkaufte. Im berühmten Kreidekreis König Salomos würde Yennefer also letztlich die bessere Figur machen. Hier kämpfen jedenfalls Hexer, Zaubererin, zwei Serrikanerinnen und der goldene Drache (anders gesagt: das Fremde, das Kranke, das Abnorme) gegen die Zwerge, die Haudegen und die Bürgerwehr unter Schuster Ziegenfras (anders gesagt: die Norm, das Geld, den gesunden Menschenverstand). Da wir nun einmal in der Fantasy sind, gewinnt die Drachenseite. Villentretenmerth schont allerdings die überlebenden Gegner, er ist ja schließlich kein Mensch. Der goldene Drache hat seinen Lohn, seinen Schatz: die Möglichkeit, zu überdauern - zwar kein leibliches, aber ein Ziehkind. Yennefer und Geralt kann er keine Hoffnung machen, denn da liege, wie er mit der unbestreitbaren Autorität des goldenen Drachen sagen kann, die »Grenze des Möglichen.«

»ZU VERSCHIEDEN, UM ÜBERDAUERN ZU KÖNNEN?« Das fremde Kind als Lohn ist natürlich auch ein altes Märchenmotiv, und zumindest offiziell rekrutieren Hexer so ihren Nachwuchs – Du hast mir das Leben gerettet, Hexer, wie kann ich dir danken? – Gib mir das, was dir Zuhause als erstes begegnet (Sapkowski 2007: 204-207). Geralt weiß, dass dieses Prinzip Betrug ist – eines von 10 Kindern überlebt die Mutation zum Hexer, ganz gleich ob verkauft oder Kind des Schicksals. Ein einziges Mal wählt auch Geralt, eher widerwillig, diesen Weg – und wird vom Schicksal betrogen: das Kind ist ein Mädchen. Der Hexer, der nicht an die Vorsehung glaubt, wird schließlich dieses Kind als Ziehkind aufnehmen, ebenso wie Yennefer es als ihre Tochter akzeptieren wird. Es gehört allerdings zu den Stärken der Buchreihe, dass dieses Zusammenwachsen nicht der Vorbestimmung und nicht der gesellschaftlichen Norm, sondern einer entstehenden zwischenmenschlichen Beziehung der Beteiligten zugeschrieben wird. Auch wenn sich die Protagonisten der Fremdbewertung als abnorm und den Anforderungen an Normalität bei ihrer eigenen Identitätsfindung nicht entziehen können, gelingt es ihnen doch, sich teilweise zu emanzipieren. Das geforderte »Überdauern« wird nicht mehr den zentralen Platz in ihrem Denken einnehmen. Dennoch nimmt die Drachenepisode das zentrale

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Motiv der Buchreihe vorneweg und spielt es erstmals durch – am vermeintlichen Ungeheuer, dass sich (man ist versucht zu sagen: natürlich) als viel weniger ungeheuerlich herausstellt als die Gesellschaft. Dass Helden nicht so weiß und Monster nicht so schwarz gezeichnet werden, ist eine Errungenschaft, die sich die Postmoderne (weitgehend zu Unrecht übrigens) nur zu gerne auf die Fahnen schreibt. Hier Graustufen zu zeigen – monstrare – ist der Drache in seiner Menschenähnlichkeit gewiss ein geeignetes Monstrum. Religion, Biologie und Scheinmoral als Deckmäntelchen von (drächischer? menschlicher? jedenfalls monströser) Geldgier anzuprangern und als eigentliche Ursache den Kapitalismus zu enttarnen ist ebenfalls ein bereits weidlich literarisch bearbeitetes Thema, auch wenn es durch diese Tatsache nichts an Wahrheit einbüßt. Mensch und Monster als scheinbarer Gegensatz mit einer Fülle von Gemeinsamkeiten – es ist ein durchaus ergiebiger Weg durchs Labyrinth der Spiegel, Zerrspiegel, Vexierspiegel, doppelten Böden, Masken und Verwandlungen. Nachdem wir also Geralt ebenso wie Borch vor dem Eintritt ins Labyrinth der Erzählung als Mischwesen klassifiziert haben, deren hybride Unfassbarkeit sie doch zugleich definiert und erfassbar macht, können wir nach Durchschreiten des Irrgartens nun glücklich konstatieren, dass die große Schublade dieser Definition immer noch beide zu fassen vermag. Für die Zerr- und Vexierbilder, die zumindest in dieser Erzählung fast schon Fantasy als moralische Anstalt betreiben und ethische Probleme in Allegorien durchexerzieren, scheint sich der Gestaltwandler-Drache als dem Menschen besonders nahes Fabelwesen gut zu eignen. Ungeheuerlicher Mensch und menschliches Ungeheuer finden in ihm die Grenzen des Möglichen.

MONSTER, OPFER UND GEWALT Dennoch greift diese Analyse für die Besonderheit des Textes, genauer der speziellen Welt Sapkowskis, zu kurz. Liefern klassische Weltmodelle wie Lewis‘ Narnia explizit, wie Tolkiens Middle Earth implizit religiöse Modelle einer Transzendenzebene, so sind neuere Welten wie etwa Martins Westeros hier zwar sichtbar postmodern-gebrochener (sicher auch: ironischer), doch gibt es nach wie vor Transzendenz: Götter, Magie und Prophezeiungen mögen zweischneidig sein, aber sie existieren nicht nur, sondern lassen ein Dahinter, eine tiefere Ebene erkennen. Diese Texte (und viele mehr) sind teleologisch geprägt, bewegen sich auf eine sichtbare Eukatastrophe hin – und auch wenn Martin den Begriff anders füllen mag als etwa Tolkien: es ist in den wenigsten Fällen ein Happy End, aber es ist zumindest ein erwartbares und sich aus der Sujethaftigkeit des Textes er-

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gebendes Ende, die Texte folgen einem wie auch immer gearteten Logos. Bei Sapkowski ist das nicht der Fall. Seine Welt funktioniert nach gewissen naturwissenschaftlichen Regeln; so kann auch Magie als Komponente der Genetik gezüchtet werden und ist kaum mehr als ein Gendefekt (mit allerdings praktisch einzusetzenden Auswirkungen). Monster und Ungeheuer existieren nicht als Handlanger einer bösen Macht, ebenso wenig wie Hexer, Druiden, Zauberer als Vertreter des Guten, sondern als evolutionistische Zufallsergebnisse. Prophezeiungen sind ebenso wie religiöse Überzeugungen nur insoweit wirksam, als der Glaube daran soziologisch wirksam wird und Verhaltensweisen prägt. Schicksal und Vorsehung sind Begriffe, hinter denen nur die Kraft der Überzeugung steht – und all dies gilt nicht nur auf der Ebene der Figuren (für die diese Chimären oft noch durchaus real sind), sondern gerade für den Rezipienten entsteht sehr bewusst kein übergeordneter Sinn. So wird also ein Element epischer Fantasy, das auch in blutigeren Varianten wie etwa bei dem deshalb oft als realistisch bezeichneten George R.R. Martin normalerweise der Zielsetzung untergeordnet bleibt, zum alleinigen Element: Die Gewalt – ihre Ausübung, ihre Ausbreitung, ihre Vermeidung. So sei denn zum Schluss zumindest schlaglichtartig versucht, dem Drachen anders beizukommen als durch die reine Festschreibung seiner liminalen, hybriden, monströsen Struktur: Durch seine Funktion als Opfer nach den Theorien René Girards. Girard sieht als das Problem menschlicher Gesellschaften die Frage der Gewalt und ihr Potential, die Gesellschaft zu zerstören – durch Nachahmung eines (keineswegs symbolischen, sondern durchaus realen) Gewaltakts verselbständigt sich die Gewalt (die also in ihrem Wesen Nachahmung, Mimesis, ist), wenn sie nicht ein versöhnendes Opfer findet, das die Gewaltspirale unterbrechen kann. Religion und Mythen (und, so wollen wir speziell für die Fantasy vorsichtig ergänzen: Magie, sofern sie nicht Handwerk, sondern Glaube ist) haben ihren Ursprung darin, die reine Gewalt gegen das Opfer von der unreinen allgemeinen Gewalt zu trennen (und notwendigerweise zu verschleiern, wie willkürlich diese Trennung ist). (Girard 1994) Das Opfer muss dabei selbst als Tieropfer schon dem Menschen nahe sein, um als adäquater und opfernswerter Ersatz für den Menschen zu gelten – also Tiere, die kostbar und nützlich für den Menschen sind. (Girard 1994: 11f.) Ob nun das Schaf als Stellvertreter des Mädchens dem Hexer gleichgesetzt oder ob es als Köder-Opfer dem Drachen angeboten wird: Sapkowski wird hier wohl nicht auf Girard anspielen, aber gängige Motive des Opfers werden sowohl an Geralt als auch an Borch gebunden. Doch macht Girard keinen generellen Unterschied zwischen Tier- und Menschenopfer; entscheidender sind zwei paradoxe Effekte: Das Opfer muss der opfernden Gemeinschaft gleichen, ohne jedoch

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verwechselt werden zu können. (Girard 1994: 22-24). Sowohl Geralt als auch Borch gehen in vielerlei Hinsicht als Teil der menschlichen Gemeinschaft durch, weisen aber als Hexer und Drache genug Abweichungen auf, um eine Verwechslung auszuschließen. Doch zugleich gilt: »Alle opferfähigen Wesen […] unterscheiden sich […] ohne Ausnahme von den nicht opferfähigen Wesen durch eine wesentliche Eigenschaft.« (Girard 1994: 25)

Diese Eigenschaft benennt die Geschichte klar und eindeutig: Geralt wie Borch sind unfruchtbar. Versöhnend wäre ihr Opfer somit auch: »Zwischen der Gemeinschaft und den rituellen Opfern fehlt genau jener Typus von sozialen Beziehungen, der bewirkt, daß Gewaltanwendung gegen ein Individuum Vergeltung durch andere Individuen, die nächsten Verwandten, nach sich zieht.« (Girard 1994: 25 f.)

Wir wollen hier durchaus von einem rituellen Opfer sprechen, denn – wie nicht zuletzt allein der Gedanke zu dem hier vorliegenden Band zeigt –: Der Drachenkampf und sein üblicherweise tödliches Ende sind sowohl in den diversen thematischen Steinbrüchen der Fantasy wie auch in der Fantasy selbst in einer Art und Weise konventionalisiert, dass der erneute Abruf des Topos durchaus ein Ritus – ein Brauch, eine Gewohnheit, eine Vorschrift – geworden ist. Das Ritualopfer ist, anders als das von Girard als Ursprungsereignis angenommene versöhnende Opfer, nicht Teil der Gemeinschaft. Während letzteres einmütig gewählt sein muss und stellvertretend für alle steht – alle Schuld an der (im Wesen sinnlosen) Gewalt wird ihm zugesprochen, alle opfern es gemeinsam –, muss ersteres nur das versöhnende Opfer vertreten. (Girard 1994: 151-153) Das ist hier zweifellos der Fall: Geralt ist als rituelles Opfer gekennzeichnet, seine Verwandlung in den Hexer (die ihn befähigt, der unreinen Gewalt der Ungeheuer entgegenzutreten) hebt ihn zugleich in die Rolle des Außenseiters und Sündenbocks; durch seine Verwandlung wird er selbst zum Teil der unreinen Gewalt und ist somit ohne Verwechslungsgefahr opferfähig, da rein und unrein zugleich. Die im Sinne der Gewaltverhinderung wirklich tödliche Gefahr liegt in einem anderen Punkt: Der Undifferenzierbarkeit von Drache und Hexer, die wir nun weidlich dargelegt haben. Girard weist darauf hin, dass in primitiven Kulturen ebenso wie in Mythen (und Fantasy ist ihrerseits eine Mimesis von beidem) Zwillinge und Brüder, ebenso diverse Formen des Inzest deswegen problematisch seien (und häufig gegen religiöse Regeln verstoßen), weil sie die Regel der klaren Unterscheidbarkeit verletzten – und damit offenbar wird, was Riten und Mythen um jeden Preis verschleiern müssen: Dass auch Gewalt ununterscheidbar ist, es kei-

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ne unreine allgemeine und reine Opfer-Gewalt geben kann und das Opfer letztlich zufällig ist (Girard 1994: 88-96) (was wieder auf den vor seiner Mutation beliebigen Geralt und den in seiner Mutation beliebigen Borch zutrifft). Und als hätte Girard unserer Argumentation einen speziellen Gefallen erweisen wollen, spricht er von der »Monstrosität der Zwillinge« (Girard 1994: 99) – doch scheinen sich Borch und Geralt ebenso zu bemühen, Girard zu stützen: Erst wenn die Ununterscheidbarkeit der Doppelgänger lückenlos geworden sei, könne sich die notwendige Einmütigkeit (zur Auswahl des versöhnenden Opfers) bilden: »Damit die Ordnung sich wieder einstellen kann, muß erst das Chaos auf seinen Höhepunkt gelangen; damit die Mythen sich wieder neu bilden können, müssen sie zuerst gänzlich zerfallen.« (Girard 1994: 121)

Auch Geralt und Borch diskutieren das Wesen von Chaos und Ordnung: »›Aber die Grundlage bildet ja eine bestimmte Idee, Geralt. Der Konflikt der Mächte der Ordnung mit den Mächten des Chaos. […] Ich habe mir vorgestellt, dass du eine Mission erfüllst, die Menschen vor dem Bösen beschützt.‹ […] ›Die Mächte der Ordnung, die Mächte des Chaos. Schrecklich große Worte, Borch. […] Auf welcher Seite steht der Schmied, der ein Pferd beschlägt? Unser Wirt, der da gerade den Topf mit dem Hammelbraten bringt? Was, meinst du, bestimmt die Grenze […]?‹ ›Sehr einfach. […] Das, was das Chaos vertritt, ist die Bedrohung, die angreifende Seite.« (Sapkowski 2018: 15 f.)

Girard selbst hat bereits festgestellt, dass seine (ja denn auch weidlich kritisierte) Theorie nicht im naturwissenschaftlichen Sinne beweisbar sei, allerdings sieht er sie insofern als bewiesen an, als dass sie (anders als beispielsweise die Psychoanalyse) lückenlos und ohne blinde Flecken funktioniere. (Girard 1994: 457461). Sei die Wahrheit einer umfassenden Kulturtheorie dahingestellt, ist doch ihre Wirkmächtigkeit nicht zu leugnen; wenn sie Religion und Mythos einen modernen Platz als menschliche Reaktionen auf ein ganz reales Ereignis des versöhnenden Opfers zuweisen kann, hätte Girard die Kunstmythen der Fantasy, die sich seit Tolkiens Begrifflichkeit der Eukatastrophe sowie der dadurch ausgelösten Katharsis (Tolkien 2014) in Inhalt und Duktus sowohl an kirchliche Lehren als auch antike Mythen anlehnen – und diese Struktur wird auch von diversen Definitionsversuchen der Fantasy aufgegriffen (Rüster 2013)8 – mit ähnlichen

8

Was sowohl für Rüsters eigene Ansätze als auch für die von ihm aufgezeigten Theoriegebäude gilt.

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Methoden analysieren müssen, wie er das bei Ödipus oder den Bakchen tut. Und doch, wie könnte es im Geiste der Moderne anders sein, bildet das Denken dieser Epoche selbst in der Krise des Opferkults auch für Girard eine Ausnahme. Wohl nicht ohne einen gewissen Werkstolz schließt er mit den Worten: »Sie bringt uns dazu, die Rolle der Gewalt in den menschlichen Gesellschaften im vollen Lichte der Vernunft offenkundig zu machen.« (Girard 1994: 475)

Sapkowskis Welt weist der Gewalt die tragende Rolle zu; soweit, dass Geralt bereits im vollen Licht der Vernunft wandle, wollen wir hier nicht gehen, doch lässt sich der immer wieder aufflammende Zorn seiner Umwelt auf den Hexer, der »statt das Schwert zu nehmen und dreinzuhauen, zu meditieren anfängt […] ob denn das Ungeheuer auch ein Ungeheuer sei« (Sapkowski 2018: 53) mit Girard recht gut erklären: Wer den Unterschied negiert, öffnet der Gewalt Tür und Tor. Geralt verweigert seine Rolle als Opfer und Opfernder konsequent; letztlich entzieht er sich weitgehend den Zumutungen der Gemeinschaft und beantwortet die Frage nach seiner Identität rein individuell (die postmoderne Antwort auf das Transzendenzversprechen der Fantasy). Ein primitiver, einmütiger Akt des gemeinschaftlichen Opfers ist in dieser Welt nicht möglich und somit keine Versöhnung. Ein Unterschied bleibt aber selbst in der Zelebrierung des fehlenden Unterschieds bestehen: Geralt verschont nach seiner Definition manch vordergründige Monstren in Einzelfällen; einen Vampir oder eine Striege nimmt er aus persönlichen Gründen von der Hexerregel aus, denn sie kann sein persönlicher moralischer Kompass nicht als Ungeheuer einstufen. Ein ganz bestimmtes Monster aber verschont er generell – und so lässt sich die auf der Textebene unerklärte Weigerung Geralts als Weigerung, die Gewalt in rein und unrein zu unterscheiden, eindeutig auflösen: Der Drache kann in keinem Fall geopfert werden, denn gerade seine eben nicht mehr nur liminal-ähnlichen, sondern identischen Eigenschaften zum Menschen machen den Menschen ebenso zum Ungeheuer, das Ungeheuer ebenso zum Menschen. Nur als ununterscheidbaren Doppelgänger kann sich Geralt – den Drachen denken.

LITERATUR Baumann, Michael (2016) »Spieler vs. Spielfigur? Zu Entscheidungssituationen in The Witcher«. In: Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung. 28.04. 2016. http://www.paidia.de/spieler-vs-spielfigur-zu-entscheidungssituationen -in-the-witcher/ [10.03.2019].

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Foucault, Michel (2007): Die Anormalen. Vorlesungen am Collegé de France (1974-1975). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Girard, René (1994): Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt am Main: Fischer. James, Edward (2012): »Tolkien, Lewis and the explosion of genre fantasy«. In: James, Edward/Mendlesohn, Farah (Hg.): The Cambridge Companion to Fantasy Literature. Cambridge: Cambridge University Press, S. 62-78. Kuprina, Olena (2010): »Märchentransformationen. Figurenanalysen zu russischen und ukrainischen Volks- und Kunstmärchen«. In: Rehder, Peter (Hg.): Slavistische Beiträge Band 476, Berlin: Otto Sagner. Macho, Thomas (1990): »Vom Ursprung des Monströsen. Zur Wahrnehmung des verunstalteten Menschen«., In: Holl, Adolf (Hg.): Wie werden aus Menschen Monstren? Graz: o.V., S.55-94 Overthun, Rasmus (2013): »Monster/Ungeheuer«. In: Brittnacher, Hans Richard /May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 420-432. Parr, Rolf (2009): »Monströse Körper und Schwellenfiguren als Faszinationsund Narrationstypen ästhetischen Differenzgewinns«. In: Geisenhanslüke, Achim/Mein, Georg (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld: transcript, S. 19-42. Rüster, Johannes (2013): »Fantasy«. In: Brittnacher, Hans Richard/May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 284-292. Sapkowski, Andrzej (2007): Der letzte Wunsch. München: DTV. Sapkowski, Andrzej (2012): Etwas endet, etwas beginnt. München: DTV. Sapkowski, Andrzej (2018): Das Schwert der Vorsehung. München: DTV. Tolkien, John Ronald Reuel (2014): On Fairy Stories. London: Harper Collins Publishers.

III. Drachen multimedial

Schaulust, Tricktechnik und Spektakel Drachen im Kino der Attraktionen Tobias Eder

CINEMA OF ATTRACTIONS UND DER FRÜHE FILM Drachen wurden in historischer Perspektive über einen langen Zeitraum kulturell vielfältig ausgelegt und interpretiert: Als Ungeheuer, Wächter, Herrschaftssymbol, magisches Wesen, als Teufelsfigur, chtonisches Rachewerkzeug oder Ziehvater scheint den Drachengestalten in viertausend Jahren Kulturgeschichte fast nur das Moment ihres Faszinationscharakters gemeinsam zu sein. Der Drache in seiner kulturellen Formbarkeit verliert dabei in allen Ausprägungsformen nie seine Ausstrahlung als übernatürliches Fabelwesen und Gestalt aus Märchen, Heldenepik oder Legende. Heute ist der Drache mit Sicherheit am stärksten mit den Vorstellungen der modernen Fantasy, oder genauer, der High Fantasy seit Tolkiens Smaug verknüpft und wird innerhalb dieser Kontexte sowohl literarisch, als auch filmisch verarbeitet. Drachenfiguren auf der Filmleinwand zu inszenieren ist dabei natürlich nicht erst seit Peter Jacksons Hobbitverfilmung gängig. Im Gegenteil: Die Auseinandersetzung mit Drachenfiguren im Film ist beinahe so alt wie die Erfindung des Mediums Films selbst und versucht seit dem frühesten 20ten Jahrhundert den Drachen ›in motion‹ zu imaginieren. Die frühen Adaptionen von Drachenfiguren finden sich besonders im Werk Georges Méliès, dessen phantastische Inszenierungen und Märchenwelten neben vielfältigen anderen Fabelwesen, auch einen Platz für Drachen boten. Méliès, der Sohn eines Schuhfabrikanten sowie passionierter Illusionist und Bühnenmagier, übernimmt ab 1888 das renommierte Theatre Robert-Houdin in Paris. Am 27. Dezember 1895 besucht Méliès eine Privatvorführung des Cinematograph der Brüder Lumière. Kein halbes Jahr später zeigt das Robert-Houdin täglich Filme, in Ermangelung jeglicher Institutionalisierung von Filmverleihen gewissermaßen zwangsweise in Eigenproduktion.

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Zu diesem Zweck wird schließlich 1896 das eigene Studio mit dem Label Star Film gegründet (Robinson 1993: 31). Als Bühnenmagier und Theaterbesitzer verfolgte Méliès mit seinen Filmen ein grundlegend anderes Interesse als die Lumières in ihren Vorführungen im Grand Café. Statt dem dokumentarischen Charakter der Lumière Produktion orientierte sich Méliès an der phantastischen Tradition der Bühnenmagie und der Féeries des 19ten Jahrhunderts. Diese Theatertradition, die seit dem Ende der französischen Revolution als eine Art Volkstheater in Frankreich von Bedeutung gewann, besaß ähnlich zur italienischen Commedia dell’arte ein Repertoire an gängigen Charaktertypen, Tropen und Wendungen, die aus der romantischen Tradition und dem Märchen entlehnt waren. Der Inhalt der Féeries orientierte sich oft grob an den Konventionen der Märchen von Charles Perrault, oder mit betontem Exotismus an den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, in welcher Helden durch phantastische Welten ziehen, Hindernisse überwinden und das Böse bezwingen (Heinel 1994: 11). Eine der ersten und populärsten Féeries war das 1806 uraufgeführte Le Pied de mouton, in welcher der Held Guzman durch ein magisches Reich ziehen muss, um seine Geliebte Leonora aus den Fängen eines niederträchtigen Widersachers zu befreien (Senelick 2000: 167). Die einfachen Handlungsstränge dienten oft nur als Hintergrund zum eigentlichen Spektakel: Tanz, Gesang, aufwändige Kostüme und Bühnenbilder. Féeries bedienten sich dabei insbesondere technischer Spielereien, wie dem Einsatz von Falltüren, Rauchmaschinen, maschinell beweglicher Bühnenelemente, Rampenlichter und Bühnendioramen, die bei der Beleuchtung mit Licht aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedliche Szenen darstellten. Die Inszenierung besaß einen solchen Stellenwert, dass die Handlung von Féeries oft als so konfus eingestuft wurde, dass Theaterkritiker Francisque Sarcey behauptete, es sei egal, ob das Ende vor dem Anfang des Stücks aufgeführt würde (Moen 2012: 2). Trotz den starken Vorbehalten der Theaterkritik des 19ten Jahrhunderts wurde den Féeries trotzdem oft ein besonderer, fast magischer Reiz zugesprochen. So Théophile Gautier, in der englischen Übersetzung einer Zeitungskritik: »What a charming summer spectacle is a féerie! That which doesn’t demand any attention and unravels without logic, like a dream that we make wide awake. [It is] a symphony of forms, of colours and of lights. The characters, brilliantly clothed, wander through a perpetually changing series of tableaux, panic-stricken, stunned, running after each other, searching to reclaim the action which goes who knows where; but what does it matter! The dazzling of the eyes is enough to make for an agreeable evening.« (Moen 2013: 1)

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Dieser Kommentar zeigt eine eindeutige Verwandtschaft zur heutigen Auffassung vom frühen Film, das heißt dem Film vor 1910 und den Transformationen des Kinos durch Griffith, Pudovkin oder Kuleshov. 1 Tom Gunnings Einflussreiches Essay »The cinema of attraction« versucht sich an einer Einordnung des frühen Films jenseits der Kategorien eines narrativen Kinos. Gunning versteht das Cinema of attractions dabei als universalen Mechanismus des Filmverständnisses zu Beginn des Mediums. Film soll nicht Geschichten erzählen, sondern Bilder zeigen, die allein wegen ihrer illusorischen Kraft den Zuschauer faszinieren (Gunning 1990: 57). Gunning wählt den Begriff ›attractions‹ angelehnt an Sergei Eisenstein und die Attraktion der Montage. Bei Eisenstein ist Kino in Abgrenzung zum Theater nicht die Kunst des Schauspielers, oder der dargestellten Handlung, sondern die Kunst der Schere, also der Komposition einzelner Attraktionen (Ebd.: 60). Ähnlich versteht Gunning demnach die Faszination Kino durch den Mechanismus, Unmögliches in (scheinbar) echte Bilder zu verwandeln. Die Illusion operiert dabei primär visuell und weniger narrativ und der kommerzielle Film versucht durch Bildgewaltigkeit zu bestechen. Das Kino der Attraktionen und die Tradition der französischen Féeries bietet damit die Grundlage zum Verständnis von Méliès’ Filmen. Die Abkehr von der Vorstellung eines realistischen Kinos erklärt sich nicht so sehr aus den Bestrebungen das Übernatürliche auf der Leinwand als Wirkliches erscheinen zu lassen. Viel eher haftet schon allein der Wiedergabe der bewegten Bilder selbst etwas Wunderbares an. Von diesem allgemeinen Enchantment des Kinos ist es nur noch ein kurzer Schritt zu den inszenierten Féeries eines Méliès, der neben den Techniken des Theaters auch genuin filmische Trickverfahren, wie stop-motionAnimation und die Doppelbelichtung einführt (Kessler 2012: 71). Dabei ist es bemerkenswert, dass die frühen Filme sich noch keiner filmischen Illusion bewusst sind, also ihre Gemachtheit als Film nicht verstecken. Der Zuschauer wird nicht zur Annahme der Realität der Geschehnisse verleitet. Im Gegenteil übernimmt Méliès gängige Konventionen des Varietés, wie die Adressierung des Publikums und die vollständig durchgehaltene bühnenhafte Totale, die eine frontale Sicht aus dem Zuschauerraum auf das Geschehen zeigt. Schwarz-weiß waren Méliès’ Filme zur Originalaufführung vermutlich selten. Stattdessen sind die Filme handcoloriert, das heißt Frame für Frame bemalt, was zum Glück bei einigen Szenen noch erhalten ist. Die Filmsets waren im Vergleich dazu wenig farbenfroh. Wegen der Probleme bei der Aufnahme unter-

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Zum Einfluss der frühen Regisseure auf das Kino siehe auch Foster 2008 und Gillespie 2000.

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schiedlicher Farbtöne mit den damaligen Kameras waren sämtliche Kostüme und Kulissen oft in unterschiedlichen Grautönen, um sich später besser colorieren zu lassen (Ezra 2000: 44).

DRACHENFIGUREN IN DEN FILMEN MÉLIÈS’ Wie steht es konkret mit den Drachen bei Méliès? Innerhalb der Filme sind Drachen oft Ungeheuer, wenn auch für den Zuschauer wenig bedrohlich, die sich in die lange Reihe an Herausforderungen des Helden einreihen. Der erste Drache im Film überhaupt – zumindest soweit noch ermittelbar2 – stammt aus dem 1905 erschienenen Le palais de mille et une nuits oder unter englischem Titel The Palace of Arabian Nights. Zur Handlung nur kurz: Eine Gruppe exotischer Krieger dringt tief im Dschungel in einen Palast ein, in dem ein sagenhafter Schatz begraben liegt. Auf dem Weg dorthin müssen die tapferen Kämpfer tödliche Fallen und fürchterliche Kreaturen überwinden. Die sechs Gefährten, die durch den Tempel irren, kämpfen in einer Szene eben noch gegen eine Horde animierter Skelette, ehe sie bereits woanders vor der Kulisse einer Säulenhalle mit einem Mal einem Drachen der Größe eines mittelgroßen Hundes gegenüberstehen. Nach kurzer Verwirrung wird der eindrucksvoll feuerspeiende Drache vom Held bezwungen, aber es bleibt eigentlich kaum Zeit zur Verschnaufpause, bevor die nächste Gefahr droht. Die Szene illustriert die generelle Machart von Méliès’ Filmen exemplarisch: Bühnenhafte Szenerie, aufwendige Effekte, oft konfuse Handlungsabfolge. Ist der Drache in The Palace of Arabian Nights noch eher ungenau als solcher erkennbar, liefert Méliès schon ein Jahr später in La fée Carabosse ou le poignart fatal im englischen deutlich kürzer, als The Witch – eine präzisere Drachendarstellung. Hier findet sich der Held gleich von einer ganzen Reihe an monströsen Kreaturen bedroht, inklusive dem feuerspeienden Drachen und kann nur mit der Hilfe einer Göttin oder guten Fee vor den Ungeheuern gerettet werden. Dass sich der Drache neben dem überlebensgroßen Frosch, einem mit rotfunkelnden Augen bestückten Uhu und am Boden kriechenden Bestien überhaupt abheben kann verdankt er in der Szene nur seiner Fähigkeit, Feuer zu speien.

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Nur knapp 200 von den über 500 Filmen von Méliès sind bis heute erhalten (Robinson 1993: 11).

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Diese deutlich bedrohlichere Szene zeigt schon etwas mehr Narration als noch der vorherige Ausschnitt – trotzdem steht die Attraktion der Tricktechnik eindeutig im Vordergrund. Der Drache ist immer nur eine Figur in der Ansammlung von Fantasiegestalten, mit denen einer oder mehrere Helden konfrontiert werden, und füllt in den seltensten Fällen mehr als eine gute Minute des Handlungsgeschehens. Dieser Unterschied zu den filmischen Gewohnheiten der späteren Zeit wirkt besonders auffällig, da die Aneinanderreihung jenseits des visuellen Spektakels keine besondere Hierarchie besitzt. Es geht primär um das Erstaunen des Publikums und den Unterhaltungswert des bewegten Bildes auf der Leinwand. Méliès’ Reflexionen über Film lassen sich unter anderem in dem Essay Die Filmaufnahme wiederfinden. Hier beschreibt Méliès verschiedene Stationen der Repräsentation im Film und definiert das Medium als mehrfach transformierbar: Méliès liefert dabei eine Hierarchie auf der Ebene des Films, indem er die früheste Phase der Filmwahrnehmung als den natürlichen Blick beschreibt: natürlich ist laut Méliès die Abbildung und Darstellung ganz alltäglicher Szenen durch den Film. Die Attraktion der bewegten alltäglichen Bilder geht mit der Zeit über in eine Attraktion durch exotische Schauplätze und Aufnahmen (Méliès 1993: 15f.). Im zweiten Schritt beschreibt Méliès den wissenschaftlichen Blick des Films und meint damit insbesondere die Nahaufnahmen von Tieren, Menschen, Tätigkeiten oder Objekten in Bewegung. Dazu zählen Aufnahmen von Glasbläsern, Töpfern, Dampf- oder Elektromaschinen. Ähnlich wie in der der deutlich späteren sowjetischen Ästhetik der Kinoks und Dziga Vertov mit der ›allsehenden Kamera‹3 beschreibt Méliès hier das Faszinosum der close-ups als übernatürliches Phänomen des Sehens im Film (Ebd.: 18ff.). Der dritte Schritt in Méliès’ Schema ist das komponierte Filmsubjekt, in welchem die vor der Kamera ablaufende Handlung vorbereitet und geplant ist, was schon zur damaligen Zeit den Großteil der Filmproduktion ausmachte (ebd. S. 24f.). Hier trifft sich die Nähe zum Theater und anderer Unterhaltungsformen, wobei allerdings noch nicht voll die Möglichkeiten des Mediums ausgeschöpft werden. Im vierten und letzten Schritt kommt es schlussendlich zum transformierten Blick, oder eher dem Blick auf das Transformierende, bei dem sich vor den Augen des Zuschauers Szenerien und Handlungen abwechseln und sich unterschiedliche Charaktere und Schauplätze ineinanderfügen (ebd.: 26ff.). Dies greift nun schlussendlich die medienspezifischen Möglichkeiten des Films mit

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Zur Theorie und den Filmen der Kinoks siehe auch Vertov 1984.

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auf und behandelt sowohl Techniken des Schnitts als auch der Belichtung, Aufnahme und Tricktechnik. Méliès sieht diesen transformativen Charakter als die Essenz des Films an, gewissermaßen seine besondere Medialität und nutzt exzessiv die von ihm beschriebenen Verfahren der Transformation von Bild, Kulisse und Charakteren. Dieses Schema ist nicht verwunderlich, sondern spiegelt viel eher Méliès’ eigenen stilistischen Werdegang. Dementsprechend kann Die Filmaufnahme sowohl als Erklärungsmuster für die filmische Produktion von Méliès verstanden werden, als auch zur Beschreibung einer spezifischen Ästhetik, die sich als roter Faden durch sein filmisches Werk zieht. Als drittes filmisches Beispiel dient ein 1912 von Méliès produzierter Film: Le Chevalier des neiges – The Knight of the Snows. Die folgende Szene wird direkt zweifach interessant sein: Sie demonstriert gleichzeitig Méliès’ Kino der Transformation, mit den wechselnden Szenerien, Charakteren und Objekten. Aber sie bringt auch erneut einen Drachen, dieses Mal als von teuflischen Wesen beschworenes, eher unwilliges Zugtier, welches bei der Entführung einer schlafenden Jungfrau zum Einsatz kommt. Ein teuflisches Wesen (gespielt von Méliès) erscheint im Zentrum der Szene, einem Schlafzimmer in welchem eine Frau im Bett der linken Bildhälfte schläft, und beschwört zunächst zwei arbeitsunwillige Gehilfen. Eine Bedienstete, die zu stören droht, wird dadurch beseitigt, dass die diabolischen Gesellen sie im Boden versinken lassen. Daraufhin wird die Frau aus dem Bett gezerrt und in einen – durch weitere Gehilfen – herbeigeschafften Käfig auf Rädern und Zugfahrzeug gesperrt. Der Teufel beschwört daraufhin ein Drachenwesen und spannt es vor den eilig zusammengetragenen Wagen, woraufhin das Gespann aus der Kulisse abzieht. Die Szene zeigt einige Ungereimtheiten im Schnitt, die vermutlich in der Nachproduktion durch das Studio Pathé Frérès entstanden sind (Frazer 1979: 54). Méliès’ Stil bleibt auch bei diesen für seinen Schaffenszeitraum relativ späten Produktionen den Spezialeffekten als Attraktion des Films treu, obwohl diese Art der Filmproduktion um 1912 bereits veraltet war und dementsprechend schlecht von der Kritik aufgenommen wurde (ebd.: 55f.). Statt dem Kino der Attraktionen Méliès’ steht der Spezialeffekt jetzt deutlicher im Dienst der Narration und stützt sich auf die Plausibilitätsbehauptung des im Film Dargestellten. Die Tricktechnik ist nicht länger einfacher Selbstzweck, sondern soll dem Entwurf einer überzeugenden fiktionalen Welt dienen. Da Méliès diesen Schritt nicht mitmacht, lässt dies seine Filme im zeitgenössischen Kontext um 1912 bereits veraltet und antiquiert wirken.

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DRACHEN JENSEITS VON MÉLIÈS: HOLLYWOOD UND BABELSBERG Um noch zwei andere Ausprägungen von Drachen im frühen Film untersuchen zu können wird an dieser Stelle ein Sprung von 12 Jahren unternommen, also bis in die Mitte der 1920er Jahre. Das Jahr 1924 ist filmdrachentechnisch besonders: zunächst mit einer aufwendigen Hollywoodproduktion, in der Hauptrolle Douglas Fairbanks, einer der bekanntesten frühen Hollywood-Stars: The Thief of Bagdad (1924) erzählt eine märchenhafte, exotische Erzählung, abermals angelehnt an Tausendundeine Nacht. Der Dieb Ahmed trifft beim Raub im Palast des Kalifen auf die schöne Prinzessin, in die er sich sofort verliebt. Um ihre Gunst zu erlangen, muss der Dieb selbst zum Prinzen werden, was ihm nur unter Erlangung eines magischen Pulvers und weiterer Paraphernalien gelingen kann. Auf dem Weg zur Beschaffung der magischen Artefakte muss sich Ahmed etlichen Herausforderungen stellen, wie der Durchquerung einer feurigen Höhle, dem Kampf mit einer Spinne am Grund des Ozeans, dem Ritt auf einem Pegasus und eben auch dem klassischen Drachenkampf. Im Gegensatz zu Méliès ist der Kampf im Sinn der Diegese deutlich ernster inszeniert, wenn auch für heutige Verhältnisse wenig nervenaufreibend. Einige herausstechende Unterschiede finden sich bereits in geänderten technischen und konventionellen Gegebenheiten: Der Film hat mit fast zweieinhalb Stunden jetzt schon die Dimensionen des Spielfilms erreicht, besonders im Vergleich mit den eher 15-minütigen Filmen Méliès’. Nimmt man die höhere Bildfrequenz von mehr als 20 Bildern pro Sekunde und die Praxis des Filmverleihs und der institutionalisierten Distribution hinzu, ist eine Handcolorierung von Film wie zu Beginn des 20ten Jahrhunderts praktisch unmöglich und deswegen nicht länger gängige Praxis. Ganz schwarz-weiß sind die Filme allerdings nicht, sondern vielmehr je nach Szenerie in unterschiedliche Farbschattierungen aufgeteilt. Auch dieser Effekt steht inzwischen im Dienst der Narration und soll die Stimmung der einzelnen Szene unterstreichen. Die dunkle Höhle des Drachen ist beispielsweise matt grün, während andere Szenen, insbesondere im Palast des Caliphen hellgelb, oder rötlich schattiert sind. Auch finden sich im Vergleich zu Méliès Zwischentitel, die insbesondere die unterschiedlichen Handlungsorte während paralleler Handlungsstränge eindeutig voneinander trennen sollen. Auch hier zeigt sich die komplexere Struktur der Narration. Die Szene wird eingeleitet durch einen ortbestimmenden Zwischentitel ›The Third Moon‹ und ›The Valley of the Monsters‹. Der Held Ahmed trifft in einer gewaltigen Höhle auf ein reptilienartiges Untier, dass ihn sogleich mit qualmen-

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dem Atem bedroht. Durch einen Stich in den Bauch des Ungeheuers kann der Held das Wesen überwinden und seinen Weg fortsetzen. Einige Details der Szene sind auffällig: Zum einen die gewaltige Größe des eher dinosaurierartigen Ungeheuers im Vergleich zu den Drachen eines Méliès’; gleichzeitig die deutlich modernere Inszenierung des Kampfes mit wechselnden Perspektiven und close-ups, also viel näher an den Filmkonventionen der Gegenwart. Der Drache selbst liegt zur Darstellung seiner überdimensionierten Größe vermutlich zweimal vor: einmal als Miniatur, in deren Frame die Aufnahme des Helden Ahmed geschnitten ist, um beide Kontrahenten im selben Bildausschnitt zeigen zu können. Die zweite Darstellung ist nur die Unterseite des Drachen im Close-Up, bei welcher der Held das Ungeheuer mit dem Schwert aufschlitzt. So komisch die Szene nach den heutigen Sehgewohnheiten scheinen mag, sind die Methoden der Filmtechnik ausgereifter und sehr nah an der Filmpraxis Hollywoods bis zum Einzug von CGI-Animation in den achtziger Jahren. Im Gegensatz zum frühen Kino der Attraktionen bedient sich der Film merklich der Konventionen gängiger Heldenerzählungen inklusive des Todesstoßes gegen den Bauch des Drachen, zählt aber insbesondere bei der damaligen Kritik als märchenhafte Erzählung mit phantastischen Bildern und erinnert gleichzeitig an das expressionistische deutsche Kino der frühen Weimarer Zeit unter Lubitsch oder Murnau. Kommen wir noch kurz auf das deutsche Kino zu sprechen und wohl den bekanntesten Drachen der deutschen Filmgeschichte: Fritz Langs Nibelungen (1924) zeigt im Gegensatz zum Nibelungenlied den Kampf Siegfrieds gegen den Lindwurm als eines der Highlights des Films. Der martialische Krieger Siegfried, im Film gespielt von Paul Richter, trifft auf dem Weg nach Worms und zu Kriemhild in den tiefsten Wäldern auf den Lindwurm. Die Szene ist gerade deswegen so besonders, weil es sich bei dem Drachen um ein 1:1 Modell handelt, da Lang nicht mit einer Miniatur und unterschiedlichen Perspektiven drehen wollte. Der Drache wird über Drahtseilzüge aus einem Steuersitz im Inneren des Modells heraus bewegt. Im Kopf des Drachen befindet sich zudem eine Brennvorrichtung zum Entzünden einer Acetylenflamme mit einem Blasebalg, über welches das brennbare Gas als Feueratem bis zu drei Meter weit versprüht werden kann (Gunning 2000: 34 ff.). Damit ist der Lindwurm auch ein deutlich ernstzunehmender Gegner für Siegfried. Die Szene selbst ist gut fünf Minuten lang. Siegfried trifft beim Ritt durch den Wald auf den Drachen an einer Quelle und ein längerer Kampf entbrennt, bei welchem der Held mehrfach in Bedrängnis gerät, da seine Schwerthiebe den Drachen nicht verwunden. Schlussendlich gelingt der Stich in das Auge des Dra-

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chen und daraufhin ein weiterer gegen die verwundbare Unterseite. Der Lindwurm ist damit besiegt. Die Betonung des technischen Aspekts des Ufa-Lindwurms ist für heutige Verhältnisse vielleicht nicht mehr ganz so erstaunlich, da making-ofs und aufwendige Special Effects in Blockbustern an der Tagesordnung sind. Für die relativ kurze Szene des Films ist allerdings in den Nibelungendrachen unverhältnismäßig viel Aufwand geflossen, besonders da Lang den Drachen immer wieder von 20 Mann von einer Position auf die andere schieben ließ (Jensen 1969: 116). Langs Lindwurm besitzt hier nicht nur durch den enormen Aufwand in der Produktion eine Sonderstellung, sondern erfüllt auch zum ersten Mal eine narrativ wichtige Position. Die Unterschiede zum Cinema of Attractions eines Méliès treten hier am deutlichsten hervor. Nicht nur Kameraführung, Schnitt und Inszenierung des Kampfes ist unterschiedlich, Lang versucht den Drachen so realistisch wie möglich zu präsentieren, um damit nicht die Illusion der Narration zu verletzen. Darin zeigt sich auch die wichtige Beobachtung am Cinema of Attraction Gunnings, nämlich, dass das Ende des Cinema of Attractions nicht gleichbedeutend ist mit dem Ende von aufwendigen Spezialeffekten im Film, sondern eine reine Aussage über den Primat von Narration über Attraktion stellt, der sich bis heute zumindest im gängigen Kino Hollywoods gehalten hat. Die Drachen im frühen Film sind in ihrer Charakterisierung mit Sicherheit weniger psychologisch interessant als die Drachen der Literatur des 20ten Jahrhunderts. Aufschlussreiche Untersuchungsobjekte sind sie trotz allem: Als Attraktion und Faszinationsobjekt der Rezipienten, mythologisiertes narratives Mittel und nicht zuletzt als Beobachtungsinstanz der Ausdifferenzierung des Mediums und des Stellenwerts der filmischen Illusion der Realität.

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»Follow the screams!« Saurier in Steven Spielbergs Jurassic Park und die filmische Tradition des Drachen Thomas Koebner

KING KONG UND GODZILLA Um Saurier in einer Film-Erzählung mitspielen zu sehen, bedurfte es lange Zeit in der Geschichte dieser Kunst nur einer Voraussetzung: der Wahl des exotischen Schauplatzes, nämlich einer abgeschiedenen unbekannten Insel, auf keiner Land- oder Seekarte vermerkt. Bereits in der Fiktion von King Kong (1933, Regie: Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack), die das Genre dieser Monster-Mystery prägte, handelt es sich um ein wolken- oder nebelumwabertes Eiland, schreckverheißend Schädelinsel (skull island) genannt. Auf diesem Territorium jenseits der bekannten Welt leben zwar auch Eingeborene, doch schützt sie eine riesige Mauer vor einem Dschungel-Bezirk ungeahnten Ausmaßes, in dem der Riesenaffe King Kong herrscht. Als ihm eine weiße Frau versehentlich als Opfer dargeboten wird, erwacht in ihm sogleich ein unvermuteter Beschützerinstinkt. Er hat in Folge viele schwere Kämpfe durchzustehen, um sich der gleichfalls anwesenden Saurier (unter ihnen eines Tyrannosaurus) zu erwehren, die als nur allzu natürlich gesteuerte Fresstiere in dem schönen Mädchen ausschließlich willkommene Nahrung sehen. Der Verlauf der Geschichte ist bekannt, Kong ringt alle Widersacher aus der Urzeit nieder – doch leider entkommt ihm die weiße Frau. Er wird betäubt und in einem Schiff nach New York gebracht. Dort als Jahrmarktsmonster ausgestellt, zerreißt er, der wilde Eifersüchtige oder eifersüchtige Wilde, seine Ketten, als er die Schöne im Publikum entdeckt. Auf einem ziemlich zerstörerischen Trip durch New York raubt Kong das Mädchen und besteigt als behänder Fassadenkletterer das Empire State Building. Dort setzt er sie liebevoll ab, als er von

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Kampfflugzeugen tödlich getroffen wird. Seine Leidenschaft und die moderne Waffentechnik bringen das phantastische Ungeheuer um: la Belle et la Bête: Die Schöne wird dem Biest zum fatalen Verhängnis. Eine Auslegung war nicht gleich zu entkräften – dass es sich nämlich bei dieser Fabel um eine Parabel vom ›schwarzen Mann‹, von dem mit Riesenkräften (aller Arten) ausgestatteten Fremden handelt, der die blonde Frau begehrt und so hinter der Maske des massiven Tieres als ernsthafter Konkurrent weißer Männer erscheint. Der Streit um diese ethnopsychologische Deutung ist schwer zu entscheiden. Ein Remake von 1976 (Regie: John Guillermin) betonte die Liebesaffäre zwischen dem zartfühlenden Monster und der von so viel Kraft und Fürsorge bezauberten Lady, verzichtete dafür auf ausgedehnte Revierkämpfe mit Ungeheuern anderer Art, während Kong in einer weiteren Version von 2005 (Regie: Peter Jackson) das blonde ›Püppchen‹ in seiner rechten Hand vor den heftigen Angriffen weniger empfindsamer Saurier beschützen muss. Von ihren ersten Auftritten an – in quasi-realistischen Spielfilmen – sind Saurier, auch als noch ›primitivere‹ Gegner von King Kong, den Menschen nicht wohlgesonnen. Anders verhält es sich bei Zeichentrick-Produktionen und Puppenspielen, die Kinder als Zuschauer nicht verstören wollen.1 Aber welche Gründe gibt es überhaupt, diese Wesen auf der Leinwand erscheinen zu lassen? Zwei Seitenblicke, ein kurzer und ein längerer, seien gestattet. Der kurze Seitenblick: Die Bombardierung Japans 1945 mit zwei amerikanischen Atombomben (auf Hiroshima und Nagasaki) hat das fernöstliche Kaiserreich nicht nur dazu gezwungen, den Krieg zu beenden – das Ausmaß der Zerstörung, der man ohnmächtig ausgesetzt war, hinterließ eine lang nachwirkende radioaktive Verseuchung und tiefe Verletzungen im kollektiven Gedächtnis der japanischen Bevölkerung. Als der Filmregisseur Inshiro Honda 1954 das überlebensgroße saurierähnliche Ungetüm Godzilla aus dem Meer aufsteigen und das Land zerstören ließ, verhalf er einer bald populären Angstvision im Kinoformat zum Durchbruch. Godzilla, der seit der Jurazeit in der Tiefe des Ozeans überdauert habe, soll durch radioaktive Strahlung in Folge des Atombombenabwurfs mutiert sein: also ein zugleich prähistorisches und historisches, ein zeitgenössisches Phänomen, ein durch militärisches Kalkül wiederbelebtes oder aktualisiertes Sagentier. Es sei nicht vergessen, dass in den fünfziger Jahren eine Serie von experimentell

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Zum Beispiel ein Kurzfilm mit der Karikatur Gertie the Dinosaur, 1914, des Zeichners Winsor McCay, oder Urmel aus dem Eis, 1969, TV-Fassung der Augsburger Puppenkiste nach dem Buch von Max Kruse, 2006, Regie: Reinhard Klooss, Holger Tappe.

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beobachteten und zur Abschreckung gedachten Explosionen der neuen Waffe im Westen (etwa auf dem südpazifischen Bikini-Atoll) wie im sowjetischen Osten bedenkenlos und zukunftsblind in Gang gesetzt wurde. Die Drohung atomarer Vernichtung und des Rückfalls ins Chaos lähmte oder agitierte alle, die sich nicht dazu entschieden hatten, die Augen fest zu schließen und sich abzulenken. In Godzillas Erscheinung, könnte man vermuten, verdichtete sich die Angst vor einer konkret vorstellbaren Katastrophe – zugleich verringerte sich der Schrecken, da dieses Film-Phantasma in seinen ruckhaften Bewegungen als künstliche Spielfigur leicht erkennbar war und so Distanz schaffte. Diese denkbare ambivalente Wirkung: das Ineinander von panischem Zurückweichen und dennoch neugierigem Zuschauen, wiederholt sich prinzipiell bei jeder ›künstlichen‹ Abbildung oder Inszenierung eines Gräuels, der in Wirklichkeit Leib und Leben gefährdet. Fast 30 vorwiegend japanische Godzilla-Filme folgten und verwandelten allmählich das fiktive Ungeheuer in vielerlei Kombinationen zur Attraktion märchenhaften Schauders.

DRACHEN IM FILM Nun der längere Seitenblick: Drachen und Saurier scheinen miteinander verwandt zu sein. Derselbe Schuppenpanzer mit vielen Stacheln, die an Reptilien oder Schlangen gemahnende Gestalt, der lange Schwanz, das riesige gefräßige Maul – als furchteinflößende Ungeheuer bringen sie normalen Menschen Tod und Verderben, ausgenommen Heiligen und auserwählten Drachentötern. Die Unterschiede zwischen Drachen und Sauriern liegen prima vista auf der Hand. Die ›Lindwürmer‹ kriechen nicht nur auf der Erde oder verbergen sich in Höhlen, sie können sich auch in die Luft erheben, denn ihre ›Seitenflossen‹ sind nicht selten als Flügel ausgebildet. Drachen spucken überdies Feuer aus ihrem Schlund, diese Eigenschaft enttarnt sie zusätzlich als Ausgeburten der Hölle. Mittelalterliche Drachen verlangen – wie später King Kong – regelmäßig Menschenopfer, bevorzugt Jungfrauen. Was treiben sie mit den unschuldigen Mädchen? Verschlingen sie sie oder halten sie sie nur gefangen? Drachen gelten, seit der Beschwörung von Behemoth und Leviathan, als überlebensgroße Unglücksbringer in der Offenbarung des Johannes, als Erfindungen der Legende, im Bereich christlicher Allegorese vorwiegend als Verkörperung der bösen, schwer beherrschbaren Triebe (und Triebnatur?) des Menschen. Deshalb bedarf es eines Erzengels Michael oder eines heiligen Georg, denen es gelingt, diese dämonischen Wesen zu überwinden (die Betrachtung der wertgeschätzten, gar verehrten Drachen im ostasiatischen Raum muss hier ausgespart bleiben). Auch Drachen-

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Embleme sind dem langen Prozess der Säkularisierung unterworfen gewesen und kehren in neuzeitlicher Perspektive als profaner zu deutende Symbolfiguren wieder. Richard Wagner übernahm aus der nordischen Saga die Vorstellung, dass es sich beim Drachen eigentlich um einen Mann handelt: den Riesen Fafner, der eine Metamorphose zum Monster erfährt. In Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen – das 1853 abgeschlossene Libretto entstand spätestens seit 1849, als sich der Dresdner Kapellmeister von den Ideen einer sozialen Revolution sehr beeindruckt zeigte – gilt Fafner als metaphorische Verkörperung eines sowohl unproduktiven, als auch asozialen reichen Kapitaleigners, der träge auf einem Schatz lagert.2 In seiner Film-Karriere verlor das Motiv des Drachens die mythologische Aura, gewann dafür zum Teil gesellschaftskritische Aspekte hinzu. Ein Drache noch ohne tiefere Bedeutung wird in Fritz Langs Nibelungen-Film (Erster Teil 1922) vom halbnackten Recken Siegfried im tiefen Wald aufgestöbert, als sich das Reptil schwerfällig zur Quelle schleppt: ein offenbar zur Jagd stimulierendes großes Vieh, nicht einmal als Raubtier gekennzeichnet, das der tatendurstige junge Held, weit entfernt vom Ideal eines christlichen Ritters, erschlägt, weil ihm nach Erschlagen von anders gearteten Wesen zumute ist (um im Blut des toten ›Wurms‹ zu baden, einer Substanz, die unangreifbar machen soll – außer absurderweise den Drachen selbst). Jüngere Filme, die das legendäre Monster in ihre ins Mittelalter versetzte Handlung einfügen, übertreffen Wagners sozialistisches Verständnis des Fabeltiers als eines in seiner Verborgenheit immerhin passiven Krösus. Sie entdecken den Drachen als einschüchterndes Leinwand-Ungeheuer und als blutsaugende Landplage zugleich, vor allem als einen Agenten des Terrors, einen Schlächter und Räuber, der Schrecken und Jammer unter den Einwohnern verbreitet – dessen Unwesen deshalb von der herrschenden Klasse ausgenutzt wird, um die ›Untertanen‹ einzuschüchtern. In Monty Pythons Jabberwocky (1977, Regie: Terry Gilliam) profitieren reiche Kaufleute und der Bischof von den ›Schandtaten‹ eines Drachen, der allmählich erst, Teilstück für Teilstück, als schaurig fetzenartiges Ungetüm ins Bild rückt – um seinen Anblick der Spannung zuliebe lange zu verbergen? Oder gilt auch hier eine Art magisches Blickverbot, vielleicht Blickscheu, denn wer dem Drachen von Angesicht zu Angesicht begegnet, erlebt dies bisweilen gleich zum letzten Mal? Unheimlich genug, versetzt der Film die Zuschauer zu Beginn ausgerechnet in die unwillkommene Perspektive

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Wagner lässt seinen Drachen in Siegfried, II. Aufzug, 1. Szene, lakonisch sagen: »Ich lieg’ und besitz’: – Lasst mich schlafen! «

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des gruseligen Jabberwocky (der Name entstammt der Alice-Erzählung Through the Looking-Glass, 1871, des Lewis Carroll), wie dieser grausam gleichgültige Fresser Menschen massakriert. In Dragonslayer (1981, Regie: Matthew Robbins) tritt die Herrschaftskritik deutlich hervor. Obwohl eine Disney-Produktion, entfaltet der Film ein beklemmend düsteres Panorama. Die visuelle Konzeption trägt zum grauenhaften Eindruck wesentlich bei: Der vogelartige Riesen-Drache schiebt sich mit seinem gewaltigen Haupt oft langsam von unten herauf ins Bild, schier unaufhaltsam, nicht selten hinter dem Rücken der Personen, die bisweilen zu spät wahrnehmen, dass das Ungeheuer seinen dunklen Schatten auf sie wirft. Der Drache, der emporsteigt aus Grüften und Schlünden, existiert als dämonisches oder satanisches Geschöpf sonst in der Tiefe der Erde. In Dragonslayer terrorisiert ein anscheinend weiblicher Drache das Volk, er oder sie züchtet seine Brut heran, damit die Gattung nicht ausstirbt. Auch dieses Untier fordert (wie einst King Kong und Vorgänger-Drachen) Jungfrauen als Tribut ein, die, an einen Pfahl gekettet, dem grausamen Untier zum Opfer gebracht werden. Per Los entscheidet der König, wer als nächste diesem sinnlosen Martyrium preisgegeben wird – so erzwingt er mit Hilfe des Drachen bei seinem vor Angst zitternden Volk Gehorsam und Unterwürfigkeit. Ein späterer Disneyfilm: Dragonheart (1996, Regie: Rob Cohen), gibt sich vorerst für eine Weile als Fantasy-Komödie zu erkennen, in der ein Drache und der sogenannte ›Drachentöter‹ einen lukrativen Pakt schließen, um als frohgemute Trickbetrüger übers Land zu ziehen: Der Drache gibt vor, ein Dorf zu attackieren, der Ritter verfolgt ihn und bringt ihn angeblich zur Strecke, dafür kassiert er ein Preisgeld von den angstbefreiten Bauern. Dasselbe Spiel wiederholt sich an einem anderen Ort. Ihre Interessengemeinschaft steigert sich zum Freundschaftsbund. Das ist möglich, weil dieser Drache spricht (in der englischen Originalfassung mit der Stimme von Sean Connery) und souverän argumentiert. Neben dieser Paarung von Ritter und Drache deckt Dragonheart noch eine weitere, diesmal unheilvolle und ›untergründige‹ Verbindung zwischen Drache und Fürst auf, die der Film nur märchenhaft motiviert: Der Drache und der Fürst teilen sich ein Herz, Folge einer Notoperation. Doch während sich der König zum unbarmherzigen Tyrannen entwickelt, zum Scheusal-Drachen in Menschengestalt, offenbart der Drache selbst sanfte und menschliche Züge und nimmt sogar den eigenen Tod in Kauf, damit sein unseliger Herzensbruder gleichfalls sterbe. Das überkommene Schema vom Ungeheuer als einer Verkörperung des Bösen löst sich auf, um der lebensklugen Moral willen: Man darf nicht dem äußeren Anschein vertrauen. Denn das wahre Ungeheuer verbirgt sich unter der Maske eines glatthäutigen jungen Despoten. Der geschwänzte und

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Feuer speiende Flugdrache tritt dagegen als humaner Geselle auf, seine Weisheit und sein ›Märtyrertod‹ verhindern seine Entwertung zum kinderstubengerechten Puppenmonster.

JURASSIC PARK Drachen, soweit wir wissen, sind Kunstfiguren, Projektionen der Phantasie. Saurier jedoch hat es gegeben. Die Knochen, die in einem erdumspannenden Areal von Nordamerika bis zur Mongolei und Australien ausgegraben werden, bestätigen, dass vor 65 Millionen Jahren und davor die meist riesenhaft ausgebildeten Tiere zu Wasser, zu Lande und in der Luft ihr Revier fanden. Die geballte Wiederkehr der Saurier im Film seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beruht auf der Entdeckung, dass man Tiere klonen, aus konserviertem Erbgut züchten kann – warum nicht auch Saurier.3 Michael Crichtons Roman Jurassic Park (1990) hat diese Wissenschaftsphantasie aufgegriffen und damit den Regisseur Steven Spielberg zu seinen beiden Saurier-Filmen inspiriert: Jurassic Park (1993) und die Fortsetzung The Lost World: Jurassic Park (1997). Die weiteren Filme dieser Reihe sind von anderen Regisseuren inszeniert worden. Spielberg ist auf diese Aufgabe dank früherer Produktionen vorbereitet gewesen: die Konfrontation zwischen unheimlichen, überlebensgroßen und eigentlich unüberwindbaren Drohgestalten auf der einen Seite und von vornherein unterlegenen Menschen auf der anderen Seite gehört zu den ›Ur-Mustern‹ seiner kreativen ›Inventionen‹. Bereits in Duel (Kinoversion 1973) verfolgt eine urtümlicher, gewaltiger Tankwagen, gesteuert von einem anonymen Fahrer, den man nie zu Gesicht bekommt und nie sprechen hört, aus unerfindlichen Motiven (oder geht es um eine Art von Revierkampf?) einen arglosen mittelständischen Helden in seinem kleinen roten Auto – und attackiert ihn mit sich steigernder Rücksichtslosigkeit immer wieder, so dass der Verfolgte um sein Leben fürchten muss: ein Straßen-Duell auf Leben und Tod zwischen ungleichen Partnern, David und Goliath. In Jaws (1975) greift ein monströser weißer Hai nicht nur friedlich badende Sommergäste an, sondern auch seine ›Jäger‹: im Vergleich zu ihm, dem Meeresungeheuer, vornehmlich hilflose Festland-Bewohner, die in größte Bedrängnis geraten oder sogar vom riesigen Maul verschluckt werden. Zuschnappende Urwesen im überdimensionalen Format – wie der Tyrannosaurus Rex oder die

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Allerdings hat sich das Blut, das in Bernstein eingeschlossene Insekten vor Jahrmillionen Sauriern abgesaugt haben, längst zersetzt.

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Velociraptoren im Jurassic Park – spielen als kaum bezwingbare Antagonisten oder ›Feinde‹ wie erwähnt in Spielbergs Konflikt-Diagramm eine bedeutsame Rolle. Es mag bei dieser Dramaturgie, die für beinahe chancenlose Helden extrem überlegene Gegenspieler sucht, ein von Anna Freud erkannter seelischer Mechanismus einsetzen, nach dem man sich in der Position objektiver Schwäche mit dem schlimmstmöglichen Angreifer identifiziert, um durch Anerkennung des ›Henkers‹ die eigene Lebensangst zu vermindern (vgl. Freud 1964: Kap. IX). Von einem unbeherrschbaren Raubtier gerissen und gefressen zu werden, könnte sich als besonders grauenhafte Angst beschreiben lassen, da hier der Jäger und seinesgleichen einem tödlichen Schicksal verfallen, das eigentlich dem gejagten Wild zugedacht ist: eine ›verkehrte Welt‹, in der Menschen ihre Hilflosigkeit im wirklich letzten ›Augenblick‹, ihre Ohnmacht auf grausame Weise erfahren. An der Demonstration dieser Ohnmacht, der Unterlegenheit des Menschen in der Naturordnung, sind Spielbergs Saurier-Filme sehr interessiert. Der ›Jurassic Park‹ ist ein Freigehege auf einer (wie immer) unbekannten tropischen Insel von erheblichen Ausmaßen, auf deren Boden geklonte Saurier umher trampeln, friedliche Laubfresser, die sich am Kopf kraulen lassen, wenn man hoch genug im Baum sitzt, und in solcher Zahl die Grassavanne bevölkern, dass eigentlich alles Laub und Grünzeug schon weggefressen sein müsste. Im dichten Dschungel halten sich die gefährlichen Räuber auf – wenn sie sich nähern, dann wackeln Bäume und Gebüsch, ohne dass man gleich erkennen kann, wer da aus dem Dickicht hervorbrechen wird (ein Spannungsmoment). Übrigens ist das Stampfen des Tyrannosaurus Rex so gewaltig, dass sich an der Oberfläche von Wassergläsern oder Pfützen Wellen bilden: ein unheimliches Phänomen, das die Annäherung des Monsters verheißt. Einige Distrikte der Anlage sind mit hohen elektrischen Zäunen gesichert, draußen transportieren ferngesteuerte Autos auf einer Schiene die Besucher durch die verschiedenen Szenerien. Nach menschlichem Ermessen sind alle Vorkehrungen getroffen, um einen Unfall in diesem Saurier-Zoo zu verhindern. Aber die Kalkulation der Ingenieure hat erstens nicht mit dem menschlichen Faktor gerechnet und zweitens nicht mit der Störanfälligkeit komplizierter Schutzanlagen. Der menschliche Faktor: Ein ziemlich widerlicher Computer-Spezialist (etwas plakativ mit einem dicken Mann besetzt, der zudem seinen Arbeitsplatz zumüllt) will Embryonen stehlen, um sie an Dritte zu verhökern. Um seinen Diebstahl zu vertuschen und unbemerkt aus dem Besucher- und Steuerungszentrum (in dem auch das Labor untergebracht ist) zu entkommen, schaltet er alle Kontroll-Mechanismen aus. Verdient er ein Todesurteil – wenn hier von poetischer Gerechtigkeit die Rede sein sollte? Als er mit seinem Auto im Regen havariert,

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macht ein kleiner giftiger Saurier ihm den Garaus, ohne dass wir seinetwegen weinen können. In Folge kommen noch andere Menschen um, Nebenfiguren, deren Überreste kurz oder gar nicht zu sehen sind: Erinnerungen an die Schocks in einer Jahrmarkts-Geisterbahn werden wach. Denn der Film kümmert sich eher um die Reaktionen der Fassungslosigkeit bei den überlebenden ›dramatis personae‹, die auf Zuschauer übergreifen können, als um die Opfer und ihr bestialisch beendetes Leben. Die Störanfälligkeit der Technik: Ohne Strom fallen fast alle Funktionen aus. Die lahmgelegte Anlage kann der Invasion der Raubsaurier nicht mehr standhalten. Der gewaltige T-Rex durchbricht den Zaun, der nicht mehr unter Strom steht, und äugt mit seinem, sich schleichend langsam vorschiebenden Riesenkopf und relativ kleinen Augen durch die Seitenfenster der Autos – ein Schreckmotiv, das später mehrmals wiederholt wird: Von dem extrem großen Ungeheuer trennen nur ein bisschen Blech und eine leicht zerbrechliche Glasscheibe. Diesmal sitzen im Innenraum (bei Spielberg dürfen sie nicht fehlen) zwei Kinder. Der Saurier dreht fast spielerisch die Limousine um und drückt sie platt, den Insassen dieser für ihn leicht zu knackenden Dose geschieht nichts. Dafür hält sich der frustrierte T-Rex schadlos, indem er einen Rechtsanwalt (dem wiederum keine besonderen Sympathien gelten) auf der Toilette eines Holzbaus erwischt, der unter seinem Anprall sofort zerfällt. Das Tier schnappt den Mann mit dem Maul, reißt ihn in die Luft und schüttelt ihn hin und her, wie ein Krokodil es täte. Offenbar schien es den Filmemachern logisch zu sein, sich den Fressakt des Urweltriesen nach dem Vorbild des heute noch aktiven Reptils vorzustellen. In die Besucheranlage dringen die schnellen und wendigen Velociraptoren ein, die im Rudel ihr Opfer umkreisen – und im Vergleich zu den Knochenfunden merklich größer sind. Sie scheuchen die Kinder durch die Räume, springen auf die mit Aluminium verschalten Tische in der Großküche, rutschen etwas unbeholfen auf dem glatten Boden entlang und donnern in die spiegelnden Flächen. Manchmal klemmen sie sich eine Klaue ein, wenn die Tür vor ihnen nicht rechtzeitig zugeschlagen wird. Den ›Auftritten‹ dieser erfolglos jagenden Wesen ist unverkennbar eine gewisse Burlesk-Komik eigen, während die brutale Majestät des T-Rex selten angetastet wird. Der bricht zum Schluss noch einmal durch die Wand des Zentralraums in der Besucheranlage – dass nichts, kein Zaun, keine Mauer, diesen schwarzen ›Panzer‹ aufhalten kann, gehört zur Spezifik seiner filmischen Darstellung. Die zusammengescharten Hauptfiguren, fast eine Art von Familie, können entkommen, weil T-Rex und Velociraptoren angriffslustig übereinander herfallen. Dabei geht die Einrichtung des Empfangssaals, einschließlich eines dekorativen Saurierskeletts, völlig zu Bruch. Sogar ein Spruchband wird abgerissen, auf dem geschrieben steht, dass die Urviecher vor vielen Millionen Jahren

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die Erde beherrscht haben – jetzt beherrschen sie wieder das Feld auf dieser ZooInsel. Die moralische Formel dieser Erzählung liegt auf der Hand und entpuppt sich als theologisches Argument: ›Vergreift Euch nicht am Schöpfungsplan‹. Alles biotechnische Wissen reicht nicht aus, um die Folgen eines solchen Eingriffs vorauszusehen: der Rekonstruktion einer vor langer Zeit ausgestorbenen Art. Am Ende sind wir doch nur unberatene, von vermessener Neugier getriebene Zauberlehrlinge, die nach dem ersten Staunen verzweifeln, dass sie die Geister, die sie gerufen haben, nun nicht mehr los werden. 4 Eine gewisse Wissenschaftsskepsis ist dieser Einsicht nicht abzusprechen. Beim cultural clash zwischen Sauriern und der Technologie der Moderne unterliegt die Moderne. Alle Versuche, die prähistorische Wildnis einzupferchen, misslingen und münden in der Katastrophe, der Vernichtung etlicher der risikofreudigen Abenteurer, der Zerstörung der Apparate und Architekturen, die den Triumph des Fortschritts über die Ungeheuer dokumentieren sollten. Stattdessen zeugen die nostalgischen Ruinen der Bauten zerfallener Kontrollstationen in den künftigen Jurassic ParkVersionen – gleich vergessenen oder in Eile aufgegebenen Dschungel- oder Wüsten-Siedlungen – von dem verhängnisvollen Hochmut, der Hybris, der Selbstüberschätzung von Pionieren, die es mit einer überlegenen Ur-Macht, mit der gewaltigen und gewaltsamen ›Natur‹ aufnehmen wollten. Es kommt noch eine Komponente hinzu: Es sind nicht nur rein ›wissenschaftliche‹ Impulse, die zur Züchtung der Saurier inspiriert haben. Kommerzielles Interesse und bei einem späteren Film sogar militärische Optionen spielen mit herein: Der (vergiftende) Geist des Kapitalismus und des Kampfes um Vorherrschaft will diese reproduzierte Fauna zu eigenem Vorteil nutzen, unterwerfen, dienstbar machen. Ein Fortschritt allerdings erweist sich als unanfechtbar: die visuelle Inszenierung der Saurier. Das Team um Spielberg hat völlig auf computergenerierte Bilder gesetzt: Die Bewegungen der Saurier sind fließend (und nicht ruckhaft wie bei älteren Animationsmethoden), sogar die Hauteffekte überzeugen – die Tiere treten erstaunlich ›realistisch‹ ins Bild. Das circensische Vergnügen an der Verlebendigung der Vorzeit-Monstren im ›Zirkus‹ dieses Freizeitparks ist begreiflich.

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Vgl. Goethes Ballade Der Zauberlehrling (entstanden 1797).

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LOST WORLD: JURASSIC PARK Spielberg ergänzte seinen ersten Film vier Jahre später durch eine zweite Produktion: Lost World: Jurassic Park (1997). Wieder eine unbekannte Insel in der Nähe der ersten, des Schauplatzes von Jurassic Park – es scheint also immer noch weiße Flecken auf der Erdkarte zu geben. Während den Schauspielern im ersten Film, zumal den auserwählten Besuchern, ein ziemlich skizzenhafter Umriss verliehen wurde, erhalten einige Figuren des zweiten Films eine komplexere Charakteristik: vor allen der schon im ersten Teil auftretender Chaostheoretiker, Dr. Malcolm, der das Projekt der Wiederbelebung von Sauriern distanziert und misstrauisch beobachtet. Er bewährt sich im zweiten Film als sarkastischer Kommentator im Wirbel der Ereignisse und verstärkt so ausdrücklich die oft ebenfalls ironische Haltung Spielbergs zu seiner kuriosen Fiktion. Jeff Goldblum verleiht dieser Rolle des Zweiflers (kaum zu übersehen: jüdischer und New Yorker Prägung) die Melancholie eines lebenskundigen Menschen, dessen innere Stimme ihn seit je vor wahnwitzigen und ›überheblichen‹ Experimenten gewarnt hat. Er weigert sich, unbegrenzte Forscher-Neugier gutzuheißen – die Kette der Katastrophen am Ende der Filmerzählung gibt ihm recht. An seiner Seite eine sprudelnd sprechende Biologin, Dr. Harding (Julianne Moore), die sich allzu naiv und hemmungslos in das ›Leben‹ der Urwelt-Population einmischt, mit ihrem eifrigen Samaritertum vor allem die Jungtiere nicht verschont, dadurch die verständnislosen Saurier-Eltern ›ärgert‹ und die Eskalation des Unglücks mit auslöst. Ein Gegenspieler ist ein körperlich schmaler, anmaßender und ehrgeiziger Unternehmer, Ludlow (Arliss Howard), der den T-Rex nach San Diego bringt (wie einst King Kong nach New York transportiert worden ist), um ihn dort vor der sensationslüsternen und zahlungsfähigen Menge auszustellen – der T-Rex macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Bemerkenswerter ist ein kahlgeschorener Großwildjäger, Roland Tembo (Pete Postlethwaite), von robuster und gehärteter Physiognomie, der einen Tross gemieteter Eindringlinge und Wildfänger mit Strenge kommandiert (vgl. Koebner 2016:55). Ihm gelingt es zwar, einen der T-Rexe mit Betäubungspfeilen zu lähmen, doch hat er seinen Begleiter bei den Überfällen der Saurier verloren. So entscheidet er sich dazu, mit der ›company of death‹ Schluss zu machen – und, so sollte man fortfahren, auch mit der ›company of money‹. Wie den Wissenschaftlern, geht es auch ihm nicht mehr darum, die Saurier als Schauobjekte finanziell zu verwerten. Auf dem neuen Eiland toben die ausgesetzten Saurier in freier Wildbahn umher und – das ist in ihrem Fall beunruhigend – vermehren sich. Das erlaubt, die älteren Monster (gerade die T-Rexe) als Vater und Mutter einer neuen Generation zu sehen. Da die geklonten Ungeheuer also Familien bilden, eröffnet sich,

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typisch für den familienaffinen Spielberg, ein rührender Aspekt – ein weicherer Blick fällt zumindest auf den kleiner gestalteten Nachwuchs. Das Schlussbild zeigt Fleisch- und Pflanzenfresser, zärtliche Saurier-Eltern und verspielte Kinder, friedlich vereint in paradiesischer Landschaft. Ohne den Einfluss der Menschen, des Störenfrieds, kehren die Tiere anscheinend ins verlorene Elysium zurück. Das Arrangement dieses Harmonie-Tableaus zeugt von der Spottlust, die diesen Film – ungeachtet aller Einstellungen, in denen das Blut der von so vielen scharfen Zähnen ›gerissenen‹ Menschen den Bach oder den Wasserfall hinab rinnt –, doch wiederholt ins Komische und Komödiantische wendet. Bereits die Eingangssequenz kippt mit einem ›Take it easy‹-Signal in die eigentliche Handlung: Vom entsetzt aufgerissenen Mund einer Frau, die zum ersten Mal kleine aggressive Saurier sieht, schneidet der Film zum aufgerissenen Mund des Protagonisten. Der jedoch gähnt nur, steht auf einem New Yorker Bahnhof und wartet auf die U-Bahn. Der Umschlag vom Schrecklichen ins Witzige, vom Pathetischen ins Banale löst Überraschung und Erleichterung aus, einen Doppeleffekt, der sich in der Tat beschreiben lässt »als humoristischer Lustgewinn, der aus erspartem Gefühlsaufwand hervorgeht« (Freud 1948: 383). Zumal die Verfolgungsjagden, bei denen die schnellen und sprungbereiten Velociraptoren die Kernfamilie der Protagonisten vor sich her scheuchen, eignen sich für burleske Pointen. Zwei Frauen haben sich in eine alte Scheune geflüchtet, die zu einer verlassenen Beobachtungsstation auf der Insel gehört: Die Raptoren schaufeln eifrig von außen unter einer verschlossenen Tür die Erde weg, um eindringen zu können, die beiden Frauen graben gleichzeitig den Boden unter einer anderen Tür auf, weil es ihnen darum geht, rechtzeitig zu entfliehen. Die Montage schneidet beide so ähnliche Aktionen mehrfach hintereinander, um die extremen Kontrahenten, Menschen und Raubtiere, in eine befremdliche und belustigende Parallele zu setzen – als seien sie in ihren Impulsen und dem Gebrauch der Glieder gar nicht so weit auseinander. Zwei weitere Beispiele: Ein ca. 13-jähriges Mädchen, die Tochter des Protagonisten, turnt an einem Sparren wie an einer Reckstange und stößt in vollem Schwung mit ihren Füßen an den Kopf eines der nach ihr schnappenden Tiere – dank dieser respektablen sportlichen Leistung befördert sie den Angreifer durch eine zerbrechende Wand nach außen. Kurz danach: Die Biologin hängt am Dachrand, oben auf dem First ein Raptor, unten auf dem Boden wartet ein anderer. Es gelingt ihr, die alten Schindeln zum Gleiten zu bringen, der obere Feind stürzt ab und fällt auf den anderen. Die beiden Raptoren geraten wegen dieser Kollision in Streit und bemerken nicht, dass die junge Frau unweit von ihnen auch auf den Boden plumpst und unbehelligt enteilt: eine Slapstick-Szene, nur anders besetzt als in der Stummfilmzeit. Nach allgemeiner Menschenkenntnis

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freut sich ein Dritter, wenn zwei sich streiten, offensichtlich gilt dies auch für – unter diesem Aspekt ›humanisierte‹ – Kino-Saurier. Selbst auf die mächtigen TRexe, beide Exemplare haben zuvor schon Menschen zerrissen, kann ›trotz alledem‹ ein humoristischer Blick fallen: Als einer der Saurier auf einer Art Dschungelweg den rennenden Mitgliedern eines Expeditionscorps nachläuft, verengt sich der Blickwinkel der ihm folgenden Kamera auf die riesigen beiden Füße, die zwar unterwegs im Morast hängen gebliebene Menschen achtlos in den Boden quetschen (wie einst der ›klassische‹ King Kong, der im Dorf der Eingeborenen rücksichtslos voranstürmt, um seine blonde Frau zurückzuholen – in der vollständigen Fassung des Films), doch drängt sich die sonderbare Assoziation auf, es handle sich eigentlich um monumentale Hühnerbeine.5 Einer der T-Rexe und sein Junges werden nach San Diego an der amerikanischen Westküste verschifft. Das letzte Kapitel des King Kong-Films von 1933 hat auch in diesem Fall das Verlaufsmuster im Groben vorgegeben. Der Transport-Frachter trägt bei Spielberg sogar denselben Namen wie der im Vorbild, nämlich Venture. Abweichungen vom Modell Cooper/Schoedsack markieren die zeitgenössische Spielart: Das Schiff rammt in unverminderter Fahrt die Hafenanlage. Das offenbar schlecht gefesselte Vater- oder Muttertier hat sich an der Besatzung gütlich getan, alle sind zerrissen und verzehrt worden, die Venture ist ein Totenschiff. Wieder entkommt der T-Rex seinen Wächtern und stürmt durch die Zollabfertigung in die Stadt. Dabei reißt er ein Spruchband ab, auf dem geschrieben steht, dass es verboten sei, Tiere einzuführen. Um den Witz dieser Situation noch zu vertiefen, schwenkt die Kamera nach rechts und eine Baracke ab, durch deren Fenster Zöllner zu sehen sind, die in den Koffern von Reisenden wühlen – sie betreiben ihr demütigendes »business as usual«, denn niemand scheint etwas von der Ankunft des Sauriers bemerkt zu haben: die Paradoxie der Gleichzeitigkeit höchst widersprüchlicher Ereignisse, hier der Ein- oder Ausbruch des zivilisationsfeindlichen Horror-Phantasmas und dort, eng daneben, die Trivialität der alltäglichen Bürokratie. Der T-Rex sucht sein Junges: biologisch betrachtet, ein plausibler und starker Antrieb. Er trampelt dank seiner Stärke ungehemmt in Vorstadtgärten herum, aus einem Swimming-Pool säuft er Wasser und verzehrt nebenbei den Wachhund. Es folgt ein für Spielberg typisches Intermezzo, der seit je Kindern und

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Tatsächlich gibt es die Forschermeinung, von allen lebenden Wesen weise das Huhn, eher noch als Krokodile oder andere Vögel, die engste genetische Verwandtschaft mit den Sauriern auf (nach Untersuchungen zum Knochenbau und Protein-Analysen). S. zahlreiche Meldungen in Focus, 25.4.2008, oder Spiegel Online 2.2.2014, usw.

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Jugendlichen großen Mut und den Sinn für ›Begegnungen der dritten Art‹ zugesprochen hat: Ein tapferer Junge fotografiert das Ungeheuer mit Blitzlicht (und versteckt sich so hinter der Kamera), während die ungläubigen Eltern vor Grausen erstarren. Der Saurier setzt seine ›Schlacht‹ dann auf der befahrenen Hauptstraße fort: Er zerbeißt Ampelmasten, rempelt Busse an, richtet ein Verkehrschaos an, da alle Autofahrer in Panik mit ihren Wagen ineinander rasen. Flüchtenden Japanern kommt das Monster bekannt vor, sie glauben, Godzilla zu erkennen: eine sozusagen intertextuelle Anspielung, die die Zuschauer des Films für gewöhnlich erheitert. Als das Liebespaar Malcolm und Harding das Jungtier zum Schiff zurückbringen wollen, brauchen sie nicht erst lange zu rätseln, wo sich denn das große Vieh aufhalte: »Follow the screams«, empfiehlt Dr. Malcolm, lakonisch und treffend. Am Ende des Films massakriert das Jungtier den geltungssüchtigen Unternehmer – unverkennbar auf Anweisung des ElternMonsters (dessen Befehl wird äußerst geschickt animiert). Die Handlung kann wohl nicht abgeschlossen werden, solange nicht der Träger der Antipathie sein unrühmliches Ende gefunden hat. Kann dies als angemessene Strafe für einen kapitalistischen Hasardeur rechtfertigt werden? Die kaufmännische Erkenntnis lautet, dass der Handel, aber auch der Wandel mit Sauriern dazu zwingt, sich mit einer so heißen ›Ware‹, einem so unberechenbaren Gegenstand abzugeben, dass man dabei nur verlieren kann: Notfalls wird man aufgefressen, woran der Saurier indes im Sinne des Strafgesetzes nicht schuldig ist. Diese Gattung unvertrauter Raubwesen steht jenseits von Gut und Böse – sie funktionieren nach ihrem Instinktprogramm. Die braven Pflanzenfresser aus der Kreidezeit kreuzen den Weg der Protagonisten nur kurzzeitig und dienen eher als Staffagefiguren. Auch mit diesen Wiedergängern aus einem längst vergangenen Erdzeitalter ist keine friedliche Kommunikation möglich. Bei Spielbergs zwei Jurassic Park-Filmen gilt es noch als sinnlos, auf gegenseitige Annäherung zu hoffen. Spätere Saurier-Filme halten dies für möglich. In The Last World (2015, Regie: Colin Treverrow) wird der fragwürdige Versuch unternommen, Velociraptoren zu zähmen oder wenigstens zu zügeln! Diese Nachfolge-Produktionen sind ohnehin nach dem Prinzip Repetition und Steigerung des Spektakulären aufgebaut: Eine ›Familie‹ als Kern des Personals, einschließlich der unverzichtbaren Kinder, bleibt bei allen Gefährdungen unbeschädigt. Neue Saurier-Arten tauchen auf – etwa die aus Fossilien bekannten Vögel als aggressives Greifgeflügel oder ungeheuerlich überdimensionierte und gefräßige Fische. Die Größe der Land-Saurier nimmt zu, es kommt zwischen ihnen zu wahren ›Gigantenkämpfen‹. Man steht als Zuschauer gleichsam am Rand einer Arena, auf der die Schwergewichte sich gegenseitig umbringen, wenn sie nicht gerade zu Tode erschrockenen Personen und Passanten hinterher setzen.

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Das Subgenre mit dem Sujet der ›wieder auferstandenen‹ Saurier verschiebt sich langsam zur Inszenierung eines offenen Zwei-Fronten-Kriegs zwischen Menschen und ›Aliens‹, die ausnahmsweise nicht aus dem Weltraum stammen. Die listige Schalkhaftigkeit jedoch, mit der sich Spielberg, besonders in seinem zweiten Film, diesen Fantasy-Humbug vom Leibe hält, ist bei den ›Sequels‹ verloren gegangen. Vermutlich hat es Spielbergs Haltung beeinflusst, dass er sich im zeitlichen Umfeld dieser populärkulturellen Spekulationen über prähistorische Ungeheuer mit Filmen über das Ungeheuerliche und wahrhaft Entsetzliche einer historischen ›Wirklichkeit‹ beschäftigte: mit Schindler‘s List (1993), Amistad (1997) und Saving Private Ryan (1998). Die einzigen übergroßen Subjekte, die in seinen weiteren Produktionen für Unruhe sorgten, waren die Weltherrschaft anstrebenden Eindringlinge aus dem All in War of the Worlds (2005) und die riesigen Menschenfresser in einem Kindermärchen – und in dieser Geschichte gewann die junge Heldin, ein Waisenmädchen, gleich einen friedfertigen, also aus der Art geschlagenen, und zudem noch lustig radebrechenden Riesen als Freund und Beschützer, den ›Big Friendly Giant‹ im gleichnamigen Film The BFG (2016): Hier tun sich zwei kluge Sonderlinge und Ausgegrenzte zusammen, eine Junge und ein Alter, um die Zumutungen der Welt bestehen zu können. Und die böse großformatige Verwandtschaft wird ausgesiedelt, mit Hilfe von Hubschraubern übers Meer transportiert und auf einer einsamen Insel ausgesetzt (ob sie sich dort zu Sauriern verwandeln wie einst Fafner?).

LITERATUR Freud, Anna (1964): Das Ich und die Abwehrmechanismen. München: Kindler, 1964. Freud, Sigmund: »Der Humor«. In: Sigmund Freud: Ges. Werke Band 14. London: Imago 1948. Koebner, Thomas (2016): Steven Spielberg. Zwischen Arthouse und Effektkino. Stuttgart: Reclam 2016.

Become the Dragon Drachen im Computerspiel Robert Baumgartner

»I mean, who wouldn’t want to play as a dragon raining fire down on hordes of hopeless creatures while they cringe in fear of your greatness?« (Blevis 2004)

Das obige Zitat aus einer englischsprachigen Rezension des Spiels I Dragon lässt erahnen, welches Faszinationspotential die Integration des Drachens in interaktive Medien bergen kann: Drachen ›in vivo‹ sehen und hören, bekämpfen, oder sogar verkörpern? Im Prozess des ›Sehenhandelns‹ (Günzel 2008: 300) erlaubt das Computerspiel Rezipienten einen potenziell völlig neu gearteten Zugriff auf den Drachen als fiktives Wesen und kulturelle Chiffre. Ein interessierter Leser wird erfolglos nach bestehender Forschungsliteratur suchen – die Drachen des Computerspiels haben sich zumindest auf der Ebene der Wissenschaft bislang auf den sprichwörtlichen blinden Flecken der Karte verborgen. Kann dies am fehlenden Alter des vergleichsweise jungen Mediums Computerspiel liegen? Nach nun 40 Jahren Mediengeschichte und ca. 20 Jahren kontinuierlicher Forschungsgeschichte1 ist diese These nur bedingt glaubwürdig. Auch lässt sich angesichts prall gefüllter Online-Wikis (Vgl. Dragon Games Online 2017, Drachen Wiki 2017) kein Mangel von Drachenfiguren im Computerspiel feststellen. Ist das Thema vielleicht unterkomplex? Aus einer oberflächlichen Perspektive mag dies so erscheinen, denn alte Bilder von Kindern und Ju-

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Espen Aarseth und Janet Murray publizieren ihre richtungsweisenden Monographien (siehe Literatur Aaarseth 1997; Murray 1997) beide 1997.

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gendlichen, die gebannt vor ihren Bildschirmen hängen und in eskapistischer Gratifikation digitale Drachen bekämpfen, stecken noch immer im metaphorischen Keller der Medienrezeption und erwecken nur wenig intellektuelle Neugier auf das Thema. Dabei begleitet das Computerspiel westliche Gesellschaften und vor allem auch das Aufwachsen von Jugendlichen seit schon fast 40 Jahren. Seine Drachen sind so zahlreich wie vielfältig und haben in dieser Zeit ständig an der Ausformung unserer Drachenkonzeption mitgewirkt. Es lohnt sich also, einen Blick zu riskieren.

MEDIENPOTENTIALE: ERZÄHLUNG UND SIMULATION Wenn wir die Verarbeitung irgendeiner Figur im Computerspiel analysieren wollen, müssen wir uns ständig vor Augen halten, dass das Computerspiel nicht nur ein komplexer Medienverbund verschiedenster Zeichensysteme und ihrer narrativen Rezeptionsangebote ist, sondern auch und vor allem ein Spiel. Spielende lernen Spiel-Figuren also über mindestens zwei eigenständige Signalquellen kennen: Erstens durch die Vielzahl narrativer Rezeptionsangebote. Dieser von Markus Engelns 2014 geprägte Begriff (vgl. Engelns 2014: 22) bezeichnet die Elemente von Computerspielen, die in der Art etablierter Erzählmedien narrative Informationen liefern: Videosequenzen, intradiegetische Texte, Audiologs oder Dialoge vermitteln Spielenden in unserem Fall Informationen über die Geschichte, Bedeutung und das Verhalten von Drachen in ihrer jeweiligen Spielwelt. Ein Beispiel hierfür wäre der intradiegetische Atlas of Dragons aus dem Spiel Skyrim, der Informationen über dutzende, zum Teil im Spielgeschehen anzutreffende Drachen liefert. Ein Beispieleintrag aus der Kategorie »Known to Live«: »Paarthurnax - The legendary lieutenant of Alduin in the Dragon War. He is now known to lair on the Throat of the World under the protection of the Greybeards of High Hrothgar. Master Araidh continues the established policy of avoiding direct confrontation with the Greybeards while waiting for an opportunity to exact justice upon him.« (uesp.net 2017)

Spielende werden Paarthurnax tatsächlich im Spielverlauf kennenlernen und – sollten sie ihn am Leben lassen – feststellen, dass der vorwurfsvolle Ton des Buch-Eintrags (erstellt von einem Mitglied der drachenbekämpfenden Dragonguard-Organisation) nur eine von zahlreichen möglichen intradiegetischen Per-

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spektiven ist: Denn Paarthurnax bereut seine Taten im lange zurückliegenden Krieg gegen die Menschheit, bietet dem Protagonisten Hilfe und Rat an, und wendet sich dabei schließlich gegen seinen einstigen Vorgesetzten, den unsterblichen Drachen Alduin. Spielende, die zuhören, zuschauen und mitlesen, verstehen so also nicht nur im Beispiel von Paarthunax die Spielwelt besser, sondern können diese Informationen auch auf der zweiten Spielebene weiterverwenden. Diese Ebene ist die der regelgeleiteten Spielerfahrung und wird von mir deshalb (in Anlehnung an Roger Caillois, vgl. Caillois 1960: 15, 20, 39) als ludische Erfahrungsebene bezeichnet: Hier sind Spielende vor allem perzeptiv und kognitiv involviert: Sie reagieren auf Bedrohungen und Chancen, planen Aktionen, führen diese durch, und verarbeiten die Resultate ihres Handelns im Rahmen der gegebenen Regeln. In unserem Fall kann dies so ablaufen: Spielende treffen zu Spielbeginn einen Drachen, der sich in die Lüfte erhebt, sie umkreist, und mit Feuerstößen eindeckt, bis ihr Avatar schließlich tot am Boden liegt. Diese schmerzhafte Erfahrung lehrt sie, dass Drachen in diesem Spiel nicht ohne Fernkampfwaffen bekämpft werden können, Feuer einsetzen und nicht zuletzt wohl generell nicht zu Verhandlungen bereit sind.2 Und da es eben nicht einen einzigen dominierenden Drachentypus im Computerspiel gibt, sondern eine fast unüberschaubare Vielzahl von in Körperform, Intelligenz, Fähigkeiten und Temperament einzigartigen Spiel-Drachen (Vgl. Drachen Wiki 2017), müssen Spielende sich immer wieder neu ans Experimentieren wagen, den Drachen also jedes Mal aufs Neue kennenlernen. In den meisten Titeln wirken beide Erfahrungsquellen reibungslos bei diesem Lernvorgang zusammen, um ein kohärentes Bild der Drachen im jeweiligen Computerspiel zu generieren. Dass dabei zwei grundlegend unterschiedliche Modi der Welterfahrung – Spielen und Erzählen – involviert sind, gerät dabei leicht in Vergessenheit. Dies ist den Spielen meist nur recht, denn wenn das Medium sich selbst in den Hintergrund stellt, kann der Inhalt für sich sprechen (Zur Unsichtbarkeit des Mediums vgl. Bolter / Grusin 2000: 5). Dennoch müssen wir, wenn wir einen tatsächlichen Einblick in die Relevanz von Drachen für individuelle Computerspiele gewinnen wollen, diese ›Sichtblende‹ für einen Augenblick lösen und uns der beiden unterschiedlichen Quel-

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Es kommt jedoch nur in wenigen Spielen vor, dass Spielende auf der ludischen Ebene gegen einen Drachen kämpfen müssen, ohne im Vorhinein durch narrative Rezeptionsangebote zumindest grundlegende Informationen über die jeweilige Manifestation des Drachens in der Welt erhalten.

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len bewusstwerden: Welche Rollen übernehmen Drachen auf der narrativen Ebene des Spiels? Welche Funktionen auf der ludischen? Tauchen Drachen, die über narrative Kanäle vorgestellt werden, auch tatsächlich als Elemente der Spielsimulation auf, oder bleiben sie nur mythopoetisches Beiwerk? Welche Interaktionsmöglichkeiten bestehen zwischen den Drachen, dem Spieler-Avatar und dem Rest der Welt? Und ist der Drache, den ein Spiel uns ›erzählt‹ auch derselbe, den wir im Spiel durch den Vorgang des ›Sehenhandelns‹ kennenlernen?

DIE METHODIK Wenn wir unseren Blick so schärfen, wird auch eine quantitativ gestützte Analyse von Drachen im Computerspiel sinnvoll. Grundlage meiner vorläufigen Analyse sind 88 Titel aus dem Zeitraum zwischen 1979 und 2016, in denen Drachen stärker thematisiert werden.3 Quellen sind digitale Fan-Wikis und eigene Recherchen. Was bedeutet stärker thematisiert in diesem Kontext? Neben der Erwähnung von Drachen im Titel geht es hier vor allem um die narrative und ludische Bedeutsamkeit des Drachen, die ich in den folgenden, zum Teil grob auf Vladimir Propps Schematisierung von Handlungsträgern in Märchen (vgl. Propp 1972) basierten Begriffen sammle:

Narrativ

Ludisch

Protagonist

Avatar

Antagonist

Endgegner

Helfer

Helfer

Gegner

Gegner

Variabel

Objekt

›Protagonist‹: Auf der narrativen Ebene erscheint der Drache hier als Hauptfigur im konventionellen Sinn. Auf der spielmechanischen Ebene ist seine Entspre-

3

Sammlung der Titel am Ende im Literaturverzeichnis.

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chung der Avatar: eine prothesenhafte Verkörperung, durch die Spielende perspektivisch und handlungsmächtig Zugriff auf die Welt bekommen. Beide können zusammenfallen, wenn eine Spiel-Erzählung einen Drachen als Protagonisten darstellt und das Gameplay gleichzeitig durch einen Drachen-Avatar erfahren wird. Das muss aber, wie wir später sehen werden, nicht immer der Fall sein. ›Antagonist‹: In dieser Rolle tritt der Drache als zentraler Widersacher des Protagonisten auf. Narrativ lässt sich der sowieso aus der Erzählforschung stammende Begriff sehr unproblematisch anwenden. Auf der Spielebene besitzt er jedoch auch eine wichtige Entsprechung, nämlich die des Endgegners – der finalen Herausforderung am Ende zahlreicher Einzelspieler-Kampagnen. Auch hier kommt es oft vor, dass beide Rollen zusammen auftreten – aber nicht immer, denn zahlreiche Rollenspiele besitzen zwar einen humanoiden Antagonisten, machen aber dann doch einen narrativ kaum charakterisierten Drachen zum Endgegner. Ob dieser nun ein uraltes Monster ist, das vom Bösewicht beschworen wird oder dessen Haustier – solche Drachen sind meist wenig kommunikativ und punkten eher durch ihre Größe und Macht als durch ihren komplexen Charakter. Der Begriff ›Helfer‹ lässt sich als reine Tätigkeitsbeschreibung gut für beide Spielebenen benutzen. Dennoch müssen wir auch hier trennen: Als narrative Helferfigur ist der Drache nicht an den raumzeitlichen Rahmen der Spielsimulation gebunden – seine Hilfeleistung kann sich lange in der Vergangenheit oder auf einem fernen Kontinent abgespielt haben, ohne dass der zuständige Drache jemals im konkreten Gameplay auftritt. Auf der Ebene des Gameplays ist es hingegen zwingend notwendig, dass tatsächlich eine Drachenfigur in der Spielwelt auftritt und mit dem Spieler-Avatar oder der Umwelt interagiert: Wenn sich so z.B. ein Drache in den Kampf gegen ein Schattenmonster wirft, um uns zu unterstützen, bekommen wir seine Hilfeleistung nicht erzählt, sondern erfahren sie konkret in einer erleichterten Herausforderung. Dass selbe gilt für die Kategorie des ›Gegners‹, mit der ich jede OpponentenRolle ohne stärkere narrative Involvierung bezeichne. Drachen sind hier nur eine von vielen Herausforderungen, denen sich die Protagonisten stellen müssen. Dabei bleiben sie meistens noch immer mächtige Gegner, aber sind ohne größere Bedeutung für die Auflösung von Erzählsträngen und Missionsketten. Eine letzte Kategorie habe ich aus Mangel an besseren Begriffen mit ›Objekt‹ bezeichnet. Sie beschreibt das kuriose Phänomen, dass eine Drachenfigur abgesehen von ihrem Aussehen keine ›drachenartigen‹ Eigenschaften besitzt und semantisch komplett austauschbar bleibt – ein Drache ohne Drache.

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DIE ANALYSE Generelle Ergebnisse Nun zu den generellen Ergebnissen der Auswertung: In zwei Drittel der ausgewählten Drachentitel treten Drachen als Protagonisten oder Avatare, in einem Drittel als Antagonisten auf. Ebenfalls ein Drittel der Titel enthält Drachen als bedeutsame Helferfiguren, während die Hälfte der Spiele Drachen auch als mehr oder weniger prominente Gegner einsetzt. In mehr als einem Drittel der Titel übernehmen Drachen auch mehrere Rollen gleichzeitig, was sich als vielversprechende Voraussetzung für eine komplexere Verarbeitung des Themas interpretieren lässt.4 Kurz gesagt: Schon vor einem Blick auf Genres, Zeitepochen oder einzelne Titel sehen wir, dass der Drache im Computerspiel nicht automatisch auf die Funktion des Bösewichts festgeschrieben ist. Im Gegenteil, zahlreiche Titel machen den Drachen zum Protagonisten oder zumindest zu einer bedeutsamen Helferfigur, die den Helden durch ihren Rat, ihre magischen Fähigkeiten oder ihre pure körperliche Stärke unterstützt. Aber reine Statistik ist nicht alles. Meine weiterführende Fragestellung ist: Entwickelt sich der Drache im Computerspiel mit seinem Trägermedium weiter? Ändern sich die Rollenkonstellationen oder existiert vielleicht sogar eine Hoch-Ära des Drachens – ein ›Dragon Age‹? Zeitperiode 1: 1979-1996 Zurück zu den Wurzeln: Der erste größere Zeitabschnitt meiner Betrachtung betrifft die Ära ausgehend von 1979, dem Erscheinungsjahr des ersten ›Drachenspiels‹ Adventure bis 1996, einem zentralen Jahr im Übergang von 2D- zu 3DComputerspielen. Zu dieser Zeit existiert der Drache besonders in zwei Genres: Dem Plattformer und dem Shooter in seinen zahlreichen Untervarianten. Die Rollen des Drachen sind in dieser Zeit noch relativ simpel: In zwei Dritteln der Spiele aus dieser Zeitperiode tritt der Drache als Antagonist auf, der in bester Märchen- und Sword & Sorcery-Manier a) Artefakte oder Personen – meist Prinzessinnen –

4

Genauere Angaben: Antagonist: 30, Protagonist: 53, Helfer: 34, Gegner: 41, Mehrfachnennungen: 37.

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raubt und bewacht5 oder b) die Macht in einem Dorf, einer Stadt oder einem ganzen Land an sich reißt und eine Terrorherrschaft aufbaut. 6 Die Aufgabe der Spielenden erklärt sich in diesen Titeln von selbst: Das Raubgut zurück zu stehlen und den oder die Drachen auszuschalten. Vielleicht ist auch dies gerade der Grund, warum sich die Spielentwickler für diese simple, aber kulturell tief verwurzelte Rollenkonfiguration entschieden: Ein visuell noch notwendigerweise sehr abstraktes Spiel wie Adventure (1979) profitiert ungemein davon, wenn seine wenigen Pixel schnell in ein narratives Schema eingeflochten werden können. Aber schon in dieser frühen Ära existieren Titel, die die Spielenden selbst in die Rolle eines Drachen schlüpfen lassen.7 Darunter sind, neben dem singulären Thanatos – einem Titel, in dem der gleichnamige Drache die Hexe Eros retten muss – besonders in Japan produzierte Shooter zu finden. Titel wie Syvalion oder Saint Dragon bieten noch keine komplexe Handlung, die sich mit der Drachennatur ihrer Protagonisten auseinandersetzt, sondern nutzen den Drachen eher als ikonische Schablone, die Hochgeschwindigkeits-Luftkampf in fantastischen Welten ermöglicht und dabei aus der Masse futuristischer RaumjägerAvatare heraussticht. Um auf mein Schema zurückzugreifen: Der Drache ist hier zwar gleichzeitig Protagonist sowie Avatar, die narrative Protagonisten-Rolle wird jedoch überwiegend von der ludischen Avatar-Rolle in den Schatten gestellt. Diese Betonung der Avatar-Rolle zeigt sich auch bei weiteren DrachenShootern: Titel wie Dragon Spirit und Dragon Saber beinhalten menschliche Protagonisten, die sich in Drachen verwandeln können und dies auch jeweils zu Beginn der Spielsequenzen tun. Im Drachenzustand tritt die Narration jedoch wieder vollkommen in den Hintergrund – der Drache ist das Interaktionsorgan, das Highscores erschießt, aber kein narrativer Akteur. Dasselbe gilt auch bei den ersten ›Drachenreiter‹-Titeln (Dragon Breed, Alisia Dragoon, Keio Flying Squadron). Die Protagonisten sind hier wieder menschlich, der Avatar in den Flugsequenzen ist jedoch ein Drachen-Reittier, das narrativ höchstens als Helferfigur auftritt.

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Titel: Adventure, Dragonfire, Dragon Buster, Black Lamp.

6

Titel: Dragon’s Earth, Legend of the Red Dragon, Dragon’s Revenge.

7

Titel: Thanatos, Syvalion, Saint Dragon, Blazing Dragons.

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Zeitperiode 2: 1996-2011 Im Jahr 1996 veröffentlicht 3dfx Interactive das Voodoo-Chipset und macht 3DGrafikkarten auch für private Nutzer erschwinglich. Im folgenden Transformationsprozess etablieren sich zahlreiche neue Genres, die stark von den neuen Möglichkeiten dreidimensionaler Raumrepräsentation im Computerspiel profitieren. Dies wirkt sich auch auf die Drachen des Computerspiels aus, denn nun ist mit dem freien Flug in drei Dimensionen auch eine weitere Kerneigenschaft des Drachens auf der Ebene der Spielsimulation realisierbar. Dies sehen wir vor allem bei Titeln, in denen Drachen als Avatare dienen. Zum einen in den wenigen Titeln dieses Zeitabschnitts, in denen Drachen gleichzeitig Protagonist und Avatar sind: Dragon Rage (2001) und I of the Dragon (2004) stellen die gewandten Flugfähigkeiten des Drachen in das Zentrum ihres Gameplays und machen den mit Feueratem und Krallen ausgetragenen Luftkampf auch in 3D erfahrbar. Nur kann dieses Novum nicht über die spielerischen wie narrativen Schwächen der Titel hinwegtäuschen. Ihre Drachenprotagonisten bleiben gesichtslos, die Geschichten ohne Spannung. Das Gameplay beider Titel entpuppt sich schnell als ständige Wiederholung monotoner Aufgaben wie die Bekämpfung ständig auftauchender Ork-Trupps (vgl. Blevis 2004) und engt so die potenziell befreiende Perspektive des Drachen auf die eines Ungeziefer-Vernichters ein. Es verwundert nicht, dass sich beide Titel schlecht verkauften und schnell aus dem kulturellen Gedächtnis verschwanden. Dem Drachenreiter-Subgenre, in welchem Drachen zwar die steuerbaren Avatare, jedoch nicht die narrativen Protagonisten stellen, gelingt die Anpassung an 3D-Engines und ein damit zusammenhängender Genrewechsel gut. Auch wenn sie nicht zu den bekanntesten Titeln der Ära zählen, konnten Spiele wie Lair, die Drakan8- oder auch die Drakengard9-Serie die Kritiker durch attraktives Gameplay und komplexere Geschichten überzeugen. Aus unserer drachenzentrierten Sicht sind sie ebenfalls interessant, denn sie geben Drachen auch gerne multiple und komplexere Rollen: Sie erscheinen nicht nur als Gegner oder als animalisches Reittier ähnlich eines fliegenden Streitrosses – vor allem die Drakengard-Serie macht Drachen zu hoch intelligenten, sprechenden und auch streitenden Gefährten für ihre häufig schwer traumatisierten Protagonisten sowie Antagonisten.

8

Drakan: Order of the Flame, Drakan: The Ancients’ Gates.

9

Drakengard 1-3 (2004-2013).

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Einzelstudie: Drakengard (2004) Die Geschichte von Drakengard beginnt mit dem Angriff eines schwarzen Drachen auf ein Fantasy-Königreich, bei dem die Familie des Protagonisten Caim größtenteils getötet wird. Um sein Leben zu retten und Rache an den Herren des Schwarzen Drachen zu nehmen, geht Caim einen magischen Pakt mit dem roten Drachen Angelus ein, der Menschen nach den negativen Erfahrungen eines tausendjährigen Lebens tief misstraut. Caim und Angelus kämpfen sich im Lauf des Spiels zu Fuß und in der Luft durch Horden von übernatürlichen Gegnern und kommen sich dabei langsam näher. Schließlich stellen sie fest, dass das menschliche Imperium die von den Drachen zum Schutz der Welt vor Äonen angebrachten Schutzsiegel systematisch zerstört. Brechen die Siegel auf, wird die Welt von grotesken Wesen aus anderen Dimensionen überrannt. Diese Demonstration moralischer Fehlbarkeit der Menschheit, die nicht nur durch systematischen Rassismus, religiösen Fanatismus, den Einsatz von Kindersoldaten und Massakern durch das Imperium symbolisch bestärkt wird, kann dennoch nicht die zarte Freundschaft zwischen dem gequälten Prinzen und dem uralten Drachen erschüttern. Im ersten Ende des Spiels ist dieses persönliche Band sogar so stark, dass sich Angelus dazu bereit erklärt, sich selbst als das neue letzte Siegel zum Wohl der Menschheit in einen nicht enden wollenden Zustand der Agonie zu begeben (vgl. Lifes End 2004). In den alternativen Enden des Spiels wird das Verhältnis von Drachen und Menschen immer wieder neu ausgeleuchtet: Im dritten Ende des Spiels eskaliert der Interessenkonflikt zwischen den Drachen als Wächtern der Welt und der Menschheit im Kampf um die magischen Siegel schließlich so unaufhaltsam, dass Caim und Angelus als Vorkämpfer ihrer Spezies zu einem tödlichen Duell gezwungen werden, in dem der Drachentöter den Drachen nur um wenige Momente überleben wird – denn um ihn herum haben sich schon weitere Drachen versammelt, die sich nun daran machen, die Welt von der Menschheit zu säubern (vgl. Lifes End 2004). Hier wird eine typische narrative Rolle des Drachen in FantasyComputerspielen dieser Ära in ihr Extrem getrieben – die des Heiligen Drachen: Zahlreiche, vor allem japanische, Rollenspiele charakterisieren ihre Drachen in der Hintergrundgeschichte als uralte Wächterfiguren, die mit verschiedenen Elementen affiliiert sind und die Energie dieser Elemente zum Wohle der Welt in der Balance halten. Sie erscheinen als weise und mächtige Kämpfer für das Gute – bis der Antagonist ihnen ihre Macht stiehlt oder sie selbst korrumpiert

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werden.10 In Drakengard geschieht im dritten Ende genau dies: Die mächtigen Wächter der Weltordnung reißen diese nieder. Auch Drakengards fünftes und finales Endes, das vom Online-Magazin Cracked zum »most wtf video game ending of all time« (Veran 2013) gewählt wurde, verdient Erwähnung. In diesem Ende brechen die Siegel der Welt auf und monströse Wesen in der Gestalt gigantischer Säuglinge verzehren alles – Orks, Menschen, Elfen, selbst Drachen. Caim und Angelus kämpfen sich bis zum Zentrum des Bruchs vor und bekämpfen dort die ›Mutter‹ der grotesken Wesen, die als schaufensterpuppenähnliche Frauenfigur von mehreren hundert Meter Größe erscheint. Sie beenden ihren Kampf – in Form eines musikalischen Rhythmusspiels – in einer schwarz-weißen Ausgabe der Innenstadt von Tokio – denn dort ist der Ausgangspunkt des Portals – und feiern ihren Sieg über das gigantische Wesen… bis der Drache von zwei Raketen getroffen wird. Zwei Kampfjets der japanischen Selbstverteidigungs-Streitkräfte tauchen auf dem Bildschirm auf, einer der Piloten meldet lakonisch »This is Bravo 1. Unidentified target has been neutralized. Over and out. « (Drakengard 2004). Das letzte Bild dieses Endes sind Caim und Angelus, die in ihrem Sturz von der Spitze des Tokio Tower gepfählt wurden. Der massive Antiklimax erscheint nicht nur so erschütternd, weil Spielende dieses Ende nur nach dutzenden Stunden harter Arbeit erreichen konnten 11 oder weil liebgewonnene Hauptfiguren in einem Moment ausgelöscht werden: Es dekonstruiert gleichzeitig die mythologisch aufgeladene Macht des Drachens als Verkörperung der Fantasy selbst durch die Konfrontation mit moderner Waffentechnik. Das Spiel konfrontiert Spielende auf aggressivste Weise damit, dass ihre Errungenschaften im Computerspiel – subsumiert unter der Kontrolle des scheinbar unbesiegbaren Drachens – auf die zerbrechliche Blase des ›magical circle‹ (Vgl. Huizinga 2013) des Spielvollzugs beschränkt bleibt.

10 Titel: Bahamut Lagoon, Pokemon-Serie, The Legend of Dragoon, Drakengard, Dragon Blade, Wrath of Fire, Chrono Cross, Fire Emblem Awakening, u.a. 11 Spielende müssen nicht nur alle anderen Enden durchgespielt haben (was notwendigerweise 4 vorherige Durchläufe notwendig macht), sondern auch im Besitz aller 65 sammelbaren Waffen sein – und viele dieser Waffen erscheinen nur durch das Abschließen schwieriger und zeitaufwändiger Bonusaufgaben.

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Zeitperiode 2: 1996-2011: Teil 2 Wieder zurück zum Zeitabschnitt zwischen 1996 und 2011: Es existiert noch ein dritter Spieltypus, in dem Drachen als Protagonisten oder Avatare auftreten: Transformative Titel wie Divinity 2: Ego Draconis setzen das in den frühen Shootern etablierte Prinzip einer zwischen Menschen- und Drachengestalt wechselnden Figur fort und erlauben Spielenden auf Knopfdruck die Transformation in eine mächtige Drachenform. Doch Drachen sind auch in diesem Zeitabschnitt nicht nur Protagonisten, sondern auch Antagonisten, Helfer, und Gegner. Im Vergleich zu den frühen Dekaden des Mediums treten Drachen trotz der sehr viel größeren Anzahl an erschienenen Spielen sehr viel seltener als Hauptantagonisten auf 12: Stattdessen etablieren sie sich immer stärker als sog. Bossmonster. Als mächtige Gegner treten sie selten, zum Beispiel am Ende einer Missionskette oder an bestimmten Orten auf, bieten Spielenden aber gleichzeitig eine große Herausforderung. Ob in der Monster Hunter-Serie, Star Wars: KotOR; Heroes of Might and Magic, Dragon Age III oder in der Dark Souls-Serie: Drachen sind immer mächtige Gegner, die schwer zu besiegen sind – aber auch wertvolle Belohnungen in der Form von Erfahrungspunkten, Trophäen und Schätzen hüten. Zeitperiode 3: 2011-2017: Drachen-Vielfalt Das Jahr 2011 markiert keine bahnbrechende technologische Entwicklung, die das Computerspiel mit einem Mal nachhaltig verändert. Stattdessen dient es als Referenzpunkt, ab dem sich immer öfter neue Tendenzen in der Drachendarstellung von Spielen zeigen. Die bestehenden Traditionen bestehen schließlich nach wie vor: Drachen bevölkern fast alle Spiele in Fantasy-Welten als mächtige Gegner- oder Einheitenart, nur in noch mehr Genres: Besonders prominente Neuzugänge kommen aus dem Bereich der Multiplayer- und Sandbox-Survival-Titel. Dieser provisorische Begriff bezeichnet eine wachsende Anzahl von Multiplayer-Spielen, in denen der Spieler-Avatar in einer frei zugänglichen Umwelt gestrandet ist und sich Stück für Stück durch das Sammeln und Weiterverarbeiten von Materialien sowie den Bau von Kleidungsstücken, Werkzeugen, Waffen und Gebäuden Handlungsmacht erarbeitet. Drachen sind als feindliche NPCs inzwischen in viele die-

12 12 von 30 Titeln im Zeitabschnitt.

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ser Spiele13 eingezogen und stellen auch hier wieder eine große Herausforderung dar, die Spieler nur durch gutes Teamwork bezwingen können. Dieses Motiv des Drachen als gemeinsame Herausforderung, die Spielende zusammenschweißt und Kooperation fördert, ist schon aus den frühesten MultiUser-Dungeons bekannt und funktioniert auch ebenso in zeitgenössischen MMO-RPGs. Und davon existiert eine ganze Menge: Allein ein halbes Dutzend überwiegend asiatischer MMOs hat Drachen im Namen und beschäftigt sich auch thematisch mit ihnen14, während dutzende Andere Drachen in mehr oder weniger prominente Rollen als Gegner und hochqualitative Reittiere stellen. Weder auf narrativer noch auf ludischer Ebene erwarten uns dabei große Überraschungen. Es erstaunt dabei viel mehr, dass selbst die asiatischen MMO-RPGs in der überwältigenden Mehrheit Drachen nach europäischem Muster präsentieren, statt Drachen in ihrer asiatischen Ausprägung zu nutzen. Rein quantitativ hat der europäische Drache das Computerspiel klar als sein Territorium markiert. Doch noch einmal zurück zur Liste und der Zeit nach 2011, dieses Mal mit Einzelspielertiteln: Die Tradition des Drachen als Antagonisten wird vor allem in Rollenspielen weitergetragen: Skyrim, Fire Emblem Awakening, Dragon’s Dogma: Dark Arisen, Shadowrun: Dragonfall, Toren und viele andere nutzen weiterhin Drachen als Bedrohung der Weltordnung. Dabei bleiben nach wie vor viele der antagonistischen Drachen sehr unterkomplex charakterisiert. Nur Shadowrun: Dragonfall und Skyrim gelingt es, komplexere Rollenkonstellationen jenseits eines stummen uralten Bösen herzustellen und die Antagonistenrolle des Drachen kritisch zu durchleuchten. Das altgediente Subgenre der Drachenreiter-Titel schrumpft ab 2011 stark zusammen. Stattdessen kommt es zu einer neuen Renaissance von Spielen mit Drachenprotagonisten. Titel wie I of the Dragon, DRAGON: A Game About a Dragon und Dragon: The Game stehen exemplarisch für eine zunehmende Anzahl von Indie-Titeln, die sich als Drachensimulator präsentieren. Ihr Ziel ist es, Spielenden einen neuen Blick und Zugriff auf den Drachen als mächtiges Raubtier mit eleganten Flugeigenschaften, großer Zerstörungskraft und mythologischer Bedeutung zu ermöglichen. In den Worten des Promotexts für Dragon: The Game: »Experience dragons in their proper role as the monstrous, complex, and epic protagonists that they are« (Steam Store 2017). Dieser normative Hinweis auf eine ›angemessene‹ Rolle des Drachen ist faszinierend angesichts der vielfältigen und auch zum Teil widersprüchlichen Ausformungen dieser mythi-

13

U.a. Minecraft, Ark: Survival of the Fittest, Block Story, CastleMinerZ.

14

U.a. Dragon Nest Europe, Dragon Sage, Dragomon Hunter und Dragon’s Prophet.

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schen Kreatur – eröffnet aber auch in Zusammenhang mit den Produktionsbedingungen der angesprochenen Titel neue Perspektiven auf die zeitgenössische Rezeptionssituation. Denn die angesprochenen Drachensimulatoren sind ohne Ausnahme die Produktionen extrem kleiner Studios mit 1-10 Mitarbeitern, die ihre Finanzierung entweder aus den Privatmitteln der Entwickler oder Crowdfunding-Beiträgen von Fans des Konzepts erhalten.15 Diese Kleinentwickler füllen eine Nische, aus der sich größere Entwicklerstudios nach den finanziell wie kritisch enttäuschenden Titeln der frühen 2000er inzwischen vollkommen zurückgezogen haben.16 Gleichzeitig demonstriert die große Anzahl detaillierter Wikis, umfangreicher Onlineforen und online wie offline aktiver Fangruppen, dass der Drache heute ein umfangreiches Fandom um sich versammeln konnte, für das er weit mehr darstellt, als ›nur‹ eine fiktive Figur unter vielen. Für Interessengruppen wie ›Furries‹ und besonders ›Dragonkin‹ – Menschen, die sich selbst spirituell als Drachen identifizieren (mehr vgl. Laycock 2012) – bedeutet die Transformation in einen Drachen im Computerspiel nicht einfach bloß eine ludische Ermächtigung ähnlich eines Power-Ups: Sie ermöglicht eine konkrete sinnliche Annäherung an die Kraft und Freiheit, die der Drache in seinen positiven Verkörperungen besitzt. Doch dies bleibt nur eine kleine Nische: für den Großteil der Spielentwickler und Spielenden bleibt der Drache vor allem eins: Die ikonische Herausforderung im Computerspiel: Der Gegner, der ihnen den richtigen Einsatz aller zuvor erlernten Fähigkeiten abverlangt und oft nur nach mehreren Versuchen und schmerzenden Fingern erfolgreich besiegt werden kann.

LITERATUR Aarseth, Espen (1997): Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore, London. Blevis, Tal (2004): »I of the Dragon: Review« In: IGN. 23.11.2004. Web [7.10.2016].

15 Dragon: The Game hat über die Plattform Kickstarter 35.000$ von Fans erhalten, vgl. Kickstarter 2016. 16 Dies bestätigte sich Anfang 2017, als die Entwicklung des lang angekündigten Drachenreiter Titels Scalebound vom Publisher Microsoft abgebrochen wurde, vgl. Goldfarb 2017.

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Bolter, Jay David; Grusin, Richard A. (2000): Remediation. Understanding New Media. Cambridge, Mass., London: MIT Press. Drachen Wiki (2017): »Kategorie: Drachen in Computerspielen«. In Drachen Wiki. Web. [17.02.2017]. Dragon Games Online (2017). Web. [17.02.2017]. Engelns, Markus (2014): Spielen und Erzählen. Computerspiele und die Ebenen ihrer Realisierung. Heidelberg: Synchron 2014. Goldfarb, Andrew (2017): »Microsoft Confirms Scalebound is Cancelled«. In: IGN.com UK. 9.1.2017. [17.2.2017] Günzel, Stefan (2008): »Böse Bilder? Sehenhandeln im Computerspiel«. In: Werner Faulstich (Hg.), Das Böse heute. Formen und Funktionen. München, S. 295-305. Huizinga, Johan (2013): Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Kickstarter (2017): »Dragon: The Game«. In: Kickstarter.com. 2016. Web. [17.2.2017]. Laycock, Joseph P. (2012): »›We Are Spirits of Another Sort‹: Ontological Rebellion and Religious Dimensions of the Otherkin Community.« In: Nova Religio: The Journal of Alternative and Emergent Religions. Vol. 15, Nr. 3 (Feb. 2012), S. 65-90. Lifes End (2004): »Drakengard – Endings and Allies FAQ«. In: IGN. Web.

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Spiele Adventure. Atari, Inc. Amiga 2600. Atari, Inc. 1979. Alisia Dragoon. Game Arts. Sega Genesis. Sega. 1992. ARK: Survival Of The Fittest. Studio Wildcard; Instinct Games; Efecto Studios; Virtual Basement LLC. PC. Studio Wildcard. 2016. Bahamut Lagoon. Square. Super Famicom. Square. 1996. Black Lamp. Firebird Software. Commodore 64. Firebird Software. 1988. Blazing Dragons. Illusions Gaming Company. PlayStation. Crystal Dynamics. 1996. Block Story. MindBlocks Studio, LLC. PC. MindBlocks Studio, LLC. 2015. CastleMiner Z. DigitalDNA Games LLC. PC. DigitalDNA Games LLC. 2014. Combat of Giants: Dragons. Ubisoft. Nintendo DS. Ubisoft. 2009. Crimson Dragon. Grounding Inc. Xbox One. Microsoft Game Studios. 2013. Dark Souls-Serie. FromSoftware. PC. Namco Bandai Games. 2011. Darkstone: Evil Reigns. Delphine Software International. PC. Electronic Arts. 1999. Divinity 2: Ego Draconis. Larian Studios. PC. dtp entertainment. 2009. Divinity: Dragon Commander. Larian Studios. PC. Larian Studios. 2013. Divinity: Original Sin. Larian Studios. PC. Larian Studios. 2015. Dragomon Hunter. X-Legend. PC. Arian Games. 2015. Dragon Age 2. BioWare. PC. Electronic Arts. 2011. Dragon Age: Inquisition. BioWare. PC. Electronic Arts. 2014. Dragon Age: Origins. BioWare. PC. Electronic Arts. 2009. Dragon Blade: Wrath of Fire. Land Ho. Wii. D3 Publisher. 2007. Dragon Blaze. Psikyo. PlayStation 2. Psikyo. 2000. Dragon Breed. Irem. Commodore 64. Activision. 1990. Dragon Buster. Namco. Arcade. Namco. 1985. Dragon City. Social Point. Mobile Plattformen. Social Point. 2012. Dragon Friends. Innospark. Mobile Plattformen. NHN. 2013. Dragon Nest Europe. Eyedentity Games. PC. Shanda Games Int. Europe. 2014. Dragon Rage. The 3DO Company. PlayStation 2. The 3DO Company. 2001. Dragon Rage. Bulletproof Outlaws. PC. Bulletproof Outlaws. 2016. Dragon Saber. Now Production. Arcade. Namco. 1990. Dragon Saga. Gravity Interactive. PC. Gravity Interactive. 2015. Dragon Spirit. Namco. Commodore 64. Namco. 1987. Dragon Story. Storm8. Mobile Plattformen. Storm8. 2012. Dragon Valor. Namco. PlayStation. Namco. 1999.

234 | Robert Baumgartner

DRAGON: A Game About a Dragon. Games With Dragons In. PC. IPBuilders. 2015. Dragon: The Game. Red Level Games Inc. PC. Red Level Games Inc. 2014. Dragonfire. Imagic. Amiga 2600. Imagic. 1982. Dragonflight. Dragonflight LLC. PC. Blackthorn Media LLC. 2015. Dragons and Titans. Wyrmbyte. PC. Versus Evil. 2014. Dragon's Dogma: Dark Arisen. Capcom. PlayStation 3. Capcom. 2012. Dragon's Earth. Human Entertainment. Super Famicom. 1993. Dragon's Prophet. Runewaker. PC. Infernum Productions AG. 2013. Dragon's Revenge. Tengen. Sega Genesis. Tengen. 1993. Dragon's Wake. Brainbox Software.PC. Brainbox Software. 2015. DragonVale. Backflip Studios. Mobile Plattformen. Backflip Studios. 2011. Drakan: Order of the Flame. Surreal Software. PC. Psygnosis. 1999. Drakan: The Ancients' Gates. Surreal Software. PlayStation 2. Sony. 2002. Drakengard. Cavia. PlayStation 2. Square Enix. 2004. Drakengard 2. Cavia. PlayStation 2. Square Enix. 2006. Drakengard 3. Access Games. PlayStation 3. Square Enix. 2013. Dungeons & Dragons: Shadow over Mystara. Capcom. Arcade. Capcom. 1996. Eragon. Stormfront Studios; Amaze Entertainment. Xbox. Sierra Entertainment. 2006. Far Cry 3 - Blood Dragon. Ubisoft Montreal. PC. Ubisoft. 2013. Fight The Dragon. 3 Sprockets. PC. 3 Sprockets. 2014. Fire Emblem Awakening. Intelligent Systems. Nintendo 3DS. Nintendo. 2013. Fire Emblem Fates. Intelligent Systems. Nintendo 3DS. Nintendo. 2015. Fortix. Nemesys Games. PC. Nemesys Games. 2010. Harry Potter and the Goblet of Fire. EA UK. PlayStation 2. Electronic Arts. 2005. HOARD. Big Sandwich Games. PC. Big Sandwich Games. 2011. Holodance. narayana games UG. PC. narayana games UG. 2016. How to Train Your Dragon. Etranges Libellules. Nintendo DS. Activision. 2010. I of the Dragon. Primal Software. PC. Strategy First. 2004. Istaria: Chronicles of the Gifted. Virtrium LLC. PC. Koei. 2003. Keio Flying Squadron. Victor Entertainment. Sega CD. JVC Musical Industries. 1993. Lair. Factor 5. PlayStation 3. Sony. 2007. Legend of the Red Dragon. Robinson Technologies. PC. n.a. 1989. Monster Hunter Series. Capcom. PlayStation 2. Capcom. 2004. Panzer Dragoon-Serie. Sega. Sega Saturn. Sega. 1995. Pokemon-Serie. Gamefreak, Nintendo. Gameboy u.a. Nintendo. 1999.

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Riders of Icarus. WeMade. PC. Nexon America. 2016. Saint Dragon. NMK. Commodore 64. Jaleco. 1989. Scalebound. Platium Games. PC. Microsoft Game Studios. Entwicklung im angegebenen Jahr abgebrochen. 2017. School of Dragons. JumpStart Games, Inc. PC. JumpStart Games, Inc. 2014. Shadowrun (1993). Beam Software. SNES. Laser Beam Entertainment. 1993. Shadowrun: Dragonfall. Harebrained Schemes. PC. Harebrained Schemes. 2014. Sky Fox. Jaleco. Arcade. Jaleco. 1987. Star Wars: Knights of the Old Republic. BioWare. Xbox. LucasArts. 2003. Syvalion. Taito. Arcade. JVC Digital Studios. 1988. Tales of Zestiria. Bandai Namco Studios. PlayStation 4. Bandai Namco Entertainment. 2015. Thanatos. Durell Software. Commodore 64. Durell Software. 1986. The 7th Dragon. Imageepoch. Nintendo DS. Sega. 2009. The Elder Scrolls V: Skyrim. Bethesda Game Studios. PC. Bethesda Softworks. 2011. The Hobbit (1982). Beam Software. Commodore 64. Melbourne House. 1982. The Hobbit (2003). Inevitable Entertainment. GameBoy Advance. Sierra Entertainment. 2003. The I of the Dragon. Primal Software. PC. TopWare Interactive. 2015. The Legend of Dragoon. SCE Japan Studio. PlayStation. Sony. 2000. The Tale of Doris and the Dragon - Episode 1. Arrogant Pixel. PC. 2016. Time of Dragons. 4 I Lab. PC. 4 I Lab. 2016. Toren. Swordtales. PC. Versus Evil. 2015.

Autorinnen und Autoren

Auburger, Norina M.A. promoviert in Neuerer Deutscher Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Phantastik und der Transmedialität. Innerhalb der älteren deutschen Literatur befasst sie sich mit der mittelalterlichen Ovidrezeption. Bach, Johannes arbeitet als Postdoc am Centre of Excellence in Ancient Near Eastern Empires der Universität Helsinki. Seine Forschungsfelder sind Inter- und Transtextualität in mittel- und neuassyrischen herrschaftlich-narrativen Texten, mittel- und neuassyrische Geschichte und imperiale Identitätsbildung. Baumann, Michael M.A. promoviert in Neuerer Deutscher Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsfelder liegen im Bereich der Phantastik mit Schwerpunkt auf ideologischen Implikationen der Fantasy. Baumgartner, Robert M.A. promoviert in Neuerer Deutscher Literatur an der LMU München. Seine besonderen Forschungsinteressen umschließen Fantastik (in Theorie und Texten) und Computerspielforschung. Er ist Redakteur von Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung und Mitherausgeber des Sammelbandes I’ll remember this – Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel (Hülsbusch 2016). Bonacker, Maren, leitet als Lese- und Literaturpädagogin die Kinder- und Jugendabteilung der Phantastischen Bibliothek Wetzlar. Ihre Forschungsfelder liegen im Bereich der kinderliterarischen Phantastik, dabei insbesondere auf der doppelten Adressiertheit phantastischer Kinder- und Jugendliteratur.

238 | Den Drachen denken

Eder, Tobias M.A. studiert Informatik an der Technischen Universität München. Seine Forschungsfelder liegen im Bereich Game Studies und Phantastik, mit einem Fokus auf der Medialität des Digitalen. Ehring, Christian studiert Germanistik, Geschichte und Erziehungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sein besonderes Interessengebiet ist dabei die Phantastik, Narrativität und die Geschichte des 19. Jahrhunderts. Kleitsch, Eva-Maria M.A. arbeitet derzeit an ihrer Dissertation, in der sie Michael Endes Unendliche Geschichte als poetologischen Text analysiert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Ästhetik/Poetologie sowie der Phantastiktheorie. Koebner, Thomas (em. Prof. Dr.) lehrte Filmwissenschaft an der Universität Mainz. Jüngste Veröffentlichung: »Von Träumen im Film« (Schüren 2018), beschäftigt sich gegenwärtig mit Motiv und Thema der ›Insel‹ in Literatur und Film. Langenbahn, Matthias ist examinierter Germanist, Gymnasiallehrer und Doktorand an der Freien Theologischen Hochschule Basel. Gegenwärtig arbeitet er an seinem Dissertationsprojekt zum Thema Skepsis. Seine Arbeitsbereiche sind skeptische Philosophie sowie moderne Theorien zum Begriff der Skepsis. Langenbahn ist staatlich geprüfter Fremdsprachenkorrespondent. May, Markus (Prof. Dr.) lehrt Neuere Deutsche Literatur am Institut für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist zusammen mit Hans Richard Brittnacher Herausgeber des Bandes Phantastik: Ein interdisziplinäres Handbuch (Metzler 2013). Schindler, Andrea, (PD Dr.) arbeitet an der Professur für Deutsche Philologie des Mittelalters der Universität des Saarlandes. Ihre Forschungsinteressen liegen u.a. im Bereich der deutschsprachigen höfischen Literatur des Hochmittelalters und der Mittelalter-Rezeption. Teichert, Matthias (Prof. Dr.) lehrt Skandinavistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die germanische Heldensage und -dichtung, neuzeitliche Rezeption

Autorinnen und Autoren | 239

altnordischer Mythologie, Schachgeschichte (Habilitationsschrift) sowie Horrorliteratur/-film.

Kulturwissenschaft Johannes F.M. Schick, Mario Schmidt, Ulrich van Loyen, Martin Zillinger (Hg.)

Homo Faber Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2018 2018, 224 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3917-9 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3917-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur + Kritik (Jg. 7, 2/2018) 2018, 176 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4455-5 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4455-9

María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

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Kulturwissenschaft Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2017, 158 S., kart., zahlr. Abb. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3972-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3972-2

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