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German Pages 123 Year 2009
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 200
Daseinsvorsorge und Infrastrukturgewährleistung Symposium zu Ehren von Willi Blümel zum 80. Geburtstag
Herausgegeben von
Siegfried Magiera Karl-Peter Sommermann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
SIEGFRIED MAGIERA / KARL-PETER SOMMERMANN (Hrsg.)
Daseinsvorsorge und Infrastrukturgewährleistung
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 200
Daseinsvorsorge und Infrastrukturgewährleistung Symposium zu Ehren von Willi Blümel zum 80. Geburtstag
Herausgegeben von
Siegfried Magiera Karl-Peter Sommermann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: werksatz · Büro für Typografie und Buchgestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 978-3-428-13263-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Am 6. Januar 2009 vollendete Willi Blümel sein 80. Lebensjahr. Zu seinen Ehren fand am 16. Januar 2009 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer ein Symposium zum Thema „Daseinsvorsorge und Infrastrukturgewährleistung“ statt, an dem Willi Blümel verbundene Kollegen, Schüler und ehemalige Weggefährten teilnahmen. Die Beiträge, die Grundlage lebhafter Diskussion waren, sind nachfolgend abgedruckt. Die Herausgeber danken den Autoren sowie allen Teilnehmern für ihre anregenden Beiträge. Für die sorgfältige redaktionelle Bearbeitung der Texte gebührt Frau Assessorin Franziska Kruse unser herzlicher Dank. Speyer, im August 2009
Siegfried Magiera, Karl-Peter Sommermann
Inhaltsverzeichnis Begrüßung und Würdigung Karl-Peter Sommermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Daseinsvorsorge und Infrastrukturgewährleistung Markt und Staat – res publica rediviva? Hans Hugo Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Daseinsvorsorge und service d’intérêt général im Interventionsstaat Michael Ronellenfitsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Infrastrukturgewährleistung und Fachplanung Klaus Grupp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Das neue Raumordnungsgesetz und die Infrastrukturverantwortung des Bundes Wolfgang Durner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aktuelle Grundfragen des Verfassungs- und Verwaltungsrechtsschutzes Podiumsdiskussion Aktuelle Grundfragen des Verfassungsrechtsschutzes – Zum Recht auf effektiven Rechtsschutz Hans-Jürgen Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aktuelle Grundfragen des Verfassungsrechtsschutzes Udo Steiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aktuelle Grundfragen des Verwaltungsrechtsschutzes Stephan Paetow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Aktuelle Grundfragen des Verwaltungsrechtsschutzes Ulrich Storost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Schlusswort Siegfried Magiera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Verzeichnis der Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Begrüßung und Würdigung Karl-Peter Sommermann Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf Sie zugleich im Namen von Herrn Kollegen Magiera zu unserem Symposium „Daseinsvorsorge und Infrastrukturgewährleistung“ begrüßen, das wir zu Ehren von Herrn Universitätsprofessor Dr. Willi Blümel abhalten, der vor zehn Tagen, am 6. Januar, sein 80. Lebensjahr vollendet hat. Sehr verehrter, lieber Herr Blümel, wir gratulieren Ihnen noch einmal sehr herzlich und wünschen Ihnen für Ihr neues Lebensjahrzehnt gute Gesundheit und dass Sie die bewundernswerte Wachheit Ihres Geistes und die Freude an Unternehmungen mit Ihrer Frau Gemahlin noch viele Jahre genießen dürfen. Wir freuen uns besonders, sehr verehrte, liebe Frau Blümel, dass Sie bei unserem Symposium dabei sind. Sie vollenden ebenfalls in wenigen Tagen Ihr 80. Lebensjahr, und auch Sie haben sich Ihren jugendlichen Sinn und Ihre Unternehmungsfreude bewahrt. Lieber Herr Blümel, Sie können auf reiche und erfüllte Lebensjahrzehnte zurückblicken, in denen es auch manche Herausforderung und Prüfung zu bestehen galt. In Heidelberg aufgewachsen, wurden Sie gegen Ende des Zweiten Weltkrieges als 16-Jähriger noch zum sog. „Volkssturm“ rekrutiert. Nach dem Krieg, so schwierig die ersten Jahre waren, haben Sie, von unabhängigem und weltoffenem Geist, die Möglichkeiten der freien Entfaltung aufs Beste genutzt. Während Ihres im Wintersemester 1948/49 aufgenommenen Studiums der Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg trafen Sie auf Ihren akademischen Lehrer Ernst Forsthoff, bei dem Sie nach Ablegen der Zweiten Juristischen Staatsprüfung im Jahre 1957 Assistent werden sollten. Prägend für Ihr akademisches Selbstverständnis wurde in Ihrer Studienzeit aber auch Ihr Aufenthalt an der Cornell University in Ithaca, New York, in den Jahren 1950 und 1951. Dort widmeten Sie sich vor allem dem amerikanischen und ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht. Ein Ergebnis Ihres Amerikaaufenthalts war Ihre erste Veröffentlichung, ein Aufsatz zur „Rückwirkung von Gesetzen in den USA“, der 1952 in der Juristenzeitung erschien. Ihre im Staate New York gewonnenen Erfahrungen kamen Ihnen gewiss zugute, als Sie bald nach Abschluss Ihrer mit „summa cum laude“ ausgezeichneten Promotion im Jahr 1960 mit Ernst Forsthoff ein halbes Jahr als dessen Wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Verfassungsgericht der Republik Zypern
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Karl-Peter Sommermann
wechselten, wo Forsthoff das Amt des Gerichtspräsidenten übernommen hatte. Frucht der Zeit auf Zypern ist eine in einem Sammelband des Heidelberger Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht veröffentlichte Abhandlung über „Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Republik Zypern“. Ihr Aufenthalt an der Cornell University hatte indirekt aber noch weitere wichtige und erfreuliche Folgen. Zurück aus den USA gründeten Sie 22jährig im Dezember 1951 in Heidelberg die Studentenvereinigung für die Vereinten Nationen, aus der später die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen hervorging. Generalsekretärin wurde die Studentin Lily Schröder, die Sie 1957 heiraten sollten. Seitdem haben Sie alle wichtigen Entscheidungen Ihres Lebenswegs mit ihr geteilt. Ihre beispielgebende Verbundenheit hat mich stets beeindruckt. Udo Steiner, der Sie beide seit den sechziger Jahren, als er Assistent bei Klaus Obermayer war, kennt, hat anlässlich Ihres 75. Geburtstags Ihre wechselseitige Solidarität mit der ihm eigenen Redegabe einfühlsam gewürdigt. Der Gegenstand der Doktorarbeit, das Planfeststellungsrecht, sollte zu einem der großen Forschungsstränge werden, die das wissenschaftliche Profil Willi Blümels prägen. In seiner Dissertation mit dem Titel „Die (Bau)Planfeststellung, Erster Teil: Die Planfeststellung im preußischen Recht und im Reichsrecht“ hat er den historischen Grundlagen des Planungsrechts nachgespürt und unter anderem gezeigt, dass das Rechtsinstitut der Planfeststellung in § 4 des Preußischen Eisenbahngesetzes von 1838 seinen Ursprung findet. Seine damalige Arbeit ist nach wie vor grundlegend. In der Habilitationsschrift, die später in Speyer veröffentlicht werden sollte, hat er sich sodann der Planfeststellung im geltenden Recht zugewandt und in Verbindung mit zahlreichen weiteren Studien seinen Ruf als herausragender Planungsrechtler befestigt. In unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Habilitation von Hans Hugo Klein, mit dem ihn Jahre gemeinsamer Assistentenzeit bei Ernst Forsthoff verbindet, wurde er im Juni 1967 an der Heidelberger Fakultät habilitiert. In dem im Jahre 2007 als Buch erschienenen Briefwechsel zwischen Ernst Forsthoff und Carl Schmitt findet sich ein Brief, den Ernst Forsthoff am 26. Juni 1967 aus diesem Anlass an Carl Schmitt sendet. Er schreibt, er wolle ihm (Carl Schmitt) schnell mitteilen, „daß in der vorigen Woche die Habilitation von Blümel stattgefunden hat – und wie man sagen darf: glanzvoll. Der Probevortrag (über Runderlaß und allgemeine Verwaltungsanweisungen der Bundesminister) hat wegen der geschliffenen Formulierung und der Präzision der vertretenen Thesen großen Eindruck gemacht“ 1. Als Privatdozent nahm Willi Blümel zunächst eine zweisemestrige Lehrstuhlvertretung an der Freien Universität Berlin wahr, wo er auf eine ordentliche 1 Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926 – 1974), hrsg. von Dorothee Mußgnug, Reinhard Mußgnug und Angela Rheintal in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler und Jürgen Tröger, Berlin 2007, S. 241 (Brief Nr. 227).
Begrüßung und Würdigung
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Professur berufen wurde, ehe er im Jahr 1970 einem Ruf auf einen Lehrstuhl für öffentliches Recht, insbesondere allgemeines und besonderes Verwaltungsrecht an der Universität Bielefeld folgte. Vier Jahre später, 1974, nahm Willi Blümel einen Ruf an die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer an, wo er seitdem auf einem Lehrstuhl mit gleicher Bezeichnung lehrte und forschte. Sein Nachfolger in Bielefeld wurde Hans-Jürgen Papier, der heutige Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Sehr verehrter Herr Papier, wir freuen uns sehr, dass Sie in alter Verbundenheit mit Herrn Blümel trotz der mit Ihrem Amt verbundenen zahlreichen Verpflichtungen heute an diesem Symposium mitwirken. Im Jahr 1974 promovierte im übrigen Michael Ronellenfitsch als letzter Doktorand Forsthoffs in Heidelberg, um sodann, sozusagen als Assistent der ersten Stunde, an den Speyerer Lehrstuhl Blümels zu wechseln. Lehre und Forschung von Willi Blümel beschränkten sich keineswegs auf das Planungsrecht. Er deckt nahezu die gesamte Breite des Allgemeinen und Besonderen Verwaltungsrechts ab und hat sich wiederholt auch verfassungsrechtlichen Gegenständen zugewandt. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen ragen grundsätzliche Abhandlungen zu Fragen des Verwaltungsverfahrensrechts und des Rechtschutzes, wie beispielsweise der Aufsatz in der von ihm mit herausgegebenen Festgabe für Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag über „Raumplanung, vollendete Tatsachen und Rechtsschutz“ sowie Beiträge zur kommunalen Selbstverwaltung, darunter der viel zitierte, 1977 gehaltene Staatsrechtslehrervortrag zum Thema „Gemeinden und Kreise vor den öffentlichen Aufgaben der Gegenwart“ und Untersuchungen zum Staatsorganisationsrecht wie beispielsweise die grundlegenden Beiträge zur Verwaltungszuständigkeit und zur Rechtsprechungszuständigkeit in dem von Josef Isensee und Paul Kirchhof herausgegebenen Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Die Schwerpunkte seines Schaffens wurden in mehreren Veröffentlichungen von Kollegen gewürdigt, so in dem aus Anlass seines 60. Geburtstages erschienenen Sonderheft des Verwaltungsarchivs, in dem sich auch eine Würdigung des wissenschaftlichen Werkes Willi Blümels von Hans-Peter Michler findet, in dem von seinen akademischen Schülern zum 65. Geburtstag herausgegebenen Kolloquiumsband zum Thema „Kommunale Selbstverwaltung in Deutschland und Europa“ und in der zum 70. Geburtstag erschienenen Festschrift „Planung, Recht, Rechtsschutz“, ebenfalls herausgegeben von Klaus Grupp und Michael Ronellenfitsch. Beide haben anlässlich des 75. Geburtstags von Willi Blümel zentrale Beiträge zum Planungsrecht aus seiner Feder in einem Band der Schriften zum Öffentlichen Recht herausgegeben. Unser heutiges Symposium will unter dem Titel „Daseinsvorsorge und Infrastrukturgewährleistung“ zugleich eine Verknüpfung zwischen den großen Themen Willi Blümels herstellen. Aus den zahlreichen Aktivitäten, die Willi Blümel an unserer Hochschule entfaltet hat, kann ich aus Zeitgründen nur wenige hervorheben. Seit 1965 Mitglied des Arbeitsausschusses „Straßenrecht“ der Forschungsgesellschaft für Straßen-
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und Verkehrswesen, den er seit 1976 leitete, und seit 1971 Mitglied des Arbeitskreises Eisenbahnrecht der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn und dort seit 1985 Sprecher der Professoren, hat Willi Blümel in den dazu jährlich abgehaltenen Forschungsseminaren in Speyer beispielgebend Wissenschaft und Praxis zusammengeführt. Zahlreiche von ihm herausgegebene Bände zeigen dies. Was die Bände nur bedingt dokumentieren, sind der intensive fachliche und persönliche Austausch, den Willi Blümel mit seinen Veranstaltungen den Teilnehmern über viele Jahre ermöglicht hat, und die aus der Zusammenführung von Personen ganz unterschiedlicher Verantwortungsbereiche erwachsenden „Synergien“, wie man neudeutsch sagt. Aus dem Arbeitsausschusses „Straßenrecht“ und den Speyerer Seminaren rührt auch seine Verbindung mit Herrn Paetow her, der uns ebenfalls die Ehre seiner Mitwirkung an diesem Symposium als Vortragender gibt. Herr Storost gehört nicht dem Arbeitsausschusses „Straßenrecht“ an, sondern ist Herrn Blümel über andere wissenschaftliche Veranstaltungen und seine Dissertation über Ernst Forsthoff („Staat und Verfassung bei Ernst Forsthoff“, 1979) verbunden. Nachdem die Seminare zum Straßenrecht später zunächst in Zusammenarbeit mit Klaus Grupp in Saarbrücken durchgeführt wurden, finden sie seit 2007 unter der Leitung von Wolfgang Durner in Bonn statt, der heute ebenfalls vortragen wird. Unter dem Dach des Forschungsinstituts für Öffentliche Verwaltung, einer eigenständigen Bund-Länder-Einrichtung, die er von 1988 bis 1996 leitete – länger als irgendein Kollege vor ihm – konnte Willi Blümel sein großes Potential entfalten, auch grundlegende Forschungsfragen für die Praxis und umgekehrt Anforderungen der Praxis für die wissenschaftliche Forschung fruchtbar zu machen. Besondere Erwähnung verdienen nicht zuletzt die in den neunziger Jahren verabschiedeten so genannten „Speyerer Empfehlungen“ zur Reform des Hochschulrechts, die unter seiner Projektleitung in Zusammenarbeit mit dem Hochschulkanzler-Arbeitskreis „Verwaltungsvereinfachung“ erarbeitet wurden und bis heute Orientierungshilfe bieten. Innerhalb seiner Amtszeit als Direktor, so konnte ich seinerzeit feststellen, wurden 37 Forschungsseminare und verwaltungswissenschaftliche Arbeitstagungen durchgeführt, davon 18 allein von Willi Blümel, bei einer nicht geringen Zahl professoraler Mitglieder des Instituts eine ebenso stolze Bilanz wie die der in seiner Amtszeit erheblich ansteigenden Zahl in- und ausländischer Gastforscher. Als sich die deutsche Wiedervereinigung abzeichnete, ergriff Willi Blümel rasch die Initiative, diesen Prozess zu fördern und effektive Aufbauhilfen für die Neuen Länder zu leisten. Bereits im Juni 1990 fand unter dem Dach des Forschungsinstituts ein deutsch-deutsches Verwaltungsrechtskolloquium statt, das Fragen des Verwaltungsverfahrens- und des Verwaltungsprozessrechts gewidmet war und an das Folgeveranstaltungen anknüpften. Gleichzeitig leistete Willi Blümel wichtige Beratungshilfe im Transformationsprozess der ostdeutschen
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Länder, und die internationalen Kontakte des Forschungsinstituts wurden erheblich ausgebaut. Groß ist die Zahl seiner akademischen Schüler in Japan und Korea, wo er immer wieder Vorträge halten sollte und seine Schriften in hohem Maße rezipiert wurden. Lassen Sie mich zum Abschluss dieser kurzen Würdigung noch einige Worte zur Persönlichkeit Willi Blümels sagen, wie wir sie im akademischen Leben erfahren haben. Willi Blümel hat sich von Anfang an in besonderer Weise für die Hochschule als Einrichtung und für den kollegialen Zusammenhalt engagiert. Dies ist keineswegs selbstverständlich und entspricht seinem ausgeprägten Sinn für soziale Verantwortung. Nachdem er bereits 1976 für acht Jahre das Amt des Stellvertretenden Geschäftsführenden Direktors übernommen hatte, wurde er 1984 zum Prorektor gewählt, bevor er von 1985 bis 1987 das Amt des Rektors und anschließend nochmals für ein Jahr das des Prorektors übernahm. In seinem Rektorat setzte er sich erfolgreich für einen Erhalt und Ausbau des interdisziplinären Ansatzes unserer Hochschule ein. Als im Rahmen der Neuordnung der Juristenausbildung die Schwerpunkte auf rein juristische Inhalte konzentriert werden sollte, gelang es ihm, dass die Lehrangebote unserer Hochschule im vollen Umfang in die Schwerpunktbereiche der Juristenausbildungs- und Prüfungsordnungen einbezogen wurden. Auch erreichte er, dass in der Wahlstation erstmals Referendare im Schwerpunkt „Internationales“ an die Hochschule entsandt werden konnten. Die von ihm seinerzeit in die Wege geleiteten institutionellen Kooperationen mit China und Korea (Wuhan University und Dongguk University) haben bis heute ebenso Bestand wie Kooperationen, die später in der Zeit seines Direktorats im Forschungsinstitut begründet wurden. Vor allem aber wirkte Willi Blümel in seinen Ämtern integrierend. Es war nicht nur seine allseits anerkannte hohe fachliche Kompetenz, die ihm im Kreise der Kollegen Autorität und Ansehen verlieh – in allen Rechtsfragen der Hochschule hat sein Wort bis heute größtes Gewicht –, sondern auch seine Gradlinigkeit, wo nötig gepaart mit einer Streitbarkeit im positiven Sinne, seine Verlässlichkeit und seine kollegiale Loyalität. Dem Wunsch aller Kolleginnen und Kollegen folgend übt Willi Blümel an der Hochschule und am Forschungsinstitut seit einigen Jahren die Funktion eines Ombudsmannes für gute wissenschaftliche Praxis aus. Auch dafür darf ich Ihnen an dieser Stelle, sehr verehrter Herr Blümel, im Namen der Hochschule herzlich danken. Willi Blümel ist nicht ein Mann der großen Worte, sondern jemand, der aus einem wohlüberlegten Standpunkt heraus auf die Sachfragen zugeht und Entscheidungen auf der Grundlage klarer Kriterien und einer genauen Analyse trifft. Eine seiner größten Tugenden ist dabei vielleicht die bereits von Forsthoff in einem Brief an Carl Schmitt erwähnte Bescheidenheit, die Ausdruck der Tatsache ist, dass er sich selbst zurücknehmen kann und trotz aller Erfolge nie den Blick für die Belange und Leistungen anderer verliert.
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Ich selbst hatte das Privileg, mit Herrn Blümel mehrere Jahre als so genannter Institutsreferent – heute heißt diese Funktion „Geschäftsführer“ – des Forschungsinstituts zusammenzuarbeiten. Für meinen Wechsel von meiner Assistentenstelle in Bonn – ich plante damals, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen Antrag auf ein Habilitationsstipendium zu stellen – an das Institut in Speyer war die Begegnung mit Willi Blümel entscheidend. Ich kannte ihn zuvor nicht persönlich und war durch Vermittlung eines früheren Referendarkollegen zu einem unverbindlichen Gespräch zum seinerzeitigen Geschäftsführenden Direktor gereist, ohne dass ich mich formell um die ausgeschriebene Stelle beworben hätte. In dem Gespräch mit Herrn Blümel beeindruckte mich besonders, dass er nicht nur über die Aufgaben und Bedarfe des Instituts sprach, sondern mit mir gemeinsam überlegte, inwiefern die Stelle eines Institutsreferenten, die naturgemäß Einschränkungen bei der wissenschaftlichen Arbeit mit sich bringt, für meinen weiteren akademischen Weg sinnvoll und förderlich sein könnte. Ich spürte sofort, dass ich hier mit einem akademischen Lehrer sprach, der immer auch an die Interessen seines Gegenübers denkt und in besonderer Weise sensibel für die Lage der Nachwuchswissenschaftler ist. Aus diesem Gespräch wurden nach einer Beratung mit meinem Habilitationsbetreuer Christian Tomuschat und meinem Wechsel nach Speyer Jahre einer fachlich und persönlich aufs Höchste bereichernden Zusammenarbeit. Die Fähigkeit von Willi Blümel, Vertrauen und persönliche Bindungen aufzubauen, und sein Engagement für den wissenschaftlichen Nachwuchs habe ich vielfältig erlebt. In einer längeren auf lateinischer Sprache verfassten Würdigung eines jungen spanischen Kollegen (Joseph Ramon Fuentes, der heute Geburtstag hat!) anlässlich der Verabschiedung von Herrn Blümel als Geschäftsführender Direktor im Jahre 1996 heißt es: „Scientifica paternitas vincula creat quae simplex officium superant ut humana fierint“. Die Tatsache, dass unserer Einladung so viele Kollegen und ehemalige Weggefährten von Willi Blümel sofort und vorbehaltlos gefolgt sind und dass auch die Vortragenden des heutigen Tages ohne Zögern zugesagt haben, darf man gewiss als Ausdruck der persönlichen, häufig freundschaftlichen Verbundenheit mit Willi Blümel werten. Sie werden es mir nachsehen, wenn ich die Mitglieder des hier versammelten illustren Kreises nicht einzeln ansprechen kann. Zugleich im Namen von Herrn Kollegen Magiera bedanke ich mich bei Ihnen allen für Ihr Kommen und wünsche uns, ganz im Sinne von Herrn Blümel, dass wir einen Tag mit anregenden Gesprächen über aktuelle Fragen unseres Gemeinwesens genießen können.
Daseinsvorsorge und Infrastrukturgewährleistung
Markt und Staat – res publica rediviva? Hans Hugo Klein Lieber Herr Blümel, es ist mir eine große Freude, zu einem Ihrer Geburtstage – und nun gar zum 80.! – einmal nicht nur als Gast geladen zu sein, sondern zum Gelingen des Festes ein Weniges beitragen zu dürfen. Dafür danke ich Ihnen und der wissenschaftlichen Leitung dieses Symposiums, Magnifizenz Sommermann und Herrn Kollegen Magiera, herzlich. Meine erste nachhaltige Wahrnehmung von Herrn Blümel liegt rund ein halbes Jahrhundert zurück, das genaue Datum ist mir entfallen. Ernst Forsthoff eröffnete einen Seminarabend in seinem Schlierbacher Haus, hocherfreut und erkennbar stolz, mit der Mitteilung, soeben habe Herr Blümel aus Stuttgart angerufen und berichtet, dass er die zweite juristische Staatsprüfung – mit Glanz, wie sich versteht – bestanden habe. Seither habe ich – zu jenem Zeitpunkt noch Student – zu ihm in Ehrfurcht aufgeschaut, stets dankbar für eine die Dezennien überdauernde Verbundenheit, die in der Verehrung für unseren gemeinsamen akademischen Lehrer ihren unverrückbaren Grund hat.
I. Der Gegenstand, mit dem ich mich heute befassen will, ist ein in der Entwicklung des Staatsrechts wiederkehrender, und wiederkehrend sind auch seine Themen, wie beispielsweise die staatliche Gewährleistungsverantwortung für von Privaten wahrgenommene gemeinwohlwichtige Aufgaben, die seit einigen Jahren wieder Konjunktur hat. 1 Der Planungsrechtler Blümel ist mit diesem Gegenstand aufs Beste vertraut: ein Leben lang hat er sich mit der Verantwortung des Staates für die Infrastruktur beschäftigt, auf welche die Wirtschaft angewiesen ist – das Thema bildet daher zu Recht den 2. Schwerpunkt dieses Symposiums. Auch Ernst Forsthoff hat das Verhältnis von Staat und Wirtschaft intensiv beschäftigt, ich komme darauf zurück. Von mir allerdings wollen Sie heute bitte nicht mehr als einige punktuelle, durch die Ereignisse der letzten Monate veranlasste Anmerkungen zu unserer Thematik erwarten. 1
Vgl. den Hinweis von Klaus Vogel, VVDStRL 54 (1994), S. 335 f. (Diskussionsbeitrag).
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Ich beginne mit einer kurzen Erinnerung: In seinem um die Mitte des 18. Jahrhunderts erschienenen Werk über die „Staatswirthschaft“ erklärte der Kameralist Johann Heinrich Gottlob von Justi (1702 –1771), es könne „nicht fehlen, dass die Cassen des Regenten größern Zufluss haben müssen, wenn die Commerzien, Manufacturen, Gewerbe und überhaupt der gesammte Nahrungsstand ... in einen blühenden Zustand gesetzet ... werden“. Commercien und Gewerbe seien den Untertanen zu überlassen, dem Staate wies er vorrangig die Rolle des Anregers und Förderers, als Schrittmacher des technischen Fortschritts, ergänzend aber auch die des Unternehmers zu, wo es, wie im Banken- und Versicherungswesen, seiner Kapitalkraft bedurfte. Unter dem Einfluss von Adam Smith „Lehre von der Harmonie der egoistischen und der allgemeinen Interessen“, 2 veranlasst aber auch durch aktuelle Finanznot, zog sich der Staat im 19. Jahrhundert zunächst ein Stück weit, allerdings keineswegs vollständig, aus der Wirtschaft, vor allem aus der Unternehmerfunktion, zurück, um nach der Reichsgründung allerdings umso nachdrücklicher zurückzukehren. Nicht erst seit dem 1. Weltkrieg gilt das Diktum Walther Rathenaus: „Wirtschaft ist nicht länger Privatsache; sie wird res publica, die Sache Aller.“ 3 Der Staat war zum „Wirtschaftsstaat“ geworden, zu einem Staat also, „in dem Staat und Wirtschaft zu einer einheitlichen Ordnung zusammengewachsen sind“, wie Ernst Rudolf Huber in seiner Bonner Antrittsvorlesung 1931 formulierte. 4 Die im 19. Jahrhundert vorübergehend noch vorausgesetzte Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft gehörte der Vergangenheit an.
II. Dass, um mich noch einmal auf Rathenau zu berufen, die Wirtschaft das Schicksal ist, 5 nicht zuletzt das Schicksal des Staates, haben uns die Ereignisse des letzten Jahres ad oculos demonstriert. Die Globalisierung, die zu einer überaus dichten transnationalen Verflechtung der Volkswirtschaften geführt und privaten Akteuren den grenzüberschreitenden Verkehr von Ressourcen ungemein erleichtert hat 6 – ganz neu ist die Sache freilich nicht, wie etwa die nach 80 Jahren verhängnisvolle Wirkungen zeitigende Rettungsaktion von General Motors für 2
Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 3. Band, 3. Aufl., 1954, S. 342. 3 Zitiert nach Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 1969, S. 975. 4 Ernst Rudolf Huber, Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, 1931, S. 4. 5 Wie Anm. 3. 6 Vgl. Stefan Schirm, Deutschlands wirtschaftspolitische Antworten auf Globalisierung, in: H.-P. Schwarz (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, 2008, S. 405 ff. (408 f.).
Markt und Staat – res publica rediviva?
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die Adam Opel AG 1929 beweist –, ließ die Steuerungskraft des Staates erodieren und hatte eine unübersehbare Durchsetzungsschwäche öffentlicher Interessen zur Konsequenz. 7 Die Finanzmärkte, Vorreiter der Globalisierung, 8 ließen sich durch die scheinbare (?) Hilflosigkeit der Staaten gegenüber diesem Phänomen 9 zur Bereitstellung windiger Produkte verführen und erlagen – freilich nicht sie allein – der Verlockung des schnellen Geldes. Das Prinzip des „buy-fix-sell“, dem sog. Beteiligungsgesellschaften, Private-Equity-Firmen, huldigten, beförderte eine einseitige Orientierung am Shareholder-value-Prinzip, die Verantwortung für Kunden und Arbeitnehmer trat in den Hintergrund. Verquere Vergütungsstrukturen ließen Managervergütungen in astronomische Höhen schießen, während gleichzeitig den Lohnempfängern Zurückhaltung gepredigt wurde. Es entstand der Eindruck, dass die Aufsichtsräte den Vorständen umso höhere Boni in Aussicht stellten, je mehr Arbeitsplätze sie wegrationalisierten. Nicht wie vor Zeiten der ehrbare Kaufmann, sondern der Glücksritter war Leitbild bei so mancher Managerkarriere. Von corporate governance hörte man umso mehr, je mehr die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen in Vergessenheit geriet. Die Freiheit von Markt und Wettbewerb schien unbegrenzt und erzeugte Maßlosigkeit. Dem allem hat der Staat lange zugesehen. Die global agierende Wirtschaft schien seinem Zugriff entzogen, nachdem er ihr durch Selbstentgrenzung freie Bahn geschaffen hatte, um dann – diesem Eindruck kann man sich nur schwer entziehen – den Durchblick zu verlieren. Erst als wirklich Feuer unterm Dach war, als die Finanzmärkte – in Deutschland übrigens vor allem die von den Staatsbanken verwalteten – zusammenzubrechen drohten, die Kreditversorgung der Wirtschaft akut gefährdet war, tauchte der Staat aus seiner Versenkung auf: res publica rediviva. Nicht irgendeine internationale Organisation, auch nicht die EU, deren Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Bankenaufsicht ebenso wie zahlreiche Warnungen aus der Wissenschaft lange ignoriert worden waren, wurde initiativ, als die Not am größten war. Die EU stellte zwar die Bühne bereit, auf der der amtierende Ratsvorsitzende mit der ihm eigenen Agilität die Chance ergriff, gemeinsam mit den anderen Staats- und Regierungschefs zur Tat zu schreiten, d. h. die nationalen Anstrengungen zur Bekämpfung der Krise zu koordinieren. Ohne Zögern räumten die Staaten den für die Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitik zuständigen Rat der Wirtschafts- und Finanz7 Hartmut Bauer, Institutionalisierung des Wirtschaftsrechts: Herausforderung für die Demokratie, in: ders. u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2001, S. 69 ff. (70 ff.). 8 André Habisch, Die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft, in: O. Schlecht / G. Stoltenberg (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft. Grundlagen, Entwicklungslinien, Perspektiven, 2001, S. 193 ff. (197 ff.). 9 Wolfgang Hoffmann-Riem, Das Grundgesetz – zukunftsfähig?, DVBl 1999, S. 657 ff. (659): „Vor den Herausforderungen der Globalisierung und Internationalisierung stehen alle Staaten relativ hilflos.“
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minister beiseite – sein Vorsitzender und der Kommissionspräsident erhielten Statistenrollen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt stand ihrem forschen Handeln nicht im Wege. Ihr Elan trug die Europäer auf den G-20-Gipfel, der sich nun anheischig macht, ein internationales Regime zur Regulierung der Finanzmärkte zu implementieren. So lautet eine erste Bilanz: Als die Stabilität der Industriegesellschaft und damit die des Wirtschaftsstaates auf dem Spiele standen, war der Staat zur Stelle.
III. Mit der Entscheidung der Bundesrepublik für das gesellschaftspolitische Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als Gegenentwurf sowohl zu planwirtschaftlichen als auch zu rein wirtschaftsliberalen Vorstellungen schien die richtige Mitte zwischen staatlicher Gängelung des Marktes und Manchesterliberalismus gefunden. Es ging um die schlüssige Verknüpfung von wirtschaftlicher Dynamik durch die staatliche Sicherung eines funktionierenden Wettbewerbs mit sozialer Gerechtigkeit als Voraussetzung für breiten Wohlstand. 10 Die neo- und ordoliberale Schule um Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Walter Eucken und Franz Böhm, um nur einige zu nennen, dachte in Ordnungen. Alfred Müller-Armack, auf den der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft zurückgeht, betrachtete sie als Versöhnungsformel zwischen Marktliberalismus, katholischer Soziallehre, evangelischer Sozialethik und sozialistischen Gerechtigkeitsvorstellungen. Dem Staat war eine starke Rolle zugedacht. Die Soziale Marktwirtschaft war – in den Worten Ludwig Erhards – gerade „nicht die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums.“ Sie hat in Deutschland Akzeptanz gefunden, weil ihre Vordenker in Wort und Tat auf ein Gesellschaftsmodell setzten, das der Leistung den verdienten Ertrag zukommen lässt, die Schwachen fördert und die Starken zügelt. Ökonomische Wettbewerbsfähigkeit und politische Stabilität wurden erreicht durch eine für Deutschland spezifische Kombination von staatlicher Regulierung, Marktwettbewerb und starker Beteiligung korporatistischer Gruppen an der Gestaltung der Wirtschaftspolitik. 11 Verfassungsrechtliche Absicherung erfuhr die Soziale Marktwirtschaft zwar nicht im Sinne einer institutionellen Garantie, wohl aber im Sinne einer Entscheidung des Grundgesetzes für dezentrales Wirtschaften. 12 Seit dem deutsch10 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2. Aufl., 2008, S. 51 ff. (auch zum Folgenden). 11 Schirm (Anm. 6), S. 411. 12 Dazu und zum Folgenden: Reiner Schmidt, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Band 4, 2006, § 92 Rdnrn. 16 ff., 24 ff., 30 ff.; Peter Ba-
Markt und Staat – res publica rediviva?
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deutschen Vertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion von 1990 ist die Soziale Marktwirtschaft die gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien. Das ist zwar nicht als authentische Verfassungsinterpretation zu verstehen, bildet aber doch eine kaum verrückbare Grundlage deutscher Wirtschaftspolitik. Der EG-Vertrag legt die Bundesrepublik auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ fest (Art. 4 Abs. 1, 14 Abs. 2, 98 Satz 2). Die Akzentverschiebung zugunsten des Marktes ist nicht zu übersehen. Zwar mangelt es nicht an gemeinschaftsrechtlichen Regulierungen. Sie zielen jedoch tendenziell stärker auf die Öffnung der Märkte als auf die Gemeinwohlverantwortung der Unternehmen. Trotz ihrer Erfolge hat die Soziale Marktwirtschaft an Boden verloren. 13 Dafür gibt es benennbare Ursachen, beispielsweise die aufgrund hoher Produktionskosten und überbordender Regulierung des Arbeitsmarktes nachlassende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft mit der Folge hoher Dauerarbeitslosigkeit oder die Entlassung der Wirtschaft in eine selbstregulative erdumspannende Ordnung, in welcher der Staat auf seine umfassende Verantwortung für die ihm anvertraute Schicksalsgemeinschaft zu verzichten oder verzichten zu müssen scheint. 14 Die Ideologie tut das Ihrige. So frohlockt der Marxist Bernhard Walper, linken Kräften sei es gelungen, einen einstmals positiv besetzten Begriff, gemeint ist der Neoliberalismus, ins Negative zu wenden. 15 Die Politik hält nicht dagegen: Seit Graf Lambsdorff hat es im Amt des Bundeswirtschaftsministers keinen wortmächtigen und seiner Aufgabe intellektuell gewachsenen Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft mehr gegeben. Die einer Minderheit von Managern zu Recht nachgesagte Raffgier untergräbt das Vertrauen in eine Wirtschaftsordnung, die auch davon lebt, dass der Unternehmer sich als Treuhänder aller von seinem Tun Betroffenen begreift. 16
IV. Als Ernst Forsthoff vor fast 40 Jahren seinen „Staat der Industriegesellschaft“ schrieb, war nicht die Soziale Marktwirtschaft sein Thema. Immerhin hatte sich der Staat mit ihr die von Forsthoff so genannte soziale Realisation auf die Fahnen geschrieben und, wie er annahm, zu einem gewissen Abschluss gebracht, womit er gemeint haben dürfte, dass die Instrumente, die dem Staat zur sozialen dura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 3. Aufl., 2008, S. 10 ff.; HansJürgen Papier, in: E. Benda u. a. (Hrsg.); Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., 1994, § 18. 13 Udo Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 16. 14 Ebenda, S. 19. 15 Zitiert nach Wikipedia, Artikel „Neoliberalismus“. 16 Denkschrift der EKD (Anm. 10), S. 36.
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Befriedung zur Verfügung stehen, erkannt und zur Anwendung gelangt waren. Forsthoffs eigentliche These war, dass der Staat sich verändert habe, dass er den überkommenen Kriterien der Staatlichkeit nicht mehr entspreche, dass die Bundesrepublik ihre Stabilität dem Übergang zum Leistungsstaat, vor allem aber der Verlagerung der politischen Gesamtordnung in die Industriegesellschaft verdanke. 17 Stark sei der Staat da, wo es deren harten Kern – Vollbeschäftigung und soziale Umverteilung – zu schützen gelte. Der Staat sei nicht mehr „Gefäß und Träger geistiger Gehalte“, 18 er leide unter „staatsideologischer Unterbilanz“. 19 An diesen Befund knüpfte Forsthoff die Frage, ob der Staat noch die Instanz sei, die das Konkret-Allgemeine zu ihrer Sache machen, das Gemeinwohl gegen die „technische Realisation“ 20 durchsetzen, dem technischen Prozess die von der Humanität gebotenen Schranken ziehen könne. Ihm standen dabei die Gefährdung der Umwelt und die Gentechnik vor Augen. Forsthoffs „Erinnerung an den Staat“ – so lautet die durchaus doppelsinnige Überschrift des 1. Kapitels im „Staat der Industriegesellschaft“ – war nicht primär nostalgisch gemeint. Von der Todeserklärung des Staates 21 hat er schon deshalb nichts gehalten, weil ja gerade die Abhängigkeit des einzelnen vom Staat seit den 1930er Jahren sein Thema war. Aus seiner Verankerung in der Vitalsphäre der Bevölkerung erwuchs dem Staat eine neue Stärke. 22 Die von Forsthoff als unausweichlich erkannte Symbiose von Staat und Industriegesellschaft ist Stärke und Schwäche zugleich: Denn um die Leistungserwartung der Bürger zu befriedigen, ist der Staat auf das Wachstum der Wirtschaft und ihre Hervorbringungen angewiesen, von ihren Informationen, von ihrer Loyalität und Kooperation hängt er ab.
V. Wenn wir unseren Blick vor diesem Hintergrund abschließend noch einmal auf die Gegenwart richten, stellen wir fest: 1. Unverändert gültig ist das Wort von der „staatsideologischen Unterbilanz“ der Bundesrepublik. Ihre immer wieder beschworenen „Werte“ vermögen diese Leerstelle nicht zu füllen. Die immerwährende Verlegenheit des Umgangs 17
Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 158 f. Ernst Forsthoff, Wer garantiert das Gemeinwohl, in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 39 ff. (41). 19 Ernst Forsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, S. 175 ff. (184). 20 Forsthoff (Anm. 17), S. 30 ff. 21 „L‘état est mort“, behauptete 1907 der französische Syndikalist Edouard Berth; dazu Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 11 f. 22 Forsthoff (Anm. 17), S. 79. 18
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mit der Bundeswehr ist dafür ebenso symptomatisch wie die nicht enden wollenden und doch stets ergebnislosen Bemühungen um ein die schulische Bildung bestimmendes Leitbild. Bemerkenswert ist freilich auch, dass dieser Mangel die Stabilität der Bundesrepublik kaum berührt, wie denn auch die anhaltende Verwechslung von Demonstration und Vandalismus nur wenige zu stören scheint. 2. Was die Durchsetzbarkeit von Gemeinwohlinteressen angeht, fällt die Beurteilung etwa in Ansehung des Umweltschutzes vergleichsweise günstig aus, weniger allerdings auf dem Gebiet der Gentechnik, wo sich der Staat von EthikKommission zu Ethik-Kommission dahinschleppt. Und beim Schutz des ungeborenen Lebens, zu dem das Grundgesetz verpflichtet, liegt sie vollends danieder. 3. Von der Vielzahl seiner Aufgaben überfordert und von Schulden geplagt, hat sich der Staat vor allem als Wirtschaftssubjekt und Leistungsträger vielfach aus der Erfüllungsverantwortung zurückgezogen und auf eine Gewährleistungs- und Auffangverantwortung beschränkt, 23 wofür die Art. 87e und 87f GG gleichsam das Grundmuster darstellen. Der Rückzug des Staates aus früher eigenhändig bestellten Aufgabenfeldern wird allerdings regelmäßig von einer Fülle von Regulierungen begleitet, welche die Aufgabenerfüllung als solche gewährleisten und die „Gefährdung individueller Grundrechtspositionen durch Mediatisierung staatlicher Herrschaftsausübung“ 24 ausschließen sollen. Erst kürzlich hat eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts wieder „die Sicherstellung der Energieversorgung (als) eine öffentliche Aufgabe von größter Bedeutung“ bezeichnet, „weil die Energieversorgung zum Bereich der Daseinsvorsorge gehört und eine Leistung ist, derer der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedarf“. 25 Überdies steht alle Privatisierung unter dem Vorbehalt jederzeitiger Rückholbarkeit. Einer Wiederbelebung des Staates bedarf es hier also nicht: er hat sein Verhalten geändert, sich aber nicht seiner Verantwortung entzogen. 4. Die wechselseitige Aufeinanderangewiesenheit von Staat und Wirtschaft besteht in mannigfachen Formen fort. Denn: „Der Verbund von Staat und Industriegesellschaft ist unlöslich, an ihm hängt das Funktionieren des sozialen 23 Vgl. nur die Referate von Johannes Hengstschläger, Lerke Osterloh, Hartmut Bauer und Tobias Jaag zum Thema „Privatisierung von Verwaltungsaufgaben“, VVDStRL 54 (1994); Hermann Butzer / Martin Burgi / Reiner Schmidt, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl., 2006, §§ 74, 75 und 92; Hoffmann-Riem (Anm. 9), S. 659 ff.; schließlich die Beiträge in: Die Verwaltung, Beiheft 4, 2001, zum Thema „Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates“. 24 Udo Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1996), S. 235 ff. (252). 25 Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. September 2008, 1 BvR 1914/ 02, unter III 1b aa (1).
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Ganzen.“ 26 Wie sehr die Industriegesellschaft des Staates bedarf, beweisen die gegenwärtige Finanz- und die durch sie ausgelöste Wirtschaftskrise zur Evidenz – negativ, insofern das Versagen des Marktes nicht zum Wenigsten auf ein Versagen des Staates zurückzuführen ist, und zwar sowohl in seiner Regulierungs- wie in seiner Funktion als Wirtschaftssubjekt (Staatsbanken!), positiv, insofern allein der Staat als Hoheitsträger wie als Finanzier über die zur Behebung der Not benötigten Ressourcen verfügt. Die globale Vernetzung der Märkte allerdings fordert „Lösungen, die nicht mehr im Rahmen einzelner Staaten und Industriegesellschaften möglich sind“. 27 Die Staatengemeinschaft sieht sich auf den Plan gerufen. Sie steht dabei vor einer doppelten Schwierigkeit, die hier nur noch angedeutet werden kann: Infolge der „Asymmetrie von voll globalisierten Teilsystemen der Gesellschaft“ – wie in unserem Fall der Wirtschaft – „und bloß internationaler Politik“ 28, in Ermangelung also einer Weltregierung, ist es nurmehr schwer möglich, die „Systemegoismen“ der verschiedenen „Funktionssysteme in die Grenzen des Gemeinverträglichen zu verweisen“ 29 – man darf gespannt sein, was den G 20 dazu einfällt. Und zum anderen: die „internationale Absicherung von Gemeinwohlbelangen“ 30 – soweit sie gelingt! – führt die Demokratie weiter in die „Globalisierungsfalle“ 31: die Koordination der Staaten fällt in die Zuständigkeit der Exekutive, der Einfluss der Parlamente ist auf die wenig effektive begleitende Kontrolle und die nachträgliche Zustimmung zu den getroffenen Abmachungen reduziert. 32
VI. Mein Resumée also lautet: Unbeschadet seiner Einbindung in eine Vielzahl inter- und supranationaler Organisationen und damit einhergehender Souveränitätseinbußen, unbeschadet auch seiner engen Verflechtung mit der Industriegesellschaft, hat sich der Staat in der Krise des nationalen wie des globalen Marktversagens – von anderen Herausforderungen war nicht zu reden – als handlungsfähig erwiesen. Er hat sich, für manchen vielleicht überraschend, als 26
Forsthoff (Anm. 17), S. 164. Ebenda. 28 Gunther Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), S. 1 ff. (12). 29 Dieter Grimm, Gesellschaftlicher Konstitutionalismus – Eine Kompensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassung?, in: M. Herdegen u. a. (Hrsg.), Festschrift für R. Herzog zum 75. Geburtstag, 2009, S. 77. 30 Hartmut Bauer (Anm. 7), S. 72. 31 Ebenda, S. 73; siehe auch ders., Demokratie in Europa – Einführende Problemskizze, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 1 ff. 32 Vgl. schon Reiner Schmidt, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 65 ff. (97 ff.). 27
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zentraler Zurechnungspunkt politischer Herrschaft bewährt, allerdings nicht, ohne Gefahr zu laufen, das eigene Leistungsvermögen zu überschätzen. Staatskapitalismus ist so wenig eine taugliche Lösung wie ein übertriebener Verzicht auf Regulierung. Auch der Staat – und wer wüsste das besser als wir Kinder des 20. Jahrhunderts! – kann das rechte Maß aus dem Auge verlieren. Dieses indessen ist, das gilt für den Markt wie für den Staat, mehr eine Frage des Ethos als des Rechts.
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I. Blümel 1. Forsthoffs Erbe Dies ist ein Beitrag zu Ehren Willi Blümels, nicht zur Würdigung der Leistungen Ernst Forsthoffs. 1 Zwar könnte man Blümel auch durch die Zuordnung zur Forsthoff-Schule ehren. Forsthoff wollte jedoch gar keine Schule begründen. 2 Wissenschaftlicher Einzelkämpfer, der er war, ließ er seinen Schülern Freiraum für eigene Forschungs- und Tätigkeitsschwerpunkte. Das eigene Gehege beschritt er selbst. Die Überarbeitung der 7. (1958) und 8. Auflage (1961) von Forsthoffs Allgemeinem Verwaltungsrecht, bedeutete für Blümel mehr Zuals Zusammenarbeit. Blümels Einfluss auf den Inhalt des Lehrbuchs wird kaum deutlich; mit einer Ausnahme: § 16 der 10. Auflage (1973) über „Plan und Planung“ ist weitgehend dem Gutachten zum Verhältnis zwischen Raumordnungs(Landesplanungs-) recht und Fachplanungsrecht entnommen, das Forsthoff und Blümel gemeinsam 1969 dem Bundesminister des Innern erstattet hatten 3 und das unverkennbar die Handschrift Blümels trägt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Blümel schon als Planungsrechtler profiliert, so dass ihm Forsthoff insoweit den Vortritt einräumte. 2. Blümel als Planungsrechtler Wie Blümel zum Planungsrecht kam, ist von Hans-Peter Michler in dem Blümel zum 60. Geburtstag gewidmeten Sonderheft des Verwaltungsarchivs 1989 einfühlsam geschildert. 4 Gewicht und Bedeutung Blümels auf diesem Gebiet, 1 Zum Forsthoff-Kolloquium im Jahre 2002: Willi Blümel (Hrsg.), Ernst Forsthoff, Kolloquium aus Anlass des 100. Geburtstags von Prof. Dr. Dr. h.c. Ernst Forsthoff, 2003. 2 Nicht von ungefähr konnte niemand das „Allgemeine Verwaltungsrecht“ fortführen. 3 Abgedruckt unter dem Titel „Raumordnungsrecht und Fachplanungsrecht, 1970. 4 Hans Peter Michler, Das wissenschaftliche Werk Willi Blümels, VerwArch. 1989, S. 2 ff.
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dessen Doyen er heute ist, spiegelt sich wider in der Aufsatzsammlung, die zu seinem 75. Geburtstag erschien. 5 Im Planungsrecht löste sich Blümel methodisch von Forsthoff. Schon Forsthoff war mit Nachweisen nicht geizig, neigte aber dazu, Detailfragen auf später zu verschieben. Dagegen führte Blümel zur Klärung von Detailfragen dokumentarische Materialschlachten, so dass nach dem Prinzip der verbrannten Erde für Gegenansichten kein Raum verblieb. Das war die Blümel’sche Raumordnung. 3. Blümel als Verwaltungs-, Verfassungs- und Europarechtler Unter dem beherrschenden Eindruck des Planungsrechts trat in den Hintergrund, dass Blümel in Forschung und Lehre die ganze Palette des öffentlichen Rechts beackerte, sei es dass er als Verfassungsrechtler – vergeblich – versuchte, den Kommunen eine grundrechtsähnliche Stellung zu verschaffen, sei es dass er als Verwaltungsrechtler, durch seine über lange Jahre ständig gehaltene Vorlesung „Allgemeines Verwaltungsrecht“ in Speyer den Referendarinnen und Referendaren aufzeigte, was sie an der Universität verpasst hatten. Im Verwaltungsverfahrensrecht stritt er gegen Tendenzen, im Interesse der Beschleunigung von Infrastrukturvorhaben Auswüchse der Bürgerbeteiligung und des Umweltschutzes zurückzufahren. Dies, obwohl es sich bei den Infrastrukturvorhaben zumeist um Einrichtungen der Daseinsvorsorge handelt. 6 Die moderne Daseinsvorsorge sprengt den nationalstaatlichen Rahmen, der für Blümel immer schon zu eng war, hat er sich doch zu Beginn seiner Laufbahn mit der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Republik Zypern vor Ort beschäftigt. 7 Die vom cand. jur. Blümel behandelten „Probleme einer Änderung der Charta der Vereinten Nationen“ 8 waren auch nicht geringer als die Probleme mit dem Vertrag von Lissabon. 4. Blümel und die Daseinsvorsorge Dass Blümel sich in der Lehre mit der Daseinsvorsorge beschäftigte, kann ich als Zeitzeuge bestätigen. Im Wintersemester 1967/68 hörte ich in der Heuscheuer der Universität Heidelberg Verwaltungsrecht II bei einem Privatdozenten Willi Blümel. Er behan5
Willi Blümel, Beiträge zum Planungsrecht: 1959 – 2000, hrsg. von K. Grupp / M. Ronellenfitsch, 2004. 6 Vgl. Michael Ronellenfitsch, Die Planfeststellung bei Verkehrsvorhaben, in: Festschrift für Püttner, 2006, S. 75 ff. 7 Willi Blümel, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Republik Zypern, in: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Bd. 36 (1962), S. 643 ff. 8 Willi Blümel, Europa-Archiv 1955, S. 7263 ff.
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delte zunächst die Verwaltungsgliederung der Bundesrepublik und ging dann auf die Handlungsformen der Verwaltung ein. Ich bin mir nicht sicher, ob er im Zusammenhang mit der Leistungsverwaltung die Daseinsvorsorge erwähnte. In den Speyerer Vorlesungen im „Allgemeinen Verwaltungsrecht“ hat er das mit Gewissheit getan. Schon von daher stellt sich die Frage, ob man dem Werk Blümels mit einem Beitrag zur mit Forsthoff assoziierten Daseinsvorsorge gerecht wird, überhaupt nicht. Der Daseinsvorsorgeaspekt hat mittlerweile so weitgehend das Infrastruktur- und Planungsrecht 9 einschließlich der einschlägigen Nachbardisziplinen 10 durchdrungen, dass Blümel genau der richtige Adressat eines Beitrags über die Daseinsvorsorge ist.
II. Daseinsvorsorge 1. Rechtsbegriff Es geht in der Folge nicht um die Daseinsvorsorge des vergangenen Jahrhunderts, sondern um die moderne Daseinsvorsorge im planenden und intervenierenden Staat der Gegenwart. Behandelt wird die Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff, der häufig zitiert, aber selten „begriffen“ wird. 11 9 Vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 Gesetz zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften (GeROG) vom 22. 12. 2008 (BGBl. I S. 2986). 10 „Die Planung, Erstellung und Instandhaltung bestimmter Arten der Infrastruktur wird zum Teil als Aufgabe des Staates oder ihm assoziierter Organe (öffentlich-rechtliche Einrichtungen, öffentliche Unternehmen) im Rahmen der Daseinsvorsorge angesehen“ (Art. Infrastruktur in Wikipedia) in: http://de.wikipedia.org/wiki/Infrastruktur; Infrastruktur: „alle staatlichen und privaten Einrichtungen, die für eine ausreichende Daseinsvorsorge und wirtschaftliche Entwicklung als erforderlich gelten.“, Brockhaus, 2004; Silvia Uplegger, Gemeinwohlorientierte Daseinsvorsorge versus Binnenmarkt ohne Wettbewerbsverzerrung, Diskussionspapier der FG 1/2005/4.März 2005, SWP Berlin. 11 Peter Badura, Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand zur Gewährleistung von Daseinsvorsorge, in: J. Schwarze (Hrsg.), Daseinsvorsorge im Lichte des Wettbewerbsrechts, 2001, S. 25 ff.; Stefan Bauer, Die mitgliedstaatliche Finanzierung von Aufgaben der Daseinsvorsorge und das Beihilfeverbot des EG-Vertrages, 2007; Tanja Braum-Schleicher, Daseinsvorsorge und service public durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk: eine Analyse im Lichte der Dienstleistungsfreiheit und des europäischen Beihilfesystems, 2006; Sigrid Boysen / Mathias Neukirchen, Europäisches Beihilferecht und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, 2007; Siegfried Broß, Daseinsvorsorge – Wettbewerb – Gemeinschaftsrecht, JZ 2003, 874 ff.; Frauke Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Daseinsvorsorge, VerwArch 2007, 317 ff.; Martin Bullinger, Französischer service public und deutsche Daseinsvorsorge, JZ 2003, 597 ff.; Michael Frühmorgen, Daseinsvorsorge und Wettbewerb im Telekommunikationsrecht: Eine Untersuchung zu Kontinuität und Wandel staatlicher Verantwortung für Telekommunikation unter besonderer Berücksichtigung der TKG-Novelle 2004; Heinrich Ganseforth, Die Regelungen
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Ein Beispiel ist die Entscheidung des AG Mannheim vom 6. 6. 2008: 12 Zum Beförderungsverhältnis im Nahverkehr führt das Gericht aus: „Dieses Rechtsverhältnis ist privatrechtlicher Natur. Die Beklagte erfüllt als Beförderungsunternehmen zwar öffentliche Aufgaben der Verwaltung im Sinne der Daseinsvorsorge (Infrastruktur). Sie tritt dabei jedoch in der Rechtsform einer GmbH auf und bedient sich dadurch privatrechtlicher Mittel.“
Zum Schluss heißt es dann: des europäischen Binnenmarktes und die Zukunft der kommunalen Daseinsvorsorge im öffentlichen Personennahverkehr, Die Gemeinde 2007, 319 ff.; Stefan Griller / Michael Holoubek / Gabriel Obermann (Hrsg.) Daseinsvorsorge: Weniger Staat – mehr Markt, 2007; Johannes Hellermann, Örtliche Daseinsvorsorge und gemeindliche Selbstverwaltung, 2000; Jens Kersten, Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk von Ernst Forsthoff, Der Staat 44 (2005), 543 ff.; Matthias Knauff, Der Gewährleistungsstaat: Reform der Daseinsvorsorge, 2004; Christian Koenig, Daseinsvorsorge durch Wettbewerb, 2007; Markus Krajewski, Rechtsbegriff Daseinsvorsorge?, VerwArch. 2008, 174 ff.; Jürgen Kühling, Möglichkeiten und Grenzen effizienter Daseinsvorsorge durch externe Auftragsvergabe im Gemeinschaftsrecht, WiVerwR 2008, 239 ff.; Silke R. Laskowski, Kommunale Daseinsvorsorge vs. nachhaltige Abwasserentsorgung in Brandenburg, ZUR 2008, 527 ff.; Anika D. Luch / Sönke E. Schulz, Daseinsvorsorge – Neuorientierung des überkommenen (Rechts-) Begriffs „Daseinsvorsorge“ im Zuge technischer Entwicklungen, MMR 2009, 19 ff.; Markus Möstl, Renaissance und Rekonstruktion des Daseinsvorsorgebegriffs unter dem Europarecht, in: Festschrift für Badura zum 70. Geburtstag, 2004, S. 951 ff.; Saskia Nentwig, Kulturelle Daseinsvorsorge in Europa, 2008; Oliver Panetta, Daseinsvorsorge zwischen Beihilfe- und Vergaberecht: Eine Untersuchung anhand der neuesten Entwicklungen auf dem Wassermarkt unter besonderer Berücksichtigung der In-house-Rechtsprechung sowie der Altmark-Trans-Rechtsprechung des EuGH, 2006; Hans-Jürgen Papier, Kommunale Daseinsvorsorge im Spannungsfeld zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht, DVBl. 2003, 686 ff.; Johann-Christian Pielow, Grundstrukturen öffentlicher Versorgung, 2001, S. 353 ff.; Günter Püttner, Daseinsvorsorge und service public im Vergleich, in: H. Cox (Hrsg.), Daseinsvorsorge und öffentliche Dienstleistungen in der Europäischen Union, 2000, S. 45 ff.; ders., Die Aufwertung der Daseinsvorsorge in Europa, ZögU 2000, 373 ff.; ders., Das grundlegende Konzept der Daseinsvorsorge. Kommunale Daseinsvorsorge – Begriff, Geschichte, Inhalte, in: R. Hrbek / M. Nettesheim (Hrsg.), Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, 2002, S. 32 ff.; Roman Ringwald, Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff, 2007; Michael Ronellenfitsch, Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff, in: W. Blümel (Hrsg.), Ernst Forsthoff, 2003, S. 53 ff.; ders., Generelle Betrachtungen zur Daseinsvorsorge im Eisenbahnwesen in: ders. / R. Schweinsberg (Hrsg.) Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts, 2008, S. 9 ff; Wolfgang Rüfner, Daseinsvorsorge in Deutschland vor den Anforderungen der Europäischen Union, in: Schriften zum öffentlichen Recht. Bd. 1069, (2007), S. 423 ff.; Alexander Schink, Kommunale Daseinsvorsorge in Europa, DVBl. 2005, 861 ff.; Reiner Schmidt, Die Liberalisierung der Daseinsvorsorge, Der Staat 2003, 225 ff.; Stefan Storr, Zwischen überkommener Daseinsvorsorge und Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, DÖV 2002, 357 ff.; Felix Welti, Die kommunale Daseinsvorsorge und der Vertrag über eine Verfassung für Europa, AöR 130 (2005), 39 ff.; Johannes Winkel, Die Bedeutung der kommunalen Unternehmen für die Daseinsvorsorge und für die kommunalen Haushalte, NWVBl 2008, 285 ff. 12 AG Mannheim, Urteil vom 6. 6. 2008, – 10 C 34/08 –, NJW 2008, 3442.
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„Die Grundrechte betreffen das Verhältnis zwischen Bürger und öffentlicher Gewalt, nicht aber das Verhältnis zwischen Privatrechtssubjekten untereinander. Eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte kommt grundsätzlich nicht in Betracht.“
Die Prämisse stimmt: „Daseinsvorsorge“ ist ein Rechtsbegriff. In diesem Sinne wurde sie von Forsthoff entwickelt. Wenn Forsthoff dabei nicht mit letzter Konsequenz vorging, erklärt sich das daraus, dass es um die sich immer neu stellende Frage geht, wer am besten das Gemeinwohl garantiert, also um die Frage der Staatslegitimation. Gleichwohl ist es völlig unerheblich, ob Forsthoff den Ausdruck aus dem philosophischen oder staatstheoretischen Schrifttum etwa von Lorenz von Stein 13 übernommen hat. „Daseinsvorsorge“ ist heute ein Rechtsbegriff, weil der Ausdruck in die Gesetzsprache und Rechtsprechung eingegangen ist. Zumeist wird gleichwohl die rechtliche Relevanz bestritten. Bei Maurer heißt es etwa: „Inzwischen ist die ‚Daseinsvorsorge‘ zum Allgemeingut geworden, zugleich aber auch sowohl hinsichtlich seines inhaltlichen Umfangs als auch hinsichtlich seiner juristischen Relevanz umstritten. Nach ganz überwiegender Ansicht handelt es sich nicht um einen Rechtsbegriff, aus dem sich bestimmte Rechtfolgen, etwa Leistungsansprüche der Bürger ableiten ließen. Vielmehr geht es um die Benennung einer wesentlichen Aufgabe des Staates im sozialen Rechtsstaat, zunächst der Verwaltung, die die entsprechende Leistung zu erbringen hat, aber auch des Gesetzgebers, der entsprechende Regelungen zu erlassen hat. Rechtliche Bedeutung erlangt die Daseinsvorsorge dadurch, dass sie verschiedentlich als Tatbestandsmerkmal gesetzlicher Regelungen auftaucht ..., auch in der Rechtsprechung in Bezug genommen wird ... und europarechtlich unter der Bezeichnung ‚Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse‘ auftaucht.“ 14
Die Folgerungen, die aus dem Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge gezogen werden, greifen zu kurz. Der Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge hat vielmehr die Struktur eines Rechtssatzes. Ein Rechtssatz formuliert Tatbestand und Rechtsfolge einer Norm. Der Tatbestand besteht in der Regel in der abstrakten Definition eines Lebenssachverhalts. Die Daseinsvorsorge lässt sich nicht definieren, sondern nur durch Beschreibung an Hand von Beispielen veranschaulichen. Bei der Daseinsvorsorge fallen – ähnlich wie beim Verwaltungsbegriff – Beschreibung des Daseinsvorsorgegegenstandes und Begriff im Tatbestand zusammen. Abstrakt bezieht sich der Begriff der Daseinsvorsorge auf im allgemeinen Interesse liegende Aufgaben. Welche Aufgaben das im Einzelnen sind, lässt sich nicht ein für allemal festlegen, weil es keinen abschließenden Katalog der öffentlichen Aufgaben gibt. Generell sollte aber feststehen, dass es für den Alltag in einem zivilisierten Verfassungsstaat unverzichtbare und damit staatlich zu garantieren13 In diesem Sinn auch Georg-Christoph von Unruh, Daseinsvorsorge, DÖV 2005, 779 ff. (780). 14 Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl., 2009, § 1, Rn. 16.
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de Leistungen geben muss, Leistungen, für die ein Versorgungsbedürfnis der Allgemeinheit besteht. Das Versorgungsbedürfnis der Bevölkerung richtet sich nach dem allgemeinen Lebensstandard. Das gilt für den Gegenstand der Vorsorge wie auch für die qualitativen Anforderungen an ihre Erfüllung. Die Unbestimmtheit, die immer wieder dem Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge entgegengehalten wird, bedeutet gerade seine Stärke, nämlich seine Entwicklungsoffenheit. Diese Offenheit veranlasste Forsthoff, seine Beschreibung der Daseinsvorsorge mehrfach zu modifizieren. Ging er ursprünglich von lebensnotwenigen Leistungen aus, so ließ er diese Beschränkungen in der ersten Auflage des Lehrbuchs des Verwaltungsrechts (1950) fallen. „Alles, was von Seiten der Verwaltung geschieht, um die Allgemeinheit oder nach objektiven Merkmalen bestimmte Personenkreise in den Genuss nützlicher Leistungen zu versetzen, ist Daseinsvorsorge.“ 15
2. Rechtsfolgen Ähnlich vage blieb Forsthoff freilich auch bei den Rechtsfolgen. Der Begriff der Daseinsvorsorge solle dazu dienen, in den leistenden Funktionen des modernen Staates, soweit er nicht rein fiskalisch handle, ein öffentlichrechtliches Element aufzuweisen und damit zugleich das Grundverhältnis des einzelnen zum Staat den Gegebenheiten entsprechend neu zu bestimmen. 16 Dabei habe der Begriff der Daseinsvorsorge eine unabweisliche Konsequenz: Sei die leistende Verwaltung im Rahmen der Daseinsvorsorge in einem jeweils zu ermittelnden Umfang dem öffentlichen Recht unterstellt, so sei sie damit zugleich den für den Wettbewerb geltenden Rechtsregeln insoweit entzogen. 17 Die wettbewerbseliminierende Funktion der Daseinsvorsorge betonte auch Hans Hugo Klein: 18 „Wo dagegen die gleichen Leistungen in Konkurrenz zur privaten Wirtschaft erbracht werden, kann von Daseinsvorsorge nicht die Rede sein.“
Diese Rechtsfolge entspricht nicht mehr den Bedingungen der Gegenwart. Die Daseinsvorsorge schließt die Einbeziehung Privater in die staatliche Aufgabenerfüllung nicht aus. Die Daseinsvorsorge ist, was noch zu zeigen sein wird, essenzielle staatliche Aufgabe. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Staat diese Aufgabe selbst erfüllen müsste. Ein Gutteil der Daseinssicherung kann ebenso (oder besser) durch Private erfolgen. Der Staat muss hier lediglich durch Intervention oder auf sonstige Weise gewährleisten, dass die Daseinssicherung 15 Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 2. Aufl. 1951, S. 279 f.; 10. Auflage 1973, S. 370. 16 Ernst Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 9. 17 Ebd., S. 11. 18 Hans Hugo Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1968, S. 18.
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erfolgt. Von wem die Leistung erbracht wird, spielt keine Rolle. Auch das Wie, d. h. in welcher Rechtsform die Aufgaben der Daseinsvorsorge wahrgenommen werden, ist nachrangig. Wie Daseinsvorsorge im Wettbewerb möglich ist, kommt eine Daseinsvorsorge durch Wettbewerb in Betracht. Auch im Wettbewerb darf der Staat die Leistungsaufgaben der Daseinsvorsorge nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Bedient sich der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben oder zur eigenen Betätigung der Formen und Regelungen des Privatrechts, bleibt er an das Gemeinwohl gebunden. Daseinsvorsorge bedeutet, dass selbst beim Handeln in Privatrechtsform öffentlich-rechtliche Grundsätze gelten. Die Gemeinwohlbindung geht den privaten Interessen vor. Es kommt zulasten der Privatautonomie zu einer Entprivatisierung des Privatrechts. Die Grundrechte gelten unmittelbar. 3. Anwendungsbereiche
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Erfasst werden Bereiche der Versorgungswirtschaft (Ver- und Entsorgung), des Verkehrswesens (Infrastruktur, Verkehrswirtschaft), des Rundfunks („Grundversorgung“), der Telekommunikation („Universaldienste“) und des Kreditwesens ferner Bildungs-, Sozial-, Gesundheits-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen.
Träger der öffentlichen Wasserversorgung sind grundsätzlich die Gemeinden, die zu diesem Zweck Eigenbetriebe führen. Sie können sich bei der Erfüllung dieser Aufgabe privater Dritter bedienen. Gleichwohl bleibt die öffentliche Wasserversorgung eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. 19 Die Wettbewerbsöffnung der Strom- und Gasmärkte 20 durch den erzwungenen Zugang zu den vorhandenen Energieversorgungsleitungen (Durchleitung) dient unter Daseinsvorsorgeaspekten in erster Linie der Versorgung der Endverbraucher. 21 Bei der Netzeinspeisung geht es weniger um die Gewinnmaximierung der Strom- und Gaslieferanten als um die Versorgung der Bevölkerung. Die Daseinsvorsorgeaufgabe ist eindeutig in § 1 EnWG umschrieben, der als Gesetzeszweck eine möglichst sichere, preisgünstige und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung mit Elektrizität und Gas im Interesse der Allgemeinheit bestimmt. Priorität genießt die 19 BVerfG Urteil vom 7. 6. 1977 – 1 BvR 108, 424/73 und 226/4 –, BVerfGE 45, 63, 78; BGH Urteil vom 25. 2. 1975 – III ZR 12/83 –, BGHZ 91, 84, 86; OLG Frankfurt Urteil vom 16. 2. 1994 – 7 U 10/93 –, NJW-RR 1994, 1041. 20 BGH Urteil vom 19. 11. 2008 – VIII ZR 138/07 –, BeckRS 2008 25620 Nr. 8 (Gasversorgung) BeckRS 2008 40032; BVerfG Kammerbeschluss vom 10. 9. 2008 – 1 BvR 1914/02 –, (Elektrizitätsversorgung). 21 Vgl. auch Michael Ronellenfitsch, in: K. Asada / H.-D. Assmann u. a. (Hrsg.), Das Recht vor den Herausforderungen neuer Technologien, 2006, S. 91 ff., 95 ff.
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Versorgungssicherheit. Diese wiederum wurde vom Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf die Daseinsvorsorge als öffentliche Aufgabe von größter Bedeutung qualifiziert, als „Leistung, deren der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedarf“. 22 Mit der Versorgungssicherheit ist es im Hinblick auf die Daseinsvorsorgeaufgabe nicht getan. Die Versorgungsleistungen müssen auch für die Allgemeinheit erschwinglich sein. Daher haben die Versorgungsunternehmen als Unternehmen der Daseinsvorsorge hinsichtlich der allgemeinen Versorgung der Letztverbraucher ihre Tarife im Rahmen der von § 11 EnWG vorgegebenen allgemeinen Tarife und Versorgungsbedingungen zu bestimmen. Die Tarife der Elektrizitätsversorgung unterliegen der Preiskontrolle. Die Abwasserbeseitigung obliegt ebenfalls den Gemeinden, in denen das Abwasser anfällt, soweit sie nicht auf andere Körperschaften des öffentlichen Rechts übertragen ist (§ 52 Abs. 1 HWG). Die Beseitigungspflichtigen können sich zur Erfüllung ihrer Aufgaben Dritter bedienen. Auch insoweit handelt es sich um eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. 23 Dabei steht es im Ermessen der öffentlichen Hand, die Abwasserbeseitigung entweder mit den Gestaltungsmitteln des öffentlichen Rechts oder in den Formen des Privatrechts zu betreiben. 24 Die auch von Privaten betriebene Abwasserentsorgung ist Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Spätestens seit Inkrafttreten des AbfG vom 7. 6. 1972 (BGBl I S. 873) gilt die Abfallentsorgung als eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. 25 Durch § 13 Abs. 1 Satz 1 KrW- / AbfG wurde der Rechtsbegriff des „Abfalls aus privaten Haushaltungen“ geschaffen, der dazu dient, den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge von dem durch das Verursacherprinzip geprägten Bereich der Entsorgung von Abfällen aus Industrie, Gewerbe und Verwaltungen abzugrenzen. 26 Eine originäre staatliche Aufgabe ist es, die für das Funktionieren der Industriegesellschaft unentbehrliche Verkehrsinfrastruktur zu gewährleisten. Das gilt grundsätzlich für alle Verkehrswege. Auch der Luftverkehr fällt im Zeitalter des Massentourismus unter die Daseinsvorsorge, was bei der Errichtung und dem Betrieb von Verkehrsflughäfen zu berücksichtigen ist. 27 Die Bahnreform hat den Daseinsvorsorgeauftrag der Eisenbahnen des Bundes und der Länder nicht beseitigt. 28 Jedenfalls der Personenfernverkehr der 22
BVerfG Beschluss vom 20. 3. 1984 – 1 BvL 28/82 –, BVerfGE 66, 248, 258. BGH Urteil vom 27. 1. 1994 – III ZR 158/91 –, BGHZ 125, 19, 22 f.; Silke R. Laskowski (Anm. 11), 527 ff. 24 BGH Urteil vom 30. 6. 1998 – III ZB 34/97 –, BGHR GVG § 13 Abwasserbeseitigung 1. 25 BVerwG Urteil vom 9. 3. 1990 – 7 C 21.89 –, BVerwGE 85, 44, 47. 26 Vgl. auch VG Freiburg Urteil vom 23. 7. 1998 – 3 K 1217/97 –, Städte- und Gemeinderat 1999, 37. 27 OLG Frankfurt Urteil vom 30. 8. 1996 – 1 HEs 196/96 –, NStZ 1997, 200; LG Frankfurt Urteil vom 13. 5. 1996 – 5/12 Qs 14/56 –, NStZ-RR 1996, 259; ferner BVerwG Urteil vom 7. 7. 1978 – 4 C 79.76 u. a. –, BVerwGE 56, 119. 28 Ronellenfitsch, in: Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts (Anm. 11), 2008, S. 9 ff. 23
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Eisenbahnen 29 der SPNV und ÖPNV sind für die Verwirklichung des Mobilitätsgrundrechts bzw. der Mobilitätsgrundrechte unverzichtbar. Mit der staatlichen Gewährleistung des Eisenbahnpersonenverkehrs, des ÖPNV 30 und des Taxiverkehrs bestätigte der Gesetzgeber einen im Sozial- und Rechtsstaatsprinzip und der Grundrechteordnung implizit enthaltenen Verfassungsauftrag. Das rechtfertigt es, diese Verkehrssektoren dem Bereich der Daseinsvorsorge zuzuordnen. Im Rundfunk bedeutet Daseinsvorsorge Grundversorgung. 31 Wie bei der Daseinsvorsorge ist die Beschränkung auf existenznotwendige Leistungen im Lauf der Zeit entfallen. Aus der Grundversorgung im Sinne einer Minimalgarantie wurde der Funktionsauftrag des Rundfunks, dem sowohl der Anstaltsrundfunk wie auch in geringerem Ausmaß die privaten Rundfunkveranstalter unterworfen sind. Das Post- und Fernmeldewesen galt schon immer als eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. Es ist damit eine öffentliche Aufgabe des Staates. Daran hat sich durch die jüngeren Entwicklungen auf dem Telekommunikationssektor nichts geändert; 32 die Ermöglichung der Telekommunikation entspricht nicht nur einem Grundbedürfnis des modernen Menschen, sondern ist Voraussetzung für den Gebrauch der Kommunikationsgrundrechte („Universaldienste“). Das schließt eine Privatisierung der Telekommunikationsdienstleistungen nicht aus. Nach Art. 87 f. GG werden Dienstleistungen im Bereich des Postwesen und der Telekommunikation als privatwirtschaftliche Tätigkeiten geführt, wobei jedoch den Bund eine Gewährleistungspflicht für eine angemessene und ausreichende flächendeckende Versorgung trifft. Wann die Versorgung flächendeckend angemessen und ausreichend ist, lässt sich nur unter Zugrundelegung eines Rechtsbegriffs der Daseinsvorsorge ermitteln, der bereichsspezifisch durch das TKG konkretisiert wird. Der öffentlich-rechtliche Bankensektor wird ebenfalls durch Daseinsvorsorgeaufgaben legitimiert. 33 Die originären staatlichen Daseinsvorsorgeaufgaben reichen vorerst für eine Existenzgarantie der Öffentlichen Banken aus, solange sich die Sparkassen nicht verstärkt aus der Fläche zurückziehen. Weitere Anwendungsfelder der Daseinsvorsorge sind Bildungs-, Sozial-, Gesundheits- 34, Kulturund Freizeiteinrichtungen.
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BGH Urteil vom 21. 11. 1996 – V ZB 19/96 –, NJW 1997, 744. Knauff (Anm. 11), S. 293 ff.; BVerwG Urteil vom 19. 10. 2006 – 3 C 33.05 –, DÖV 2007, 299. 31 So Günter Herrmann, Fernsehen und Hörfunk in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 322, 332 f., 346, 378. 32 BGH Urteil vom 26. 3. 1997 – III ZR 307/95 –, NJW 1997, 1985; Frühmorgen (Anm. 11). 33 BVerfG Urteil vom 14. 4. 1987 – 1 BvR 775/84 –, BVerfGE 75, 192,199 f.; Kammerbeschluss vom 23. 9. 1994 – 2 BvR 1547/85 –, NVwZ 1995, 370; BGH Urteil vom 11. 12. 1990 – XI ZR 54/90 –, NJW 1991, 978. 34 Zur Notfallrettung Steffen Johann Iwers, Die Novelle des brandenburgischen Rettungsdienstgesetzes 2008, LKV 2008, 536 ff. 30
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III. Service d’intérêt général 1. Rechtbegriff Der deutschen Daseinvorsorge korrespondieren auf Gemeinschaftsebene die „Dienste von allgemeinem Interesse“. Schon übersetzungsbedingt bestehen hier Missverständnisse. Deswegen wird vorliegend die französische europäische Amtssprache gebraucht, da für die europäische Terminologie der französische „service public“ Pate stand. Maßgeblich ist indessen nicht der „service public à la française“, sondern der „service public à l’européenne“. a) Service Public In Frankreich entstand bei der Suche nach einem Kriterium für das Verwaltungsrecht die Rechtsfigur des „service public“. 35 Unterlagen ursprünglich nur Hoheitsakte 36 den verwaltungsrechtlichen Grundsätzen, stellte das Konfliktgericht (Tribunal des conflits) im „arrêt Blanco“ vom 8. 2. 1873 37 allein darauf ab, dass der service public gehandelt hatte. 38 Der Conseil d’Etat folgte dem anfänglich, erkannte aber schon in den 1930er Jahren industrielle und wirtschaftliche services publics an, die privatrechtlich handelten. 39 In der Sache lief das auf die Wiederbelebung des ius publicum im Privatrecht der Napoleonischen Zeit hinaus. 40 Der Begriff des service public umfasste nunmehr die services publics administratives (SPA) und die services publics industriels et commerciaux (SPIC). Der service public fiel damit für die automatische Zuordnung des Verwaltungsrechts aus. Auch in Frankreich konnte der Anwendungsbereich des Verwaltungsrechts nur bestimmt werden, indem man auf den Begriff der service public im materiellen Sinn abstellte und die verfassungsrechtliche Zuordnung
35 Joël Carbajo, Droit des services publics, 3. Aufl., 1997; Alain-Serge Mescheriakoff, Droit des services publics, 2. Aufl., 1997; Jean-Paul Valette, Le service public à la française, 2000; ders., Droit des services publics, 2006; Gilles J. Guglielmi / Geneviève Koubi / Gilles Dumont, Le service public, Droit du service public, 2007; Gaston Jèze, Les principes généraux du droit administratif, tome 2: La notion de service public, les individus au service public, le statut des agents publics, 2003; Stéphane Braconnier / Catherine Labrousse-Riou / Didier Truchet, Droit des services publics, 2007. 36 Actes de puissance publique. 37 Recueil des arrêts du Conseil d’Etat, 1. suppl. t 61. 38 Vgl. Jean Rivero, Droit administratif, 1973, S. 156 f. 39 Nachweise bei Charles Debbasch, Droit Administratif, 6. Aufl., 2002, S. 407. 40 Vgl. Otto Mayer, Theorie des französischen Verwaltungsrecht, 1886, S. 222 f. Bei Charles Demolombe, Cours de code Napoléon, 1869, Bd. 1 n.17 findet sich die Aussage: „le droit public (als Teil des Privatrechts) n’est celui, qui directement ou indirectement a pour but l’intérêt général, l’intérêt public.“
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der vollziehenden Gewalt zu den anderen Staatsgewalten berücksichtigte. 41 Korrespondierende Begriffe zu SPA und SPIC sind auf Gemeinschaftsebene der service d’intérêt général (SIG) und der service d’intérêt économique général (SIEG). b) L’intérêt général Die Verbindung beider Begriffsfelder stellt das „Allgemeine Interesse“ dar, das eine Sonderbehandlung erfordert und insbesondere Abweichungen von den Maximen des Wettbewerbs und der Privatautonomie „legitimiert“. „L’intérêt général“, das allgemeine Interesse, ist seit zwei Jahrhunderten Eckstein des französischen Verwaltungsrechts. Es bestimmt Zweck und Legitimität des Staatshandelns. „L’intérêt général“ hat schrittweise den Begriff des „bonum commune“ ersetzt und das Staatshandeln von philosophischen und religiösen Vorgaben weitgehend befreit. Schrankenlos ist der Begriff gleichwohl nicht. Zwar wurde er auf der Grundlage der herrschenden voluntaristischen Konzeption aus in die Nähe der „volonté générale“ gerückt, was praktisch auf die reine Dominanz des Mehrheitswillens hinauslief („L’intérêt général c’est que les autorités légitimes, démocratiques décident de qualifier comme tel.“). Da das zu einer demokratischen Willkürherrschaft führen kann, sahen viele Franzosen ihre individuellen Freiheitsrechte gefährdet und reaktivierten utilitaristische Ansichten aus dem 18. Jahrhundert, wonach die Summe der konkurrierenden Sonderinteressen das allgemeine Interesse ausmacht. Die Vermittlung beider Konzeptionen wurde zur Aufgabe der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Wie aus dem Rapport public 1999: Réflexions sur l’intérêt général 1999 des Conseil d’Etat 42 hervorgeht, geschah das in der Weise, dass der Schutz des ranghöheren allgemeinen Interesses vor mehrheitlichen Willkürentscheidungen den Gerichten anvertraut wurde. Die Definitionsmacht des Gemeinwohls oblag insoweit den Gerichten. Der Conseil d’Etat übt diese Macht zurückhaltend aus: Service public sei bereits zulässig «à assurer la continuité du service public et l‘égalité des usagers devant le service public». 43 Schon diese Schwächung der Staatsgewalt stieß vielfach auf Kritik, die sich mit der Liberalismuskritik verband und eine Missachtung der „cohésion sociale“ rügte. Die inhaltliche Bestimmung der Allgemeininteressen reduzierte sich in diesem Zusammenhang auf vage Floskeln (persönliche Sicherheit, Schutz vor Lebensrisiken, gleicher Zugang zu Bildungsund Kultureinrichtungen, ökologisches Gleichgewicht). Das war auch folgerichtig. Hauptanliegen der Voluntaristen ist die ausschließlich demokratische, sprich: 41 Vgl. für die Vierte Republik Georges Vedel, Les bases constitutionnelles du droit administratif, in: Conseil d’Etat. Etudes et Documents 8 (1954), 21 –53. 42 http://www.conseil-etat.fr/cde/node.php?articleid=430. 43 Conseil d’Etat, Avis n° 364.803 vom 8. 6. 2000. Zum kommerziellen Charakter einer privatfinanzierten Autobahn, Avis n° 366.305 vom 16. 5. 2002.
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wertfreie Bestimmung des allgemeinen Interesses. Gefordert wird eine unbegrenzte, demokratisch legitimierte staatliche Definitionsmacht der allgemeinen Interessen verbunden mit einem ebenso unbegrenzten Zugriffsrecht des service public. 44 Bei einem derartig weiten Verständnis musste den europäischen Hütern der Marktwirtschaft das Grausen kommen. c) Historische Entwicklung Die services d’intérêt général wurden zunächst mit negativer Stoßrichtung, als rechtfertigungsbedürftige Einschränkung der Wettbewerbs- und Dienstleistungsfreiheit entwickelt. Die wirtschaftlichen Belange standen dabei im Vordergrund. Zwar stellte bereits Art. 90 EGV (Art. 86 EG) die „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ der Ausrichtung der Europäischen Gemeinschaft auf eine wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft entgegen. Diese Dienstleistungen wurden aber als Fremdkörper im europäischen Binnenmarkt betrachtet. Allmählich gelang es dennoch, ihnen einen positiven Gehalt abzugewinnen. Seit 1993 bemühte sich insbesondere das Europäische Parlament, die Stellung der unmittelbar dem Gemeinwohl verpflichteten Unternehmen aufzuwerten. Diese Bemühungen führten zur Einfügung von Art. 16 in den Europäischen Gemeinschaftsvertrag. Die „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ (SIEG) wurden für den deutschen Sprachraum als „Dienste der Daseinsvorsorge“ bezeichnet. 45 Der Ausdruck „Daseinsvorsorge“ stammt vom deutschen Sprachendienst der EU, der diese Übersetzung für die (erste) Mitteilung der Europäischen Kommission „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“ vom September 1996 46 verwendete. Eine gegenständliche Beschreibung dieser Leistungen war damit nicht bezweckt. Die „Leistungen der Daseinsvorsorge“ dienten als Oberbegriff für „marktbezogene und nichtmarktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Behörden mit spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft werden“. Gemeinschaftsrechtlich diente der Begriff der Daseinsvorsorge allein der Zuordnung marktbezogener Leistungen, die eine Sonderbehandlung erfordern. Die Neuformulierung der Mitteilung vom 20. September 2000 47 wollte expressis verbis hieran nichts ändern. Sie sollte nur der Aktualisierung dienen. 48 Formal trifft das zu. 49 In der 44
Vgl. auch Bruno Denis, L’intérêt général à l‘épreuve du pluralisme, 2008. Vgl. nur Rudolf Geiger, EUV / EGV, 3. Aufl., 2000, Art. 16, Überschrift. 46 „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“ (ABl. C 281 vom 26. 9. 1996, S. 3.). 47 KOM (2000) 580 endg. (ABl. C 17 vom 19. 01. 2001, S. 4, Anh. I). Hierzu Jörg Ennuschat, Die neue Mitteilung der EU-Kommission zu den „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“, RdE 2001, 46 ff. 48 Ebd., Tz. 1. 49 Im Rahmen der Begriffsbestimmungen (Anhang II) wurden die „Leistungen der Daseinvorsorge“ wie zuvor umschrieben. Statt die „Dienste von allgemeinem wirtschaft45
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Sache verfolgte die Kommission jedoch die erklärte Absicht, den Wettbewerbsgedanken bei Daseinsvorsorgeleistungen zu verstärken. 50 Damit war eine neue Runde im Grabenkrieg um die Behandlung der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse durch die EU eingeleitet. Insbesondere war umstritten, ob insoweit ein rechtlicher Gesamtrahmen auf Gemeinschaftsebene geschaffen werden solle. Die Kommission brachte ihre Position noch einmal in dem Bericht für den Europäischen Rat in Laeken „Leistungen der Daseinsvorsorge“ 51 zum Ausdruck. Auf der Grundlage des Grünbuchs zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vom 12. Mai 2003 52 führte die Kommission eine umfangreiche Konsultation der Öffentlichkeit durch. Die zentrale Frage ging dahin, „welche Rolle in einer Marktwirtschaft staatlichen Stellen zukommt, da sie einerseits das reibungslose Funktionieren des Marktes und die Einhaltung der Spielregeln durch alle Akteure sicherstellen und andererseits das öffentliche Interesse gewährleisten, insbesondere die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bürger und Erhaltung von Kollektivgütern in Fällen, in denen der Markt dazu nicht in der Lage ist.“
Das Europäische Parlament begrüßte die Initiative der Kommission und forderte diese auf, ein Folgedokument vorzulegen. 53 Die Kommission kam der Forderung durch Vorlage des Weißbuchs zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vom 12. Mai 2004 54 nach, das als Fortsetzung des Grünbuchs die Schlussfolgerung aus den bisherigen Anhörungen zog. Die Kommission betonte die „essenzielle Rolle der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, behauptete dann aber schlankweg: „Ein offener, wettbewerbsfähiger Binnenmarkt und die Entwicklung allgemein zugänglicher, hochwertiger Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu erschwinglichen Preisen sind miteinander vereinbare Ziele.“
lichen Interesse“ des neuen Art. 16 EG zu definieren, wurde sogar die Definition des in Art. 86 EG verwendeten Begriffs der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ übernommen. Der Begriff Dienste dürfte weiter sein als der der Dienstleistungen. Die englischen und französischen Vertragstexte verwenden allerdings einheitlich den Ausdruck „services“. 50 Die Kommission argumentierte, seit 1996 hätten aus ihrer Sicht Erfahrungen in Daseinsvorsorgebereichen, die dem Wettbewerb geöffnet worden seien, gezeigt, dass Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, Binnenmarkt und gemeinschaftliche Wettbewerbspolitik einander ergänzen (Tz 3). Diese Argumentation weist tautologische Züge auf: Wo Binnenmarkt eröffnet werden soll, handelt es sich um Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse. Wo Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbracht werden, müssen die Einschränkungen der Wirtschaftsfreiheiten restriktiv gehandhabt werden. 51 KOM (2001) 598 endg. 52 KOM (2003) 270 endg. 53 Entschließung vom 13.1 2004 – A5 – 0484/2003. 54 KOM (2004) 374 endg.
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Die Ambitionen des gescheiterten Verfassungsvertrags, Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse durch Europäische Gesetze zu regeln, wandelte sich bei der Kommission in die Forderung auf Erlass einer vergleichbaren Rahmenrichtlinie um. Einen konkreten Vorschlag hielt die Kommission jedoch nicht für opportun. Dies aus gutem Grund. In der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. September 2006 55 sprach sich dieses gegen einen horizontalen legislativen Rahmen aus, da sich Dienstleistungen von allgemeinem Interesse nicht einheitlich definieren ließen. Der immer noch in der Schwebe befindliche Vertrag von Lissabon befasst sich eingehend mit den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse. Art. 14 AEUV lautet: „Unbeschadet des Artikels 4 des Vertrags über die Europäische Union und der Artikel 93, 106 und 107 dieses Vertrags und in Anbetracht des Stellenwerts, den Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse innerhalb der gemeinsamen Werte der Union einnehmen, sowie ihrer Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts tragen die Union und die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse im Anwendungsbereich der Verträge dafür Sorge, dass die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können. Diese Grundsätze und Bedingungen werden vom Europäischen Parlament und vom Rat durch Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren festgelegt, unbeschadet der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, diese Dienste im Einklang mit den Verträgen zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu finanzieren.“
Ferner lautet das dem EUV und AEUV beigefügte Protokoll Nr. 26: 56 „Art. 1 Zu den gemeinsamen Werten der Union in Bezug auf Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne des Artikels 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zählen insbesondere: – die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden in der Frage, wie Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse auf eine den Bedürfnissen der Nutzer so gut wie möglich entsprechende Weise zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren sind; – die Vielfalt der jeweiligen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und die Unterschiede bei den Bedürfnissen und Präferenzen der Nutzer, die aus unterschiedlichen geografischen, sozialen oder kulturellen Gegebenheiten folgen können;
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A6 – 0275/2006. Protokoll (Nr. 26) über Dienste von allgemeinem Interesse (ABl. C 115 vom 9. 5. 2008, S. 308). 56
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– ein hohes Niveau in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung und Förderung des universellen Zugangs und der Nutzerrechte. Art. 2 Die Bestimmungen der Verträge berühren in keiner Weise die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren.“
Die Kommission hielt an ihrem Wettbewerbskonzept der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse fest und formulierte die Mitteilung „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unter Einschluss von Sozialdienstleistungen vom 20. November 2007“ 57 als Begleitdokument zu der Mitteilung „Ein Binnenmarkt für das Europa des 21. Jahrhunderts“. 58 Die Mitteilung lässt sich zunächst näher auf die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ein, konzentriert sich dann aber auf das Handlungsspektrum der EU. Eine pauschale Antwort zur Abgrenzung von wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Dienstleistungen gebe es nicht, so dass im Einzelfall eine Entscheidung zu treffen sei durch die Organe der EU. Damit eine bestimmte Tätigkeit als wirtschaftliche Tätigkeit eingestuft werde, müsse sie gegen Entgelt erbracht werden. Das Entgelt müsse jedoch nicht unbedingt von den Nutzern der Tätigkeit aufgewendet werden. Damit seien die überwiegende Mehrheit der Dienstleistungen „wirtschaftliche Tätigkeiten“, auf die EU-Recht Anwendung findet. Erfasst werden namentlich Sozialdienstleistungen. 2. Rechtsfolgen Die Rechtsfolgen des Vorliegens von Diensten bzw. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (SIEG) sind ebenfalls recht vage. Nach Art. 16 EG haben die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Befugnisse dafür Sorge zu tragen, dass die Funktionsfähigkeit der Leistungserbringung gewährleistet ist. Nach Art. 86 Abs. 2 EG gelten für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind die Vorschriften des EG nur, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben verhindert. Der Vertrag von Lissabon bringt insoweit keine inhaltliche Änderung. In dem Umfang, in dem die Binnenmarkt- und Wettbewerbsvorschriften des EU-Rechts die Erfüllung der zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zählenden Aufgaben beeinträchtigt, treten diese Vorschriften zurück. Die Reichweite der Ausnahme wird letztlich im Wege der Abwägung bestimmt. 57 58
KOM (2007) 725 endg. KOM (2007) 724 endg.
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Aus Art. 16 EG bzw. Art. 14 AEUV folgt im Zweifel der Vorrang der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Dieser Vorrang muss aber vom EuGH oder den Organen der EU eingeräumt werden. Die EU bestimmt folglich über Anwendungsbereich, Reichweite und Geltungskraft der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, auch wenn der EuGH den Mitgliedstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum einräumt. 59 3. Anwendungsbereiche Der Anwendungsbereich der SIG wird in der Mitteilung vom 20. November 2007 wie folgt beschrieben: „Mit dem Protokoll wird erstmals der Begriff der Dienste von allgemeinen Interesse in das primäre EU-Recht eingeführt; gegenwärtig ist im EG-Vertrag lediglich von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse die Rede. Um die derzeitige EU-Regelung zu veranschaulichen, lassen sich zwei Kategorien von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unterscheiden: – Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse: Ihre Erbringung unterliegt den Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags, da die damit verbundenen Tätigkeiten wirtschaftlicher Natur sind. Große netzgebundene Wirtschaftszweige mit eindeutig europaweiter Bedeutung wie Telekommunikations-, Strom-, Gas-, Verkehrs- und Postdienste unterliegen besonderen EU-Regelungen. Auch bestimmte Aspekte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind EU-weit geregelt, etwa durch die Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“. Für andere Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, beispielsweise im Bereich der Abfallwirtschaft, der Wasserversorgung oder der Abwasserbehandlung, gibt es keine spezielle EU-Regelung. Dafür sind auf bestimmte Teilaspekte der Dienstleistung andere Gemeinschaftsvorschriften anwendbar, etwa die Vorschriften über das öffentliche Auftragswesen und die Umwelt- und Verbraucherschutzvorschriften. Darüber hinaus unterliegt eine Reihe von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse den Vorschriften der Dienstleistungsrichtlinie. – Nichtwirtschaftliche Dienstleistungen: Diese Dienstleistungen, zu denen beispielsweise traditionell dem Staat vorbehaltene Bereiche wie Polizei, Justiz oder die gesetzliche Sozialversicherung gehören, unterliegen weder besonderen EU-Vorschriften noch finden auf sie die Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags Anwendung. Andere Vorschriften des EG-Vertrags wie etwa das Diskriminierungsverbot können jedoch bei bestimmten Aspekten der Dienstleistungserbringung durchaus greifen.“
59 Schlussanträge des Generalanwalts Léger in der Rs. Wolters u. a., C-309/99, EuGH Urteil vom 19. 2. 2002, Slg. 2002, I-1577, I-1583, Nr. 162; EuG Urteil vom 15. 6. 2005, Rs. T-17/02, Slg. 2005, II-2031, Rn. 216 (Olsen / Kommission).
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Der EuGH unterscheidet wie die Kommissionsmitteilungen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und Dienstleistungen ohne solche Interessen. Der EuGH hat als nicht-wirtschaftliche Dienstleistungen anerkannt die Bereiche der Polizei und Sicherheit, 60 des Bildungswesens, der von der Allgemeinheit finanzierten Sozialleistungen 61 und der technischen Normung. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse waren die marktbezogenen Daseinsvorsorgeleistungen, von denen die Bereiche der Telekommunikation, des Postwesens, 62 des Verkehrs, 63 der Energie- 64 und Elektrizitätsversorgung sowie Rundfunk 65 und Fernsehen 66 näher gewürdigt wurden. 4. Verhältnis zur Daseinsvorsorge Bereits der kursorische Überblick über die Entwicklung der SIG lässt Zweifel an der Gleichsetzung mit den Leistungen der Daseinvorsorge aufkommen. Bei der großen Schnittmenge der jeweiligen Anwendungsbereiche liegt die Gleichsetzung zunächst nahe. Hinzu kommt, dass es die EU-Organe bislang den Mitgliedstaaten weitgehend überlassen, die SIEG zu bestimmen. Die Mitgliedstaaten sind daher theoretisch in der Lage, die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse durch den nationalen Daseinsvorsorgebereich zu definieren. Die Dienstleistungen ohne wirtschaftlichen Charakter entziehen sich obendrein dem Zugriff der EU. Wenn diese nichtwirtschaftlichen Dienstleistungen Daseinsvorsorge darstellen, unterliegen sie der autonomen Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaten. Die Definitionshoheit der Mitgliedstaaten hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Daseinsvorsorge ist aber praktisch von geringem Gewicht: 60 Urteil vom 19. 1. 1994 – Rs. C-364/92 – Slg. 1994, I-43 (Sat Fluggesellschaft / Eurocontrol); zu Eurocontrol zuletzt Rs. C-113/07 P (SELEX Sistemi Integrati SpA / Kommission); Schlussanträge der Generalsanwältin Trsteniak vom 3. 7. 2008. 61 Urteil vom 11. 7. 2006 – Rs. C-205/03/P –, Slg. 2006, I-6297 (FENIN / Kommission). 62 EuG Urteil vom 1. 7. 2008 – Rs. T-266/02 – (Deutsche Post AG / Kommission). 63 EuGH Urteil vom 24. 6. 2003 – Rs. G. 280/00 –, Slg. 2003, I-7747 (Altmark Trans / Regierungspräsidium Magdeburg); hierzu: Andreas Lotze / Carsten Jennert, Herausforderung ÖPNV – Rechtsrahmen und strategische Handlungsoptionen der Kommunen nach der EuGH-Entscheidung Altmark Trans, ZKF 2004, 289 ff.; Jürgen Kühling / Lorenz Wachinger, Das Altmark Trans-Urteil des EuGH, NVwZ 2003, 1205 ff.; Michael Ronellenfitsch, Der ÖPNV im europäischen Binnenmarkt, VerwArch 2001, 131 ff. Zur aktuellen Situation Michael Fehling / Katja M. Niehnus, Der europäische Fahrplan für einen kontrollierten Ausschreibungswettbewerb im ÖPNV, DÖV 2008, 662 ff. 64 EuGH Urteil vom 27. 4. 1994 – Rs. C-393/92 –, Slg. 1994, I-1477 (Gemeinde Almelo u. a. / N.V. Energiebedrijf Ijsselmij); vom 23. 10. 1997, verb. Rs C-157-160/94 –, Slg. 1997, I-5815 (Electricité de France). 65 EuG Urteil vom 26. 6. 2008 – Rs. T-443/02 – (SIC / Kommission). Allgemein: Kai Thum, Das Grundrecht der Rundfunkfreiheit nach deutschem und europäischem Recht, DÖV 2008, 653 ff. (660 f.). 66 EuG Urteil vom 22. 10. 2008 – Rs. T-308/04 u. a. – (TV 2 / Dänemark).
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1. Die Abgrenzung von SIG und SIEG erfolgt kasuistisch auf EU-Ebene. Damit bestimmen EU-Organe über den Anwendungsbereich der Daseinsvorsorge insgesamt. 2. Das rechtliche Gewicht der Daseinsvorsorge und der SIEG zeigt sich bei der Rechtsfolge. Wird in Deutschland eine Leistung als Leistung der Daseinsvorsorge qualifiziert, ist die Rechtsfolge die unmittelbare Geltung öffentlichrechtlicher Bindungen. Auf EU-Ebene ist die Rechtsfolge des Vorliegens von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse die Ausnahme von den Binnenmarkt- und Wettbewerbsvorschriften. Die SIEG erfahren eine Sonderbehandlung, die nicht mit den öffentlich-rechtlichen Bindungen, denen die Leistungen der Daseinsvorsorge unterliegen, deckungsgleich ist. Die unterschiedliche Stoßrichtung der Rechtsbegriffe der Daseinsvorsorge und SIEG kann zu Kollisionen führen.
IV. Kollision des Daseinsvorsorgeauftrags mit Gemeinschaftsrecht 1. Problemstellung Die Belange der Daseinvorsorge beanspruchen eine Sonderbehandlung im europäischen Binnenmarkt- und Wettbewerbsrecht. Identifiziert man die SIEG mit den Leistungen der Daseinsvorsorge, schlägt die Sonderbehandlung der SIEG auch auf die Daseinsvorsorge durch. Das EU-Recht trägt dann zugleich der Daseinsvorsorge Rechnung. Eine Kollision des nationalen Daseinsvorsorgeauftrags mit Gemeinschaftsrecht scheidet dann von vornherein aus. Gegen den Auftrag wird allenfalls durch falsche Anwendung des Gemeinschaftsrechts verstoßen. Sind die SIEG und die Leistungen der Daseinsvorsorge nicht deckungsgleich, ist es möglich, dass die gemeinschaftsrechtlich korrekte Abwägung der Belange der SIEG den nationalen Daseinsvorsorgebelangen nicht gerecht wird. Wie vorstehend gezeigt wurde, ist letzteres der Fall. Nationale Daseinsvorsorge und Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse unterscheiden sich in Tatbestand und Rechtsfolge. Kollisionen von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht sind nicht in jedem Fall auszuschließen. 2. Kollisionsfälle Der nationale Daseinsvorsorgeauftrag kann unter folgenden Umständen mit EU-Recht kollidieren: 1. Tatbestandlich werden SIG, die zugleich nationale Daseinsvorsorge darstellen, als SIEG behandelt. Hier handelt es sich um eine Kompetenzüberschreitung der EU, die schon formell rechtwidrig ist.
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2. Die – sekundärrechtlich konkretisierten – Belange, die für eine Sonderbehandlung der SIEG sprechen, laufen mit den nationalen Daseinsvorsorgebelangen parallel, werden aber in der Abwägung zu gering gewichtet. Der Verstoß gegen (sekundäres) EU-Recht erfasst in aller Regel auch das nationale Recht. Kann die Verletzung des EU-Rechts vor den europäischen Gerichten angegriffen werden, kommt es nur dann zu Kollisionen, wenn deutsche und europäische Gerichte den Sachverhalt unterschiedlich rechtlich würdigen. Sollten die europäischen Gerichte den Verstoß gegen EU-Recht verneinen, könnten die nationalen Gerichte immer noch einen Verstoß gegen den nationalen Daseinsvorsorgeanspruch bejahen und dadurch ihrerseits gegen europäisches Binnenmarktoder Wettbewerbsrecht verstoßen. 3. Die sekundärrechtliche Konkretisierung der SIEG wird den Belangen der nationalen Daseinsvorsorge nicht gerecht. Das Sekundärrecht steht jedoch im Einklang mit Primärrecht bzw. die europäischen Gerichte verneinen einen Verstoß gegen Primärrecht. Wenn etwa die Bundesrepublik zum Erhalt privater Infrastruktur unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht intervenieren muss, hat dann die Wahrung der gemeinsamen Rechtsordnung Vorrang oder besteht die Möglichkeit zur Nullifikation? 3. Lösungsmodelle In Betracht kommen drei Lösungsmodelle: 1. Das EU-Recht setzt sich im Zweifel durch. 2. Die Daseinsvorsorge fällt insgesamt unter den nationalen Souveränitätsvorbehalt. 3. Es besteht ein Kooperationsverhältnis, bei dem SIEG und Daseinsvorsorge komplementär geschützt werden (Meistbegünstigung). Letztlich handelt es sich um eine Frage der Rangordnung der Rechtsordnungen und damit um eine Frage der Staatlichkeit in der EU.
V. Daseinsvorsorge im Interventionsstaat 1. Staatlichkeit und Daseinsvorsorge a) Bedeutung der Staatlichkeit Mit den Kriterien der Staatlichkeit lässt sich wieder rechtlich argumentieren. Das Gerede vom „Ende der Staatlichkeit“ 67 ist verstummt. Es betraf sowieso 67 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 2. Aufl., 1963, S. 10 (Vorwort). Demgegenüber sprechen Reinhold Zippelius / Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008 Rn. 46 von der „verfehlten These vom Ende der Staatlichkeit“.
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mehr den politikwissenschaftlichen und historischen Kontext. In der gegenwärtigen Finanzkrise ruft man selbst hier wieder nach dem Staat. Für den Staatsbegriff im Rechtssinn ist ohnehin allein ausschlaggebend, dass es Kriterien gibt, die rechtlich das Wesen der Staatlichkeit bestimmen. Der völkerrechtliche Staatsbegriff knüpft weiterhin an die souveräne Herrschaft an, die sich auf ein umgrenztes Gebiet und auf eine begrenzte Bevölkerung erstreckt. 68 Nach innen definiert sich der Staat durch seine Zwecke und die Möglichkeit, sie durchzusetzen. Die Staatszwecke werden durch Staatsaufgaben konkretisiert. Staatszwecke und Staatsaufgaben dienen ferner als Unterscheidungsmerkmale der Staatstypen. b) Bedeutung der Daseinsvorsorge Die Staaten der EU verstehen sich als Verfassungsstaaten. 69 Der Verfassungsstaat geht von der Rechtsposition des Einzelnen aus, in die der Staat nur ausnahmsweise beschränkend eingreifen darf. Es gilt, Freiheit und Eingriffsbefugnisse zu verteilen (Verteilungsprinzip) 70. Eingriffe bedürfen der Legitimation. Staatliche Freiheitsbeschränkungen werden legitimiert, wenn sie zum Zweck der staatlichen Selbstbehauptung und zur Wahrung der kulturellen Identität ausgeübt werden, dem Ausgleich kollidierender individueller Freiheitsrechte dienen 71 und namentlich den individuellen Freiheitsgebrauch aller erst ermöglichen. Bereits der liberale Rechtsstaat reduziert sich nicht auf die Eingriffsabwehr, sondern hat auch Sorge zu tragen für das faktische Substrat der Freiheitsrechte, für die Freiheitsinfrastruktur. Die Daseinsvorsorge als „Vorsorge zur optimalen Freiheitsverwirklichung“ 72 wird hier zumeist übersehen. Offenbar hat die Ableitung der Vorsorge aus dem Sozialstaatsprinzip größere Überzeugungskraft. Leistungen der Daseinsvorsorge erbringt der Staat dagegen der Allgemeinheit insgesamt, nicht nur den sozial Schwächeren. Er hält dadurch die Industriegesellschaft am Leben. Unterlässt er dies, greift er ebenfalls in die Freiheit ein. Dass der Staat vorwiegend Daseinsfürsorgeleistungen für die sozial Schwächeren erbringt, soll 68
Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1913, S. 394 ff. Vgl. Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953; Klaus Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, 1984; Rainer Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, HStR I, 1987, § 1; Roman Herzog, Der demokratische Verfassungsstaat in Deutschland – Entwicklung und Ausblick, JuS 1969, 397 ff.; Wolfgang Böckenförde, Begriff und Probleme des Verfassungsstaates, in: Gedächtnisschrift für Schnur, 1997, S. 137 ff.; Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 1995; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001; Udo Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001. 70 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 126. 71 Vgl. Josef Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol als Grundlage und Grenze der Grundrechte, in: Festschrift für Horst Sendler 1991, S. 39. 72 Ulrich Hösch, Die kommunalen Wirtschaftstätigkeit. Teilnahme am wirtschaftlichen Wettbewerb oder Daseinsvorsorge, 2001, S. 41. 69
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nicht in Abrede gestellt werden. Die rechtsstaatliche Daseinsvorsorge und sozialstaatliche Daseinsfürsorge sind komplementäre Teilsaspekte derselben Aufgabenstellung. Nur derjenige Staat wird als Friedensordnung akzeptiert, auch insoweit er seine Aufgaben erfüllt. Die Staatszwecke des sozialen Rechtsstaats werden durch notwendige Staatsaufgaben konkretisiert. Notwendige Staatsaufgaben sind nach der jeweiligen Verfassung für den jeweiligen Staat konstitutiv. Nun wäre es anachronistisch, allein die Aufgaben als notwendige Staatsaufgaben einzuordnen, die nur durch hoheitliche Eingriffe erfüllt werden können. Bei den notwendigen Staatsaufgaben gibt es zwar einmal Aufgaben, die der Staat selbst erfüllen muss (Stichwort Polizei). Ein Gutteil der Daseinssicherung, die ebenso gut (oder besser) durch Private erfolgen kann, ist aber ebenfalls eine notwendige Staatsaufgabe. Hier ergänzen sich sozialstaatliche Daseinsfürsorge und rechtsstaatliche Daseinsvorsorge. 73 Infrastruktureinrichtungen mögen dank privater Initiative entstehen. Zwangsweise durchsetzen könne Private solche Einrichtungen nicht. Ein Enteignungsrecht kommt Privaten nicht zu. Sie sind darauf angewiesen, dass der Staat in ihrem Interesse enteignet, wenn sie fremdes Eigentum mitbenutzen müssen. 74 Eine Enteignung ist dann aber nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig. 75 Wo obendrein Private generell nicht in der Lage sind, eine adäquate Infrastruktur aufzubauen und dem Markt zu öffnen, besteht eine entsprechende unmittelbare Verpflichtung oder Einstandspflicht des Staats, ähnlich wie aus sozialstaatlichen Erwägungen sich die staatliche Fürsorge darauf erstreckt, dass auch nicht marktgängige Leistungen erbracht werden. 76 Ist das der Fall, kann der Staat sich auf eine Gewährleistungspflicht zurückziehen und die Erfüllung der Aufgaben dem Markt überlassen. Bereits im Gewährleistungsstaat ist der Staat kraft Verfassungsauftrags Aufgabenträger der Daseinsvorsorge. 2. Der Interventionsstaat Der Ausdruck „Interventionsstaat“ berührt eine Thematik, die an sich nicht en passant abgehandelt werden sollte. Im vorliegenden Rahmen sind jedoch nur wenige Andeutungen möglich. „Interventionsstaat“ ist ohnehin weniger ein juristischer, als ein wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher politischer Begriff mit polemischem Einschlag. In rechtlicher Hinsicht ist lediglich zu bemerken, dass der westliche Verfassungsstaat eine lange Entwicklung vom Feudalstaat 73
Vgl. Ronellenfitsch, in: Ernst Forsthoff (Anm. 11), 2003, S. 53 ff. Zur privatnützigen Enteignung aus Daseinsvorsorgegründen BVerfG Kammerbeschluss vom 18. 2. 1999 – 1 BvR 1367/88, 146 u. 147.91 –, NJW 1999, 2659. 75 Vgl. Friedrich Schack, Enteignung „nur zum Wohl der Allgemeinheit“, BB 1961, 74 ff. (75 f.); Martin Bullinger, Die Enteignung zugunsten Privater, Der Staat 1962, 449 ff.; Michael Frenzel, Das öffentliche Interesse als Voraussetzung der Enteignung, 1978, S. 75 f. 76 BVerwG vom 1. 12. 1998 – 5 C 29.97 –, BVerwGE 108, 56 (63). 74
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zum modernen sozialen Rechtsstaat hinter sich hat, in deren Verlauf staatliche Interventionen vor allem in die Wirtschaft und Gesellschaft gegenständlich und geographisch in unterschiedlichem Ausmaß immer vorkamen und zunahmen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war im 20. Jahrhundert erreicht, als der Staat umfassend auch für die Marktlenkung und Marktkorrektur in die Verantwortung genommen wurde. Es entstand der soziale Interventionsstaat, dem nicht nur die Letztverantwortung für alle möglichen sozialen und ökonomischen Wohlfahrtsbelange zugewiesen wurde, sondern bei dem auch die Entscheidungs- und Organisationsverantwortung für soziale Sicherung und wirtschaftliche Steuerung konzentriert waren. Beim klassischen Interventionsstaat wirken drei Ebenen zusammen: − Der Staat regelt die Markt- und Produktionsprozesse selbst. − Der Staat stellt die personellen und sächlichen Ressourcen selbst. Er schafft dabei die infrastrukturellen Voraussetzungen und erbringt die grundlegenden Dienstleistungen. − Der Staat korrigiert die Marktergebnisse durch Umverteilung des Einkommens, durch makroökonomische Politik sowie durch mikro-ökonomische Formen der Risikoübernahme. Auf der Grundlage derartiger Tendenzen schlitterten die westlichen Industriestaaten in die Weltwirtschaftskrise 1974/1975, die neoliberalen Gegenbewegungen Auftrieb verschafften. Die Schlagworten „Reaganomics“, „Thatcherismus“ und „Wende“ 1982 stehen für eine Epoche, in der der Interventionsstaat der Brandt-Ära zum Gewährleistungsstaat mutierte. Der Interventionsstaat galt als überwundene historische Kategorie. Es begann die Zeit der groß angelegten Privatisierungen. Auch in der Rechtswissenschaft hatte der schlanke Gewährleistungsstaat seine Hockkonjunktur. Gefördert wurde diese Entwicklung durch die wettbewerblich-marktwirtschaftliche Ausrichtung der Europäischen Gemeinschaft. 77 Die gegenwärtige weltweite Finanzkrise hat zu einem dramatischen Umdenken auf allen Ebenen geführt. Der Interventionsstaat ist wieder gefragt. Inwieweit das die gegenläufigen Bestrebungen zum Abbau von staatlichen Interventionen überwindet, ist noch völlig offen. Für den Augenblick kommt es darauf an, den nötigen Freiraum für eine eigenständige Wirtschaftspolitik zu schaffen. Im Interventionsstaat muss die Möglichkeit der öffentlichen Hand bestehen, auch die Wahrnehmung von Leistungen der Daseinsvorsorge an sich zu ziehen. Damit kommt es darauf an, wem diese originär staatlichen Befugnisse in der EU zustehen. 77 Ole M. Andresen, Die Pflichten der EU-Mitgliedstaaten zum Abbau versorgungspolitisch motivierter Markinterventionen – ein Beitrag zum nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Liberalisierungsdruck und zu seiner Durchsetzung im Bereich der existenziellen Grundversorgung, 2005.
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3. Staatlichkeit in der EU a) Staatlichkeit der EU vor Lissabon Die EU erfüllt nicht die Kriterien der Staatlichkeit. Selbst wenn sich auf Unionsebene Ansatzpunkte für die Kriterien des Staatsgebiets und Staatsvolks finden ließen, fehlt es doch an der souveränen Staatsgewalt. Nach der deutschen Terminologie stellt die EU einen Staatenverbund dar. Sie ist mehr als ein Staatenbund, denn sie besitzt eigene Rechtspersönlichkeit (Art. 32 EUV a.F.; Art. 47 EUV n.F.), 78 entspricht jedoch nicht dem Typ des Völkerrechtssubjekts Staat. 79 Abgesehen davon sprechen folgende weiteren Gesichtspunkte gegen die Staatlichkeit der EU: 1. Die Europäische Gemeinschaft wurde allein vertraglich geschaffen. Da zur Staatlichkeit das Vorhandensein einer Verfassung zählt, kommt es darauf an, ob ein Vertrag eine Verfassung ersetzen kann. Das war schon im Zusammenhang mit der Interpretation der Reichsverfassung von 1871 streitig. Die h.M. forderte zu Recht neben dem Vertrag einen konstitutiven Akt der Verfassungsgebung, einen bundesbegründenden Gesamtakt. 80 Ein Gesamtakt, der auf eine Verfassung im Sinne einer staatlichen Grundordnung schließen ließe, existierte auf europäischer Ebene vor dem Vertrag von Lissabon nicht. 2. Das europäische Vertragswerk enthält eine Reihe politischer Grundentscheidungen, die Staatsstrukturprinzipien ähneln, jedoch hinter diesen zurückbleiben und obendrein den Staatsaufbau nicht abschließend abbilden. Diese fragmentarischen Staatsstrukturbestimmungen reichen insgesamt nicht aus, um eine Staatlichkeit der EU zu begründen. 3. Der Verfassungsstaat erfordert eine Grundrechteordnung. Der europäische Grundrechtsschutz ist das Ergebnis richterlicher Rechtsfortbildung mit negativen Vorzeichen. Der EuGH entwickelte gemeinschaftliche Grundrechte, um zu verhindern, dass das Gemeinschaftsrecht, am Maßstab nationaler Grundrechte geprüft wird. Die Entwicklung setzte 1969 durch die Stauder-Entscheidung 81 78 Nach bisherigem Recht besaßen allein die Europäischen Gemeinschaften Rechtspersönlichkeit (vgl. Art. 281 EG). Der EU kam keine Rechtspersönlichkeit zu. 79 Vgl. Christian Busse, Die völkerrechtliche Einordnung der Europäischen Union, 1999, S. 75 ff.; ferner Helmut Steinberger / Eckart Klein / Daniel Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), 10 ff. (16 ff.); 56 ff. (58 f.); 101 ff. (122 ff.); Meinhard Hilf / Thorsten Stein / Michael Schweitzer / Dietrich Schindler, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, VVDStRL 53 (1994), 8 ff. (22 f.); 26 ff. (28 ff.); 48 ff. (49 ff.), 70 ff. (78 ff.). 80 Gerhard Anschütz, Deutsches Staatsrecht, 1914, S. 58; Georg Meyer / Gerhard Anschütz, Staatsrecht 7. Aufl., 1919, S. 200; Adolf Arndt, Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1901, S. 42. 81 Urteil vom 12. 11. 1969 – Rs. 29/69 –, Slg. 1969, 419 (Stauder / Ulm); ferner Urteil vom 18. 6. 1991 – Rs. C-240/89 –, Slg. 1899 I-2925 Rn. 41 (Edi); Urteil vom
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ein mit der Anerkennung von Gemeinschaftsgrundrechten als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, denen der EuGH den Rang von Primärrecht zuerkannte. Zur Konkretisierung bediente sich der EuGH der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte. 82 Aus Sicht der Europäischen Gerichte war damit der Grundrechtsschutz mit verdrängender Wirkung für die nationalen Grundrechteordnungen etabliert, zumal auch die Mitgliedstaaten namentlich bei Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch nationale Behörden der Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte unterworfen wurden. 83 Mit der Handelsgesellschafts-Entscheidung behauptete der EuGH, dass das Gemeinschaftsrecht Vorrang selbst gegenüber den in den Verfassungen der Mitgliedstaaten garantierten Grundrechten genieße. 84 Dies ist eine Kompetenzanmaßung, auf die zurückzukommen sein wird. b) Staatlichkeit der EU nach Lissabon Der Traum vom Europäischen Bundesstaat ist mit dem Scheitern des EUVerfassungsvertrags vom 29. Oktober 2004 85 ausgeträumt. Franzosen und Niederländer empfanden mehrheitlich den europäischen Superstaat als Albtraum. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten suchten daraufhin nach Möglichkeiten, den Bevölkerungen das Vertragswerk ohne größere substanzielle Veränderungen doch noch schmackhaft zu machen („Rettung des Verfassungsprojekts“ 86). Sie beschlossen, vom Verfassungskonzept Abstand zu nehmen und Volksabstimmungen mit Ausnahme von einem der größten Nutznießer der EU, der Republik Irland, zu vermeiden. Die Iren lehnten den Vertrag ab, ließen sich aber auf dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU am 10. Dezember 2008 darauf ein, ein zweites Referendum durchzuführen. Mag auch mit Inkrafttreten des kaum geänderten Vertrags zu rechnen sein, ist es den Iren gleichwohl zu verdanken, dass der Vertrag von Lissabon nicht als maskierter Verfassungsvertrag daherkommt. Die europäischen Völker sind so hellhörig ge6. 3. 2004 – Rs. C-274/05 – Slg. 2001 I-1541 Rn. 37 (Conolly / Kommission), Urteil vom 22. 10. 2002 – Rs. C-94/00 –, Slg. 2002, I-5011 Rn. 35 (Roquette frères); Urteil vom 12. 6. 2007 – Rs. C 112 C-112/05,Slg. 2007 I-5649 Rn. 71 (Schmidberger) – Urteil vom 14. 10. 2008 – Rs. C-302 –, DÖV 2008, 116 (117) (Oegan). 82 Urteil vom 14. 5. 1974 – Rs. 4/73 –, Slg. 1974, 491 (Nold / Kommission). 83 Urteil vom 13. 7. 1989 – Rs. 5/88 –, Slg. 1989, 2609 (Wachauf / Bundesamt für Ernährung). 84 Urteil vom 17. 12. 1970 – Rs. 11/70 –, Slg. 1970, 1125 (Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel). 85 ABl. EU Nr. C 310 vom 16. 12. 2004; BT-DRs. 15/4900; hierzu Ch. Calliess / M. Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, Komm., 2006. 86 Thomas Oppermann, Von der Gründungsgemeinschaft zur Mega-Union, DVBl. 2007, 329 ff. (336).
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worden, dass eine staatsfinalistische Auslegung des Vertrags von Lissabon nicht mehr durchsetzbar wäre. Mit dem Vertrag von Lissabon ist der „Point of no return“ auf dem Weg zur Staatlichkeit der EU noch nicht erreicht. 1. Die Vertragsstruktur des europäischen Staatenverbundes blieb bei der Vereinbarung des Vertrags von Lissabon unangetastet. Der Begriff „Verfassung“ wurde nicht nur aus formalen Gründen gestrichen. Vielmehr sollte bewusst der Eindruck unterdrückt werden, die Grundverträge bildeten die Basis für die organisatorischen Strukturen eines Bundesstaats. 2. Die Staatsstrukturprinzipien sind im Vertrag von Lissabon ebenfalls so programmatisch und punktuell abgefasst, dass sie kein geschlossenes staatliches Organisationsstatut abbilden. Der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“ 87 ist keine andere Bezeichnung für den Rechtsstaat. Die in Art. 3 Abs. 3 EUV n. F. erwähnte soziale Marktwirtschaft impliziert kein Bekenntnis zum sozialen Rechts- oder Bundesstaat. 3. Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. erklärt die Grundrechtecharta für rechtsverbindlich. Anders als im Verfassungsvertrag ist der Text der Grundrechtecharta aber nicht im Vertrag selbst enthalten. Wenn Großbritannien und Polen ein „opt out“ eingeräumt wurde, bedeutet das eine Diskriminierung der andern Mitgliedstaaten. Diese Diskriminierung ist nur dann hinnehmbar wenn man die Grundrechtecharta nicht zum acquis communautaire zählt. c) Staatlichkeit der Mitgliedstaaten Die für die Staatlichkeit ausschlaggebende souveräne Staatsgewalt ist in ihrer Substanz bislang den Mitgliedstaaten verblieben. Zwar können die staatlichen Aufgaben in einer Staatengemeinschaft mehr oder weniger geteilt oder verschränkt werden. Die suprema potestas aber ist unteilbar. Das zeigt sich beim existenziellen Bündniskonflikt. Der existenzielle Konflikt ist gegeben, wenn die Mitgliedstaaten Rechtsakte der Gemeinschaft befolgen sollen, die sie innerstaatlich für verfassungswidrig oder existenzgefährdend halten. Dann kommt es auf die Möglichkeiten der Nullifikation und der Sezession an. Diese Möglichkeiten bestehen real in der EU. 88 d) Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland Die Bundesrepublik Deutschland wurde als Staat verfasst. Die Selbstqualifizierung Deutschlands als sozialer Rechts-Staat, als einer Unterform des Verfassungsstaats (Art. 20, Art. 28 Abs. 1 GG) mit Ewigkeitscharakter (Art. 79 Abs. 3 87 88
Art. 3 Abs. 2 EUV n. F. Vgl. Art. 50 EUV n. F.
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GG), zwingt dazu, hieraus die gebotenen rechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Das Grundgesetz ist so zu verstehen, dass die Bundesrepublik Deutschland dem Wesen eines pluralistischen Verfassungsstaats entspricht. 89 Danach sind die Wesenmerkmale des Verfassungsstaats für Deutschland unverzichtbar und unabänderlich. Verfassungsänderungen und neue Gesetze müssen im Einklang mit den Wesensmerkmalen des Verfassungsstaats stehen. Die Wesensmerkmale des Verfassungsstaats folgen aus seinen Zwecken. Hauptzweck des Verfassungsstaats ist die Garantie der individuellen freien Lebensgestaltung als Ausfluss der Menschenwürde. Garant dieser Freiheit kann der deutsche Staat nur sein, wenn er neben sozialen Mindeststandards die individuelle Daseinssicherung ermöglicht und bundesweit gleichwertig eine adäquate Infrastruktur gewährleistet. 90 Diese Aufgabe ist essenziell für die Verfassungsordnung Deutschlands und muss auch gegenüber der EU zur Geltung gebracht werden. 4. Rangordnung der Rechtsordnungen Die Rangordnung der Rechtsordnungen im Staatenverbund setzt eine Kompetenzordnung voraus, die eine Verklammerung der Rechtsordnungen zulässt, die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten jedoch nicht gefährdet. Bei der Kompetenzordnung der EU ist das der Fall, obwohl die Gemeinschaftsorgane durch Kompetenzanmaßungen immer wieder versuchen, die EU in die Nähe eines Bundesstaates zu rücken. a) Kompetenzordnung Die Mitgliedstaaten sind „Herren der Verträge“. 91 Die europäische Hoheitsgewalt ist von den Kompetenzzuweisungen abhängig, die per definitionem beschränkt sind. Eine Kompetenz-Kompetenz im Sinne der Staatsrechtslehre des deutschen Kaiserreichs steht der EU nicht zu. 92 Die Kompetenz-Kompetenz des Reiches sollte im Kaiserreich dazu dienen, Souveränitätsakte aller Art als Befugnis umzudeuten. Souveränität ist keine Kompetenz. Kompetenz ist begrifflich begrenzt. Die Kompetenz-Kompetenz im Sinne einer expliziten Eigenermächti89
Udo Steiner, Deutschland in Europa nach dem Reformvertrag von Lissabon, BB Special 4 (zu BB 2008, Heft 14), S. 2. 90 Hierzu bereits Michael Ronellenfitsch, Planerische Vorfestlegungen für die eisenbahnrechtliche Fachplanung (Bundesverkehrswegeplanung, Schienenwegeausbauplanung, Raumordnung) zur Wahrung der föderalen Daseinsvorsorge – Besinnung auf den harmonischen Bundesstaat –, in: ders. / R. Schweinsberg (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts IX, 2004, S. 21 ff. 91 BVerfGE 89, 155 (190), abzulehnen Ulrich Everling, Zur Stellung der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“, in: Festschrift für Bernhardt, 1995, 1161. 92 Vgl. Jörn Ipsen, Staatsrecht I, 19. Aufl. 2007, Rn. 58.
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gungsbefugnis steht der EU nicht zu. Auf eine derartige Kompetenz-Kompetenz läuft auch die Summierung von Kompetenzanmaßungen hinaus. Die Kompetenz-Kompetenz kann hier zur Erlangung der Souveränität durch die Hintertür führen. Um dies zu verhindern, gilt es Kompetenzschranken zu betonen und Kompetenzanmaßungen schon im Ansatz anzugreifen. b) Kompetenzschranken Die wichtigste Kompetenzschranke, der Grundsatz, besser das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen ist in Art. 5 Abs. 1 EG verankert. Es gilt für die gesamte EU. Im EUV n.F. ist es näher ausformuliert: „Artikel 3b (1) Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. (2) Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben.“
Die Organe der EU dürfen nur auf den in den Verträgen genau beschriebenen Gebieten Regelungen herbeiführen und Entscheidungen treffen. Dies gilt auch für die Grundrechte. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigungen wird vielfach als entrée zum Subsidiaritätsprinzip verstanden. Das trifft ohne weiteres für die Abrundungsvorschrift des Art. 308 EUV a.F. zu, die als subsidiäre Rechtsrundlage gegenüber allen anderen Vertragsbestimmungen, gleichwohl nur vertragsimmanente, jedoch keine kompetenzerweiternde Regelungen zulässt. Das Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinne des Art. 5 Abs. 2 EG ist ebenfalls nur eine Kompetenzsausübungsregelung, welche die Inanspruchnahme der der EU zugewiesenen Einzelkompetenzen von zusätzlichen Anforderungen abhängig macht. 93 Diese Anforderungen sind durch die Bezugnahme auf ein konturloses allgemeines gesellschaftspolitisches Prinzip so vage, dass sie mit einigem argumentativen Geschick unterlaufen werden können. Negativ- wie auch Positivkriterium stellten für den europäischen Expansionsdrang kein echtes Hindernis dar. 94 „Effizienztest“ und „Mehrwerttest“ lassen sich letztlich immer bestehen. Den Zweck, zu verhindern, dass die EU Rechtsbereiche an sich zieht, die auch von den Mitgliedstaaten in eigener Zuständigkeit erledigt werden können, hat das Subsidiaritätsprinzip in der Vergangenheit nicht erfüllt. Das Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinne behandelt die Frage, ob die EU überhaupt handeln soll. Art und Umfang der Kompetenzwahrnehmung richten sich demgegenüber nach dem 93
Silke Albin, Das Subsidiaritätsprinzip in der EU, NVwZ 2006, 629 ff. Vgl. Hans-Jürgen Papier, Das Subsidiaritätsprinzip – Bremse des europäischen Zentralismus?, in: Festschrift für Isensee, 2007, S. 691 ff. 94
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Erforderlichkeitsprinzip des Art. 5 Abs. 3 EG. Eine Tätigkeit der Gemeinschaft ist danach dann erforderlich, wenn eine Diskrepanz zwischen einem Vertragsziel und seiner Verwirklichung besteht. Da es das Wesen eines Ziels ausmacht, niemals vollständig erfüllt zu sein, ist die Erforderlichkeit ein relatives Kriterium. Eine wirksame Schranke gegen Kompetenzanmaßungen stellt auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht dar. c) Kompetenzanmaßungen Den EU-Organen werden immer wieder Kompetenzanmaßungen vorgeworfen. Der Vorwurf richtet sich vor allem gegen den EuGH, der sich als „Förderer und Hüter der Integration“ 95 versteht. Von einer Kompetenzanmaßung kann man freilich erst sprechen, wenn sich entsprechende Argumentationsmuster in der Rechtsprechung des EuGH nachweisen lassen. Dies ist in der Tat der Fall. Eine Tendenz zur Kompetenzanmaßung weist bereits die Figur des gemeinschaftlichen Besitzstands (acquis communautaire) auf. 96 Er stellt den Inbegriff der gemeinschaftlichen Rechtsakte – einschließlich der Rechtsprechung des EuGH selbst – 97 dar, die die (alten und neuen) Mitgliedstaaten binden und schließt den status quo ante aus. Das bedeutet, dass die erreichten Rechtsakte keine „Rückschritte“ zulassen. In einem dynamischen Staatensystem darf aber die Kompetenzverteilung keine Einbahnstraße sein. Als Rechtsschutzinstanz hat sich der EuGH nicht nur als Bewahrer, geschweige denn als Förderer der Integration zu verstehen. Zur massivsten Förderung der Integration hat sich indessen das Dogma vom originären Vorrang des Gemeinschaftsrechts erwiesen. Dieser Vorrang ist ein Produkt der seit der Costa-Entscheidung ständigen Rechtsprechung des EuGH, 98 die von der europarechtlichen Fachbrüderschaft nahezu einmütig nachgebetet wird. In Wahrheit handelt es sich um eine Kompetenzanmaßung. Die CostaEntscheidung führte zur weiteren Frage, nach welchen Grundsätzen der Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht durchzusetzen ist. In der Simmenthal IIEntscheidung übertrug der EuGH den schon früher entwickelten 99 effet-utile-
95 Instruktiv Gerald G. Sander, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration, 1998. 96 Vgl. Hans W. Micklitz / Peter Rott, in: M. A. Dauses, EU-Wirtschaftsrecht, Loseblatt: Stand 2008, Rn. 64 ff.; Hermann-Josef Blanke, in: Ch. Calliess / M. Ruffert, EUV / EGV, Komm., 3. Aufl., 2007 I EUV, Art. 2 Rn. 15 ff. 97 Vgl. Andrea Ott, Die anerkannte Rechtsfortbildung des EuGH als Teil des gemeinschaftlich Besitzstandes (acquis communautaire) – Anmerkung zu den EuGH-Urteilen Andersson und Rechberger vom 15. 6. 1999 und der EFTA-Rechtssache Sveinbjörnsdóttir vom 10. 12. 1998, EuZW 2000, 293 ff. 98 Urteil vom 15. 7. 1964 – Rs. 6/64 –, Slg 1964,1251 (Costa / ENEL). 99 Urteil vom 6. 10. 1970 – Rs. 9/70 –, Slg 1979, 825 (Finanzamt Traunstein: „Silberpfennig“).
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Grundsatz auf die Vorrangthematik: 100 „Unmittelbare Geltung bedeutet unter diesem Blickwinkel, dass die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ihre volle Wirkung einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an und während der gesamten Dauer ihrer Gütigkeit entfalten müssen.“ Als Vehikel der Rechtsfortbildung erwies sich dann der „effet utile“ in der Francovich-Entscheidung. 101 Dadurch wurde die Machtbalance im europäischen Staatenverbund verschoben. 102 Mit dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht ist dies ebenso wenig vereinbar wie die Bejahung von „Implied Powers“. d) Anwendungsvorrang des EU-Rechts Der Vorrang des EU-Rechts gilt als „hinreichend geklärter und gesicherter Bestand“ 103 in der EU. Abgesehen davon, dass allenfalls ein Anwendungsvorrang in Betracht kommt, 104 ist aber so gut wie gar nichts gesichert. Jedenfalls ist die Rechtsprechung des EuGH nicht zum acquis communautaire geronnen. Weil das EU-Recht Vorrang aus der Integrationsperspektive haben soll, muss es nicht auch Vorrang haben. Der EuGH macht jedoch den Wunsch zur Norm. Die Argumentation hat sich seit der Costa-Entscheidung nicht gewandelt. 105 Der Vorrang des EU-Rechts wird auf die Notwendigkeit einheitlicher Geltung, Auslegung und Anwendung der EU-Rechts und dessen Effektivität gestützt. Das sind Wunschvorstellungen, aber keine eigenständige Begründungen. Immerhin wurde die Tendenz zur Aufrüstung des Anwendungsvorrangs in einen Geltungsvorrang vom EuGH selbst wieder aufgegeben. 106 Ein originärer Vorrang des EU-Rechts müsste auf einem (Gesamt-) Akt verfassungsgebender Gewalt beruhen. Die europäischen Verträge reichen hierfür nicht aus. Im europarechtlichen Schrifttum 100
Urteil vom 9. 3. 1978 – Rs. 106/77 – (Staatliche Finanzverwaltung / Simmenthal
II). 101
Urteil vom 19. 11. 1991 – Rs. C-6/90 und C-9/90 –, Slg, 1991, I-5357 (Francovich
u. a.). 102 Malcolm G. Ross, Effectiveness in the European legal order(s): beyond supremacy to constitutional proportionality?, European Law Review 2006, 476 ff. 103 Andreas Funke, DÖV 2007, 732; Wolfgang Weiß, Bestandskraft nationaler belastender Verwaltungsakte und EG-Recht, DÖV 2008, 477 ff. 104 Zum Anwendungsvorrang des EU-Rechts: OVG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 18. 8. 2005, DÖV 2006, 347(348); Johannes Masing, Vorrang des Europarechts bei umsetzungsgebundenen Rechtsakte, NJW 2006, 264 ff.; Jörg Philipp Terhechte, Der Vorrang des Unionsrechts, JuS 2008, 403ff. 105 Urteil vom 17. 12. 1970 – Rs. 11/70 –, Slg. 1970, 1125 (Internationale Handelsgesellschaft); Urteil vom 9. 3. 1978 – Rs. 106/77 –, Slg. 1978, 629 (Simmenthal II); Urteil vom. 22. 10. 1998 – Rs. C-10/97 bis C-22/97 –, Slg. 1998, I-6307 (IN.CO.GE); Urteil vom 29. 4. 1999 – Rs. C-224/97, Slg. 1999 I-2517 (Ciola). 106 Rs. C-10/97 bis C-22/97 –, Slg. 1998, I-6307 (Ministero delle Fiananze).
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wird gleichwohl überwiegend ein originärer Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten angenommen. 107 Ein derartiger Vorrang sollte im gescheiterten Verfassungsvertrag ausdrücklich verankert werden (Art. I-6). Die Bestimmung wurde in den Vertrag von Lissabon aber bewusst nicht übernommen. Dem Vertrag wurde lediglich eine Erklärung (Nr. 17) beigefügt, in der es heißt: „Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des EuGH unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben...“
Die Erklärung verweist ihrerseits auf ein Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 22. 6. 2007, welches auf die grundlegende Rechtssache Costa / ENEL verweist und betont: „Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtsprechung des EuGH.“
Das ist eine unverhohlene Anleitung zu einer gezielten Irreführung der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten. Denn der Vorrang des Gemeinschaftsrechts versteht sich nicht von selbst. Vielmehr besteht ein solcher Vorrang nur, wenn und soweit er der EU von den jeweiligen Mitgliedstaaten eingeräumt wurde. Mit der Souveränitätszuordnung im europäischen Staatenverbund ist dagegen nur ein übertragener Anwendungsvorrang des EU-Rechts vereinbar. Das bedeutet, dass die nationalen Verfassungen im jeweiligen Mitgliedstaat der EU die oberste Stufe der Normenhierarchie bilden. Außerhalb dieser Normenhierarchie kann dem EU-Recht Anwendungsvorrang eingeräumt werden. Diese Möglichkeit eröffnet für Deutschland Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG (Integrationsermächtigung). Die hiernach vorgesehne Übertragung von Hoheitsrechten umfasst auch die Befugnis, EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht einzuräumen, soweit nicht der Souveränitätsvorbehalt greift. Dies soll nach einhelliger Meinung geschehen sein. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist in Deutschland allerdings lediglich als Willensakt des nationalen Verfassungsgebers allgemein anerkannt. 108 Es handelt sich somit um einen abgeleiteten, widerrufbaren Vorrang. Soweit dieser Anwendungsvorrang reicht, ist es Aufgabe aller Stellen der Mitgliedstaaten, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. 109 Zur authentischen Interpretation des Gemeinschaftsrechts 107
Vgl. etwa Funke (Anm. 103), 733 ff. VerfGH Rh.-Pf. Urteil vom 11. 7. 2005 – VGH N 25/64 –, DÖV 2006, 38 (39). 109 EuGH Urteil vom 12. 6. 1990 – Rs. C-8/88 –, Slg 1990, I-2321 (Deutschland / Kommission); Urteil vom 13. 1. 2004 – Rs. C-453/00 –, Slg 2004, I-837 (Kühne & Heitz); Urteil vom 12. 2. 2008 – Rs. C-2/06 –, DÖV 2008, 505 (Kempter KG). 108
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ist dann der EuGH berufen. 110 Zu einer Selbstaufgabe der nationalen Verfassung darf die Einräumung des gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrangs jedoch nicht führen. Die substanziellen Merkmale der Verfassung müssen erhalten blieben. 111 e) Substanzsicherungsklausel Nach Art. 23 Abs. 1 GG wirkt die Bundesrepublik Deutschland zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung einer EU mit, die bestimmten staatsstrukturellen Anforderungen genügen muss. Zu diesem und nur zu diesem Zweck können Hoheitsrechte übertragen werden. Aus der Zweckrichtung folgt bereits eine Beschränkung der Hoheitsrechtsübertragung. Eine Übertragung von Hoheitsrechten ist nur möglich, wenn und soweit die EU den geforderten Anforderungen genügt. Als letzte Bastion souveräner Staatlichkeit Deutschlands greift zusätzlich Art. 79 Abs. 2 und 3 GG, auf den Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG klarstellend Bezug nimmt. Dadurch werden zwar nur die „Grundsätze“ der Art. 1 und 20 GG übertragungsprohibitiv ausgestaltet. Die Grundsätze sind aber nicht beliebig, sondern machen die Substanz der deutschen Verfassungsordnung aus. Die Substanzgarantie erfasst die Grundrechte über Art. 1 Abs. 3 GG zwar nicht als Einzelgrundrechte, wohl aber als Grundrechteordnung. Die demokratischen, sozialen und föderalen Prinzipien des Art. 20 GG sind als Staatsstrukturprinzipen ausgestaltet, setzen also die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland voraus. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG enthält damit ein Verbot der Entstaatlichung Deutschlands. 112 Die Durchsetzung der Substanzsicherungsklausel ist Verpflichtung aller nationalen Behörden. Ein Verwerfungsrecht des EU-Rechts steht aber den nationalen Gerichten nicht zu. Wohl aber kommt eine Vorlage nach Art. 100 GG in Betracht, da dem Bundesverfassungsgericht aus der Natur der Sache die Nullifikation souveränitätsverletzenden EU-Rechts obliegt. Eine substanzielle Gefährdung des Grundgesetzes liegt vor, wenn die nationale Grundrechteordnung durch die Grundrechtsordnung der EU verdrängt wird 110 EuGH, Urteil vom 10. 2. 2000 – Rs. C-50/96 –, Slg. 2000 I-743 (Deutsche Telekom); Urteil vom 12. 2. 2008 – Rs. C-2/06 v, DÖV 2008, 505 (Kempter KG). Vgl. auch Christian Sellmann / Steffen Augsberg, Entwicklungstendenzen des Vorlageverfahrens nach Art. 234 EGV, DÖV 2006, 533 ff.; Juliane Kokott / Thomas Henze / Christoph Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, 633 ff. 111 Das gilt im Übrigen etwa auch für die Pressefreiheit. Der abgestufte Persönlichkeitsschutz nach deutschem Recht hat Vorrang vor der Interpretation von Art. 10 EMRK durch den EGMR (NJW 2004, 2647); so zutreffend BVerfG, AfP 2008,163; BGHZ 171, 275; NJW 2008, 3134, 3138, 3141. Zu weitgehend auch EGMR, NJW 2008, 3412. Zum Kooperationsverhältnis der europäischen Gerichte Wolfgang Hoffmann-Riem, Die Caroline II-Entscheidung des BVerfG, NJW 2009, 20 ff. 112 Rupert Scholz, in: Th. Maunz / G. Dürig, GG, Loseblatt, Art. 23 Rn. 88.
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und diese Grundrechtsordnung kein kongruentes Schutzniveau gewährleistet. In diesem Fall greift die Substanzsicherungsklausel, wie sie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegt. Die nationalen Grundrechte gehen vor „solange“, besser „soweit“ die europäischen Grundrechte nicht ein vergleichbares Schutzniveau erreicht haben. 113 Dies festzustellen fällt in die Primärzuständigkeit des EuGH. Da andererseits die Verwerfungsbefugnis von EU-Recht des Bundesverfassungsgerichts nur im Rahmen des Souveränitätsvorbehalts besteht, sind Kollisionen zwischen nationaler und europäischer Rechtsprechung unvermeidbar. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG lässt die Frage offen, wie bei einer derartigen Kollision zu entscheiden ist. 114 Über das Rangverhältnis der Grundrechtsordnungen entscheidet im souveränen Verfassungsstaat die jeweilige Verfassung. Es ist ein bleibender Verdienst des Bundesverfassungsgerichts, dies herausgearbeitet und trotz aller polemischen Kritiken an diesem Standpunkt festgehalten zu haben. 115 Den Anfang machte der Beschluss vom 29. Mai 1974 116 mit der zutreffenden Aussage, dass das Gemeinschaftsrecht nicht in Frage gestellt wird, wenn ausnahmsweise das Gemeinschaftsrecht sich gegenüber zwingendem nationalem Verfassungsrecht nicht durchsetzen lässt. 117 Für 1974 erklärte das Gericht, dass der Grundrechtsstandard der europäischen Gemeinschaft hinter dem des Grundgesetzes zurückliebe. Solange sich nichts ändere, gelte ein Vorbehalt zugunsten der nationalen Grundrechte. Schon in dieser Entscheidung lehnten drei Richter ein Prüfungsrecht des Bundesverfassungsgerichts von sekundärem Gemeinschaftsrecht ab. 118 1986 entschied das Bundesverfassungsgericht 119, im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaften sei ein Maß an Grundrechtsschutz 113 Das „Solange“-Kriterium ist dilatorisch, bedeutet eine Problemverschiebung in die Zukunft und sollte in ein echtes Begrenzungsmerkmal umgewandelt werden. Danach kommt nur ein Anwendungsvorrang in Betracht, „soweit“ eine wirksamer Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften gegeben ist. 114 Vgl. Ipsen (Anm. 92), Staatsrecht I, 19. Aufl. 2007, Rn. 53; Sander (Anm. 95), S. 82 f.; Ulrich Everling, Der Beitrag des Europäischen Gerichtshofes zur Entwicklung der Gemeinschaft, in: S. Magiera (Hrsg.), Entwicklungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft, 1985, S. 195 ff. (205). 115 Zum Streitstand im Schrifttum Eckart Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), 56 ff. (80 ff.) Kritik: Jochen A. Frowein, Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, ZaöRV 1994, 1 ff.; Christian Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, 489 ff.; Karl Meessen, Maastricht nach Karlsruhe, NJW 1994, 549 ff.; Manfred Zuleeg, Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europäischen Integration, JZ 1994, 1 ff. 116 BVerfGE 37, 271 (Solange I). 117 BVerfGE 37, 279. 118 BVerfGE 37, 291. 119 BVerfGE 73, 339 (Solange II).
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erwachsen, der dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten sei. 120 Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des EuGH einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleiste, werde das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht nicht mehr ausüben. 121 In der Maastricht-Entscheidung 122 betonte das Bundesverfassungsgericht das „Kooperationsverhältnis zum Europäischen Gerichtshof 123, erklärte aber das Bundesverfassungsgericht für die generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards als zuständig. Vorlage von Gerichten und Verfassungsbeschwerden sind seither nur zulässig, wenn dargelegt wird, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht generell nicht gewährleistet sei. 124 In der Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl vom 18. Juli 2005 hat das Bundesverfassungsgericht die durch den generellen Vergleichmaßstab der Grundrechteordnungen erteilte Blankettvollmacht für den europäischen Gesetzgeber durch das Abstellen auf den subjektiven Wesensgehalt der nationalen Grundrechte – wenn auch noch nicht ausreichend – zurückgenommen. 125 Insgesamt kommt es darauf an, ob durch das Abstellen auf den europäischen Grundrechtsschutz der durch die nationale Grundrechteordnung gewährte Schutz deutlich absinkt. In diesem Zusammenhang ist es verbreitet, die speziellen Schutzbereiche der nationalen und europäischen Grundrechte zu vergleichen. Bei annährend kongruentem Schutzgehalt soll dann das europäische Grundrecht vorgehen. Das greift zu kurz. Zu vergleichen sind die Grundrechtskonzeptionen. 126 Die Grundrechteordnung des Grundgesetzes bildet ein System. Ein System bezeichnet eine Gesamtheit von Elementen, die so miteinander verknüpft sind, dass sie eine zweckgebundene Einheit ergeben. Der Gegenbegriff zum System ist die Aufzählung einzelner Rechtspositionen. Auf EU-Ebene gilt auch für die Grundrechte das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen. Die europäischen Grundrechte sind Einzelverbürgungen. Ihr Bedeutungsgehalt erschließt sich im Rahmen einer einfachen Subsumtion, bei der auch Abwägungen mit kollidierenden Belangen vorgenommen werden können, die aber – mangels einheitsstiftender Ver120
BVerfGE 73, 377 ff. BVerfGE 73, 387. 122 BVerfGE 89, 155. 123 BVerfGE 89, 175. 124 BVerfGE 89, 155; 102, 147 (Bananenmarktordnung).Vgl. auch Kammerbeschluss vom 25. 1. 1995 – 2 BvR 2689/94 und 2 BvR 52/95 –, NJW 1995, 590. 125 BVerfGE 113, 273; zutreffend abw. Meinung Siegfried Broß, S. 319 ff. Vgl. auch Frank Schorkopf, Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, 2006. 126 Vgl. Katharina Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa?, 2007. 121
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fassung – isoliert bleibt. Die Grundrechte des Grundgesetzes bilden demgegenüber zusammen mit der Gesamtverfassung ein System. Bei der Würdigung der einzelnen Grundrechte ist das Gesamtsystem mit zu berücksichtigen. Auf diese Weise bekommt die „generelle“ Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts die Bedeutung, die Art. 23 Abs. 1 GG fordert. Was für die Grundsätze des Art. 1 GG und das Grundrechtesystem des Grundgesetzes gilt, muss auch für die Grundsätze des Art. 20 GG und die Staatsstruktur der Bundesrepublik Deutschland gelten. Soweit die Daseinsvorsorge subjektiv für die Grundrechteordnung und objektiv für die spezifische Staatlichkeit Deutschlands konstitutiv ist, hat ihre nationale rechtliche Ausgestaltung Geltungsvorrang vor Gemeinschaftsrecht. Damit ist die Hauptkonsequenz dieses Beitrags identifiziert. Die nähere Ausgestaltung wird im Rahmen einer Zusammenfassung der bisherigen Ausführungen deutlich. 5. Konsequenzen für die Daseinsvorsorge Zusammengefasst gilt: 1. Daseinsvorsorge ist ein Rechtsbegriff mit Rechtssatzcharakter. Der Tatbestand ist unbestimmt und entwicklungsoffen. Abstrakt erfasst der Tatbestand der Daseinsvorsorge im allgemeinen Interesse liegende Aufgaben. Etwas konkreter handelt es sich um im Alltag eines zivilisierten Verfassungsstaats unverzichtbare Leistungen, für die ein Versorgungsbedürfnis der Allgemeinheit besteht. Art und Qualität des Versorgungsbedürfnisses richten sich nach dem allgemeinen Lebensstandard. Wer die Aufgaben der Daseinsvorsorge in welcher Rechtsform wahrnimmt, spielt keine Rolle. Rechtsfolge der Daseinsvorsorge, sind in jedem Fall öffentlich-rechtliche Bindungen. Etwaiger Wettbewerb hat der Funktionsfähigkeit der Daseinsvorsorge zu dienen. Die Privatautonomie tritt hinter den öffentlichen Interessen zurück. Die Grundrechte gelten unmittelbar. 2. Die Daseinsvorsorge ist auf der Verfassungsebene lokalisiert. Sie ist Tragpfeiler der deutschen Variante des Verfassungsstaates, des sozialen Rechts- und Bundesstaats. Daseinsvorsorge bedeutet „Vorsorge zur optimalen Freiheitsverwirklichung“. Ohne diese Vorsorge gerät das den Verfassungsstaat prägende Verteilungsprinzip aus dem Gleichgewicht. Selbst der liberale Rechtsstaat begnügt sich nicht mit der Abwehr von Eingriffen in den individuellen Freiheitsstatus, sondern hat für das faktische Substrat der Freiheitsrechte Sorge zu tragen. Durch die Gewährleistung der Daseinsvorsorge schafft der Staat generell die Existenzbedingungen für die Industriegesellschaft. Das Zusammenleben in der Industriegesellschaft hängt ferner von der sozialstaatlichen Komponente der Daseinsvorsorge ab. Unter beiden Aspekten wird nur der Staat als Friedensordnung akzeptiert, der seinen Zwecken und Aufgaben gerecht wird. Hierzu zählt unverzichtbar die Daseinsvorsorge.
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3. Im Verfassungsstaat ist die Daseinsvorsorge notwendige Staatsaufgabe. Notwendige Staatsaufgaben sind nicht nur die Aufgaben, die hoheitlich erfüllt und mit Rücksicht auf das Gewaltmonopol vom Staat selbst wahrgenommen werden müssen. Die Leistungen der Daseinsvorsorge können zumeist ohne unmittelbaren staatlichen Zwang erbracht werden. Der Zwang liegt in der Vorenthaltung der Leistung. Der Staat hat lediglich dafür Sorge zu tragen, dass die Leistung zu zumutbaren Konditionen erbracht wird. Viele Leistungen der Daseinsvorsorge können auch Private erbringen. Der Staat ist hier nur insoweit nötig, als er zu gewährleisten hat, dass die Leistungserbringen überhaupt, zu erschwinglichen Preisen und flächendeckend erfolgt. Wettbewerb kann zur Kostensenkung und Leistungsoptimierung beitragen. 4. Der Staat der Daseinsvorsorge schien sich bis vor kurzem unaufhaltsam zum Gewährleistungsstaat zu entwickeln. Gegenwärtig erleben wir eine Renaissance des Interventionsstaats. Im Interventionsstaat ist auch die Aufgabenwahrnehmung auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge eine notwendige Staatsaufgabe. Eine Einstandpflicht des Staates besteht jedoch nur, wo der Markt versagt, wo etwa Private generell nicht in der Lage sind, eine adäquate Infrastruktur aufzubauen und zu unterhalten. In diesem Sinne sind auch die SIEG zu behandeln. 5. Den Leistungen der Daseinsvorsorge korrespondieren auf Gemeinschaftsebene die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (services d’intérêt économique général). Diese Dienstleistungen wurden in sprachlicher Anlehnung, aber inhaltlicher Abgrenzung zum französischen service public entwickelt. Der service public dient zur Wahrung des allgemeinen Interesses (l’intérêt général), das Abweichungen von der Privatrechtsordnung, namentlich vom Wettbewerbsprinzip rechtfertigt. Da zur Bestimmung des allgemeinen Interesses ein durch die Gerichte nur beschränkt nachprüfbarer Willensakt des nationalen Gesetzgebers genügt, konnte in Frankreich durch die Ausbreitung des service public der europäische Binnenmarkt ausgebremst werden. Unter Berufung auf die SIEG soll eben das nicht möglich sein. Zwar rechtfertigt die Berufung auf die Funktionsfähigkeit der SIEG Abweichungen vom Binnenmarkt- und Wettbewerbsrecht der EU. Die Rechweite der SIEG und der Grad der Abweichung werden letztlich auf Gemeinschaftsebene festgelegt, wobei die Kommission davon ausgeht, dass SIEG und kontrollierter Wettbewerb grundsätzlich vereinbar sind. 6. Daseinsvorsorge und SIEG haben eine große Schnittmenge, unterscheiden sich aber auch. Die Daseinsvorsorge umfasst auch nichtwirtschaftliche Leistungen. Vor allem bestehen Unterschiede in der Rechtsfolge. Die Abweichungen können zu Kollisionen von nationalem Recht und EU-Recht führen. 7. Die Auflösung solcher Kollisionen ist eine Frage der Rangordnung des EURechts und nationalen Rechts. Für den EuGH und die wohl überwiegende Zahl der Europarechtler gilt die Rangordnungsfrage als beantwortet. Im Kollisionsfall soll danach dem Gemeinschafts- und EU-Recht ein originärer
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Anwendungsvorrang zukommen. Diese Auffassung macht Wunschvorstellungen zum Normprogramm und beruht ebenso auf einer Kompetenzanmaßung des EuGH wie der acquis communautaire und der effet utile. Im Staatenverbund, bei dem die Souveränität bei den Mitgliedstaaten verblieben ist, kann auch der mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattete Verbund sich nur auf die Kompetenzen stützen, die ihm ausdrücklich übertragen wurden. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigungen ist die Leitmaxime des Staatenverbunds. Auf der Grundlage dieses Grundsatzes kann auch ein Anwendungsvorrang des Gemeinschafts- und EG-Rechts statuiert werden. Dies ist durch Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG geschehen. Die Übertragung der Hoheitsgewalt ist jedoch nur möglich, soweit den Mitgliedstaaten Verfügungsmacht über die eigene Verfassungsordnung zusteht. Art. 79 Abs. 2 und Abs. 3 GG fänden daher auch dann Anwendung, wenn Art. 23 GG nicht geändert worden wäre. 8. Der Anwendungsvorrang des Gemeinschafts- und EU-Rechts entfällt, sobald die Substanzsicherungsklausel des Art. 23 Abs. 2 GG greift. Substanzsicherung bedeutet Souveränitätsvorbehalt. Dieser erstreckt sich auf die Grundrechteordnung und die Staatsstruktur. Die Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist unverzichtbar, um zu verhindern, dass der deutsche Grundrechtestandard auf europäisches Niveau abgesenkt wird. Geschützt ist die deutsche Grundrechteordnung als System im Gegensatz zu den europäischen Einzelverbürgungen nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Geschützt sind in gleicher Weise die Staatsstrukturprinzipen des Art. 20 GG. 9. Soweit den Belangen der Daseinsvorsorge auf Gemeinschafsebene nicht Rechnung getragen wird und dadurch die Staatlichkeit der Bundesrepublik gefährdet wird, ist das Bundesverfassungsgericht befugt, kollidierendes Gemeinschaftsrecht in der Bundesrepublik für nichtig zu erklären. 10. Die Nullifikationslösung ist auf extreme Ausnahmefälle beschränkt. In aller Regel wird der von den Europäischen Gerichten zu kontrollierenden Schutz der SIEG auch die Daseinsvorsorge hinreichend schützen. Das Kooperationsverhältnis der obersten Gerichte, welches das Bundesverfassungsgericht für die Grundrechte propagiert, muss auch für den Bereich der Daseinsvorsorge begründet werden.
VI. Schlussbemerkung Die allgemeine dogmatische Fundierung des Rechtsbegriffs der Daseinsvorsorge liegt nicht im Zentrum der Forschungsinteressen Blümels, und das ist auch gut so. Zur Dogmatik der Daseinsvorsorge wurde in jüngster Zeit soviel publiziert, dass man getrost die Aufmerksamkeit den Anwendungsfällen der Daseinsvorsorge zuwenden kann. Hier sind etwa die wechselseitigen Beziehungen zwischen
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Planungsrecht und Daseinsvorsorgekonzept noch längst nicht ausgelotet. Die Daseinsvorsorgebelange kommen beispielsweise bei der Planrechtfertigung zu kurz. Dabei hätte das Argument: „Aus Gründen der Daseinsvorsorge geboten“ wohl ein größeres Akzeptanzpotential als das farblose „vernünftigerweise geboten“. 127 Im Rahmen der der planerischen Abwägung könnte man die Idee weiterverfolgen, durch Bündelung öffentlicher Infrastrukturinteressen in einer „Daseinsvorsorgeverträglichkeitsprüfung“ ein Gegengewicht zur UVP und SUP zu schaffen. Für Blümel böte die Berücksichtigung der Daseinsvorsorgebelange im Planungsrecht, einen Anreiz, sein Lebenswerk um eine weitere Facette zu ergänzen. Dabei sollte die katalogartige Erfassung der Daseinsvorsorgebelange Anlass bieten, der Verabsolutierung des singulären Umweltschutzbelangs etwa im Zusammenhang mit dem Erlass des Umweltgesetzbuchs entgegenzutreten. Alles spricht auch hier für eine bereichsspezifische Vorgehensweise. Das verstößt allerdings gegen die eher vereinheitlichungsfreundliche Grundeinstellung Blümels. Die bereichsspezifische Erörterung der Daseinsvorsorgebelange ist daher mehr eine Aufgabe der Blümel-Schüler. Im Planungsrecht hat Blümel nämlich eindeutig schulenbildend gewirkt. Aus datenschutzrechtlichen Gründen verzichte ich darauf, die einzelnen Schüler zu benennen. 128 Stellvertretend für alle Schüler appelliere ich an Willi Blümel: Stehen Sie weiter Ihrer eigenen Schule vor, soweit das Ihre Kräfte zulassen.
127 Ansätze in diese Richtung bei Udo Steiner, Zur Standortfindung bei Verkehrsflughäfen, in: K. Grupp / M. Ronellenfitsch (Hrsg.), Festschrift für Blümel zum 70. Geburtstag, 1999, S. 549 ff. (554 f.). 128 Lediglich für meine Person kann ich den dialektischen Charakter des Lehrer- / Schülerverhältnisses offenbaren. In den Jahren, in denen ich als Assistent Blümels tätig war, nahm er mich in seine Lehrveranstaltungen mit und band mich in diese ein, indem er mich bei Zweifelsfragen meine Meinung äußern ließ. Bei Fragen des effektiven Rechtsschutzes, der Bürger- und Verbandsbeteiligung, der Reichweite der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, des Umweltschutzes bildete sich ein Schema nach dem Prinzip des guten Cops (Blümel) und des bösen Cops (Ronellenfitsch) heraus. Im praktischen Ergebnis waren wir uns zumeist einig.
Infrastrukturgewährleistung und Fachplanung Klaus Grupp Die Bundesrepublik Deutschland, so hat es den Anschein – und Herr Klein ebenso wie Herr Ronellenfitsch haben dies heute Vormittag unterstrichen –, ist in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem Gewährleistungsstaat geworden. Beispielsweise gehen das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung sowie das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung in einem Modellvorhaben der Raumordnung 1 davon aus, durch staatliche Regionalplanung solle die öffentliche Daseinsvorsorge gewährleistet werden. „Dazu“, so heißt es wörtlich – und das mag zugleich Herrn Laubingers Frage beantworten –, „gehören die Leistungen, die der Versorgung mit Energie, Wasser, Telekommunikation, öffentlichem Nah- und Fernverkehr, Post, Abfall- und Abwasserentsorgung dienen“; weiterhin werden im „sozialen Bereich“ dazu gerechnet „Kulturangebote, Gesundheitsdienste, Kinderbetreuung, Schulausbildung und Altenpflege“, und seit kurzem wird – wie heute morgen schon mehrfach erwähnt – vom Staat auch erwartet, dass er das Funktionieren des Finanzsektors gewährleistet. Wurde vor knapp 40 Jahren in der Rechtswissenschaft über Grundrechte im Leistungsstaat, d. h. den Anspruch auf staatliche Leistungen und die Teilhabe hieran diskutiert, so wird nunmehr der Gewährleistungsstaat als Leitbild auf den Prüfstand gestellt 2 und das Verwaltungsrecht im Gewährleistungsstaat 3 behandelt. Wurde im Leistungsstaat die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen als Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen angesehen, so wird dies heute, nach mehreren Liberalisierungs- und Privatisierungsvorhaben, nicht mehr allein der öffentlichen Hand zugewiesen, sondern soll weitgehend in einer Arbeitsteilung zwischen privatem und öffentlichem Sektor erfolgen. „Die ursprüngliche Erfüllungsverantwortung des Staates und der Kommunen“, so wird erklärt, „ist durch eine Gewährleistungsverantwortung ersetzt worden. Die öffentliche Hand garantiert somit nicht mehr selbst die eigentliche Leistungsproduktion, sondern 1 Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.), Regionalplanerische Handlungsansätze zur Gewährleistung der öffentlichen Daseinsvorsorge, MORO-Informationen Nr. 2/1, 2007 (http://www.bbr.bund.de/cln_007/nn_23558/DE/Veroeffentlichngen /MORO/2/moro2_1,templateld=raw,property=publicationFile.pdf/moro). 2 Vgl. Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Der Gewährleistungsstaat – Ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005. 3 Vgl. die gleichnamige Monographie von Kay Waechter, 2008.
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gewährleistet ‚nur noch‘, dass Leistungen zu bestimmten Qualitäts- und Leistungsstandards bzw. an bestimmten Standorten angeboten werden.“ Der Staat erbringt hiernach zwar nicht die Rundumversorgung, aber er gewährleistet sie „von der Wiege bis zur Bahre“ und darüber hinaus – wie sich bestätigt findet, wenn man z. B. das saarländische Bestattungsgesetz 4 heranzieht, dessen § 2 Abs. 1 Satz 1 lautet: „Die Gemeinden gewährleisten für verstorbene Gemeindeeinwohnerinnen / Gemeindeeinwohner die Bestattung der Leichen und die Beisetzung der Asche von Verstorbenen auf Friedhöfen.“ Die Gewährleistungsverantwortung hat bekanntlich auch Eingang in das Grundgesetz gefunden: Art. 87e Abs. 4 Satz 1 GG bestimmt für den Eisenbahnverkehr: „Der Bund gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird.“ Und Art. 87f Abs. 1 GG legt fest: „Nach Maßgabe eines Bundesgesetzes, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, gewährleistet der Bund im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen.“ Nicht dem Wortlaut, wohl aber dem Sinne nach lässt sich auch eine Gewährleistungsverantwortung des Bundes für die nicht schienengebundene Verkehrsinfrastruktur aus Art. 90 GG entnehmen 5: Durch diese Vorschrift ist dem Bund nicht lediglich in Absatz 1 das Eigentum an den Bundesfernstraßen übertragen worden, sondern darüber hinaus mit der in Absatz 2 getroffenen Zuweisung der Verwaltungszuständigkeit, die die Länder lediglich im Auftrage des Bundes wahrnehmen, die Erfüllung der Straßenbauaufgabe, d. h. der im Zusammenhang mit der Finanzierung, der Planung, dem Bau und der Unterhaltung der Bundesautobahnen und Bundesstraßen anfallenden Maßnahmen. Bau, Unterhaltung und Betrieb von Straßen sind nicht zwangsläufig, kraft Natur der Sache, eine Aufgabe des Staates, doch kann allein er die notwendige Öffentlichkeit von Straßen gewährleisten, wenngleich ihm prinzipiell, von Verfassungs wegen überlassen bleibt, wie er diesem Auftrag nachkommt. Art. 90 GG begründet dementsprechend auch kein staatliches (Teil-)Monopol für die Bereitstellung von Straßen, sondern enthält eine Aufgaben- und Zuständigkeitsregelung innerhalb des föderativ gegliederten Staates und lässt Raum für eine Beteiligung Privater an Bau, Unterhaltung und Betrieb von Straßen, etwa nach dem Muster des Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes. Allerdings kann der Staat sich der ihm zugewiesenen Aufgabe nicht völlig 4 Gesetz über das Friedhofs-, Bestattungs- und Leichenwesen (Bestattungsgesetz – BestattG) – Gesetz Nr. 1535 – vom 5. November 2003 (Amtsbl. S. 2920), zuletzt geändert durch Art. 8 Abs. 8 des Gesetzes Nr. 1632 vom 21. November 2007 (Amtsbl. S. 2393, 2412). 5 Vgl. zum Folgenden schon Klaus Grupp in: E. A. Marschall / H.W. Schroeter / F. Kastner, Bundesfernstraßengesetz, Kommentar, 5. Aufl. 1998, § 1 Rdnr. 2.
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entäußern – die Entscheidung über den Ausbau des Bundesfernstraßennetzes muss wegen ihrer Bedeutung insbesondere für die verkehrliche und wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Teile des Bundesgebietes und die überregionale Verknüpfung von Lebens-, Wirtschafts- und Naturräumen in staatlicher Verantwortung getroffen werden; der Bund muss dafür sorgen, dass das Netz der Bundesfernstraßen den Verkehrsbedürfnissen in angemessener und ausreichender Weise genügt. – Entsprechendes gilt im Übrigen für die Bundeswasserstraßen gemäß Art. 89 GG, deren Eigentümer ebenfalls der Bund ist, der sie allerdings prinzipiell durch eigene Behörden verwaltet und sicherzustellen hat, dass die Wasserstraßen für die Bedürfnissen der Schifffahrt angemessen und ausreichend sind. In diesem Zusammenhang sei nur angemerkt, dass in nahezu allen Fällen offen bleibt, wann die Gewährleistungsverantwortung des Staates aktuell wird. Auch Art. 87f Abs. 1 GG legt lediglich fest, dass der Bund im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation „flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen“ zu gewährleisten hat; Art. 87e Abs. 4 Satz 1 GG stellt allein auf das „Allgemeinwohl“ und die „Verkehrsbedürfnisse“ ab. Der Bund muss also zweifellos seiner Gewährleistungsverpflichtung nachkommen, wenn die normierten Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind, aber wann dieser Punkt erreicht ist, lässt sich den unbestimmten Begriffen nicht entnehmen. Nur ausnahmsweise – etwa wie aus § 2 Abs. 1 des saarländischen Bestattungsgesetzes – wird ersichtlich, wann gehandelt werden muss, nämlich dann, wenn die Kapazität der vorhandenen Friedhöfe erschöpft ist. Auch die Literatur äußert sich eher zurückhaltend zu der Frage, wann die Gewährleistung einzusetzen hat, indem sie allein von einer Pflicht zur Sicherstellung einer Grundversorgung ausgeht und sodann dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu deren Bestimmung einräumt 6. Das Schrifttum – dessen Quantität Herr Ronellenfitsch heute Vormittag schon beklagt hat – ist freilich über am Verfassungstext orientierte Überlegungen weit hinausgegangen. Georg Hermes 7 zufolge geht eine staatliche Infrastrukturverantwortung nach ihrer verfassungsrechtlichen Fundierung expliziten Regelungen ebenso voraus wie dem Rechtsstaatsprinzip, dem Sozialstaatsprinzip und dem 6
Vgl. z. B. Hubertus Gersdorf in: H. v. Mangoldt / F. Klein / Ch. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 4. Aufl. 2001, Art. 87e Rdnr. 71, 74, Art. 87f Abs. 1 Rdnr. 43; Peter Lerche in: Th. Maunz / G. Dürig, Grundgesetz. Kommentar (Stand: Oktober 2008), Art. 87f Rdnr. 79 f.; Markus Möstl in: Th. Maunz / G. Dürig, Grundgesetz. Kommentar (Stand: Oktober 2008), Art. 87e Rdnr. 182; Kay Windthorst in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 87e Rdnr. 48, 51, Art. 87f Rdnr. 12. 7 Georg Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, S. 323 ff., 353 ff.; ders., Gewährleistungsverantwortung als Infrastrukturverantwortung, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Der Gewährleistungsstaat – Ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005, S. 111 ff. (S. 113, 117).
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jüngeren Umweltstaatsprinzip. Infrastrukturverantwortung ist nach seiner Auffassung als unverzichtbare Voraussetzung staatlicher Einheitsbildung ungeschriebener Bestandteil von Verfassungen. Ohne eine infrastrukturelle Grundausstattung könne eine soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Gemeinschaft weder entstehen noch fortexistieren; ein staatlich organisiertes Gemeinwesen, das die Integration aller auf seinem Territorium befindlicher Mitglieder anstrebt, kann nach seiner Ansicht nicht darauf verzichten, „grundsätzlich jeder Person zumindest die Möglichkeit des Zugangs zu den Verbindungswegen zu eröffnen, die ein Gemeinschaftsleben erst ermöglichen“. Eine funktionsfähige Infrastruktur „ist deshalb zwar nicht hinreichende, aber notwendige Bedingung für die Existenz moderner Staatlichkeit“. Heike Delbanco hat gleichfalls darauf hingewiesen, dass Verkehrswege nicht nur militärische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Funktionen erfüllen, sondern Grundbedingung der Staatlichkeit sind. „Sie sind“, so führt sie aus, „die Basis für die Existenz moderner Territorialstaaten, die Herrschaft in einem und über ein Gebiet zwingend voraussetzt. Weder die Existenz eines Staatsgebietes noch die eines Staatsvolkes genügen, um Staatlichkeit zu begründen. Eine infrastrukturell nicht erschlossene Fläche mag völkerrechtlich zum Staatsgebiet zählen. Staatsgewalt kann dort nicht ausgeübt werden, da hierfür die tatsächliche Erreichbarkeit des Staatsvolks eine unabdingbare Voraussetzung ist.“ 8 Die staatliche Infrastrukturverantwortung wird daher, wie Hermes 9 betont, auch vom Grundgesetz als selbstverständlich vorausgesetzt. Dem kann zumindest insofern zugestimmt werden, als grundrechtliche Freiheitsbetätigung teilweise auf das Vorhandensein einer funktionsfähigen Infrastruktur angewiesen ist. Fritz Ossenbühl 10 bezeichnete deshalb zutreffend die „Verkehrsinfrastruktur als Grundrechtsvoraussetzung“ und Udo Steiner 11 charakterisierte Verkehrspolitik zu Recht als „Grundrechtspolitik“; auch der umstrittene Gedanke von Michael Ronellenfitsch 12, aus Art. 2 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Mobilität abzuleiten, setzt faktisch die Existenz von Verkehrsinfrastruktur voraus. Unabhängig von der verfassungsrechtlichen Herleitung der Infrastrukturverantwortung bleibt indes fraglich, ob es sich dabei tatsächlich um Gewährleis8 Heike Delbanco, Der Zugang zum Netz der Eisenbahnen des Bundes, in: W. Blümel / H.-J. Kühlwetter / R. Schweinsberg (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts IV (Speyerer Forschungsberichte 200) 2000, S. 179 ff. (181 f.). 9 Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung (Anm. 7), S. 353. 10 Fritz Ossenbühl, Verkehr, Ökonomie und Ökologie im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld, in: NuR 1996, 53 (55). 11 Udo Steiner, Recht der Verkehrswirtschaft, in: R. Schmidt (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil 2, 1995, S. 127 ff. (142). 12 Michael Ronellenfitsch, Verfahrensprivatisierung in der Verkehrswegeplanung, in: W. Hoffmann-Riem / J.-P. Schneider (Hrsg.), Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, 1996, S. 113 ff. (114); ders., Die Verkehrsmobilität als Grund- und Menschenrecht – Betrachtungen zur „zirkulären“ Mobilität in der Europäischen Union, in: JöR 44 (1996), 168 ff.; s. schon Udo Steiner (Anm. 11), S. 142 m.w. N.
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tungsverantwortung handelt, die die ursprüngliche Erfüllungsverantwortung des Staates ersetzt hat, so dass die öffentliche Hand nicht mehr selbst die eigentliche Leistungsproduktion garantiert, sondern lediglich gewährleistet, dass Leistungen zu bestimmten Qualitäts- und Leistungsstandards bzw. an bestimmten Standorten angeboten werden. Bau, Unterhaltung und Betrieb von Infrastruktureinrichtungen, insbesondere von solchen des Verkehrs, können aber allenfalls in – wenn auch unterschiedlich – eingeschränktem Maße durch Private erfolgen; denn sie sind in vielfältiger Weise mit Rechtsbeeinträchtigungen Dritter verbunden, die nur kraft hoheitlicher Befugnisse zugefügt werden können. Straßen, Schienen, Schifffahrtskanäle und Flughäfen (ebenso wie Hochspannungs- und Ferngasleitungen) nehmen Raum in Anspruch und ihre Errichtung erfordert deshalb häufig die Inanspruchnahme privaten Grundeigentums, ihr Betrieb kann gesundheitliche Beeinträchtigungen hervorrufen. Wie Hermes bereits ausgeführt hat, bedarf es allein aus Gründen des Eigentumsschutzes einer vorangehenden staatlichen Planung, in deren Rahmen festgestellt wird, ob Bau und Betrieb der Infrastruktureinrichtung dem Allgemeinwohl i. S. von Art. 14 Abs. 3 GG dienen 13. Das erfordert, wie das Bundesverwaltungsgericht 14 schon 1986 betont hat, ein Verfahren, in dem alle von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange untereinander und gegeneinander abgewogen und zum Ausgleich gebracht werden und in dem auf diese Weise das Allgemeinwohl konkretisiert wird, das in dem zur Enteignung ermächtigenden Gesetz nicht hinreichend genau bestimmt werden kann. Das vom Bundesverwaltungsgericht verlangte, der Grundrechte wegen gebotene Verfahren ist das gestufte fachplanerische Verfahren, dessen Details ich in diesem Kreis nicht darzustellen brauche. Es setzt mit der Bedarfsplanung ein, die teilweise ihren Niederschlag in Ausbaugesetzen findet und der ggf. die Linienbestimmung nachfolgt. Dem schließt sich u. U. ein Raumordnungsverfahren an, und den Abschluss bildet sodann das Planfeststellungs- oder Plangenehmigungsverfahren. Den Entscheidungen, die auf diesen unterschiedlichen Stufen getroffen werden, ist eines gemeinsam: ihre Verbindlichkeit, sei diese nun nur verwaltungsinterner Natur oder handele es sich um rechtliche Außenwirkung. Deshalb können diese Entscheidungen auch nicht Privaten überlassen und lediglich staatlich reguliert werden; die Verantwortung für die ihrem Charakter nach hoheitlichen Planungs- und Zulassungsverfahren bleibt, wie Udo Steiner hinsichtlich der Straßenplanung schon festgestellt hat, beim Staat, unabhängig davon, wer Träger des Vorhabens ist 15.
13 Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung (Anm. 7), S. 359; ders., Gewährleistungsverantwortung als Infrastrukturverantwortung (Anm. 7), S. 121 f. 14 BVerwGE 74, 109 (112). 15 Udo Steiner (Anm. 11), S. 135; allgemein: Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung (Anm. 7), S. 359.
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Das spricht freilich noch nicht gegen die Annahme einer Infrastrukturgewährleistung, d. h. eines Rückzugs des Staates aus der Erfüllungsverantwortung und seiner Beschränkung auf die Gewährleistungsverantwortung für die Infrastruktur. Insoweit ließe sich etwa erwägen, die vorgenannten Planungsentscheidungen als bloße Regulierungsinstrumente einzustufen, die äußere Grenzen für das Handeln Privater ziehen. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass der Staat die Aufgaben des Baues, der Unterhaltung und des Betriebs der Verkehrsinfrastruktureinrichtungen bisher weitgehend durch eigene Behörden und Einrichtungen erfüllt hat, doch soll dies nach den im Schrifttum 16 geäußerten Auffassungen mit dem Gedanken der Gewährleistungsverantwortung durchaus vereinbar sein – wenngleich die Abgrenzung zur Erfüllungsverantwortung sich damit ganz erheblich verwischt. Eine andere Einschätzung ergibt sich hingegen, wenn man das wesentliche Charakteristikum der staatlichen Fachplanungs-Entscheidungen betrachtet, das der Planung. Hinsichtlich der zur straßenrechtlichen Planung ermächtigenden Norm des § 17 Abs. 1 Satz 1 FStrG hat das Bundesverwaltungsgericht 17 schon 1975 festgestellt: „Zentrales Element dieser Ermächtigung ist die mit ihr verbundene Einräumung eines Planungsermessens, das ... in seinem Wesen am zutreffendsten durch den Begriff der planerischen Gestaltungsfreiheit umschrieben ist“; für andere infrastrukturelle Fachplanungen hat das Gericht diese Feststellung gleichfalls getroffen 18. Das Planungsermessen bei Infrastruktureinrichtungen bezieht sich insbesondere darauf, ob und wie im Einzelnen das Vorhaben durchgeführt werden soll. Die Planfeststellungs- oder -genehmigungsbehörde ist deshalb nicht auf eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der vom Vorhabensträger entwickelten Planung beschränkt, sie hat sie vielmehr planerisch nachzuvollziehen und hierbei eine Abwägung der unterschiedlichen Belange vorzunehmen und den Ausgleich der verschiedenartigen berührten Interessen herbeizuführen. Damit ist der Planfeststellungs- oder -genehmigungsbehörde eine eigene Gestaltungsfreiheit eingeräumt, weil – in der bekannten Formulierung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1969 – „Planung ohne Gestaltungsfreiheit ein Widerspruch in sich wäre“ 19. Das bedeutet im Ergebnis, dass im Falle einer positiven Entscheidung der Plan mit Rechtswirkung versehen wird und so die Planfeststellungs- oder -genehmigungsbehörde die rechtliche Verantwortung für ein zu verwirklichendes Vorhaben übernimmt, dessen planerische Gestaltung sie bejaht. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen fachplanerischen Entscheidungen und jenen Genehmigungen und Zulassungen, denen das planerische Ele16 Vgl. nur Hermes, Gewährleistungsverantwortung als Infrastrukturverantwortung (Anm. 7), S. 116. 17 BVerwGE 48, 56 (62). 18 Vgl. z. B. BVerwGE 56, 110; 59, 253 (256); 72, 15; 77, 128. 19 BVerwGE 34, 301 (304).
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ment fehlt: Die Fachplanungsentscheidung ist mehr als eine Rechtmäßigkeitsprüfung, sie ist inhaltliche Mitwirkung an der Planung des Vorhabens. Daraus folgt, dass der Staat sich bei Bau, Betrieb und Unterhaltung von Infrastruktureinrichtungen nicht gänzlich aus der Erfüllungsverantwortung zurückziehen kann; denn er ist an den grundlegenden Entscheidungen stets beteiligt – die Zulässigkeit des Vorhabens hängt auch von der rechtmäßigen Ausübung des der Verwaltung eingeräumten Planungsermessens ab. Infrastrukturgewährleistung ist mehr als bloße Gewährleistungsverantwortung: Sie kann sich nicht darin erschöpfen, dass Dritte innerhalb der durch Regulierung gezogenen Grenzen die Infrastruktureinrichtungen errichten, betreiben und unterhalten, sie erfordert vielmehr Mitwirkung an der Bereitstellung von Infrastruktur, was nicht ausschließt, dass sich Private – etwa durch Finanzierung – ebenfalls beteiligen. Selbst dann heißt Infrastrukturverantwortung immer auch staatliche Erfüllungsverantwortung, die sich mindestens in den fachplanerischen Entscheidungen manifestiert.
Das neue Raumordnungsgesetz und die Infrastrukturverantwortung des Bundes Wolfgang Durner
I. Willi Blümel und das Recht der Raumordnung Willi Blümel gilt allgemein als der bedeutendste Vertreter des deutschen Fachplanungsrechts in der Nachkriegszeit. 1 Das Verhältnis von Fach- und Gesamtplanung ist jedoch bekanntlich nicht frei von Spannungen und wird oft als eine „Konkurrenz“ oder ein „Widerstreit“ charakterisiert. 2 Weshalb und aus welcher Perspektive also widmet sich ein Vortrag auf einem Symposium für Willi Blümel dem Recht der Raumordnung? Ein offensichtlicher Anlass ist zunächst die soeben erfolgte Novellierung des Raumordnungsgesetzes: Am 13. November 2008 verabschiedete der Deutsche Bundestag den vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erarbeiteten Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes, 3 am 30. Dezember 2008 wurde das Gesetz unbeschadet von allen Koalitionsstreitigkeiten im Bundesgesetzblatt verkündet. 4 Während die §§ 17 bis 1 Aus der Fülle der einschlägigen Veröffentlichungen des Jubilars seien hervorgehoben: Willi Blümel, Das Zusammentreffen von Planfeststellungen, DVBl. 1960, 697 ff.; ders., Die Bauplanfeststellung I: Die Planfeststellung im preußischen Recht und im Reichsrecht, 1961; ders., Die Planfeststellung Zweiter Teil: Die Planfeststellung im geltenden Recht. 2 Bände, 1967/1994; Der Gegenstand der Planfeststellung, VerwArch 83 (1992), 146 ff.; ders., Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Planfeststellung, in: Festschrift für Werner Hoppe zum 70. Geburtstag, 2000, S. 3 ff. 2 Vgl. bereits in den Titeln der entsprechenden Beiträge etwa Albrecht Bell / Nikolaus Herrmann, Konkurrenz von Fach- und Bauleitplanung im Freistaat Sachsen, LKV 2002, 393 ff.; Günter Gaentzsch, Bauleitplanung, Fachplanung, Landesplanung. Zur „Konfliktbewältigung“ zwischen verschiedenen Planungsträgern, WiVerw 1985, 235 ff.; Hans-Joachim Koch, Zur Konkurrenz zwischen Fachplanung und Bauleitplanung, in: Festschrift für Otto Schlichter, 1995, S. 461 ff.; Willy Spannowsky, Grenzen landes- und regionalplanerischer Festlegungen gegenüber Verkehrswegeplanungen des Bundes, UPR 2000, 418 ff.; Bernhard Stüer / Dietmar Hönig, Raumordnung und Fachplanung im Widerstreit, UPR 2002, 333 ff. 3 Entwurf eines Gesetzes zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften (GeROG), BT-Drs. 16/10292 v. 22. 9. 2008; vgl. dazu Christian Müller, Der Referentenentwurf des Raumordnungsgesetzes 2008, RuR 2008, 360 ff.; Wil-
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25 und § 29 des Artikels 1 sowie Nummer 1 des Artikels 2 bereits am Tag nach der Verkündung in Kraft getreten sind, soll das Gesetz im Übrigen sechs Monate nach der Verkündung in Kraft treten. Diese Neufassung des Raumordnungsgesetzes justiert die Rahmenbedingungen der Planung insgesamt neu, so dass sich eine erste Analyse des Gesetzes anbietet. Neben diesem etwas vordergründigen gibt es jedoch noch einen zweiten, tieferen Grund für mein heutiges Thema: Nimmt man sein Schriftenverzeichnis genauer in den Blick, hat sich Blümel nämlich immer wieder auch mit Fragen der Raumordnung beschäftigt: Neben jener zusammen mit Forsthoff verfassten Monographie, die erstmalig das Verhältnis von Fach- und Gesamtplanung behandelte, 5 findet sich eine ganze Reihe weiterer Beiträge, in denen Blümel nicht nur den Rechtsschutz gegenüber Planfeststellungen 6 und generell die rechtliche Kontrolle von Plänen, 7 sondern auch den Rechtsschutz speziell gegen Raumordnungspläne in den Blick genommen hat. 8 Frühzeitig schon erhebt Blümel dabei auch die Forderung, Beteiligungs- und Überprüfungsrechte so rechtzeitig vorzusehen, dass die Betroffenen nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden. 9 Hier finden sich Leitmotive, die stets ein Zentrum der Überlegungen Blümels bildeten und 1999 den Titel der Blümel gewidmeten, von Grupp und Ronellenfitsch herausgegebenen Festschrift lieferten. 10 Den diesbezüglichen Forderungen Blümels ist die spätere Rechtsentwicklung mit der durch europäische Vorgaben erzwungenen Öffnung der Raumordnung für die Beteiligung der Öffentlichkeit 11 sowie mit der schrittweisen Schaffung von Rechtschutzmöglichkeiten gegenüber Raumordnungszielen durch die Rechtsprechung 12 weithin entgegengekommen. helm Söfker, Zum Entwurf eines Gesetzes zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes (GeROG), UPR 2008, 161 ff. 4 BGBl. I Nr. 65, S. 2986 ff. 5 Ernst Forsthoff / Willi Blümel, Raumordnungsrecht und Fachplanungsrecht, 1970. 6 Dazu bereits Willi Blümel, Ungereimtheiten beim Rechtsschutz gegen Planfeststellungen, DÖV 1959, 665 ff.; vgl. auch ders., Fachplanung durch Bundesgesetz (Legalplanung), DVBl. 1997, 205 ff. mit Kritik an der mit diesem Vorgehen intendierten Verkürzung des Rechtsschutzes. 7 Willi Blümel, Planung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVBl. 1975, 695 ff., und 30 Jahre später nochmals ders., Planung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Abschiedsvorlesung von der Hochschule Speyer, 1997. 8 Willi Blümel, Raumordnung und kommunale Selbstverwaltung, DVBl. 1973, 436 ff.; ders., Rechtsschutz gegen Raumordnungspläne, VerwArch 84 (1993), 123 ff. 9 Willi Blümel, Raumplanung, vollendete Tatsachen und Rechtsschutz, in: Festgabe für Forsthoff, 1967, S. 133 ff. 10 Klaus Grupp / Michael Ronellenfitsch (Hrsg.), Planung – Recht – Rechtsschutz. Festschrift für Willi Blümel zum 70. Geburtstag, 1999. 11 Dazu Wolfgang Durner, Neuausrichtung der Raumordnung in Bund und Ländern, in: W. Erbguth (Hrsg.), Neues Städtebau- und Raumordnungsrecht – rechtliche Bewertung, Bedeutung für die Praxis, 2007, S. 29 ff.
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Die in meinen Augen grundlegendsten Überlegungen zum Raumordnungsrecht finden sich indes in einem großen Aufsatz zur „Standortvorsorgeplanung für Kernkraftwerke und andere umweltrelevante Großvorhaben“ aus dem Jahr 1977, der ausgearbeiteten Fassung eines Vortrags auf dem 48. Kolloquium über Fragen des Energierechts des Instituts für Energierecht an der Universität Köln. 13 In mehrfacher Hinsicht ist dieser Aufsatz bemerkenswert: Zunächst handelt es sich in formaler Hinsicht um ein geradezu lupenreines Beispiel für Blümels legendäre Fußnotentechnik, 14 die sich selbst dem unkundigen Leser bereits durch einen kurzen Blick auf die ersten Seiten dieses Aufsatzes erschließt. Ebenso bemerkenswert ist aber der Inhalt des Aufsatzes, der in den mehr als 30 Jahren seit seiner Veröffentlichung nichts an Aktualität verloren hat und der – von der überkommenen Konzeption Raumordnung sich bereits begrifflich absetzend – den rechtspolitischen Entwurf einer wünschenswerten gesamtplanerischen Infrastrukturvorsorge des Bundes liefert. Blümel stellt dar, dass bundesweit nach Standorten für Kernkraftwerke und vergleichbare Großvorhaben gesucht werde, und belegt die massiven Konfliktpotentiale dieser Vorhaben und die Unzulänglichkeit der für diese Suche verfügbaren Planungsinstrumente. Dies führe dazu, dass letztlich nicht „umfassend oder vorausschauend geplant, sondern praktisch alles der Entwicklung überlassen“ werde. 15 Der Bund, so kritisierte Blümel, verschanze sich dabei hinter der Schutzbehauptung, über keine ausreichenden Kompetenzen zu verfügen; in einem Bundesstaat gebe es jedoch von vornherein „eine ungeschriebene Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz für eine Bundesraumordnung“. 16 Daher plädierte Blümel dafür, an die Stelle des seinerzeit „unzureichenden Raumordnungsrechts“ eine umfassende und rechtsverbindliche „Standortvorsorgeplanung“ zur Gemeinschaftsaufgabe von Staat und Wirtschaft zu erheben. Offen trat Blümel dabei für eine Verstärkung der zentralen Einflussmöglichkeiten des Bundes und zugleich einen Ausbau der Rechtsschutzmöglichkeiten der Bürger ein. Das später vielfach aufgegriffene 17 Plädoyer Blümels gilt mithin einer Aktivierung der Bundesraumordnung mit dem Ziel einer planvollen Flankierung der Infrastrukturverantwortung des Bundes. Haben auch diese Forderungen im neuen Recht Niederschlag gefunden? 12 Umfassend dazu Martin Kment, Rechtsschutz im Hinblick auf Raumordnungspläne, 2002; ders., Unmittelbarer Rechtsschutz Privater gegen Ziele der Raumordnung und Flächennutzungspläne im Rahmen des § 35 III BauGB NVwZ 2003, 1047 ff. und öfter. 13 Willi Blümel, Die Standortvorsorgeplanung für Kernkraftwerke und andere umweltrelevante Großvorhaben in Deutschland, DVBl. 1977, 301 ff. 14 Die Erwiderung von Johannes Depenbrock, DVBl. 1978, 17 ff., konnte die Replik von Willi Blümel, DVBl. 1978, 21 f. weithin bereits durch Verweis auf Fußnoten des Ausgangsbeitrags widerlegen. 15 Blümel (Anm. 13), S. 307. 16 Blümel (Anm. 13), S. 314 f. 17 Vgl. etwa Rainer Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, Erster Band, 1978, S. 277 ff. m.w. N.
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II. Die Bundesraumordnung und die Infrastrukturverantwortung des Bundes 1. Raumordnungskompetenzen nach dem Bodengutachten des Bundesverfassungsgerichts Die Bundesraumordnungsplanung bildet als zusammenfassende, übergeordnete Planung zur Ordnung und Entwicklung des Raumes auf Bundesebene die oberste Stufe der Raumordnungsplanung. Dass eine solche Bundesraumordnungsplanung überhaupt denkbar erscheint und zumindest in unverbindlicher Form existiert, beruht auf Weichenstellungen des Bundesverfassungsgerichts: 1954 hatte das Gericht in seinem berühmten Bodengutachten dem Bund mit der Erwägung, Raumordnung stelle „eine notwendige Aufgabe des modernen Staates“ dar, aus der Natur der Sache eine – freilich grundsätzlich wie dem Inhalt nach umstrittene – ausschließliche Vollkompetenz zur Raumplanung für den Gesamtstaat zuerkannt. 18 Diese Aussage bezog sich zwar nur auf das Bestehen einer Gesetzgebungskompetenz, argumentativ ergibt sich jedoch aus denselben Erwägungen auch eine Verwaltungskompetenz des Bundes. 19 Als „Gründungsdokument des Planungsrechts der Bundesrepublik“, das für Gesetzgebung und Rechtsprechung bis zum heutigen Tag einen maßgeblichen Orientierungsrahmen darstellt, 20 wurde das Bodengutachten zur Grundlage der anschließenden Bemühungen um die Einführung einer relevanten Bundesraumordnung.
18 Baugutachten des BVerfG v. 16. 6. 1954 – 1 PBvV 2/52 –, BVerfGE 3, 407, 427 f.; bestätigt durch Urt. v. 30. 10. 1962 – 1 BvF 2/60, 1, 2, 3/31 –, BVerfGE 15, 1, 16; vgl. dazu Walter Bielenberg / Peter Runkel / Willy Spannowsky, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder, Kommentar J 610 Rn. 50 ff., Stand: VIII/1986; Rüdiger Breuer, Verfassungsstruktur und Raumordnung, VerwArch 69 (1978), 1, 12; Gerhard Bülter, Raumordnungspläne als hoheitliche Handlungsformen, 1987, S. 9; CarlHeinz David, Europarechtliche Auswirkungen auf die Raumplanungsrechtsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für Lendi, 1998, S. 47, 56 f.; Forsthoff / Blümel (Anm. 5), S. 77 ff.; Michael Krautzberger, Orientierungsrahmen für die Raumordnungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 1992, 911, 912 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Bundeskompetenzen zur Raumordnung unter veränderten Rahmenbedingungen, in: Festschrift für Felix Weyreuther, 1993, S. 73 (76 f.); Wolfgang Suderow, Rechtsprobleme des Bundesraumordnungsprogramms, 1975, S. 15 ff. 19 Wie hier etwa Blümel (Anm. 13), S. 313 ff., m.w. N. in Fn. 268; Breuer (Anm. 18), 1, 12; Spannowsky (Anm. 2), S. 422; Wahl (Anm. 17), S. 277; den zulässigen Gegenstand solcher Bundesraumordnung sachlich eingrenzend Wilfried Erbguth, Die Koordination raumbedeutsamer Fachplanungen. Zum aktuellen Diskussionsstand, BayVBl. 1981, 577, 580, m.w. N.; Hans-Ulrich Evers, Recht der Raumordnung, 1973, S. 93, 102 ff.; a. A. indes Schmidt-Aßmann (Anm. 18), S. 78 ff., m.w. N. 20 Ulrich Battis / Jens Kersten, Europäische Politik des territorialen Zusammenhalts – Europäischer Rechtsrahmen und nationale Umsetzung, 2008, S. 41 m.w. N.
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2. Die Unverbindlichkeit der bisherigen Bundesraumordnung Auf diesen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts beruhten die Vorschriften in Abschnitt 3 des bis Ende 2008 geltenden Raumordnungsgesetzes über die Raumordnung des Bundes. Nach § 18 Abs. 1 S. 2 ROG entwickelte das Bundesministerium für Raumordnung auf der Grundlage der Raumordnungspläne der Länder und in Zusammenarbeit mit diesen abstrakte „Leitbilder der räumlichen Entwicklung des Bundesgebietes“ als Grundlage für die Abstimmung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen des Bundes und der Gemeinschaft. Eine solche Bundesraumordnung wird bereits seit 1974 praktiziert, als der Bund ein erstes Bundesraumordnungsprogramm mit programmatischen Aussagen für die gesamträumliche Entwicklung auf Bundesebene erließ, das in seiner Wirksamkeit jedoch beschränkt blieb. 21 Der statt dessen 1993 in Zusammenarbeit mit den Ländern erarbeitete „Raumordnungspolitische Orientierungsrahmen“, eine konzeptionelle Grundlage für die weitere räumliche Entwicklung des Bundesgebietes, erschöpft sich jedoch bereits nach den Vorgaben des geltenden Raumordnungsgesetzes in rechtlich unverbindlichen und faktisch wenig beachteten Perspektiven, Leitbildern und Strategien 22 und enthält insbesondere keine bindenden Ziele der Raumordnung. Die Bundesraumordnung bleibt damit in ihrem Geltungsanspruch gegenüber anderen Raumansprüchen deutlich hinter der Durchsetzungs- und Aussagekraft der hierarchisch nachfolgenden Landesplanungen zurück. 23 3. Marginalisierung der Raumordnung und Dominanz der Fachplanungen Der effektive Geltungsanspruch der Raumordnungsplanung des Bundes ist damit – sowohl nach außen gegenüber den Ländern, als auch nach innen gegenüber den Bundesfachplanungen – bescheiden. Noch nicht einmal die Infrastrukturvorhaben des Bundes selbst werden durch die Bundesraumordnung nennenswert beeinflusst. Insgesamt entfaltet die Raumordnung des Bundes – ganz anders als 21 BT-Drs. 7/3584; vgl. dazu Evers (Anm. 19), S. 100 ff.; Peter Runkel, in: W. Bielenberg / P. Runkel / W. Spannowsky (Anm. 18), Kommentar K, § 1 ROG Rn. 19 ff., Stand: V.2001; Dieter Suhr / Angelika Anderl, Rechtsfragen der raumbeeinflussenden Bundesplanung, 1980, S. 90 ff. 22 Maßgebliches Dokument ist insoweit der 1993 in Zusammenarbeit mit den Ländern erarbeitete „Raumordnungspolitische Orientierungsrahmen“, abgedruckt in: W. Bielenberg / P. Runkel / W. Spannowsky (Anm. 18), Textsammlung B 420, Stand: VI/1994; vgl. dazu Ralph Baumheier / Jörg Wagner, Raumordnung in Deutschland, VerwArch 83 (1992), 97 (109 f.); Krautzberger (Anm. 18), S. 911 ff.; Schmidt-Aßmann (Anm. 18), S. 74 und 86 f. 23 Erbguth (Anm. 19), S. 578 ff.; kritisch etwa Rainer Wahl, Einige Grundprobleme im europäischen Raumplanungsrecht, in: Festschrift für Hoppe, 2000, S. 913, 919 f., m.w. N.
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die der Länder – nahezu keinerlei Steuerungskraft. 24 Verfassungsrechtlich wäre die Festlegung von Raumordnungszielen auf Bundesebene nach den Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zwar durchaus zulässig, 25 eine entsprechende Regelung bedürfte nicht einmal der Zustimmung des Bundesrats. 26 Politisch hat sich der Bundesgesetzgeber jedoch nie in der Lage gesehen, diese ihm verfassungsrechtlich zugewiesene raumordnerische Verantwortung zu übernehmen. Im Hinblick auf seine eigenen Infrastrukturvorhaben vermag sich der Bund gegenüber der Gesamtplanung der Länder letztlich nur im Rahmen seiner fachplanerischen Befugnisse durchzusetzen, namentlich durch seine Bedarfsgesetzgebung, durch die Privilegierungen gegenüber der Bauleitplanung nach § 38 BauGB sowie durch sein Widerspruchsrecht gegen bestimmte bundesunverträgliche Ziele der Raumordnung. Im Vergleich zu diesen Instrumenten bildet die Raumordnungsplanung des Bundes hingegen ein insgesamt stumpfes Schwert, das dem auf Bundesebene bestehenden räumlichen Koordinationsbedarf nicht gerecht wird. Das Fehlen verbindlicher Raumordnungsvorgaben des Bundes und die erwähnten Möglichkeiten zur Umgehung raumordnerischer Vorgaben führen zu einer Marginalisierung der Raumordnung des Bundes und letztlich der Raumordnung insgesamt. 4. Beispiele für die Schwäche der Bundesraumordnung im Infrastrukturbereich Einige aktuelle Problemfelder sollen die Unzulänglichkeit der bisherigen Bundesraumordnung verdeutlichen: a) Die Standortsuche für ein nationales atomares Endlager Das durch Blümel 1977 bei seiner Forderung nach einer Standortvorsorgeplanung für umweltrelevante Großvorhaben in den Vordergrund gestellte Beispiel der Kernkraftwerke ist zwar mittlerweile durch das Verbot der Errichtung neuer Kernkraftwerke – jedenfalls bis auf Weiteres – weggefallen. An seine Stelle getreten ist jedoch das drängende Problem der Entsorgung. Die alles entscheidende Frage der Endlagerung ist dabei nach wie vor unbewältigt. 27 Zwar ist nach § 23 Abs. 1 Nr. 2 AtG für die Errichtung und den Betrieb von Anlagen 24
Dazu Durner (Anm. 11), S. 35 f. So für die h. L. bereits Forsthoff / Blümel (Anm. 5), S. 80 ff.; Suderow (Anm. 18), S. 15 ff. 26 Vgl. zu den rechtlichen Möglichkeiten noch immer die Darstellung bei Suderow (Anm. 18). 27 Vgl. statt vieler Michael Rodi, Grundlagen und Entwicklungslinien des Atomrechts NJW 2000, 7 (11 f.). 25
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des Bundes zur Sicherstellung und zur Endlagerung radioaktiver Abfälle das Bundesamt für Strahlenschutz zuständig. Letztlich sind entsprechende Vorhaben bislang jedoch stets am Widerstand der betroffenen Bundesländer – vor allem Niedersachsens – gescheitert. 28 In den bisher eingeleiteten Planungen für Endlager mit schwach radioaktiven Abfällen ist dabei der raumordnerische Handlungsbedarf mit den Händen zu greifen. Namentlich das Niedersächsische Oberverwaltungsgerichts hat im März 2006 die Literaturauffassung 29 bestätigt, nach der die Planfeststellung für ein atomares Endlager eine gebundene Entscheidung darstelle und ein Vergleich mit alternativen Standorten schon deshalb nicht in Betracht komme, weil die Planfeststellungsbehörde als Landesbehörde „eine bundesweite Alternativenprüfung schon mangels seiner Zuständigkeit nichts betreiben“ habe können. 30 Dem folgte im März 2007 das Bundesverwaltungsgericht und stellte fest, die atomrechtliche Planfeststellung sei „eine gebundene Entscheidung ohne planerischen Gestaltungsspielraum der Planfeststellungsbehörde im Hinblick auf Alternativstandorte“. Dies begründet das Gericht mit dem Wortlaut des § 9b Abs. 4 AtG 31 und tritt damit im Ergebnis wohl auch den von Verzögerungswünschen getragenen Forderungen nach einer völlig neuen „alternativen Standortsuche“ auf einer „weißen Landkarte“ entgegen. 32 Wie schon im Zusammenhang mit der bergrechtlichen Planfeststellung 33 verstört mich die Aussage der Rechtsprechung, dass die Pflicht zur Standortalternativenprüfung, die aus rechtsstaatlichen Gründen selbst für die Planung einfacher Abwasserleitungen oder bei der Planung von Friedhöfen anerkannt ist 34, aus28
Hellmut Wagner, Krumme Entwicklungslinien des Atomrechts?, NJW 2000, 1358 f. Günter Gaentzsch, Struktur und Probleme des atomrechtlichen Planfeststellungsverfahrens, in: F. Ossenbühl (Hrsg.), Deutscher Atomrechtstag 2004, 2005, S. 115 (119), in Verallgemeinerung von BVerwG, Beschl. v. 14. 5. 1996 – 7 NB 3.95 –, BVerwG 101, 166 zum Abfallentsorgungsplan Saarland. 30 OVG Lüneburg, Urt. v. 8. 3. 2006 – 7 KS 145/02 –, DVBl. 2006, 1044 (1050); ähnlich Urt. v. 8. 3. 2006 – 7 KS 128/02 u. a. –, ZUR 2006, 489 (491). 31 BVerwG, Beschl. v. 26. 3. 2007 – 7 B 72/06 –, NVwZ 2007, 841 ff. 32 Vgl. dazu einerseits befürwortend Alexander Nies, Das Verfahren der alternativen Standortsuche im AkEnd-Bericht, in: Ossenbühl (Anm. 29), S. 93 ff.; andererseits kritisch Michael Brenner, Das Verfahren der alternativen Standortsuche im Bericht des Arbeitskreises Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AKEnd), ebenda, S. 99 ff. 33 Näher zur Frage der Geltung des Abwägungsgebots in der bergrechtlichen Planfeststellung Wolfgang Durner, Konflikte räumlicher Planungen, 2005, S. 368 ff.; dagegen dann aber OVG Münster, Urt. v. 27. 10. 2005 – 11 A 1751/04 –, NuR 2006, 320 (321); BVerwG, Urt. v. 15. 12. 2006 – 7 C 1/06 –, NVwZ 2007, 700 (701). 34 Vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 17. 1. 1986 – 4 C 6 u. 7.84 –, DÖV 1986, 840, 841; BayVGH, Urt. v. 2. 7. 1980 – 9 B 1834/79 –, BayVBl. 1981, 18, 19; Urt. v. 30. 11. 1993 – 8 B 92.762 –, BayVBl. 1994, 245 f.; Urt. v. 14. 5. 1997 – 22 B 96.2932 –, BayVBl. 1998, 468. 29
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gerechnet für den Bau eines atomaren Endlagers nicht gelten soll. In einem Rechtsstaat muss sich jede Planungsentscheidung der Prüfung stellen, ob Alternativen vorliegen, durch die sich das Vorhaben in zumutbarer Weise ohne oder mit geringeren Grundrechtseingriffen verwirklichen lässt. 35 Tatsächlich ergibt sich das der Alternativenprüfung zu Grunde liegende rechtsstaatliche Gebot der Abwägung aller betroffenen Belange nach einhelliger Auffassung bereits aus dem Grundgesetz, insbesondere aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den betroffenen Grundrechten. 36 Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht in zahllosen Entscheidungen bekräftigt, der Wortlaut der einschlägigen Fachplanungsgesetze sei insoweit „ohne sachliche Bedeutung“, die Pflicht zur Abwägung aller betroffenen Belange folge vielmehr einem „zum Wesen einer rechtsstaatlichen Planung gehörenden und deshalb unabhängig von einer gesetzlichen Positivierung aus dem Bundesverfassungsrecht herleitbaren Gebot“. 37 Dementsprechend stellen zahlreiche dem Abwägungsgebot unterworfene Planfeststellungen – etwa jene nach § 32 Abs. 1 KrW- / AbfG oder § 31 Abs. 2 WHG – ihrem Wortlaut nach gebundene Entscheidungen dar. Dass gleichwohl im Falle des § 9b Abs. 4 AtG der Wortlaut das grundgesetzliche Abwägungsgebot ausschließen soll, leuchtet daher nicht ein. Wenn aber das einschlägige Fachrecht tatsächlich – wie die Rechtsprechung annimmt – keine Möglichkeit eröffnet, im Rahmen der atomrechtlichen Planfeststellung räumliche Planungsalternativen zu entwickeln und die Wahl des konkreten Standortes planerisch zu begründen, dann wäre die Bundesraumordnung für eine solche bundesweite Standortfindung der einzige denkbare und politisch hinreichend legitimierte Standort. Das derzeitige Ergebnis der Rechtsprechung, dass ein Endlager genehmigt werden kann, ohne dass von Rechts wegen eine Überprüfung des Standorts stattfindet, erscheint jedenfalls verfassungsrechtlich unbefriedigend, zumal der bislang untersuchte Salzstock Gorleben einem Stand-
35 So etwa BVerwG, Urt. v. 22. 3. 1985 – 4 C 15.83 –, BVerwGE 71, 166; Urt. v. 5. 12. 86 – 4 C 13.85 –, BVerwGE 75, 214; für Enteignungen OVG Lüneburg, Urt. v. 28. 2. 1991 – 3 A 291/88 –, NJW 1991, 3233; umfassende Nachweise bei Gregor Forschbach, Die Pflicht zur Standortalternativenprüfung in der Planfeststellung, 1998. 36 Vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 14. 5. 1985 – 2 BvR 397 – 399/82 –, BVerfGE 70, 35, 50; BVerwG, Urt. v. 11. 12. 1981 – 4 C 69/78 –, BVerwGE 64, 270, 273; Urt. v. 9. 9. 1988 – 4 B 37/88 –, NuR 1990, 111, 113; Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 297; Fritz Ossenbühl, in: W. Erbguth / J. Oebbecke / H.-W. Rengeling / M. Schulte (Hrsg.), Abwägung im Recht, 1995, S. 25, 29; H.-J. Papier, Eigentum in der Planung, in: Festschrift für Hoppe, 2000, S. 213, 220; weitere Nachweise bei Durner (Anm. 33), S. 301 ff. 37 BVerwG, Beschl. v. 10. 2. 1978 – 4 C 25/75 –, BVerwGE 55, 220 (225 und 227); ähnlich Urt. v. 7. 7. 1978 – 4 C 79.76 –, BVerwGE 56, 110 (122 ff.); Urt. v. 29. 1. 1991 – 4 C 51.89 –, BVerwGE 87, 332 (341 ff.), jeweils m.w. N.; vgl. weiter die Nachweise bei Durner (Anm. 33), S. 276 ff.
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ortvergleich nach allen bislang vorliegenden Erkundungen durchaus standhalten dürfte. 38 b) Der Wildwuchs der Flughafenplanungen Ein weiteres Beispiel ist die durch die Länder vorangetriebene ungebremste und unkoordinierte Entstehung zusätzlicher Flughäfen in verschiedenen Bundesländern – erwähnt seien die zum Teil in unmittelbarer Nähe der großen Drehkreuze entstandenen Verkehrsflughäfen Erfurt, Klewe oder Lübeck –, die zu einer „Verschwendung öffentlicher Mittel“ und zu kaum vertretbaren Belastungen der Umwelt führt. Nach einer Studie der Deutschen Bank aus dem Jahr 2006 sollen nur fünf der 39 Regionalflughäfen in Deutschland in die Nähe kostendeckender Passagierzahlen kommen. 39 Angesichts dieses „Wildwuchses der deutschen Flughafenlandschaft“ 40 haben verschiedenste Gruppen von der Bundesregierung eine bundesweit abgestimmte Flughafenplanung gefordert. 41 Tatsächlich jedoch beschränkt sich – wie Steiner in der Festschrift für Blümel anschaulich gezeigt hat – die Rolle des Bundes bei der Bestimmung des Standorts für Verkehrsflughäfen auf informale Einflussmöglichkeiten etwa im Rahmen von Kapitalbeteiligungen an den Trägergesellschaften der Großflughäfen. 42 Im Übrigen unterliegen die entsprechenden Genehmigungsverfahren zwar einem starken Einfluss raumordnerischer Vorgaben 43 – aber eben nur solcher der Länder. Wenn das Bundesverwaltungsgericht daher in seiner vielbeachteten Entscheidung zum Flughafen Schönefeld im Leitsatz 1 ausführt, die Wahl des Standorts für einen internationalen Verkehrsflughafen sei „vorrangig eine raumordnerische Entscheidung“, 44 folgen daraus keinerlei Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes. Dementsprechend hat der Bund einem volkswirtschaftlich so fragwürdigen Projekt wie dem Internationalen Verkehrsflughafen Erfurt, den das Land Thüringen eine halbe Zugstunde von dem Luftverkehrsdrehkreuz Leip38
Vgl. nur Gaentzsch (Anm. 29), S. 118. So der Artikel „Prestigeobjekte für Provinzfürsten“ der Internetzeitschrift Fairverkehr, im Internet unter: http://www.fairkehr.de/magframeset.html?fair_0106/politik /prestigeobjekte.htm. 40 Kleinstflughäfen: Wildwuchs ungebrochen, Politikbrief der Lufthansa vom März 2007, im Internet unter: http://konzern.lufthansa.com/de/downloads/presse/politikbrief/03 _2007/Lufthansa_PolitikBrief_Maerz_2007_S4_5.pdf. 41 Vgl. etwa die Pressemitteilung des Verkehrsclubs Deutschland „Wildwuchs beim Flughafenbau beenden“ v. 11. Mai 2007, im Internet unter: http://www.vcd.org/407.html ?&tx_cwtpresscenter_pi1[showUid]=420&cHash=4b52d35edd. 42 Steiner, Zur Standortfindung bei Verkehrsflughäfen, in: Festschrift für Blümel (Anm. 10), S. 549 ff. 43 Näher dazu Wilfried Erbguth, Luftverkehr und Raumordnung – am Beispiel der Flughafenplanung, NVwZ 2003, 144 ff. 44 BVerwG, Urt. v. 16. 3. 2006 – 4 A 1075/04 –, BVerwGE 125, 116 (130 ff.). 39
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zig entfernt mit bislang 76 Millionen Euro vorangetrieben hat, 45 mangels einer durchsetzbaren Bundesraumordnung bislang nichts entgegenzusetzen. c) Länderraumordnung als Einfallstor zur Usurpation der Bundesinfrastrukturplanungen Einen dritten Komplex, die seit Jahrzehnten bekannten Konflikte zwischen den Infrastrukturplanungen des Bundes und der Raumordnung der Länder, will ich – da vor kurzem an anderer Stelle behandelt 46 – hier lediglich zusammenfassend erwähnen: Bei vielen dieser Konflikte geht es um den bekannten Widerstreit fachlicher und überfachlicher Interessen. Zumal bei den Streitigkeiten um die Streckenführung der Verkehrswege nehmen die Länder jedoch von jeher auch mit rechtlichen und außerrechtlichen Instrumenten verkehrspolitischen Einfluss auf die Infrastrukturplanungen des Bundes 47 und versuchen dabei seit Jahrzehnten, ihre infrastrukturpolitischen Ansprüche auch mit den Mitteln der Raumordnung durchzusetzen. Die Länder und die betroffenen regionalen Planungsverbände entwickeln zum Teil dezidierte Vorstellungen über den Streckenverlauf der Bundesfernstraßen oder der Eisenbahnstrecken des Bundes und berufen sich in den Planverfahren auf entsprechende raumordnerische Festsetzungen, die sie zuvor selbst aufgestellt haben. Den wohl extremsten Vorstoß dieser Art startete zu Beginn dieses Jahrzehnts der Freistaat Bayern, der den Bund im Verordnungswege durch entsprechende Ziele der Raumordnung explizit zu einem Ausbau des süddeutschen Eisenbahnnetzes verpflichtete. 48 Auch wenn diesem untauglichen Versuch kein Erfolg beschieden war, haben ähnliche Ansätze bei subtilerer Anwendung etwa auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke Frankfurt-Köln zu Haltepunkten wie Limburg an der Lahn oder Montabaur geführt. d) Die zunehmende Dominanz der Raumordnung der Europäischen Gemeinschaft Auch die zunehmende Dominanz der Raumordnung der Gemeinschaft macht schließlich das Fehlen einer effektiven Bundesraumordnung immer deutlicher. 45
Vgl. dazu die kritischen Ausführungen in dem Jahresbericht 2007 des Rechnungshofs Thüringen, S. 196 ff., im Internet unter: http://www.rechnungshof.thueringen.de/. 46 Wolfgang Durner, Die Auswirkungen der Föderalismusreform auf das Eisenbahnplanungsrecht, DVBl. 2008, 69 ff. 47 Vgl. dazu bereits den Befund von Frido Wagener, Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, VVDStRL 37 (1979), 215 (238 ff.), der auf S. 240 plastisch formuliert: „Die Vorstellung, daß der Bund heute selber bestimmen könnte, wo und in welchem Umfange Bundesfernstraßen gebaut werden, kann nur der naiv Zuständigkeitsgläubige haben.“ 48 Näher hierzu Durner (Anm. 33), S. 261 ff. m.w. N.
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Zwar verfügt die Gemeinschaft nach vorherrschender Rechtsauffassung bislang über keine allgemeine Zuständigkeit für das Gebiet der gemeinschaftlichen Raumordnung. 49 Dennoch hat die Gemeinschaft – namentlich im Jahr 1999 mit dem Europäischen Raumentwicklungskonzept EUREK und im Mai 2007 mit der Verabschiedung der „Territorialen Agenda der Europäischen Union“ – formal unverbindliche Dokumente vorgelegt, die Leitlinien einer integrierten Raumentwicklungspolitik der Gemeinschaft festlegen. Hinzu treten die infrastrukturpolitischen Festsetzungen der Gemeinschaft im Rahmen ihrer Politik der transeuropäischen Netze. 50 Die Umsetzung all dieser Vorgaben erfolgt durch praktische Maßnahmen im Rahmen eines von den Raumordnungsministern beschlossenen Aktionsprogramms. In diesem Rahmen ist es der Kommission gelungen, vor allem über das Instrument der gemeinschaftlichen Förderprogramme einen erheblichen Einfluss auf mitgliedstaatliche Planungen und insbesondere auf die nationale Infrastrukturplanung zu gewinnen. 51 Besonders wichtig ist dieser Ansatz im Bereich der gemeinschaftlichen Regional- und Strukturpolitik, wo zahlreiche Programme und Maßnahmen im Rahmen des Kohäsionsfonds gefördert werden. Im Ergebnis kommt es so im Bereich der Infrastruktur eben doch zu einer partiellen Verlagerung raumordnerischer Entscheidungsgewalt auf die Gemeinschaftsebene. 52 Immer mehr bedürfte es daher eines nationalen Akteurs, der diese gemeinschaftlichen Impulse aufnimmt. 5. Fazit: Infrastrukturpolitische Unzulänglichkeit der überkommenen Bundesraumordnung Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass Blümels Grundthese leider weiterhin zutrifft und das bisherige unverbindliche Instrumentarium der Bundesraumordnung keine Grundlage liefert, um dem Bund die Wahrnehmung seiner gesamtstaatlichen Infrastrukturverantwortung zu ermöglichen. 49 So etwa Battis / Kersten (Anm. 20), S. 8 f. m.w. N.; David (Anm. 18), S. 47; Reinhard Hendler, Rechtliche Grundlagen einer europäischen Raumordnungspolitik, in: G. Mertins (Hrsg.): Vorstellungen der Bundesrepublik Deutschland zu einem europäischen Raumordnungskonzept, 1993, S. 37 ff.; a. A. besonders Siegbert Gatawis, Grundfragen eines europäischen Raumordnungsrechts, 2000, S. 219 ff. 50 Dazu etwa Eckhard Bogs, Die Planung transeuropäischer Verkehrsnetze, 2002; Astrid Epiney, in: M. A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Teil L Rn. 430 ff., Stand: 22. EL 2008; Thomas Jürgensen, Gemeinschaftsrechtlicher und nationaler Grundrechtsschutz bei der Realisierung transeuropäischer Verkehrsnetze, 1998. 51 Näher Battis / Kersten (Anm. 20), 35 ff.; David (Anm. 18), S. 50 f.; Hans D. Jarass, Wirkungen des EG-Rechts in den Bereichen der Raumordnung und des Städtebaus, DÖV 1999, 661 (665 f.); Gatawis (Anm. 49), S. 72 ff.; vgl. auch die Pressemitteilung der Kommission: Neues Finanzierungsinstrument für europäisches Verkehrsnetz, EuZW 2008, 66 f. 52 Eingehend dazu Gatawis (Anm. 49), S. 99 ff.
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III. Die Föderalismusreform 2006 1. Die Neuordnung der Raumordnungskompetenzen durch die Föderalismusreform Die bisherigen Kompetenzen im Bereich der Raumordnung wurden durch die im September 2006 in Kraft getretene Föderalismusreform grundlegend neu gestaltet. Allerdings belegen die neuen Kompetenzen ihren Mangel an Konfliktlösungskraft dadurch, dass innerhalb weniger Monate ein heftiger Streit über Inhalt und Grenzen der Befugnisse von Ländern und Bund entbrannt ist. Die Föderalismusreform hat bekanntlich den bisherigen Kompetenztyp der Rahmengesetzgebung aufgehoben und die bislang in Art. 75 a.F. aufgezählten Sachgebiete – darunter auch die Raumordnung – in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes überführt – im Falle der Raumordnung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG n.F. Hat der Bund von diesem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht, können die Länder jedoch nach Art. 72 Abs. 3 Nr. 4 GG n.F. hiervon abweichende Regelungen treffen. Nach dem Wortlaut der Verfassung ist dieses Abweichungsrecht der Länder im Falle der Raumordnung – anders als etwa im Bereich des Jagdwesens oder der Wasserwirtschaft – unbegrenzt. Nicht aufgegriffen wurden hingegen die – freilich deklaratorisch gemeinten – Vorschläge, einen abweichungsfesten Kern von Raumordnungskompetenzen des Bundes in das Grundgesetz aufzunehmen. 53 An dieser Stelle setzt die aktuelle Diskussion ein, ob der Bund weiterhin über die bislang anerkannten ausschließlichen Kompetenzen verfügt oder ob die Länder künftig auch im Bereich der Raumordnung des Bundes ohne Einschränkung zu abweichenden Regelungen befugt sind. Zunächst hatten sich Kment und Hoppe und andere angesichts der klaren geschriebenen Kompetenzlage gegen die Möglichkeit des Bundes ausgesprochen, sich weiterhin auf eine ungeschriebene Vollkompetenz im Bereich der Raumordnung zu berufen. 54 Andererseits haben – mit z.T. grundlegenden Unterschieden im Begründungsansatz – Battis
53 Vgl. dazu die Nachweise bei Ulrich Battis / Jens Kersten, Die Raumordnung nach der Föderalismusreform, DVBl. 2007, 152 (157 f.). 54 Martin Kment, Zur angestrebten Änderung der Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Raumordnung, NuR 2006, 217 (220 f.), mit der These, die Kompetenz für die Einpassung der verschiedenen Planungen ineinander sei von vornherein nicht mit der aus der Natur der Sache bestehenden Vollkompetenz des Bundes identisch gewesen; Werner Hoppe, Kompetenz-Debakel für die „Raumordnung“ durch die Föderalismusreform infolge der uneingeschränkten Abweichungszuständigkeit der Länder?, DVBl 2007, 144 ff., der daher eine möglichst zeitnahe Korrektur der Verfassungsreform anregt; ebenso Helmuth Schulze-Fielitz, Umweltschutz im Föderalismus – Europa, Bund und Länder, NVwZ 2007, 249 (253 und 258), der allerdings Grenzen der Abweichung aus europarechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik ableitet.
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und Kersten 55, Ritter 56, Spannowsky 57 sowie ich selbst das Recht des Bundes proklamiert, weiterhin für den Bereich der – freilich sehr unterschiedlich weit gefassten – Bundesraumordnung einen abweichungsfesten Kern an Regelungen festzulegen. Die aus meiner Sicht maßgeblichen Argumente möchte ich an dieser Stelle lediglich zusammenfassen: 58 Zum einen sprechen entstehungsgeschichtliche Gründe dafür, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber zwar die in Art. 75 GG a.F. normierten Kompetenzen auf eine neue Grundlage stellen, nicht aber die ungeschriebene Vollkompetenz im Bereich der Gesetzgebung oder gar die Verwaltungskompetenz des Bundes abweichenden Regelungen der Länder öffnen wollte. Hinzu tritt, dass ungeschriebene Kompetenzen des Bundes aus der Natur der Sache schon bisher nach der Systematik des Grundgesetzes den geschriebenen vorgelagert sind. Darüber hinaus beinhalten die Infrastrukturkompetenzen des Bundes die Planung und Genehmigung der einschlägigen Vorhaben und damit auch die Zuständigkeit für die Wahl des Standorts 59 und wirken damit als Grenze der Länderabweichungsrechte. Diese Auffassung scheint sich mittlerweile in der Literatur durchzusetzen. 60 Insbesondere hat sich auch der Bund in seinem Referentenentwurf zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes auf das Weiterbestehen der ungeschriebenen Kompetenzen des Bundes aus der Natur der Sache und damit auf das Bestehen abweichungsfester Kerne für die Bundesraumordnung berufen. 61 55
Battis / Kersten (Anm. 53), 152 ff.; dies. (Anm. 20), S. 44 ff. Ernst-Hasso Ritter, Das uneingeschränkte Abweichungsrecht nach Art. 72 Abs. 3 GG. Notwendige Bemerkungen zum Bereich der Raumordnung, ARL-Nachrichten 3/ 2006, 12 (13 f.). 57 Willy Spannowsky, Die Grenzen der Länderabweichungsbefugnis gem. Art. 72 Abs. 3 Nr. 4 GG im Bereich der Raumordnung, UPR 2007, 41 ff. 58 Näher zu alledem Durner (Anm. 46). 59 So wird nach neueren Aussagen des Bundesverfassungsgerichts auch die Standortplanung für atomare Anlagen und die Erkundung von Endlagerstätten von der Gesetzgebungskompetenz des Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG für das Atomrecht miterfasst, vgl. BVerfG, Beschl. v. 05. 12. 2001 – 2 BvG 1/100 –, BVerfGE 104, 238 (247); Brenner (Anm. 32), S. 109; Wolfgang Durner, in: K. Friauf / W. Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt-Kommentar, Art. 87c Rn. 6 m.w. N., Stand: XI/06; kritisch HansDetlef Horn, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / Ch. Starck (Hrsg.), Kommentar zum GG, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 87c Rn. 17. 60 Vgl. zuletzt Christoph Degenhart, in: M. Sachs (Hrsg.), GG, Kommentar, 4. Auflage 2007, Art. 74 Rn. 78; Christian Seiler, in: V. Epping / Ch. Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar zum GG, Art. 74 Rn. 107.1, Stand: 01. 10. 2008; Söfker (Anm. 3), S. 163; unentschieden Hans-Werner Rengeling, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 135 Rn. 311. 61 Entwurf eines Gesetzes zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes (Anm. 3), S. 18 und 28; kritisch dazu Battis / Kersten (Anm. 20), S. 46; vgl. auch Müller (Anm. 3), S. 366 in Anm. 7. 56
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2. Die Föderalismusreform als Chance zu einer Neuausrichtung der Bundesraumordnung Auf dieser Grundlage wäre der Bund weiterhin in der Lage, Regelungen über die Raumordnung auf Bundesebene abweichungsfest auszugestalten und selbst zu vollziehen. Die durch die Föderalismusreform erforderlich gewordene Neufassung des Raumordnungsrechts eröffnet damit die historische Chance zu einer grundlegenden Ertüchtigung der Bundesraumordnung. Tatsächlich hat im Dezember 2006 ein Arbeitskreis, der durch die Akademie für Raumforschung und Landesplanung einberufen wurde und an dem ich selbst mitwirken durfte, eine ganze Reihe von Empfehlungen ausgesprochen, die auf Reformbedürfnisse und geänderte Rahmenbedingungen für die überörtliche Gesamtplanung verweisen. Als das wichtigste Reformziel bezeichnete der Arbeitskreis – ganz im Sinne Blümels – die Stärkung der strategischen Führungsrolle des Bundes in der Raumentwicklungspolitik für Deutschland und im europäischen Rahmen, die dieser jedoch mit dem überkommenen raumordnerischen Instrumentarium nicht hinreichend wahrnehmen könne. Die Bundesraumplanung habe somit gesetzgeberischen Nachholbedarf; insbesondere müsse der Bund ermächtigt werden, eigene Raumplanungsziele aufzustellen. 62
IV. Das neue Raumordnungsgesetz Wird das neue Raumordnungsgesetz diesen Erfordernissen gerecht? Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Das Raumordnungsgesetz führt in vielen hier nicht interessierenden Bereichen zu erheblichen Verbesserungen. 63 Man kann dem Bund auch nicht vorwerfen, dass er das Bedürfnis nach einer stärkeren Koordination auf Bundesebene nicht erkannt habe. Und dennoch ist die Bundesraumordnung keineswegs zu einem starken Hans herangewachsen, sondern muss weiterhin ein mageres Hänschen bleiben. 1. Widerstände der Länder als Grund für gesetzgeberische Selbstbeschränkung des Bundes Der Grund für diese Weichenstellung liegt in den – vorgeblichen – Rahmenbedingungen der Föderalismusreform 2006. Ein maßgeblicher Verfasser des 62 Ad-hoc-Arbeitskreis „Novellierung des Raumordnungsgesetzes“ der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Empfehlungen zur Novellierung des Raumordnungsgesetzes, Positionspapier aus der ARL Nr. 70, 2006, S. 5 und 7; ders., Stellungnahme: Zum Entwurf des Raumordnungsgesetzes 2008, 2008, S. 7 ff.; vgl. dazu auch Durner (Anm. 11), S. 44 f. 63 Näher dazu Ad-hoc-Arbeitskreis „Novellierung des Raumordnungsgesetzes“, Stellungnahme (Anm. 62), S. 2; Müller (Anm. 3), S. 365.
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Gesetzentwurfs führt aus, die durch die Föderalismusreform eröffneten Abweichungsrechte könnten „[...] leicht dazu führen, dass die bisherige Rechtseinheit auf dem Gebiet des Raumordnungsrechts verlorengeht. Die Raumordnungsminister von Bund und Ländern haben sich darauf verständigt, dass eine solche Entwicklung vermieden werden sollte. Gemeinsames Ziel ist, die Rechtseinheit möglichst weitgehend zu wahren. Deshalb bemühen sich der Bund und die Länder um ein neues Raumordnungsgesetz, das von den Ländern mitgetragen wird und ihnen wenig Anlass zur Abweichung gibt.“ 64 Obwohl formal also kein Erfordernis einer Zustimmung der Länder besteht, hat sich der Bund entschlossen, das neue Raumordnungsgesetz im völligen Konsens mit den Ländern zu erarbeiten. 2. Die neue Befugnis zur Konkretisierung einzelner Grundsätze der Raumordnung Dies hat auch Auswirkungen auf die neuen Bestimmungen im dritten Abschnitt des neuen Raumordnungsgesetzes über die Raumordnung im Bund. Eine grundlegende Neuausrichtung der Raumordnung des Bundes findet sich dort nicht. Die erste der beiden Neuerungen dieses Abschnitts besteht darin, dass der Bund nach § 17 Abs. 1 ROG n.F. einzelne Grundsätze der Raumordnung konkretisieren kann. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll dadurch „die Raumordnung im Bereich der Entwicklung des Bundesgebietes gestärkt werden.“ Über einen appellativen Charakter geht diese Stärkung freilich kaum hinaus, denn „[...] die Rechtswirkung dieser planerischen Grundsätze der Raumordnung ist, dass sie gemäß § 4 bei nachfolgenden Abwägungs- und Ermessensentscheidungen über raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen zu berücksichtigen sind.“ 65 Damit bleibt die Wirkung dieser konkretisierten Grundsätze sehr nahe an jener des bisherigen Raumordnungspolitischen Orientierungsrahmens. Dennoch soll die neue Regelung „[...] auch dazu beitragen, dass Deutschland auf europäischer Ebene handlungsfähiger wird. Damit soll abgewehrt werden, dass die EU neue Kompetenzen anstrebt, weil sie in Deutschland Handlungsdefizite sieht.“ 66
64 Wolfgang Preibisch, Aktuelle Entwicklungen im Raumplanungsrecht, in: H. D. Jarass (Hrsg.), Raumordnung und Wasserwirtschaft, 2008, S. 1 (4). 65 Entwurf eines Gesetzes zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes (Anm. 3), S. 27. 66 Preibisch (Anm. 64), S. 11.
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Offen wird hier das Dilemma angesprochen, dass die dürftige Koordination der bundeswichtigen Infrastruktur auf Bundesebene den Anforderungen an eine geordnete Entwicklung kaum gerecht wird. Ob allerdings die Befugnis zur Konkretisierung einzelner Grundsätze der Raumordnung die Gemeinschaft davon überzeugen wird, dass die bisherigen Handlungsdefizite in Deutschland nunmehr behoben sind? 3. Länderübergreifende Standortkonzepte für See-, Binnen- und Flughäfen Nach § 17 Abs. 2 S. 1 ROG n.F. soll der Bund zudem künftig länderübergreifende Standortkonzepte für See-, Binnen- und Flughäfen als Grundlage für die Bundesverkehrswegeplanung aufstellen können. Indirekt hofft der Bund damit auch dem Wildwuchs der Regionalflughäfen in den Ländern entgegenwirken zu können und durch die Standortkonzepte deutlich zu machen, „[...] welche einzelnen Flughäfen in absehbarer Zeit an die Schienenwege des Bundes oder an die Bundesautobahnen angeschlossen werden.“ 67 Auch diese Standortkonzepte bleiben jedoch für die Länder unverbindlich: § 17 Abs. 2 S. 2 ROG n.F. stellt ausdrücklich klar, dass die Raumordnungspläne nach Satz 1 „keine Bindungswirkung für raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen der Länder“ entfalten. Offen erklärt der Bund diese Zurückhaltung mit Widerstand aus den Ländern: „Die Länder haben die angestrebte neue Regelung anfangs sehr kritisch betrachtet. Sie fürchteten insbesondere eine Bindung durch die Zielvorgaben des Bundes. Der Bund hat dem Rechnung getragen, indem er eine Bindung der Standortkonzepte für die Länder ausschließt und die Bindung auf die Bundesverkehrswegeplanung begrenzt.“ 68 Weil die Länder also keine Vorgaben des Bundes wünschen, beschränkt der Bund die Bindungswirkungen der Standortkonzepte auf sich selbst, obwohl der Bund weder See-, Binnen- noch Flughäfen festsetzt. Tatsächlich soll nach der Gesetzesbegründung die Bundesverkehrswegeplanung „einziger von den Zielund Grundsatzfestlegungen der Pläne erfasster Adressat“ sein. 69 Das Ergebnis wirkt redundant: Der Bund unter Federführung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung stellt künftig bestimmte Raumordnungsziele auf, die anschließend Bindungen allein gegenüber dem wiederum durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vorbereiteten Bun67 68 69
Preibisch (Anm. 64), S. 11. Preibisch (Anm. 64), S. 11. Entwurf eines Gesetzes zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes (Anm. 3), S. 28.
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desverkehrswegeplan entfalten. Kurioserweise legt § 21 S. 1 Alternative 1 ROG n.F. zudem noch fest, dass über einen Antrag auf Abweichung von diesen Zielen – also offenbar bei Aufstellung des Bundesverkehrswegeplans – erneut das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung entscheidet. Da ebendieses Ministerium schon bisher die fachplanerische Entscheidung trifft, wo und wann neue Bundeseisenbahnen und Bundesfernstraßen errichtet werden, scheint der tiefere Sinn der neuen Regelung in einer innerministeriellen Beschäftigungskampagne zu liegen. Gleichwohl hat der Bundesrat die offensive Auffassung vertreten, der Bund greife mit der an sich selbst adressierten Zielaussage zur Verkehrsinfrastruktur „erneut in Zuständigkeiten der Länder ein“. 70
V. Ausblick Das zentrale Reformziel der Föderalismusreform 2006 war die Schaffung klarer Verantwortlichkeiten und die Entflechtung der Zuständigkeiten von Ländern und Bund. Insbesondere die Abschaffung des Kompetenztyps der Rahmengesetzgebung und die Reduzierung der Zahl zustimmungspflichtiger Bundesgesetze zielten auf eine Trennung der gesetzgeberischen Verantwortungsbereiche von Bund und Ländern. 71 Die Entscheidung des Bundes, das neue Raumordnungsgesetz trotz des Fehlens eines Zustimmungserfordernisses im völligen Konsens mit den Ländern zu erarbeiten – ein entsprechendes Vorgehen praktiziert der Bund etwa in dem Gesetzgebungsverfahren für ein neues Umweltgesetzbuch – stellt dieses Grundanliegen letztlich geradezu auf den Kopf: Die von dem ursprünglichen Erfordernis einer Landesumsetzung ausgehende Reform der Rahmengesetzgebung des Bundes durch die Föderalismusreform führt offenbar an Stelle der erstrebten Entflechtung bundesstaatlicher Zuständigkeiten und des bisherigen Erfordernisses einer einfachen Mehrheit im Bundesrat zur totalen föderalen Konsensdemokratie. So bestätigt sich die Prognose, die bloße Möglichkeit einer Wahrnehmung der durch die Föderalismusreform begründeten Länderabweichungsrechte entfalte bereits „[...] vorwirkend einen Druck zur kompromisshaften Einigung von Bund und Ländern.“. 72 So kann es auch nicht verwundern, dass die Bereitschaft des Bundes zur Übernahme eigenständiger Verantwortung ebenfalls nicht nennenswert gewachsen ist. Bereits 1977 widersprach Blümel der Behauptung des Bundes, über keine ausreichenden Kompetenzen für eine bundesweite Standortvorsorgeplanung für umweltrelevante Großvorhaben zu verfügen. Tatsächlich hat das Bundesver70
Stellungnahme des Bundesrates, BR-Drs. 563/08 v. 19. 9. 2008, S. 8. Dazu Peter M. Huber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D zum 84. Deutschen Juristentag, Bd. I, 2004, bes. S. 70 und 85. 72 Schulze-Fielitz (Anm. 54), S. 255. 71
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Wolfgang Durner
fassungsgericht 1954 in seinem vorausschauenden Bodengutachten dem Bund die Möglichkeit, seiner gesamtstaatlichen Infrastrukturverantwortung raumordnerisch gerecht zu werden, gleichsam auf dem Silbertablett serviert. Dass diese Bundesraumordnungskompetenz im Zuge der Föderalismusreform 2006 wohl doch nicht verloren gegangen ist, hat der Bund letztlich vor allem den Auslegungskünsten der Wissenschaft zu verdanken. Mehr als 30 Jahre nach dem Befund Blümels wird man feststellen müssen: Dem Bund mangelt es letztlich nicht an den Kompetenzen für eine effektive Bundesraumordnung, und es hat ihm auch vor der Föderalismusreform nicht an solchen Kompetenzen gefehlt. Wohl aber fehlen dem Bund – um eine Formulierung Immanuel Kants zu übernehmen – die Entschließung und der politische Mut, sich dieser Kompetenzen ohne Mitwirkung der Landesfürsten zu bedienen. Tatsächlich wird man sogar die Frage stellen müssen, ob der Bund in den aufgeführten Beispielen überhaupt gewillt ist, seiner gesamtstaatlichen Verantwortung nachzukommen, ob also beispielsweise ein hinreichender politischer Wille vorhanden ist, den Wildwuchs der Flughafenplanungen der Länder – etwa den Wettkampf der 30 km voneinander entfernten Flughäfen Saarbrücken und Zweibrücken 73 – zu unterbinden oder das dringend benötigte nationale atomare Endlager zu verwirklichen. 74 Gerade die letztgenannte Aufgabe hat seit Jahrzehnten noch jede Bundesregierung gerne auf spätere Legislaturperioden vertagt. So wird sich wohl in allen genannten Bereichen auf absehbare Zeit nichts an dem Befund des Jubilars ändern, dass Teile der bundeswichtigen Infrastruktur nicht „umfassend oder vorausschauend geplant werden, sondern praktisch alles der Entwicklung überlassen“ bleibt. 75 Allerdings wäre es für den Planungsrechtler Blümel ein angemesseneres Geschenk gewesen, wenn das neue Raumordnungsgesetz seine 30 Jahre alten Analysen zur Makulatur gemacht hätte.
73 74 75
Vgl. den Politikbrief der Lufthansa (Anm. 40). Ähnlich bereits Brenner (Anm. 32), S. 113. So die Zitate bei Blümel (Anm. 13), S. 307.
Aktuelle Grundfragen des Verfassungsund Verwaltungsrechtsschutzes Podiumsdiskussion
Aktuelle Grundfragen des Verfassungsrechtsschutzes Zum Recht auf effektiven Rechtsschutz Hans-Jürgen Papier Wenn ich gebeten werde, zum Thema des „Rechtsschutzes“ Stellung zu nehmen, dann dürfen Sie nicht überrascht sein, wenn ich einiges aus der neuesten Judikatur unseres Hauses berichte. Erstaunlicherweise hat die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG gerade in letzter Zeit eine große praktische Bedeutung in der verfassungsgerichtlichen Judikatur erlangt. Zum einen dergestalt, dass sich neben Art. 19 Abs. 4 GG eine andere Rechtsschutzgewährleistung etabliert hat, nämlich der aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG entwickelte Justizgewährungsanspruch. Dieses Institut des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs hat in der praktischen Auswirkung inzwischen eine Dimension erreicht, die durchaus dem Art. 19 Abs. 4 GG gleichkommt. Sie erfasst insbesondere den gesamten Rechtsschutz im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit, weil wir nach wie vor davon ausgehen, dass Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutz nur durch den Richter gewährleistet, aber nicht gegen den Richter. Das ist in dem berühmten Plenarbeschluss 1 vom 30. April 2003 nochmals bestätigt worden. Dort ging es um die Frage, auf welcher Grundlage Rechtsschutz gegen den Richter als erkennenden, also Streit entscheidenden Richter, gewährt werden kann, wenn es um die Verletzung von Justizgrundrechten geht, wie etwa den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Hierfür wurde vom Plenum des Bundesverfassungsgerichts der allgemeine Justizgewährungsanspruch fruchtbar gemacht. Es ist zu dem Ergebnis gelangt, dass dann, wenn ein Grundrechtsverstoß verfahrensrechtlicher Art in Frage steht, der Justizgewährungsanspruch jedenfalls eine einmalige Überprüfung durch den Fachrichter verlangt, bevor anschließend vor dem Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde erhoben werden kann. Die fachgerichtliche Überprüfung muss nicht notwendig durch den iudex ad quem erfolgen, vielmehr muss nur überhaupt ein Rechtsbehelf eröffnet sein. Die Entscheidung des Plenums des Bundesverfassungsgerichts hat in der Folge ja dann dazu geführt, dass die Anhörungsrüge in den einfachgesetzlichen Prozessordnungen eingeführt wurde. Dazu kann ich im Laufe der Diskussion vielleicht noch einiges sagen, denn das ist ein weites Feld. 1
BVerfGE 107, 396 (403, 406).
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Lassen Sie mich jetzt aber zurückkommen zum Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG und zu dem Begriff der „öffentlichen Gewalt“. Hierzu gehört – wie dargelegt – nicht der Rechtsschutz gegen den Richter, also der Kernbereich richterlicher Tätigkeiten. Die hier entstehenden Rechtsschutzfragen beantwortet der Justizgewährungsanspruch. Allerdings sind auch bezüglich dieser Abgrenzung immer wieder Klarstellungen notwendig. Denn die Tätigkeit des Richters beschränkt sich ja nicht auf die eigentliche Streitentscheidung, sondern sie geht über die rechtsprechende Gewalt im engeren Sinne weit hinaus, zum Beispiel bei der Bestellung eines Insolvenzverwalters. Das ist ohne Zweifel richterliche Tätigkeit, aber es ist eben etwas anderes als die Insolvenzeröffnung selbst, und es ist vor allen Dingen ganz etwas anderes als eine zivilgerichtliche Streitentscheidung. Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts sowie nachfolgend die Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Bestellung von Insolvenzverwaltern 2 haben daher festgestellt, dass Art. 19 Abs. 4 GG auch dann greift, wenn richterliche Tätigkeit ausgeübt wird, die über die rechtsprechende Gewalt hinausgeht. Die Bestellung eines Insolvenzverwalters ist ein Akt der „öffentlichen Gewalt“ im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG, so dass hier diese Gewährleistung ausnahmsweise Rechtsschutz gegen den Richter eröffnet. Eine weitere interessante Entwicklung des Begriffs „öffentliche Gewalt“ im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG ergab sich hinsichtlich der Vergabe öffentlicher Aufträge unterhalb der gemeinschaftsrechtlich vorgegebenen Schwellenwerte. Diese Vergabe geschieht nach Auffassung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht in Ausübung „öffentlicher Gewalt“. 3 Damit wurde in diesem Bereich gewissermaßen die Zweistufentheorie verworfen. Die genannte Entscheidung begründet dies damit, dass der Staat bei der Vergabe öffentlicher Aufträge als Marktteilnehmer tätig wird und sich auf privatrechtlichem Sektor bewegt, so dass hier der Rechtsschutz über den allgemeinen Justizgewährungsanspruch garantiert ist. Lassen Sie mich nun zu einer weiteren – wie ich finde – sehr wichtigen Frage kommen, nämlich der, inwieweit Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutz gegen den Normgeber garantiert, also inwieweit auch der Normgeber „öffentliche Gewalt“ im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG ist. Für den Bereich des förmlichen Gesetzgebers ist die Rechtsprechung insoweit – wenn ich recht sehe – unverändert. Er übt keine „öffentliche Gewalt“ im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG aus. Fachgerichtlicher Rechtsschutz ist hier also von Verfassungs wegen nicht geboten. Bei einer Enteignung durch Gesetz bringt dies natürlich Probleme mit sich, weshalb der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts seinerzeit entschieden hat, dass die Enteignung durch Gesetz der absolute Ausnahmefall sein muss, weil es keinen Primärrechtsschutz auf der Grundlage des Art. 19 Abs. 4 GG gibt. 4 2 3 4
Vgl. BVerfGE 116, 1 (10 ff.). Vgl. BVerfGE 116, 135 (149 f.). Vgl. BVerfGE 95, 1 (22).
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Für die untergesetzliche Gesetzgebung sind diese Fragen – das war noch während Ihrer Zeit, Herr Steiner – unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität immer wieder erörtert worden. So gab es vielfach Verfassungsbeschwerden gegen Rechtsverordnungen des Bundes, gegen die kein Primärrechtsschutz möglich war. Darüber hinaus haben ja auch viele Bundesländer von der Ermächtigung des § 47 VwGO keinen Gebrauch gemacht, so dass gegen von dort stammende Satzungen und Rechtsverordnungen immer sofort das Bundesverfassungsgericht um Rechtsschutz nachgesucht wurde. Aus Anlass einer Subsidiaritätsprüfung hat dann der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts festgestellt, dass Art. 19 Abs. 4 GG durchaus Rechtsschutz gegen den untergesetzlichen Gesetzgeber eröffnet. 5 Diesem Erfordernis kann durch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung dadurch genüge getan werden, dass sie § 43 Abs. 1 VwGO gewissermaßen verfassungskonform interpretiert und so akzeptiert, dass es um den Streit über konkrete Rechtsverhältnisse gehen kann, wenn zwischen den Parteien strittig ist, ob die in einer Rechtsverordnung oder Satzung bestimmten Rechte und Pflichten bestehen. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht nicht entgegen dem geltenden Verwaltungsprozessrecht die Zulassung einer verkappten prinzipalen Normenkontrolle verlangt. Vielmehr handelt es sich bei der Frage nach der Gültigkeit einer solchen Norm um eine Vorfrage für das konkrete Bestehen von Rechten und Pflichten. Somit wurde den Verwaltungsgerichten über die Subsidiaritätsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgegeben, eine Feststellungsklage bei einem Streit um konkrete Rechte und Pflichten, die auf Rechtsverordnungen oder Satzungen beruhen, als zulässig anzusehen. Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zur Einschränkbarkeit des Rechtsschutzes machen. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ist ja eigentlich einschränkungslos gewährleistet. Gleichwohl werden sowohl bei Art. 19 Abs. 4 GG wie auch beim Justizgewährungsanspruch Einschränkungen zugelassen, und zwar vor allen Dingen dann, wenn es darum geht, die Rechtsschutzbelange des einen gegen ebenfalls grundrechtlich fundierte Belange Dritter in einen Ausgleich zu bringen; wenn es also, wie man heute so schön sagt, um multipolare Rechtsbeziehungen geht. Ein Beispiel hierfür bietet wiederum die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vergaberecht. 6 Unterhalb der Schwellenwerte ist die Situation ja die, dass der Auftrag ohne jede Einschaltung von Mitbewerbern vergeben wird und die Mitbewerber dann im Grunde erst im Nachhinein erfahren, dass sie nicht zum Zuge gekommen sind. Wegen dieses Rechtsschutzproblems wurde Verfassungsbeschwerde erhoben. Es wurde gerügt, dass für die übergangenen Mitbewerber kein tatsächlich wirksamer Primärrechtsschutz existiere, weil sie noch nicht einmal mit Erfolg eine Willkürlichkeit oder die Gleichheitswidrigkeit der konkreten Vergabe beanstanden könnten, da der Vertrag abgeschlossen sei, wenn sie davon erführen. 5 6
Vgl. BVerfGE 115, 81 (95 f.). Vgl. BVerfGE 116, 135 (154 ff.).
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Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu entschieden, dass dies keine Frage des Art. 19 Abs. 4 GG, sondern eine Frage der allgemeinen Justizgewährung ist. Dem Justizgewährungsanspruch des Konkurrenten ist in diesem Fall hinreichend Rechnung getragen, weil er auf die Formen des Sekundärrechtsschutzes zurückgreifen kann. So reicht es aus, dass er im Nachhinein – etwa zur Vermeidung einer künftigen Übergehung bei anderen Aufträgen – eine Feststellungsklage erheben oder Schadenersatz verlangen kann. Diese Einschränkung des Rechtsschutzes des Konkurrenten ist gerechtfertigt durch den Umstand, dass sonst andere, auch grundrechtlich fundierte Belange – etwa desjenigen, der den Auftrag erhalten hat –, aber auch das öffentliche Interesse an der rechtzeitigen Ausführung des Auftrages durch einen – gar mit Suspensiveffekt verbundenen – Primärrechtsschutz des Konkurrenten in unverhältnismäßiger Weise zurückstehen müssten. Wegen dieser entgegenstehenden Belange war der Gesetzgeber trotz der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Justizgewährung nicht gehalten, hinsichtlich der Vergabe öffentlicher Aufträge unterhalb der Schwellenwerte einen Primärrechtsschutz einzuführen. Entsprechendes ist bei der Bestellung eines Insolvenzverwalters angenommen worden, allerdings auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 4 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat hier entschieden, 7 dass der Gesetzgeber nicht gehalten war, einen Primärrechtsschutz des Mitbewerbers einzuführen, der vom Richter das Amt des Insolvenzverwalters nicht übertragen bekommen hat. Das heißt, der Gesetzgeber konnte trotz Art. 19 Abs. 4 GG die Möglichkeit einer Drittanfechtung der Insolvenzverwalterbestellung und des vorläufigen Rechtsschutzs zur Verhinderung der Bestellung versagen. Denn sonst hätte dies zur Folge, dass das Insolvenzverfahren erst nach Abschluss eines möglicherweise Jahre dauernden Rechtsstreits über die Vergabe der Insolvenzverwalterstellung beginnen könne. Daher verstößt der Gesetzgeber nicht gegen Art. 19 Abs. 4 GG, wenn er in einem multipolaren Rechtsverhältnis dafür Sorge trägt, dass der übergangene Mitbewerber Sekundärrechtsschutz in Anspruch nehmen kann, etwa durch eine gerichtliche Feststellung, dass seine Übergehung rechtswidrig gewesen ist, oder vielleicht sogar in Form eines Staatshaftungsanspruchs. Es ist dagegen nicht nötig, dass der Konkurrent hier über einen Primärrechtsschutz, einschließlich eines einstweiligen Rechtsschutzes, verfügt. Dies verlangt Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Ich will noch einen letzten Punkt ansprechen. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verlangt ebenso wenig wie der allgemeine Justizgewährungsanspruch einen Instanzenzug. 8 Die einmalige Möglichkeit zur Einholung einer gerichtlichen Entscheidung reicht grundsätzlich aus. Dies ist unter dem Grundgesetz nicht zuletzt deshalb hinnehmbar, weil durch institutionelle Vorkehrungen
7 8
Vgl. BVerfGE 116, 1 (18 ff.). Vgl. BVerfGE 107, 395 (401 ff.).
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und Verfahrensvorgaben Sorge dafür getroffen ist, dass Rechtsanwendungsfehler möglichst unterbleiben. Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen, darf der Zugang nicht in unzumutbarer und aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden, so dass das vom Gesetzgeber eingeräumte Rechtsmittel leer läuft. Gerade im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit haben wir häufig mit dem Problem zu tun, dass die Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO sowie für die abstrakte Auslegung und konkrete Anwendung der Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO überspannt werden. 9 Wir sind zum Beispiel jetzt gerade in einem Verfahren tätig, 10 in dem es unter anderem darum geht, ob die Anforderungen an die Auslegung des § 124 Abs. 2 VwGO in Bezug auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache überspannt worden sind. Im konkreten Fall ist gegen einen Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts Verfassungsbeschwerde eingelegt worden, mit dem die Berufung gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil nicht zugelassen worden war, das eine atomrechtliche Transportgenehmigung zum Gegenstand hatte. Hier hat das Ausgangsgericht die Klagebefugnis des Beschwerdeführers mit der Begründung verneint, die einschlägigen Vorschriften des Atomgesetzes hätten keine drittschützende Natur. Der Beschwerdeführer sei als Anlieger an der Transportstrecke nicht anders als die Allgemeinheit und daher nicht als gesetzlich geschütztes Individuum betroffen. Das Oberverwaltungsgericht hat bezüglich dieser Frage das Vorliegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache verneint, obwohl es hierzu noch keine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts gibt. Über die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde werden wir in Kürze entscheiden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG sowie der allgemeine Justizgewährungsanspruch nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Auch außerhalb von Grundlagenentscheidungen, wie etwa dem Plenarbeschluss zur Anhörungsrüge, haben sie im täglichen Geschäft des Bundesverfassungsgerichts nach wie vor einen großen Anwendungsbereich.
9 Vgl. nur BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. Januar 2007 – 1 BvR 382/05. 10 Mittlerweile entschieden: BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. Januar 2009 – 1 BvR 2524/06.
Aktuelle Grundfragen des Verfassungsrechtsschutzes Udo Steiner
I. Willi Blümels Sorge gilt seit langem dem Zeitfaktor beim Rechtsschutz. Effektiver Rechtsschutz, wie ihn Art. 19 Abs. 4 GG und der Justizgewährleistungsanspruch des Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 GG verheißen, ist notwendig rechtzeitiger Rechtsschutz. Vollendete Tatsachen mindern oder schließen effektiven Rechtsschutz aus. In diesem Zusammenhang hat sich Willi Blümel auch mit der Rechtsschutzleistung im Rahmen des Aussetzungsverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO kritisch auseinandergesetzt. 1 Es ist in der Tat so, dass der Rechtsschutz in der Hauptsache in nicht wenigen Rechtsmaterien nur so gut ist, wie das ihm vorgeschaltete vorläufige Rechtsschutzverfahren effizient ist. Für einen zeitnahen Rechtsschutzbedarf im Falle von Konkurrentenklagen ist dies eine unbestreitbare Erkenntnis. Wem es nicht gelingt, im beamtenrechtlichen Konkurrentenverfahren die Ernennung des zunächst im Auswahlverfahren erfolgreichen Konkurrenten im Eilrechtsschutz zu verhindern, ist dauerhaft und unwiderruflich Verlierer. Der Grundsatz der Ämterstabilität ist nach wie vor in der Rechtsprechung stabil. 2 Für die Krankenhausplanung gilt nichts anderes. Wer als Krankenhausträger im Wettbewerb um die Aufnahme seines Krankenhauses in den Krankenhausplan unterliegt, muss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verhindern, dass das zunächst erfolgreiche Krankenhaus in den Bedarfsplan aufgenommen wird. Denn die Aufnahme des konkurrierenden Hauses in den Plan ist faktisch und rechtlich nur schwer selbst nach einem erfolgreichen Hauptsacheverfahren des
1
Willi Blümel, Raumplanung, vollendete Tatsachen und Rechtsschutz, in: Festgabe für E. Forsthoff zum 65. Geburtstag, hrsg. v. K. Doehring, 1967, S. 133 = K. Grupp / M. Ronellenfitsch (Hrsg.), Beiträge zum Planungsrecht 1959 –2000 v. W. Blümel, 2004, S. 69. 2 Dazu kritisch Joachim Wieland, Konkurrentenschutz bei Beamtenernennungen, in: K. Grupp / M. Ronellenfitsch (Hrsg.) Planung-Recht-Rechtsschutz, FS f. W. Blümel, 1999, S. 647. Materialreich zu den neueren Entwicklungen der Konkurrentenklage im öffentlichen Dienst Hans-Werner Laubinger, in: FS f. J. A. Seok, 2009, S. 1 und Ferdinand O. Kopp / Wolf-Rüdiger Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 42 Rn. 49 ff. Zum Konkurrentenschutz im Vertragsarztrecht siehe Ruth Düring, FS f. F.E. Schnapp, 2008, S. 389.
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zunächst unterlegenen Bewerbers rückgängig zu machen. 3 Das aufgenommene Krankenhaus stürzt sich sozusagen organisatorisch, personell und durch Investitionen in die Zukunft. Einstweiligen Rechtsschutz nach § 32 BVerfGG zu gewähren, gehört zu dem oft unbekannten Tagesgeschäft des Bundesverfassungsgerichts. 4 Diese Aufgabe ist besonders eng mit der Verfassungsbeschwerde verbunden. Verfassungsgerichte, die sie nicht kennen, tragen die Last solcher Eilverfahren nicht. Eilrechtssachen gehören in Deutschland untrennbar zum verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz, bringen aber nicht selten die Erledigungsplanung von Dezernaten in Schwierigkeiten. Der einstweilige Rechtsschutz nach § 32 BVerfGG ist übrigens auch ein Wochenendgeschäft. Es geht um untersagte Versammlungen oder Versammlungen mit beschwerenden Auflagen an Samstagen. Es geht um den Schutz vor Vollstreckung, die für den Montag angesetzt ist, die Zwangsräumung oder die Zwangsversteigerung, die Abschiebung von Ausländern und manchmal auch die Last-minute-Zulassung zu Prüfungen. Dankenswerterweise hat der Schutzpatron des deutschen Verfassungsrichters das Faxgerät erfunden. Es ermöglicht die schriftliche Information vor der fernmündlichen Beratung. Der Fax-Technik hat es der Referent zu verdanken, dass er an einem Freitag in einem Münchener Hotel Faxmengeneingangsgeschichte geschrieben hat. Manchmal hilft auch Rechtsprechung durch Fernsprecher. Das Gericht bittet um Aufschub einer Vollstreckungshandlung, etwa wenn der von der Vollstreckung betroffene Beschwerdeführer Suizid für den Fall der Vollstreckung androht. 5 Behörden, Vollstreckungsgläubiger und andere Vollstreckungsbeteiligte zeigen sich dem BVerfG gegenüber in solchen Fällen meist kooperativ. Auch dies ist ein starkes, oft unbekanntes Stück Rechtsstaat in Deutschland. Menschlich sind solche Verfahren nicht selten eine besondere Last. Sicher geht ihnen regelmäßig ein Rechtsschutzverfahren im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes, beispielsweise vor den Sozial- und Verwaltungsgerichten, voraus, dem es im Grundsatz an Qualität nicht fehlt. Die Anrufung des BVerfG um schnelle Hilfe bewegt sich in solchen Fällen dann freilich in einer anderen Kategorie. Es geht dann nicht nur um Rechtsprechung, sondern um Gerechtigkeit und um letzte Hoffnung. Dabei ist es für das BVerfG nicht einfach, einerseits eine juristische Linie zu finden, die in späteren Verfahren durchzuhalten ist, und
3 Dazu jüngst BVerwG, Urt. v. 25. 9. 2008, GesR 2009, S. 27; zusammenfassend Udo Steiner, Höchstrichterliche Rechtsprechung zur Krankenhausplanung, NVwZ 2009, S. 486. 4 Umfassend dazu Eckart Klein in: E. Benda / E. Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl 2001, § 36 (S. 492 ff.); Jörg Berkemann, in: D. C. Umbach / Th. Clemens / F.W. Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 32. 5 Zur materiellrechtlichen Grundlage in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG s. BVerfGE 52, 214 (220 f.); BVerfG, Kammerbeschluss v. 25. 9. 2003, NJW 2004, S. 49.
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andererseits dem Einzelfall gerecht zu werden. Manche suchen in Karlsruhe Gerechtigkeit und finden (nur) das Grundgesetz vor.
II. Zwei Fallgruppen mit eigener richterlicher Erfahrung seien hervorgehoben. Sieht das BVerfG im Fall einer Verfassungsbeschwerde das physische Existenzminimum des Beschwerdeführers und damit auch die vom Grundgesetz verlangte staatliche Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens (Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG) bedroht, 6 so wird das zuständige Fachgericht vom BVerfG 7 grundsätzlich angehalten, bereits im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage vorzunehmen. Nur wenn dies nicht möglich ist, ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. In diesem Falle sind die grundrechtlichen Belange umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte haben sich – so das BVerfG 8 – schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen zu stellen. Dies gelte ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Die Situation, die der Grundsatzentscheidung der Kammer zugrunde lag, war dramatisch: Die Wohnung war gekündigt, eine Stromsperre angedroht. Der Krankenversicherungsschutz drohte zu erlöschen. Das zuständige Fachgericht wurde in dem vorliegenden Fall angehalten, zügig erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Verfassungsgerichts zu entscheiden. Das BVerfG hat also nicht selbst entschieden, hat allerdings den Eilrechtsschutz in solchen existenziellen Fragen neu justiert. Die Entscheidung hat in der Sozialgerichtsbarkeit zunächst Irritation hervorgerufen, ist aber inzwischen – wie die Kommentarliteratur zeigt 9 – akzeptiert. Sie liegt im Übrigen auf einer schon länger ausformulierten Linie des BVerfG 10 und wurde in jüngster Zeit bestätigt. 11 Insgesamt greift das BVerfG ganz selten in die Praxis des vorläufigen Rechtsschutzes durch die Fachgerichte ein. Es sind die Sozial- und Verwaltungsgerichte vor Ort, die die Sozialbiographien der Betroffenen kennen oder ermitteln und die zugrundeliegende soziale Situation. Die Fachgerichte haben die Nähe zum Fall, sie haben die Nähe zum Ort. Sie haben auch die Erfahrung mit Begehren dieser 6 Dazu BVerfGE 40, 121 (133); 44, 353 (357); 45, 187 (228). Grundlegend Walter Georg Leisner, Existenzsicherung im öffentlichen Recht, 2007, S. 218 ff.; Hans M. Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 315 ff. 7 BVerfGK 5, 237. 8 BVerfGK 5, 237 (242). 9 Hier etwa Ruth Düring, in: J. Jansen (Hrsg.), SGG, 3. Aufl. 2009, § 86b Rn. 33; Stefan Binder, in: P.-B. Lüdtke (Hrsg.), SGG, 3. Aufl. 2009, § 86b Rn. 42, 47; Wolfgang Keller, in: J. Meyer-Ladewig / W. Keller / S. Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 35. S. auch Thomas Krodel, NZS 2009, S. 18 (21 f.). 10 Vgl. BVerfGE 79, 69 (74); 94, 166 (216). 11 BVerfG, Kammerbeschluss v. 25. 2. 2009, 1 BvR 120/09 (juris).
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Art, und häufig auch mit bestimmten Antragstellern. Das BVerfG mischt sich nicht ein. Verfassungsrichter sollten nicht so naiv sein, die guten Menschen in Karlsruhe zu spielen, in die Rolle des sozialrechtlichen Robin Hood zu schlüpfen. Auch das BVerfG wird nicht immer nur in redlicher Absicht angerufen. Verfassungsrichter wissen gelegentlich nicht, was sich tut (natürlich immer, was sie tun).
III. Man kann hier von einer Art Gradwanderung der Verfassungsgerichtsbarkeit in grundrechtlich dominierten Entscheidungslagen sprechen. Menschlich nicht weniger schwierig sind die Situationen, in denen Beschwerdeführer mit tödlicher oder lebensbedrohender Krankheit das BVerfG anrufen, weil ihnen die Finanzierung angeblich wirksamer Hilfe durch bestimmte Medikamente oder alternative Behandlungsmethoden seitens der gesetzlichen Krankenkassen nicht finanziert wird. Es geht dabei beispielsweise um den Einsatz von Arzneimitteln, die für bestimmte Indikationen zugelassen sind, aber nicht für die Behandlung der Krankheit des Beschwerdeführers. Off-label-use nennen die Fachleute diese Problematik. 12 Verfassungsrechtlich steht im Mittelpunkt die staatliche Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit des Menschen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), die der Staat vor allem durch das System der gesetzlichen Krankenversicherung erfüllt. 13 Es sind existenzielle Situationen, mit denen das Gericht im Rahmen von Verfassungsbeschwerden und insbesondere Anträgen auf Erlass einstweiliger Anordnungen befasst wird. Entscheidet man zu Gunsten von tödlich erkrankten Patienten, die Hoffnung auf Hilfe durch alternative Mittel oder Methoden haben, so muss man mit dem Spott derer rechnen, die auf die Universitätsmedizin setzen. Entscheidet man zu Lasten des Patienten, machen diese und deren Anwälte gelegentlich die Verfassungsrichter für den Tod mitverantwortlich und übersenden die Todesanzeige. Man muss sich gewissermaßen zwischen zwei Übeln entscheiden: dem Vorwurf der Rechtsbeugung im Fall einer allein menschlich zu rechtfertigenden Verpflichtung zur Gewährung von Leistungen oder dem Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung im Falle ihrer Versagung. Auch hier hat das BVerfG 14 die Fachgerichte angehalten, die Sachund Rechtslage möglichst schon im Eilrechtsschutzverfahren zu prüfen. Man ist im Übrigen dem deutschen Gerichtsverfassungsrecht dankbar, dass das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht den Einzelrichter nicht kennt. So geht der Richter den Weg der Entscheidung nicht allein. 12 s. dazu Peter Axer, in: U. Becker / Th. Kingreen, SGB V, Kommentar, 2008, § 31 Rn. 21 u. § 35b Rn. 8 m. Nachweisen. 13 BVerfGE 115, 25 (43). 14 s. z. B. BVerfG, Kammerbeschluss v. 19. 3. 2004, NZS 2004, S. 527.
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IV. Ich komme noch einmal zu Willi Blümel und dessen Beitrag in der Festschrift für Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag 15 zurück: Auch Raumplanung greift nicht selten vergleichbar existenziell in die Lebensverhältnisse der Betroffenen ein. Willi Blümel äußert Sympathie für eine Rechtsprechung des OVG Lüneburg, wonach es in Ausnahmefällen bereits im Aussetzungsverfahren geboten sei, die Sach- und Rechtslage so vollständig aufzuklären, wie es die Kürze der Zeit zulässt. Die Problematik einer solchen Rechtsschutzlinie sieht er freilich. Deshalb fordert er, dass das Gericht nur mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfe. Das liegt ganz auf der Linie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 16 der auch die deutschen Gerichte auf der Grundlage des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zu mehr Freude an der mündlichen Verhandlung angehalten hat. Der Richter soll sich beeilen, Schnellrichter soll er nach Willi Blümel nicht sein. Vielleicht sollten die Fachgerichte ganz allgemein gegenüber der mündlichen Verhandlung auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren aufgeschlossener sein. Hier ist allerdings das BVerfG ein schlechter Ratgeber und nicht wirklich Vorbild. Mündliche Verhandlungen gehören aus bekannten Gründen nur selten zum Verfahren der Verfassungsrechtsfindung. 17 Der Suspensiveffekt von verwaltungsgerichtlichen Rechtsbehelfen gehört seit den 1990er Jahren zu den großen Verlierern unter den Rechtsschutzinstrumenten. Das BVerfG hat diese Entwicklung nicht gestoppt. 18 Beobachter des europäischen Rechtsraumes weisen darauf hin, dass der Suspensiveffekt – leider – ein sehr deutsches Prozessrechtsinstitut ist. 19 Umso mehr hat alles an Gewicht, was die Eilrechtsverfahren in den öffentlich-rechtlichen Prozessordnungen verfahrensrechtlich und inhaltlich zugunsten ihrer Rechtsschutzfunktion strukturiert. Sie enden ohnehin in der zweiten Instanz und nicht bei einem Obersten Bundesgericht. Das ist in Streitigkeiten des öffentlichen Rechts, in denen die Gefahr einer Befangenheit der Richter im Landesdienst besteht, ein Handikap. 20
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s. Anm. 1. s. dazu mit Nachweisen Christoph Grabenwarter, Europ. Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, S. 369 ff. und Jochen Abr. Frowein / Wolfgang Peukert, EMRKKommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 6 Rn. 187 ff. 17 Dazu Benda / Klein (Anm. 4), S. 107 ff. (Rn. 246 ff.). 18 Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 1. 10. 2008, NVwZ 2009, S. 240. 19 Dazu Karl-Peter Sommermann, Der vorläufige Rechtsschutz zwischen europäischer Anpassung und staatlicher Verschlankung – Zur Zukunft des Grundsatzes der aufschiebenden Wirkung, in: FS f. W. Blümel (Anm. 2), S. 523. 20 Es ist vielleicht kein Zufall, dass das BVerfG immer wieder bei beamtenrechtlichen Konkurrentenklagen eingreift. Siehe die Nachweise bei Laubinger (Anm. 2), S. 28 ff. 16
Aktuelle Grundfragen des Verwaltungsrechtsschutzes Stephan Paetow Verehrter Herr Blümel, meine sehr geehrten Damen und Herren, aus dem Themenfeld „Aktuelle Grundfragen des Verwaltungsrechtsschutzes“ möchte ich das Thema „Deregulierungsmaßnahmen des Gesetzgebers und Verwaltungsrechtsschutz“ herausgreifen. Diese Problematik hat ja auch unseren Jubilar immer wieder beschäftigt. Zunächst aber möchte ich – der Übung vieler Teilnehmer dieses Symposiums folgend – ein kurzes Wort zu meiner ersten Begegnung mit Ihnen, lieber Herr Blümel, sagen. Das war noch vor meiner Mitgliedschaft im Arbeitsausschuss „Straßenrecht“, nämlich etwa 1981, als Sie als Prozessbevollmächtigter und ich als Berichterstatter in einem Prozess vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg aufeinandergetroffen sind. In dem den Steinbruch in Dossenheim betreffenden Verfahren ging es um interessante straßenrechtliche und straßenverkehrsrechtliche Fragen, die nach Veröffentlichung des Urteils auch Herrn Steiner zu literarischen Äußerungen veranlasst haben. Zurück zum Thema: Sie alle kennen die in den vergangenen Jahren vom Gesetzgeber erlassenen Regelungen zur Beschleunigung und Vereinfachung von behördlichen und gerichtlichen Verfahren im Bereich des Umwelt- und Planungsrechts, gerade auch mit Bezug auf die Planung und Zulassung von Infrastrukturvorhaben. Dazu möchte ich einige Gedanken äußern und mich dabei fragen, inwieweit diese Reformen zu einer Einschränkung des Verwaltungsrechtsschutzes geführt haben, und ob derartige Einschränkungen im Ergebnis auf einer vertretbaren Abwägung zwischen den beiden Polen Vereinfachung / Beschleunigung und Verwaltungsrechtsschutz beruhen. Ich beginne mit dem Thema „Abbau von Instanzen“. Das betrifft die Verwaltung wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Für die Ebene der Verwaltung ist das immer intensiver werdende Bestreben zu nennen, auf das Vorverfahren zu verzichten. Im Bereich der Planung und Zulassung etwa von Infrastrukturmaßnahmen ist dies seit langem der Fall und es hat sich bei diesen komplexen und oft sehr aufwendigen Verfahren sicher bewährt. Aber die Tendenz in vielen Bundesländern, auch in herkömmlichen Bereichen der Verwaltungstätigkeit ganz oder in erheblichem Umfang das Vorverfahren abzuschaffen, finde ich gerade auch unter Rechtschutzgesichtspunkten sehr problematisch. Es gibt nicht wenige
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Bereiche, in denen die Widerspruchsbehörden effektiveren Rechtsschutz vermitteln können, als es ein Verwaltungsgericht kann, besonders deutlich natürlich bei Ermessensentscheidungen. Auch fällt vielen Rechtsschutzsuchenden der Gang zunächst zur Widerspruchsbehörde leichter als gleich zum Verwaltungsgericht. In diesen Problembereich gehört auch das Thema Wegfall der aufschiebenden Wirkung von Klagen kraft gesetzlicher Anordnung. Auch hier war das Fachplanungsrecht in gewisser Weise Vorreiter. Was sich dort wegen der besonderen Dringlichkeit und Bedeutung mancher Vorhaben bewährt haben mag und beispielsweise auch auf das Baunachbarrecht (§ 212a BauGB) übertragen wurde, sollte nicht ohne Not auf andere Felder des Eilrechtsschutzes ausgedehnt werden. Durch die automatisch eintretende Verlagerung der Initiativ- und Darlegungslast auf den Kläger bzw. Antragsteller kann die Effektivität des Rechtsschutzes durchaus in Gefahr geraten. Die aus dem Wegfall der aufschiebenden Wirkung einer Klage folgenden weiteren Probleme sind bekannt, etwa die Erscheinung, dass von vornherein der Streit entgegen dem Modell der Verwaltungsgerichtsordnung statt auf das Verfahren der Hauptsache in das Eilverfahren verlagert wird. Will ein Gericht das vermeiden und dem Verfahren der Hauptsache nicht seine Bedeutung nehmen, kann es gerade bei sehr komplexen Vorhaben, wie es etwa die Planung eines Flughafens oder eines Kraftwerks ist, oft nur zwei Dinge machen: Entweder Verzicht auf eine vorgängige Entscheidung im Eilverfahren und möglichst baldige Durchführung des Verfahrens der Hauptsache – was freilich nur geht, wenn der Begünstigte nicht von der aufschiebenden Wirkung Gebrauch macht. Oder das Gericht beschränkt sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auf eine reine Folgenabwägung, wie es das Bundesverwaltungsgericht etwa im Verfahren um den Flughafen Berlin-Schönefeld mit dem Ergebnis der (weitgehenden) Anordnung der aufschiebenden Wirkung getan hat. Freilich ist es in weniger komplexen Fällen Gott sei Dank nicht immer so dramatisch, weil die Gerichte oft relativ schnell schon im Eilverfahren die Erfolgsaussichten der Klage hinreichend sicher einschätzen können. Das Thema „Abbau von Instanzen“ betrifft, wie Sie wissen, auch und besonders die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Betätigung von Herrn Blümel ist vor allem die stark ausgebaute erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts bei Klagen gegen Planfeststellungsbeschlüsse im Infrastrukturbereich von Interesse, zuletzt erfolgt durch das sog. Infrastrukturbeschleunigungsgesetz. Ich will jetzt nicht auf die verfassungsrechtlichen Fragen eingehen, also etwa die Frage, inwieweit es mit Artikel 95 GG vereinbar ist, dass ein Revisionsgericht in so wichtigen Verfahren wie den genannten auf unabsehbare Zeit als erst- und letztinstanzliches Tatsachengericht tätig wird. Zumindest in rechtspolitischer Hinsicht stellt sich schon die Frage, wie sinnvoll dies alles ist, zumal es Bestrebungen gibt, die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts auf andere Bereiche auszudehnen. Zunächst muss man – in aller Bescheidenheit – feststellen,
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dass das Bundesverwaltungsgericht in gewisser Weise Opfer seines eigenen Erfolges geworden ist, weil es offenbar die Erwartungen des Gesetzgebers bei Erlass des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes im Jahr 1991 erfüllt und die betreffenden Verfahren in aller Regel zügig durchgeführt hat. Seinerzeit war dies eine durchaus zweckmäßige Entscheidung, weil die im Aufbau befindlichen Oberverwaltungsgerichte der östlichen Bundesländer mit den meist komplexen und schwierigen Verfahren überfordert gewesen wären. Diese Gründe sind entfallen und man könnte den Oberverwaltungsgerichten im Rahmen ihrer Zuständigkeiten nach § 48 VwGO durchaus zutrauen, ähnlich zügig und kompetent – und vor allem mit dem Vorteil der größeren Ortsnähe – mit den Verfahren umzugehen. Ob der Zeitgewinn durch den Wegfall einer Instanz wirklich so erheblich ist, ist zu bezweifeln, weil im Falle einer erstinstanzlichen Entscheidung durch das Oberverwaltungsgericht das Bundesverwaltungsgericht oft nur noch mit einer – wenige Monate in Anspruch nehmenden – Beschwerde über die Zulassung der Revision befasst ist. Erstaunlich finde ich jedenfalls, dass die Länder, die sonst sehr auf ihren Kompetenzen gegenüber dem Bund bestehen, offenbar ohne Widerstand eine derartige Schwächung ihrer Landesgerichte hingenommen haben, und das in einem besonders wichtigen Feld der Verwaltungsgerichtsbarkeit, das man – in diesem Kreis sei die Überhöhung erlaubt – geradezu als „Kronjuwel“ dieser Gerichtsbarkeit bezeichnen könnte. Das hat einen bemerkenswerten Bedeutungs- und Kompetenzverlust der Oberverwaltungsgerichte zur Folge, was man gelegentlich feststellen muss, wenn man in Fällen, in denen die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts ausnahmsweise einmal nicht greift, bestimmte das Fachplanungsrecht betreffende Entscheidungen dieser Gerichte liest. Mindestens ebenso problematisch wird es auf längere Sicht sein, dass das Bundesverwaltungsgericht im Bereich des – auch in rechtlicher Hinsicht gewiss nicht einfachen – Planungsund Umweltrechts sich vorwiegend mit Tatsachenfeststellungen befassen muss, die häufig – man denke nur an das europäische Naturschutzrecht – allen Prozessbeteiligten außerordentlich viel Zeit und Kraft abverlangen, die dann für die eigentliche Aufgabe des obersten Verwaltungsgerichts fehlen, nämlich für die Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung auf der Grundlage von Entscheidungen der verschiedenen Oberverwaltungsgerichte zu sorgen. Zu den vom Gesetzgeber seit Jahrzehnten betriebenen Deregulierungsmaßnahmen gehören die Regelungen über Fristen und Präklusionen, sowohl im behördlichen wie im gerichtlichen Verfahren. Nach meiner Erfahrung wird die Wirksamkeit dieser Instrumente überschätzt. Dass die Verfahren oft so zeitaufwändig sind, hängt sehr viel stärker mit den rechtlichen und tatsächlichen Anforderungen des materiellen Rechts zusammen, die weder im behördlichen noch im gerichtlichen Verfahren durch das Setzen von Fristen und daraus möglicherweise folgenden Einwendungsverlusten reduziert werden können. Die materiellrechtliche (Über-) Komplexität verdanken wir in dem hier interessierenden Bereich vorwiegend dem europäischen Recht, etwa dem Recht der Umweltverträglichkeitsprüfung
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und – insbesondere – dem Naturschutzrecht (FFH, Vogelschutz, Artenschutz). Daran mag die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, der man gelegentlich mehr Pragmatismus wünschen würde, nicht ganz schuldlos sein. Leider ist die auf dem Feld des Umweltrechts so wichtige Judikatur des EuGH – was an dieser Stelle nicht ausgeführt werden kann – nicht immer sehr hilfreich, wohl auch deshalb, weil der Gerichtshof bezüglich bestimmter Rechtsfragen zunächst mit den „falschen“ Fällen befasst worden ist. Alles in allem sollte der Gesetzgeber davon Abstand nehmen, im Bereich von Fristen und Präklusionen weiter „nachzulegen“, ganz abgesehen davon, dass noch nicht hinreichend geklärt ist, wie derartige Regelungen mit den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts (Stichwort: weiter Zugang zu den Gerichten) zu vereinbaren sind. Die Frage nach der Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht stellt sich übrigens auch für die im gesamten (Fach-)Planungsrecht eingeführten Vorschriften zur Planerhaltung; auch hier harrt manches der Klärung. Im Gegensatz zu den Regelungen über Fristen und Präklusionen entfalten die Bestimmungen über die Unbeachtlichkeit bestimmter Rechtsmängel einer planerischen Verwaltungsentscheidung eine erhebliche Wirkung in Richtung „Deregulierung“, naturgemäß verbunden mit einer Einschränkung der gerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten. Das folgt nicht zuletzt daraus, dass in nicht zu unterschätzendem Umfang auch materiellrechtliche Defizite, etwa im Bereich der Abwägung, unbeachtlich sein können oder jedenfalls „nur“ zu einer Planergänzung oder zu einem ergänzenden Verfahren führen. Abschließend möchte ich vor dem Hintergrund des soeben angesprochenen Gemeinschaftsrechts nur stichwortartig ein für den Verwaltungsrechtsschutz bedeutsames Thema wenigstens benennen, nämlich die Klagebefugnis von Vorhabenbetroffenen und damit zusammenhängend den Drittschutz von Vorschriften aus dem Umweltbereich. Allgemein gesprochen gilt das Gemeinschaftsrecht – vor allem in der Auslegung durch den EuGH – als „drittschutzfreundlicher“ als das im herkömmlichen deutschen Recht der Fall ist. Ich erwähne nur das Recht der Umweltverträglichkeitsprüfung und den Bereich der umweltrechtlichen Vorsorgeanforderungen. Es fällt nicht schwer, hier und für ähnliche Felder zu prognostizieren, dass die deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung künftig manche überkommene Bastion wird räumen müssen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Aktuelle Grundfragen des Verwaltungsrechtsschutzes Ulrich Storost Rechtsschutz gegen staatliche Planung ist ein Thema, das seit einem halben Jahrhundert im Zentrum des wissenschaftlichen Lebenswerks von Willi Blümel steht. Die Rechtsprobleme, mit denen er sich dabei beschäftigt hat, sind auch heute noch aktuell. Ihre Bewältigung ist nicht nur Thema der Rechtswissenschaft, sondern täglich zu bewältigende Aufgabe der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit: Es geht um die verfassungsrechtlich gebotene Sicherung einer rechtsstaatlichen Planung durch Gewährung unabhängigen und wirksamen Verwaltungsrechtsschutzes für alle, deren Rechte durch die staatliche Planung berührt sind.
I. Ein Beispiel für diese Aktualität ist mir erst dieser Tage wieder in die Hände gefallen. In einem Aufsatz, der vor fast genau fünfzig Jahren in der Zeitschrift „Die Öffentliche Verwaltung“ erschienen ist, beklagte Blümel unter dem Titel „Ungereimtheiten beim Rechtsschutz gegen Planfeststellungen“ 1 die nach seiner Auffassung sachlich ungerechtfertigte Verkürzung des Rechtsschutzes in den Fällen des planfeststellungsersetzenden Bebauungsplans nach § 17 Abs. 3 FStrG a.F. (= § 17b Abs. 2 FStrG n.F.). Denn in diesen Fällen entfalle für die von einem im Bebauungsplan festgesetzten Straßenbauvorhaben betroffenen Grundeigentümer auch die Klagemöglichkeit gegen die straßenbaurechtliche Planfeststellung. Das Bundesverfassungsgericht hat soeben in zwei Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 das Bundesverwaltungsgericht um Stellungnahme zu den Fragen gebeten, − welche persönliche und sachliche Reichweite die Bindungswirkung einer Normenkontrollentscheidung, durch die ein Antrag nach § 47 VwGO gegen einen solchen planfeststellungsersetzenden Bebauungsplan abgelehnt wurde, für das nachfolgende Enteignungsverfahren nach den §§ 85, 87 BauGB hat und − wie sich eine Überprüfung der bauplanerischen Abwägung der Gemeinde durch die Baulandgerichte im Enteignungsverfahren auf eine etwaige Rechts1 2
DÖV 1959, S. 665 ff. 1 BvR 2187/07 und 1 BvR 692/08.
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verletzung auswirkt, die im Unterlassen einer enteignungsrechtlichen Abwägung durch die Enteignungsbehörde liegt. Dieses Ersuchen legt die Annahme nahe, dass zumindest der Berichterstatter dieser Verfahren hier die Möglichkeit einer der von Blümel befürchteten Verkürzungen des dem Staatsbürger nach dem Grundgesetz gewährleisteten Anspruchs auf umfassenden Rechtsschutz nicht ausschließt. Da die Stellungnahme des Bundesverwaltungsgerichts hierzu noch aussteht, kann ich ihr hier selbstverständlich nicht vorgreifen. Bemerkenswert erscheint jedenfalls, dass dieses schon vor einem halben Jahrhundert angesprochene und auf der Hand liegende Rechtsproblem offenbar immer noch nicht höchstrichterlich geklärt ist.
II. Das leitet über zu der ebenfalls von Blümel seit über dreißig Jahren aufgeworfenen Grundfrage, ob die Verwaltungsgerichtsbarkeit als Teil der dritten Gewalt der ihr vom Grundgesetz zugedachten Rolle gegenwärtig noch gerecht wird oder nicht. 3 Gegenstand seiner Kritik waren dabei insbesondere die dem neoliberalen Zeitgeist des letzten Vierteljahrhunderts gemäßen Tendenzen zur Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle komplexer Verwaltungsentscheidungen, vor allem also von Planungsentscheidungen. Die damit angesprochenen Fragen der Kontrolldichte verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung sind von unverminderter Aktualität. Als Beispiel mag ein erst dieser Tage veröffentlichtes Urteil meines Senats vom 9. Juli 2008 4 dienen, mit dem die Klage eigentumsbetroffener Bürger und eines Naturschutzvereins gegen den Bau einer Nordumgehung von Bad Oeynhausen im Zuge der Autobahn A 30 abgewiesen wurde. In einem der neun Leitsätze dieser fast 80 Seiten umfassenden Entscheidung wird festgestellt, dass der Planfeststellungsbehörde bei der Prüfung, ob artenschutzrechtliche Verbotstatbestände erfüllt sind – also im Bereich des sogenannten zwingenden Rechts –, eine „naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative“ sowohl bei der ökologischen Bestandsaufnahme als auch bei deren Bewertung zustehe, namentlich bei der Quantifizierung möglicher Betroffenheiten und bei der Beurteilung ihrer populationsbezogenen Wirkungen. Die gerichtliche Kontrolle sei darauf beschränkt, ob die Einschätzungen der Planfeststellungsbehörde im konkreten Einzelfall naturschutzfachlich vertretbar sind und nicht auf einem unzulänglichen oder gar ungeeigneten Bewertungsverfahren beruhen. Diese Zurücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte reiht sich ein in entsprechende Entscheidungen zur Auswahl
3 Grundlegend insoweit: Willi Blümel, Planung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVBl 1975, S. 695 ff. 4 BVerwG 9 A 14.07.
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von FFH-Gebieten, 5 zur Eingriffsregelung nach dem Bundesnaturschutzgesetz, 6 zum Störungs- und Verschlechterungsverbot nach Art. 5 Buchst. d und Art. 13 der Vogelschutzrichtlinie, 7 zur Bestandserfassung und -bewertung in der FFHVerträglichkeitsprüfung bzw. zur Eignung von Kohärenzsicherungsmaßnahmen 8 sowie zur Identifizierung europäischer Vogelschutzgebiete im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 4 der Vogelschutzrichtlinie bzw. zum günstigen Erhaltungszustand im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie. 9 Dies bedeute nicht, dass der Verwaltung insoweit Freiräume ohne gerichtliche Kontrolle zugebilligt würden. Auch die Überprüfung behördlicher Einschätzungsprärogativen sei wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz, nämlich bezogen auf die Einhaltung der dargestellten rechtlichen Grenzen des behördlichen Einschätzungsspielraums, und genüge damit den verfassungsrechtlichen Erfordernissen. Der Prüfungsmaßstab bei der gerichtlichen Kontrolle behördlicher Einschätzungsprärogativen trage lediglich in Ansatz und Umfang den Sachgegebenheiten Rechnung, die sich aus der jeweiligen materiellen Rechtslage ergäben. Mit dieser Verweisung auf die materielle Rechtslage trägt das Bundesverwaltungsgericht dem Umstand Rechnung, dass das in Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Grundrecht des einzelnen auf möglichst lückenlosen und effektiven, d. h. rechtzeitigen und umfassenden gerichtlichen Schutz gegen Verletzungen seiner Rechtssphäre durch Eingriffe der vollziehenden Gewalt die zu schützenden Rechte nicht selbst gewährt, sondern die anderweitige Normierung solcher Rechte durch die Verfassung oder den Gesetzgeber voraussetzt. Insoweit sind gemäß Art. 20 Abs. 3 GG die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung gleichermaßen an das Gesetz gebunden. Zwar folgt aus der – von Art. 19 Abs. 4 GG entscheidend mitgeprägten – Gesamtsicht des Grundgesetzes vom Verhältnis des einzelnen zum Staat, dass im Zweifel diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug verdient, die dem Bürger einen Rechtsanspruch einräumt. Der Gesetzgeber hat gleichwohl die Möglichkeit, in den von den Grundrechten und sonstigem Verfassungsrecht gezogenen Grenzen Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume der Verwaltung zu eröffnen, die innerhalb des vom Gesetz gezogenen Rahmens auch von den Gerichten zu respektieren sind. Hier wie sonst bestimmt sich nach dem sachlichen Gehalt des zugrundeliegenden, als verletzt behaupteten Rechts, wie weit die gemäß Art. 19 Abs. 4 GG erforderliche gerichtliche Kontrolle zu gehen hat. 5
Urteil vom 27. Februar 2003 – BVerwG 4 A 59.01 – BVerwGE 118, 15 (20). Urteil vom 9. Juni 2004 – BVerwG 9 A 11.03 – Buchholz 406.400 § 61 BNatSchG 2002 Nr. 5 S. 51 f. 7 Urteil vom 21. Juni 2006 – BVerwG 9 A 28.05 – BVerwGE 126, 166 (179). 8 Urteil vom 12. März 2008 – BVerwG 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299 ff., Rn. 74 f. und 202. 9 Beschluss vom 13. März 2008 – BVerwG 9 VR 9.07 – Buchholz 451.91 Europ. UmweltR Nr. 33 Rn. 14 und 45. 6
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III. Diese Rechtslage eröffnet der planenden Verwaltung bzw. den betroffenen Unternehmen freilich die Möglichkeit, immer wieder zu versuchen, mit Hilfe des Gesetzgebers den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gerade in den neuralgischen Bereichen weiter abzubauen. Hieran übt Blümel ebenfalls seit über dreißig Jahren harsche Kritik, 10 die allerdings – dem Zeitgeist entsprechend – weitgehend erfolglos geblieben ist. Während die Bedarfsplanung durch Bundesgesetz in der Rechtsprechung ohne weiteres akzeptiert wurde, weil sie in den verfassungsrechtlich vertretbaren Grenzen ihrer Bindungswirkung dem politischen Entscheidungsgehalt jeder Bedarfsfeststellung Rechnung trägt, 11 ist die Wirksamkeit anderer Versuchsgesetze dieser Zielrichtung zumindest zweifelhaft geblieben. Zur damit ins Werk gesetzten, rechtsstaatlich bedenklichen Schikanepolitik gegen die rechtssuchenden Bürger gehören insbesondere die generelle Ausschaltung des Suspensiveffekts bei Anfechtungsklagen gegen Planfeststellungsbeschlüsse und die Beseitigung des Instanzenzuges durch Einführung der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für Projekte der Verkehrsinfrastruktur. Beide Schikanen sind – zumal in ihrer Kombination – zwar unter dem Deckmantel der Verfahrensbeschleunigung in Sonntagsreden von Ministern und in populistischen Wahlprogrammen gut unterzubringen, unterminieren jedoch das Vertrauen der Bürger in die rechtsstaatliche Grundordnung des Gemeinwesens und haben sich auch in der Praxis nicht bewährt: Die generelle Ausschaltung des Suspensiveffekts bei Anfechtungsklagen gegen Planfeststellungsbeschlüsse auf wichtigen Rechtsgebieten leistet nicht nur der Schaffung vollendeter Tatsachen durch die Verwaltung Vorschub und ist deshalb mit der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Suspensiveffekts nur schwer zu vereinbaren. Sie zwingt vielmehr auch die in ihren Rechten betroffenen Bürger dazu, zusätzlich zur Einleitung eines Klageverfahrens einen fristgebundenen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu stellen, und ist deshalb unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung kontraproduktiv. Soweit nämlich die zuständigen Gerichte, wie bis vor kurzem üblich, schon im vorläufigen Rechtsschutzverfahren eine eingehendere Prüfung der Erfolgsaussichten des Klageverfahrens vornehmen, nimmt das vorläufige Rechtsschutzverfahren angesichts der Komplexität insbesondere der Tatsachenfragen oft bereits selbst die Dimensionen eines Hauptsacheverfahrens an. Es kommt mithin zu einer doppelten Befassung des Gerichts mit dem Streitgegenstand, weil der Streit erfahrungsgemäß trotz der ausführlichen Prüfung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren regelmäßig nicht beigelegt werden kann, sondern im Hauptsacheverfahren un10
Vgl. insbesondere Blümel (Anm. 3), S. 697 ff. Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Juni 1995 – BVerwG 4 C 4.94 – BVerwGE 98, 339 (345 ff.). 11
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vermindert fortgesetzt und vertieft wird. Da wegen der zunehmend komplexer werdenden Fragen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren aber eine verlässliche Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage häufig nicht möglich ist, sehen sich die Gerichte zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes durch Vermeidung vollendeter Tatsachen immer öfter zu einer reinen Folgenabwägung mit dem Ergebnis der Aussetzung der sofortigen Vollziehung veranlasst, wenn sich der Planungsträger nicht selbst bereit erklärt, mit der Ausführung des Vorhabens bis zu einer Entscheidung des Gerichts über die Klage in der Hauptsache zuzuwarten. In jedem Fall bindet die Regelung unnötig die Arbeitskapazität der Gerichte, verzögert die Befassung mit der Hauptsache und führt doch nur in Ausnahmefällen zu einem frühzeitigen Baurecht des Vorhabenträgers. Da nicht selten – etwa wegen Finanzierungsproblemen – ohnehin keine kurzfristige Realisierung des Vorhabens geplant ist und es der Planfeststellungsbehörde erforderlichenfalls unbenommen bliebe, gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung anzuordnen, könnte ein Verzicht auf den gesetzlichen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung die Gerichte entlasten, ohne das rechtspolitische Ziel der Verfahrensbeschleunigung zu gefährden. Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für Projekte der Verkehrsinfrastruktur stößt nicht nur an verfassungsrechtliche Grenzen, die das Gericht in seinem bereits erwähnten Urteil vom 9. Juli 2008 eingehend dargelegt und mit einem warnenden Fingerzeig als „derzeit – noch – nicht überschritten“ angesehen hat. Sie hat in der Praxis auch inzwischen zu dem befürchteten „Flaschenhals-Effekt“ geführt. Dieser entsteht nicht allein durch die bundesweite Konzentration der Verfahren bei einem einzigen Gericht, sondern vor allem dadurch, dass neben dem Berichterstatter auch die weiteren mit dem Fall befassten Senatsmitglieder und damit der Senat insgesamt durch die erstinstanzliche Zuständigkeit ungleich stärker als in Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde oder in Revisionssachen belastet werden. Der Grund hierfür ist in dem hohen Aufwand für die Tatsachenermittlung zu sehen, der im Planfeststellungsrecht durch die Vorgaben des europäischen Habitat- und Artenschutzrechts und die Möglichkeit der Vereinsklage in jüngster Zeit ein besonderes Ausmaß erlangt hat. Er beansprucht nicht nur über mehrere Wochen oder gar Monate die volle Arbeitskraft des Berichterstatters, sondern nimmt den gesamten Senat über eine längere Phase vollständig in Anspruch, schließt andere Tätigkeiten weitgehend aus und schränkt die Handlungsfähigkeit des Senats mithin erheblich ein. Bedingt wird dies durch zum Teil mehrtägige Lektüre von Akten und Gutachten, Vorberatungen, mündliche Verhandlungen, Zwischen- und Nachberatungen sowie Urteilsberatungen. Mündliche Verhandlungen ziehen sich dabei zunehmend über mehrere Sitzungstage hin, in Extremfällen (Flughafen Schönefeld) bis zu mehr als zehn Verhandlungstagen unter Heranziehung auch von Ergänzungsrichtern. Nach den Erfahrungen – insbesondere mit den Verfahren zum Flughafen Schönefeld – bindet auch nach Entscheidung von Musterverfahren die Abwicklung der zunächst ausgesetzten Verfahren noch über beträchtli-
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che Zeit die Arbeitskraft des Senats. Wäre die erstinstanzliche Zuständigkeit für wichtige Vorhaben auf alle Oberverwaltungsgerichte verteilt, würden sich solche Spitzenbelastungen als Ausnahmeerscheinungen darstellen und wären daher ohne weiteres zu bewältigen. Beim Bundesverwaltungsgericht drohen sie hingegen zu einem Dauerzustand zu werden, der die Leistungsfähigkeit der betroffenen Senate erheblich behindert. Die Zuständigkeit für Vorhaben der Verkehrsinfrastruktur ist beim Bundesverwaltungsgericht inzwischen auf drei Senate verteilt. Eine Verteilung auf noch mehr Senate würde die notwendige Einheitlichkeit der Rechtsprechung gefährden, jedenfalls einen erheblichen zusätzlichen Koordinationsbedarf auslösen.
IV. Bei solchen Erfahrungen kann es nicht überraschen, wenn – wie Blümel mehrfach beanstandet hat – die Spruchpraxis der Verwaltungsgerichte mitunter den Eindruck erweckt, als würde von diesen Gerichten mehr Gewicht auf die Eindämmung möglicher Einwendungen gegen fehlerhafte Planungsentscheidungen gelegt als auf die angemessene und vertretbare Planungs- bzw. Plankontrolle selbst. 12 Dies ist jedoch in der Regel nicht auf Abneigung gegen übermäßige Arbeitsbelastung zurückzuführen, sondern einer strukturellen Eigenart des deutschen Verwaltungsprozessrechts geschuldet. Der Umfang der gerichtlichen Prüfung von Verwaltungsentscheidungen wird nämlich dadurch eingeschränkt, dass der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz entsprechend Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich als subjektiv-rechtlicher Rechtsschutz ausgestaltet ist. Im Verwaltungsstreitverfahren sind deshalb die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Verwaltungsentscheidung nicht abstrakt zu erörtern, sondern nur im Hinblick auf die individuelle Rechtsbetroffenheit des jeweiligen Klägers. In einem Klageverfahren gegen einen straßenrechtlichen Planfeststellungsbeschluss kann der Kläger deshalb keine umfassende objektiv-rechtliche Planprüfung, sondern nur die gerichtliche Prüfung erreichen, ob die Planung im Hinblick auf die nachteilige Berührung gerade seiner eigenen Belange dem rechtsstaatlichen Abwägungsgebot entspricht. Ob andere gegen das Vorhaben sprechende Belange ordnungsgemäß berücksichtigt worden sind, ist demgegenüber nicht Gegenstand dieser Prüfung. 13 Eine gewisse Einschränkung mag dieser Grundsatz allerdings dahin erfahren, dass gleichgerichtete Interessen wie z. B. die Lärmschutzbelange benachbarter Anlieger, die sinnvollerweise nur einheitlich mit den entsprechenden Belangen 12
Vgl. Blümel (Anm. 3), S. 706. Grundlegend: BVerwG, Urteil vom 14. Februar 1975 – BVerwG IV C 21.74 – BVerwGE 48, 56 (66 f.). 13
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eines Klägers gewichtet werden können, in die Prüfung einzubeziehen sind. Außerdem ist einschränkend zu beachten, dass das Gewicht der individuell betroffenen Belange und das Maß ihrer Beeinträchtigung notwendig in einer Wechselbeziehung zu dem Gewicht und der Bedeutung stehen, die die ihnen in der Abwägung gegenübergestellten anderen, vornehmlich öffentlichen Belange aufweisen müssen, damit eine Zurücksetzung jener privaten Belange im Sinne der Forderungen des Abwägungsgebots geboten erscheint. 14 Aus der speziellen Ausprägung dieser letzteren Einschränkung in Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG hat das Bundesverwaltungsgericht Anfang der 1980er Jahre den Rechtssatz hergeleitet, dass der Eigentümer des durch eine Planfeststellung mit enteignender Wirkung betroffenen Grundstücks die Verletzung seiner Rechte grundsätzlich auch mit der Begründung geltend machen kann, öffentliche Belange seien nicht hinreichend beachtet worden, die Planfeststellung verstoße insbesondere gegen – als solche nicht drittschützende – Vorschriften des objektiven Rechts. 15 Dagegen haben Personen, die nicht durch einen gezielten Zugriff auf eine grundrechtlich geschützte Rechtsposition, sondern nur mittelbar durch Immissionen eines planfestgestellten Vorhabens im Schutzbereich der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 1 GG betroffen sind, keinen Anspruch auf eine solche gerichtliche Vollprüfung des Planfeststellungsbeschlusses. Abwägungsfehler zu Lasten fremder (öffentlicher oder privater) Belange sind auf die Klage eines nur mittelbar Planbetroffenen bei der gerichtlichen Abwägungskontrolle auch nicht saldierend in der Weise zu berücksichtigen, dass sie das Gewicht der für die Planung streitenden Belange relativieren. 16 Während Ronellenfitsch mit der ihm eigenen Provokationslust bei einer Speyerer Tagung 17 die Ausdehnung der Abwägungskontrolle zugunsten mit enteignungsrechtlicher Vorwirkung betroffener Grundstückseigentümer als Akt juristischer Sabotage brandmarkte, ging sie Blümel nicht weit genug. Er forderte, die Zweiklassengesellschaft der Klage- und Antragsbefugten aufzuheben und auch den nicht mit enteignungsrechtlicher Vorwirkung Betroffenen, also z. B. den in ihrer Gesundheit Gefährdeten, aber auch den nur mittelbar in ihrem Eigentum Betroffenen, das grundsätzlich umfassende Rügepotential zu gewähren mit der Folge, dass sie die Verletzung des Abwägungsgebots z. B. auch mit der Begründung geltend machen könnten, öffentliche Belange des Umweltschutzes seien nicht beachtet worden. 18 Für eine solche Gleichbehandlung aller Grundrechtsbe14 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Januar 2007 – BVerwG 9 B 14.06 – Buchholz 407.4 § 1 FStrG Nr. 11 S. 5 f. mit weiteren Nachweisen. 15 Grundlegend: Urteile vom 18. März 1983 – BVerwG 4 C 80.79 – BVerwGE 67, 74 (76 f.) und vom 21. März 1986 – BVerwG 4 C 48.82 – BVerwGE 74, 109 ff. 16 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Januar 2007, a.a. O., S. 6. 17 Persönliche Erinnerung des als Teilnehmer anwesenden Verfassers. 18 Willi Blümel, Planung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: B. Stüer (Hrsg.), Verfahrensbeschleunigung, 1997, S. 17 (23).
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troffenen spräche in der Tat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das die Grundrechte auf Gesundheit und Eigentum nicht nur als subjektive Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe auslegt, sondern darüber hinaus aus ihrem objektiv-rechtlichen Gehalt die Pflicht der Staatsorgane folgert, sich schützend und fördernd vor diese grundrechtlich geschützten Rechtsgüter zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen anderer zu bewahren. 19 Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht haben sich allerdings zu einer so einschneidenden Ausweitung des Rechtsschutzes bisher ebensowenig durchringen können wie zu der von Blümel darüber hinaus geforderten 20 „Vollkontrolle“ von Planungsentscheidungen bei Eingriffen in die gemeindliche Planungshoheit. Mit der grundsätzlich subjektiv-rechtlichen Ausgestaltung des deutschen Verwaltungsrechtsschutzes hängt auch der von Blümel als unerträglich bezeichnete 21 Umgang des Bundesverwaltungsgerichts mit der Verletzung von Verfahrensvorschriften zusammen. Danach führen Verfahrensmängel für sich genommen noch nicht zur Aufhebung eines Planfeststellungsbeschlusses. Hinzukommen muss vielmehr nach einem vom Bundesverwaltungsgericht angenommenen allgemeinen Grundsatz des Verwaltungsrechts, dass sich der Mangel auf die Entscheidung in der Sache ausgewirkt haben kann. Insbesondere die verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Beteiligung Dritter am Planungsverfahren gewährten Drittschutz grundsätzlich nicht um dieser Beteiligung selbst willen, sondern nur im Hinblick auf die bestmögliche Verwirklichung der dem Beteiligungsrecht zugrundeliegenden materiell-rechtlichen Rechtspositionen. Die Grundrechtsrelevanz dieser Vorschriften ändere hieran im Fachplanungsrecht ebensowenig wie im Atomrecht. Allein die Rüge einer Verletzung grundrechtsrelevanter Verfahrensvorschriften kann deshalb weder die Klagebefugnis noch einen Anspruch des Klägers auf Aufhebung der Planungsentscheidung begründen. 22 Die hiernach erforderliche Kausalität ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur dann zu bejahen, wenn zumindest die konkrete Möglichkeit besteht, dass ohne den Verfahrensfehler die Entscheidung anders, und zwar 19 Vgl. BVerfG, Urteile vom 25. Februar 1975 – 1 BvF 1/74 u. a. – BVerfGE 39, 1 (41), vom 16. Oktober 1977 – 1 BvQ 5/77 – BVerfGE 46, 160 (164) und vom 28. Mai 1993 – 2 BvF 2/90 u. a. – BVerfGE 88, 203 (251); Beschlüsse vom 8. August 1978 – 2 BvL 8/77 – BVerfGE 49, 89 (141), vom 20. Dezember 1979 – 1 BvR 385/77 – BVerfGE 53, 30 (57) und vom 14. Januar 1981 – 1 BvR 612/72 – BVerfGE 56, 54 (73). 20 Blümel (Anm. 18), S. 26. 21 Ebenda S. 31 ff. 22 Vgl. BVerwG, Urteile vom 22. Dezember 1980 – BVerwG 7 C 84.78 – BVerwGE 61, 256 (275), vom 29. Mai 1981 – BVerwG 4 C 97.77 – BVerwGE 62, 243 (246 f.), vom 15. Januar 1982 – BVerwG 4 C 26.78 – BVerwGE 64, 325 (332), vom 18. März 1983, a.a. O., S. 77, vom 30. Mai 1984 – BVerwG 4 C 58.81 – BVerwGE 69, 256 (259), vom 5. Dezember 1986 – BVerwG 4 C 13.85 – BVerwGE 75, 214 (228) und vom 17. Dezember 1986 – BVerwG 7 C 29.85 – BVerwGE 75, 285 (291 f.).
Podiumsdiskussion
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nicht präkludierte materiellrechtliche Rechtspositionen des jeweiligen Klägers begünstigend ausgefallen wäre. Dies sei dann der Fall, wenn sich aufgrund erkennbarer oder naheliegender Umstände die Möglichkeit abzeichnet, dass durch den Verfahrensfehler die behördliche Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Belange zum Nachteil solcher Positionen des Klägers in Richtung auf eine bestimmte Entscheidung beeinflusst worden ist. Auf die engeren Voraussetzungen des § 46 VwVfG, der eine gesetzliche Ausprägung jenes allgemeinen Grundsatzes darstelle, komme es insoweit nicht an. 23 Trotz der Kritik von Blümel haben weder das Bundesverfassungs- noch das Bundesverwaltungsgericht bisher Anlass gesehen, diese im Verhältnis zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgewogene Rechtsprechung wieder in Frage zu stellen.
23
Vgl. BVerwG, Urteile vom 30. Mai 1984 (Anm. 22), S. 270 und vom 5. Dezember 1986 (Anm. 22), S. 228.
Schlusswort Siegfried Magiera Zum Abschluss unseres Symposiums, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich zunächst Ihnen allen – auch im Namen von Herrn Sommermann und für unsere Hochschule – herzlich dafür danken, dass Sie unserer Einladung so zahlreich gefolgt und an diesem winterlichen Tag nach Speyer gekommen sind. Unser besonderer Dank gilt den Referenten für die gesprächsanregenden Ausführungen und Thesen, vor allem aber Ihnen, sehr verehrter, lieber Herr Blümel, dass Sie es uns ermöglicht haben, dieses Symposium gemeinsam mit Ihren Kollegen und Freunden auszurichten. Vor allem freuen wir uns mit allen Teilnehmern, Sie zu Beginn dieses Jahres 2009 ebenso munter und aktiv anzutreffen wie vor fünfzehn und vor zehn Jahren, als Sie mit einem wissenschaftlichen Symposium zu Ihrem 65. Geburtstag und einer Festschrift zu Ihrem 70. Geburtstag geehrt wurden. Auch der heutige Tag führte aufgrund unserer Verbundenheit mit Ihnen, lieber Herr Blümel, anerkannte Wissenschaftler und Praktiker zusammen, die mit aktuellen Beiträgen Themen aufgegriffen haben, die an Ihr Lebenswerk zum Verfassungs- und Verwaltungsrecht anknüpfen, das insbesondere auch Fragen zum Recht der Daseinsvorsorge, der Infrastrukturgewährleistung und des Gerichtsschutzes einschließt. Doch geht Ihr wissenschaftliches Werk, lieber Herr Blümel, über das deutsche Recht hinaus. Ihr anfängliches Interesse am ausländischen öffentlichen Recht und am Völkerrecht, insbesondere am Recht der Internationalen Organisationen, führte Sie schon als Student in die USA, wo Sie an der Cornell-Universität im Staat New York zwei Semester studierten. Nach Ihrer Rückkehr nach Deutschland wirkten Sie 1951 an der Begründung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen mit und nutzten Ihre erworbenen Kenntnisse, um während Ihrer Referendarzeit am Institut für Europäische Politik und Wirtschaft der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Frankfurt am Main 1954 eine Studie über die Stellung der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen zu erarbeiten.
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Aus heutiger Perspektive ist es kaum noch vorstellbar, dass es rund zwei Jahrzehnte dauern sollte, bis die damals noch zwei deutschen Staaten Mitglied der Weltorganisation wurden. Ihr transnationales Interesse an dem öffentlichen Recht anderer Staaten haben Sie, lieber Herr Blümel, später an unserer Hochschule zu deren Nutzen weiter vertieft. Auf Sie sind dauerhafte Beziehungen zu wissenschaftlichen Einrichtungen in vielen Staaten zurückzuführen, insbesondere im ostasiatischen, aber auch im europäischen Raum, so in Japan, Korea oder Spanien. Zu erinnern ist an die ehrenvolle Einladung, die Sie als Rektor unserer Hochschule von der Dongguk-Universität in Seoul erhielten, um anlässlich des 20jährigen Bestehens der dortigen Graduate School for Public Administration 1987 die Festansprache zu halten. Persönlich, lieber Herr Blümel, haben wir uns anlässlich der Staatsrechtslehrertagung 1983 in einem gemütlichen Weinlokal in der Kölner Altstadt näher kennengelernt, kurz nachdem ich den Ruf an die Hochschule Speyer erhalten hatte. Wie ich Ihrem Schriftenverzeichnis entnehmen konnte, haben wir jedoch schon zuvor als Assistenten gemeinsam an einem Werk gearbeitet, ohne allerdings voneinander zu wissen. Sie schrieben Stichwörter zu den Gebieten „Verwaltungsrecht“ und „Straßenrecht“, ich zu dem Gebiet „Verfassungsrecht ausländischer Staaten“ für die Brockhaus-Enzyklopädie – ein Zeichen, dass wir schon damals „praxisrelevant“ arbeiteten. Umso mehr freut es mich, dass wir lange Jahre gemeinsam an der Hochschule Speyer tätig sein konnten und dass Sie auch nach Ihrer Emeritierung an den Aktivitäten der Hochschule lebhaften Anteil genommen haben. Ich spreche sicherlich im Namen von uns allen, wenn ich Ihnen, lieber Herr Blümel, für eine weiterhin aktive Zukunft alles Gute, vor allem Gesundheit und Schaffenskraft, im Kreise Ihrer Familie sowie Ihrer Freunde und Kollegen wünsche.
Verzeichnis der Teilnehmer Wolfgang Bambey, Bürgermeister Dahn Prof. Dr. Richard Bartlsperger, Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Willi Blümel, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Carl Böhret, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Dr. Wolfgang Durner, Universität Bonn Dr. Wilfried Ebling, Ministerialrat, Ministerium für Umwelt, Forsten und Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz, Mainz Prof. Dr. Stefan Fisch, Prorektor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Klaus-Eckart Gebauer, Direktor beim Landtag Rheinland-Pfalz a.D., Mainz Dr. Andreas Geiger, Rechtsanwalt, München Prof. Dr. Klaus Grupp, Universität des Saarlandes Heike Haseloff-Grupp, Präsidentin des Landessozialgerichts Baden-Württemberg Prof. Dr. Hermann Hill, Staatsminister a.D., Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Werner Hoppe, Universität Münster Prof. Dr. Dorothea Jansen, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Helmut Klages, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Hans Hugo Klein, Universität Göttingen, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Dr. Klaus König, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Dr. Katrin Krehan, Ass. iur., wiss. Mitarbeiterin, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Franziska Kruse, Ass. iur., wiss. Mitarbeiterin, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Hans-Werner Laubinger, Universität Mainz Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Lüder, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Siegfried Magiera, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Hans-Peter Michler, Umwelt-Campus Birkenfeld
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Verzeichnis der Teilnehmer
Prof. Dr. Matthias Niedobitek, Technische Universität Chemnitz Prof. Georg-Berndt Oschatz, Direktor des Bundesrates a.D., Minister a.D. Dr. Stefan Paetow, Vors. Richter am Bundesverwaltungsgericht a.D. Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier, Universität München, Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dr. h.c. Rainer Pitschas, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Heinrich Reinermann, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Siegfried Rinke, Ministerialrat, Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Bonn Prof. Dr. Michael Ronellenfitsch, Universität Tübingen, Datenschutzbeauftragter des Landes Hessen Werner Schineller, Oberbürgermeister der Stadt Speyer Dr. Heribert Schmitz, Ministerialrat, Bundesministerium des Inneren, Berlin Prof. Dr. Waldemar Schreckenberger, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Staatsminister a.D. Prof. Dr. Gunnar Schwarting, Geschäftsführer des Städtetages Rheinland-Pfalz, Mainz Dr. Florian Simon, Verlag Duncker & Humblot, Berlin Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann, Rektor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Udo Steiner, Universität Regensburg, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Ulrich Stelkens, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Dr. Ulrich Storost, Vors. Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Hellmut Wagner, Stellvertretender Vorsitzender a. D. des Vorstandes des Forschungszentrums Karlsruhe Prof. Dr. Rainer Wahl, Universität Freiburg Prof. Dr. Joachim Wieland, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer