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German Pages 190 Year 2022
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 107
Der einzelne Akteur im demokratischen Rechtsstaat Symposium zum 80. Geburtstag von Edzard Schmidt-Jortzig
Herausgegeben von Utz Schliesky Sönke E. Schulz
Duncker & Humblot · Berlin
Der einzelne Akteur im demokratischen Rechtsstaat Symposium zum 80. Geburtstag von Edzard Schmidt-Jortzig
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 107
Der einzelne Akteur im demokratischen Rechtsstaat Symposium zum 80. Geburtstag von Edzard Schmidt-Jortzig
Herausgegeben von Utz Schliesky Sönke E. Schulz
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-18657-0 (Print) ISBN 978-3-428-58657-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Utz Schliesky Begrüßung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Claus Christian Claussen Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Utz Schliesky Der Bürgerstatus als Grundpfeiler des demokratischen Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kerstin von der Decken „Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu…“. Auswirkungen der Unionsbürgerschaft auf den Bürgerstatus „nach außen“ und „nach innen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Florian Becker Die Rolle des Abgeordneten im Mehrebenenparlamentarismus und in der Netzwerkdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sönke E. Schulz Gemeinwohlinteresse und Amtswürde als Leitplanken eines demokratisch-rechtsstaatlichen Beamtentums. Zugleich ein Beitrag zu einem materiellen Republikprinzip und ein Plädoyer für eine Stärkung des Beamtentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Peter M. Huber Der Richter in der Mediendemokratie. Politisierung und Instrumentalisierung rechtsstaatlicher Garantien als Herausforderung für die Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
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Inhaltsverzeichnis
Stefan Ulrich Pieper Der Wächter im Schloss Bellevue: Zur Rolle des Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Sönke E. Schulz Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Begrüßung Von Utz Schliesky Verehrter Jubilar, lieber Edzard, liebe Familie Schmidt-Jortzig, sehr geehrter Herr Minister, lieber Herr Claussen, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste und Freunde, zugleich im Namen von Sönke Schulz darf ich Sie alle sehr herzlich auf Gut Knoop begrüßen. Vor gut 10 Jahren haben wir an diesem wunderschönen Ort die Übergabe der Festschrift „Die Freiheit des Menschen“ anlässlich des 70. Geburtstags von Edzard Schmidt-Jortzig würdig begangen. Man mag nun weiterrechnen, man wird aber weder bei der Betrachtung unseres Jubilars noch erst recht im Gespräch mit ihm jemals auf die Idee kommen, dass die Rechnung hinsichtlich des am 8. 10. 2021 begangenen Ehrentages stimmen könnte. Und so darf ich zufrieden festhalten, dass die guten Wünsche, die wir seinerzeit mit der Festschrift verbunden haben, in Erfüllung gegangen sind. Dennoch will ich es nicht versäumen, im Namen aller Anwesenden Dir ganz herzlich nachträglich – Corona sei es angelastet – zum 80. Geburtstag zu gratulieren und Dir alles erdenklich Gute für das nächste Lebensjahrzehnt zu wünschen. Lieber Edzard, vor diesem Kreise derer, die Dich alle gut kennen und sehr schätzen, wären lange Worte der Vorstellung und Würdigung – jedenfalls unter uns Norddeutschen – geradezu geschwätzig; sie sind daher zu unterlassen. Wir alle kennen Dich als verlässlichen, liebenswürdigen und integren Menschen – und dies sind Eigenschaften, die wir alle uns in unserem beruflichen Umfeld wünschen, aber nicht immer vorfinden. Du bist von einem positiven, würdeorientierten Menschenbild geprägt, das Du auch konsequent lebst und anwendest. Beharrlichkeit und freundliche Durchsetzungsfähigkeit sind Dir dabei aber auch nicht fremd – all
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Utz Schliesky
dies aber in wahrhaft liberaler Grundhaltung, die andere Auffassungen toleriert und wertschätzt. Nicht wegen des Alters, sondern wegen dieser Übertragung liberaler Werte auch auf das Verhältnis des Einzelnen zum Staat darf man Dich als wahrhaft Alt-Liberalen schleswig-holsteinischer Prägung bezeichnen. Wir würdigen heute aber vor allem erneut den Wissenschaftler, den Staatsrechtler und den die Theorie erfolgreich in die Praxis umsetzenden Politiker Edzard Schmidt-Jortzig. Auch hier will ich die Würdigungen von vor zehn Jahren nicht wiederholen, aber darf doch darauf hinweisen, dass Du nicht nur literarisch aktiv geblieben bist, sondern Dein Wissen und Deinen Rat in zahlreichen Gremien und Einzelberatungen geteilt hast – angefangen vom Deutschen Ethikrat über die Unabhängige Kommission zu Fragen des Abgeordnetenrechts im Auftrag des Deutschen Bundestages bis hin zur Verfassungskommission des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Und nicht vergessen möchte ich Deine Mitarbeit als Gründungsmitglied im Vorstand der Schleswig-Holsteinischen Juristischen Gesellschaft, die gerade gestern mit der Verleihung des Rechtsstaatspreises der SHJG an den lettischen Staatspräsidenten Egils Levits einen Höhepunkt fand. Edzard Schmidt-Jortzig ist das beste Beispiel dafür, wie sehr es im demokratischen Rechtsstaat auf den einzelnen Akteur ankommt. Daher haben wir uns entschieden, das heutige wissenschaftliche Symposium für Edzard Schmidt-Jortzig unter das Motto „Der einzelne Akteur im demokratischen Rechtsstaat“ zu stellen. Der Mensch steht im Mittelpunkt des Wirkens von Edzard Schmidt-Jortzig, das hat die seinerzeitige Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, im Vorwort der Festschrift zutreffend festgestellt. Gleichzeitig geht es dem liberalen Staatsrechtler Edzard Schmidt-Jortzig um das Funktionieren des demokratischen Rechtsstaates unter Inanspruchnahme, aber grundrechtlich gebotener größtmöglicher Schonung des Individuums. Die Schonung tritt aber zurück, wenn es um das Engagement des Einzelnen im und für den Staat geht. Hier erwartet er von den Amtsinhabern das, was er selbst immer wieder in all seinen Ämtern und Ehrenämtern vorgelebt hat: den von Anstand, Moral, Tugendhaftigkeit, preußischer Pflichterfüllung, protestantischer Nüchternheit, Amtswürde, Toleranz, Verständnis und Gemeinwohlverpflichtung angetriebenen Einsatz für die Aufgabe. Und das ist doch das Entscheidende: Die demokratischrechtsstaatliche Republik funktioniert nur bei entsprechendem Einsatz
Begrüßung
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des einzelnen Amtswalters, des einzelnen Akteurs. Dieser Haltung, dieser Grundüberzeugung, aber auch dieser wissenschaftlichen Erkenntnis wollen wir heute zu Ehren des Jubilars nachgehen. Daher haben wir dem heutigen wissenschaftlichen Symposium zu Ehren Edzard Schmidt-Jortzigs den Titel „Der einzelne Akteur im demokratischen Rechtsstaat“ gegeben. Mein ausdrücklicher Dank gilt Kerstin von der Decken, Florian Becker, Peter Michael Huber und Stefan Ulrich Pieper, die neben Sönke Schulz und mir die heutigen Vorträge übernommen haben und vor allem seinerzeit sofort zugesagt haben. Alle Beiträge werden in einem gleichnamigen Sammelband bei Duncker & Humblot in Berlin erscheinen. Herrn Dr. Florian Simon danke ich für die Bereitschaft, als Verleger dieses Projekt zu betreuen. Eine derartige Veranstaltung ist – Sie ahnen es sicherlich – ohne finanzielle Unterstützung nicht denkbar. Und im Vergleich zu den früheren Symposien, die wir zum 60., 65. und 70. Geburtstag nebst entsprechender Publikation organisiert haben, ist es auch nicht einfacher geworden, angesichts heutiger steuerrechtlicher und Compliance-Regelungen, aber auch gegen die Universitätsbürokratie eine solche Veranstaltung zu organisieren. Daher bin ich unseren vier Unterstützern ganz besonders dankbar, dass sie uns die Durchführung der heutigen Veranstaltung ermöglichen. Mein Dank gilt Herrn Stolz, dem Präsidenten des Sparkassen- und Giroverbandes Schleswig-Holstein e.V., Herrn Schibalski, dem Landesgeschäftsführer des Verbandes kommunaler Unternehmen e.V., der zugleich Herrn Liebing, den Hauptgeschäftsführer des VKU auf Bundesebene, vertritt, weiterhin Herrn Voigt für die Friedrich-Naumann-Stiftung sowie Herrn Dr. Klimant für die Lorenz-vonStein-Gesellschaft zu Kiel e.V. Ohne Sie hätten wir die Veranstaltung, die Buchpublikation und das festliche Abendessen nicht realisieren können – ich denke, dies ist einen großen Beifall wert. Abschließend möchte ich es aber auch nicht versäumen, den Kolleginnen des Lorenz-von-Stein-Instituts zu danken, die einen Großteil der Organisationslast perfekt und immer gut gelaunt bewältigt haben. Unser Dank gilt den geschäftsführenden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Eva Beute und Julia Tiedemann sowie den studentischen Hilfskräften Jule Herbst und Hannah Japsen für ihr tolles Engagement bei der Vorbereitung der heutigen Veranstaltung.
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Utz Schliesky
Die überzähligen Minuten meiner auf 15 Minuten angelegten Begrüßung spare ich mir nun für meinen eigenen Vortrag auf. Daher darf ich nun noch einmal ausdrücklich den Herrn Justizminister des Landes Schleswig-Holstein, Claus Christian Claussen, in unserer Mitte begrüßen und ihm ganz herzlich danken, dass Sie sich trotz aller aktuellen Diskussionslagen in der Landespolitik heute die Zeit für uns nehmen und uns mit einem Grußwort beehren. Herr Claussen ist seit 2020 Minister für Justiz und Europa des Landes Schleswig-Holstein, von Hause aus ist er Jurist und hat lange als Rechtsanwalt und Notar gearbeitet, bevor er 2017 in den Schleswig-Holsteinischen Landtag gewählt wurde. Bevor er zum Minister ernannt wurde, saß er als Vorsitzender dem 1. Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der 19. Wahlperiode zur Rockerkriminalität vor. Ich kenne und schätze Herrn Claussen aus vielen guten Gesprächen im Landtag und freue mich daher besonders, dass Sie an der heutigen Veranstaltung teilnehmen. Herr Minister, lieber Herr Claussen, Sie haben das Wort.
Grußwort Von Claus Christian Claussen Lieber Professor Schmidt-Jortzig, „Der einzelne Akteur im demokratischen Rechtsstaat“ – unter dieser Überschrift werden wir im Laufe des heutigen Nachmittags eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Perspektiven einnehmen. Diejenige des Staats-, Unions- und Weltbürgers, diejenige des Abgeordneten, des Beamten, des Richters und schließlich die des Bundespräsidenten. Von jedem dieser Standpunkte aus sieht man den demokratischen Rechtsstaat in einem anderen, jeweils ganz eigenen Licht. Auf dieses bunte Kaleidoskop bin ich schon sehr gespannt. Eine spezielle Perspektive fehlt allerdings im Fachprogramm, und zwar eine, die Sie, lieber Professor Schmidt-Jortzig, und mich verbindet (und übrigens auch Sie, sehr geehrter Professor Huber): Es ist diejenige des Ministers. Mit der rechtlichen Stellung von Regierungsmitgliedern haben Sie sich bereits früh wissenschaftlich auseinandergesetzt, und zwar in einer Reihe von Arbeiten aus der ersten Hälfte der 70er Jahre, kurz nach Abschluss Ihrer Promotion. Eine dieser Arbeiten sticht besonders heraus: Ganz als hätten Sie schon damals vorausgeahnt, zu welchem fachlichen Thema wir uns heute, rund 50 Jahre später, zu Ihren Ehren versammeln würden, vermaßen sie 1973 die Grenze zwischen dem Minister - als einzelnem Akteur einerseits - und als Mitglied eines Kollektivs andererseits in einer Monographie mit dem Titel „Die Pflicht zur Geschlossenheit der kollegialen Regierung“. Dafür prägten Sie, als sprachliche Parallele zum „Fraktionszwang“, den treffenden Begriff des „Regierungszwangs“. Das rechtliche Spannungsfeld, in dem wir Minister uns bewegen, haben Sie später auch am eigenen Leib erfahren, und zwar als Bundesminister der Justiz in den Jahren 1996 bis 1998. Dieses Spannungsfeld wird in
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Claus Christian Claussen
Art. 65 des Grundgesetzes für den Bund ganz ähnlich umrissen wie in den Verfassungen Schleswig-Holsteins und der anderen Länder: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung.“
Die Navigation zwischen diesen drei Polen: - der Richtlinienkompetenz - der Ressortverantwortung - und dem Regierungszwang ähnelt in gewisser Weise dem sogenannten Drei-Körper-Problem aus der Himmelsmechanik – das sie alle ja sicherlich noch aus dem Physikunterricht erinnern werden! Es betrifft den Bahnverlauf dreier ähnlich schwerer Himmelskörper unter dem Einfluss ihrer gegenseitigen Anziehung. Und seit Newton wissen wir, dass dieses Problem bis auf wenige Ausnahmen nur „numerisch“ lösbar ist, wie die Mathematiker zu sagen pflegen. Dass es also keine Formel gibt, mit der ein zukünftiger Zustand sicher vorausberechnet werden könnte. Stattdessen handelt es sich um einen „chaotischen“ Ablauf – das meine ich natürlich ausschließlich als mathematischen Fachbegriff! –, bei dem zu Beginn ungewiss ist, wohin das Spiel der Kräfte letztlich führt. Doch als Bundesjustizminister haben Sie es verstanden, diesen Prozess mit der richtigen Gravitation zu bleibenden Ergebnissen zu leiten. In Ihrer Amtszeit wurden rechtspolitische Weichen gestellt, die unsere Rechtsordnung bis heute prägen und mittlerweile als ganz selbstverständliche Eckpfeiler des demokratischen Rechtsstaats erscheinen. Ich möchte nur einige willkürliche Beispiele aus einer viel längeren Liste herausgreifen: - Die Haftung für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten von Minderjährigen ist nach § 1629a BGB auf das Vermögen begrenzt, das bei Eintritt der Volljährigkeit vorhanden ist. Das ist so seit dem Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetz vom 25. August 1998.
Grußwort
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- Den Vorrang der ehrenamtlichen Betreuung vor der Berufsbetreuung kennen wir seit dem Betreuungsrechtsänderungsgesetz vom 25. Juni 1998. - Gerichtliche Entscheidungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sind, haben keinen Bestand mehr. Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte vom 25. August 1998. - Nach rechtskräftiger Verurteilung wegen einer Straftat kann das Verfahren gemäß § 359 StPO zugunsten des Verurteilten wiederaufgenommen werden, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte feststellt, dass die Verurteilung auf einer Verletzung der Europäischen Konvention für Menschenrechte beruht. Gesetz zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts vom 9. Juli 1998. Ich könnte mit dieser Aufzählung noch lange fortfahren. Im demokratischen Rechtsstaat werden solche Regelungen natürlich vom Parlament erlassen. Aber sie hätten vielleicht nie das Licht der Welt erblickt ohne die Geburtshilfe durch Sie, lieber Professor Schmidt-Jortzig, als Bundesjustizminister. Sehr geehrte Damen und Herren! „Der einzelne Akteur im demokratischen Rechtsstaat“ – Im heutigen Tagungsmotto erinnert uns der Begriff des „demokratischen Rechtsstaats“ daran, dass Rechtsstaatlichkeit allein nicht für ein Staatswesen ausreicht, - das den einzelnen Menschen als Fundament des Staates anerkennt, - das seine Freiheit und Würde achtet und schützt und - das sich nicht als Diktatur der Mehrheit über die Minderheit versteht, sondern als Organisationsform der kollektiven Selbstbestimmung aller seiner Angehörigen. Denn undemokratisch gesetztes Recht lässt sich als Herrschaftsinstrument auch instrumentalisieren für ein Staatswesen, das letztlich nur der Fremdbestimmung durch eine Partei, eine Klasse oder eine Clique dient. Für ein liberales Verständnis des Staates, das den einzelnen Akteur in den Mittelpunkt stellt, ist nur ein demokratischer Rechtsstaat es wert,
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dass wir uns für ihn einsetzen, ihn bewahren und, so wie heute, ihn aus allen Blickrichtungen gemeinsam beleuchten. Lieber Professor Schmidt-Jortzig, Ihrer langen und außergewöhnlich facettenreichen Juristenkarriere hat das Ministeramt sicherlich eine weitere erkenntnisreiche Perspektive auf den demokratischen Rechtsstaat eröffnet. Dem Fachprogramm zu den vielen anderen Perspektiven will ich nun nicht länger im Wege stehen. Ich wünsche Ihnen nachträglich, auch im Namen aller hier zu Ihren Ehren versammelten Gäste, zu Ihrem 80. Geburtstag von Herzen alles Gute.
Der Bürgerstatus als Grundpfeiler des demokratischen Verfassungsstaates Von Utz Schliesky I. Einführung Mit dem Individuum im Recht hat sich Edzard Schmidt-Jortzig in seinem wissenschaftlichen Wirken immer wieder eingehend befasst – so auch mit dem Bürger. Erinnert sei an verschiedenste Fragen des „Bürgerstatus“ im Kommunalrecht,1 aber auch an eine zentrale Konkretisierungsfrage des Bürgerstatus in Gestalt des grundlegenden Verfahrens zum kommunalen Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht.2 Der Bürger tritt zum ersten Mal in den antiken Stadtstaaten Griechenlands und dann in Rom in Erscheinung. Der gemeineuropäische Bürgerbegriff hat seine Wurzel im antiken Stadtstaat und dient dazu, über das Individuum hinaus den Verbandscharakter des kommunalen oder staatlichen Zusammenschlusses begrifflich zu verdeutlichen.3 Der Bürger, wie wir ihn heute kennen und ihn uns vorstellen, ist das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses und vor allem ein Konstrukt des 19. und 20. Jahrhunderts. Aber ohne ihn – wenn auch mit anderen rechtlichen Zuschreibungen – ließ sich auch vorher schon kein Staat machen. Als Kollektivsubjekt „Volk“ bildet er eine der drei Komponenten des Staatsbegriffes,4 und in seiner modernen demokratischen Er1 Schmidt-Jortzig, Kommunale Organisationshoheit, 1979, S. 265 ff.; SchmidtJortzig, Kommunalrecht, 1982, Rn. 45a, 65 ff., 139 ff.; Schmidt-Jortzig, Gemeindliche Selbstverwaltung in der Bewährung, 1982, S. 31 ff. 2 Dazu die Dokumentation von Isensee/Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das kommunale Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993. 3 Riedel, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band I, 2004, Art. Bürger, S. 672. 4 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914/7, Neudruck 1960, S. 183, 394 ff.; Schliesky, Gespräche über den Staat, 2017, S. 14.
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scheinungsform setzt der Staat den Bürger als Legitimationssubjekt voraus. Seit circa 1800, als der Bürger zum Staatsbürger wurde, bezeichnet die Staatsbürgerschaft den allgemeinen Staatsstand, der die politische und die Staatswillensbildung aktiv betreibt.5 Begriff und Status des Bürgers haben historisch unterschiedliche Inhalte und Funktionen – dies ist immer wieder deutlich hervorzuheben. Je nach Staats-, Herrschaftsresp. Regierungsform spielt der Bürger eine unterschiedliche Rolle, hat der Begriff des Bürgers unterschiedliche inhaltliche Zuschreibungen. Auch heute dreht sich der Systemwettbewerb zwischen demokratischen und autoritären Staaten auch und gerade um den Bürgerstatus. Während vom 16. bis 19. Jahrhundert intensiv um den Bürgerbegriff und den Bürgerstatus – insbesondere als Zugehörigkeitsmerkmal zum „Volk“ und damit zum demokratischen (Legitimations-)Fundament – gerungen und gestritten wurde, ist nach einer Konsolidierung im 20. Jahrhundert nun im 21. Jahrhundert eine Gleichgültigkeit, eine Zerfaserung des Bürgerbegriffs zu beobachten. In vielen älteren Demokratien findet eine Nivellierung unter dem Aspekt des „Menschseins“ statt – es treten die universellen Menschenrechte, deren Gültigkeit international allerdings zunehmend bestritten wird, und ein moralisch-gefühliges Gleichheitsdenken in den Vordergrund. Der „Bürger“ ist da nichts Besonderes mehr. Damit schwinden dann aber auch das genossenschaftliche Gemeinschaftsgefühl und das Bewusstsein von der demokratischen Gemeinschaft, welche die Bürger bilden. Schon vor der rechtlichen Konstruktion des Bürgers im modernen Verfassungsstaat gab es aber begriffsimmanente Inhalte und Zuschreibungen des Bürgerstatus, die die Zurechnungs-, Verantwortungs-, Treue-, Rechts- und Pflichtenbeziehung verdeutlichen. Diese Kernelemente müssen weiterhin und dauerhaft vorhanden und erfüllt sein, wenn der Bürgerstatus seine Funktion erfüllen soll. Die zentrale Funktion des Bürgerstatus ist dabei seit jeher die Überwindung der Schutzlosigkeit des Individuums.6 Diesen Inhalten und Zuschreibungen soll nachfolgend mit Blick auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft nachgespürt werden, um am Ende einige Vorschläge für die Revitalisierung der Funktionen des Bürgerstatus zu unterbreiten, damit 5 Grawert, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, § 16 Rn. 56. 6 Grundlegend Thomas Hobbes, De cive / Vom Bürger, 1642, Kap. I 10 ff.; dazu Höffe, in: Höffe (Hrsg.), Thomas Hobbes: De cive, 2018, S. 33 ff.
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der Bürgerstatus auch künftig Grundpfeiler des demokratischen Verfassungsstaates sein kann. II. Die Vergangenheit: Historische Grundlagen des Bürgerstatus Um die Zukunftsfestigkeit des Bürgerstatus beurteilen zu können, ist zunächst ein Blick auf Vergangenheit und Gegenwart des Bürgerstatus erforderlich – nur so lassen sich Inhalte und Konturen gewinnen. 1. Stadtbürger Sprachlich stammt der Bürger vom „burgensis“ (mhd. auch: burgare), dem Bewohner einer Burg („burga“), ab.7 Inhaltlicher Ausgangspunkt des Bürgerbegriffs und des Bürgerstatus ist jedoch der antike Stadtstaat. Bei Aristoteles ist die „Polis“ eine Vereinigung von Bürgern oder die bürgerliche Gesellschaft schlechthin,8 und auch der civis Romanus ist zunächst Bürger des Stadt und Land umfassenden Stadtstaats (civitas), bevor das Stadtbürgerrecht erst in der Spätantike zum Reichsbürgerrecht des Imperium Romanum erweitert wird.9 Mit dem Bürgerbegriff sind bestimmte Rechte und Pflichten verbunden, der materielle Gehalt des Bürgerstatus ist offensichtlich.10 Zeitgleich entwickelt sich eine darüber liegende Schicht eines zusätzliches Bürgerstatus: Jedenfalls für Christen tritt die Gottesbürgerschaft aller Menschen hinzu und in
7 Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Band I, 1954, S. 449; Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 283 Rn. 1; siehe auch Fuhrmann, Deutschland im Mittelalter, 2017, S. 84: 1066 erstmals urkundlich im Freiheitsbrief für Huy erwähnt; Riedel, in: Brunner/Conze/ Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band I, 2004, Art. Bürger, S. 672. 8 Aristoteles, Politik, übers. und hrsgg. von Olof Gigon, 8. Aufl. 1998, S. 1275b Rn. 20 ff.; S. 1253a Rn. 15 ff. 9 Riedel, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band I, 2004, Art. Bürger, S. 674. 10 Für Rom: Mommsen, Römisches Staatsrecht, Dritter Band, 1. Teil, 4. Aufl. 1952, S. 199 ff.; Mommsen, Abriss des Römischen Staatsrechts, 1893, S. 22 ff.; Burchardi, Staats- und Rechtsgeschichte der Römer, 1841, S. 107 ff.; König, Der römische Staat, 2007, S. 45 ff.
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dem Gegensatz zu dem weltlichen, heidnischen Bürgerrecht.11 Bei diesem zusätzlichen, religiös bedingten Bürgerstatus dominieren eindeutig die inhaltlichen Komponenten. Im Mittelalter erfolgt nach und nach eine inhaltliche Umgestaltung des Bürgerbegriffs und des Bürgerstatus, die sich aber weiterhin am Stadtbürger festmachen lässt. Es ist dementsprechend das jeweilige Stadtrecht, das den Bürgerstatus näher und in Details durchaus unterschiedlich ausbildet.12 Die Bürgerschaft entwickelt sich zur Schwurgenossenschaft; dementsprechend ist Bürger, wer den Gesamtschwur der versammelten Bürgergemeinde anlässlich der Neukonstituierung des Rates oder am jährlichen Schwörtag leistet.13 Der Bürgereid ist somit vom Einzelnen bei der Einbürgerung, aber auch einmal jährlich von der gesamten Bürgerschaft am „Schwörtag“ zu leisten.14 Der Bürgereid wird somit auch zum Geltungsgrund des Stadtrechts,15 und er verdeutlicht das korporationsrechtliche Denken, die genossenschaftliche Gesellschaftsvorstellung.16 Das Abgrenzungskriterium des Bürgers gegenüber anderen Einwohnern ist vor allem das passive Wahlrecht, denn nur Bürger können in den Rat gewählt werden.17 Dafür ist allerdings in der
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Augustinus, Gottesstaat, eingel. und kommentiert von Carl Andresen, 1995, 10, 7, 1; 12, 9, 1; 15, 2, 2; 18, 47; 19, 11 ff., 24 ff.; siehe auch Riedel, in: Brunner/ Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band I, 2004, Art. Bürger, S. 675. 12 Am Beispiel des Lübschen Rechts Dreyer, Einleitung zur Kenntniß der in Geist-, Bürgerlichen-, Gerichts-, Handlungs-, Polizey- und Kammer-Sachen von E. Hochw. Rath der Reichsstadt Lübeck von Zeit zu Zeit ergangenen allgemeinen Verordnungen, Mandaten, Normalien, Decreten, wie auch der dahin einschlagenden Rechts-Urkunden (…), 1769, S. 75 ff.; siehe auch Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Band I, 1954, S. 442 ff., 449 ff.; Isenmann, Die Deutsche Stadt im Mittelalter 1150 – 1550, 2. Aufl. 2014, S. 133 ff. 13 Isenmann, Die Deutsche Stadt im Mittelalter 1150 – 1550, 2. Aufl. 2014, S. 133. 14 Ebel, Der Bürgereid, 1958, S. 11 ff.; Leuschner, Deutschland im späten Mittelalter, 2. Aufl. 1983, S. 113. – Die letzten Bürgereide fanden in den Hansestädten noch im 20. Jahrhundert statt, siehe Ebel, Der Bürgereid, 1958, S. 6. 15 Ebel, Der Bürgereid, 1958, S. 1 f., 202 ff. 16 Näher von Gierke, Das Deutsche Genossenschaftsrecht, 1868; Leuschner, Deutschland im späten Mittelalter, 2. Aufl. 1983, S. 112 f. 17 Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150 – 1550, 2. Aufl. 2014, S. 133.
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Regel auch ein Mindestvermögen erforderlich,18 und so ist die Entwicklung des städtischen Bürgerstatus nicht von der wirtschaftlichen Entwicklung der Städte abzutrennen. Dementsprechend werden auch durchaus verschiedene Gruppen städtischer Bürger unterschieden: Die Reichspolizeiordnung von1530 unterscheidet etwa drei Gruppen städtischer Bürger.19 Auf diese Weise entsteht die Bürgerschaft als ein durch den Erwerb des Bürgerrechts begründeter Stand, bei dem wirtschaftliche, soziale und berufliche Differenzierungen nicht (mehr) den grundlegenden Rechtsstatus berühren.20 Am Bürgerrecht hängen dann zahlreiche weitere, freiheitsbegründende Rechte, die oftmals in einem wirtschaftlichen Kontext stehen.21 Wesentlich und bis heute prägend ist ein aus dem Begriff des Stadtbürgers, aus dem mittelalterlichen Bürgerstatus herrührender Inhalt: die Freiheit. Die „teutsche Freyheit“ ist zunächst eine städtische Freiheit, unabhängig vom Wahrheitsgehalt des klassischen Satzes „Stadtluft macht frei“.22 Diese „teutsche Freyheit“ wird dann nach dem Dreißigjährigen Krieg zu einem Topos, der als positiver Inhalt und Abgrenzungskriterium Landesbürger und damit Landesherrschaften herausbildet und schließlich später auch die Nationsbildung begünstigt.23 Im 18 Habermann, Freiheit in Deutschland, 2021, S. 90; Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150 – 1550, 2. Aufl. 2014, S. 137. 19 Römisch-Kayserliche Majestät Ordnung und Reformation guter Policey, im Heiligen Römischen Reich, zu Augspurg Anno 1530 auffgericht, Tit. IX ff., abgedruckt in: Koch (Hrsg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, 1747, Zweyter Theil, S. 332 ff.; dazu auch Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Band II, 1962, S. 216. 20 Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150 – 1550, 2. Aufl. 2014, S. 145. 21 Zum Inhalt des Bürgerrechts, das je nach Stadtrecht unterschiedlich ausgestaltet sein kann, eingehend Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150 – 1550, 2. Aufl. 2014, S. 145 ff.; zu den einzelnen Freiheiten als „Privilegienrechtsstaat“ Habermann, Freiheit in Deutschland, 2021, S. 90 f. 22 Dazu Planitz, Die deutsche Stadt im Mittelalter, 1996, S. 106, 254, mit genossenschaftlicher Deutung; Mitteis, in: Kunz (Hrsg.), Festschrift für E. E. Stengel, 1952, S. 342, mit siedlungsgeschichtlicher Deutung; dazu eingehend Diestelkamp, in: Fried (Hrsg.), Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert, 1991, S. 485 ff. 23 Siehe Schmidt, in: Wendehorst/Westphal (Hrsg.), Lesebuch Altes Reich, 2006, S. 113; Whaley, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Band 2,
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Laufe des Mittelalters hat sich in Deutschland ein formaler Bürgerstatus mit einem bestimmten materiellen Inhalt aus Rechten und Pflichten herausgebildet. Kern sind bestimmte Freiheiten, die den Bürger von anderen Einwohnern unterscheiden. Eine weitere Wurzel des Bürgerstatus, die noch intensiverer wissenschaftlicher Aufarbeitung bedarf, ist das Lehnswesen.24 Schon im frühen Mittelalter, spätestens im hohen Mittelalter bildet sich auch das „landsässige Lehensrecht“ in Gestalt mittelbarer und abgeleiteter Lehen heraus.25 Schon im frühen Mittelalter war der Burgherr lehnsrechtlicher Vasall, der seinen „burgenses“ Schutz bot. Diese Burgmannen waren ihrerseits in der Regel lehnsrechtlich gebunden.26 In spätmittelalterlichen Lehnsbüchern lassen sich zahlreiche „Bürger“ nachweisen,27 und wie beim Bürgerstatus geht es auch im Lehnsrecht um ein Schutzversprechen gegen Treue des Vasallen (Bürgers).28 Mittlerweile anerkannt ist der Einfluss des Lehnswesens auf die Herausbildung des frühneuzeitlichen Territorialstaates.29
1648 – 1806, 2018, S. 21, 226; die Rechte werden zusammengefasst von Moser, Von der Teutschen Unterthanen Rechten und Pflichten, Neues teutsches Staatsrecht, Band 17, 1774. 24 Zur Verbindung von Lehnswesen („Vorzüge in Lehenssachen“) als Teil der „Teutschen Freyheit“ und Bürgerstatus Moser, Von der Teutschen Unterthanen Rechten und Pflichten, Neues teutsches Staatsrecht, Band 17, 1774, S. 68, 74 ff. 25 Dazu Buri, Ausführliche Erläuterung des in Teutschland üblichen LehenRechts, Erstes Capitel, 1732, S. 32. 26 Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Band 1, 3. Aufl. 1995, S. 70. 27 Spieß, Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter, 3. Aufl. 2011, S. 50 f. 28 Auch lehnsrechtlicher Treueeid und Bürgereid weisen interessante und vertiefungswürdige Parallelen auf. Zum lehnsrechtlichen Treueeid Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, 10. Aufl. 1980, S. 213 f.; Spieß, Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter, 3. Aufl. 2011, S. 25. – Zum Bürgereid Ebel, Der Bürgereid, 1958, S. 11 ff. 29 Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Band I, 3. Aufl. 1995, S. 68 ff.; siehe auch Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, 10. Aufl. 1980, S. 424; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 12.
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2. Landesbürger Mit der frühneuzeitlichen Herausbildung der Territorialstaaten und Landesherrschaften erklimmt auch das in Antike und Mittelalter in der Stadt ausgeprägte Bürgertum die nächste Ebene.30 Die am Ausgang des Mittelalters erfolgende Herausbildung von Territorialstaaten und Landesherrschaften führt zum „Landesbürger“, über den der Herrschaftsanspruch ausgeübt werden kann.31 Mit der Herausbildung von Territorialstaaten entsteht insoweit eine Herrschaft über ein Territorium, eine „Einheit des Rechts, des Landrechts und der Landesgemeinde“. Das Land stellt eine „Rechts- und Friedensgemeinschaft dar, die durch ein bestimmtes Landrecht geeint ist. Träger dieser Rechts- und Friedensgemeinschaft ist das Landvolk, sind die Landleute, die den politischen Verband des Landes bilden.“32 Das „Landvolk“33 darf man sich nicht wie das heutige demokratische Landes-Staatsvolk vorstellen, sondern es hat lediglich in Form von Ständen an der „landständischen Verfassung“34 teil. Die Stände repräsentieren das gesamte Land. In vielen Landesherrschaften gehören jedenfalls auch die Stadtbürger zu den Landständen.35 Dabei ist auch hier die Prozessperspektive wichtig: Es ist ein steter Kampf des Bürgertums um Mitwirkung an der Herrschaft, der u. a. dadurch entschärft wird, dass die Grenze zwischen Adel und Bürgertum zunehmend durchlässiger wird. Vor allem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vollzieht sich ein Prozess der Aufhebung der ständischen Rechtsunterschiede und der Angleichung von Adel und Bürgertum.36
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Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Band II, 1962, S. 216; siehe auch Riedel, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band I, 2004, Art. Bürger, S. 711 m.w.N. 31 Zu dieser Entwicklung Riedel, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band I, 2004, Art. Bürger, S. 672 (677 ff.). 32 Brunner, Land und Herrschaft, 1939, S. 270 f. 33 Dazu eingehend Brunner, Land und Herrschaft, 1939, S. 474 ff. 34 Dazu überblicksartig Krüger, Die landständische Verfassung, 2003, S. 1 ff. 35 Krüger, Die landständische Verfassung, 2003, S. 18 ff.; eingehend Moser, Von der teutschen Reichs-Stände Landen, deren Landständen, Unterthanen, LandesFreyheiten, Beschwerden, Schulden und Zusammenkünfften, 1769, S. 313 ff., 925 ff. 36 Paulsen, System der Ethik, Zweiter Band, 11./12. Aufl. 1921, S. 392 f.
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Die Landeshoheit ist – wie erst recht im Regelfall die Reichshoheit – eine mittelbare, mediatisierte Herrschaft, etwa über den Stadtbürger, aber auch aufgrund der entsprechenden lehnsrechtlichen Bindungen. Um eine zusätzliche unmittelbare Herrschaftsbeziehung des Landesherrn zum Individuum zu begründen und zu definieren, wird der Bürger zum „Untertan“. Prägnant hat das Friedrich Paulsen zusammengefasst: „Der moderne Staat in Gestalt des fürstlichen Absolutismus drückte zwar den Herrenstand politisch zur Untertänigkeit herab, beließ ihm aber und mehrte seine nutzbaren Privilegien und seine Vorrechte im neuen Militär- und Zivildienst.“37 Die Kategorie des Untertanen hat erst einmal eine die bisherigen Differenzierungen des Bürgerstatus nivellierende Wirkung, sie sorgt zunächst einmal – vorbehaltlich später eingeräumter Privilegien etc. – für Rechtsgleichheit. Untertan ist dementsprechend „jeder, welcher der im Staat bestehenden Gewalt unterworfen ist“38. Als Kennzeichen des landesherrlichen Untertans wird etwa von Johann Jacob Moser herausgearbeitet, „wann der Landesherr ihme in allen, oder doch denen meisten und wichtigsten, Rechten, welche zusammen die Landeshoheit ausmachen, zu befehlen hat.“39 Das Hauptmerkmal des Untertans ist also „Gehorsam gegen die Obrigkeit“40 bzw. gegenüber dem Landesherrn, ggf. noch ergänzt durch Besoldung, Dankbarkeit und Ehrfurcht.41 Allerdings setzen sich das französische Staats- und Souveränitätsverständnis und damit auch das Rechte nivellierende absolutistische Herrschafts- und Untertanenverständnis in Deutschland ganz überwiegend nicht bzw. zumindest nicht in vollem Umfang durch. Denn entgegen der Souveränitätslehre Bodins, die zu einer souveränitätstheoretischen Gleichsetzung von Bürger und Untertanen und damit zu einer Herab37 Paulsen, System der Ethik, Zweiter Band, 11./12. Aufl. 1921, S. 394; siehe auch Riedel, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band I, 2004, Art. Bürger S. 672 (683). 38 Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 2. unveränd. Nachdruck 1843, § 55 (S. 76), der als Synonyme noch die Begriffe „Staatsbürger, Verwalteter, subditus, Civis, Sujet, citoyen, administré“ benennt. 39 Moser, Von der Teutschen Unterthanen Rechten und Pflichten, Neues teutsches Staatsrecht, Band 17, 1774, S. 3, der im Anschluss vielerlei Klassen, Arten und Gattungen der Untertanen unterscheidet (S. 5 ff.). 40 Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 2. unveränd. Nachdruck 1843, § 56 (S. 77). 41 Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, 1793, S. 103 ff.
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würdigung des Bürgerstatus zum Gewaltunterworfenen führt, hält sich im deutschen Reichsrecht – gerade wegen der souveränitätstheoretisch komplexeren Verortung der „summa potestas“ – der traditionelle aristotelische Bürgerbegriff. Bürger – mit bestimmten Vorrechten – kann man auch im Alten Reich schon von verschiedenen Körperschaften, Genossenschaften, Städten, Landesherrschaften sein. Dementsprechend hat auch das Reich Bürger in Gestalt der auf den Reichstag versammelten Stände.42 All dies war allerdings nicht unstreitig, wollte doch immerhin Samuel (von) Pufendorf bereits 1667 den „civis“ als „Untertan“ des Landesfürsten ansehen.43 Der Widerstand gegen ein absolutistisches Untertanenverständnis zeigt sich nicht nur in der komplexen Herrschaftspraxis des Alten Reiches, sondern findet entsprechend Unterstützung in der Wissenschaft. Sowohl der Begriff des Bürgers als auch die Inhalte des Bürgerstatus werden in die neue, landesherrliche Zeit hinübergerettet. So konstatiert Johann Jacob Moser: „Ein jeder Burger ist auch ein Unterthan – aber nicht ein jeder Unerthan ist auch ein Burger.“44 Moser verteidigt das Bürgerrecht und dessen materielle Rechte bzw. Vorteile.45 Schön und prägnant hat dies Romeo Maurenbrecher zusammengefasst: „Die natürlichen (vernunftgemässen) Rechte der Unterthanen im Staat, (…) die „unveräußerlichen, unantastbaren“ Rechte der Bürger ergeben sich aus dem Begriff und Zweck des Staats von selbst. Sie sind die bürgerliche Freiheit, welche darin besteht, dass jeder Unterthan nach dem Gebot der Vernunft der Staatsgewalt nur in so weit untergeordnet ist, als der Staatszweck (die Erreichung des Rechts oder Sittengesetzes durch äussere Mittel) solches erfordert, dagegen in allem Uebrigen frei und unabhängig bleibt.“46 Dementsprechend behält auch der Untertan seine vori42
Grundlegend Conring, De Germanii imperii civibus, 1641. Severinus de Monzambano (= Pufendorf ), De statu imperii Germanici, 1667, 6, 3. – Riedel, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band I, 2004, Art. Bürger, S. 672 (681), sieht darin die Wegbereitung zum „Staatsbürger“ des 18. Jahrhunderts. 44 Moser, Von der Teutschen Unterthanen Rechten und Pflichten, Neues teutsches Staatsrecht, Band 17, 1774, S. 2. 45 Moser, Von der Teutschen Unterthanen Rechten und Pflichten, Neues teutsches Staatsrecht, Band 17, 1774, S. 465. 46 Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 2. unveränd. Nachdruck 1843, § 57 (S. 79). 43
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gen Menschen- und Gemeinderechte, er behält grundsätzlich seine volle Freiheit in seinen Handlungen, wenn man von gewissen Einschränkungen durch die „neue“ Landesherrschaft absieht.47 Wirkmächtig ist insoweit die Feststellung von Veit Ludwig von Seckendorff, dass deutsche Untertanen im Land keine Sklaven seien, sondern wie Freigeborene regiert und in Gehorsam gehalten werden sollen.48 Dementsprechend kann die Landeshoheit hinsichtlich des Bürgerstatus nicht als unumschränkte Gewalt angesehen werden, vielmehr hat selbst die landesherrliche Machtvollkommenheit diesbezüglich Grenzen.49 Die komplexe Herrschaftsstruktur des Heiligen Römischen Reiches und der Landesherrschaften wird auch hinsichtlich der Bürger zum Ausgleich gebracht: Den Landständen steht nach den historischen landständischen Verfassungen ungefähr ein solcher Anteil an der Landesherrschaft zu wie den Reichsständen an der Regierung des Reiches.50 Damit ist Deutschland kein bloßes System lose verbundener Staaten, sondern es ist schon im Alten Reich selbst ein Staat, aber ein zusammengesetzter Staatskörper, der im Ganzen monarchisch bleibt, dessen einzelne Glieder aber wieder aus mehreren Gliedern, nämlich den Ständen, zusammengesetzt sind, so dass die Landstände nur mittelbar unter dem allgemeinen Reichsoberhaupt stehen.51 Und gerade die Reichsebene hat lange Zeit ein großes Interesse an Schutz und Bestand der landständischen Verfassungen, um das komplexe Machtgefüge zu erhalten.52 Dementsprechend gehen auch bei der Hochzonung des Stadtbürgers zum Landesbürger die wesentlichen Begriffsmerkmale nicht verloren. Auch beim Landesbürger machen die Grundkonstanten „Schutz und Freiheit“ den Bürgerstatus aus;53 darüber hinaus umfasst er weitere materielle Rechte und Pflichten nun dem Landesherrn gegenüber. Erst mit dem Nationsgedanken und der Nationalstaatsbewegung wird der Bürger er47 Deutlich Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, 1793, S. 107. 48 Von Seckendorf, Teutscher Fürsten-Staat, 1754, anderer Theil, cap. 4 § 1 (S. 58), nähere Begründung in §§ 2 ff. 49 Pütter, Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, 1764, S. 91. 50 Pütter, Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, 1764, S. 90. 51 So die Feststellung von Pütter, Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, 1764, S. 14 f. 52 Krüger, Die landständische Verfassung, 2003, S. 28. 53 Gosewinkel, Schutz und Freiheit, 2016, S. 631.
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neut „hochgezont“ und zum Staatsbürger (Reichsbürger) weiterentwickelt. Das deutsche Nebeneinander von Landes- und Reichsstaatsbürgerstatus ist ein Ergebnis des 19. Jahrhunderts54 und besteht zum Teil noch heute fort.55 3. Staatsbürger Der Nationalstaat erfordert dann den Staatsbürger, der in gleicher Weise Untertan wie in der Landesherrschaft sein muss, um den Souveränitätsanspruch des Nationalstaates zu rechtfertigen. Allerdings genügt nun das frühneuzeitliche Verständnis von der landständischen Verfassung, die letztlich Landes- und Reichsbürger kennt, nicht mehr. Es kommt zur Zertrümmerung der alteuropäischen bürgerlichen Gesellschaft in der industriellen Moderne.56 Einen großen Einschnitt bedeutet die Französische Revolution, in der der Bürger zum Träger der Staatsgewalt wird. Aus dem Stadtbürger ist nun endgültig der Staatsbürger geworden.57 Die souveräne Nation umfasst nun die Gesamtheit der französischen Bürger (Art. 1, 7 Französische Verfassung von 1793). Die neue Nation, nur aus Bürgern bestehend, erfordert Gleichheit, Rechtsgleichheit – und damit die Beseitigung ständischer Privilegien.58 In Deutschland dauert dieser Prozess in Ermangelung einer solchen Revo-
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Etwa Art. 6 ff. Staatsgrundgesetz Schleswig-Holstein von 1848. Vgl. etwa Art. 6 f. BayVerf: Staatsbürger ist, wer Staatsangehöriger ist. Allerdings fehlt das Ausführungsgesetz, und der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat dementsprechend dieser Bestimmung die Rechtswirkung abgesprochen: BayVerfGH, VGHE 24, 1; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, S. 1111 Rn. 37. 56 Reckwitz, in: Reckwitz/Rosa, Spätmoderne in der Krise, 2021, S. 105; historischer Entwicklungsüberblick bei Mittermaier, in: Rotteck/Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, Band III, 3. Aufl. 1859, Art. Bürger, S. 220 ff. 57 Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Band II, 1962, S. 216; siehe auch Gosewinkel, in: Blume/Gosewinkel/Gross (Hrsg.), Staatsbürgerschaften – Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789, 2022, S. 20 (24 ff.); Riedel, in: Brunner/ Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band I, 2004, Art. Bürger, S. 672 (689 f., 697 f.); Schulin, Die Französische Revolution, 5. Aufl. 2013, S. 81 ff. 58 Paulsen, System der Ethik, Zweiter Band, 11./12. Aufl. 1921, S. 393 f.; Rehberg, Untersuchungen über die Französische Revolution, Band 1, 1793, S. 177; ausdrücklich begrüßt von Mittermaier, in: Rotteck/Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, Band III, 3. Aufl. 1859, Art. Bürger, S. 222. 55
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lution bekanntlich viel länger, und gerade das Zensuswahlrecht macht einen einheitlichen, auf den Staat bezogenen Bürgerbegriff schwierig.59 Bekanntlich wird der Staatsbürgerstatus dann im 19. Jahrhundert materiell vom Nationsgedanken durchdrungen.60 Die besondere deutsche Entwicklung im 20. Jahrhundert in Gestalt einer nationalsozialistischen Aufladung des Bürgerbegriffs und dessen Pervertierung zum „Volksgenossen“61 ist hinreichend beschrieben worden. Individuum und Bürgerstatus werden beseitigt, und zugleich überlagert die nationale Kollektivierung die individuelle Schutz- und Freiheitsidee und trägt so zur Entleerung des Staatsbürgerstatus bei. Die nationalsozialistische Umdeutung des Volksbegriffes trägt aber für den hier interessierenden Kontext ohnehin nichts bei – daher noch einmal zurück zu dem Staatsbürger des 19. Jahrhunderts. Der in den Landesherrschaften geformte „Untertan“ wird begrifflich auf die Reichsebene übertragen. Aber gerade vor dem Hintergrund liberalen und demokratischen Gedankenguts besteht auch in Deutschland Unbehagen mit dem Begriff des „Untertan“. So sieht Mittermaier den Bürger als gleichbedeutend mit dem Staatsbürger an, versteht unter dem Staatsbürger aber im Gegensatz zum Untertan jemanden, dem neben seinen politischen Pflichten auch politische Rechte zukommen.62 Und auch Heinrich Albert Zachariä sieht angesichts der Gewaltunterworfenheit alle unter einer Staatsgewalt vereinigten Glieder eines Gemeinwesens als Untertanen, während den Staatsbürger die Trägerschaft öffentlicher Rechte und Pflichten aus59 Riedel, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band I, 2004, Art. Bürger, S. 672 (721). 60 Fahrmeir, Die Deutschen und ihre Nation – Geschichte einer Idee, 2017, S. 96 ff.; Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 2. Aufl. 2004; Walser Smith, Deutschland – Geschichte einer Nation, 2021, S. 233 ff.; siehe auch Assmann, Die Wiederfindung der Nation, 2020, S. 173 ff. 61 In nationalsozialistischer Diktion Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl. 1939, S. 361 ff.: „An die Stelle des isolierten Individuums ist der in die Gemeinschaft gliedhaft eingeordnete Volksgenosse getreten, der von der Totalität des politischen Volkes erfasst und in das Gesamtwirken einbezogen ist. Es kann hier keine private staatsfreie Sphäre mehr bestehen, die der politischen Einheit gegenüber unantastbar und heilig wäre. Die Verfassung des völkischen Reiches baut sich daher nicht auf einem System von angeborenen und unveräußerlichen Rechten der Einzelperson auf.“ (Zitat S. 361). 62 Mittermaier, in: Rotteck/Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, Band III, 3. Aufl. 1859, Art. Bürger, S. 223.
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zeichne.63 Der Staatsbürger ist letztlich die Antwort auf den französischen „citoyen“, der allerdings nicht die gleiche begriffliche und politische Bedeutung wie sein französisches Pendant erreicht.64 Zugleich kursieren – mit Blick auf den die kommunale Ebene prägenden Stadtbürger – weiterhin vielfältige Bürgerbegriffe die deutsche rechtliche wie politische Situation. Erst § 16 Preußische Städteordnung 1808 beseitigt zumindest für den kommunalen Bereich überkommene Differenzierungen und schafft begriffliche Klarheit. Letztlich bleibt aber bis ins späte 19. Jahrhundert die gesamte begriffliche Entwicklungsgeschichte des Bürgerstatus, die hier kurz skizziert wurde, im Begriff des „Staatsbürgers“ mitgedacht. Letztlich führt die Ablösung des ständischen Gemeinwesens durch den „modernen“ Staat dazu, dass der Bürgerbegriff – neben seinem kommunalrechtlichen Fortwirken als Stadtbürger, der sich auch in den ländlichen Bereich ausdehnt – als privates Individuum, das sich im „bürgerlichen“ Recht entfalten kann, und als öffentlichrechtlicher, für das politische System wichtiger „Staatsbürger“ ausdifferenziert.65 Und angesichts des Unbehagens mit dem Begriff des „Untertan“, aber auch dessen Abgrenzungsschwierigkeiten zum „Staatsbürger“, wird mit dem Begriff des „Staatsangehörigen“ ein neuer, neutraler Terminus für die Staatsebene gefunden.66 Doch auch dieser neue Begriff taugt letztlich nicht, um Abgrenzungs- und Definitionsschwierigkeiten zu überwinden. Während Georg Jellinek weiterhin vom Staatsbürger spricht,67 setzen Georg Meyer und Gerhard Anschütz den Staatsangehörigen mit dem Staatsbürger und Untertan gleich.68 Der Begriff der Staatsangehörigkeit begünstigt aber die rechtliche Formalisierung und eine inhaltliche Entleerung. Das Übersehen bzw. 63 Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Erster Theil, 2. Aufl. 1853, S. 395. 64 Koselleck, Begriffsgeschichten, 2006, S. 43, 412. 65 Siehe Riedel, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band I, 2004, Art. Bürger, S. 672 (700). 66 Siehe Koselleck, Begriffsgeschichten, 2006, S. 419. 67 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1921, S. 406 ff. 68 Meyer/Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 8. Aufl. unveränderter Nachdruck der 7. Aufl. 1919, 2005, S. 244: „Der Staatsangehörige wird auch Staatsbürger oder Untertan genannt. Staatsbürger ist und heißt der Staatsangehörige als Subjekt von Rechten, Untertan als Träger von Pflichten gegenüber dem Staat. Staatsbürger im engeren Sinne sind diejenigen Personen, welchen innerhalb des Staates politische Rechte zustehen.“
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genauer das für rechtlich irrelevant Halten eines materiellen Gehaltes des Bürgerstatus ist Folge des praktizierten Rechtspositivismus. Deutlich findet sich eine solche, auf das Formale reduzierte juristische Inhaltsbestimmung bei Hans Kelsen: „Die mitunter behauptete besondere Treuund Gehorsamspflicht der Staatsbürger ist – sofern sie sich nicht in konkreten Rechtspflichten bzw. Unrechtsfolgen äußert – nur ein ethisch-politisches Postulat ohne rechtliche Bedeutung.“69 Diese positivistische Auffassung hat sich weitgehend durchgesetzt und hält auch in der Rechtswirklichkeit bis heute an. 4. Zwischenergebnis Der historische Überblick hat gezeigt, dass in Deutschland kein einheitliches, die Zeitläufe überspannendes Begriffsverständnis des Bürgerstatus festzustellen ist. Der Bürgerbegriff hat sich historisch vom Stadtüber den Landesbürger zum Staatsbürger und schließlich Staatsangehörigen entwickelt. Das Bewusstsein vom Bürgerstatus und dessen Bedeutung war durchaus regional unterschiedlich ausgeprägt. Immer aber war der Bürgerstatus neben einem formalen Rechtsstatus mit inhaltlichen Rechten und Pflichten sowie auch mit einem darüber hinausgehenden materiellen Verständnis verbunden. Dabei konnte man zunächst Bürger sein, aber durchaus auch in anderen, etwa lehnsrechtlichen Loyalitätsverhältnissen stehen.70 Ab dem 18./19. Jahrhundert wird auch der Bürgerbegriff zunehmend mit dem Nationalgedanken aufgeladen. Gerade die materielle Komponente des Bürgerstatus ermöglicht die nationale und später nationalistische Aufladung vom späten 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein. Die positivistische Reduktion auf einen bloß formalen Status ist aber die falsche Gegenreaktion, weil es den Bürgerstatus beliebig macht und aushöhlt. Auf diese Weise hatte es auch der Nationalsozialismus einfach, die Staatsangehörigkeit durch bloß formale Rechtsetzung vollständig umzudeuten. Ein materieller Begriffskern, der diesem etwas entgegenzusetzen gehabt hätte, war nicht mehr vorhanden. Ein ausgehöhltes Fundament wird aber brüchig und kann das Gemeinwesen nicht mehr tragen. 69
Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925/Studienausgabe 2019, S. 382. Zur Entwicklung siehe etwa Fahrmeier, Die Deutschen und ihre Nation, 2017, S. 31 ff. 70
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III. Die Gegenwart: Staatsbürger als Staatsangehöriger 1. Historische Kontingenz: Prägung durch den Nationalstaat Die Ankunft des Staatsbürgers in dem auf ein Territorium bezogenen Nationalstaat bewirkt die endgültige Kappung personaler Beziehungen, aber auch den Verlust individuell-materieller Inhalte. Die in der Regel synonym verwandte Staatsangehörigkeit verstellt erst recht den Blick auf den „Bürgerstatus“, der ein Bündel von Rechten und Pflichten beschreibt, die aus dem Status folgen.71 Die historisch gewachsene Verbindung des Bürgerstatus mit der Freiheitsidee72 ist in Vergessenheit geraten. Basis des Bürgerstatus ist jetzt vor allem die „besondere Formalisierungsleistung der Staatsangehörigkeit“73, mit der ein umfassendes Rechtsverhältnis beschrieben ist, aus dem Rechte und Pflichten erwachsen.74 Der Nationalstaat benötigt und konstituiert ein Staatsvolk, das durch die gemeinsame Staatsangehörigkeit gekennzeichnet ist.75 Das Staatsvolk wird also aus den Staatsangehörigen gebildet, die damit der besonderen Rechte- und Pflichtenordnung ihres Staates unterworfen werden. Seit dem 19. Jahrhundert setzt sich dieses Verständnis der Staatsangehörigkeit als einer rechtlichen Institution, über die die Mitgliedschaft an einem Staat bewirkt und an die Rechte des einzelnen Individuums geknüpft sind, in allen europäischen Staaten durch76 – die Institution der Staatsangehörigkeit gehört somit zum gemeineuropäischen Verfassungsrecht, wie Art. 9 EUV, Art. 20 Abs. 1 AEUV belegen.77 71
Walter, VVDStRL 72 (2013), S. 7 (13). Prägnant Waitz, Grundzüge der Politik, 1862, S. 23: „Die Staatsangehörigen erscheinen theils als Unterthanen, theils als Staatsbürger: die Begriffe bilden keinen Gegensatz, sondern sie ergänzen sich; sie verhalten sich wie Unterordnung und Freiheit.“ – Ebenso Haenel, Deutsches Staatsrecht, 1892, S. 96. 73 Gärditz, VVDStRL 72 (2013), S. 49 (55). 74 BVerfGE 54, 53 (70). 75 Als staatsrechtliche Funktion der Staatsangehörigkeit bezeichnet, siehe Schöbener/Knauff, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 2013, § 3 Rn. 44. 76 Gosewinkel, Schutz und Freiheit, 2016, S. 639: „Institution des Ius Publicum Europaeum“. 77 Siehe Cruz Villalón, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band I, 2007, § 13 Rn. 102 ff. 72
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In ihrer grundsätzlichen, auf den Nationalstaat bezogenen Funktion ist die Staatsangehörigkeit durch Exklusivität gekennzeichnet, grundsätzlich soll eine ausschließliche Verbundenheit des Staatsangehörigen zu dem Staatsvolk und „seinem“ Staat bestehen.78 Diese Bedeutung der Staatsangehörigkeit zeigt sich in der jüngeren Vergangenheit deutlich an der Ausgabe russischer Pässe an Menschen auf ukrainischem Gebiet – als Vorstufe für die Rechtfertigung territorialer Annexionen zum „Schutz der eigenen Staatsangehörigen“.79 Mit dem formalen Band der Staatsangehörigkeit geht heutzutage auch ein Verzicht auf eine ethnische Aufladung einher; die Staatsangehörigkeit ist eine wechselseitige Rechts- und Pflichtenbeziehung zwischen dem Bürger und seinem Heimatstaat.80 Aus der Staatsangehörigkeit folgt dann die Gleichheit vor dem Gesetz.81 Die Staatsangehörigkeit hat insoweit die Funktion einer verlässlichen Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit.82 Dementsprechend kennt das Grundgesetz begrifflich nicht den Staatsbürger, sondern den „deutschen Staatsangehörigen“ (Art. 116 GG). Diese Staatsangehörigen bilden dann das deutsche (Staats-)Volk i.S.d. Art. 20, 28, 116 GG. 2. Der Staatsangehörige Maßgebend für die Zugehörigkeit zum Staatsvolk ist aus Sicht des Grundgesetzes die deutsche Staatsangehörigkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in dem Verfahren zum schleswig-holsteinischen Kommunalen Ausländerwahlrecht im Jahre 1990, an dem unser Jubilar als Prozessbevollmächtigter der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung maßgeblich beteiligt war,83 deutlich herausgestellt: „Das Volk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, wird 78
Schöbener/Knauff, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 2013, § 3 Rn. 46. Auf Basis des Balkankonflikts weitsichtig Gosewinkel, Schutz und Freiheit, 2016, S. 647: „Der Kampf wird um die politische Zugehörigkeit von Territorien und Personen ausgetragen.“ 80 Von Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 83. 81 So schon Waitz, Grundzüge der Politik, 1862, S. 23: „Der Ausdruck für das allgemeine Staatsbürgerrecht ist: Gleichheit vor dem Gesetz.“ 82 BVerfGE 116, 24 (44). 83 Eingehend Isensee/Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das kommunale Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993. 79
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nach dem Grundgesetz von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 gleichgestellten Personen gebildet. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk der Bundesrepublik wird also grundsätzlich durch die Staatsangehörigkeit vermittelt (…).“84 Für das Bundesverfassungsgericht besteht zwischen dem Staatsangehörigen und dem Staatsbürger kein Unterschied: „Die Staatsangehörigkeit ist die rechtliche Voraussetzung für den gleichen staatsbürgerlichen Status, der einerseits gleiche Pflichten, zum anderen und insbesondere auch die Rechte begründet, durch deren Ausübung die Staatsgewalt in der Demokratie ihre Legitimation erfährt.“85 Damit ist aber – trotz der Anknüpfung des Verfassunggebers an einen schwierigen Zustand zu Beginn der Bundesrepublik, bei dem Territorium und Staatsvolk sehr inkongruent waren – keine Aussage zugunsten eines bestimmten ethnischen Nationalstaatskonzepts getroffen, das etwa den Verfassung- oder Gesetzgeber auf ein „ius sanguinis“-Konzept festlegte.86 Gerade um in Zeiten weltweiter Migration eine Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft der staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen, kann der Gesetzgeber auf der Grundlage von Art. 73 Abs. 1 Nr. 2, Art. 116 GG die Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit und damit auch die Kriterien, nach denen sich die Zugehörigkeit zum Staatsvolk bestimmt, regeln.87 Dies ändert aber nichts daran, dass Art. 116 GG selbst einen Nationalstaat beschreibt, gedanklich voraussetzt und konstituieren will88 und an die Idee einer deutschen Kulturnation anschließt, ohne auf eine rein ethnische Fundierung der Demokratie über ihre Staatsbürger zu setzen.89 Einem solchen ethnischen Verständnis der Staatsangehörigkeit wurde mit der 84
BVerfGE 83, 37 (51). BVerfGE 83, 37 (51). Ebenso BVerfGE 83, 60 (72): Volk als „Gesamtheit der Staatsbürger“, die sich als „Gesamtheit der in dem jeweiligen Wahlgebiet ansässigen deutschen (Art. 116 Abs. 1 GG)“ darstellt (a.a.O., S. 71). 86 BVerfGE 144, 20 (264 f.). 87 BVerfGE 83, 37 (52). 88 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band III, 3. Aufl. 2018, Art. 116 Rn. 1: „Heimstatt aller Deutschen“, Rn. 41. 89 Ausdrücklich BVerfGE 144, 20 (264 f.): „Dies führt aber nicht dazu, dass der Volksbegriff des Grundgesetzes sich vor allem oder auch nur überwiegend nach ethnischen Zuordnungen bestimmt.“ (a.a.O., S. 265 Rn. 693); siehe ferner Vesting, Staatstheorie, 2018, Rn. 176; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band III, 3. Aufl. 2018, Art. 116 Rn. 3 m.w.N. 85
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grundlegenden Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 199990 endgültig eine Absage erteilt. Das Staatsangehörigkeitsrecht bedeutet keinen völligen Verzicht auf ethnische Abstammung, beendet aber beginnend mit dem Jahr 2000 das Monopol des Abstammungsprinzips.91 Und dem Gesetzgeber ist es mit seiner einfachen Parlamentsmehrheit nicht verwehrt, an weiteren Stellschrauben zu drehen. Im aktuellen Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP aus dem Jahr 2021 heißt es dazu: „Wir schaffen ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Dafür werden wir die Mehrfachstaatsangehörigkeit ermöglichen und den Weg zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vereinfachen. Eine Einbürgerung soll in der Regel nach fünf Jahren möglich sein, bei besonderen Integrationsleistungen nach drei Jahren. Eine Niederlassungserlaubnis soll nach drei Jahren erworben werden können. In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern werden mit ihrer Geburt deutsche Staatsbürgerin/Staatsbürger, wenn ein Elternteil seit fünf Jahren einen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Für zukünftige Generationen prüfen wir, wie sich ausländische Staatsbürgerschaften nicht über Generationen vererben.“92 Bei einer Realisierung dieser Absichten wird der ethnische Anknüpfungspunkt der deutschen Staatsangehörigkeit noch weiter zurückgedrängt. Auch wenn der Staatsangehörigkeit nach hier vertretener Auffassung keine spezifisch deutsch-ethnische Nationsidee zugrunde liegt, so muss die Staatsangehörigkeit zur Schaffung des Bürgerstatus doch mehr aufweisen als eine rein zufällige Summierung von Individuen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf deutschem Staatsgebiet aufhalten. Es ist die Frage nach der gemeinsamen Identität, nach der materiellen Seite des Bürgerstatus, die mit dem rein formalen Verständnis der Staatsangehörigkeit nicht mehr beantwortet wird. Darauf ist zurückzukommen. 90 Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. 7. 1999, BGBl. I 1999, S. 1618; dazu Hailbronner, NVwZ 1999, S. 1273 ff.; Huber, NJW 1999, S. 2769 ff.; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band III, 3. Aufl. 2018, Art. 116 Rn. 49; anders Murswiek, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S. 123 ff. 91 Gosewinkel, Schutz und Freiheit, 2016, S. 638. 92 Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP, S. 118 (abgerufen unter: https://www.fdp.de/koalitionsvertrag).
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An der Änderungsmöglichkeit des Gesetzgebers, der durchgeführten Reform und den Plänen der aktuellen Bundesregierung wird deutlich, dass die Staatsangehörigkeit zwar einen Staatsbürgerstatus mit Rechten und Pflichten begründet, selbst aber nur ein ausschließlich formales Band zwischen Individuum und Staat knüpft. Exklusivität und Identität begründende Inhalte des Bürgerstatus sind in dem gegenwärtigen Konzept der Staatsangehörigkeit nicht (mehr) enthalten. Derzeit gilt für den Erwerb der Staatsangehörigkeit, dass sie zunächst einmal durch Geburt erworben werden kann (§ 4 Abs. 1 S. 1 StAG), ferner auch durch Annahme als Kind (§ 6 StAG). Hier gilt das alte „ius sanguinis-Prinzip“ fort. Unter bestimmten Voraussetzungen führt auch der Geburtsort in Deutschland schon jetzt zur deutschen Staatsangehörigkeit gem. § 4 Abs. 3 StAG. Damit ist im Staatsangehörigkeitsrecht nun auch das „ius soli-Prinzip“ realisiert. Schließlich – und in der Praxis immer bedeutender – wird die Erlangung der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung gem. § 8 bis 15 StAG. 3. Möglichkeit multipler Identitäten und Individualisierung Die völkerrechtlich angedachte und in der Staatenpraxis noch vielfach anzutreffende Exklusivität der Staatsangehörigkeit ist nach deutschem Recht nicht mehr durchgängig gewährleistet (vgl. § 4 Abs. 3, § 12 StAG) und soll – wie eben erwähnt – nach den Plänen der derzeitigen Regierungsparteien durch die Ermöglichung der Mehrfachstaatsangehörigkeit weiter aufgeweicht werden. Die politisch hoch umstrittene doppelte oder Mehrfach-Staatsangehörigkeit93 wirft das Problem multipler Identitäten auf,94 die nach Ansicht der Befürworter offenkundig möglich sein soll. Wenn man den Bürgerstatus – und auch dessen rein formale Ausprägung als Staatsangehörigkeit – als identitätsstiftend ansieht und materielle Inhalte etwa in Gestalt der Treueverpflichtung nicht für völlig obsolet hält, so muss eine mehrfache Staatsangehörigkeit Bedenken begegnen. Wenn man allerdings den Bürgerstatus – wie die Staatsangehörigkeit – als nur rein formales rechtliches Band betrachtet, 93
Dazu von Mangoldt, JZ 1993, S. 965 ff.; Hailbronner/Weber, in: Hailbronner/Kau/Gnatzy/Weber (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, 7. Aufl. 2022, Teil I E. Rn. 357 ff. 94 Zur Möglichkeiten mehrfacher Identitäten Meier, Geschichte der Völkerwanderung, 2. Aufl. 2020, S. 110 f.
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steht eine Identität als materielle Komponente überhaupt nicht mehr in Rede. Allerdings wären die Anforderungen an die Staatsangehörigkeit und damit an den Bürgerstatus letztlich noch geringer als das minderheitenrechtliche Erfordernis eines (inhaltlichen) Bekenntnisses zu einer Minderheit.95 Unabhängig davon gibt es auch im Bundesstaat hinsichtlich der Volkszugehörigkeit „multiple Identitäten“, da der Bürger Teil des Gemeinde-, Kreis-, Landes- und Bundes-Staatsvolkes ist.96 Diese Teil-Identitäten basieren allerdings auf derselben deutschen Staatsangehörigkeit, so dass insoweit nicht von Mehrfach-Staatsangehörigkeiten gesprochen werden kann. Sie sind Teilmengen des deutschen Staatsvolkes, das aus den deutschen Staatsangehörigen besteht.97 Das Grundgesetz schließt eine eigene Landes-Staatsangehörigkeit nicht aus.98 Die Unionsbürgerschaft gem. Art. 9 EUV, Art. 20 AEUV ist hinzugetreten, ersetzt aber die nationale Staatsangehörigkeit nicht. Auch insoweit kann aber von multipler Identität gesprochen werden. Auf den individualbezogenen Kontext ist insoweit noch zurückzukommen: Die Ko-Existenz und Koordination verschiedener Völker bzw. Demoi wird durch eine Mehrfachidentifikation des individuellen Legitimationssubjekts in und mit verschiedenen Verbands- bzw. Ebenenvölkern möglich. Ein anderer Aspekt verdient in der Bestandsaufnahme der Gegenwart noch Erwähnung: Die Individualisierung des Bürgerstatus. Dieser Aspekt mag auf den ersten Blick verwunderlich und erklärungsbedürftig erscheinen, da zwar Bürgerschaft und Volk ein Kollektiv bilden, auf der anderen Seite der inhaltliche Freiheitsaspekt des Bürgerstatus schon
95
Siehe Bonn-Kopenhagener-Erklärung 1955, Rn. 18 (abgerufen unter: https://www.wahlrecht.de/doku/doku/19550329.htm). 96 BVerfGE 83, 37 (53, 55); 83, 60 (71, 74 f.); Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 2, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 31 f.; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 92; Schmidt-Aßmann, AöR 1991, S. 329 (349 f.). 97 BVerfGE 83, 37 (53); 83, 60 (71, 74 f.); Schliesky, Legitimität, 2020, S. 83. 98 So sieht etwa Art. 6 f. BayVerf vor, dass Staatsbürger ist, wer Staatsangehöriger ist. In Ermangelung eines Ausführungsgesetzes fehlt es in dieser Verfassungsbestimmung aber (derzeit) an der Rechtswirkung, siehe BayVerfGH, VGHE 24, 1; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, S. 1111 Rn. 37; eingehend Thedieck, Deutsche Staatsangehörigkeit im Bund und in den Ländern, 1989.
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immer individuell gedacht war.99 Gemeint ist die Stärkung der politischen Rechte, die Kreation eines individualrechtlichen „Anspruchs auf Demokratie“ durch das Bundesverfassungsgericht. Der durch die Staatsangehörigkeit definierte deutsche Staatsbürger kann durch seine Stimmabgabe bei Wahlen seinen Beitrag zur Tätigkeit des Legitimationssubjektes „Staatsvolk“ leisten: Mit der Stimmabgabe bei den Wahlen betätige sich der Bürger als Glied des Staatsorgans Volk im status activus.100 Die Staatsangehörigkeit bzw. die Eigenschaft als Deutscher wird so zum Anknüpfungspunkt für die Zugehörigkeit zum Volk i.S.d. Art. 20 S. 2 S. 1 GG als dem Träger der Staatsgewalt und zur entscheidenden Voraussetzung für die Teilnahme am Wahl- und damit Legitimationsakt. Dementsprechend gewährleistet das durch Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Wahlrecht zum Deutschen Bundestag „als grundrechtsgleiches Recht die politische Selbstbestimmung der Bürger und garantiert ihnen die freie und gleiche Teilhabe an der Legitimation der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt (…). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erschöpft sich das Wahlrecht nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes)Staatsgewalt, sondern vermittelt dem Einzelnen einen Anspruch darauf, mit seiner Wahlentscheidung Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen und etwas bewirken zu können.“101 Es entsteht so ein letztlich in der Würde des Menschen wurzelnder Anspruch auf Demokratie, der hinfällig wäre, wenn das Parlament Kernbestandteile politischer Selbstbestimmung aufgäbe und damit dem Bürger dauerhaft seine demokratischen Einflussmöglichkeiten entzöge.102 Hier wird deutlich, wie sehr der einzelne Bürger mit seinem individuellen Bürgerstatus zum Garanten für die Einhaltung des demokratischen Prinzips – und damit zum Grundpfeiler des demokratischen Verfassungsstaates werden kann.
99 Siehe auch die Ausführungen von Vesting, Staatstheorie, 2018, Rn. 167 ff., zum „individualistischen Nationsbegriff“. 100 BVerfGE 83, 60 (71); kritisch gegenüber dieser Reduzierung der Demokratie auf den Wahlakt der Bürger, der allenfalls eine Maximierung, aber keine Optimierung des Ideals gleicher Mitwirkung darstelle, Bryde, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 59 (69). 101 BVerfGE 142, 123 Rn. 81; dazu eingehend und kritisch Sauer, Der Staat 58 (2019), S. 7 ff. 102 BVerfGE 123, 267 (341); 129, 124 (169); Schliesky, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch des Parlamentsrechts, 2016, § 5 Rn. 17.
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IV. Bürgerstatus als Grundpfeifer des demokratischen Verfassungsstaates Den Inhalt des Bürgerstatuts gilt es nun zu konkretisieren. Der Bürgerstatus hat – dies haben die historische Entwicklung, aber auch die Bestandsaufnahme der Gegenwart gezeigt – eine formelle und eine materielle Seite. 1. Formelle Seite des Bürgerstatus Die formelle Seite des Bürgerstatus ist eine rechtliche Zuordnungsentscheidung. Die Zuerkennung von Staatsangehörigkeit bzw. Bürgerstatus ist ein Rechtsakt. Die Innehabung dieses Bürgerstatus (und damit im Territorialstaat des Staatsbürgerstatus) ist das Ergebnis einer rechtlichen Zuordnungsentscheidung, der Verleihung dieses Status an ein Individuum. Anders als in früheren Zeiten, als Bürgereid und ggf. eine entsprechende Urkunde die Bedeutung der Statusverleihung unterstrichen, handelt es sich im modernen Staat, der Territorialstaat ist und das Staatsvolk (mal mehr, mal weniger – ius soli) auf das Staatsgebiet bezieht, um einen tendenziell sehr formalen, kaum noch wahrnehmbaren Akt. In dieser „Massenzuordnung“ zum Staatsvolk sind daher individuelle Verleihungs- und Treueakte wie der Bürgereid anscheinend überflüssig geworden. Formal ist dieser Bürgerstatus schon im Personenverbandsstaat des Mittelalters existent gewesen – wegen der erst mit ihm verbundenen privilegierenden Rechte und Pflichten dürfte auch die formelle Seite bedeutsamer als heute gewesen sein. Die jeweilige Ausgestaltung des formellen Bürgerstatus entscheidet über die materielle Seite: Sie kann gestärkt, geschwächt werden oder gar entfallen. Wenn es im Sinne identitärer Ansätze keine spezifischen, an den Bürgerstatus geknüpften Rechte oder Pflichten gibt, dann entfällt die materielle Seite. Der formale Bürgerstatus erschöpft sich dann in einer formalen Rechtsgleichheit, kann aber keine inhaltliche staatsbürgerliche Identität mehr ausbilden. Die staatsbürgerschaftliche Zuordnung kann formal zwar weiterhin aufrechterhalten werden und als Staatsangehörigkeit das Zuordnungskriterium zum Staatsvolk bilden. Letztlich erschöpft sich der Bürgerstatus dann allerdings in einer völkerrechtlichen Abgrenzungsfunktion. Der Bürgerstatus ist dann materiell entkernt und hohl. Die hohe politisch-praktische Relevanz derartiger Überlegungen zeigt sich im Übrigen an dem Versuch Russlands, als
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Folge der formalen Staatsangehörigkeit eine materielle Identität zu kreieren. In den seit 2014 völkerrechtswidrig besetzten Gebieten der Krim und der Ostukraine wurden russische Pässe ausgegeben, und die über Nacht verliehene Staatsangehörigkeit begründete Rechte (z. B. Rentenzahlung) und Pflichten. Auch der Verkauf von Staatsangehörigkeiten an reiche Ausländer in einigen Staaten belegt die inhaltliche Entkernung und Fokussierung auf die formelle Seite. Die Bestandsaufnahme der Gegenwart hat gezeigt, dass mit dem aktuellen Konzept der Staatsangehörigkeit das formelle Verständnis des Bürgerstatus aktuell vorherrschend ist. Das Übersehen des materiellen Gehaltes des Bürgerstatus ist insoweit auch Folge des praktizierten Rechtspositivismus. Prägnant hat dies Hans Kelsen auf den Punkt gebracht: „Die mitunter behauptete besondere Treu- und Gehorsamspflicht der Staatsbürger ist – sofern sie sich nicht in konkreten Rechtspflichten, bzw. Unrechtsfolgen äußert – nur ein ethisch-politisches Postulat ohne rechtliche Bedeutung.“103 Der Bürgerstatus erschöpft sich dann in einer formalrechtlichen Rechtsgleichheit der Staatsangehörigen und allenfalls bestimmten, an die Staatsangehörigkeit anknüpfenden Rechten und Pflichten, die unter dem Druck menschenrechtlicher Angleichungsforderungen allerdings immer weiter auf dem Rückzug sind. Bei einem rein formellen Verständnis des Bürgerstatus ist die Zahl der Staatsbürger einwanderungs-, migrations- und bevölkerungspolitisch nahezu beliebig im Rahmen der dem Staat zur Verfügung stehenden Ressourcen (insbesondere Finanzen, Wohnraum und Daseinsvorsorge) vermehrbar. Der Lackmustest für eine inflationäre Zuerkennung des Bürgerstatus findet in Krisenzeiten statt, wie sie nun angesichts der aktuellen russischen Bedrohungen des europäischen Friedens wieder erkennbar werden. Bei der Landesverteidigung wird sich erweisen, ob eine erleichtert erworbene Staatsangehörigkeit zugewanderter Menschen bereits ein Loyalitätsband bewirkt, das dafür ausreicht, in letzter Konsequenz auch das eigene Leben zur Verteidigung dieses Staates und dieser Gesellschaft der Bürger zu opfern.
103
Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925/Studienausgabe 2019, S. 382.
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2. Materielle Seite des Bürgerstatus a) Inhaltliche Konkretisierung durch Rechte und Pflichten Materiell folgen aus dem Bürgerstatus bestimmte Rechte und Pflichten, die nur Bürger treffen. Traditionell sind dies bestimmte Pflichten zur Verteidigung, gemeinsamen Lastentragung und Finanzierung des Gemeinwesens, mit denen Rechte auf vielfältigen Schutz, Freiheit, Sicherheit korrespondieren. Vor allem auch Rechte zur politischen Mitwirkung im Gemeinwesen hängen am Bürgerstatus, sind in ihrer konkreten Gestaltung und Reichweite aber abhängig von der Verfassung und deren Ausgestaltung des politischen Systems.104 Auch hier ist der heutige Rechtszustand ein Ergebnis einer langen historischen Entwicklung vom Stadtbürger zum Staatsbürger, bei der persönliche und wirtschaftliche Freiheiten nebst politischer Mitwirkung am Anfang des inhaltlichen Kanons standen.105 Auch diese inhaltlich bestimmten Rechte und Pflichten hängen aber erst einmal formalrechtlich am Bürgerstatus und gestalten ihn in der Lebenswirklichkeit inhaltlich aus. Materiell erscheint der Bürgerstatus somit zunächst einmal als Rechte- und Pflichtenbeziehung des zum Bürger gewordenen Individuums zum Staat. Erst diese materielle Seite des Bürgerstatus wirkt inhaltlich identitätsbildend. b) Identitätsbildung Denn erst aus der Identifikation der Bürger mit den Inhalten des Bürgerstatus bildet sich eine bestimmte, für die Herrschaftsorganisation bedeutsame Identität. Diese Identität ist insbesondere mitgliedschaftlicher, genossenschaftlicher Art und ist bis heute im kommunalen Kontext festzustellen. Diese Identität ist auf Landes- und Nationalstaatsebene institutsnotwendig anzutreffen; seit Ende des 18. Jahrhunderts erscheint sie auf Nationalstaats- bzw. Territorialstaatsebene vorwiegend als 104 So bereits Waitz, Grundzüge der Politik, 1862, S. 24. – Darlegung der einzelnen Statusrechte und -pflichten bei Walter, VVDStRL 72 (2013), S. 7 (13 ff.); zur historischen Entwicklung Gosewinkel, Schutz und Freiheit, 2016, S. 202 ff. 105 Siehe etwa die Inhaltsbestimmung des städtischen Bürgerrechts in § 15 Preußische Städteordnung von 1808.
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nationale Identität.106 Gerade diese Identität füllt die materielle Seite des Bürgerstatus aus. Ob es sich heutzutage dann immer noch um eine nationale Identität auf der territorialstaatlichen Ebene handelt, kann nicht für alle Staaten der Welt und nicht einmal Europas einheitlich beantwortet werden. Die Relevanz dieser Identität verdeutlicht jedenfalls auch Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV, der die Union zur Achtung der „jeweiligen nationalen Identität“ der Mitgliedsstaaten verpflichtet. Diese Identität, die sich auch als Bürgersinn und Bürgertugend innerhalb des Gemeinwesens äußert, bildet sozusagen eine Tiefenschicht des Bürgerstatus. Angesichts der vom Nationsgedanken geprägten Aufladung107 ist diese Tiefenschicht in archäologisch anmutender Kleinarbeit freizulegen, um die materielle Seite des Bürgerstatus zu begreifen. Diese inhaltliche Seite ist es jedenfalls, die aus dem Individuum einen Bürger macht. c) Individualisierung als Voraussetzung des Bürgerstatus Der Bürger ist das mit dem Bürgerstatus versehene Individuum. Ohne das Individuum ist dementsprechend auch der Bürger nicht denkbar. Die „Erfindung des Individuums“ ist eine Leistung der griechisch-römischen Rechtskultur, des Christentums, der mittelalterlichen Philosophie, der Renaissance und des Humanismus.108 Nur das Individuum verfügt (nach weltweit allerdings leider immer noch nicht unbestrittener Auffassung) über unveräußerliche Menschenrechte und die Menschenwürde. Ohne Staat, dessen Zweck der Schutz der in ihm als Bürger zusammengeschlossenen Individuen ist, wäre das Individuum schutzlos inneren und äußeren Bedrohungen ausgesetzt.109 Hier liegt 106 Dazu eingehend Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 2. Aufl. 2004; Walser Smith, Deutschland – Geschichte einer Nation, 2021, S. 239 ff.; zum Ende des Nationsnarratives Assmann, Die Wiedererfindung der Nation, 2020, S. 29 ff. Vgl. auch die Charakteristika bzw. „Triebfeder“ der einzelnen Nationen bei von Moser, Reliquien, 1766, S. 85. 107 Diese „Aufladung“ durch eine ethnische, am Nationsbegriff orientierte Inhaltsbestimmung erfolgte erst ab Ende des 18. Jahrhunderts, siehe Schorn-Schütte, Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit, 3. Aufl. 2019, S. 307. 108 Ladeur, Der Anfang des westlichen Rechts, 2018, S. 147; eingehend Siedentop, Die Erfindung des Individuums, 3. Aufl. 2022. 109 Grundlegend Hobbes, De cive / Vom Bürger, 1642, in: Gawlick (Hrsg.), Vom Menschen – Vom Bürger, Elemente der Philosophie II/III, 1959/1977, Kap. I 10 ff.
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die Verbindung zwischen dem Staat, seiner Souveränität und dem Bürgerstatus: Mit dem Bürgerstatus erwirbt das Individuum Schutz und Fürsorge des Staates. d) Schutz und Freiheit gegen Treue Neben dem formellen Band, das den Bürgerstatus begründet, gibt es seit jeher eine materielle Seite des Bürgerstatus, die dem früheren wechselseitigen Schutz- und Treueversprechen entstammt. Hier ist an die oben dargestellten Anfänge des Bürgerstatus im kommunalen Bereich zu erinnern: Der Bürgereid konstituierte die Stadtgemeinde, womit dann aber auch die Gewährleistung von Frieden und Schutz für den Bürger auf die Stadtgemeinde überging.110 Dieser Schutz reichte so weit, dass Städte (nur) für ihre Bürger etwa bei Geiselnahmen Lösegeld zahlten oder Befreiungsaktionen unternahmen. Auch dies wirkt im konsularischen Schutz (nur) für die eigenen Staatsangehörigen nach. Der Umfang des mit dem Bürgerstatus verbundenen Schutzversprechens variiert allerdings in Abhängigkeit von der historischen Entwicklung und der konkreten Staatsordnung. Nicht übersehen werden darf, dass der Schutzgedanke nach wie vor schon im Begriff des Bürgers steckt: „Burgenses“ waren die Einwohner, die ihren Wohnsitz im Schutz einer Burg hatten.111 Schon hier ist der Zusammenhang zu einer zentralen, aus dem Bürgerstatus folgenden Verpflichtung deutlich – der Wehrpflicht. Der Bürgerstatus dient der Überwindung der Schutzlosigkeit des Individuums112. Der Schutzgedanke wird durch die lehnsrechtliche Wurzel noch verstärkt, aus der auch die damit einhergehende Treueverpflichtung des Bürgers Verstärkung erfahren hat.113 Den Mindestumfang des mit dem Bürgerstatus verbundenen Schutzes bilden Leben und Gesundheit, also der klassische Sicherheitsaspekt.114 Dieser Schutzumfang ist dann über die Daseinsvorsorge schließlich im demokratischen Verfassungsstaat über das Existenzminimum zu 110
Fuhrmann, Deutschland im Mittelalter, 2017, S. 93. Mittermaier, in: Rotteck/Welker, Dritter Band, 3. Aufl. 1859, Art. Bürger, S. 220. 112 Zusammenfassend Liessmann, Lob der Grenze, 2012, S. 77 ff. 113 Letztlich sind der antike und mittelalterliche Stadtbürger mit dem lehnsrechtlichen Vasallen zu Beginn der Neuzeit zum Landesbürger verschmolzen. 114 Dazu Stoll, Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, 2003, S. 5 ff. 111
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zahlreichen Sozialleistungen ausgebaut worden. Unabhängig von der konkreten historischen Ausgestaltung überwindet der Bürgerstatus die Schutzlosigkeit des Individuums durch rechtlich verbindliche Aufnahme des Individuums in die staatliche oder kommunale Gemeinschaft. Essentiell sind letztlich aber Schutz und Freiheit als materieller Kern des Bürgerstatus.115 Dieser existenzielle Kern wird uns gerade am Beispiel des Krieges in der Ukraine vor Augen geführt: Trotz eklatanter Völkerund ethnisch unerträglicher Menschenrechtswidrigkeit greifen andere Staaten nicht unmittelbar zugunsten der ukrainischen Bürger ein. Denn das mit dem Bürgerstatus verbundene Schutzversprechen, das über völkerrechtliche Verträge und Schutzbündnisse auf andere Bürger erstreckt werden kann, gibt es nicht. Festzuhalten ist also: Der Bürgerstatus in seiner materiellen Ausprägung gewährleistet Schutz und dadurch Freiheit.116 Oder, in den Worten von Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Das Individuum, nach seinen Pflichten Untertan, findet als Bürger in ihrer Erfüllung den Schutz seiner Person und Eigentums, die Berücksichtigung seines besonderen Wohls und die Befriedigung seines substantiellen Wesens (…).“117 Neben dem Schutz von Leib, Leben und Eigentum, also der Sicherheit, ist vor allem die Freiheit bestimmender Faktor des materiellen Bürgerstatus. Mag die Freiheit in allen Zeiten ein Prinzip und damit ein zwangsläufig niemals voll umfänglich zu realisierendes Optimierungsgebot sein, so hat sie doch seit der Französischen Revolution mit den am Staatsbürgerstatus hängenden Grundrechten eine neue Dimension erreicht.118 Schutz und Freiheit bewirken das Glück des Bürgers. Denn der Mensch ist – als Individuum – „dazu bestimmt, glücklich zu seyn“119. Der Bürgerstatus wird so zum Anteil des Individuums am Glück der Gesellschaft der Staatsbürger.120 115
Gosewinkel, Schutz und Freiheit, 2016, S. 12 ff., 630 ff. Auf historischer Grundlage zusammenfassend Gosewinkel, Schutz und Freiheit, 2016, insbes. S. 630 ff. 117 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsgg. von Berhard Lakebrink, 1970/2002, § 261. 118 Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Band II, 1962, S. 216 f. 119 Von Moser, Beherzigungen, 1761, S. 3; siehe auch Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, 1793, S. 110. – Eingehend Muratori, Von der Glückseeligkeit des gemeinen Wesens, als dem Hauptzweck gut regierender Fürsten, 1758, II. Hauptstück, S. 9 ff. 116
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Für Schutz und Freiheit schuldet der Bürger umgekehrt Treue. Diese Grundpflicht gehört ebenfalls seit jeher zum materiellen Kern des Bürgerstatus. Sie wurde über Jahrhunderte in lehns- und bürgerrechtlichen Eiden sichtbar. Diese Treuekomponente wirkt sogar noch im aktuell gültigen Staatsangehörigkeitsgesetz fort: Nach § 17 Abs. 1 Nr. 5 StAG geht die Staatsangehörigkeit verloren „durch Eintritt in die Streitkräfte oder einen vergleichbaren bewaffneten Verband eines ausländischen Staates (…).“ Freiheit, Sicherheit, Glück – den materiellen Kern des Bürgerstatus machen die Staatszwecke aus, um derentwillen sich Bürger zu einem solchen Gemeinwesen zusammenschließen.121 Im Bürgerstatus werden diese Staatszwecke individualrechtlich heruntergebrochen, sie füllen den Bürgerstatus inhaltlich aus und wirken identitätsbildend. Der Bürgerstatus ist mit diesem materiellen Gehalt weiterhin eine unverzichtbare Grundlage des demokratischen Verfassungsstaates. e) Bürgertugend und Bürgersinn Seine individuelle Ausprägung wiederum erfährt der materielle Bürgerstatus in Gestalt von Bürgertugend und Bürgersinn.122 Bürgertugend und Bürgersinn beschreiben die innere Bereitschaft und äußerlich wirkende Tat, seine Bürgerpflichten gewissenhaft zu erfüllen und dadurch den materiellen Kern des Bürgerstatus für alle Mitglieder des Gemeinwesens zu sichern. Das Mindestmaß ist gesetzestreue Pflichterfüllung, doch darüber hinaus gibt es kaum eine Obergrenze für Bürgertugend und Bürgersinn, wie sie sich etwa in manch aufopferungsvollem ehrenamtlichem Engagement für das Gemeinwesen betätigen. Tugend ist eben die Tüchtigkeit in Bezug auf das sittliche Verhalten und die sittlichen Werte123, und dies trifft es mit Blick auf den Bürgerstatus recht 120 So schon Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, 1793, S. 110. 121 So letztlich schon Maurenbrecher, 2. unveränd. Nachdruck 1843, § 57 (S. 79). 122 Dazu ausführlich Welcker, in: Rotteck/Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, Dritter Band, 3. Aufl. 1859, Art. Bürgertugend und Bürgersinn, S. 227 ff. 123 Regenbogen/Meyer (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2013, Art. Tugend S. 675; siehe auch Welcker, in: Rotteck/Welcker, Band III, 3. Aufl. 1859, Art. Bürgertugend und Bürgersinn, S. 229: „Tugend überhaupt ist die
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gut. Grundlage der Bürgertugend – oftmals aber auch synonym verwandt – ist der Bürgersinn,124 der als politischer Gemeinsinn bzw. als auf die Bürgerschaft bezogene Gemeinwohlorientierung verstanden werden kann. Schon Aristoteles hat seine Tugendlehre mit Blick auf die Ordnung der Polis konzipiert, deren Gelingen im Befolgen der Tugenden durch die Einzelnen begründet sei. Als Bürgertugend erscheint, was ein Gemeinwesen zu guter Verfassung bringt.125 Bürgertugend und Bürgersinn kennzeichnen das Bewusstsein und die Bereitschaft des zum Bürger gewordenen Individuums, den von Schutz und Freiheit gegen Treue geprägten Bürgerstatus „aktiv“ mit Leben zu erfüllen.126 Im demokratischen Verfassungsstaat kann nicht nur eine historisch entwickelte und geprägte Idee einen stabilen Grundpfeiler bilden – um einen möglichen Einwand vorwegzunehmen. Bürgertugend und Bürgersinn werden im demokratischen Verfassungsstaat aber von den Inhaltsbestimmungen geprägt, welche die demokratische Mehrheit für das Gemeinwesen beschließt. Deutlich wird dies an den Grundrechten einerseits, Art. 12a GG andererseits. Wahrnehmung der Bürgerrechte und Erfüllung der Bürgerpflichten lautet die berechtigte Erwartung an Bürgertugend und Bürgersinn des Einzelnen.127 Mehr ist dabei für den Einzelnen möglich und wird auch tatsächlich von vielen geleistet, aber das Mindestmaß an materieller Ausfüllung des Bürgerstatus präzisieren Bürgertugend und Bürgersinn. An dieser Stelle wird auch die Verbindung zu der aktuellen staatsrechtlichen, politikwissenschaftlichen und soziologischen Diskussion deutlich, die zunehmend tüchtige, die erkräftigte, aufopfernde, beharrliche und muthige Unterordnung der Triebe und Bestrebungen für eine höhere Bestimmung, für die würdige Theilnahme an einem höhern Ganzen, welchem man sich angehörig fühlt und unterordnet.“ 124 Welcker, in: Rotteck/Welcker, Band III, 3. Aufl. 1859, Art. Bürgertugend und Bürgersinn, S. 234. 125 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. und hrsgg. von Gernot Krapinger, 2018, II 6 1106a Rn. 15 – 20. 126 Zu der Hochzonung zur Vaterlandsliebe Schorn-Schütte, Geschichte Europas in der frühen Neuzeit, 3. Aufl. 2019, S. 306 ff. – „Vita activa“ war schon in der Antike ein Topos zur Motivierung des Bürgers zu einem gemeinwohlfördernden Leben. In der Moderne grundlegend Ahrendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Aufl. 2021, § 2 (S. 29 ff.). 127 So schon in der frühen Neuzeit, siehe Schorn-Schütte, Geschichte Europas in der frühen Neuzeit, 3. Aufl. 2019, S. 311.
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danach fragt, was die Gesellschaft eigentlich im Innern noch zusammenhält. Die Antwort kann nur lauten: der materielle Bürgerstatus. Insoweit ist es ein Alarmzeichen für den Bürgerstatus und damit einen wesentlichen Grundpfeiler des demokratischen Verfassungsstaates, wenn derartige Diskussionen geführt werden, und es ist noch bedenklicher, wenn diese Diskussionen ohne Blick auf den Bürgerstatus stattfinden. Die materielle Seite des Bürgerstatus ist somit eine die Staatszwecke für das Individuum konkretisierende Ethik, die über die staatsrechtlichen Transformationsbegriffe in Art. 1, 20, 116 GG normativ-rechtliche Verbindlichkeit beansprucht – für die dauerhafte Existenz eines demokratischen Verfassungsstaates aber auch beanspruchen muss. 3. Der individuelle Bürger als Legitimationssubjekt Trotz aller Bemühungen, die individuumsbezogene Ausrichtung des Bürgerstatus wieder freizulegen, darf eines nicht vergessen werden: Die Kollektivierung des Bürgers als Staatsvolk, dessen Staatsangehörigkeit sich formal in Rechtgleichheit erschöpft, erst recht die Verschüttung des Individuums durch kollektivistische Nationsvorstellungen, hat die Bedeutung des Individuums und mit ihm den Bürgerstatus in Vergessenheit geraten lassen. Dabei ist es eben der Staatsbürger, der den Verfassungsstaat legitimiert und formt, ihn danach in seiner konkreten Verfassungsgestalt demokratisch bestimmt.128 Der Bürger ist schon lange – wenn auch über viele Jahrhunderte in Abhängigkeit von der Regierungsform konzeptionell bestritten oder übersehen – Legitimationssubjekt für die Herrschaftsgewalt. In der Regel wird er aber nur als Kollektiv betrachtet, nämlich als Zusammenschluss der Bürger zum (Staats) Volk. Allerdings gibt es auch hoffnungsfrohe Ansätze der Individualisierung, die sich besonders gut im Verwaltungsrecht beobachten lassen. Auch wenn sie zum Teil unionsrechtlich angestoßen sind, so führen etwa individuelle Informationszugangs- und Transparenzansprüche nun auch zu einer Individualisierung der Kontrollfunktion einer kollektiven demokratischen Öffentlichkeit. Unerwünschter Nebeneffekt ist aber allerdings, dass die überkommene demokratische Öffentlichkeit im gleichen Maße schwindet, ohne dass es bereits hinreichenden Ersatz 128 Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 283 Rn. 1.
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gäbe.129 Dazu passt der soziologische Befund der Entstehung einer „Gesellschaft der Singularitäten“, in der eine bürgerliche Gemeinschaft, ein bürgerschaftliches Identitätsverständnis nicht mehr existieren.130 Auf der anderen Seite zeigt etwa die Bekämpfung der Corona-Pandemie, wie errungene Freiheitssphären als Teil des individuellen Bürgerstatus wieder infrage gestellt werden und einem Vorstellungsbild des obrigkeitlichen Staates sowie des Bürgers als Untertan Platz machen. Dementsprechend ist bei einem gewissen Teil der Gesellschaft in und seit der Pandemie ein Bürgersinn nicht mehr festzustellen. Die individuellen, individualrechtlichen Aspekte des Bürgerstatus müssen in archäologischer Kleinarbeit unter überkommenen ethnischen Nationsvorstellungen, überkommenen Kollektivierungen und vom Positivismus bedingten formalrechtlichen Interpretationen freigelegt werden – ohne dabei den wesentlichen materiellen Kern, die der Freiheit dienende Schutz- und Treueverpflichtung nebst daraus folgender Identitätsbildung, zu übersehen. Es ist ein Denkfehler, dem Volk als Nation eine Volkspersönlichkeit und einen einheitlichen (politischen) Volkswillen zuzuschreiben.131 Vielmehr steht dem wahl- und legitimationsberechtigten Bürger ein individualrechtlicher Anspruch auf Demokratie und demokratische Legitimation zu, den das Bundesverfassungsgericht seit einigen Jahren mit Blick auf die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union herausgearbeitet hat.132 Hierin liegt ein tauglicher Denkansatz, um die Rolle der Bürger als Legitimationssubjekt und als Grundpfeiler des demokratischen Verfassungsstaates mit neuem Leben zu erfüllen.
129 Zu diesem Problemkreis Schliesky/Hagenah, Digitalisierung der Öffentlichkeit, 2020, S. 3 ff. 130 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2019, passim; Reckwitz, in: Reckwitz/Rosa, Spätmoderne in der Krise, 2021, S. 114 ff. 131 Eingehend und überzeugend Heller, Staatslehre, 1934, S. 162 ff.; ebenso Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 241 ff., 678 ff. – An der Idee der Einheitlichkeit des Volkswillens hält bislang allerdings noch das Bundesverfassungsgericht fest, siehe BVerfGE 1, 14 (41); 83, 60 (71 f.); 93, 37 (66). 132 Seit BVerfGE 89, 155 (171 f.); ferner BVerfGE 97, 350 (368 f.); 113, 273 (325); 123, 267 (330); 129, 124 (167 ff.); BVerfG, NJW 2014, S. 907, (909 f. Rn. 51 ff.); dazu Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch des Parlamentsrechts, 2016, § 5 Rn. 17, 93 ff.
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Ausgangspunkt demokratischer Herrschaftsordnungen ist – wie schon die Klassiker der politischen Theorie und ihre Naturzustandskonstruktionen erkannt haben133 – auch nicht eine Nation oder ein Volk, sondern der Mensch, das Individuum. Das Individuum ist präexistent, nicht das Volk. Ursprünglicher Träger demokratischer Herrschaftsgewalt sind die durch die Verfassung und die Rechtsordnung zum Bürger werdenden Menschen als individuelle, mit Menschenwürde ausgestattete Subjekte. Ausgangspunkt der Legitimation ist dementsprechend das Individuum. Die von der Menschenwürde134 geforderte individuelle Selbstbestimmung und der Herrschaftszweck bzw. das Herrschaftsziel der „menschlichen Gemeinschaft“ in Art. 1 Abs. 2 GG verlangen, dass das einzelne Legitimationssubjekt auch selbst im Zusammenwirken mit anderen den Zuschnitt der „menschlichen Gemeinschaft(en)“ bestimmen kann. Ein Volk erscheint dann als verfassungsrechtliche Zusammenfassung individueller Legitimationssubjekte, als Legitimationszusammenschluss. Die Koexistenz und Koordination verschiedener Demoi wird durch eine Mehrfachidentifikation des individuellen Legitimationssubjektes in und mit verschiedenen Verbands- bzw. Ebenenvölkern möglich. Es muss also wieder der Menschenwürdegehalt der Demokratie stärker in den Fokus der Legitimationskonstruktion rücken: Es geht um die von jedem einzelnen vorzunehmende demokratische Legitimation der Herrschaftsgewalt. Auf dieser Linie liegt auch das Bundesverfassungsgericht mit seinem „Anspruch auf Demokratie“ im europäischen Kontext.135 Dieser formale Anspruch, der verfassungsgerichtlich durchsetzbar ist, muss aber um die klassische materielle Komponente des Bürgerstatus weitergedacht werden. So wird auch die Unionsbürgerschaft, wenn sie einen echten Bürgerstatus gewähren will, eine Mitgliedschaft in einer politischen Einheit anbieten müssen, die Schutz und Freiheit 133 Zusammenfassend Münkler/Straßenberger, Politische Theorie und Ideengeschichte, 2016, S. 187 ff. 134 Zum Inhalt der Menschenwürde siehe – neben den Kommentierungen zu Art. 1 Abs. 1 GG – Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 2016, S. 11 ff.; Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997; Kreß, Ethik der Rechtsordnung, 2012, S. 117 ff. 135 Seit BVerfGE 89, 155 (171 f.); dann BVerfGE 97, 350 (368 f.); 113, 273 (325); 123, 267 (330); 129, 124 (167 ff.); BVerfG, NJW 2014, 907 (909 f. Rn. 51 ff.); zuletzt noch einmal deutlich BVerfGE 154, 17 Rn. 98 ff.
Der Bürgerstatus
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für ihre Status-Zugehörigen bietet136 und daraus eine eigene Identität entwickeln muss.137 Für den Mitgliedstaat bedeutet das aber eine existentielle Herausforderung: Er wird angesichts multipler Zugehörigkeiten und Identitäten nur überleben, wenn er anstatt der überholten Fiktion einer ethnischen Nation eine auf Schutz und Freiheit beruhende Identität anbietet. Diese mag Nation heißen, muss aber auf einer Schutz und Freiheit entspringenden Identität basieren, nicht auf letztlich im 18. und 19. Jahrhundert erfundenen Nations- und Abgrenzungskonzepten. V. Schluss Die Überlegungen haben gezeigt, dass der Bürgerstatus auf eine lange historische Entwicklung zurückblickt. Schon immer individualisieren sich in ihm die Staatszwecke der jeweiligen Herrschaftsordnung. Für den demokratischen Verfassungsstaat, der eine Herrschaft der Staatsbürger konstituiert, ist der Bürgerstatus ein unverzichtbarer Grundpfeiler. Kennzeichnend ist für den Bürgerstatus neben seiner formalrechtlichen Zuordnungsfunktion zum jeweiligen Volk vor allem seine materielle Seite. Sie beinhaltet das Versprechen, die Garantie von Schutz und Freiheit gegen die Treueverpflichtung des Bürgers. Der Bürgerstatus dient somit zeitlos der Überwindung der Schutzlosigkeit des Individuums. Der Bürger ist dabei kein bloß formalrechtlich durch die Staatsangehörigkeit dem Staatsvolk zugeordnetes Rechtssubjekt, sondern ein der materiellen Idee des Bürgerstatus verpflichtetes Legitimationssubjekt, das aus dem mit Menschenwürde ausgestatteten Individuum hervorgeht. Nur dies wird dem von der Menschenwürdegarantie geforderten individualrechtlichen Ansatz gerecht, nur so entsteht eine republikanisch-demokratische bürgerliche Identität. All dies ist in dieser Abstraktheit auch von Art. 20, 28, 79 Abs. 3 GG geschützt. Daher sind Versuche, den Kreis der Staatsangehörigen rein formal ohne Rücksicht auf die materielle Komponente beliebig zu erweitern, ggf. verfassungs136
Gosewinkel, Schutz und Freiheit, 2016, S. 654. Eingehend Schmale, Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, 2008, insbes. S. 155 ff. 137
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widrig. Die Pläne der derzeitigen Bundesregierung werden insoweit sorgfältig zu prüfen sein. Das heutige Verständnis von Staatsangehörigkeit muss – nicht zuletzt angesichts aktueller äußerer Bedrohungen sowie innergesellschaftlicher Diskussionen über den schwindenden Zusammenhalt der Gesellschaft – dringend überdacht werden. Eine Rückbesinnung auf die materielle Seite des Bürgerstatus ist dafür dringend geboten. Zugleich müssen Bürgerstatus und Identitätsbildung nach der Nation überdacht werden – schon damit die Europäische Union dauerhaft gelingen kann. Weiterhin bedarf der Umfang subjektbezogener Statusprivilegierungen einer neuen Austarierung. Das Legitimitätsreservoir des individualrechtlichen Legitimationsansatzes sollte besser als bislang genutzt werden, und der Bürgerstatus in digitalen Räumen bedarf dringend der Konturierung. Schutz und Freiheit für Treue – dieses Erfolgsmodell europäischer Herrschaftsordnungen seit über 2000 Jahren kann auch in der Zukunft funktionieren. Dabei ist weiterhin einem Wandel der identitätsbildenden Überzeugungen Rechnung zu tragen. Wie formulierte es unser Jubilar am 10. Januar 1990 in seinem Schriftsatz an das Bundesverfassungsgericht: „Insoweit wird gegenüber einem eng verstandenen Volksbegriff der Einwand des Bedeutungs- und damit Verfassungswandels erhoben.“138
138 Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 196 (209).
„Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu…“ Auswirkungen der Unionsbürgerschaft auf den Bürgerstatus „nach außen“ und „nach innen“ Von Kerstin von der Decken I. Einleitung Zur Unionsbürgerschaft scheint alles gesagt zu sein. Insbesondere aus unionsrechtlicher Sicht sind mittlerweile so viele Werke erschienen und hat sich eine solche Fülle an EuGH-Rechtsprechung entwickelt, dass ein weiterer Blick auf diese grundlegende primärrechtliche Neuerung aus dem Jahr 1992 kaum noch lohnend erscheinen mag. Etwas anderes gilt aus staatsrechtlicher Sicht. Die Unionsbürgerschaft tritt gemäß den Verträgen zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu. Wie sich dieses „Hinzutreten“ konkret auswirkt und wie es die politische Mitwirkung des einzelnen verändert, soll Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein. Bevor allerdings die verschiedenen Facetten des „Hinzutretens“ untersucht werden, sind einige grundlegende, insbesondere terminologische Fragen kurz aufzuarbeiten. II. Der Weg bis zum heutigen Art. 20 Abs. 1 AEUV 1992 wurde die Unionsbürgerschaft eingeführt. Die Menschen in Europa sollten nicht mehr ausschließlich als „Marktbürger“ verstanden werden; ihre Stellung im Gefüge Europas sollte um eine politisch-bürgerrechtliche Dimension erweitert werden.1 Der Vertrag von Maastricht2 1 Vgl. Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 1023; Oppermann/Classen/ Nettesheim, Europarecht, 8. Aufl. 2018, § 16 Rn. 2 ff.; Kadelbach, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 26 Rn. 4 ff.
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schuf dafür einen neuen Art. 8 EGV, dessen Absatz 1 aus zwei Sätzen bestand: „Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt.“3
1997 fügte der Vertrag von Amsterdam4 diesen beiden Sätzen einen dritten Satz hinzu: „Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale Staatsbürgerschaft, ersetzt sie aber nicht.“5
Der Vertrag von Lissabon6 strich 2009 das Wort „ergänzen“ und fügte stattdessen das Wort „hinzutreten“ ein.7 Diese drei Sätze finden sich heute in Art. 20 Abs. 1 AEUV. Er lautet demnach: „Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.“
Der Vertrag von Lissabon schuf aber nicht nur die heute geltende Fassung des Art. 20 Abs. 1 AEUV. Er inkorporierte die Unionsbürgerschaft auch in den EUV. Art. 9 Satz 2 und 3 EUV sind identisch mit Art. 20 Abs. 1 Satz 2 und 3 AEUV.
2 Vertrag über die Europäische Union (Maastricht Vertrag), 7. 2. 1992, ABl. C 191/1. 3 Art. 4b des Vertrags von Maastricht (Fn. 2). 4 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, 2. 10. 1997, Abl. C 340/1. Der Vertrag von Amsterdam führte darüber hinaus zu einer Neunummerierung, vgl. Art. 12 i.V.m. dem Anhang. Aus Art. 8 EGV wurde daher Art. 17 EGV. 5 Art. 2 Nr. 9 des Vertrags von Amsterdam (Fn. 4). 6 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 13. 12. 2007, ABl. C 306/1. 7 Art. 2 Nr. 34b des Vertrags von Lissabon (Fn. 6): „In Absatz 1 werden die Worte ,ergänzt die nationale Staatsbürgerschaft‘ ersetzt durch ,tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu‘“. Im Vertrag von Lissabon selbst war die Bestimmung als Art. 17 AEUV bezeichnet. Durch die Neunummerierung wurde aus Art. 17 AEUV der heutige Art. 20 AEUV, vgl. Art. 5 i.V.m. dem Anhang des Vertrages von Lissabon.
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Interessant ist, dass im Wortlaut des Vertrages von Lissabon Satz 3 des Art. 9 EUV8 etwas anders formuliert war. Er lautete: „Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsangehörigkeit hinzu, ohne diese zu ersetzen.“9
Erst durch eine Berichtigung der authentischen deutschen Fassung im Jahr 2010 wurde das Wort „Staatsangehörigkeit“ ersetzt durch das Wort „Staatsbürgerschaft“.10 Auf den ersten Blick stellt sich diese sprachliche Korrektur lediglich als eine zwingend notwendige Anpassung des Wortlauts dar. Immerhin müssen die Formulierungen im AEUV und im EUV übereinstimmen. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass es offenbar auch darum ging, explizit auf die Staatsbürgerschaft abzustellen: Die Unionsbürgerschaft soll zur Staatsbürgerschaft – und nicht zur Staatsangehörigkeit – hinzutreten. Die Staatsangehörigkeit ist lediglich die Grundlage für die Unionsbürgerschaft. Das ist in zahlreichen anderen Sprachfassungen genauso.11
8 Im Vertrag von Lissabon selbst war die Bestimmung als Art. 8 EUV bezeichnet. Infolge der Neunummerierung (Fn. 7) wurde aus Art. 8 der heutige Art. 9 EUV. 9 Art. 1 Nr. 12 des Vertrags von Lissabon (Fn. 6). 10 Vgl. Nr. 1 a) der Bekanntmachung über eine Berichtigung der authentischen deutschen Fassung des Vertrags von Lissabon vom 13. 12. 2007, 9. 3. 2010, BGBl. II 2010, S. 151. 11 Der Wortlaut des Art. 20 Abs. 1 AEUV entspricht der deutschen Fassung z. B. im Englischen („Citizenship of the Union is hereby established. Every person holding the nationality of a Member State shall be a citizen of the Union. Citizenship of the Union shall be additional to and not replace national citizenship“), im Französischen („Il est institué une citoyenneté de l’Union. Est citoyen de l’Union toute personne ayant la nationalité d’un État membre. La citoyenneté de l’Union s’ajoute à la citoyenneté nationale et ne la remplace pas.“), im Spanischen („Se crea una ciudadanía de la Unión. Será ciudadano de la Unión toda persona que ostente la nacionalidad de un Estado miembro. La ciudadanía de la Unión se añade a la ciudadanía nacional sin sustituirla.“) und im Portugiesischen („É instituída a cidadania da União. É cidadão da União qualquer pessoa que tenha a nacionalidade de um Estado-Membro. A cidadania da União acresce à cidadania nacional e não a substitui.“).
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Einzelne Sprachfassungen aber sind anders formuliert.12 Ihr Wortlaut differenziert nicht zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft; vielmehr taucht der Begriff der Staatsangehörigkeit überhaupt nicht auf. Stattdessen vermittelt in diesen Sprachfassungen die Staatsbürgerschaft nicht nur die Unionsbürgerschaft („Unionsbürger ist, wer die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzt“), sondern die Unionsbürgerschaft tritt zu ihr auch hinzu („Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.“). Dabei kennen die jeweiligen Sprachen die Differenzierung zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft durchaus.13 Offenbar setzen sie aber Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft gleich. III. Terminologische Klärungen Diese terminologischen Unsicherheiten bzw. Divergenzen erfordern die Klärung von zwei terminologischen Fragen: Die erste lautet, was unter Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft zu verstehen ist und in welchem Verhältnis diese zueinanderstehen. Die zweite Frage betrifft den Unterscheid zwischen „hinzutreten“ und „ergänzen“. 1. Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft Im Zuge der Aufklärung bildete sich die traditionelle Unterscheidung zwischen Staatsangehörigkeit (nationality/nationalité) und Staatsbürgerschaft (citizenship/citoyenneté) heraus.14 Unter einem Staatsbürger (citi12 Der Wortlaut des Art. 20 Abs. 1 AEUV lautet im Italienischen („È istituita una cittadinanza dell’Unione. È cittadino dell’Unione chiunque abbia la cittadinanza di uno Stato membro. La cittadinanza dell’Unione si aggiunge alla cittadinanza nazionale e non la sostituisce.“) und im Dänischen („Der indføres et unionsborgerskab. Unionsborgerskab har enhver, der er statsborger i en medlemsstat. Unionsborgerskab er et supplement til det nationale statsborgerskab og træder ikke i stedet for dette.“). 13 Auch im Italienischen und Dänischen gibt es die Staatsangehörigkeit („la nazionalità / nationalitet“) und die Staatsbürgerschaft („la cittadinanza / statsborgerskab“). 14 Vgl. umfassend Aláez Corral, Der Staat 49 (2007), S. 349 (353 ff.); Grawert, Der Staat 23 (1984), S. 179 ff.; Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, 1992, S. 50 ff.; Guiguet, Citizenship and Nationality, in: La Torre (Hrsg.), European Citizenship, 1998, S. 95 ff. sowie gut zusammenfassend Ka-
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zen/citoyen) wurde derjenige verstanden, der in den politischen Willensbildungs- und Gestaltungsprozess des Staates einbezogen war. Umfasst war also der „status activus“ i.S. einer vollständigen politischen Teilhabe. Bloßer Bürger war derjenige, der Teil der staatlich organisierten Gemeinschaft war. Letzteres entspricht heute der Staatsangehörigkeit. Erst die Verleihung von Rechten und Pflichten zur umfassenden Mitwirkung im Staatsgefüge machte aus einem Bürger einen Staatsbürger. Diese terminologische Differenzierung findet sich im heutigen Staatsrecht nicht in allen Staaten wieder. a) Deutschland Das Grundgesetz kennt allein den Begriff der Staatsangehörigkeit.15 Einzelheiten zu ihrem Erwerb und ihrem Verlust sind im Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) 16 geregelt. Allerdings erklärt Art. 33 Abs. 1 GG, dass jeder Deutsche „die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ in jedem Land habe. In Abs. 3 Satz 1 GG wird konkretisierend hinzugefügt, dass die „staatsbürgerlichen Rechte“ unabhängig von dem religiösen Bekenntnis seien. Streit herrscht darüber, was unter den in Art. 33 GG genannten „staatsbürgerlichen“ Rechten und Pflichten zu verstehen ist.17 Die herrschende Meinung fasst darunter alle öffentlich-rechtlich gewährten Rechte und auferlegten Lasten.18 Eine Mindermeinung geht weiter und delbach, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 26 Rn. 18 ff. 15 Umfassend von Münch, Die deutsche Staatsangehörigkeit, 2007 sowie Siehr, Der Staat als Personalverband: Staatsangehörigkeit, Unionsbürgerschaft und Migration, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, S. 557 ff. (Rn. 21 ff.). 16 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), 22. 7. 1913, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 12. 8. 2021, BGBl. I 2021, S. 3538. 17 Einen guten Überblick bietet Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 33 Rn. 60. 18 So Hense, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 49. Edition, Stand: 15. 11. 2021, Art. 33 Rn. 4; Badura, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 95. EL, Juli 2021, Art. 33 Rn. 9; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 2020, Art. 33 Rn. 2; Battis, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 33 Rn. 15; Jachmann-Michel/Kaiser, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grund-
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versteht darunter sämtliche öffentlich- und zivilrechtlichen Beziehungen zwischen den Deutschen und dem Staat.19 Welcher Ansicht man auch immer zustimmen mag – deutlich wird, dass es bei den „staatsbürgerlichen“ Rechten und Pflichten allein um solche geht, die Deutschen zustehen bzw. von Deutschen zu erfüllen sind. Sie knüpfen also an die Staatsangehörigkeit an. Beispiele für solche staatsbürgerlichen Rechte sind in der deutschen Verfassungsordnung die sog. Deutschengrundrechte,20 das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag21 und das Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern.22 Beispiele für staatsbürgerliche Pflichten23 sind die Wehrpflicht,24 die Pflicht zur Übernahme eines Schöffenamtes25 sowie die Pflicht zum Dienst in der Pflichtfeuerwehr26 und zur Übernahme von Ehrenämtern27 auf kommunaler Ebene. b) Österreich und die Schweiz Im österreichischen und schweizerischen Recht wird hingegen der Begriff der Staatsangehörigkeit nicht verwendet. Stattdessen bestimmt
gesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 33 Rn. 5; Pieper, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 15. Aufl. 2022, Art. 33 Rn. 6. 19 So Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 33 Rn. 62; Bickenbach, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, 7. Aufl. 2021, Art. 33 Rn. 36. 20 Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG), Freizügigkeit (Art. 11 GG), Berufsfreiheit (Art. 12 GG), keine Auslieferung (Art. 16 Abs. 2 GG), Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4 GG). 21 Art. 38 GG i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG. 22 Art. 33 Abs. 2 GG. 23 Näher dazu Götz, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41 (1983), S. 7 (21 ff.). 24 Art. 12a GG. 25 §§ 31 ff. GVG. 26 Vgl. exemplarisch § 16 Abs. 3 Brandschutzgesetz SH. „Bürger“ der Gemeinde sind gem. § 6 Abs. 2 GemO SH alle „zur Gemeindevertretung wahlberechtigten Einwohnerinnen und Einwohner“, d. h. grundsätzlich deutsche Staatsangehörige. 27 § 19 Satz 1, 21 GemO SH.
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Art. 6 des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes,28 dass für die Republik Österreich eine einheitliche „Staatsbürgerschaft“ bestehe. Die Details zu ihrem Erwerb und ihrem Verlust sind im Staatsbürgerschaftsgesetz29 zu finden. In der Schweiz ist gemäß Art. 37 der Bundesverfassung30 Schweizerbürgerin oder Schweizerbürger, „wer das Bürgerrecht einer Gemeinde und das Bürgerrecht des Kantons besitzt.“ Der Erwerb des Bürgerrechts ist im Bürgerrechtsgesetz31 geregelt. c) Fazit Der kurze Überblick macht deutlich, dass die Unterscheidung zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft dogmatisch existiert. Die Staatsangehörigkeit bezeichnet die (formell-rechtliche) Zugehörigkeit zu einem Staat, während die Staatsbürgerschaft die (materiell-rechtliche) Einbindung in die politische Gestaltung des Staates mit entsprechenden Rechten und Pflichten umfasst.32 Theoretisch bestehen sie also nebeneinander. In der heutigen Praxis demokratisch verfasster Staaten sind sie allerdings aufeinander bezogen: Jeder Staatsangehörige ist auch Staatsbürger. Die Staatsangehörigkeit ist die Grundvoraussetzung für die Staatsbürgerschaft.33 Letztere ist aus der Staatsangehörigkeit abgeleitet. Diese enge Verbindung hat dazu geführt, dass entweder einer der Begriffe für beide Rechtspositionen34 und/oder dass die beiden Begriffe gleichgesetzt bzw. als Synonyme verwendet werden.35 28 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), StF: BGBl. Nr. 1/1930 (WV) i. d. F. BGBl. I Nr. 194/1999 (DFB). 29 Bundesgesetz über die österreichische Staatsbürgerschaft (Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 – StbG), StF: BGBl. Nr. 311/1985. 30 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 18. 4. 1999, SR 101. 31 Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG), vom 20. 6. 2014, SR 141.0. 32 Vgl. Aláez Corral, Der Staat 49 (2007), S. 356; Kadelbach, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 26 Rn. 18 ff. 33 Vgl. Grawert, § 16 Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 3. Aufl. 2004, Rn. 57; Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 1025. 34 Vgl. oben die Begriffswahl im deutschen, österreichischen und schweizerischen Recht.
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2. Unionsbürgerschaft Das Unionsrecht hingegen differenziert weiterhin – zumindest in der deutschen und in zahlreichen weiteren Sprachfassungen36 – zwischen den Begriffen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft. Es verwendet sie so wie sie im Zuge der Aufklärung herausgearbeitet worden sind. Der Wortlaut der Art. 20 Abs. 1 Satz 2 und 3 AEUV und Art. 9 Satz 2 und 3 EUV („Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.“) ist eindeutig: Die Unionsbürgerschaft (citizenship of the Union/citoyenneté de l’Union) ist das europarechtliche Pendant zur nationalen Staatsbürgerschaft. Drei Punkte sind in diesem Zusammenhang zu betonen: 1) Der Begriff „Unionsbürgerschaft“ (nicht Unionsangehörigkeit) lehnt sich an den der „Staatsbürgerschaft“ (nicht an den der Staatsangehörigkeit) an.37 2) Die Unionsbürgerschaft wird durch die Staatsangehörigkeit vermittelt. Sie ist also – genauso wie die Staatsbürgerschaft – akzessorisch bzw. abgeleitet.38 3) Die Unionsbürgerschaft tritt gemäß Satz 3 zur nationalen Staatsbürgerschaft (nicht zur Staatsangehörigkeit) hinzu. Die Berichtigung der authentischen deutschen Fassung des Vertrags von Lissabon im Jahr 2010, bei dem in Satz 3 das Wort „Staatsangehörigkeit“ durch „Staatsbürgerschaft“ ersetzt wurde,39 bestätigt diese Verbindung zwischen nationaler Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft. 35 Deutlich wird dies bspw. am Streit in der deutschen Literatur, ob die Staatsangehörigkeit ein „Status“ ist, der nur die Zugehörigkeit zu einem Staat begründet, an den dann Rechte und Pflichten angeknüpft werden können, oder ein „Rechtsverhältnis“, das unmittelbar Rechte und Pflichten begründet, vgl. statt vieler Becker, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 16 Rn. 1 f. m.w.N. Die erste Ansicht knüpft an die traditionelle Unterscheidung zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft an, während die zweite Ansicht Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft gleichsetzt. 36 Vgl. Fn. 11. 37 Vgl. Kadelbach, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 26 Rn. 24. 38 Vgl. BVerfGE 113, 273 (298) – Europäischer Haftbefehl; BVerfGE 123, 267 (404) – Vertrag von Lissabon; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 8. Aufl. 2018, § 16 Rn. 7. 39 Vgl. Nr. 1 a) der Bekanntmachung über eine Berichtigung der authentischen deutschen Fassung des Vertrags von Lissabon vom 13. 12. 2007, 9. 3. 2010, BGBl. II 2010, S. 151.
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Selbst der abweichende Wortlaut in einzelnen Sprachfassungen, die nicht zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft differenzieren,40 ändert nichts an diesem Ergebnis. In diesen anderen Formulierungen wird nämlich durchgängig der Begriff der Staatsbürgerschaft verwendet. Auch bei diesen tritt also die Unionsbürgerschaft zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu. Aber nicht nur der Wortlaut, sondern auch der Inhalt der Norm führt zu demselben Ergebnis. Gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 AEUV haben Unionsbürger „die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten“. Diese Rechtsposition korrespondiert mit der nationalen Staatsbürgerschaft, die ebenfalls aus Rechten und Pflichten besteht. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Unionsbürgerschaft daher als „Status“.41 Aus Sicht des EuGH stellt die Unionsbürgerschaft gar den „grundlegenden Status“ der Angehörigen der Mitgliedstaaten dar.42 3. „Hinzutreten“ statt „ergänzen“ Die durch den Vertrag von Lissabon vorgenommene Änderung, dass die Unionsbürgerschaft die nationale Staatsbürgerschaft nicht mehr „ergänzt“, sondern zu ihr „hinzutritt“,43 spielt in der Literatur kaum eine Rolle. Die Umformulierung wird entweder gar nicht erwähnt, oder es wird lediglich darauf hingewiesen, dass der Vertrag von Lissabon die Bestimmungen zur Unionsbürgerschaft nahezu bzw. in der Sache unverändert gelassen bzw. redaktionell geändert hat.44 Lediglich vereinzelt findet 40
Vgl. Fn. 12. Vgl. BVerfGE 113, 273 (298) – Europäischer Haftbefehl; BVerfGE 123, 267 (404) – Vertrag von Lissabon. 42 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelcyzk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 31. Seitdem st. Rspr., vgl. etwa EuGH, Rs. C-135/08, Rottmann, Slg. 2010, I-1449, Rn. 43; EuGH ECLI:EU:C:2014:2358, Rn. 43 – Dano. Ähnlich Erwägungsgrund 3 der Präambel der RL 2004/38/EG vom 29. 4. 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, Abl. L 158/77 (Freizügigkeitsrichtlinie): „Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein (…).“ 43 Vgl. Fn. 7. 44 Vgl. Magiera, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 9; Schönberger, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen 41
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eine Auseinandersetzung mit dem neuen Verb statt. Ein Beispiel ist die Aussage, dass damit „die Unabhängigkeit der Staatsangehörigkeit (Hinweis der Verfasserin: gemeint ist wohl Staatsbürgerschaft) von der Unionsbürgerschaft stärker hervorgehoben“ werde.45 Teilweise werden aber auch die Verben „ergänzen“ und „hinzutreten“ als Synonyme verwendet.46 Im Ergebnis dürfte die sprachliche Änderung dazu führen, dass das Verhältnis zwischen nationaler Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft eher als ein „Nebeneinander“, denn als ein „Miteinander“ einzustufen ist. Das Verb „ergänzen“47 insinuiert eine Lücke, die geschlossen wird. Das Verb „hinzutreten“48 hingegen deutet auf eine in sich geschlossene Einheit hin, zu der eine weitere in sich geschlossene Einheit49 dazu kommt. Nationale Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft stehen also nebeneinander. IV. Inhalt der Unionsbürgerschaft im Überblick Unionsbürger haben gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 AEUV „die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten“. Diese sind vor allem, aber nicht nur, in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 sowie in Art. 21 – 24 AEUV bzw. in Art. 39 – 46 Grundrechtecharta (GrCh) verankert. Die primärrechtlichen Gewährleistungen sind teilweise sekundärrechtlich ausgestaltet. Aus diesem Sekundärrecht lassen sich weitere Rechte und Pflichten Union, 74. EL September 2021, Art. 20 Rn. 21; Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 1023. 45 Vgl. Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 20 AEUV Rn. 6. 46 Vgl. Kadelbach, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 26 Rn. 34. 47 Shall complement/complète/será complementaria. 48 Be additional/s’ajoute/se añade. 49 Das bedeutet allerdings nicht, dass die Unionsbürgerschaft vom Willen der Mitgliedstaaten völlig losgelöst ist. Sie leitet sich aus der Staatsangehörigkeit ab, die von den Mitgliedstaaten vergeben wird. Vgl. Khan/Heinrich, in: Geiger/Khan/ Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2017, Art. 20 AEUV Rn. 6. „[…] ein selbständiges, ohne Vermittlung über die nationale Staatsangehörigkeit existentes und damit vom Willen der Mitgliedstaaten unabhängiges „personales Legitimationssubjekt auf europäischer Ebene“ wird durch sie noch nicht geschaffen (so zu Recht auch BVerfG 30. 6. 2009, 2 BvE 2/08 Rn. 349 – Vertrag von Lissabon).“
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ableiten. Dasselbe gilt für die EuGH-Rechtsprechung. Auch diese hat die primärrechtlichen Normen teilweise präzisiert und weitere Rechte bzw. Pflichten herausgearbeitet. 1. Rechte Analysiert man die allein den Unionsbürgern (und nicht jeder anderen Person) zustehenden primärrechtlichen Rechte,50 so lassen sich diese in vier große Gruppen unterteilen: in politische Teilhabe-, Gleichheits-, Freiheits- und Schutzrechte. Die politischen Teilhaberechte umfassen das aktive und passive Wahlrecht bei den Europa-51 und den Kommunalwahlen52 sowie das Recht auf Ergreifen und Teilnahme an einer Bürgerinitiative.53 Die Gleichheitsrechte bestehen aus Diskriminierungsverboten, und zwar sowohl im Bereich der Grundfreiheiten54 als auch allgemein, d. h. außerhalb einer wirtschaftlichen Tätigkeit.55 Die Freiheitsrechte sind insbesondere die Freizügigkeit und die Aufenthaltsfreiheit in jedem Mitgliedstaat.56 Schutzrechte sind das Recht auf diplomatischen und auf konsularischen Schutz in Drittstaaten.57 Einige dieser Rechte gelten gegenüber der Europäischen Union (etwa das Recht auf Ergreifen einer Bürgerinitiative), einige gegenüber den Mitgliedstaaten (etwa das Kommunalwahlrecht). Alle primärrechtlich verankerten Rechte sind unmittelbar anwendbar.58 Ihre sekundärrechtliche Ausgestaltung lässt teilweise weitere Rechte entstehen. Sie alle sind unmittelbar mit den primärrechtlichen Rechten verknüpft bzw. eine Konkretisierung derselben. Beispielhaft seien die Rechte genannt, die in der Freizügigkeitsrichtlinie verankert sind, wie 50 Vgl. die Zusammenstellung bei Schroeder, Grundkurs Europarecht, 6. Aufl. 2019, § 13 Rn. 3. 51 Art. 20 Abs. 2 Satz 2 b), Art. 22 Abs. 2 AEUV, Art. 39 GrCh. 52 Art. 20 Abs. 2 Satz 2 b), Art. 22 Abs. 1 AEUV, Art. 40 GrCh. 53 Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 24 UAbs. 1 AEUV. 54 Art. 45 Abs. 2, Art. 49 UAbs. 1, Art. 56 UAbs. 1 AEUV. 55 Art. 18 AEUV. 56 Art. 20 Abs. 2 Satz 2 a), Art. 21 AEUV, Art. 45 Abs. 1 GrCh. 57 Art. 20 Abs. 2 Satz 2c), Art. 23 AEUV, Art. 46 GrCh. 58 Vgl. Schroeder, Grundkurs Europarecht, 6. Aufl. 2019, § 13 Rn. 2; Pache, § 7 Begriff, Geltungsgrund und Rang der Grundrechte der EU, in: Heselhaus/ Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl. 2020, Rn. 89.
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etwa das Recht auf Ausreise59 und auf Einreise60 oder das Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten.61 Die EuGH-Rechtsprechung hat weitere Rechte der Unionsbürger entwickelt. Dazu gehören insbesondere Rechte, die er aus der Freizügigkeit i.V.m. dem Diskriminierungsverbot abgeleitet hat, wie etwa das Recht auf Sozialleistungen.62 Alle sekundärrechtlichen und alle vom EuGH entwickelten Rechte der Unionsbürger leiten sich von den primärrechtlich verankerten Rechten ab. Sie sind nicht eigenständig, sondern konkretisieren letztere. 2. Pflichten Obwohl sie in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 AEUV ausdrücklich genannt sind („die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten“), existieren derzeit keine primärrechtlichen Pflichten der Unionsbürger.63 Wohl aber gibt es einzelne sekundärrechtlich verankerte Pflichten, die nur für Unionsbürger gelten.64 Dazu zählen bspw. die Wahlpflicht, falls
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Art. 4 Freizügigkeitsrichtlinie (Fn. 42). Art. 5 Freizügigkeitsrichtlinie (Fn. 42). 61 Art. 6 Freizügigkeitsrichtlinie (Fn. 42). 62 Vgl. statt vieler Siehr, Der Staat als Personalverband: Staatsangehörigkeit, Unionsbürgerschaft und Migration, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, S. 557 ff. (Rn. 139 f.); Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 1030 ff. 63 Vgl. Schönberger, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 74. EL September 2021, Art. 20 Rn. 60; Heselhaus, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, EUV/GRC/AEUV, 1. Aufl. 2017, Art. 20 AEUV Rn. 37; Dittrich, in: Decker/Bader/Kothe (Hrsg.), BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 10. Edition, Stand: 15. 1. 2022, Art. 20 AEUV Rn. 14; Magiera, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 20 AEUV Rn. 36. 64 Eine der wenigen Stimmen in der Literatur, die auf diese Pflichten eingehen ist Schönberger, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 74. EL September 2021, Art. 20 Rn. 61. Ansonsten wird die Frage, ob die Unionsbürgerschaft auch Pflichten entstehen lässt, so gut wie nie thematisiert. Erste Überlegungen finden sich bei Shaw, Citizenship of the Union: Towards PostNational Membership? in: Collected Courses of the Academy of European Law 1995, Vol. VI-1, S. 237 (343 f.). 60
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eine solche im Wohnsitzmitgliedstaat besteht,65 oder die Pflicht, im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses zu sein, wenn sich ein Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat aufhält.66 Der EuGH hat, soweit ersichtlich, noch keine ausschließlich Unionsbürger treffenden Pflichten entwickelt. Wie bei den sekundärrechtlichen Rechten wird auch bei den sekundärrechtlichen Pflichten deutlich, dass diese mit den primärrechtlichen Rechten gekoppelt sind und diese konkretisieren. V. Das „Hinzutreten“ der Unionsbürgerschaft zur nationalen Staatsbürgerschaft Zu klären ist, wie sich das „Hinzutreten“ der soeben skizzierten Unionsbürgerschaft zur nationalen Staatsbürgerschaft konkret ausgestaltet. Das betrifft sowohl zusätzliche Rechte als auch zusätzliche Pflichten, die sich für Staatsbürger aus der Unionsbürgerschaft ergeben. Bei den Rechten ist zu berücksichtigen, dass die Unionsbürgerschaft zwar vier verschiedene Arten von Rechten umfasst.67 Für das Hinzutreten zur nationalen Staatsbürgerschaft – bei der es um politische Mitwirkung geht – sind jedoch nicht alle, sondern nur die politischen Teilhabe- und die Gleichheitsrechte von Bedeutung. Die zusätzlichen Rechte und Pflichten aus der Unionsbürgerschaft lassen sich in solche gegenüber der Europäischen Union und in solche gegenüber den Mitgliedstaaten unterteilen. Im ersten Fall wird der Bürgerstatus – der ja grundsätzlich nur gegenüber dem eigenen Staat besteht – ausgeweitet auf die Ebene der Europäischen Union. Aus Sicht der Mitgliedstaaten wird daher der Bürgerstatus seiner eigenen Staatsangehörigen „nach außen“ ausgeweitet. Im zweiten Fall wird der Bürgersta65
Für Europawahlen: Art. 8 Abs. 2 der RL 93/109/EG vom 6. 12. 1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, Abl. L 329/34 (Europawahlrichtlinie); für Kommunalwahlen: Art. 7 Abs. 2 der RL 94/80/EG vom 19. 12. 1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, ABl. L 368/38 (Kommunalwahlrichtlinie). 66 Art. 6 Abs. 1 Freizügigkeitsrichtlinie (Fn. 42). 67 Siehe oben Punkt IV. 1.
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tus – der ja grundsätzlich nur den eigenen Staatsangehörigen gewährt wird – auf Unionsbürger ausgeweitet. Damit wird der Kreis der Personen, denen innerhalb eines Staates staatsbürgerliche Rechte und Pflichten zukommen, vergrößert. Diesen Status haben nicht mehr nur eigene Staatsangehörige, sondern auch bestimmte Nicht-Staatsangehörige inne. Aus Sicht der Mitgliedstaaten wird damit der Bürgerstatus „nach innen“ ausgeweitet. 1. Ausweitung des Bürgerstatus „nach außen“ a) Rechte der Staatsbürger gegenüber der Europäischen Union Eine Ausweitung der Rechte der Staatsbürger auf die Ebene der Europäischen Union ist systematisch kohärent und folgerichtig. Durch die Übertragung von Kompetenzen von den Mitgliedstaaten auf die Europäische Union ist die Hoheitsgewalt teils auf staatlicher und teils auf Unionsebene angesiedelt. Ein echter Bürgerstatus ist daher für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nur gegeben, wenn sie politische Teilhaberechte sowohl gegenüber ihren eigenen Staaten (Staatsbürgerschaft) als auch gegenüber der Europäischen Union (Unionsbürgerschaft) innehaben. aa) Europawahlen (a) Aktives und passives Wahlrecht Den Unionsbürgern steht gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 b), Art. 22 Abs. 2 AEUV, Art. 39 GrCh ein aktives und passives Wahlrecht zum Europäischen Parlament zu. Der Wortlaut der Normen zeigt, dass dieses Recht nicht im eigenen, sondern in anderen Mitgliedstaaten gilt. Aus dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nach Art. 14 Abs. 3 EUV folgt jedoch, dass Staatsangehörige auch in ihrem eigenen Staat ein Wahlrecht zum Europäischen Parlament haben. Das Direktwahlrecht zum Europäischen Parlament wurde nicht erst mit Einführung der Unionsbürgerschaft geschaffen, sondern existiert bereits seit 1976.68
68 Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom der im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten über den Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung, Abl. L 278/1.
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(b) Sperrklauseln auf nationaler Ebene Die Einzelheiten des Wahlverfahrens können gemäß Art. 223 Abs. 1 und 2 AEUV vom Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments und der Mitgliedstaaten festgelegt werden. Der derzeit geltende Beschluss von 200269 lässt den Mitgliedstaaten immer noch erhebliche Spielräume, die von den Mitgliedstaaten gesetzlich geregelt werden.70 Einer der Spielräume ist die Einführung von Sperrklauseln von bis zu 5 %.71 Dieser Spielraum hat u. a. dazu geführt, dass in Deutschland die ursprüngliche 5 %-Sperrklausel72 und später auch die 3 %-Sperrklausel73 für die Wahlen zum Europäischen Parlament vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden sind. Im Ergebnis kann in Deutschland daher eine Partei bereits beim Erreichen von 0,5 % der Stimmen ein Abgeordnetenmandat im Europäischen Parlament erhalten.74 Ein neuer Beschluss aus dem Jahr 2018, der Sperrklauseln von teilweise mindestens 2 % und höchstens 5 % vorschreibt,75 wird frühestens für die Europawahlen 2029 zur Anwendung gelangen.76 69 Beschluss des Rates 2002/772/EG, Euratom vom 25. 7. 2002 und 23. 9. 2002 zur Änderung des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Anhang zum Beschluss 76/ 787/EGKS, EWG, Euratom, Abl. 283/1. 70 Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz – EuWG), vom 16. 6. 1978, BGBl. I 1978, S. 709. 71 Vgl. Art. 2 A des Beschlusses 2002/772/EG, Euratom (Fn. 69). 72 Vgl. BVerfGE 129, 300 (324 ff.). 73 Vgl. BVerfGE 135, 259 (282 ff.). 74 Vgl. Schroeder, Grundkurs Europarecht, 6. Aufl. 2019, § 3 Rn. 23. 75 Art. 1 Nr. 2 Beschluss (EU, Euratom) 2018/994 des Rates vom 13. 7. 2018 zur Änderung des dem Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20. 9. 1976 beigefügten Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments, Abl. 178/1. 76 Das Europäische Parlament hat am 4. 7. 2018 zugestimmt, der Rat hat die Annahme am 13. 7. 2018 erklärt. Es stehen noch die Zustimmungen aller Mitgliedstaaten aus. Von den 27 Mitgliedstaaten haben (Stand: Juni 2021) 22 ratifiziert. Zu näheren Einzelheiten vgl. Europeanising the elections of the European Parliament. Outlook on the implementation of Council Decision 2018/994 and harmonisation of national rules on European elections, Study, June 2021 (https:// cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/71600/IPOL_STU(2021) 694199_EN. pdf ?sequence=1).
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Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament hat also den Unionsbürgern nicht nur ein zusätzliches Wahlrecht zu einem weiteren, überstaatlichen Parlament gewährt. Es hat – gerade in Deutschland – den Staatsbürgern auch die Möglichkeit gegeben, kleinere nationale Parteien, die sonst an der 5 %-Sperrklauseln gescheitert wären, an politischen Entscheidungsprozessen auf europäischer Ebene mitwirken zu lassen. (c) Europäische politische Parteien Die Wahlen zum Europäischen Parlament haben noch zu einer dritten, anders gelagerten Erweiterung der staatsbürgerlichen Rechte geführt: zur Entstehung europäischer politischer Parteien. Erstmals primärrechtlich verankert wurde die Möglichkeit zur Gründung solcher Parteien durch den Vertrag von Nizza.77 Politische Parteien auf europäischer Ebene78 tragen gemäß Art. 10 Abs. 4 EUV „zur Herausbildung eines europäischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens“ der Unionsbürger bei. Die Details zu den europäischen politischen Parteien sind in Umsetzung des Art. 224 AEUV sekundärrechtlich im sog. „Parteienstatut“79 geregelt. Europäische politische Parteien sind Bündnisse zwischen nationalen Parteien und/oder Unionsbürgern. Eine der maßgeblichen Voraussetzungen, um als europäische politische Partei eingetragen und anerkannt zu werden, ist die von der Partei oder ihren Mitgliedern (beabsichtigte) Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament.80 Unionsbürger können also bei den Wahlen zum Europäischen Parlament – neben den nationalen politischen Parteien – auch europäische politische Parteien wählen. Derzeit (Stand: Februar 2022) gibt es insgesamt zehn.81 Darüber hinaus können Unionsbürger Mitglied einer euro77
Vgl. ex-Art. 138a EGV i.d.f. des Vertrages von Nizza. Vgl. ausf. von der Decken, Begriff, Voraussetzungen und Rechtsstatus europäischer politischer Parteien, in: Krüper (Hrsg.), Die Organisation des Verfassungsstaats. Festschrift für Martin Morlok zum 70. Geburtstag, 2019, S. 317 ff. 79 VO (EU, Euratom) Nr. 1141/2014 vom 22. 10. 2014 über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen, Abl. L 317/1, zuletzt geändert durch VO (EU, Euratom) Nr. 2019/ 493 vom 25. 3. 2019, Abl. L 85/7. 80 Vgl. Art. 3 Abs. 1 d) des Parteienstatuts (Fn. 79). 81 European People’s Party (EPP), Party of European Socialists (PES), Alliance of Liberals and Democrats for Europe Party (ALDE), European Democratic Party 78
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päischen politischen Partei werden, wenn das Statut der jeweiligen Partei dies vorsieht. Von den zehn europäischen politischen Parteien ermöglichen drei jedem Unionsbürger eine vollwertige Mitgliedschaft82 und eine die Mitgliedschaft mit eingeschränktem Sonderstatus.83 Fünf sehen allein Mitgliedschaften von Abgeordneten im Europäischen Parlament84 bzw. von gewählten Volksvertretern i.w.S.85 vor. Eine Partei macht die Mitgliedschaft für Unionsbürger von der Entscheidung der jeweiligen nationalen Parteien abhängig.86 Der Überblick zeigt, dass die Mitgliedschaft in europäischen politischen Parteien möglich ist, aber de facto nur eingeschränkt gewährt wird. bb) Europäische Bürgerinitiativen Ein weiteres allein den Unionsbürgern zustehendes Recht ist das Ergreifen und die Teilnahme an einer Bürgerinitiative nach Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 24 UAbs. 1 AEUV. Eingeführt wurde die Bürgerinitiative durch den Vertrag von Lissabon.87 Die Details und das Verfahren sind sekundärrechtlich geregelt88 und auf innerstaatlicher Ebene gesetzlich (EDP), European Green Party (EGP), European Free Alliance (EFA), Identité et Démocratie Parti, European Conservatives and Reformists Party (ECR), Party of the European Left (EL), European Christian Political Party (ECPM). Die Liste der eingetragenen europäischen politischen Parteien und ihre Statute sind abrufbar unter: https://www.appf.europa.eu/appf/de/parties-and-foundations/registeredparties. 82 ALDE (Art. 6 Abs. 1 des ALDE-Statuts, 2016), EDP (Art. 7 Abs. 4 Nr. 5 des EDP-Statuts, 2004), Identité et Démocratie Parti (Art. 6.1 Abs. 2 des Statuts der Partei, 2017). 83 PES (Art. 7.1 des PES-Statuts, 2015). 84 EPP (Art. 5 Abs. 6 des EPP-Statuts, 2017) und EGP (Art. 4.3.4 des EGPStatuts, 2017). 85 EFA (Art. 9 Abs. 2 des EFA-Statuts, 2017); ECR (Art. 4.4.2 des ECR-Statuts, 2017: Europaabgeordnete, Kommissionmitglieder oder gewählte Volksvertreter); ECPM (Art. 4 b. des ECPM-Statuts, 2017: Politiker und Mitglieder nationaler Parlamente). 86 EL (Art. 8 S. 2 des EL-Statuts, 2017). 87 Ausf. zur Genese Hieber, Die Europäische Bürgerinitiative nach dem Vertrag von Lissabon, 2014, S. 3 ff. 88 Seit dem 1. 1. 2020 gilt die VO (EU) Nr. 2019/788 vom 17. 4. 2019 über die Europäische Bürgerinitiative, Abl. L 130/55. Sie trat an die Stelle der VO (EU) Nr. 211/2011 vom 16. 2. 2011 über die Bürgerinitiative, Abl. L 65/1. Näher zur
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umgesetzt.89 Mindestens eine Million wahlberechtigter Unionsbürger aus mindestens 1/4 der Mitgliedstaaten90 können die Kommission mittels einer Unterschriftensammlung dazu auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse tätig zu werden.91 Die Sammlungsfrist beträgt grundsätzlich höchstens zwölf Monate.92 Ziel einer Bürgerinitiative ist es, die Kommission aufzufordern, die Gesetzgebungsinitiative für einen möglicherweise erforderlichen Rechtsakt auf Unionsebene zu ergreifen. Die Kommission ist an den Antrag einer erfolgreichen Bürgerinitiative nicht gebunden.93 Trotzdem ist sie in ihrer Reaktion nicht völlig frei. Sie muss die Organisatorengruppe empfangen, um sich die Ziele der Bürgerinitiative erläutern zu lassen, und sie muss innerhalb von sechs Monaten ihre rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen, ihr weiteres (Nicht-)Vorgehen sowie die Gründe dafür erläutern.94 Das Recht auf Ergreifen einer Bürgerinitiative stellt eine Erweiterung der plebiszitären Elemente der staatsbürgerlichen Rechte dar. Zwar sind Formen direkter Demokratie dem deutschen Verfassungsstaat nicht fremd (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG: „Wahlen und Abstimmungen“). Diese stellen jedoch die Ausnahme dar. Auf Bundesebene sind lediglich Volksentscheide für Neugliederungen des Bundesgebiets95 vorgesehen. Auf Landesebene finden sich Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksent-
VO (EU) Nr. 2019/788 Binder/Vegh, Revidierte Verordnung zur Europäischen Bürgerinitiative: Lehren aus Erfahrungen? EuR 2019, S. 302 ff. 89 Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative, vom 7. 3. 2012, BGBl. I 2012, S. 446. 90 Konkretisierung des Art. 11 Abs. 4 EUV („erhebliche Anzahl von Mitgliedstaaten“) durch Art. 3 Abs. 1 b) der VO (EU) Nr. 2019/788 (Fn. 88). 91 Das Verfahren ist überblicksartig u. a. dargestellt bei Ruffert, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV 6. Aufl. 2022, Art. 11 EUV Rn. 16 ff. 92 Vgl. Art. 8 Abs. 1 der VO (EU) Nr. 2019/788 (Fn. 88). Die Sammlungsfrist wurde im Zuge der Corona-Pandemie verlängert, vgl. VO (EU) 2020/1042 vom 15. 7. 2020 zur Festlegung befristeter Maßnahmen im Zusammenhang mit den Fristen für die Stadien der Sammlung, der Überprüfung und der Prüfung gemäß der VO (EU) 2019/788 angesichts des COVID-19-Ausbruchs, Abl. L 231/7. 93 Vgl. EuGH, Rs. C-418/18 P, ECLI:EU:C:2019:1113, Rn. 63 – Puppinck. 94 Vgl. Art. 15 Abs. 1 und 2 der VO (EU) Nr. 2019/788 (Fn. 88). 95 Art. 29 Abs. 2 GG i.V.m. den in Art. 118, 118a GG genannten Ausnahmen.
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scheide.96 Auf Kommunalebene können Gemeindeversammlungen an die Stelle von gewählten Gemeindevertretungen treten.97 Die staatsbürgerlichen Rechte werden also durch die Bürgerinitiative um direkt-demokratische Rechte auf europäischer Ebene erweitert. cc) Pflichten der Staatsbürger gegenüber der Europäischen Union Die Ausweitung der Rechte der Staatsbürger auf die Ebene der Europäischen Union ist nicht mit entsprechenden Pflichten gegenüber der Europäischen Union gekoppelt. 2. Ausweitung des Bürgerstatus „nach innen“ Neben einer Ausweitung des Bürgerstatus gegenüber der Europäischen Union („nach außen“), führt die Unionsbürgerschaft zu einer Ausweitung des Bürgerstatus gegenüber anderen Mitgliedstaaten. Das führt aus Sicht der Mitgliedstaaten dazu, dass der Bürgerstatus – den sie ja grundsätzlich nur den eigenen Staatsangehörigen gewähren – auf Unionsbürger, d. h. auf bestimmte Nicht-Staatsangehörige, ausgeweitet wird. Der Kreis der Personen, die in einem Staat staatsbürgerliche Rechte und Pflichten innehaben, wird vergrößert. Aus Sicht der Mitgliedstaaten wird damit der Bürgerstatus „nach innen“ ausgeweitet. a) Rechte von Unionsbürgern in anderen Mitgliedstaaten Die Unionsbürgerschaft schafft Rechte von Unionsbürgern in anderen Mitgliedstaaten. Zu einem Teil ergeben sich diese Rechte aus dem Unionsrecht. Zu einem anderen Teil wurden sie vom nationalen Recht geschaffen. Im Folgenden soll dies am Beispiel der deutschen Rechtsordnung näher ausgeführt werden. 96 Alle Länder haben entsprechende Bestimmungen in ihre Verfassungen aufgenommen: Baden-Württemberg (Art. 59, 60), Bayern (Art. 71, 72, 74), Berlin (Art. 61, 62, 63), Brandenburg (Art. 75, 76, 77), Bremen (Art. 70, 71, 72, 76, 123), Hamburg (Art. 48, 50), Hessen (Art. 71, 117, 124), Mecklenburg-Vorpommern (Art. 59, 60), Niedersachsen (Art. 42, 47, 48, 49), Nordrhein-Westfalen (Art. 67, 68, 69), Rheinland-Pfalz (Art. 108, 108a, 109, 115), Saarland (Art. 98a, 99, 100, 101), Sachsen (Art. 70, 71, 72, 73, 74), Sachsen-Anhalt (Art. 77, 81), Schleswig-Holstein (Art. 48, 49), Thüringen (Art. 81, 82, 83). 97 Art. 28 Abs. 1 Satz 4 GG.
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aa) Wahrnehmung der zusätzlichen Rechte der Staatsbürger gegenüber der Europäischen Union Die Rechte der Staatsbürger „nach außen“, d. h. das Wahlrecht zum Europäischen Parlament und das Recht auf Ergreifen und auf Teilnahme an einer Bürgerinitiative,98 können von den Unionsbürgern in jedem Mitgliedstaat wahrgenommen werden, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, in dem sie aber ihren Wohnsitz haben. Die Wahrnehmung dieser Rechte wirkt sich teilweise auch auf die politischen Mitwirkungsmechanismen in dem betreffenden Wohnsitzmitgliedstaat aus. (a) Europawahlen Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament sind die Unionsbürger in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat sowohl aktiv als auch passiv wahlberechtigt.99 Die neben den nationalen Parteien zur Wahl stehenden europäischen politischen Parteien ermöglichen ihnen auch eine Mitgliedschaft, und zwar unabhängig von ihrem Wohnort.100 Die Details für das Wahlrecht in anderen Mitgliedstaaten sind in der Europawahlrichtlinie101 näher ausgestaltet und in Deutschland durch das Europawahlgesetz (EuWG) in nationales Recht umgesetzt worden.102 Unionsbürger, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, aber in Deutschland ihren Wohnsitz haben, wählen demnach die Abgeordneten, die einen der 96 Sitze für Deutschland innehaben (aktives Wahlrecht).103 Sie können sich darüber hinaus selbst als Kandidaten aufstellen lassen und im Fall eines Wahlsiegs als Nicht-Deutsche einen deutschen Sitz im Europäischen Parlament einnehmen (passives Wahlrecht).104 Die „deutschen“ Abgeordneten werden also nicht allein von 98
Siehe oben Punkt V. 1. a). Art. 20 Abs. 2 Satz 2 b), Art. 22 Abs. 2 AEUV, Art. 39 GrCh. 100 Dies ergibt sich im Umkehrschluss daraus, dass das Parteienstatut (Fn. 79) keine Wohnortvoraussetzungen für die Mitgliedschaft von Unionsbürgern aufstellt. 101 Fn. 65. 102 Europawahlgesetz – EuWG (Fn. 70). Das EuWG regelt nicht nur das Wahlrecht der Unionsbürger mit Wohnsitz in Deutschland, sondern auch das Wahlrecht der Deutschen. 103 § 6 Abs. 3 EuWG. 104 § 6b Abs. 2 EuWG. 99
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deutschen Staatsangehörigen gewählt, und sie müssen auch nicht selber Deutsche sein.105 Diese Rechtsfolge wird teilweise kritisch gesehen und als Verstoß gegen das Demokratieprinzip eingestuft.106 Berücksichtigt man jedoch, dass sich das Europäische Parlament gemäß Art. 14 Abs. 2 EUV aus Vertretern der Unionsbürger zusammensetzt und diese mit einer bestimmten Zahl von Mitgliedern je Mitgliedstaat vertreten sind, ist das Ergebnis aus unionsrechtlicher Sicht nicht nur schlüssig, sondern zwingend. Aus der Sicht des Mitgliedstaates stellt es jedoch eine nicht unerhebliche Durchbrechung der Verbindung zwischen Staatsangehörigkeit und Repräsentation auf überstaatlicher Ebene dar. (b) Europäische Bürgerinitiativen Das Recht auf Ergreifen und auf Teilnahme an einer Europäischen Bürgerinitiative kann ebenfalls in jedem Mitgliedstaat wahrgenommen werden. Allerdings ist in diesem Fall die Staatsangehörigkeit teilweise entscheidend. Das gilt noch nicht für das Ergreifen einer Europäischen Bürgerinitiative. Die Organisatorengruppe muss aus sieben Unionsbürgern bestehen, die das Wahlrecht zum Europäischen Parlament innehaben und in mindestens sieben Mitgliedstaaten ansässig sind.107 Die Teilnahme ist ebenfalls in jedem Mitgliedstaat möglich. Allerdings wird bei den für den Erfolg erforderlichen Stimmen aus mindestens 1/4 der Mitglied-
105 Wohl berühmtestes Beispiel für einen Abgeordneten im Europäischen Parlament, der nicht die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaates besaß, dessen Sitz er im Europäischen Parlament innehatte, war Daniel Cohn-Bendit. Als Deutscher gewann er bei der Europawahl 1999 ein Mandat für Frankreich. Im derzeitigen Europäischen Parlament besitzen alle deutschen Abgeordneten (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit. 106 Vgl. etwa Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 1024: „In der Abkoppelung des Wahlrechts von der Staatsangehörigkeit bei der Wahl zu einem Europäischen Parlament, mit festen, auf die Mitgliedstaaten verteilten, aber an den „Völkern“ orientierten Quoten liegt an sich ein Systembruch, der aus integrationspolitischen Gründen hingenommen wird, aber auch die Probleme oder besser gesagt Besonderheiten demokratischer Legitimation im europäischen Staaten- und Bürgerverbund offenbart.“. Ähnlich Herdegen, Europarecht, 22. Aufl. 2020, § 12 Rn. 23. 107 Art. 5 Abs. 1 und 2 der VO (EU) Nr. 2019/788 (Fn. 88).
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staaten108 auf die Staatsangehörigkeit der Unterzeichner abgestellt.109 Die Durchbrechung der Verbindung zwischen Staatsangehörigkeit und Repräsentation auf überstaatlicher Ebene ist demnach im Fall der Europäischen Bürgerinitiative nicht gegeben. Sie stellt daher eine weniger starke Form der Ausweitung des Bürgerstatus „nach innen“ dar. bb) Kommunalwahlen (a) Aktives und passives Wahlrecht Unionsbürger, die in einem Mitgliedstaat ihren Wohnsitz haben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, haben gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 b), Art. 22 Abs. 1 AEUV, Art. 40 GrCh das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen.110 Die Details sind in der Kommunalwahlrichtlinie geregelt,111 die von Deutschland durch entsprechende Änderungen der Gemeinde- und Kreiswahlgesetze bzw. der Gemeindeordnungen der Länder umgesetzt wurde.112 Um das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger einführen zu können, musste allerdings das Grundgesetz geändert werden. 1992 wurde Art. 28 Abs. 1 GG ein neuer Satz 3 hinzugefügt, der das aktive und passive Wahlrecht für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft in Kreisen und Gemeinden einführte.113 Das Bundesverfassungsgericht hatte zuvor in einer Entscheidung aus dem Jahr 1990 klargestellt, dass Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG nur Deutschen als Teil des Volkes i.S.d. Art. 20 Abs. 2 GG das Kommunalwahlrecht gewährte.114 Die Änderung des Art. 28 Abs. 1 GG war mit dem in der sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG verankerten Demokratieprin108 Konkretisierung des Art. 11 Abs. 4 EUV („erhebliche Anzahl von Mitgliedstaaten“) durch Art. 3 Abs. 1 b) der VO (EU) Nr. 2019/788 (Fn. 88). 109 Vgl. Art. 11 Abs. 4 EUV („Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten“) sowie Art. 3 Abs. 2 der VO (EU) Nr. 2019/788 (Fn. 88). 110 Einen guten Überblick bieten Kadelbach, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 26 Rn. 54 ff. und Schroeder, Grundkurs Europarecht, 6. Aufl. 2019, § 13 Rn. 17 ff. 111 Fn. 65. 112 Beispiel: § 3 Abs. 1 GKWG SH. 113 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, vom 21. 12. 1992, BGBl. I 1992, S. 2086, Art. 1 Nr. 3. 114 BVerfGE 83, 37 (58 f.) – Ausländerwahlrecht I.
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zip vereinbar, da die kommunalen Vertretungsorgane nicht Teil der Legislative, sondern Teil der Exekutive sind.115 Das Bundesverfassungsgericht hatte 1990 daher auch ausdrücklich eine solche Grundgesetzänderung für möglich erklärt.116 Das aktive Wahlrecht bedeutet, dass Unionsbürger mit Wohnsitz in Deutschland sowohl die Mitglieder der Vertretungskörperschaften (Gemeinde-, Orts-, Stadt- und Bezirksräte bzw. Kreistag) 117 als auch – falls diese direkt gewählt werden – die Leiter der Exekutivorgane (Bürgermeister und Landräte) 118 wählen. Das passive Wahlrecht darf gemäß der Kommunalwahlrichtlinie begrenzt werden: Die Mitgliedstaaten können bestimmen, dass nur die eigenen Staatsangehörigen als direkt gewählte Leiter der Exekutivorgane bzw. als deren Vertreter wählbar sind.119 Von dieser Möglichkeit haben in Deutschland einzelne Länder, die eine Direktwahl der Leiter der Exekutivorgane vorsehen, Gebrauch gemacht.120 In den Ländern, die eine solche Begrenzung nicht eingeführt haben oder aber in denen die Bürgermeister und Landräte von den kommunalen Vertretungen gewählt werden, finden sich Bürgermeister, die als Unionsbürger dieses Amt innehaben.121 (b) Teilnahme an Abstimmungen In zahlreichen Ländern dürfen Unionsbürger nicht nur an Kommunalwahlen, sondern darüber hinaus auch an kommunalen Bürgerentscheiden und Bürgerbegehren teilnehmen.122 Ein solches Recht wird nicht 115 Vgl. BVerfGE 65, 283 (289); Ernst, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 28 Rn. 56; Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 124; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 12. Aufl. 2020, Rn. 835. 116 BVerfGE 83, 37 (59) – Ausländerwahlrecht I. 117 Art. 2 Abs. 1 lit. b) und a) i.V.m. dem Anhang der Kommunalwahlrichtlinie (Fn. 65). 118 Art. 2 Abs. 1 lit. b) der Kommunalwahlrichtlinie (Fn. 65). 119 Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 der Kommunalwahlrichtlinie (Fn. 65). 120 So etwa Bayern, vgl. Art. 39 Abs. 1 Bay GLKrWG. Anders etwa Sachsen, vgl. § 49 Abs. 1 Sächs GemO. 121 Beispiele sind der Däne Claus Ruhe Madsen (Oberbürgermeister Rostock) und der Luxemburger Maurice Meysenburg (Bürgermeister Paschel). 122 Beispiel für die ausdr. Verankerung eines solchen Rechts: Art. 72 Abs. 1 Verf BW. In den meisten Ländern führt der Bürgerbegriff zu einem solchen Ergebnis:
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mehr von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 b), Art. 22 Abs. 1 AEUV, Art. 40 GrCh und der Kommunalwahlrichtlinie erfasst: Das Unionsrecht schafft nur ein Recht auf Wahlen (Entscheidungen über Personen),123 nicht aber ein Recht auf Abstimmungen in Form von Bürgerentscheiden u. ä. (Entscheidungen über Sachfragen).124 Es bleibt den Mitgliedstaaten allerdings aus unionsrechtlicher Sicht unbenommen, ein solches zusätzliches Recht der Unionsbürger in ihrem nationalen Recht einzuführen.125 Die Erweiterung des Abstimmungsrechts auf Unionsbürger ist auch mit dem Grundgesetz vereinbar. Zwar beschränkt Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG die kommunalen Mitwirkungsrechte der Unionsbürger auf Wahlen. Diese Bestimmung ist allerdings nicht als abschließende Ausnahmeregelung zu verstehen, die zusätzliche Rechte der Unionsbürger auf Kommunalebene ausschließt.126 Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die den Bürgern wird das Recht eingeräumt; als Bürger werden alle zur Gemeindevertretung Wahlberechtigten definiert, vgl. statt vieler Art. 16g i.V.m. Art. 6 Abs. 2 GemO SH. 123 So auch die Definition des Begriffs der „Kommunalwahlen“ in Art. 2 Abs. 1 lit. b) der Kommunalwahlrichtlinie (Fn. 65): „die allgemeinen, unmittelbaren Wahlen, die darauf abzielen, die Mitglieder der Vertretungskörperschaft und gegebenenfalls gemäß den Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaats den Leiter und die Mitglieder des Exekutivorgans einer lokalen Gebietskörperschaft der Grundstufe zu bestimmen“. 124 Vgl. Magiera, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 22 Rn. 19; Kadelbach, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 26 Rn. 59; Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 22 AEUV Rn. 11; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 74. EL, Stand: September 2021, Art. 22 AEUV Rn. 16; Heselhaus, Art. 22 AEUV Rn. 24; Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 22 AEUV Rn. 10. Anders: Schroeder, Grundkurs Europarecht, 6. Aufl. 2019, § 13 Rn. 19 (eine teleologische Interpretation ergäbe, dass „die Unionsbürger an den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu beteiligen sind und deshalb an allen Formen der primären politischen Willensbildung auf kommunaler Ebene mitwirken dürfen“). 125 Vgl. Magiera, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 22 Rn. 19; Heselhaus, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, EUV/GRC/AEUV, 1. Aufl. 2017, Art. 22 AEUV Rn. 24; Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 22 AEUV Rn. 10; Schönberger, Unionsbürger, 2005, S. 447. 126 So aber Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2018, Art. 38 Rn. 121; Meyer-Teschendorf/Hofman, ZRP 1995, 290 (290 ff.); Kaufmann, ZG 1998, 25 (31 f.).
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Gemeindevertretungen nicht Teil der Legislative, sondern der Exekutive sind.127 Wenn auf exekutiver Ebene einzelne Entscheidungen nicht von der Gemeindevertretung, sondern von den Bürgern getroffen werden, so ist nur folgerichtig, dass auch Unionsbürger als kommunal Wahlberechtigte und damit als „Bürger“ der Gemeinde128 abstimmungsberechtigt sind.129 cc) Träger sog. Deutschengrundrechte Das Grundgesetz unterscheidet zwischen Grundrechten, die allen Menschen (sog. Jedermannsrechte/Jedermannsgrundrechte), und Grundrechten, die nur deutschen Staatsangehörigen zustehen (sog. Deutschenrechte/Deutschengrundrechte). Letztere sind die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG), die Freizügigkeit im Bundesgebiet (Art. 11 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 GG), das Verbot der Auslieferung an das Ausland (Art. 16 Abs. 2 GG) und das Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4 GG). Ausländer können sich nicht unmittelbar auf die Deutschengrundrechte berufen, sondern nur auf das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 127 Vgl. BVerfGE 65, 283 (289); Ernst, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 28 Rn. 56; Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 124; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 12. Aufl. 2020, Rn. 835. 128 Für die Definition des „Bürgers“ der Gemeinde, vgl. statt vieler Art. 6 Abs. 2 GemO SH. 129 So auch Kadelbach, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 26 Rn. 59; ähnlich Erichsen, Kommunalrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. 1997, S. 84; Barley, Das Kommunalwahlrecht für Ausländer nach der Neuordnung des Art. 28 Abs. 1 S. 33 GG, 1999, S. 74 ff. Die Verfassungsmäßigkeit des Abstimmungsrechts für Unionsbürger bejahen auch (mit anderer Begründung) Schmidt-Jortzig, Kommunalrecht, 1982, S. 39 f.; Schroeder, Grundkurs Europarecht, 6. Aufl. 2019, § 13 Rn. 19; Ernst, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 38 Rn. 60; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 72; Hellermann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck-OK GG, 49. Ed, Stand: 15. 11. 2021, Art. 38 Rn. 18; Mehde, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Lfg. 73, Dezember 2014, Art. 28 Rn. 124; Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar, GG, 178. Aktualisierung, April 2016, Art. 28 Rn. 107 sowie (ohne nähere Begründung) Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 22 AEUV Rn. 11; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 2020, Art. 38 Rn. 16.
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GG).130 Letztere unterliegt allerdings dem einfachen Gesetzesvorbehalt und ist daher leichter einschränkbar als zahlreiche Deutschengrundrechte, für die ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt gilt. Unionsbürgern kommt allerdings ein weiter gehender Grundrechtsschutz als Drittstaatsangehörigen zu. Aus dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV und den besonderen Diskriminierungsverboten der Grundfreiheiten131 folgt die Pflicht der Mitgliedstaaten, Unionsbürger im Anwendungsbereich des Unionsrechts genauso zu behandeln wie eigene Staatsangehörige.132 Wie diese Pflicht dogmatisch für die Deutschengrundrechte umzusetzen ist, ist umstritten. Möglich ist zum einen eine Berufung auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und eine daraus abgeleitete Öffnung der Deutschengrundrechte für Unionsbürger.133 Begründbar ist zum anderen eine Anwendung der allgemeinen Handlungsfreiheit auch auf Unionsbürger, aber eine solche Interpretation derselben, dass Unionsbürgern im Ergebnis derselbe Grundrechtsschutz zukommt wie Deutschen.134 Unabhängig von der gewählten dogmatischen Begründung findet eine Gleichsetzung der Unionsbürger mit Deutschen allerdings nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts statt. Außerhalb dieses Bereichs sind 130
Vgl. Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 37. Aufl. 2021, Rn. 174; Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 9. Aufl. 2021, § 6 Rn. 34; Manssen, Staatsrecht II. Grundrechte, 18. Aufl. 2021, Rn. 41. Speziell für die Freizügigkeit im Bundesgebiet BVerfGE 35, 382 (399); für die Berufsfreiheit BVerfGE 78, 179 (196 f.); 104, 337 (346); BVerfG NVwZ 2011, 486 (488). 131 Art. 45 Abs. 2, Art. 49 UAbs. 1, Art. 56 UAbs. 1 AEUV. 132 Vgl. Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 37. Aufl. 2021, Rn. 177; Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 18 AEUV Rn. 25; Michl, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar EUV/ GRC/AEUV, 1. Aufl. 2017, Art. 18 AEUV Rn. 3; Schönberger, Unionsbürger, 2005, S. 381. 133 So Ehlers, JZ 1996, S. 776 (781); Wernsmann, Jura 2000, S. 657 (659); Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 306; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Vorbemerkungen zu Abschnitt I, Rn. 73. 134 So offenbar tendenziell BVerfG NJW 2016, S. 1436 (1437); Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 12 Rn. 58; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 2020, Art. 12 Rn. 12; Kämmerer, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 7. Aufl. 2021, Art. 12 Rn. 22; Ernst, in: von Münch/ Kunig (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 25.
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die Gewährleistungen der Deutschengrundrechte nicht auf Unionsbürger auszuweiten. Ein Beispiel ist das Verbot der Auslieferung an das Ausland, das nicht auf Unionsbürger anwendbar ist, da Auslieferungen nicht dem Unionsrecht unterfallen.135 Ein weiteres Beispiel ist die Freizügigkeit im Bundesgebiet. Da die Freizügigkeit der Unionsbürger nach Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht umfassend, sondern nur vorbehaltlich primär- und sekundärrechtlicher Beschränkungen (insb. der Freizügigkeitsrichtlinie136) gilt, ist auch die Freizügigkeit im Bundesgebiet entsprechend dieser Vorgaben begrenzt.137 Für die politische Mitwirkung von Unionsbürgern am relevantesten sind die Versammlungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit. Diese sind den Unionbürgern nach herrschender Meinung – zumindest wenn es um Kommunal- und Europaangelegenheiten geht – genauso zu gewähren wie Deutschen.138 dd) Mitgliedschaft in nationalen politischen Parteien Angesichts ihrer zahlreichen politischen Mitbestimmungsrechte und des ihnen zustehenden Wahlrechts auf Europa- und auf Kommunalebene stellt sich die Frage, ob Unionsbürger auch Mitglied einer nationalen politischen Partei ihres Wohnsitzmitgliedstaates werden können, obwohl sie nicht die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Mitgliedstaates besitzen. Das Unionsrecht macht zu diesem Punkt keine ausdrücklichen Vorgaben. Vielmehr lässt es das nationale Parteienrecht unberührt.139 Allerdings lassen sich aus dem Unionsrecht zwei Argumente ableiten, die für 135
So ausdr. BVerfG NJW 2014, 1945 (1946). Freizügigkeitsrichtlinie (Fn. 42). 137 Auf dieses Beispiel verweisen Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 37. Aufl. 2021, Rn. 178. Eine Änderung des Grundgesetzes, durch die das Wort „Deutsche“ in den sog. Deutschengrundrechten durch „Unionsbürger“ ersetzt wird, wäre daher juristisch falsch. Eine Gleichbehandlung der Unionsbürger mit Deutschen im Bereich der Grundrechte ist nicht umfassend, sondern nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts erforderlich. 138 Zu Art. 8 GG vgl. Ernst, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 24; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 8 Rn. 13. Zu Art. 9 GG vgl. Winkler, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 7. Aufl. 2021, Art. 9 Rn. 38 f.; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 65; Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 17. 139 Vgl. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 10 EUV Rn. 60 mit Verweis auf die Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Nizza. 136
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die Möglichkeit einer Mitgliedschaft in einer nationalen politischen Partei sprechen: Zum einen wird die erfolgreiche Ausübung des passiven Wahlrechts auf Europa- und auf Kommunalebene sehr stark von der Mitgliedschaft in einer nationalen Partei abhängen. Parteilose Kandidaten haben in der Regel geringere Chancen, gewählt zu werden, als Parteimitglieder. Zum anderen könnte aus diesen Gründen das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV dazu führen, dass nationale Normen, die eine Parteimitgliedschaft den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten, so zu interpretieren sind, dass sie auch auf Unionsbürger anzuwenden sind – zumindest soweit es um die Europa- und die Kommunalebene geht. Das Grundgesetz definiert den Begriff der Partei nicht,140 wohl aber das Parteiengesetz (PartG). Parteien sind laut PartG „Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluß nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen.“141 Die Parteimitgliedschaft ist mit dem Wahlrecht auf Landes- und Bundesebene gekoppelt und knüpft daher an den Begriff des Volkes nach Art. 20 Abs. 2 GG an. Trotzdem können alle natürlichen Personen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, laut PartG Mitglieder werden.142 Erst, wenn die Mehrheit der Mitglieder oder die Mehrheit des Parteivorstandes aus Nicht-Deutschen besteht, handelt es sich bei der politischen Vereinigung nicht (mehr) um eine Partei.143 In der Praxis ermöglichen dementsprechend auch alle großen deutschen Parteien, explizit oder implizit, die Mitgliedschaft von 140 Aus diesem Grund ist er auch umstritten. Eine enge Auslegung, die sich am Parteienbegriff des PartG orientiert, vertreten das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 47, 198 (222); 89, 266 (269 f.); 91, 276 (284) und die h.M. in der Literatur, vgl. Kluth, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 49. Edition, Stand: 15. 11. 2021, Art. 21 Rn. 19 ff. m.w.N. Eine weite Auslegung vertreten etwa Ipsen/Koch, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 21 Rn. 19 f. 141 § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG. 142 § 2 Abs. 1 Satz 3 PartG. So auch Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 95. EL, Juli 2021, Art. 21 Rn. 244; Wißmann, § 2 Begriff der Partei, in: Kersten/Rixen (Hrsg.), Parteiengesetz (PartG) und europäisches Parteienrecht. Kommentar, 2009, Rn. 18; Lenski, Parteiengesetz. Handkommentar, § 2 Rn. 5. 143 § 2 Abs. 3 Nr. 1 PartG.
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Unionsbürgern.144 Allein die Mitgliedschaft von Drittstaatsangehörigen wird in manchen Parteistatuten/-satzungen an eine Mindestaufenthaltsdauer in Deutschland geknüpft.145 Ob die Mitwirkung der Unionsbürger in den Parteien i.S.d. PartG umfassend möglich ist oder – wegen der Beschränkung ihres Wahlrechts auf die Kommunal- und Europaebene – auch auf diese beiden Ebenen begrenzt sein muss, ist umstritten. Für eine solche Sicht spricht, dass Unionsbürger kein Wahlrecht auf Bundes- und Landesebene haben, so dass ihre politische Mitwirkung diese Bereiche auch nicht erfassen darf.146 Gegen eine solche Sicht spricht, dass sich politische Grundentscheidungen in der Regel kaum auf nur eine bestimmte Ebene reduzieren lassen. Hinzu kommt, dass Ausländer gemäß PartG auch Mitglied im Vorstand einer Partei werden, also ggf. selbst auf Bundesebene politisch aktiv sein können.147 In der Praxis sehen die Statute/Satzungen der großen deutschen Parteien keine inhaltliche Beschränkung der Mitgliedschaften von Unionsbürgern vor. Im Ergebnis dürfen daher Unionsbürger Mitglied einer politischen Partei i.S.d. PartG werden und dort umfassend, d. h. auch auf Bundes- und Landesebene, politisch mitwirken. Einen Sonderfall stellen sog. Kommunal- oder Rathausparteien dar. Es handelt sich bei ihnen um Vereinigungen, die sich auf die politische 144 Mitglieder können natürliche Personen werden, vgl. § 4 Abs. 1 Statut der CDU, 7. 12. 2018; § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 Statut der CSU, 19. 10. 2019; § 2 Abs. 1 S. 1 Bundessatzung der FDP, 28. 10. 2019; § 2 Abs. 1 Organisationsstatut der SPD, 6. 12. 2019; § 4 Abs. 1 Satzung Bündnis90/DieGrünen, 13. 6. 2021; § 2 Abs. 1 Bundessatzung Die Linke, 22./23. 2. 2019; § 2 Satz 1 Bundessatzung der AfD, 29. 11. 2015. 145 § 4 Abs. 2 Statut der CDU, 7. 12. 2018; § 3 Abs. 1 S. 2 Statut der CSU, 19. 10. 2019; § 2 Abs. 1 S. 3 Bundessatzung der FDP, 28. 10. 2019. 146 Für eine Begrenzung der Beteiligung von Unionsbürgern auf die Kommunal- und Europaebene – zumindest bei der Aufstellung von Parteibewerbern – spricht sich Hillgruber, § 118 Parteienfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band V, 2013, Rn. 31 aus. Ähnlich Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 95. EL, Juli 2021, Art. 21 Rn. 245. Eine solche Sicht führt konsequenterweise zur Forderung nach Einführung einer verfassungsrechtlich gebotenen „Teilmitgliedschaft“, so Hillgruber, a.a.O., Rn. 30; ihm zustimmend Klein, a.a.O., Rn. 244. Ähnlich Streinz, in: von Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 117: Der Gesetzgeber wäre berechtigt, „den Parteien die Aufnahme von Ausländern (allerdings nur, soweit diese nicht wahlberechtigt sind) zu verbieten“. 147 Dies ergibt sich aus § 2 Abs. 3 Nr. 1 PartG.
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Mitwirkung und damit auch auf Wahlen auf Kommunalebene beschränken. Das Bundesverfassungsgericht stuft sie in ständiger Rechtsprechung nicht als Parteien i.S.d. Art. 21 GG, sondern als Vereinigungen i.S.d. Art. 9 Abs. 1 GG ein.148 Da sich Unionsbürger auch auf die Vereinigungsfreiheit berufen können149 und ihnen darüber hinaus das Wahlrecht auf Kommunalebene zusteht, haben sie in Bezug auf Gründung, Mitgliedschaft und Umfang ihrer Mitwirkung in sog. Kommunal- oder Rathausparteien dieselben Rechte wie deutsche Staatsangehörige.150 Dasselbe gilt, unabhängig von der Frage, ob sie als Parteien i.S.d. Art. 21 GG einzustufen sind oder nicht,151 für europäische politische Parteien. Unionsbürger können sie gründen, Mitglied werden und in ihnen mitwirken.152 Die Einzelheiten legt die jeweilige europäische politische Partei in ihrer Satzung fest. ee) Zugang zur öffentlichen Verwaltung Die wirtschaftsbezogene Freizügigkeit der Unionsbürger kennt sog. Bereichsausnahmen: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit findet keine Anwendung auf die „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ (Art. 45 Abs. 4 AEUV). Ähnliche Grenzen gelten für die Niederlassungsfreiheit 148 Vgl. BVerfGE 6, 367 (372 f.); 69, 92 (104, 110); 78, 350 (358 f.); 99, 69 (78). Diese Rspr. stößt in der Literatur teils auf Zustimmung, teils auf Kritik, vgl. Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 95. EL, Juli 2021, Art. 21 Rn. 239; Wißmann, § 2 Begriff der Partei, in: Kersten/Rixen (Hrsg.), Parteiengesetz (PartG) und europäisches Parteienrecht. Kommentar, 2009, Rn. 34 ff., beide m.w.N. 149 Zu Art. 8 GG vgl. Ernst, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 24; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 8 Rn. 13. Zu Art. 9 GG vgl. Winkler, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 7. Aufl. 2021, Art. 9 Rn. 38 f.; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 65; Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 17. 150 So auch im Ergebnis Winkler, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, 7. Aufl. 2021, Art. 9 Rn. 39; Bauer, in: Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 17. 151 Zu dem entsprechenden Streit vgl. statt vieler Kluth, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 49. Edition, Stand: 15. 11. 2021, Art. 21 Rn. 31 ff.; Ipsen/Koch, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 21 Rn. 19 f.; beide m.w.N. 152 Siehe oben Punkt V. 1. a) aa) (c).
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(Art. 51 AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 62 i.V.m. Art. 54 AEUV). Sie finden keine Anwendung auf Tätigkeiten, die mit „der Ausübung hoheitlicher Gewalt verbunden“ sind. Die Mitgliedstaaten haben demnach das Recht, bestimmte berufliche Tätigkeiten ihren eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten. Die unbestimmten Rechtsbegriffe, insbesondere der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ nach Art. 45 Abs. 4 AEUV, sind mittlerweile durch den EuGH in einer umfangreichen Rechtsprechung präzisiert und näher ausgestaltet worden.153 Erfasst sind nur Stellen, „die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates und anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind.“154 Eine institutionelle Sichtweise, also ein Abstellen auf bestimmte Sachbereiche, lehnt der EuGH ab;155 abzustellen ist allein auf die einzelne Aufgabe. Dementsprechend gibt es nur noch wenige Bereiche, die Unionsbürgern in anderen Mitgliedstaaten verschlossen sind. Es handelt sich in erster Linie um Tätigkeiten in der Justiz, beim Militär, bei der Polizei, der Ordnungs- und Steuerverwaltung oder dem Auswärtigen Dienst.156 Deutschland hat die Vorgaben des Unionsrechts in nationales Recht umgesetzt. So dürfen Unionsbürger grundsätzlich Beamte werden.157 Ausnahmen, d. h. die Berufung ausschließlich deutscher Staatsangehöriger, sind möglich „wenn die Aufgaben es erfordern“.158 Solche Aufgaben können bspw. im Bereich des Verfassungsschutzes, der Rechtspflege, des
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Vgl. statt vieler die Aufarbeitung der Rspr. bei Brechmann, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV 6. Aufl. 2022, Art. 45 AEUV Rn. 110 ff. 154 EuGH, st. Rspr. Rs. 149/79, Slg. 1980, 3881, Rn. 10 f. (Kommission/Belgien); Rs. C-290/94, Slg. 1996, I-3285, Rn. 2 (Kommission/Griechenland); Rs. C-405/01, Slg. 2003, I-10 391, Rn. 39 (Colegio de Oficiales); Rs. C-270/13, ECLI:EU:C:2014:2185, Rn. 44 (Haralambidis). 155 EuGH, Rs. C-473/93, Slg. 1996, I-3207, Rn. 25 ff. (Kommission/Luxemburg). 156 Vgl. Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 945; Brechmann, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV 6. Aufl. 2022, Art. 45 AEUV Rn. 115. 157 § 7 Abs. 1 lit. a) BeamtStG, § 7 Abs. 1 lit. a) BBG. 158 § 7 Abs. 2 BeamtStG, § 7 Abs. 2 BBG.
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Justizvollzugsdienstes und der Gefahrenabwehr159 sowie bei außenwirksamer und/oder politiknahen Dienst in Ministerien160 gegeben sein. Kraft Gesetzes weiterhin ausdrücklich deutschen Staatsangehörigen vorbehalten sind das Amt eines Richters161 und eines Soldaten.162 Im Ergebnis stehen also weite Teile der „klassischen“ öffentlichen Verwaltung, inkl. des Beamtenstatus, Unionsbürgern offen. Die Gewährleistung des Art. 33 Abs. 2 GG, wonach jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt hat, gilt daher – von der eng auszulegenden Bereichsausnahme des Art. 45 Abs. 4 AEUV abgesehen – auch für Unionsbürger.163 b) Pflichten von Unionsbürgern in anderen Mitgliedstaaten aa) Koppelung von Unionsbürgerrechten mit Pflichten Das Unionsrecht koppelt einzelne Rechte der Unionsbürger mit Pflichten. Die wohl wichtigste ist die Wahlpflicht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Falls eine solche im Wohnsitzmitgliedstaat besteht, so gilt sie auch für Unionsbürger.164 Dasselbe gilt bei den Kommunalwahlen: Ist eine Wahlpflicht in dem Wohnsitzmitgliedstaat vorgesehen, so sind auch Unionsbürger verpflichtet, auf Kommunalebene zu wählen.165 Da in Deutschland keine Wahlpflicht besteht, gilt eine solche in Deutschland für Unionsbürger nicht. Bei der (freiwilligen oder verpflichtenden) Teilnahme an Wahlen auf Europa- oder Kommunalebene sieht das Unionsrecht weitere Pflichten vor, die der Ausübung des Wahlrechts dienen. Dazu gehören die Erbrin159 Vgl. Schwarz, in: Brinktrine/Schollendorf (Hrsg.), BeckOK Beamtenrecht Bund, Stand: 1. 11. 2021, § 7 BeamtStG Rn. 18. 160 Vgl. Battis, Bundesbeamtengesetz 5. Aufl. 2017, Art. 7 Rn. 5. 161 § 9 Nr. 1 DRiG. 162 § 37 Abs. 1 Nr. 1 Soldatengesetz. 163 Vgl. Jachmann-Michel/Kaiser, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 33 Rn. 14; Battis, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 33 Rn. 23; ausf. Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 33 Rn. 75 ff. 164 Art. 8 Abs. 2 der Europawahlrichtlinie (Fn. 65). 165 Art. 7 Abs. 2 der Kommunalwahlrichtlinie (Fn. 65).
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gung von Nachweisen, die Vorlage von Bescheinigungen und die Abgabe bestimmter Erklärungen für das aktive166 und das passive167 Wahlrecht. Diese Pflichten sind in Deutschland im EuWG168 bzw. in den Gemeinde- und Kreiswahlgesetze bzw. der Gemeindeordnungen der Länder169 umgesetzt. Hinzu kommen weitere Pflichten, die in Deutschland an den Bürgerstatus auf Kommunalebene gekoppelt sind. Dazu zählen in erster Linie die Pflicht zum Dienst in der Pflichtfeuerwehr der Gemeinde und zur Übernahme von kommunalen Ehrenämtern. Beide Pflichten werden jeweils den Bürgern der Gemeinde auferlegt.170 Manche Länder verwenden einen Bürgerbegriff auf Kommunalebene, der ausdrücklich sowohl deutsche Staatsangehörige als auch Unionsbürger umfasst.171 Andere Länder ziehen Unionsbürger nicht ausdrücklich in den Bürgerbegriff mit ein. Indem sie unter Bürgern allerdings alle zur Gemeindevertretung wahlberechtigten Einwohner verstehen,172 fallen auch in diesen Ländern Unionsbürger unter den kommunalen Bürgerbegriff. Das deutsche Recht legt also den Unionsbürgern weitere Pflichten auf. Diese sind aber – genauso wie die im Unionsrecht vorgesehenen Pflichten – mit den gewährten Wahlrechten gekoppelt.
166 Art. 9 Abs. 2 und 3 der Europawahlrichtlinie (Fn. 65); Art. 8 Abs. 2 der Kommunalwahlrichtlinie (Fn. 65). 167 Art. 10 der Europawahlrichtlinie (Fn. 65); Art. 9 der Kommunalwahlrichtlinie (Fn. 65). 168 § 4 EuWG i.V.m. §§ 12 ff. BWahlG. 169 Beispiel: § 3 ff., 17 ff. GKWG SH. 170 Beispiel: § 16 Abs. 3 Brandschutzgesetz SH (Dienst in der Pflichtfeuerwehr); § 17 Sächsische GemO (Übernahme von ehrenamtlichen Tätigkeiten). 171 Beispiel: § 15 Abs. 1 Satz 1 Sächsische GemO: „Bürger der Gemeinde ist jeder Deutsche im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes und jeder Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union, der das 18. Lebensjahr vollendet hat und seit mindestens drei Monaten in der Gemeinde wohnt.“ 172 Beispiel: § 6 Abs. 2 GemO SH: „Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde sind die zur Gemeindevertretung wahlberechtigten Einwohnerinnen und Einwohner.“
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bb) Keine Auferlegung staatsbürgerlicher Pflichten Neben den soeben erwähnten Pflichten, die an den Bürgerstatus auf Kommunalebene anknüpfen, kennt das deutsche Recht weitere Bürgerpflichten. Diese werden allerdings ausschließlich den deutschen Staatsangehörigen auferlegt. Zu ihnen zählen die Wehrpflicht173 und die Pflicht zur Übernahme eines Schöffenamtes.174 Die Beschränkung bestimmter Pflichten auf deutsche Staatsangehörige ist rechtlich kohärent. Wie oben dargelegt, gibt es eine Bereichsausnahme für Tätigkeiten, die mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt verbunden sind.175 Dazu gehören u. a. Aufgaben im Bereich der Justiz und des Militärs. Die Mitgliedstaaten dürfen diese Bereiche ihren eigenen Staatsangehörigen vorbehalten. Folgerichtig können sie Unionsbürger auch nicht verpflichten, entsprechende Tätigkeiten auszuüben. VI. Fazit und Ausblick Das Bundesverfassungsgericht hat 2005 erklärt, dass „das Institut der Staatsbürgerschaft weder aufgegeben noch substantiell entwertet oder durch eine europäische Unionsbürgerschaft ersetzt“176 wird. Dieser Aussage ist zuzustimmen. Der vorliegende Beitrag hat jedoch gezeigt, wie sehr die Unionsbürgerschaft den Bürgerstatus ausweitet – und zwar sowohl „nach außen“, indem sie Staatsbürgern neue politische Mitwirkungsrechte gegenüber der Europäischen Union gewährt, als auch „nach innen“, indem der Kreis der Menschen, denen staatsbürgerliche Rechte und Pflichten innerhalb eines Staates zukommen, um Unionsbürger erweitert wird. Diese Auswirkungen können noch zunehmen. Der Inhalt der Unionsbürgerschaft ist nicht abschließend. Die sog. Evolutivklausel des Art. 25 AEUV ermöglicht es dem Rat, auf der Grundlage der alle drei Jahre veröffentlichten Berichte der Kommission, die Rechte der Unionsbürger zu ergänzen. Es bedarf dafür eines einstimmigen Beschlusses in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren, einer Zustimmung des Eu173
Art. 12a GG. § 31 Satz 2 GVG. 175 Siehe oben Punkt V. 2. a) ee). 176 BVerfGE 113, 273 (298) – Europäischer Haftbefehl.
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ropäischen Parlaments und einer Zustimmung aller Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Von dieser Möglichkeit wurde bislang noch kein Gebrauch gemacht. Allerdings zeichnet sich eine potentielle Fortentwicklung ab, die sich deutlich auf die Ausweitung des Bürgerstatus „nach innen“ auswirken würde: die Einführung eines Wahl- und Abstimmungsrechts der Unionsbürger auf regionaler und nationaler Ebene, d. h. in Deutschland auf Bundes- und Landesebene. In ihrem „Bericht über die Unionsbürgerschaft 2020“177 hat die Kommission erklärt, dass sie dieses Anliegen mit den Mitgliedstaaten weiter vertiefen will.178 Anlass ist u. a. die im März 2020 gestartete europäische Bürgerinitiative „Wählerinnen und Wähler ohne Grenzen“, die diese zusätzlichen Rechte einfordert. Die Frist zur Sammlung von Unterschriften läuft noch bis zum 11. Juni 2022. Bereits zehn Jahr zuvor hatte auch der Ausschuss der Regionen eine solche Ausweitung des Wahlrechts befürwortet bzw. gefordert.179 Die Auswirkungen der Unionsbürgerschaft auf den Bürgerstatus werden also in einigen Jahren möglicherweise fortgeschrieben werden müssen.
177 Bericht über die Unionsbürgerschaft 2020. Stärkung der Bürgerteilhabe und Schutz der Bürgerrechte, COM (2020) 730 final. 178 Bericht über die Unionsbürgerschaft 2020 (Fn. 177), S. 8 f. 179 Vgl. Ausschuss der Regionen, Stellungnahme, Stärkung der Unionsbürgerschaft: Förderung des Wahlrechts der EU-Bürger, CdR1652/2012, Rn. 45, sowie Stellungnahme, Bericht über die Unionsbürgerschaft 2013, CdR 3536/2013, Rn. 36.
Die Rolle des Abgeordneten im Mehrebenenparlamentarismus und in der Netzwerkdemokratie Von Florian Becker I. Der Einfluss der Krise des Parlamentarismus auf die Rolle des Abgeordneten Das Parlament vermittelt die demokratische Legitimation staatlicher Herrschaft.1 Es handelt durch die Gesamtheit seiner Organwalter – durch die vom Souverän entsandten Abgeordneten. Diese gewährleisten, dass alle Staatsgewalt auf die Legitimation des Volkes zurückzuführen ist:2 Während insoweit das Parlamentsgesetz sachlich-inhaltliche Legitimation vermittelt, transportieren die parlamentarischen Kreations-3 und Kontrollfunktionen4 die komplementäre persönliche demokratische Legitimation staatlicher Amtswalter.5 Die politische und die rechtliche Gestaltungsmacht der Abgeordneten hängen von verschiedenen Faktoren ab, die auch von der politischen wie verfassungsrechtlichen Bedeutung des Parlaments bestimmt sind. Wegen dieses zwingenden Zusammenhangs trüben Diskussionen über
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Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2014, § 24 Rn. 16, 21; BVerfGE 83, 60 (71 ff.); 93, 37 (66 f.). 2 Badura, StaatsR, 7. Aufl. 2018, D. Rn. 6; BVerfGE 77, 1 (40); 83, 60 (72). 3 Siehe dazu Kersten, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), HdBVerf, § 11 Rn. 32 ff.; Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 50 Rn. 27 ff. 4 Siehe dazu Achtenberger, Parlamentsrecht, 1984, S. 408 ff.; Kersten, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), HdBVerf, § 11 Rn. 36 f.; Klein, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 50 Rn. 33 ff. 5 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2014, § 24 Rn. 16.
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Krisenerscheinungen des Parlamentarismus6 auch den Blick auf die Rolle der Abgeordneten. Jene Krisenerscheinungen sind die Folge gewandelter Wirkungsbedingungen für politisches Handeln und staatliches Entscheiden, aber auch die Konsequenz gewachsener Ansprüche an Staat und Politik: Politische Gestaltungsansprüche treffen in der komplexen, fragmentierten Gesellschaft des modernen westeuropäischen Staats auf Lebenssachverhalte mit von außen bisweilen schwer durchschaubaren Wirkmechanismen, die erst verstanden werden müssen, sowie auf politische oder gar verfassungsrechtliche Vetopositionen, die erst überwunden werden müssen. Beides ist nur durch Interaktion und auch durch das Eingehen informeller Abhängigkeitsverhältnisse möglich. Der Staat und seine Akteure müssen also zur Erreichung ihrer Regelungsziele von dem Governance-Modus der „Hierarchie“ – also des einseitig-hoheitlichen Handelns – zumindest vorübergehend in den Modus der „Verhandlung“ umschwenken. Dabei ist es natürlich nicht ausgeschlossen, dass das Ergebnis der Verhandlungen am Ende in die Form eines staatlichen Hoheitsakts gegossen, also hierarchisch ratifiziert wird. Eine zweite, zum Teil mit der ersten verwandte, Ursache veränderter staatlicher Gestaltungsmacht beruht auf dem Umstand, dass viele Probleme, deren Lösung vom Staat erwartet wird, gar nicht mehr auf nationaler Ebene zu lösen sind und deshalb einer ad hoc erfolgenden oder institutionalisierten überstaatlichen Kooperation bedürfen. Die aus diesen Entwicklungen resultierenden Symptome für eine Krise des (nationalen) Parlamentarismus werden mit den teils schillernden, teils trockenen Begriffen der Europäisierung, der Globalisierung, des Exekutivföderalismus, der Informalisierung und Expertokratisierung sowie der paktierten Gesetzgebung umschrieben:7 Diese Begriffe beschreiben zumeist reaktive Veränderungen der Art und Weise sowie des 6 Zur Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdung der Verfassung siehe Herdegen, VVDStRL 62 (2003), S. 7 ff.; siehe auch Morlok, VVDStRL 62 (2003), S. 37 ff.; zu Wahlrecht und Parlamentsrecht als Gelingensbedingungen direkter Demokratie siehe Cancik, VVDStRL 72 (2013), S. 268 ff. 7 Diese Begriffszusammenstellung stammt von Ludwigs, DVBl. 2021, S. 353 ff. Er beleuchtet die Phänomene ausführlich (und kritisch), woran sich die vorliegende Darstellung orientiert; siehe auch Morlok, in: Morlok/Schliesky/Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 3 Rn. 92 ff.
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Gegenstands staatlichen Handelns durch eine Beteiligung nicht- oder überstaatlicher Akteure wie auch durch eine Veränderung der Rollenverteilung innerhalb der Staatsorganisation. Die mit den Begriffen erfassten Phänomene wirken auf die Rolle der Abgeordneten ein: Überträgt der Bundestag Gesetzgebungskompetenzen auf die europäische oder internationale Ebene, verzichten die Abgeordneten für die Zukunft mehr oder wenig freiwillig auf eigene Gestaltungsmacht. Zudem agiert auf supra- und internationaler Ebene oftmals allein die Exekutive, während dem Parlament nur die Rolle des kritischen Beobachters bleibt, der das Ergebnis von exekutiv geprägten Aushandlungsprozessen bestenfalls noch nachträglich ratifizieren darf. Eine dieses Defizit kompensierende Parlamentarisierung auf der überstaatlichen Ebene hat sich bislang allein in der EU entwickelt – und dort auch nur phasenverzögert, sowie nach wie vor mit strukturellen Mängeln behaftet. Die innerstaatlichen Politikverflechtungen8 des deutschen Exekutivföderalismus entfalten ähnliche Konsequenzen, die etwa in der immer noch präsenten Gesundheitskrise in der Institution der Ministerpräsidentenkonferenzen (MPK) auf nachdrückliche Weise erneut offenbar geworden sind. Ein vermeintlicher Einigungsdruck hatte auf Seiten der Länder eine Lähmung nicht nur der Regierungen, sondern auch der Parlamente und ihrer Abgeordneten zur Folge, so dass es unter dem Eindruck der in der MPK getroffenen Vereinbarungen weder die Landesregierungen für erforderlich gehalten haben, die an sie delegierten Verordnungskompetenzen zum Erlass von eigenständigen und der konkreten Situation vor Ort angepassten Regelungen auszunutzen. Noch – und dies ist vorliegend von Bedeutung – haben die Abgeordneten in den Landesparlamenten es gewagt, solche Regeln in Gesetzesform zu erlassen, was ihnen im Lichte von Art. 80 Abs. 4 GG ohne weiteres möglich gewesen wäre. Auch die Abgeordneten im Bundestag konnten erst nach einer Phase der Schockstarre und nach eindrücklichen Mahnungen der Rechtswissenschaft9 zu der Übernahme gesetzgeberischer Verantwortung bei der Bewältigung der Corona-Krise bewegt werden. 8 Begriff von Scharpf, Die Politikverflechtungs-Falle. Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, PVS 26 (1985), S. 323 ff. 9 Möllers, Stellungnahme zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Drs. 19/
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Eine ähnliche (Selbst-)Entmachtung nicht nur der Exekutive, sondern auch der Parlamente und ihrer Abgeordneten ist bei der Einbeziehung von Expertengremien in die staatliche Entscheidungsfindung zu beobachten, wenn der Expertenbeitrag von der letztlich entscheidenden Instanz inhaltlich nicht mehr in Frage gestellt und praktisch blind übernommen wird.10 Selbst wenn verfassungsrechtlich allein der Gesetzesbeschluss des Bundestags Wirkung entfaltet,11 entäußert sich das Parlament durch eine solche Delegation im untechnischen Sinne doch seiner politischen und damit der demokratischen Verantwortung. Noch weiter geht dies in den Fällen des legislativen outsourcings:12 Während die Formulierung von Gesetzesentwürfen schon immer im Schwerpunkt durch die Ministerialbürokratie geleistet worden ist und diese bei Vorlagen aus den Reihen der Abgeordneten auch schon immer „Formulierungshilfe“ geleistet hat, wurde in den letzten Jahren vereinzelt eine noch weitergehende Auslagerung der Gesetzesvorbereitung auf private Akteure (Anwaltskanzleien) bekannt. Wird ein solcher Entwurf von einem Vorlageberechtigten (vgl. Art. 76 Abs. 1 GG) eingebracht, könnten sich die Parlamentarier zwar noch während des anschließenden parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens mit den Regelungen auseinandersetzen und etwa durch den zuständigen Parlamentsausschuss Einfluss auf das Gesetz nehmen. Dies setzt indes profunde Sachkenntnis voraus, die in solchen Fällen offenbar nicht einmal in der Ministerialverwaltung vorhanden ist. Ebenfalls vor einer bloßen Ja- oder Nein-Entscheidung steht das Parlament in den Fällen, in denen die Regierung mit (typischerweise mächtigen) gesellschaftlichen Akteuren Vereinbarungen über künftige Gesetzgebung trifft, wie dies etwa bei dem Atomkonsens im Jahr 2000 der Fall war.13 23944) im Ausschuss für Gesundheit vom 11. 11. 2020, Ausschussdrucksache 19 (14) 246 (15), S. 9. 10 Voßkuhle, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 12, 52. 11 Krüper, in: Morlok/Schliesky/Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 38 Rn. 50. 12 Dazu Krüper, in: Morlok/Schliesky/Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 38 Rn. 52 ff.; vgl. zur Diskussion zum Gesetzgebungsoutsourcing etwa Kloepfer, NJW 2011, S. 131 ff. oder Battis, ZRP 2009, S. 201 ff. 13 Vereinbarung der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. 6. 2000 (abrufbar unter: https://www.bmuv.de/download/vereinba rung-zwischen-der-bundesregierung-und-den-energieversorgungsunternehmen-
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Die beschriebenen Phänomene wirken auf die Rolle des Parlaments und seiner Abgeordneten ein, indem sie deren Aufgaben erodieren, ihre Wahrnehmung erschweren oder den Aufgabencharakter verwandeln. Allerdings fokussiert sich die Diskussion auf das, was der Staat, das Parlament und damit die Abgeordneten alles nicht (oder: nicht mehr) zu bewegen vermögen. Die Krisensymptome werden in einer Verlustbilanz zusammengefasst. Akzeptiert man allerdings, dass die Gesellschaft komplexer, die Technik unbeherrschbarer und die Probleme globaler geworden sind, erscheint es sinnvoll, auch die Habenseite in die Bilanz mit einzubeziehen und dazu die Frage zu stellen, welche neuen oder veränderten Handlungs- und Gestaltungsoptionen es den Abgeordneten eigentlich erlauben, in diesen veränderten Prozessen mitzuwirken. II. Der Abgeordnete als Repräsentant des Volkes zwischen Freiheit und Bindung 1. Die Repräsentationsfunktion der Abgeordneten als Gewährleistung ungebundenen Handelns Das Parlament und seine Abgeordneten handeln in „Vertretung“ des Volkes an dessen Stelle und zugleich für das Volk, das als solches mangels Organisierbarkeit nicht dauerhaft entscheidungsfähig ist und in dem dennoch die Legitimation aller staatlichen Handlungen ihren Ausgangspunkt finden muss.14 Obschon das Grundgesetz den Begriff der Vertretung verwendet, besteht zwischen Abgeordneten und Volk kein zivilrechtliches Vertretungsverhältnis. Vielmehr repräsentieren die Abgeordneten das Volk. Repräsentation ist gleichermaßen bedingt und ermöglicht durch die Unabhängigkeit des Repräsentanten gegenüber den Repräsentierten. Weil der Repräsentant kein Bote des Willens seines Auftraggebers ist, hat er frei zu entscheiden und das Gemeinwohl kraft eigener Autorität und kraft eigenen Amtes hervorzubringen.15 Für Leibholz widerspricht jede Form vom-14-juni-2000), die durch das Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernen ergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität vom 22. 4. 2002 (BGBl. I 2002, S. 1351 ff.) abgesichert wurde. 14 Morlok, in: Morlok/Schliesky/Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 3 Rn. 3. 15 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland II, 1980, § 26 I 1.
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der Abhängigkeit sogar dem Wesen der Repräsentation und hebt deren Wert auf.16 Damit wird die Freistellung der Abgeordneten von rechtlichen Bindungen zu einer Existenz- und Funktionsbedingung des repräsentativen Systems. Das Institut der Repräsentation schützt prima facie die Unabhängigkeit des Abgeordneten. Aber diese verfassungsrechtlich institutionalisierte Unabhängigkeit kann sich natürlich auch nur in ihrem verfassungsrechtlichen Kontext entfalten. Dieser konfrontiert nicht nur die Abgeordneten mit anderen staatlichen sowie auch grundrechtlich eingebetteten Akteuren und deren Handlungsoptionen, sie fordert und fördert nicht nur die Integration des Staates in internationale Handlungszusammenhänge, sondern weist den Abgeordneten auch im Verhältnis zum Volk eine arbeitsteilige Rolle zu. 2. Arbeitsteilung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten Die in der Repräsentation angelegte Differenzierung zwischen Herrscher und Beherrschtem ist auch Ausdruck und Konsequenz notwendiger Arbeitsteilung zwischen Parlamentariern und Volk. Diese ist unter den Bedingungen einer immer komplexer werdenden Wirklichkeit moderner Demokratien geradezu zwingend. Sollen komplexe, fragmentierte und vernetzte Gesellschaften gesteuert werden und sollen sich die unmittelbar legitimierten Entscheidungsträger hierbei nicht blind auf die Vorarbeiten der Exekutive verlassen, die sie ja eigentlich politisch kontrollieren sollen, so kann das Geschäft des Parlaments nicht mehr gleichsam „nebenbei“ erledigt werden. Der demokratische Staat (und v. a. der Steuerzahler) muss sich daher eine Vielzahl politischer Funktionsträger in den Parlamenten aller Ebenen „leisten“, damit diese die für das gedeihliche Zusammenleben und die Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklungen gebotenen Entscheidungen mit der erforderlichen Sachkunde und nicht eben nach Feierabend treffen können. Der in der Repräsentation angelegte Gedanke der Arbeitsteilung bei dem Erlass einseitig-hoheitlicher Beschlüsse wird durch Elemente direkter Demokratie durchbrochen. Die repräsentative Demokratie ist durch 16 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl. 1966, S. 72 f.; siehe auch Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 34 Rn. 18.
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Wahlentscheidungen geprägt, mit denen die gewählten Personen mandatiert werden, allgemeinverbindliche Entscheidungen zu treffen. Bei direkt-demokratisch getroffenen Beschlüssen zieht das Wahlvolk vereinzelte Sachentscheidungen an sich und entlastet den Abgeordneten damit von der Entscheidungsverantwortung. Dabei ist nicht zu übersehen, dass ein direkt demokratischer Entscheidungsmodus auf der einen Seite natürlich das Volk in seiner verfassungsrechtlichen Bedeutung ernst nimmt, auf der anderen Seite aber auch seine gewählten Repräsentanten in gewisser Weise ihrer politischen Verantwortung enthebt. Schwierige, folgenreiche Entscheidungen können auf diese Weise delegiert werden. Wie Böckenförde ausführt, können Volksentscheide und Volksbegehren auch in einem repräsentativen System als zusätzlich legitimierende Elemente gegenüber der Leitungs- und Entscheidungsgewalt der repräsentativen Organe vorgesehen werden, soweit diese tatsächlich nur eine – gegebenenfalls auch Vorwirkung entfaltende – Balancierungs- und Korrekturfunktion aufweisen. Eine gleichberechtigte Rolle von Parlament und Volk bei der Rechtsetzung würde die Fähigkeit der Bürger, eine Dauerverantwortung für die Staatsleitung zu übernehmen, überschätzen.17 Ob und in welchem Maß eine Verfassung direkt-demokratische Sachentscheidungen zulässt, ist aber zunächst eine verfassungspolitische Frage. Während direkt-demokratische Entscheidungsstrukturen auf Ebene der Länder18 und der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften19 durchweg anzutreffen sind, hält sich das Grundgesetz bekanntlich bei deren Etablierung immer noch weitgehend bedeckt. Und dies aus guten verfassungspolitischen Gründen: Direkte Demokratie durchbricht die o. a. Arbeitsteilung, enthebt den gewählten Repräsentanten seiner Verantwortung und legt eine Sachentscheidung wieder in die Hände des Souveräns. Dieser zunächst völlig einleuchtende Vorteil verdeckt indes den Umstand, dass eine Entscheidung, die nicht getrieben von Emotionen, sondern auf der Grundlage 17
Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 34 Rn. 23. 18 Siehe etwa Art. 48 f. SHVerf; Art. 59 f. VerfMV; Art. 80 f. LSAVerf; Art. 68 f. VerfNRW; Art. 74 der BayVerf. 19 Siehe etwa § 16g GO (SH); §§ 32 ff. NKomVG; § 21 GemO BW; §§ 34 f. SächsGemO; § 20 KV M-V.
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nüchterner Sachkenntnis getroffen werden soll, der fundierten inhaltlichen Vorbereitung bedarf. Dies geschieht für gewöhnlich im Parlament, vor allem in seinen Ausschüssen, in arbeitsteiliger Professionalität. Die Mehrzahl der Abgeordneten, die sich mit der entsprechenden Sachfrage nicht auskennt, darf sich dabei innerhalb der Fraktionen auf die Sachkenntnis der „zuständigen“ Kolleginnen und Kollegen verlassen ! so wie diese es im umgekehrten Fall dürfen und müssen. Nun dürften die Initiatoren und vielleicht ebenso die engeren Unterstützer einer angestrebten Sachentscheidung über hinreichende Sachkunde verfügen; hieran wird aber schon deutlich, dass direkt-demokratisches Engagement Zeit und Ressourcen erfordert, die nicht jedermann gleichermaßen zur Verfügung hat. Zudem besteht zwischen den Initiatoren und den übrigen entscheidungsbefugten Personen keine auf wechselseitigem Vertrauen begründete Verbindung, die der Zusammenarbeit der Abgeordneten innerhalb einer Fraktion im Parlament entspricht. Politische Entscheidungsfindung erfolgt in einem Spannungsfeld von komplexen Interessen und Kompromissen, welches die Isolierung einzelner Fragen und die Reduktion (oder Zuspitzung) der möglichen Antworten auf „Ja“ oder „Nein“ nicht dauerhaft verträgt. Beginnend in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts setzten sich selbst als progressiv empfindende politische Kräfte große Hoffnung in die direkte Demokratie. Sie wollten sie nutzen, um mit ihren Mitteln eine subjektiv wahrgenommene Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft gegenüber dem politischen Establishment durchsetzen zu können. Der Grund, weswegen direkt-demokratische Elemente aber heute für die Bundesebene viel seltener als vor vierzig Jahren diskutiert werden, liegt in einer Veränderung der politischen Landschaft: In dem Maße, in dem die auf Landesebene und in den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften plebiszitären Mechanismen genutzt wurden, um infrastrukturelle Projekte (Stuttgart 21) oder aber eher „bürgerliche“ Anliegen („Initiative ,Wir wollen lernen!‘“ in Hamburg) durchzusetzen, wuchs indes auch bei ursprünglichen Befürwortern die Skepsis gegenüber Instrumenten direkter Demokratie. Sie sahen ihre inzwischen in den staatlichen Institutionen gewonnenen Entscheidungsbefugnisse in Gefahr. Abstimmungen in europäischen Mitgliedstaaten, die zu fundamentalen Fragen der europäischen Verfassungsentwicklung eine von vielen unerwünschte Antwort hervorbrachte, oder befürchtete Ergebnisse zu Fragen der Migration verstärkten das Unbehagen. Vor diesem Hin-
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tergrund ist die verfassungspolitische Diskussion über die Balance zwischen direkter und repräsentativer Demokratie heute nicht mehr sehr präsent. Während die Grundsätze demokratischer Legitimation als solche zu den nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Kernregelungen des Grundgesetzes gehören, ist es ausgesprochen fragwürdig, dass das Hamburger Verfassungsgericht ohne wirkliche Begründung noch weitergehend feststellt, dass eine durch Verfassungsänderung erfolgende „substantielle Verlagerung der legislativen Aufgaben vom parlamentarischen Gesetzgeber auf die Volksgesetzgebung […] mit dem Demokratieprinzip, so wie es in der Hamburgischen Verfassung [ähnlich wie im Grundgesetz] verankert ist, nicht vereinbar“ sein soll.20 In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird diese Ansicht jedenfalls kaum geteilt.21 3. Repräsentation und Spiegelbildlichkeit Nicht nur das Parlament in seiner Gesamtheit, sondern auch jeder einzelne Abgeordnete repräsentiert das gesamte Volk in seiner vielköpfigen Verschiedenheit. Daher hängt die verfassungsrechtliche Legitimationskraft des Parlaments nicht davon ab, ob seine personelle Zusammensetzung in geschlechtlicher, demographischer oder sozialer Hinsicht die Gesellschaft, die es repräsentiert, exakt widerspiegelt.22 Repräsentation wird nicht durch die spiegelbildliche Zusammensetzung des Parlaments entsprechend der Sozialstruktur der Wählerschaft oder des Volkes erreicht.23
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HmbVerfG, NVwZ 2016, S. 1708 (1709 f.). Siehe etwa Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Stand 95. EL Juli 2021, Art. 79 Rn. 129; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Band II, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Abs. 3 Rn. 40; siehe auch Meyer, JZ 2012, S. 538 (540 ff.); noch weitergehend Hain, in: von Mangoldt/Klein/Stark (Hrsg.), Band II, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 81. 22 Siehe aber die Kritik bei Meyer, NVwZ 2019, S. 1245 (1246); Laskowski, Streit 2015, S. 51 ff.; Payandeh, ZRP 2018, S. 189; Überblick zur rechtspolitischen Debatte bei Wapler, Analysen & Argumente Nr. 369, Sept. 2019 (KonradAdenauer-Stiftung), Die Crux mit der Quote – Paritätsgesetze und demokratische Repräsentation. 23 Morlok, in: Morlok/Schliesky/Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 3 Rn. 76; siehe ebenfalls Morlok/Hobusch, DÖV 2019, S. 14 ff. 21
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Die juristischen Auseinandersetzungen um einen Zwang zur geschlechtsparitätischen Besetzung von Wahlvorschlagslisten wurden bislang primär vor der Folie der Wahlrechtsgleichheit geführt.24 Wird aber durch Vorstrukturierung des Parlaments nach notwendigerweise wenigen und auch je nach Sichtweise unterschiedlich zu gewichtenden Kriterien nicht der Charakter der Repräsentation erodiert? Eine verkleinerte Abbildung der Gesellschaft im Parlament vereinfacht auf unterkomplexe Art und Weise die unbegrenzte Vielfalt an Individuen in der Gesellschaft durch mehr oder weniger plausible soziale Kategorien. Handelt es sich bei „Mann“ und „Frau“ nicht lediglich um zwei zwar wichtige, doch durchaus mit gleichem Recht weiter vermehrbare Differenzierungskriterien, die dann auch noch untereinander beliebig kombinierbar sind? Will man eine Zusammensetzung der Parlamentarier gewährleisten, die im Ergebnis die Struktur der Gesellschaft widerspiegelt, dürfte dies daher – zumindest soweit man nicht ein einzelnes Gegensatzpaar wie etwa „männlich/weiblich“ als das allein wesentliche hypostasiert – angesichts der Vielfalt der Gesellschaft auf unüberwindbare Schwierigkeiten stoßen. Man kann außerdem eine ganze Reihe weiterer Gegensatzpaare erwägen, die für mögliche fundamentale Interessenkonflikte bei politischen Entscheidungen stehen: arm gegen reich; alt gegen jung; homogegen heterosexuell, chronisch krank gegen kerngesund; gläubig gegen atheistisch. In bestimmten Bereichen dürften jedenfalls diese Interessen einander genauso konträr gegenüberstehen wie die von Männern und Frauen. Und von politischen Präferenzen oder sozialer Herkunft war hier noch nicht einmal die Rede. Die Wahl so vorzustrukturieren, dass das Parlament tatsächlich die Gesellschaft en miniature darstellt, muss daher ohnehin an der Vielgestaltigkeit, Komplexität und Individualität der Gesellschaft scheitern. Selbst wenn es aber gelänge, sich auf die wesentlichen Differenzierungsmerkmale zu einigen, anhand derer diese Vorstrukturierung stattfinden soll, würden doch immer noch andere Charakteristika auf die Entscheidung der Repräsentanten ebenso wie auf die Erwartungshaltung der Repräsentierten einwirken.
24 BbgVerfG, NJW 2020, 3579 Rn. 147 ff.; ThürVerfGH, NVwZ 2020, 1266 Rn. 82 ff.; Hecker, NJW 2020, S. 3563 (3565); Fontana, DVBl 2019, S. 1153 (1155); von Ungern-Sternberg, JZ 2019, S. 525 (528); siehe auch schon Ebsen, JZ 1989, S. 553 (555).
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Bevor daher die Akzeptanz parlamentarischer Entscheidungen und die Legitimationskraft des Parlaments erodieren, weil das letztlich gar nicht erreichbare Ziel, die Sozialstruktur der Gesellschaft im Parlament abzubilden, nicht erreicht wird, spricht vieles für eine Rückbesinnung auf die Funktion der Repräsentation, die das Handeln des einzelnen Repräsentanten für das Volk in seiner Gesamtheit ermöglicht und ihn in Abkehr von dem Gedanken einer ständischen Vertretung von partikularen Bindungen freistellt.25 III. Die Rolle des Abgeordneten in der Netzwerkdemokratie 1. Der Abgeordnete als Knotenpunkt in einem Netzwerk Zwar schafft Repräsentation Distanz zwischen Repräsentanten und Repräsentierten. Aber sie kann, will und sollte die Abgeordneten nicht von gesellschaftlichen Einflüssen sowie Interaktion und Kommunikation mit anderen Akteuren isolieren. Dies würde in einem demokratischen System im Verhältnis zum Wähler schon an der Notwendigkeit scheitern, dass sich der Abgeordnete zur Wiederwahl präsentieren möchte. Abgeordneten müssen nicht nur den Umgang mit an sie gerichteten Erwartungen politischer Akteure ebenso wie der Wählerschaft wägen, auf deren Akzeptanz sie angewiesen sind. Es gibt eine ganze Reihe weiterer externer Faktoren, die auf die rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen parlamentarischer Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit einwirken. Abgeordnete stehen typischerweise in einem intensiven Verhältnis zu gesellschaftlichen Akteuren, deren Unterstützung sie sich versichern und die auf ihn zur Verwirklichung eigener Zwecke Einfluss zu nehmen suchen. Dieses Verhältnis gab es natürlich dem Grunde nach immer schon, doch hat es sich insbesondere durch neuartige Kommunikationsstrukturen inhaltlich intensiviert. Auch jenseits des Verhältnisses zum Souverän sind die Parlamente und ihre Abgeordneten bei allen Handlungen Akteure in einem netzwerkartigen Geflecht von sozialen Beziehungen, in das viele weitere In-
25 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 34 Rn. 23.
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dividuen sowie kollektive und korporative Akteure eingebettet sind.26 Und so sind Gesetze und andere parlamentarische Beschlüsse zwar aus verfassungsrechtlicher Sicht von dem Parlament und seinen Abgeordneten verantwortet. Auf den Prozess ihrer Entstehung wirken aber viele weitere Kräfte des politischen Netzwerkes ein, in dem die Abgeordneten nur ein – wenn auch wichtiger – Knotenpunkt von vielen sind. Recht ist das formale Ergebnis eines Rechtsetzungsverfahrens, das sich in mehrere Phasen gliedert und an dem die staatlichen Rechtsetzungsorgane durch Einbringung eines Entwurfs, Beratung, Beschluss, Ausfertigung und Verkündung beteiligt sind. Diese Sichtweise vermittelt aber nur ein staatsorganisatorisches Gerüst. In der Wissens- und Informationsgesellschaft werden Treffen und Durchsetzung von Regelungen dadurch erschwert, dass das für die Beurteilung von Wirkungszusammenhängen erforderliche Wissen komplex und schwer zugänglich wird.27 Die staatlichen Akteure verfügen zwar über die hierarchische Handlungsoption der einseitig-hoheitlichen Entscheidung, aber aus verschiedenen Gründen können sie diese Option nicht allenthalben ausspielen. Sie sind vielmehr auf oft informelle Verhandlungen mit anderen Akteuren angewiesen, um zu wirksamen Lösungen zu gelangen. Diese Verwiesenheit ist auf Wissensdefizite, (grund-)rechtliche Restriktionen oder politische Vetopositionen privater Akteure zurückzuführen, die jeweils durch Verhandlungen überwunden werden können. Aber auch jenseits der Aushandlung hoheitlicher Regelungen oder der – ggf. informellen – Delegation von Normsetzungsbefugnissen interagieren staatliche und gesellschaftliche Akteure in diesem Netzwerk permanent mit- und untereinander, was verfassungsrechtlich durch die ineinandergreifenden Prozesse von Staats- und Volkswillensbildung erfasst wird.28 Im Ergebnis erweist sich allerdings das Phänomen der Fachhandlung im Netzwerk, das prima facie wie ein Machtverlust durch die Beteiligung Dritter in formellen oder informellen Prozessen aussieht, als eine Möglichkeit, die Partizipation und Delegationsgestaltungsbefugnisse zu26 Definition bei Benz/Lütz u. a. (Hrsg.), Handbuch Governance, 2007, S. 188 ff. 27 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 34 Rn. 37 f. 28 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland IV/2, 2011, § 114 I 2.
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mindest teilweise zurückzugewinnen, die ansonsten nur mit verzehrenden politischen Kosten oder vielleicht auch gar nicht erfolgreich gegen gesellschaftliche veto- oder grundrechtliche Abwehrpositionen durchzusetzen wären. 2. Die Kommunikation des Abgeordneten Der Abgeordnete muss mit seinen Handlungen und Vorhaben sichtbar sein, um seine Rolle auszufüllen. Bei der Einspeisung politischer Positionen in die öffentliche Diskussion und bei der zwischen den Wahlen in der öffentlichen Diskussion stattfindenden Interaktion mit dem Souverän bewegt sich der Abgeordnete in einer gegenüber den ersten sechzig Jahren des Grundgesetzes völlig anderen Welt der Kommunikation. Diese ist heute maßgeblich durch die sozialen Medien geprägt und unterliegt daher ganz neuen Gesetzmäßigkeiten. Kommunikation ist schneller, unmittelbarer, kürzer gefasst, daher kompromissloser und zugleich missverständlicher geworden. Die Tatsache, dass sich hier die Beiträge mit wenigen Handgriffen über das Smartphone absetzen lassen, führt dazu, dass die Simultanität von realen Ereignissen mit ihrer Kommentierung im Internet keinerlei Grenzen kennt. Es ist nicht unüblich, dass Auftritte in Talkshows oder sogar Plenardebatten synchron aus dem Parlament online kommentiert und kritisiert werden. Das Gefühl, als notwendigerweise transparente Person Akteur in einem permanenten, hektischen Kommunikationsprozess zu sein, wirkt auf die Rolle des Abgeordneten und auf sein Selbstverständnis ein. Er steht unter permanenten Kommunikations- und Zugzwang. Die Kommunikation von Hoheitsträgern in sozialen Netzwerken unterliegt – wie die anderen Erscheinungsformen staatlichen Informationshandelns – rechtlichen Grenzen,29 die sich aus dem Grundgesetz ergeben und inzwischen vielfach verfassungsgerichtlich konkretisiert wurden.30 Die sich hieraus ergebenden verfassungsrechtlichen Grenzen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit sind allerdings auf Hoheitsträger mit Regierungsverantwortung zugeschnitten. Die Bundesregierung ist zu aktiver Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation ermächtigt, weil eine 29 Siehe dazu Harding, Grenzen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Netzwerken, im Erscheinen. 30 Vgl. nur BVerfGE 105, 252; 105, 279; 138, 102; 140, 225; 148, 11; 154, 320.
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„verantwortliche Teilhabe der Bürger an der politischen Willensbildung des Volkes [voraussetzt], daß der Einzelne von den zu entscheidenden Sachfragen, von den durch die verfaßten Staatsorgane getroffenen Entscheidungen, Maßnahmen und Lösungsvorschlägen genügend weiß, um sie beurteilen, billigen oder verwerfen zu können“.31 Regierungsamtliches Informationshandeln ist daher zulässig, sofern es der Darlegung und Erläuterung aktueller und zukünftiger Politik, unpopulärer Maßnahmen oder allgemeinverständlicher Informationen über Gesetze und Gesetzesvorhaben diene.32 Die juristische Analyse des Informationshandelns von Abgeordneten führt hingegen bisher ein Schattendasein und wird durch die ambivalente Rechtsstellung des einzelnen Abgeordneten erschwert.33 Sicherlich übt der einzelne Abgeordnete mit einer Äußerung keine Hoheitsgewalt in dem Sinne aus, der es erlauben würde, die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Gründe und Grenzen für staatliches Informationshandeln und staatliche Kommunikation auf die Abgeordneten zu übertragen.34 Der Abgeordnete unterliegt gegenüber dem von ihm repräsentierten Volk einer politischen Rechenschaftspflicht, der er nur durch Information und Kommunikation nachkommen kann. Informations- und Kommunikationsbefugnisse sind somit notwendige Elemente seiner rechtlichen Befugnisse. Das Bundesverfassungsgericht geht dementsprechend davon aus, dass Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG eine „von staatlicher Beeinflussung freie Kommunikationsbeziehung zwischen dem Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern“ begründet, deren Existenzberechtigung über Art. 28 Abs. 1 GG auch auf die Rechtsstellung der Abgeordneten in den Volksvertretungen der Länder erstreckt wird.35 Anders als der staatliche Funktionsträger mit Regierungsverantwortung ist der einzelne Abgeordnete bei seiner Kommunikation nicht auf ausdrückliche Kompetenzzuweisungen durch das Grundgesetz oder ein-
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BVerfGE 44, 125 (147). BVerfGE 44, 125 (147). 33 Wiefelspütz, in: Morlok/Schliesky/Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 12 Rn. 3. 34 Für die Bundestagsfraktionen vgl. Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags, Ausarbeitung WD 3 – 362/06. 35 BVerfGE 14, 141 (170 f.). 32
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fachgesetzliche Rechtsnormen angewiesen,36 so dass seine Kommunikationsbefugnis auch nicht etwa in kompetenzieller Hinsicht begrenzt ist. Der Gewährleistungsgehalt des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG erstreckt sich auf das gesamte politische Verhalten des Abgeordneten. Eine Differenzierung zwischen dem Parlamentarier, dem Parteipolitiker und der Privatperson ist hinsichtlich der ausgeübten Befugnisse nicht möglich.37 Die konkrete Wahrnehmung seines freien Mandats unterliegt nur dem Gewissen des Amtsinhabers, auch wenn es praktisch von parteipolitischen Loyalitäten, der Fraktionsdisziplin und der Mitgliedschaft in Ausschüssen geprägt ist.38 Auch unterliegen die Abgeordneten nicht der Pflicht staatlicher Funktionsträgern zu politischer Neutralität, Zurückhaltung und Sachlichkeit, die das staatliche Äußerungsrecht erheblich prägen und begrenzen.39 Dessen Regeln untersagen es Hoheitsträgern in ihrer Funktion als Amtsinhaber grundsätzlich parteipolitisch Stellung zu beziehen. Da der einzelne Abgeordnete allerdings ausdrücklich als parteipolitischer Vertreter gewählt ist, fällt er nicht in den Anwendungsbereich der politischen Neutralitätspflicht.40 Auch das Sachlichkeitsgebot, das staatliche Funktionsträger der Exekutive – und auch der Judikative41 – dazu zwingt, auf überspitzte und polemische Aussagen zu verzichten, ist auf das Kommunikationsverhalten der Abgeordneten nicht anwendbar.42 Die Kommunikation der Abgeordneten als Ausdruck der effektiven und verfassungsrechtlich geschützten Kommunikationsbeziehung des Abgeordneten zu dem Wahlvolk kann sich naturgemäß auch in sozialen Netzwerken entfalten, die zunehmend an die Stelle herkömmlicher aktiver Öffentlichkeitsarbeit treten. 36 Vgl. dazu Harding, Grenzen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Netzwerken, im Erscheinen, S. 105 ff. 37 BVerfGE 134, 141 (174). 38 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Band II, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 38 Rn. 151 m.w.N. 39 Vgl. dazu Harding, Grenzen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Netzwerken, im Erscheinen, S. 290 ff. 40 Nellesen, Äußerungsrechte staatlicher Funktionsträger, 2019, S. 68; vgl. auch Growe, Das Regierungsmitglied im parteipolitischen Diskurs, 2021, S. 137; S. 146 f. 41 Vgl. dazu Lorz, NJW 2005, S. 2657 (2658 ff.). 42 Growe, Das Regierungsmitglied im parteipolitischen Diskurs, 2021, S. 137 f.
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Die Eingriffswirkung von Information durch und Kommunikation von Hoheitsträgern mit Regierungsverantwortung intensiviert sich in sozialen Netzwerken aufgrund von deren kaum beherrschbarer Reichweite und mangelnder Rückholbarkeit der getätigten Äußerung;43 hingegen wirkt sich der Rückgriff auf diese Kommunikationsformate für Abgeordnete nicht verschärfend aus. Die sozialen Netzwerke verstärken die Wechselseitigkeit der Kommunikation, in der nicht selten eine Verrohung des allgemeinen Kommunikationsverhaltens deutlich wird. Erst kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht den Schutz des Persönlichkeitsrechts von Abgeordneten verstärkt. Eine Politikerin, die mit höchst abfälligen Äußerungen in einem sozialen Netzwerk konfrontiert wurde, verlangte von dem Netzwerk die Bestandsdaten der Urheber dieser Äußerungen, unterlag indes vor den Instanzgerichten zum Teil. Hierin sah das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Politikerin (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Zwar sind die Grenzen der zulässigen Kritik an Politikern weiter als bei Privatpersonen, da sich Politiker anders als Letztere bewusst in die Öffentlichkeit begeben.44 Dies bedeutet aber nicht, dass Abgeordnete Beschimpfungen unterhalb der Grenze der Schmähkritik stets hinzunehmen haben. Vielmehr ist zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Meinungsfreiheit eine Abwägung im Einzelfall vorzunehmen, deren Ergebnis verfassungsrechtlich nicht vorgegeben ist und in deren Rahmen „insbesondere Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten“ zu berücksichtigen sind.45 Dabei verstärkt das öffentliche Interesse an dem wirksamen Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern das Gewicht dieser Rechte in der Abwägung: „Denn eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejeni-
43 Harding, Grenzen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Netzwerken, im Erscheinen, S. 166 ff. 44 BVerfG, NJW 2022, S. 680 Rn. 33 unter Hinweis auf EGMR, Lingens vs. Austria, Urt. v. 8. 7. 1986, Nr. 9815/82, § 42. 45 BVerfG, NJW 2022, S. 680 Rn. 30.
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gen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist.“46 IV. Die Rolle des Abgeordneten im Mehrebenenparlamentarismus Eine verfassungsrechtlich angelegte (vgl. die Präambel und Art. 23 GG) Rahmenbedingung der Tätigkeit von Parlament und Abgeordneten stellt die Beschränkung des nationalen gesetzgeberischen Aktionsradius durch die Verlagerungen von Kompetenzen auf supra- oder internationale Ebene und damit die Entstehung einer Mehrebenendemokratie dar. Dieser Begriff beschreibt den Umstand, dass vor allem die in Rechtsnormen gegossenen Entscheidungen eines Parlaments in ein typischerweise hierarchisch geordnetes System verschiedener Ebenen der organisierten Staatlichkeit und darüber hinaus eingebunden sind. So teilt sich der Bundestag seit jeher die staatlichen Gesetzgebungskompetenzen mit den Parlamenten der Länder. Die Regelung von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft obliegt zuvörderst den kommunalen Vertretungskörperschaften, die indes nur in der Umgangssprache „Parlamente“ sind. Auf deren Befugnisse dürfen die Gesetzgeber von Bund und Ländern nur im Rahmen des der Selbstverwaltungsgarantie beigegebenen Gesetzesvorbehalt zugreifen ohne den Kern der kommunalen Selbstverwaltung auszuhöhlen. Die sich aus dieser innerstaatlichen Tektonik ergebenden Reibungen und Übergriffe gehören zu den zentralen Themen des deutschen Verfassungsrechts aller neueren Epochen. Über diese Innensicht hat sich mit der europäischen Integration eine Außenperspektive geschoben, deren Auswirkungen seit der Entscheidung des EuGH in Sachen Costa/ ENEL47 im Jahre 1964 den Schirm mitgliedsstaatlicher Souveränität durchdringen. Während das Bundesverfassungsgericht bis heute mit Blick auf die Regelungen in völkerrechtlichen Verträgen eine Abweichungsbefugnis des Bundesgesetzgebers betont48 – dessen Handlungsbefugnisse als nicht eingeschränkt sieht, gilt dies bekanntlich nicht für die 46
BVerfG, NJW 2022, S. 680 Rn. 35, auch zum Vorstehenden. EuGH, Urt. v. 15. 7. 1964 – Rs. 6/64, Slg. 1964, S. 1259. 48 BVerfGE 131, 152 (159). 47
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Vorschriften des Unionsrechts, die – zumindest in gewissen Grenzen49 – aufgrund ihres Anwendungsvorrangs die Handlungsoptionen der mitgliedstaatlichen Gesetzgeber beträchtlich einschränken. Die aktive Beteiligung auch des Bundestages und der Bundestagsabgeordneten an der europäischen Integration ist spätestens seit der Neuformulierung von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG im Jahr 1992 Verfassungsauftrag – auch wenn der Bundestag immer noch selbst entscheidet, welche Kompetenzen er an die supranationale Ebene abgibt. Insgesamt ist aber inzwischen ein signifikanter Teil der gesetzgeberischen Gestaltungsmöglichkeiten von den Mitgliedsstaaten auf die Ebene der EU übergegangen. Sie sind dem Zugriff der unmittelbar demokratisch legitimierten Abgeordneten entzogen. Dem hierdurch verursachten Bedeutungsverlust des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers, der in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik die Parlamente der Länder noch härter trifft, wird im Mehrebenensystem der EU auf unterschiedliche Weise durch Europäisches Recht, sowie auch durch nationales Recht begegnet. Zunächst sind die parlamentarischen Strukturen der europäischen mit denen der deutschen Ebene synchronisiert. Die Arbeitsweise der EU „beruht“ ebenfalls auf der repräsentativen Demokratie (Art. 10 Abs. 1 EUV): Die europäischen „Bürgerinnen und Bürger sind […] unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten“. Das Europäische Parlament als das dem Bundestag funktionale Äquivalent auf Unionsebene wurde in den letzten Jahrzehnten immer weiter in seinen Kompetenzen gestärkt.50 Ähnlich wie unter dem Grundgesetz treten die in Art. 11 EUV, v. a. in dessen Abs. 4 genannten direkt-demokratischen Instrumente nur ergänzend zu dem repräsentativen Entscheidungsmodus hinzu.51 Diese für den Mehrebenenparlamentarismus typischen Wanderungsbewegungen entziehen aber nicht nur Gestaltungsmacht, sondern sie wer49
Dazu BVerfGE 129, 124 ff. (EZB Anleihenkäufe). Von Arnauld, in: von Arnauld/Hufen (Hrsg.), Lissabon Begleitgesetze, 2. Aufl. 2018, § 2 Rn. 16 ff. 51 Zu den Gründen: von Arnauld, in: von Arnauld/Hufen (Hrsg.), Lissabon Begleitgesetze, 2. Aufl. 2018, § 2 Rn. 15. 50
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den zumeist teilweise auch durch Beteiligungsrechte an höherstufigen Entscheidungen kompensiert. So wurden die nationalen Institutionen durch Einbeziehung in die europapolitischen Gestaltungsaufgaben sowohl im Verfassungs- wie auch im Unionsrecht gestärkt.52 Das Unionsrecht selbst bezieht in Art. 12 EUV die nationalen Parlamente durch Einräumung verschiedener Befugnisse, insbesondere mit der Übertragung der Subsidiaritätskontrolle in die europäische Aufgabenerfüllung mit ein. Nach Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV gilt für die Ausübung der Kompetenzen der EU das Subsidiaritätsprinzip. Über dessen Einhaltung wachen nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit53 die nationalen Parlamente, die bekanntlich von Subsidiaritätsverletzungen seitens der EU besonders beeinträchtigt sind.54 Wegen eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip können die nationalen Parlamente gegen den Entwurf eines EU-Gesetzgebungsaktes Subsidiaritätsrüge nach Art. 6 und 7 des Protokolls, gegen einen EU-Gesetzgebungsakt Subsidiaritätsklage vor dem EuGH nach Art. 8 Abs. 1 des Protokolls i.V.m. Art. 263 AEUV erheben. Neben die Subsidiaritätskontrolle treten weitere Beteiligungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente auf EU-Ebene, zum einen in Form direkter Stellungnahmen an die EU-Kommission im Rahmen des „Politischen Dialogs“, zum anderen im Rahmen der praktisch allerdings nur begrenzt einflussreichen „Konferenz der Europa-Ausschüsse“ (COSAC).55 Mit der Interparlamentarischen Konferenz über Stabilität, wirtschaftspolitische Koordinierung und Steuerung in der Europäischen Union sowie der Interparlamentarischen Konferenz über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik wurden „im Geiste der gestärkten Rolle der
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Von Arnauld, in: von Arnauld/Hufen (Hrsg.), Lissabon Begleitgesetze, 2. Aufl. 2018, § 2 Rn. 14. 53 ABl. EU 2007, C 306/150. 54 Mayer, in: Morlok/Schliesky/Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 43 Rn. 234. 55 Näher zu beiden Beteiligungsmöglichkeiten Sensburg, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 44 Rn. 70 ff.
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nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten“56 weitere Foren für den Meinungs- und Erfahrungsaustausch geschaffen. Aus der Perspektive des Grundgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht die Integrationsverantwortung des Bundestages gestärkt.57 Das Grundgesetz hat auf die unionsrechtlich vorgesehene Subsidiaritätskontrolle mit dem neuen Art. 23 Abs. 1a GG reagiert. Demnach hat der Bundestag das Recht und – im Interesse des Minderheitenschutzes58 – auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, Subsidiaritätsklage zu erheben. Indem diese Klagemöglichkeit die demokratische Legitimation der europäischen Integration sichert und verstärkt, ist sie Bestandteil der Integrationsverantwortung des Bundestags.59 Die Einzelheiten zu Subsidiaritätsrüge und -klage regeln die §§ 11 f. IntVG. Auch über den neueren Art. 23 Abs. 1a GG hinaus ist Art. 23 GG Ausdruck einer kompensierenden Einbindung der nationalen Parlamente in den Integrationsprozess.60 Die Unterrichtungspflicht der Bundesregierung aus Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG soll den Bundestag in die Lage versetzten, sein Mitwirkungsrecht aus Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG wahrzunehmen und so frühzeitig auf die politische Willensbildung der Bundesregierung Einfluss nehmen zu können.61 Die Stellungnahmen des Bundestages zu EU-Rechtsetzungsakten gemäß Art. 23 Abs. 3 GG gehen mit einer Berücksichtigungspflicht der Bundesregierung einher. Ist die Stellungnahme in wesentlichen Belangen nicht durchsetzbar, legt die Bundesregierung gemäß § 8 Abs. 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG) einen Parlamentsvorbehalt im Rat ein. Die flankierenden Be56
Geschäftsordnung der Interparlamentarischen Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Präambel. 57 BVerfGE 123, 267 (353 ff.).; siehe dazu von Arnauld, in: von Arnauld/Hufen (Hrsg.), Lissabon Begleitgesetze, 2. Aufl. 2018, § 2 Rn. 9 ff. 58 Hierzu Mayer, in: Morlok/Schliesky/Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 43 Rn. 236 ff.; Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Band II, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 23 Rn. 61. 59 Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Band II, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 23 Rn. 15, 58. 60 BVerfGE 131, 152 (197). 61 BVerfGE 131, 152 (202).
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richts- und Konsultationspflichten der § 8 Abs. 4 EUZBBG sowie die Möglichkeit der Herbeiführung einer Parlamentsdebatte gemäß § 8 Abs. 5 EUZBBG verleihen den rechtlich nicht bindenden Stellungnahmen politisches Gewicht.62 Ausdruck einer Reparlamentarisierung ist auch das Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMFinG), welches durch Beteiligungsrechte die Budgetverantwortung des Bundestages sichert.63 Angesichts des deutschen Anteils am ESMStammkapital und des Parlamentsvorbehaltes in § 4 Abs. 1 ESMFinG führt dies zu einer mittelbaren Vetoposition des Deutschen Bundestages für Entscheidungen im Europäischen Stabilitätsmechanismus.64 Auch im Bereich der Innen- und Justizpolitik geht Art. 12 lit. c EUV über eine Unterrichtung hinaus. An der Bewertung der Tätigkeit von Eurojust sollen die nationalen Parlamente nach Art. 85 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV beteiligt werden, während Art. 88 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV die Beteiligung der nationalen Parlamente an der Kontrolle Europols vorsieht. Abgeordnete des Deutschen Bundestages nehmen dies als Mitglieder des Gemeinsamen Parlamentarischen Kontrollgremiums für Europol wahr.65 Die Bundesrepublik ist auch jenseits der EU in – im Vergleich zu dieser weniger intensiv integrierten – internationale Organisationen eingebunden. Obschon das Handeln auf der internationalen Ebene eine Domäne der Regierung ist, sind aber die Abgeordneten des Bundestags auch hier bei der Aufgabenerfüllung durch die Mitgliedschaft in Parlamentarischen Versammlungen beteiligt, die ein wichtiges Instrument zur Parlamentarisierung internationaler Organisationen bil62 Zur Bindungswirkung m.w.N. Brand, Europapolitische Kommunikation zwischen Bundestag und Bundesrat, 2015, S. 106 ff.; Schorkopf, in: Bonner Kommentar, 211. Akt. April 2021, Art. 23 GG Rn. 240; Saberzadeh, in: von Arnauld/Hufen (Hrsg.), Lissabon Begleitgesetze, 2. Aufl. 2018, § 13 Rn. 76; kritisch zur bisherigen Ausgestaltung Puhl in: HBStR III, § 48 Rn. 15. 63 Peterek, in: von Arnauld/Hufen (Hrsg.), Lissabon Begleitgesetze, 2. Aufl. 2018, § 18 Rn. 7; zur Budgetverantwortung BVerfGE 129, 124 (179); Hufeld, in: Meyer (Hrsg.), Die Zukunft der Währungsunion, 2012, S. 135 (143); Schorkopf, in: Bonner Kommentar, 211. Akt. April 2021, Art. 23 GG Rn. 63. 64 Schorkopf, in: Bonner Kommentar, 211. Akt. April 2021, Art. 23 GG Rn. 248; Peterek, in: von Arnauld/Hufen (Hrsg.), Lissabon Begleitgesetze, 2. Aufl. 2018, § 18 Rn. 14. 65 Von Arnauld, in: von Arnauld/Hufen (Hrsg.), Lissabon Begleitgesetze, 2. Aufl. 2018, § 2 Rn. 25.
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den.66 Praktisch bedeutsam sind insbesondere die Parlamentarischen Versammlungen des Europarates, der NATO und der OSZE.67 Diese sog. „Ebenenparlamentarisierung zweiter Ordnung“ wird zwiespältig bewertet: Einerseits seien die Parlamentarischen Versammlungen weder hinsichtlich ihrer Kompetenzen noch hinsichtlich ihrer demokratischen Legitimation mit echten Parlamenten vergleichbar; andererseits könnten sie vor allem als beratende Organe hilfreiche Dienste bei der politischen Kompromissfindung auf der jeweiligen Ebene leisten.68 Existenz dieser Institutionen sind im Konzert mit der Entwicklung kompensierender Befugnisse auf nationaler Ebene Belege für die Wandlung der Abgeordnetenrolle, die durch Europäisierung und Globalisierung angestoßen wurde: Die Entscheidungskompetenz des einzelnen Abgeordneten geht nicht mehr nur in der Gesamtheit aller Abgeordneten des jeweiligen Parlaments auf, sondern die Mediatisierung reicht eine Stufe weiter. Das Parlament wird vom Entscheider zum Mitentscheider, vom Kontrolleur der Regierung zum Kontrolleur der Regierungen. V. Die Rolle des Abgeordneten zwischen Machtverlust und Kompensation Trotz aller Ansatzpunkte für eine kritische Diskussion erhellen doch die Phänomene, die eine Krise des Parlamentarismus verdeutlichen sollen, lediglich, dass sich mit den Aufgaben des Staats und den an ihn gerichteten gesellschaftlichen Ansprüchen auch die Rollen von Parlament und Abgeordneten vergrößert und gewandelt haben. Repräsentation entfaltet sich in einem verfassungsrechtlich geformten und durch politische wie gesellschaftliche Realitäten beeinflussten Umfeld. All jene Faktoren, die die staatliche Einflussnahme auf gesellschaftliche Prozesse und Strukturen erschweren, schlagen unmittelbar auf die Rolle der Abgeordneten und deren Gestaltungsmacht durch. 66
Ruffert, in: Morlok/Schliesky/Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 42 Rn. 36. 67 Näher zu den einzelnen Versammlungen Ruffert, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 42 Rn. 37 ff. 68 Ruffert, in: Morlok/Schliesky/Wiefelpütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 42 Rn. 44.
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Allerdings sind die zu Entscheidungen führenden Interaktionen in Mehrebenensystemen und Netzwerken oft Ausdruck eines Kompensationsgeschäfts. Wenn Probleme nicht mehr nationalstaatlich zu lösen sind, oder wenn Gestaltung in einer komplexen Gesellschaft nur unter Mitwirkung der Inhaber von politischen oder grundrechtlichen Vetopositionen zu vertretbaren Kosten möglich ist, dann erscheinen doch die hier dargelegten Problemdiagnosen nicht als Restriktion von Freiheit und Unabhängigkeit des Repräsentanten, sondern vielmehr als Ausdruck einer gewandelten Aufgabenwahrnehmung, bei der Ohnmacht gegen Interaktion und Kommunikation in Netzwerken und Mehrebenensystemen eingetauscht wird.
Gemeinwohlinteresse und Amtswürde als Leitplanken eines demokratisch-rechtsstaatlichen Beamtentums Zugleich ein Beitrag zu einem materiellen Republikprinzip und ein Plädoyer für eine Stärkung des Beamtentums Von Sönke E. Schulz I. Einführung „Spätestens dann, wenn das Fehlverhalten eines Amtsträgers einen politischen Skandal auslöst, kommt die Amtswürde in den Blick. Dann merken wir, dass wir jeden Abgeordneten, jeden Minister, jeden Richter, jeden Beamten an einem vorgestellten Modell des guten, seiner Aufgaben und Pflichten bewussten Inhabers eines solchen Amtes messen.“1
Mit diesem Zitat beginnt der Beitrag von Utz Schliesky in der Festschrift für den heutigen Jubilar aus Anlass seines 70. Geburtstages. Die dort angeführten Beispiele (Köhler, Käßmann, zu Guttenberg, StraussKahn) lassen sich über die Jahre, bis hin in die Gegenwart fortschreiben: Neben der unrühmlichen Rolle des Altbundeskanzlers Gerhard Schröder im Kontext des russischen Angriffskrieges in der Ukraine,2 und einer nach der Flutkatastrophe im Sommer 2021 im Familienurlaub weilenden Landesumweltministerin, kommen mir aus meinem Hauptberuf insbesondere auch Landräte und Oberbürgermeister in den 1 Hennis, in: Hesse/Reicke/Scheuner (Hrsg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung: Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag am 15. Januar 1962, 1962, S. 51 (55), zitiert nach Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (311 f.). 2 Lennartz, Was Altkanzler und Republik einander schulden, VerfBlog 4. 5. 2022 (abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/was-altkanzler-und-republikeinander-schulden/).
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Sinn, die ihre Abwahl dem „Vordrängeln“ bei der Corona-Impfung zu verdanken haben. Daher will ich die Gelegenheit nutzen, nicht nur erneut die Amtswürde in Erinnerung zu rufen, sondern diese mit zwei weiteren Merkmalen des republikanischen Staates, nämlich der strikten Gemeinwohlorientierung allen staatlichen Handelns sowie der Institutionsgarantie des Berufsbeamtentums in Beziehung zu setzen. So erscheint das Amt als „höhere, nämlich gemeinwohlbezogene, wertverpflichtete und Würde verleihende Tätigkeit“3, die zwangsläufig von einer natürlichen Person, dem Amtswalter, einem Beamten, wahrgenommen wird, um dem Staat Handlungsfähigkeit – und dem jeweiligen Amt „Würdefähigkeit“ – zu verleihen.4 II. Berufsbeamtentum Das Berufsbeamtentum dürfte unter den Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes diejenige sein, die am häufigsten unter fiskalischen5 oder anderen Gesichtspunkten in die Kritik gerät, sodass eine Vergewisserung über ihre materielle Sicherungsfunktion regelmäßig angezeigt ist, wurden doch Einrichtungsgarantien vom Jubilar Edzard Schmidt-Jortzig zutreffend als die „erkennbar gesteigerten, verfassungsgesetzlichen Fixierungen von bestimmten, rechtlich wie tatsächlich determinierten Faktoren grundlegend und eigengewichtig ordnender Funktion für das verfasste Gemeinwesen“ beschrieben.6 Gemeinwohlorientierung des Staates, das Amtsprinzip und die Entstehung des Berufsbeamtentums sind in ihrer Historie eng miteinander verbunden, aber nicht zwangsläufig zwei Seiten einer Medaille. Die Verwaltung durch Berufsbeamte entstand in allmählicher Abkehr von der zuvor verbreiteten Verwaltung durch Lehnsleute.7 Dabei wirkte der 3
Dreier, Das kirchliche Amt, 1972, S. 136. Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (314); Depenheuer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rn. 1, 3. 5 Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 189 m.w.N. 6 Schmidt-Jortzig, Die Einrichtungsgarantien der Verfassung, 1979, S. 31 f. 7 Ausführlich zur Geschichte des Berufsbeamtentums Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 69 ff. 4
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Treuebegriff des Lehnswesens im Berufsbeamtentum fort,8 allerdings zunächst ohne materiellen Bezugspunkt der Treuepflicht, sondern vielmehr als eine Treue gegenüber dem Monarchen. Erst der aufgeklärt-absolutistische Herrscher Friedrich II. (der Große) war es, der das Gemeinwohl zum Primärziel staatlichen Handelns erhob und sich selbst als ersten Diener des Staates sah. Mit der ersten zusammenfassenden gesetzlichen Regelung des Beamtenberufs im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 wurde dann auch die Treuepflicht vom Herrscher gelöst.9 Seitdem war der Beamte nicht mehr Diener seines Fürsten, sondern Diener des Staates.10 Auch dieser Schritt bewirkte dennoch nicht zwangsläufig die materielle Aufladung der beamtenrechtlichen Treuepflicht – weil diese immer von den Zielen des Staates und seiner (rechtlichen) Verfasstheit abhängig blieb. Auch das Amtsprinzip ließ sich in diesem Sinne mit beliebigen Inhalten aufladen. Dies zeigt die Zeit des Nationalsozialismus deutlich: Der in der Weimarer Republik durch die verfassungsrechtlichen Strukturvorgaben, die über die herrschende Lesart des Art. 33 Abs. 5 GG das deutsche Beamtenrecht bis heute prägen,11 etablierte verfassungsmäßige Schutz der Beamten gegenüber dem Gesetzgeber wurde beseitigt und in der Folge das Beamtenverhältnis in ein besonderes persönliches Treueverhältnis zu Hitler selbst umgestaltet.12 Im grundgesetzlichen Verständnis sind Beamte als Angehörige des öffentlichen Dienstes ein konstitutiver Teil der Staatlichkeit. Ohne den öffentlichen Dienst gäbe es den (modernen) Staat nicht, dieser bliebe eine 8 Krause, Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums, 2008, S. 315. 9 Bäcker, in: Schliesky (Hrsg.), Landesrecht Schleswig-Holstein, 2021, § 9 Rn. 7; siehe auch Thiele, Die Entwicklung des Deutschen Berufsbeamtentums. Preußen als Ausgangspunkt modernen Berufsbeamtentums, 1981, S. 15 ff. 10 2. Teil, 10. Titel ALR, insbesondere §§ 1 und 3: „Militair- und Civilbediente sind vorzüglich bestimmt, die Sicherheit, die gute Ordnung, und den Wohlstand des Staats unterhalten und befördern zu helfen.“; „Ein jeder ist nach der Beschaffenheit seines Amtes, und nach dem Inhalte seiner Instruktion, dem Staate noch zu besondern Diensten durch Eid und Pflicht zugethan.“ 11 Bäcker, in: Schliesky (Hrsg.), Landesrecht Schleswig-Holstein, 2021, § 9 Rn. 9. 12 Ausführlich zum Beamtentum in der NS-Zeit Krause, Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums, 2008, S. 43 ff.; siehe auch Bäcker, in: Schliesky (Hrsg.), Landesrecht Schleswig-Holstein, 2021, § 9 Rn. 11.
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bloße Idee.13 Das Berufsbeamtentum hat die Aufgabe, „im politischen Kräftespiel eine stabile, gesetzestreue Verwaltung zu sichern“14; es steht deswegen als Institution de lege lata nicht zur Disposition der Politik.15 Das Berufsbeamtentum wird auch als „Säule der Rechtsstaatlichkeit“ verstanden.16 Nach Art. 33 Abs. 5 GG sind die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums von unmittelbarer Bedeutung für die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Beamtenrechts.17 Gemeint ist damit der „Kernbestand von Strukturprinzipien […], die allgemein oder doch ganz überwiegend während eines längeren, traditionsbildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar, als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind.“18 Hierzu zählen vor allem die beiden – wechselseitig angelegten19 – Fundamentalprinzipien der Amtshingabe einerseits und des Alimentationsprinzips andererseits.20 Die hergebrachten Grundsätze dienen nicht nur, schon gar nicht primär, der Sicherung der Rechte der Beamten, sondern entfalten insbesondere auch Schutzwirkung für die Funktionsfähigkeit des Staates und sichern so die Wahrung elementarer Staatsstrukturprinzipien, neben rechtsstaatlichen Grundsätzen vor allem auch ein materiell verstandenes Republikprinzip im Sinne einer Gemeinwohlorientierung.
13 Bäcker, in: Schliesky (Hrsg.), Landesrecht Schleswig-Holstein, 2021, § 9 Rn. 18. 14 BVerfGE 99, 300 (315); unter Verweis auf BVerfGE 11, 203 (216 f.); 39, 196 (201); 44, 249 (265). 15 Bäcker, in: Schliesky (Hrsg.), Landesrecht Schleswig-Holstein, 2021, § 9 Rn. 34. 16 Jachmann, ZBR 2000, S. 181 (190); zur Herleitung aus dem Republikprinzip ausführlich Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009. 17 Bäcker, in: Schliesky (Hrsg.), Landesrecht Schleswig-Holstein, 2021, § 9 Rn. 40; zur konkreten normativen Bedeutung ebd., Rn. 46 ff. m.w.N. 18 BVerfGE 107, 218 (337); unter Hinweis auf BVerfGE 8, 332 (343); 70, 69 (79); 83, 89 (98). 19 Lewin-Fries, in: Schmalz u. a. (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht für Schleswig-Holstein, 2002, Rn. 23. 20 Bäcker, in: Schliesky (Hrsg.), Landesrecht Schleswig-Holstein, 2021, § 9 Rn. 44.
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III. Gemeinwohl Betrachtungsgegenstand soll das Berufsbeamtentum der grundgesetzlich verfassten Bundesrepublik Deutschland sein, obwohl sich – dies sei vorweggeschickt – die Gemeinwohlorientierung vorverfassungsrechtlich, als zwingendes Element der Gesellschaftsvertragskonstruktion des Staatswesens, begründen lässt. Die Gemeinwohlausrichtung ist das notwendige Korrektiv zur staatlichen Allzuständigkeit21, auch des vom Grundgesetz konstituierten Staatswesens. Diese Allzuständigkeit wird neben dem Grundsatz der Menschenwürde und einem daraus ableitbaren Verbot des Totalzugriffs auf das gesamte Leben der Bevölkerung22 auch aufgrund der Rechtfertigung der Staatlichkeit als solcher begrenzt.23 Staatszwecken wohnt die Erkenntnis inne, „dass der Staat nicht um seiner selbst willen da ist, er nicht einem wie immer zu definierenden Selbstzweck dient und zu dienen bestimmt ist, sondern vielmehr auf die Verwirklichung bestimmter Inhalte verpflichtet ist“.24 Die moderne Staatsbildung basiert weiterhin auf dem gedanklichen Konstrukt25 eines Gesellschaftsvertrags, bei dem selbstbestimmte Individuen den Naturzustand – unabhängig davon, wie dieser konstruiert wird – 21 Vgl. Isensee, in: Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 73 Rn. 55; Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 760 f. Grundlegend auch Mayer, AöR 3 (1888), S. 1 (30): „Unser Staat vermag rechtlich schlechthin Alles.“; Thoma, JöR 4 (1905), S. 196 (201): „formelle Allmacht einer höchsten staatlichen Instanz“; dagegen offensichtlich Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 25 Rn. 25. Die Einschätzung von Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001, S. 47 Fn. 142, dass „ein auf inhaltliche Zwecke nicht festgelegter Staat […] damit in letzter Konsequenz auch als Selbstzweck erscheinen“ könnte, wird nicht geteilt, da mit der Gemeinwohlorientierung ein Korrektiv bereitsteht, das die Allzuständigkeit entsprechend eingrenzt. 22 Dazu Schulz, Die Verwaltungsaufgabe, Manuskript, S. 520 ff. (5. Teil, 2. Kapitel, B. II.). 23 Demgegenüber wird die staatliche Allzuständigkeit nicht von einem allgemeinen, staatstheoretisch oder verfassungsrechtlich begründeten Subsidiaritätsprinzips begrenzt; ausführlich Schulz, Die Verwaltungsaufgabe, Manuskript, S. 524 ff. (5. Teil, 2. Kapitel, B. IV.). 24 Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 25 Rn. 12; zum Staat als „Selbstzweck“ Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 56 ff. 25 Zur Einordnung der Vertragstheorien als „Gedankenexperiment“ statt vieler Höffe, Gerechtigkeit: Eine philosophische Einführung, 5. Aufl. 2015, S. 63.
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durch eine Übereinkunft überwinden und so den Gesellschaftszustand (Staat) erreichen.26 Geht man mit Immanuel Kant von der Vernunft der Individuen aus,27 erscheint dieser Vorgang zwar einerseits geeignet, die Allzuständigkeit des Staates als notwendiges Mittel zur Überwindung des Naturzustandes zu begründen, andererseits trägt er eine Begrenzung in sich. Die vertragliche Einwilligung steht unter dem Vorbehalt, dass das geschaffene staatliche Gebilde die Interessen der Gemeinschaft der (vertragschließenden) Individuen verfolgt und nicht Partikular- oder Individualinteressen. Nur unter dieser Prämisse sind vernunftbegabte Individuen bereit, eine staatliche Autorität, die ggf. mit Befehl und Zwang agiert, bei gleichzeitigem Gewaltverzicht in privaten Rechtsverhältnissen, zu akzeptieren und in Form eines Gesellschaftsvertrages zu legitimieren. Dieses Gedankenexperiment begrenzt die staatliche Agenda auf öffentliche Aufgaben. Das öffentliche Interesse stellt einen Bezug zum Gemeinwohl her; öffentliche Aufgaben sind Gemeinwohlaufgaben.28 Die Idee des Gemeinwohls prägt alle Epochen der europäischen Geschichte und alle Staaten der Gegenwart.29 „Sie geht jeder möglichen
26 In der Konzeption des Naturzustandes liegt der wesentliche Unterschied zwischen den Erklärungsansätzen von Thomas Hobbes, der vom bellum omnium contra omnes ausgeht (Leviathan, 1651, I/13), und von Jean-Jacques Rousseau, der ein positives Bild vom Menschen zeichnet. Vgl. zum Gesellschaftsvertrag bei Rousseau statt vieler die Beiträge in: Brand/Herb (Hrsg.), Vom Gesellschaftsvertrag, 2. Aufl. 2012; zur Konzeption Hobbes Meinken, ARSP 86 (2000), S. 455 ff. 27 Zum Menschenbild bei Immanuel Kant statt vieler Brand, in: an der Heiden/Schneider (Hrsg.), Hat der Mensch einen freien Willen?, 2007, S. 199 ff. 28 Bull, Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl. 1977, S. 50; SchmidtAßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kapitel 3 Rn. 79. 29 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 1. Vgl. zum Gemeinwohl umfassend die Beiträge in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz, 2002; Münkler/Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn: Rhetoriken und Perspektiven sozial-moralischer Orientierung, 2002; Münkler/Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn: Zwischen Normativität und Faktizität, 2002; s. auch Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, 2006, S. 5 ff. Zur Schaffung von Gemeinwohlwert (public value) als Maßstab des Handelns öffentlicher Institutionen Meynhardt, dms 1 (2008), S. 457 ff.; zu diesem Konzept allgemein Moore, Creating Public Value, 1995.
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Verfassung voraus.“30 Dies erscheint vor allem konsequent, wenn man die Allzuständigkeit ihrerseits vorverfassungsrechtlich konstruiert. Es handelt sich um eine immanente Grenze, die im Wege der Verfassungsgebung nicht beseitigt, aber um weitere Einschränkungen der staatlichen Allzuständigkeit ergänzt werden kann. 1. Staatstheoretischer Hintergrund und Verortung Neben dem Erklärungsansatz der Gemeinwohlorientierung als Teil des Gesellschaftsvertrages und als notwendiges Äquivalent zur Allzuständigkeit lässt sie sich aus dem republikanischen (und dem demokratischen) Prinzip ableiten – unabhängig davon, ob man seine explizite verfassungsrechtliche Verankerung in Art. 20 GG zum Ausgangspunkt nimmt oder allgemeine Rechtsgrundsätze. Das Ethos des Gemeinwohls geht zurück auf die griechisch-römische Antike.31 Aristoteles unterscheidet die gute und die verderbte Verfassung des Staates ausgehend vom Gemeinwohl, „danach, ob die jeweiligen Machthaber den allgemeinen Nutzen oder den eigenen Vorteil im Blick haben.“32 Von dieser Unterscheidung hängt nach Cicero Sein oder Nichtsein der res publica ab.33 Die legitime Staatlichkeit formiere sich über das Gemeinwohl.34 Damit rückt das republikanische Prinzip (keinesfalls reduziert auf eine Absage an die Monarchie) 35 in den Fokus der Betrachtung: „Alle öffentliche Gewalt ist auf die Gemeinschaft, auf das gemeine Wesen (res publica) 30
Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 1; vgl. auch ebd., Rn. 63: „Das Gemeinwohl liegt der geschriebenen Verfassung voraus.“ 31 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 22; Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 59 f. 32 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 22; siehe Aristoteles, Politik, III S. 6, 7.; vgl. von Aquin, De regno I, 3. 33 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 22. 34 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 22. 35 So aber die herrschende Auffassung zur verfassungsrechtlichen Aussage des Art. 20 Abs. 1 GG; vgl. Schulz, Änderungsfeste Grundrechte, 2008, S. 157 f. m.w.N.; siehe vor allem Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Republik) Rn. 20 ff. m.w.N.
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zurückzuführen. Das republikanische Prinzip […] fordert vom Staat, jede Tätigkeit nach dem Gemeinwohl auszurichten.“36 Das Gemeinwohlethos bildet die bleibende Substanz eines materialen Verständnisses des Prinzips der Republik.37 „Res publica wird konstituiert durch das Herrschaftsziel, nicht durch den Herrschaftsträger. Sie ist treuhänderischer Dienst: Herrschaft für das Volk“, nicht notwendigerweise durch das Volk.38 Die Gemeinwohlausrichtung der Staatsgewalt wird zum Teil ebenfalls oder ausschließlich dem demokratischen Prinzip zugerechnet.39 Folge ist, „daß die begriffliche Unterscheidung zwischen Staatsform und Staatsziel, Träger und Ethos der Staatsgewalt verschwindet.“40 Hintergrund ist der Ansatz einer Legitimation aus Kompetenz von Thomas Hobbes41, der von Niklas Luhmann aufgenommen wird und eine Fortsetzung in der Legitimation durch Verfahren findet. Das Verfahren als wirkliches Geschehen suche nicht nach vorgegebener Wahrheit, sondern 36
Kirchhof, AöR 132 (2007), S. 215 (235). Vgl. Isensee, JZ 1981, S. 1 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1995, Rn. 120 f.; vgl. auch Schliesky, SchlHA 2014, S. 86 (90); Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 14; Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, 2006, S. 677; Kotzur, in: von Münch/Kunig (Begr.), GG, 7. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 39 ff.; Growe, Das Regierungsmitglied im parteipolitischen Diskurs, 2020, S. 25 ff.; Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 62 f. Zu weitgehende Ableitungen aus einem materiellen Verständnis des republikanischen Prinzips finden sich bei Frankenberg, Die Verfassung der Republik, 1996, S. 121 ff., 213, und Schachtschneider, Res publica res populi, 1994. Kritik dazu bei Huster, Der Staat 34 (1995), S. 606 ff.; Gröschner, JZ 1996, S. 637 ff.; Roellecke, Der Staat 36 (1997), S. 149 ff. 38 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 22 – Hervorhebung im Original. 39 Dazu von Arnim, in: von Armin/Sommermann (Hrsg.), Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, 2004, S. 63 (69 f.) m.w.N.; ablehnend Growe, Das Regierungsmitglied im parteipolitischen Diskurs, 2020, S. 25 ff.; Hillgruber, AöR 127 (2002), S. 460 (467). 40 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 23. 41 Vgl. Hobbes, De Cive, 1642, Cap. 14; Hobbes, Leviathan, 1651, II/26: „authoritas, non veritas facit legem“; dazu Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 92; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 109. 37
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erzeuge seine eigene, formelle Wahrheit, auf die sich die Beteiligten einrichteten.42 2. Inhaltliche Konkretisierung Die Meinungsverschiedenheiten über die Verortung des Gemeinwohls im Republik- oder im Demokratieprinzip beschreiben zugleich die Trennlinie zwischen einer rein formalen Bestimmung des Inhalts und einer materiellen Definition. Mit der Anerkennung der Begrenzung der zulässigen staatlichen Agenden durch das Gemeinwohl ist nämlich zwangsläufig die Frage nach einer inhaltlichen Konkretisierung aufgeworfen. Das begriffliche Erscheinungsbild des Gemeinwohls ist „unvermeidlich von hoher Abstraktheit. Doch die weitgehende Abstinenz von konkreten Aussagen ermöglicht Universalität, erleichtert Akzeptanz und erzeugt werbende Kraft.“43 Das Gemeinwohl verkörpert die Idee vom guten Zustand des Gemeinwesens und vom Gedeihen aller seiner Glieder: „die Idee des bene beateque vivere.“44 Darin liegt das allgemeinste Leitbild der Staatlichkeit und zugleich, wie dargestellt, ihr Legitimationsgrund.45 „Das Gemeinwohl unterscheidet sich von den besonderen, inhaltlich umschriebenen Staatszielen […], desgleichen von den konkreten Staatsaufgaben […].“46 Es ist Staatszweck und Staatsziel zugleich.47 Konkrete Gestalt nimmt die Idee des Gemeinwohls aber erst im individuellen Staatsverband an: „über seine Bevölkerung, seinen Standort im Pluriversum der Staatenwelt, über seine Geschichte und Zukunftsperspektiven, über seine realen Lebensbedingungen und seine
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Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 33 ff. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 3; ausführlich zum Inhalt Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 94 ff. 44 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 2. 45 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 2. 46 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 2. 47 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 11. 43
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Bedürfnisse und Ressourcen, über seine Kultur und seine Rechtsstrukturen, nicht zuletzt über seine Verfassung.“48 Schon klassisch ist daher die Aussage, das Gemeinwohl sei nicht vor-, sondern aufgegeben,49 sodass es unbestritten einer Konkretisierung des übergeordneten Prinzips – einer Operationalisierung durch eine Vielzahl konkreter Staatsziele und Staatsaufgaben – bedarf. „In seiner Beziehung auf das Leben des Gemeinwesens, in seiner Komplexität und im Wandel seiner Bedürfnisse und Herausforderungen läßt sich das Gemeinwohl nicht abschließend und nicht endgültig definieren. Es ist offen in der Sache und offen in der Zeit.“50 Ob diese Konkretisierung allein verfahrenstechnisch gesteuert wird oder ob ein materieller Richtpunkt existiert, wird hingegen unterschiedlich beurteilt. So werden verschiedentlich Einwände gegen ein materiell verstandenes Gemeinwohlprinzip erhoben und stattdessen auf den demokratischen Prozess verwiesen, der das Gemeinwohl hervorbringe und konkretisiere.51 Als Gemeinwohl gelte, „was im verfassungsrechtlich organisierten, kanalisierten und als freiheitlich gewährleisteten Willensbildungsprozeß als solches beschlossen wird.“52 Diese Ansicht ist abzulehnen. Die Gemein48
Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 6. Das Wechselverhältnis zwischen Realbedingungen des Rechts und der Auslegung von (Verfassung-)Recht ist anerkannt. Vgl. BVerfGE 125, 175 (232): „Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht […] zu erfassen“; dazu Schulz, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 17 (41 ff.); allg. zum Verfassungswandel Becker, in: Hill/ Schliesky (Hrsg.), Innovationen im und durch Recht, 2010, S. 57 ff. 49 Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999; S. 51; vgl. Isensee, Gemeinwohl und öffentliches Amt, 2014, S. 69; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Republik) Rn. 22: „das Gemeinwohl ist im demokratischen Verfassungsstaat nicht fixe und vorgegebene Größe, sondern Produkt des pluralen, nicht interessefreien Prozesses politischer Willensbildung“. 50 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 9. 51 Zum offenen Gemeinwohlbegriff Dreier, AöR 113 (1988), S. 450 (457, 460, 466 f.); Engel, Rechtstheorie 32 (2001), S. 23 (25 ff.); Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2. Aufl. 2006, S. 60, 208 ff., 499 ff., 709 f., 771; Schuppert, in: Münkler/Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn: Rhetoriken und Perspektiven sozial-moralischer Orientierung, 2002, S. 67 (74 f.). 52 Schuppert, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz, 2002, S. 19 (26 f.); ausführlich Engel, Rechtstheorie 32 (2001),
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wohlorientierung würde so ihre Maßstabswirkung verlieren und böte keinen Mehrwert gegenüber dem demokratischen Prinzip als solchem, welches bereits ein bestimmtes Verfahren der Entscheidungsfindung vorgibt.53 Ansonsten genügten Richtigkeit der Kompetenz und des Verfahrens, um staatliches Handeln als inhaltlich richtig aus- und das Gütesiegel des bonum commune zuzuweisen.54 „Doch wenn jedwedes Produkt der Demokratie gemeinwohlgerecht ist, verliert das Gemeinwohl jede eigenständige Bedeutung als Direktive und als Maßstab der Kritik.“55 „Das Verfahren kann der Idee des Gemeinwohls Substanz zuführen. Doch es kann die Substanz nicht ersetzen. Die Idee liegt dem Verfahren voraus.“56 „Auch das fairste Verfahren garantiert nicht die Gemeinwohlgemäßheit seines Ergebnisses. Es gibt keine materielle Richtigkeitsgewähr.“57 „Der prinzipielle Unterschied zwischen dem ,wahren‘ Willen des Volkes und der guten Sache des Volkes bleibt bestehen. Er entspricht dem Unterschied zwischen dem demokratischen Prinzip der Herrschaft durch das Volk und dem republikanischen der Herrschaft für das Volk.“58 Insofern ist die Anbindung des Gemeinwohlprinzips an ein materiell verstandenes Republikprinzip vorzugswürdig. Dem demokratischen Verfahren kommt indizielle Wirkung zu,59 nicht im Sinne einer RichtigS. 23 ff.; zugespitzt Schuppert, in: Schuppert/Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, 2008, S. 13 (28): „Definitionsverbot von Gemeinwohl“. 53 Zu den Anforderungen an eine demokratische Entscheidungsfindung, vor allem zum Mehrheitsprinzip, statt vieler Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Loseblatt-Sammlung, Art. 20 II Rn. 10 ff. 54 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 96. 55 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 96. 56 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 93. 57 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 93. 58 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 105. 59 Die Bedeutung des Verfahrens anerkennend Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 89: „Dieser formelle Ausgleich eines materiellen Defizits ist eine Grundmaxime des modernen Staates“.
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keitsgewähr, sondern im Sinne einer Richtigkeitsvermutung. Nur so lässt sich einer vollständigen Prozeduralisierung und damit „Entsubstantialisierung des Gemeinwohls“ entgegenwirken.60 Materiell lässt sich das Gemeinwohl, bei aller Abstraktheit, vorrangig negativ über den Ausschluss von Partikular- und Individualinteressen61 sowie solchen Aufgaben und Maßnahmen definieren, die den Staat zum Selbstzweck werden ließen. Richtschnur des Handelns ist das Allgemeininteresse, wobei die „Allgemeinheit“ zwei Elemente beinhaltet: „Sie bezeichnet den Personenkreis, auf den sich das Gemeinwohl bezieht, also das Gemeinwesen (subjektive Allgemeinheit), aber auch die Sache, die das ,allgemeine Beste‘ ausmacht (objektive Allgemeinheit).“62 Objektiv bedeutet Gemeinwohl daher die Sache des ganzen Gemeinwesens im Unterschied zu den Sonder- und Eigenbelangen seiner Glieder, sowohl der Individuen als auch der Gruppen.63 In diesem Sinne, und dies zeigt die eigenständige Bedeutung neben dem Demokratieprinzip, handelt es sich um eine materielle Einschränkung des Mehrheitsprinzips und damit eine Stärkung des Minderheitenschutzes. Dieser lässt sich damit ebenfalls sowohl in einen Teilgehalt, der dem Demokratieprinzip zuzuordnen ist, und einen republikanischen Gehalt differenzieren: Während das demokratische Prinzip effektive Teilhabe der Minderheit am Verfahren der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung verlangt,64 folgen aus der Ausrichtung auf die res publica ggf. materielle Begrenzungen der Mehrheitsentscheidung. In der Sprache der lateinischen Klassiker handelt es sich beim Gemeinwohl um „bonum commune im Unterschied zum bonum particulare (bonum proprium), um res publica 60 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 92; zur Prozeduralisierung des Gemeinwohls Häberle, Rechtstheorie 14 (1983), S. 257 ff.; Denninger, KJ 1988, S. 11 (13); Schuppert, in: Schuppert/Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, 2008, S. 13 (27): „Holzweg der Maßstablosigkeit“. 61 Siehe dazu, dass auch Individualinteressen und deren Förderung gemeinwohldienlich sein können, Leisner, DÖV 1970, S. 217 ff.; vgl. auch Isensee, Gemeinwohl und öffentliches Amt, 2014, S. 27 f. 62 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 35. 63 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 36. 64 Dazu statt vieler Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Loseblatt-Sammlung, Art. 20 Abs. 2 Rn. 51 ff.
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im Unterschied zu res privata.“65 „Das Gemeinwohl – letztlich als Synonym zu begreifen für das Wohl der Allgemeinheit, das öffentliche Wohl oder das allgemeine Beste –, auf dessen Verwirklichung die Staatswie die öffentlichen Aufgaben verpflichtet sind, umreißt die Idee vom guten Zustand des Gemeinwesens und vom Gedeihen seiner sämtlichen Glieder.“66 3. Rechtlicher Gehalt Die Gemeinwohlorientierung beschränkt alles staatliche Handeln, vor allem bildet sie ein immanentes Korrektiv zur nicht weitergehend beschränkten Allzuständigkeit des Staates. Sie adressiert alle staatlichen Gewalten und alle Handlungsformen gleichermaßen. Das Gemeinwohl hat legitimatorische Bedeutung „im Verhältnis der Gesamtheit zu den Organen des Verbandes, zwischen Basis und Führung, Regierten und Regierenden.“67 Die Macht, die Staatsorgane ausüben, ist – und hier zeigt sich die enge Verbindung von Gemeinwohlorientierung und Amtswürde – „anvertrautes Gut, [das] sie treuhänderisch im Dienst der Gesamtheit der Mitglieder, nicht aber zum eigenen Vorteil wahrzunehmen haben.“68 Dem Ethos der res publica korrespondiert die Institution eines materiell verstandenen Amtes.69 Macht verwandelt sich in ein Amt und damit in rechtliche und ethische Pflichten.70 Das Amt lässt die Gemeinwohlverpflichtung real und zum Maßstab staatlichen Handelns mit Entscheidungscharakter werden.71 Das Gemeinwohl gibt so Kriterien dafür, „das staatliche Handeln zu leiten, zu rechtfertigen und zu kritisieren. Es stellt dieses unter ständi65
Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 36. 66 Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 25 Rn. 29; vgl. Isensee, Gemeinwohl und öffentliches Amt, 2014, S. 21 ff. 67 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 12. 68 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 12. 69 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 24. 70 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 12. 71 Ausführlich Isensee, Gemeinwohl und öffentliches Amt, 2014, S. 100 ff.
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gen Rechtfertigungszwang. […] Was dem Gemeinwohl nicht dient, ist unzulässig.“72 Gleichwohl ist der aus der Offenheit des Gemeinwohls und der notwendigen Konkretisierung im Prozess folgende Gestaltungsspielraum auch bei der Umschreibung rechtlicher Grenzen zu beachten: Das Gemeinwohl ist insofern als rechtsfolgen-offenes Optimierungsgebot zu verstehen,73 welches nicht durch abschließend enumerierbare Aufgaben und Maßnahmen, sondern durch verschiedene – ggf. auch gegenläufige – Aufgaben und Maßnahmen, insbesondere ein Zusammenspiel und -wirken, erreicht werden kann. 4. Gemeinwohlausrichtung und Berufsbeamtentum Wenn das Gemeinwohlinteresse Leitplanke jedes staatlichen Handelns ist, muss es auch die individuelle Amtsführung der staatlichen Bediensteten, und hier insbesondere der Beamtenschaft prägen.74 Die Überführung der Maßstäbe an staatliches Handeln in individuelle Verhaltenspflichten der Amtswalter75 ist notwendiger Bestandteil einer Verwaltung, die demokratischen und rechtsstaatlichen, aber eben gerade auch republikanischen Grundsätzen entsprechen will. „Es bedarf […] rechtlicher und ethischer Grundsätze, die gewährleisten, dass die für den Staat handelnden Personen ausschließlich das Gemeinwohl verfolgen.“76 Der staatliche Verwaltungsapparat sichert die grundsätzliche Ausrichtung des Staates auf seine legitimen Zielsetzungen, insbesondere das Gemeinwohl. Insofern sind – ohne, dass jedes Teilelement des Berufsbeamtentums damit gemeint sein kann – Sicherungsmechanismen erforderlich, dass die Amtswalter diese Zielsetzungen auch tatsächlich verfolgen, und zwar auch über eine reine Gesetzesbindung und die 72 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 12. 73 Insofern lässt es sich als Prinzip sowohl im Sinne von Franz Reiner (Verfassungsprinzipien, 2001, S. 182) als auch von Robert Alexy (Theorie der Grundrechte, 1985, S. 75 ff.) kategorisieren. Vgl. zum Gemeinwohl und seiner Optimierung von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, S. 54 ff. 74 Ausführlich Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 90 ff. 75 Treffend die Formulierung in § 36 Abs. 1 BeamtStG, die von der „vollen persönlichen Verantwortung“ der Beamtinnen und Beamten spricht; vgl. Heintzen, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band III, 2022, § 89 Rn. 30. 76 Growe, Das Regierungsmitglied im parteipolitischen Diskurs, 2020, S. 33.
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Möglichkeiten einer hierarchischen Steuerung des individuellen Verhaltens hinaus. Objektive Maßstäbe an staatliches Handeln werden erst durch individuelle Handlungspflichten der Amtswalter real, da diese den Staat überhaupt erst handlungsfähig machen. Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums sichern eine loyale Beamtenschaft und so die möglichst optimale Verwirklichung der grundgesetzlich vorgegebenen Staatsziele, einschließlich der Gemeinwohlorientierung. „Nur derjenige kann Aufgaben des Staates wahrnehmen, an dessen Integrität und Loyalität kein Zweifel besteht.“77 So wie die Gesetzesbindung durch die Verpflichtung der Beamten zu rechtmäßigem Handeln operationalisiert wird (vgl. § 36 Abs. 1 BeamtStG), gilt dies für die Gemeinwohlbindung. Sie findet sich einfach-gesetzlich niedergelegt beispielsweise in § 33 Abs. 1 BeamtStG: „Beamtinnen und Beamte dienen dem ganzen Volk, nicht einer Partei. Sie haben ihre Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen und ihr Amt zum Wohl der Allgemeinheit zu führen.“ Anders als die Amtswürde ist diese Gemeinwohlausrichtung des individuellen Handelns absolut, ihr Inhalt nicht – wie bei der Amtswürde – ausgehend vom konkreten Amt zu bestimmen. Die Gemeinwohlorientierung als Handlungsmaßstab bewirkt nicht, dass im demokratischen Verfahren erlassene Rechtsakte aufgrund einer individuellen „Gemeinwohlbewertung“ infrage gestellt werden könnten. Maßgeblich ist eine objektive Bestimmung des Gemeinwohls. Dem demokratischen Verfahren kommt dabei eine indizielle Wirkung im Sinne einer Richtigkeitsvermutung zu, die zunächst einmal von jedem Amtswalter zu akzeptieren ist. Gleichwohl bleibt die individuelle beamtenrechtliche Gemeinwohlbindung nicht ohne Gehalt: Wo der Gesetzgeber Spielräume belässt oder im Bereich der „gesetzesfreien Verwaltung“78, sind die Spielräume seitens der Verwaltung und des zuständigen
77 Depenheuer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rn. 83. 78 „Gesetzesfrei“ meint die – gleichwohl im allgemeinen Gesetzesrahmen erfolgende – Verwaltungstätigkeit, deren Gegenstand nicht oder noch nicht im Einzelnen durch Gesetz ausgestaltet ist, weil für ihn entweder kein Gesetz besteht oder die bestehenden Gesetze das Verwaltungshandeln nur allgemein und deshalb nur schwach vorzeichnen; vgl. Ibler, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, LoseblattSammlung, Art. 86 Rn. 43; ausführlich zur gesetzesfreien Verwaltung Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, 2001, S. 13 ff.
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Amtswalters im Sinne des Gemeinwohls auszufüllen.79 Zudem folgt aus einer erweiternden Auslegung des § 36 BeamtStG, dass auch ein Gemeinwohlverstoß trotz formeller Rechtmäßigkeit80 ebenfalls eine Pflicht zur Remonstration und zur Nichtausführung (wie ein Menschenwürdeverstoß) begründet. Wenn schon für den „einfachen Bürger“ ein Recht zum Widerstand in diesen Fällen existiert (Art. 20 Abs. 4 GG81), dann muss erst recht ein Sicherungsmechanismus in rechtlich vorgegebenen Bahnen für die „Diener des Staates“ bestehen. Eine (materielle) Gemeinwohlorientierung lässt sich somit auch als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums einordnen, der gem. Art. 33 Abs. 4 GG nicht seitens des einfachen Gesetzgebers beeinträchtigt werden darf, aber aufgrund der Rückführung auf das Republikprinzip in seinen Grundsätzen auch vom Verfassungsgesetzgeber nicht berührt82 werden darf. IV. Amtswürde Eine stärkere und primär individuelle Prägung besitzt das zweite, aus dem republikanischen Prinzip des Grundgesetzes herleitbare Element, das hier näher betrachtet werden soll und ebenfalls als ein zentraler Bestandteil des Berufsbeamtentums erscheint: die Amtswürde. An alle Personen, die den Staat „repräsentieren“, und dies sind neben den gewähl-
79 Siehe auch Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (326): „Gerade bei nachlassender Gesetzbindung der Verwaltung bedarf es der Rückkopplung der Amtstätigkeit an Idee und Ethos des öffentlichen Amtes“. 80 Entsprechend der Radbruch’schen Formel: „Wo also […] Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, können die so geschaffenen Anordnungen nur Machtsprüche sein, niemals Rechtssätze […]; so ist das Gesetz, das gewissen Menschen die Menschenrechte verweigert, kein Rechtssatz. Hier ist also eine scharfe Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht gegeben, während wie oben gezeigt wurde, die Grenze zwischen gesetzlichem Unrecht und geltendem Recht nur eine Maßgrenze ist […].“; siehe Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie. 2. Aufl. 1959, S. 34. 81 Zu einer inhaltlichen Konkretisierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Art. 20 Abs. 4 GG über die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG Schulz, Änderungsfeste Grundrechte, 2008, S. 660 f. 82 Zum Begriff Schulz, Änderungsfeste Grundrechte, 2008, S. 355 ff.
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ten Abgeordneten und Regierungsmitgliedern83 vor allem die Beamten, werden besondere moralisch-ethische Ansprüche angelegt. Dass es sich dabei nicht nur um eine außerrechtliche „Erwartungshaltung“ der Bevölkerung handelt, sondern die Amtswürde verfassungsrechtlich fundiert Bestandteil des Beamtenverhältnisses ist und daher auch vom Dienstherrn eingefordert werden kann, soll im Folgenden dargelegt werden. Da der Bundespräsident auch als „erster Repräsentant“ des Staates bezeichnet wird84, wird die Reichweite der Amtswürde oft hinsichtlich dieses Amtes und hinsichtlich der jeweiligen Amtsinhaber thematisiert,85 letztlich müssen aber für alle Repräsentanten des Staates, wenn auch abgestuft, im Grundsatz die gleichen rechtlichen Maßstäbe gelten.86 Ohne im Detail auf die Begriffsbestandteile der „Würde“ und des „Amtes“ einzugehen,87 sei zunächst darauf verwiesen, dass das Amt, 83
Dazu insbesondere Growe, Das Regierungsmitglied im parteipolitischen Diskurs, 2020. 84 Siehe auch § 1 Abs. 1 Satz 1 der Geschäftsordnung der Bayerischen Staatsregierung: „Der Ministerpräsident ist erster Repräsentant des Staates“. 85 Auch weil der Amtseid nach Art. 56 GG als Anknüpfungspunkt für die Amtswürde dient; vgl. Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard SchmidtJortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (325). Überwiegend wird Art. 56 und 64 Abs. 2 GG deklaratorische Wirkung zuerkannt. Der Bundespräsident bekundet unter Berufung auf von ihm als bindend empfundene ethisch-moralische Werte „in einer Form, die den besonderen Ernst dieses Versprechens dokumentiert“, den Willen zu haben, die Pflichten, die ihm die Rechtsordnung auferlegt, zu erfüllen; vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Loseblatt-Sammlung, Art. 56 Rn. 7. 86 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (321). 87 Ausführlich Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (313 ff. und 316 ff.); zum Amt jüngst ausführlich Heintzen, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band III, 2022. Siehe zu Tradition und Bedeutung des Amtsprinzips Hennis, in: Hesse/Reicke/Scheuner (Hrsg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung: Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag am 15. Januar 1962, 1962, S. 51 ff.; Depenheuer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 36; Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 253 ff.; Dreier, Das kirchliche Amt, 1972; Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, S. 227 ff.
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trotz ursprünglich kirchlicher Begriffsprägung,88 ein Zentralbegriff des Territorialstaates darstellte und von Anfang an mit dem Bedürfnis nach Ordnung, Sicherheit und Frieden verbunden gewesen ist.89 Das Amt beschreibt einen festen, den einzelnen Amtsinhaber überdauernden Pflichtenkreis.90 Damit gewährleistet das Amt die Handlungsfähigkeit des Staates91 und ist ein wesentlicher Baustein auch des vom Grundgesetz verfassten Staates, der modernen Staatlichkeit insgesamt.92 Die Amtswürde ist zu verstehen als Inbegriff der vom jeweiligen Amtsinhaber zu erfüllenden moralischen und ethischen Anforderungen an die Art und Weise der Amtsausübung.93 Die Amtswürde ist das Bindeglied zwischen dem organisationsrechtlichen Institut94 des Amtes und 88
Umfassend Dreier, Das kirchliche Amt, 1972. Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (313); Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2002, S. 92. 90 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (313); vgl. Heintzen, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band III, 2022, § 89 Rn. 11. 91 Depenheuer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rn. 1, 3; Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (314). 92 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (314); Depenheuer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rn. 87; Hilp, „Den bösen Schein vermeiden“, 2004, S. 99; Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 265; Weber, in: Barion/Forsthoff/Weber (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 253 (272). 93 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (321); vgl. Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 63: „Sittlichkeit und Moralität als herausgehobene republikanische Werte“. 94 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (321): „objektiv-rechtliches Bau- und Funktionselement des Staates“. Zur organisationsrechtlichen Dimension des Amtes Heintzen, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band III, 2022, § 89 Rn. 22 f. 89
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dem Individuum des Amtswalters.95 Würde als personales Element kann das Amt nur durch das persönliche Verhalten des jeweiligen Amtswalters erlangen.96 So wie der Staat erst durch seine Organe und die Amtsinhaber handlungsfähig wird,97 ermöglicht nur menschliches, dem Staat zurechenbares Handeln die „Würdefähigkeit“ des Amtes. Das Amt steht „in strikter Relation zu einer konkreten Person“ und erhält „von dieser und ihrem Tun, ihrem durch ethisches Verhalten erworbenen Achtungsanspruch seine Bedeutung.“98 „Der Amtsinhaber agiert nicht im luftleeren Raum, sondern dient vor- und aufgegebenen Wertvorstellungen.“99 Die jeweilige Zuführung von Würde durch ethisches Verhalten des Amtswalters bestimmt den Umfang des Achtungs- und Geltungsanspruches, der für die Aufrechterhaltung der Amtswürde und der Legitimität der Amtsgewalt erforderlich ist.100 „Amt und Amtswalter, also die das Amt innehabende natürliche Person, stehen in einem untrennbaren wechselseitigen Verhältnis. Das Amt prägt die Person, aber die Person kann auch das Amt besser oder schlechter ausfüllen und durch die konkrete Amtstätigkeit dem Amt als solchem Würde verleihen.“101 95
Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (321). 96 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (321). 97 Zum organischen Staatsverständnis des Lorenz von Stein Schliesky, DÖV 2009, S. 641 ff.; ausführlich Grawert, in: Brüning/Schliesky (Hrsg.), Lorenz von Stein und die rechtliche Regelung der Wirklichkeit, 2016, S. 69 (79 ff.) m.w.N. 98 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (319). 99 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (319); siehe auch Köttgen, in: Hesse/Reicke/Scheuner (Hrsg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung: Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag am 15. Januar 1962, 1962, S. 119 (137). 100 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (321). 101 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (320 f.); vgl. Depenheuer, in: Isensee/Kirchhof
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Das Erfüllen dieser (ggf. besonderen) Ansprüche durch den Amtswalter steht daher nicht primär in seinem eigenen Interesse ( jeder – auch der Beamte – kann seinen Ruf im Prinzip ruinieren, wie es ihm selbst beliebt), sondern im Interesse von Akzeptanz und Legitimität staatlichen Handelns. Das individuelle (Fehl-)Verhalten fällt auf das Amt und damit letztlich den Staat zurück – um dies wirksam im Interesse des Dienstherrn, des Staates (im Ergebnis also: der Allgemeinheit) zu sanktionieren, muss die Amtswürde eine rechtliche Kategorie und zugleich eine Pflicht des Beamten darstellen. 1. Staatstheoretischer Hintergrund und Verortung Wie auch die Gemeinwohlorientierung lässt sich die Amtswürde als Teil der modernen Staatlichkeit einerseits demokratisch, andererseits aus einem materiell verstandenen Republikprinzip heraus begründen. Die Amtswürde und damit das ethisch-moralische Verhalten des jeweiligen Amtswalters spielen eine bislang vernachlässigte und unterschätzte Rolle für die Akzeptanz der Herrschaftsgewalt und damit für deren Legitimität, wenn man Akzeptanz als rechtliche Kategorie begreifen will.102 Die Amtswürde erweist sich als erforderliches Hilfsmittel für die Rückkopplung zwischen Amtswalter und Herrschaftsunterworfenen, mit dem auch zwischen den Wahlterminen die demokratische Legitimität zuoder abgesprochen werden kann.103 Entspricht das Verhalten eines Amtswalters nicht der öffentlichen Erwartungshaltung an das dem ( jeweiligen) Amt angemessene Verhalten (= Amtswürde), wird damit die Legitimation der Ausübung der Amtsgewalt drastisch vermindert, bis hin zu solch einem Sinken des Legitimitätsniveaus, welches die weitere Ausübung des Amtes nicht mehr gestattet.104 (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rn. 60, 62; Hilp, „Den bösen Schein vermeiden“, 2004, S. 105. 102 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (322 f.) m.w.N. 103 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (323). 104 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (323). Die jeweiligen Konsequenzen bestimmen sich
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Wie dargestellt ist das Republikprinzip in einem materiellen Sinne mit Inhalten gefüllt: Die Gemeinwohlorientierung allen staatlichen Handelns ist verfassungsrechtlich auch in Art. 20 Abs. 1 GG abgesichert und bewirkt in Zusammenschau mit dem ebenfalls im Republikprinzip verankerten Amtsprinzip105 daher, dass die Amtswürde eine verfassungsrechtliche Absicherung erfährt. Die Republik stellt nicht auf den Inhaber der Herrschaftsgewalt, sondern auf das gemeinwohlorientierte Ethos der Herrschaftsausübung ab.106 So wird die Verpflichtung des Amtes auf das Gemeinwohl deutlich: Amtsgewalt besteht nur im Interesse des Gemeinwohls.107 Um dies – die gemeinwohlorientierte Amtsausübung – zu sichern, muss der Amtswalter seine persönlichen Interessen hinter denen des Amtes und damit hinter dem Gemeinwohlinteresse zurücktreten lassen. Das Amt ist eine anvertraute Ausübung von Herrschaftsgewalt, die Vertrauen und später wiederum eine Rechtfertigung dieses Vertrauens durch den Amtswalter voraussetzt.108 Das Vertrauen in eine gemeinwohlorientierte Amtsausübung kann dabei nicht allein durch gemeinwohlwidriges Handeln erschüttert werden, sondern bereits durch (dienstliches wie außerdienstliches) Verhalten des Amtswalters, das den ethischen und moralischen Maßstäben, die die Bevölkerung an den Inhaber des jeweiligen Amtes anlegt, nicht entspricht („Den bösen Schein
dann je nach Amt und Amtsinhaber nach rechtlichen (z. B. Beamtenrecht) oder rein politischen Kategorien (z. B. Abwahl kommunaler Mandatsträger aufgrund individuellen Fehlverhaltens). Siehe auch Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (327): „Und auch bei kommunalen Wahlbeamten ist die Abwahl bei unwürdigem Verhalten möglich: Hier kommt es nicht auf konkrete Pflichtverstöße an, sondern das aus Sicht des erforderlichen Quorums bejahte unwürdige Verhalten kann das Ausscheiden kommunaler Wahlbeamter bewirken“. 105 Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 59. 106 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (323). 107 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (324). 108 Schliesky, APuZ 14 – 15/2017, S. 42 (43).
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vermeiden“109). Die Amtswürde dient dazu, das Vertrauen der Bevölkerung in eine integre Amtsausübung zu wahren. Das ethisch-moralische Wesen des Amtes beschreibt Lorenz von Stein in seiner Verwaltungslehre von 1865 im Vergleich Deutschlands mit England und Frankreich nachdrücklich: Im deutschen Staatsverständnis sei „von jeher das lebendige Bewußtsein von dem wahren Wesen des Amts“ nicht nur feststellbar, sondern man habe „dies Bewußtsein zum Recht ausgebildet“. „Nur in Deutschland fordert das Volk, daß der Beamtete mehr vertrete, als den bloß dienenden Gehorsam […]. Er soll die wahren, höchsten Interessen des Lebens in sich tragen; er soll sie verwirklichen, selbst gegenüber der höheren Behörde. Er ist […] der örtlich erscheinende, örtlich thätige Staat; er ist nicht bloß eine Macht, er ist eine sittliche, er wird dadurch eine sittigende Potenz.“110 Von Stein macht auch deutlich, dass es sich hierbei nicht nur um eine rechtliche Konstruktion des Amtes oder ein Selbstverständnis des Beamten handelt, sondern eine gleichgerichtete Erwartung der Bevölkerung konkretisiert wird – im Sinn eines Vertrauens, dass auch enttäuscht werden kann: „Er [Der Beamte] ist im wahren, noch unverfälschten Volksbewußtsein der natürliche Vertreter des gemeinsam Guten und Nothwendigen, er ist sittlich den Untergebenen verantwortlich, daß das Wahre und das Beste geschehe.“111 2. Inhaltliche Konkretisierung Eine inhaltliche Konkretisierung der Amtswürde, die über die Gemeinwohlorientierung hinaus reicht, wird erschwert durch den Um109 Hilp, „Den bösen Schein vermeiden“, 2004, S. 99; siehe auch Heintzen, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band III, 2022, § 89 Rn. 40. 110 Von Stein, Die Verwaltungslehre, Band I, 1865, S. 295. Dem organischen Staatsverständnis Lorenz von Steins (siehe Schliesky, DÖV 2009, S. 641 ff.; ausführlich Grawert, in: Brüning/Schliesky (Hrsg.), Lorenz von Stein und die rechtliche Regelung der Wirklichkeit, 2016, S. 69 (79 ff.) m.w.N.) entsprechend war die Verwaltung der „thätige Staat“. Stein wollte mit dieser Begrifflichkeit die Dynamik und die alltägliche Bewährung des Staatshandelns verdeutlichen; vgl. Jellinghaus, Zwischen Daseinsvorsorge und Infrastruktur, 2006, S. 169; Pankoke, Lorenz von Stein, 1977, S. 125; Pankoke, in: Schnur (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, 1978, S. 405 (410). 111 Von Stein, Die Verwaltungslehre, Band I, 1865, S. 295.
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stand, dass sich die konkreten ethischen Maßstäbe einerseits mit dem Wandel von Staat und Gesellschaft verändern,112 andererseits die Erwartungen je nach Amt variieren.113 Die Amtswürde erschöpft sich im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes jedenfalls nicht in der Gesetzes- und Verfassungssowie der beschriebenen Gemeinwohlbindung, sondern greift über das positive Recht hinaus114, wie schon die Verpflichtung der Beamten auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung belegt.115 Nur durch jenseits des positiven Rechts liegende ethisch-moralische Grundlagen der Herrschaftsordnung kann „Amtscharisma“ entstehen,116 das Max Weber als den Glauben „an die spezifische Begnadung einer sozialen Institution als solche“ bezeichnet.117 Mangels verbindlicher oder jedenfalls allgemein anerkannter Dokumente, die Verhaltensregeln für „gutes Regieren“ oder „gutes Verwalten“ formulieren – wie es vor allem die Fürstenspiegel sowie das „Politische Testament“ eines Friedrich des Großen oder die Federalist Papers waren118 –, aber auch aufgrund der starken grundgesetz112 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (320). 113 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (321 mit Fn. 92); dazu sogleich. 114 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (321); Hilp „Den bösen Schein vermeiden“, 2004, S. 105. Ablehnend Growe, Das Regierungsmitglied im parteipolitischen Diskurs, 2020, S. 38 f.: „Ohne positiv-rechtliche Ausformung bleibt das ,Ethos des öffentlichen Amtes‘ innerhalb der Rechtsordnung inoperabel“. 115 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (321). Zum Inhalt dieser Bindung Bäcker, in: Schliesky (Hrsg.), Landesrecht Schleswig-Holstein, 2021, § 9 Rn. 60 ff. 116 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (321); siehe auch Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 110 ff.; Vogelsang, ZBR 1997, S. 33 ff. 117 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972/2002, S. 675. 118 Vgl. die Zitate bei Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard SchmidtJortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (319, Fn. 72 bis 75). Zur inhaltlichen Aktualität dieser Dokumente ebd., S. 322 mit Fn. 95. Demgegenüber adressieren
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verfassungsrechtlichen Prägung der bundesdeutschen Staatsordnung sind die moralisch-ethischen Werte, die es zu wahren gilt, vorrangig aus der Verfassung abzuleiten119. Dies bedeutet keineswegs lediglich eine Verfassungs-, im Sinne einer Rechtsbindung, da vielfach Optimierungsgebote und ausfüllungsbedürftige Handlungsaufträge enthalten sind, die im Sinne einer wertgebundenen Verfassungsordnung unter Rückgriff auf die grundgesetzlichen Verfassungswerte120 aufzufüllen sind. Wenn verfassungsrechtliche Wertentscheidungen schon in private Rechtsverhältnisse hineinstrahlen und als objektive Grundrechtswirkung und mittelbare Drittwirkung der Grundrechte anerkannt sind,121 dann können sie erst recht als Maßstab für das individuelle Verhalten der Amtswalter herangezogen werden. Darin erschöpft sich der Inhalt der Amtswürde jedoch nicht: Ähnlich wie die beschriebene Gemeinwohlorientierung adressieren verfassungsrechtliche Werte vor allem das dienstliche Handeln der Amtswalter, auch wenn einige Grundentscheidungen, z. B. das (originär an den Staat gerichtete) Diskriminierungsverbot aus bestimmten Gründen (Art. 3 Abs. 3 GG), auch das private Handeln von Amtsträgern, zwar nicht rechtlich zwingend, aber moralisch-ethisch determinieren können. Darüber hinaus existieren aber auch weitere Maßstäbe, wie z. B. die Pflicht zur politischen Mäßigung und Zurückhaltung zeigt, die grundsätzlich – auch für Beamte – zulässiges und legitimes Handeln im staatlichen Interesse, in diesem Fall rechtlich verbindlich, einschränken. „Durch das eigene dienstliche (und außerdienstliche) Verhalten ist das Ansehen des Amtes und des Staates insgesamt zu pflegen und zu mehren.“122 neuere Arbeiten zur „guten Verwaltung“ primär das Verwaltungshandeln und das Verwaltungsrecht und nicht individuelle Verhaltensweisen der Amtswalter; statt Vieler exemplarisch Klappstein, Das Recht auf eine gute Verwaltung, 2006. 119 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (322). 120 Umfassender Überblick bei Detjen, Verfassungswerte, 2009. 121 Siehe zu beidem, m.w.N. zur Rechtsprechung des BVerfG, Schliesky u. a., Schutzpflichten und Drittwirkung im Internet, 2014, S. 56 ff. 122 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (326).
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Das Mäßigungsgebot des § 33 Abs. 2 BeamtStG und § 47 BeamtStG, der unter Umständen außerdienstliches (Fehl-)Verhalten als Dienstvergehen klassifiziert, zeigen einfachgesetzlich, dass sich die Amtswürde nicht losgelöst vom konkreten Amt bestimmen lässt: So werden mit Recht bei Mitgliedern der Regierung oder der Verwaltungsspitze andere Maßstäbe angesetzt als dies vielleicht beim „einfachen Sachbearbeiter“ oder einem Beamten des Feuerwehrdienstes der Fall sein mag. Typisch ist daher bis heute die Sicherstellung der Amtswürde durch eine Rangfolge der Ämter, in denen die Amtsinhaber erprobt und zugleich für die Übernahme höherer oder gar höchster Leitungsposten geschult werden.123 Neben der Hierarchiestufe sind es aber auch bestimmte Erscheinungsformen staatlicher (hoheitlicher) Gewalt, die mit weitergehenden Anforderungen verbunden werden. Von einem Polizeibeamten erwartet man auch außer Dienst möglichst „rechtschaffendes Verhalten“, vom (Verwaltungs-)Richter ein höheres Maß an politischer Zurückhaltung usw.124 „Bis heute bedeutet die Inhaberschaft eines öffentlichen Amtes keine zusätzliche Möglichkeit freier Entfaltung der Persönlichkeit, sondern die Übernahme einer regelmäßig eidlich bekräftigten Pflicht, die vom Amtsinhaber Disziplin und Altruismus verlangt.“125 3. Rechtlicher Gehalt Die Amtswürde steht – trotz des personalen Elements – primär im Interesse des Staates. Schutzgegenstand ist die „Würde des Amtes“, nicht die des jeweiligen Amtsinhabers. „Die Amtswürde ist mehr als nur ein Relikt vergangener Zeiten und hat auch im demokratischen Ver123 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (320). 124 Ähnlich: Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (321, Fn. 92): „Amtmann“ vs. „Staatssekretär“; zu abgestuften Anforderungen im einfachen Recht Heintzen, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band III, 2022, § 89 Rn. 43. 125 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (320); Depenheuer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rn. 58; Köttgen, in: Hesse/Reicke/Scheuner (Hrsg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung: Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag am 15. Januar 1962, 1962, S. 119 (122).
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fassungsstaat des Grundgesetzes ihren Raum.“126 Sie ist kein „zahnloser Tiger“ im Sinne einer außerrechtlichen, lediglich sozialwissenschaftlichen Kategorie, sondern verfassungsrechtlich fundiert.127 Es handelt sich um geltendes Recht und es existieren rechtliche Möglichkeiten zur Einforderung der Amtswürde.128 Wie für die Gemeinwohlorientierung dargelegt, muss der Staat, um die Wahrung der Amtswürde (im staatlichen Interesse) gewährleisten zu können, den Amtswaltern zugleich individuelle Verhaltenspflichten auferlegen. Das Auferlegen besonderer ethisch-moralischer Anforderungen ist auch jenseits der Konkretisierungen im einfachen Recht zulässig, selbst wenn dies den strengen Anforderungen an einen rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt nicht vollständig gerecht werden sollte. Das Rechtsinstitut des Sonderstatusverhältnis wird in seiner absoluten Ausprägung zwar weitgehend abgelehnt,129 es findet aber gerade hinsichtlich der Beamtenschaft weiterhin seine Berechtigung.130 Da die Amtswürde auf das republikanische Prinzip rück126
Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (325). 127 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (326). 128 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (326); anders zum „Amtsethos“ wohl Heintzen, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band III, 2022, § 89 Rn. 30: „Messbar und normierbar ist dies alles nicht, allgemein verbindlich schon gar nicht“. 129 Vgl. Graf von Kielmannsegg, Grundrechte im Näheverhältnis, 2012, S. 69 ff.; Graf von Kielmannsegg, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band III, 2022, § 70; siehe auch Bäcker, in: Schliesky (Hrsg.), Landesrecht Schleswig-Holstein, 2021, § 9 Rn. 20. 130 So führt der Jubilar zur Meinungsfreiheit der Beamten zutreffend aus, dass „Sonderbelange des hoheitlichen Vollzugs und ihre Eigengesetzlichkeit“ dazu führen, „dass die beteiligten Personen in eine spezielle, engere Beziehung zum Staat treten.“ Durch diese werde der allgemeine staatsbürgerliche Status modifiziert, „weil Wirkungsaufträge des Staates personale Sonderbeziehungen verlangen“, vgl. Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 162 Rn. 63. Richtigerweise lassen sich die besonderen Loyalitäts- und Treuepflichten der Beamten als „Nachwirkung der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis“ ansehen; ablehnend Bäcker, in: Schliesky (Hrsg.), Landesrecht Schleswig-Holstein, 2021, § 9 Rn. 20.
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führbar ist, handelt es sich um einen „Konflikt“ zwischen zwei gleichermaßen verfassungsrechtlich geschützten Staatsstrukturprinzipien.131 Einfachgesetzlich sind es neben dem bereits genannten Mäßigungsgebot und der Verpflichtung aus § 47 BeamtStG, Verhalten zu unterlassen, dass „nach den Umständen des Einzelfalles in besonderem Maße geeignet ist, das Vertrauen in einer für das Amt bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen“, vor allem die statusbegründenden Akte, also Einstellung und Entlassung, sowie der Amtseid, in denen sich die individuelle Verpflichtung auf die Amtswürde manifestiert. Die inhaltlichen Anforderungen der Amtswürde sind Teil der Kriterien zur Ausfüllung des Begriffes „Eignung“ (im engeren Sinne) gemäß Art. 33 Abs. 2 GG, sodass die Feststellung fehlender charakterlicher Eigenschaften, unethischen oder unmoralischen Verhaltens zur Verneinung der Eignung und damit zur Nichternennung oder aber im Falle des bereits bestehenden Beamtenverhältnisses zu disziplinarrechtlichen Maßnahmen132 bis hin zur Entfernung aus dem Dienst führen.133 „Mit dem Schwur der Eidesformel geht der jeweilige Amtswalter die moralische Selbstverpflichtung ein, das übertragene Amt nur im Rahmen der Amtsgewalt, gesetzesund verfassungstreu sowie strikt am Gemeinwohl orientiert, auszuüben.“134 131 Zur Auflösung derartiger verfassungsimmanenter Konflikte von jeweils über Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätzen Schulz, Änderungsfeste Grundrechte, 2008, S. 371 ff. 132 Aus aktuellem Anlass (Altkanzler Schröder) stellt sich die interessante Frage, ob auch Verletzungen der Amtswürde nach Ausscheiden aus dem Amt relevant sind und zum Anlass von Maßnahmen genommen werden können. Lennartz, Was Altkanzler und Republik einander schulden, VerfBlog 4. 5. 2022 (abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/was-altkanzler-und-republik-einander-schulden/) hält dies nur im Falle einer expliziten gesetzlichen Grundlage für zulässig (und hat überdies Zweifel, ob sich eine solche für „Altkanzler“ schaffen ließe). Nach der hier vertretenen Auffassung wirken die individuellen Verhaltenspflichten fort, weil auch das Verhalten eines ehemaligen Amtsinhabers das Amt „beschädigen“ kann; ob es für konkrete (Disziplinar-)Maßnahmen dann einer konkreten Rechtsgrundlage bedarf, wäre in einem zweiten Schritt zu klären. 133 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (327). 134 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (325).
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4. Amtswürde und Berufsbeamtentum Schließlich findet die Amtswürde ebenfalls in den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG Anknüpfungspunkte. Sie wird ausgefüllt durch die rechtliche wie politische Treuepflicht und die Dienstpflicht unter Einsatz der gesamten Persönlichkeit für den Dienstherrn.135 Die individuelle Verpflichtung des Amtswalters auf die Amtswürde wird damit zu einem Teil der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums. Der Beamtenstatus bewirkt eine stärkere Bindung des Amtswalters an übergeordnete (Staats-) Prinzipien, um der Rolle der Verwaltung als Garant für die Verwirklichung verfassungsrechtlicher Prinzipien gerecht zu werden. Damit einhergehen unter Umständen weit in das Private hineinreichende Pflichten (denen an anderer Stelle aber auch Privilegien gegenüberstehen), um die Lauterbarkeit der öffentlichen Hand abzusichern. Die beamtenrechtliche Zuweisung eines „Amtes“ konstituiert die Amtswalterstellung und begründet damit die spezifischen Amtswürdeverpflichtungen. Einfachgesetzlich wird diese „Erwartungshaltung“ in § 34 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG niedergelegt: „Ihr Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes muss der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die ihr Beruf erfordern.“ V. Fazit und Kritik Festhalten lässt sich, dass sowohl die Existenz des Berufsbeamtentums136 und die Verpflichtung auf die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums als auch deren Konkretisierungen in Form einer (objektiven) Gemeinwohlorientierung staatlichen Handelns, aus der eine individuelle Verhaltenspflicht des Beamten folgt, sowie die Amtswürde, aus dem republikanischen Prinzip des Grundgesetzes ableitbar sind und der öffentlichen Verwaltung inhaltliche (Verhaltens-)Maßstäbe aufgeben. Die Kritik, die sich auch an einer materiellen Gemeinwohlkonkretisierung, anstelle einer rein verfahrensmäßigen Definition, festmacht, 135 Schliesky, in: Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa: Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Geburtstag, 2011, S. 311 (324 f.). 136 Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 188 ff.; anders wohl Bäcker, in: Schliesky (Hrsg.), Landesrecht Schleswig-Holstein, 2021, § 9 Rn. 34, Fn. 102.
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dass das Gemeinwohl und die Amtswürde als Maßstäbe für staatliches wie individuelles Handeln anfällig für subjektive Wertungen wären, da auf außerrechtliche (moralisch-ethische) Kategorien verwiesen wird, vermag nicht zu überzeugen: Das Gemeinwohl ist gerade nicht subjektiv zu bestimmen, sondern über die „zweifache Allgemeinheit“ objektivierbar und zudem im Regelfall durch die im demokratischen Verfahren beschlossenen Inhalte konkretisiert („Richtigkeitsvermutung“). Die Reichweite der Amtswürde wird ebenfalls nicht subjektiv vom Amtswalter bestimmt, sondern als rechtliche Vorgabe an sein Verhalten adressiert. Dabei handelt es sich nicht um eine „Schwarz-Weiß-Kategorie“; die Einstufung eines individuellen Verhaltens als Verstoß gegen die Amtswürde ist von vielen Faktoren abhängig und in unterschiedlichem Maße geeignet, Legitimität und Akzeptanz zu beeinträchtigen, sodass auch die Folgen variieren. Ein auf diese beiden Grundsätze verpflichtetes Beamtentum ist ein wesentlicher Baustein eines „guten Staatswesens“ und daher – nicht nur aus verfassungsrechtlichen Gründen – zu erhalten und gegenüber der, oft an den Privilegien der Beamtenschaft (als notwendige Kehrseite zu gesteigerten Pflichten) ansetzenden, Kritik zu verteidigen. Um es mit Lorenz von Stein zu sagen: „Das Amtswesen ist […] in Deutschland nicht bloß ein fester Organismus, sondern auch ein selbständiges Gebiet des öffentlichen Rechts. Es ist das schon früher gewesen; keine Umgestaltung des Staatsorganismus hat das je ändern können und wollen; im Gegentheil hat sich aus allen Umwälzungen nur der Gedanke herausgebildet, dass das Amt in Organismus und Recht ein Theil der Verfassung sein, und dass die Gesetzgebung diese Standespflichten und Standesrechte der Beamteten nach allen Seiten hin aufrecht zu halten habe. Die Theorie hat das nicht geschaffen; aber man muß ihr zur Ehre nachsagen, dass sie es verstanden, gefördert und gefestigt hat. Und einen großen Schatz besitzt Deutschland in dieser seiner, ihm eigenthümlichen und hoffentlich unverlierbaren Idee des Beamtenthums.“137
137 von Stein, Die Verwaltungslehre, Band I, 1865, S. 295 f.; zur Verrechtlichung als Kennzeichen des Beamtentums in Deutschland Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 82 f.
Der Richter in der Mediendemokratie Politisierung und Instrumentalisierung rechtsstaatlicher Garantien als Herausforderung für die Justiz Von Peter M. Huber Bis heute wird das richterliche Selbstverständnis jedenfalls in Kontinentaleuropa durch den Satz Montesquieus geprägt, wonach der Richter „bouche qui prononce les paroles de la loi“1 sei und allein durch seine Urteile spreche. Deren richtiges Verständnis und Wirkungen liegen demnach in der Hand der Parteien und der Öffentlichkeit, gemäß der Devise, dass der Interpret auch insoweit klüger ist als der Urheber. Jedenfalls für Letzteres – die Interpretationshoheit der (Fach-)Öffentlichkeit – gibt es gute Gründe. Das gilt vor allem für Kollegialgerichte, in denen jeder beteiligte Richter naturgemäß eine andere Vorstellung von einer getroffenen Entscheidung hat als seine Kollegen. Unschärfen sind menschlicher Kommunikation inhärent, auch wenn es nur um Nuancen geht. Gleichwohl entsprechen dermaßen arkadisch anmutende Verhältnisse nicht mehr der Realität, zumal bei Verfassungs- und Höchstgerichten. Angesichts der häufig politischen Dimension der von ihnen zu entscheidenden Fälle sehen sie sich noch stärker als die Fachgerichte mit Erwartungen der Öffentlichkeit konfrontiert, die nicht mehr ohne weiteres bereit und in der Lage ist, gerichtliche Entscheidungen allein als Entscheidung ab auctoritate zu akzeptieren. I. Politisierung und Instrumentalisierung In Russland, der Türkei, Polen und Ungarn ist seit Jahren ein – leider erfolgreicher – Trend zu beobachten, nach dem die Machthaber die 1 De Montesquieu, De l’Esprit des Lois, 1748, Livre XI, Chap. 6, enthalten in: Caillois (Hrsg.), Montesquieu. Oeuvres complètes, Band. II, 1951, S. 404.
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Gerichte nur mehr mit eigenen Gefolgsleuten besetzen und in leninistischer Manier auch den Inhalt der einzelnen gerichtlichen Entscheidungen politisch steuern. Die Gerichte sind hier zu Handlangern der Macht degeneriert oder befinden sich auf dem Weg dahin. In Deutschland gibt es dies Gott sei Dank nicht; aber die Gefahren für die Integrität der Dritten Gewalt lauern auch hierzulande. 1. Kein grundsätzliches Verdikt über die Politisierung a) Grundsatz Das Grundgesetz will keine vollständige Entpolitisierung der Justiz. Zwar sind die Richter nach Art. 20 Abs. 3 GG ausschließlich an Gesetz und Recht gebunden. Ihre Auswahl unterliegt grundsätzlich dem Leistungsgrundsatz (Art. 33 Abs. 2 GG). Die Regelungen der Verfassung gewährleisten jedoch auch, dass die von ihnen zu leistende Rechtsbildung und -fortbildung nicht vollständig frei von jeder politischen Prägung ist. So sieht Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG vor, dass die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt werden, und Art. 95 Abs. 2 GG bindet die Ernennung der Richter an den obersten Bundesgerichten – etwas anderes gilt für das Bundespatentgericht – an die Mitwirkung des Richterwahlausschusses, der aus den für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Ministern der Länder und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern besteht, die vom Bundestag gewählt werden. In seinem Beschluss zur Bundesrichterwahl vom 20. September 2016 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts insoweit hervorgehoben, dass der Justiz nach den Erfahrungen mit dem NS-Regime damit „wieder eine gewisse Vertrauensbasis“ geschaffen werden sollte, was eine „bürokratische Ernennung“ durch die Bundesregierung oder dadurch, dass sich die Richter – wie etwa in England oder den skandinavischen Ländern – „gewissermaßen aus sich selbst“ erneuern, nicht erreicht werden könnte. Durch die Mitwirkung von Personen, die vom Vertrauen des Parlaments getragen seien, werde für die Bestellung der Richter eine breite und fundierte Basis geschaffen, so dass die Gewählten von vornherein durch die Art ihrer Bestellung eine gewisse Autorität
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mitbrächten.2 Dem Zusammenwirken von Exekutive und Legislative im Rahmen dieses „Mischsystems“ wird eine legitimationsverstärkende Funktion beigemessen, weil das Verfahren die verschiedenen politischen Kräfte balancieren und einer Ämterpatronage entgegenwirken soll. Zudem soll sich in dem Verfahren über die Richterberufung nach Art. 95 Abs. 2 GG die dem föderativen Staatsaufbau angepasste Justizstruktur widerspiegeln.3 Für die Landesjustiz eröffnet Art. 98 Abs. 4 GG die Möglichkeit vergleichbarer Regelungen. Weiter reicht die verfassungsrechtliche Billigung der Politisierung der Justiz allerdings nicht. im Übrigen gilt Art. 33 Abs. 2 GG, so dass für einen parteipolitischen Proporz bei der Verteilung der Vorsitzenden-Stellen an den Bundesgerichten, wie er derzeit in der Diskussion ist, kein Raum sein dürfte. b) Unabhängigkeit als Korrektiv Die politische Rückbindung des Bestellungsprozesses von Richterinnen und Richtern ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten allerdings nur deshalb hinnehmbar, weil sie – einmal bestellt – unabhängig sind. Art. 97 Abs. 2 GG benennt als insoweit relevante Gesichtspunkte die hauptamtliche und planmäßige Anstellung, die Unabsetzbarkeit und die Unversetzbarkeit. Hinzu kommen müssen, im Sinne einer sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit, eine im Vorhinein festgelegte Amtsdauer, idealiter ohne Verlängerungsmöglichkeit,4 Weisungsfreiheit und eine angemessene Alimentation. 70 Jahre Staatspraxis haben gezeigt, dass diese Vorkehrungen genügen, um einmal amtierende Richter von den sie benennenden Parteien unabhängig zu machen. Für die Bundesverfassungsrichter ist das vielfältig dokumentiert.5 Die von der Verfassung austarierte Balance von Demokratie und Rechtsstaat gerät allerdings aus dem Lot, wenn die Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern unterminiert wird. Der systematische 2
BVerfGE 143, 22 (29 f. Rn. 23) ! Bundesrichterwahl, unter Hinweis auf JÖR n.F., Band. 1, 1951, S. 704 f. 3 BVerfGE 143, 22 (32 Rn. 26) – Bundesrichterwahl. 4 Vgl. dazu BVerfGE 148, 69 ff. – Richter auf Zeit. 5 Schmidt, Regieren mit Richtern. Anmerkungen zur politischen Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts, in: Stolleis (Hrsg.), Herzkammern der Republik, 2011, S. 200 (204 f.).
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Abbau der Unabhängigkeit der Justiz zunächst in Russland und der Türkei sowie seit mehreren Jahren auch in Polen und Ungarn, der nicht nur über die einseitige Besetzung der Justiz mit politischen Gefolgsleuten der Machthaber ins Werk gesetzt wird, sondern auch mit Belohnungen und (disziplinarrechtlichen) Sanktionen, stellt eine politische Instrumentalisierung der Justiz dar und ist vom Gerichtshof der Europäischen Union,6 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte7 und von nationalen Gerichten8 daher zu Recht beanstandet worden. 2. Instrumentalisierungspotential Die Inanspruchnahme rechtsstaatlicher Garantien für über die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits hinausreichende Zielsetzungen ist noch nicht per se ein Missbrauch der Justiz. Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts,9 der – gesetzlich gewollte – Einsatz der Verbandsklage oder die Organisation und Finanzierung von Pilotverfahren etwa durch die 2015 gegründete Gesellschaft für Freiheitsrechte, der es ausweislich ihrer Selbstbeschreibung darum geht, „strategische Gerichtsverfahren und juristische Interventionen [zu nutzen], um Demokratie und Zivilgesellschaft zu fördern, Überwachung und digitale Durchleuchtung zu begrenzen und für alle Menschen gleiche Rechte und soziale Teilhabe durchzusetzen“,10 stellen zwar eine Instrumentalisierung der Justiz und der Garantie effektiven Rechtsschutzes für politische Zwecke dar, über die man rechtspolitisch geteilter Meinung sein kann. Solange die allgemeinen Regelungen der Prozessordnungen beachtet werden, ist sie rechtlich aber ebenso wenig zu beanstanden wie die Verschiebung politischer Auseinandersetzungen zwischen den Verfassungsorganen auf das Bundesverfassungsgericht.
6 EuGH, Urt. v. 19. 11. 2019 – Rs. C-585/18 u. a., ECLI:EU:C:2019:982 – A.K. u. a./Sa˛d Najwyz˙szy; Urt. v. 26. 3. 2020 – Rs. C-558/18, C-563/18, ECLI:EU:C:2020:234. 7 EGMR, Urt. v. 22. 7. 2021 – 43447/19 – Reczkowicz/Polen, NJW 2022, S. 1733. 8 Sa˛d Najwyz˙szy, Entsch. v. 5. 12. 2019, becklink 2014933. 9 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997. 10 https://freiheitsrechte.org/ueber-die-gff/werwirsind.
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a) Funktionswandel der Rechtsprechung Die Systementscheidung für den Individualrechtsschutz in Art. 19 Abs. 4 GG ist für die Rolle der Dritten Gewalt unter dem Grundgesetz prägend. Ihr liegt die „liberale“ Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zugrunde,11 d. h. die Vorstellung vom Bürger als gleichsam natürlichem Widerpart des Staates, dessen Eingriffe in seine Rechtssphäre er mit Hilfe (verwaltungs-)gerichtlichen Rechtsschutzes abwehren oder deren Beschränkung auf das unbedingt Erforderliche erreichen kann. Im Ausgangspunkt ist das mit Blick auf die grundgesetzliche Konzeption des Rechtsstaats auch unverändert richtig,12 weil selbst der demokratische Rechtsstaat immer wieder zum „Leviathan“ mutieren kann.13 Gleichwohl nimmt sich die damit verbundene Rollenzuweisung an Bürgerinnen und Bürger, die sich, pointiert gesagt, um ihre Privatinteressen kümmern, die Sorge um das Gemeinwohl jedoch der „Obrigkeit“ überlassen sollen, im demokratischen Rechtsstaat unangemessen und überholt aus. In der traditionellen Sichtweise verabsolutiert, verweist sie den Bürger letztlich auf die Rolle des „bourgeois“.14 In dieser Verabsolutierung besitzt der „Schlußstein des Rechtsstaats“ eine problematische obrigkeitsstaatliche Konnotation, wie ein Blick auf Frankreich zeigt. Dort hat sich in der Vorstellung, das gerichtliche Verfahren diene auch oder gar in erster Linie der Gewährleistung des Legalitätsprinzips früh das Leitbild des „citoyen“ verwirklicht, nach dem sich der Einzelne durch die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes auch um das Gemeinwohl sorgen kann und darf.15 Öffnet man sich dieser auch in 11 Vgl. zu dieser Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, FG für Wolfgang Hefermehl, 1972, S. 11. 12 Dazu Huber, Der Rechtsstaat unter Druck, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 40. 13 Schulze-Fielitz, Der Leviathan auf dem Wege zum nützlichen Haustier?, in: Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat – Rückkehr zum Staat?, 2. Aufl., 1998, S. 95. 14 Huber, Der Einzelne als Gravitationspunkt politischer Selbstbestimmung, LA für Joachim Jens Hesse, 2016, S. 181 ff. 15 Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996, S. 13 (19); Mestre, Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Frankreich, in: von Bogdandy/Cassese/Huber (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Band III, 2010, § 43 Rn. 76.
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Großbritannien16 oder auf Ebene der Europäischen Union17 etablierten Sicht, erleichtert das nicht nur ein umfassenderes Verständnis der der (Verwaltungs-)Gerichtsbarkeit zugewiesenen Funktion.18 Dogmatisch gewendet erschließt es auch das Verständnis für eine demokratiespezifische Ventil- oder Kompensationsfunktion des Rechtsschutzes und seinen Beitrag zur Sicherung eines hinreichenden demokratischen Legitimationsniveaus staatlicher Entscheidungen.19 Diesen Beitrag hat das Bundesverfassungsgericht in jüngster Zeit erstmals ausdrücklich anerkannt. Im Urteil zur Europäischen Bankenunion vom 30. Juli 2019 hat es unter Anknüpfung an die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die gerichtliche Kontrolle von BaFin und Bundesbank ausdrücklich als Elemente bezeichnet, die mit deren Unabhängigkeit verbundene Einflussknicke kompensieren könnten.20 Wörtlich heißt es mit Blick auf den Abwicklungsfonds (SRM): „Die genannten Vorkehrungen können die mit der Anordnung der Unabhängigkeit verbundenen Einflussknicke teilweise, wenn auch nicht vollständig kompensieren (…). In der Gesamtschau lassen sich die mit der Unabhängigkeit der BaFin im Rahmen des einheitlichen Abwicklungsmechanismus verbundenen Einflussknicke durch die angeführten legitimationssichernden Vorkehrungen so ausgleichen, dass eine Berührung der durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätze vermieden wird. Das setzt allerdings voraus, dass die einzelnen Vorkehrungen im Lichte des Demokratieprinzips ausgelegt und angewandt und die Möglichkei16 Loughlin, Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Großbritannien, in: von Bogdandy/Cassese (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Band III, 2010, § 44 Rn. 13 f.; Spoerr, VerwArch 82 (1991), S. 25 (32 f.). 17 EuGH, Urt. v. 12. 5. 2011 – Rs. C-115/09 – Trianel; Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997, passim. 18 Rennert, Funktionswandel der Verwaltungsgerichtsbarkeit?, in: Schenke/ Suerbaum (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Europäischen Union. 2016, S. 165 (185), spricht insoweit eher distanzierend von (vermeintlichen) „Prokuratoren“ des Allgemeininteresses. 19 Zur Pluralisierung der demokratischen Legitimationsvermittlung BVerfGE 107, 59 (92 ff.); 93, 37 (67 f.); 107, 59 (87 f.); 130, 76 (124); 137, 185 (232 f. Rn. 131); 139, 194 (225 Rn. 107); BVerfG, Beschl. v. 13. 6. 2017 – 2 BvE 1/15 –, juris, Rn. 87; BVerfGE 147, 50 (127 f. Rn. 198) – Parlamentarisches Auskunftsrecht; 151, 202 (291 f. Rn. 130 f.) – Europäische Bankenunion. 20 BVerfGE 151, 202 (336 f. Rn. 229, 361 f. Rn. 289 ff.).
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ten für eine demokratische Rückkoppelung an den Deutschen Bundestag ausgeschöpft werden.“21
Dem entspricht das in der Rechtsprechung seit 1993 anerkannte – von Teilen des Schrifttums allerdings noch immer befehdete22 – Recht auf demokratische Selbstbestimmung.23 Danach verbürgt Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG über die dort genannten Wahlrechtsgrundsätze hinaus auch das Recht auf effektive politische Mitbestimmung der einzelnen Wahlberechtigten.24 Das relativiert ein Stück weit die aus dem Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts überkommene und für den Rechtsstaat prägende Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen dem ausschließlich institutionenbezogenen Staatsorganisationsrecht auf der einen und den dem Individualschutz dienenden Grundrechten auf der anderen Seite und nimmt Bürgerinnen und Bürger in ihrer Rolle als
21
BVerfGE 151, 202 (361 f. Rn. 291 f.) – Europäische Bankenunion, unter Hinweis auf vgl. EuGH, Urt. v. 9. 2010 – Rs. C-518/07 – Kommission/ Deutschland, ECLI:EU:C:2010:125, Rn. 45; Koch, Die Externalisierungspolitik der Kommission, 2004, S. 130 f.; Masing, in: Festschrift für Reiner Schmidt, 2006, S. 521 (528); Wiedemann, Unabhängige Verwaltungsbehörden und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur demokratischen Legitimation, in: Masing/Marcou (Hrsg.), Unabhängige Regulierungsbehörden, 2010, S. 39 (48 f.); Couzinet, in: Debus/Kruse/Peters/Schröder/Seifert/Sicko/Stirn (Hrsg.), Verwaltungsrechtsraum Europa: 51. Assistententagung Öffentliches Recht, 2011, S. 213 (222); Ruffert, in: Festschrift für Dieter H. Scheuing, 2011, S. 399 (405); Ruthig, ZHR 178 (2014), S. 443 (468 f.); Groß, Die Legitimation der polyzentralen EU-Verwaltung, 2015, S. 112; von Lewinski, ZG 2015, S. 228 (243); Ruccia, The Single Resolution Mechanism and the Single Resolution Fund: Substantive Issues and the Contradictory Democratic Deficit, in: Daniele/Simone/Cisotta (Hrsg.), Democracy in the EMU in the Aftermath of the Crisis, 2017, S. 319 (330 f.); Spiecker genannt Döhmann, JZ 2010, S. 787 (790); Michel, Institutionelles Gleichgewicht und EU-Agenturen, 2015, S. 155, 224; Glauben, DVBl. 2017, S. 485 (490). 22 Vgl. zur bereits ausführlich Huber, Verfassungsstaat und Finanzkrise, 2014, S. 45 f. m.z.N.; Pernice, EuZW 2020, S. 508 (509 f.). 23 BVerfGE 89, 155 (171) – Maastricht; 97, 350 (368); 123, 267 (330) – Lissabon; 129, 124 (168) – EFS; 134, 366 (396 Rn. 51); 142, 123 (189 Rn. 123) – OMT; 146, 216 (249 Rn. 45) – PSPP-Vorlage; 151, 202 (285 Rn. 115) – Europäische Bankenunion; 154, 17 (84 ff. Rn. 98 ff.) – PSPP-Programm der EZB; 24 BVerfGE 89, 155 (182) – Maastricht; 123, 267 (330, 356) – Lissabon; 142, 123 (195 Rn. 138) – OMT; 151, 202 (288 Rn. 122) – Europäische Bankenunion.
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„citoyens“ erstmals25 ernst.26 Vor diesem Hintergrund erscheint etwa die bayerische Popularklage (Art. 98 Satz 4 BV, Art. 55 BayVfGHG), die es jedermann ermöglicht, ohne die Rüge einer subjektiven Rechtsverletzung an der Kontrolle der Gesetzgebung mitzuwirken, weniger als folkloristische Skurrilität, denn als eine demokratiespezifische Innovation, die ihrer Zeit weit voraus war.27 Dieser Funktionswandel der Rechtsprechung hat freilich Konsequenzen. Er ergänzt die rechtsstaatliche Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 6 EMRK, Art. 47 GRCh) um den Belang, für die bestmögliche Durchsetzung des demokratisch gesetzten Rechts zu sorgen (Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 23 Abs. 1 GG, Art. 4 Abs. 3 EUV). Das kann dazu zwingen, Kompetenz- und Verfahrensfragen im unionalen wie nationalen Kontext größere Aufmerksamkeit zu schenken oder die Rechtsprechung zu Ermessens-, Planungs- und Regulierungsspielräumen der Verwaltung im Lichte des Demokratieprinzips zu überprüfen. Es kann Konsequenzen für den Umgang mit rechtwidrigem Verwaltungshandeln und den einschlägigen Heilungsvorschriften haben (§§ 45, 46 VwVfG, §§ 214, 215 BauGB), für die Interpretation von Regelungen über die Rechts- und Fachaufsicht und auch für die Handhabung von § 42 Abs. 2 und § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das kann, wie die Europäisierung des Verwaltungsrechts zeigt,28 auch mit einer 25
In eine ähnliche Richtung weist allerdings schon der Brokdorf-Beschluss, BVerfGE 69, 315 (344 ff.). 26 Näher dazu Huber, Verfassungsstaat und Finanzkrise, 2014, S. 43; Huber, AöR 141 (2016), S. 117 ff. 27 Huber, BayVBl. 2012, S. 257 ff.; zur Entstehungsgeschichte der Popularklage: Flurschütz, Die bayerische Popularklage nach Art. 55 BayVfGHG, 2014, S. 44 ff. 28 BVerfGE 140, 317 (335 ff. Rn. 34 ff.) – Identitätskontrolle I; 147, 364 (383 ff. Rn. 48 ff.) – Rumänien II; EuGH, Urt. v. 26. 2. 2013 – Rs. C-399/11 – Melloni, ECLI:EU:C:2013:107; Urt. v. 5. 4. 2016 – Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU – Aranyosi und Caˇldaˇ raru, EU:C:2016: 198.; Urt. v. 20. 3. 1997 – Rs. C-24/ 95 – Land Rheinland-Pfalz/Alcan Deutschland; EuGH, Urt. v. 21. 9. 1983 – Rs. C-205/82 u. a. – Deutsche Milchkontor, ECLI:EU:C:1983:233, Rn. 30 ff.; Urt. v. 12. 5. 1998 – Rs. C-366/95 – Steff-Houlberg, ECLI:EU:C:1998:216, Rn. 15; Urt. v. 16. 7. 1998 – Rs. C-298/96 – Oehlmühle, ECLI:EU:C:1998:372, Rn. 24; BVerwGE 92, 81 (87); BVerwG NVwZ 1995, S. 703 (706); NVwZ-RR 2015, S. 21 (22 Rn. 32).
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Absenkung individualschützender Standards im Interesse des Gemeinwohls verbunden sein. b) Grenzen der Instrumentalisierung Die demokratische Ergänzung der Rechtsprechungsfunktion darf die Unterschiede zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit allerdings nicht nivellieren und den gerichtlichen Rechtsschutz nicht in eine besondere Form der Rechtsaufsicht verwandeln.29 Auch wenn eine Neuaustarierung des Rechtsschutzes zwischen grundrechtlich radiziertem Individualrechtsschutz und objektiver Rechtmäßigkeitskontrolle im Dienste der Demokratie eine notwendige Fortentwicklung ist, darf dies doch nicht dazu führen, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit des 21. Jahrhundert zu den Wurzeln zurückkehrt, aus denen sie vor ihrer Emanzipation im 19. Jahrhundert entstand. Dieser Preis für den demokratischen Legitimationsbeitrag der Gerichte wäre definitiv zu hoch.30 II. Öffentlichkeit und Kritik Die gesellschaftliche Entwicklung Europas seit dem Zweiten Weltkrieg ist nicht nur durch eine Emanzipation weiter Teile der Bevölkerung gekennzeichnet. Auch die Kommunikationsbedingungen haben sich vor allem in den letzten 25 Jahren unter dem Einfluss des Netzes, von Globalisierung und Digitalisierung grundlegend gewandelt. Das fordert die Justiz heraus. Stärker als früher ist sie dem Säurebad einer schwer überschaubaren, zeitnahen und vielschichtigen, nicht selten unqualifizierten öffentlichen Kritik ausgesetzt. Auch hat die Bereitschaft nachgelassen, in politisch oder ideologisch umstrittenen Fällen einen Richterspruch zu akzeptieren, sich auf seine Begründung einzulassen und den Eintritt des Rechtsfriedens hinzunehmen. Das mag ein Blick auf das Bundesverfassungsgericht illustrieren, das in Deutschland zwar nach wie vor besonderes Vertrauen genießt und in 29
Rennert, Funktionswandel der Verwaltungsgerichtsbarkeit?, in: Schenke/ Suerbaum (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Europäischen Union. 2016, S. 165 (187). 30 Huber, Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVBl. 2021, S. 753 (761).
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den Meinungsumfragen regelmäßig an der Spitze aller Institutionen rangiert,31 auch wenn nur wenige32 eine klare Vorstellung von seiner Stellung, Organisation und Arbeitsweise haben und die Bundesgerichte in der Regel nicht auseinander halten können. Die Popularität schützt jedoch nicht vor Kritik, öffentlichem und politischem Druck, Kampagnen und Verschwörungstheorien. 1. Kritik am Bundesverfassungsgericht Konrad Adenauers Erklärung im Bundestag, die Bundesregierung sei sich einig gewesen, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Deutschland Fernsehen GmbH33 falsch sei,34 gehört ebenso zur Verfassungsgeschichte der Republik wie die teilweise Herbert Wehner, teilweise Horst Ehmke zugeschriebene Schmähung der „acht Arschlöcher in Karlsruhe“, von denen man sich die Ostpolitik der Regierung Brand/ Scheel nicht kaputt machen lassen wolle.35 Spätere Kontroversen betrafen das Abtreibungsurteil I von 197536 oder den Kruzifix-Beschluss des Jahres 1995, gegen den auf Betreiben des damaligen CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber ca. 40.000 Demonstranten auf dem Odeonsplatz in
31 Köcher, Im Namen des Volkes. Allensbach Analyse, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 8. 2014 (abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/al lensbach-analyse-im-namen-des-volkes-13106492.html); Infratest dimap, ARDDeutschlandTREND: Mai 2017. Vertrauen in Institutionen, in: Infratest dimap, ARD-DeutschlandTREND Mai 2017. Eine Studie im Auftrag der Tagesthemen, S. 22 (abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend-779. pdf). 32 Das gilt bedauerlicherweise auch für Juristen. 33 BVerfGE 12, 205 – Rundfunkurteil I. 34 Goege, Verbot des Adenauer-Fernsehens. Vor 50 Jahren hat das Bundesverfassungsgericht eine Bundesfernsehanstalt verboten, Deutschlandfunk Kultur, 28. 2. 2011 (abrufbar unter: http://www.deutschlandradiokultur.de/verbot-des-ade nauer-fernsehens.932.de.html?dram:article_id=131092). 35 Schueler, Die Konterkapitäne von Karlsruhe, Die Zeit, 24. 2. 1978 (abrufbar unter: https://www.zeit.de/1978/09/die-konterkapitaene-von-karlsruhe); Prantl, Feuerkopf der SPD, Süddeutsche Zeitung, 13. 3. 2017 (abrufbar unter: https:// www.sueddeutsche.de/politik/zum-tod-von-horst-ehmke-feuerkopf-der-spd-1. 3417291-0). 36 BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I.
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München demonstriert und das Gericht medial in die Defensive gedrängt haben.37 In jüngerer Zeit haben sicherheitsrechtliche, europarechtliche, wahlrechtliche und die COVID 19-Pandemie betreffende Entscheidungen zu mitunter harschen Reaktionen geführt: Seit den 2000er Jahren sind es vor allem Entscheidungen zu Rasterfahndung, Luftsicherheitsgesetz, Online-Durchsuchung und Vorratsdatenspeicherung,38 die Unmut erregen weil sie den Sicherheitsanstrengungen der Politik nach deren Wahrnehmung immer wieder in den Arm fielen. Nach dem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 200939 sah sich auch die europarechtliche Rechtsprechung40 vor allem deshalb der Kritik ausgesetzt, weil sie auf der – politische Unannehmlichkeiten nach sich ziehenden – Einhaltung von Grundgesetz und Verträgen bestand. Die mitunter äußerst emotionale und unsachliche Kritik wurde von Politikern und vor allem Professoren, die den Nationalstaat überwunden wähnen oder dessen Überwindung herbeisehnen, nach Kräften befeuert,41 hielt auch während der bald danach ausgebrochenen Euro-Krise an42 und erreichte 37
Vgl. dazu BVerfGE 93, 1; Prantl, Aufstand der Aufgeregten. 20 Jahre Kruzifix-Urteil, Süddeutsche Zeitung, 19. 8. 2015 (abrufbar unter: http://www.sued deutsche.de/politik/jahre-kruzifix-urteil-aufstand-der-aufge-regten-1.2613635). 38 Aus jüngerer Zeit BVerfGE 141, 220 – BKAG. 39 BVerfGE 123, 267 – Lissabon. 40 Rath, Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts, 2013, S. 32, 67 f. 41 Siehe etwa Halberstam/Möllers, The German Constitutional Court says „Ja zu Deutschland“, GLJ 10 (2009), S. 1241. 42 Ludwigs, Der Ultra-vires-Vorbehalt des BVerfG – Judikative Kompetenzanmaßung oder legitimes Korrektiv?, NVwZ 2015, S. 537, 539; Wendel, Kompetenzrechtliche Grenzgänge: Karlsruhes Ultra-vires-Vorlage an den EuGH, ZaöRV 2014, S. 615, 618 und 629; Sauer, Doubtful it Stood…: Competence and Power in European Monetary and Constitutional Law in the Aftermath of the CJEU’s OMT Judgment, GLJ 16 (2015), S. 971, 986 ff.; Schwerdtfeger, Europäisches Unionsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Grundrechts, ultra-vires- und Identitätskontrolle im gewaltenteiligen Mehrebenensystem, EuR 2015, S. 290, 302; Mayer, Rebels without a cause? Zur OMT-Vorlage des Bundesverfassungsgerichts, EuR 2014, S. 473, 495 f.; Proelß, Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Kompetenzmäßigkeit von Maßnahmen der Europäischen Union: Der „ausbrechende Rechtsakt“ in der Praxis des BVerfG, EuR 2011, S. 241, 247 f.; Tomuschat, Anmerkung zu BVerfG, 2. Senat, Urt. v. 18. 3. 2014 –
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mit dem PSPP-Urteil vom 5. Mai 2020 einen (vorläufigen) Höhepunkt. Angesichts von mittlerweile 8,1 % Inflation, die jedenfalls auch eine Folge der umstrittenen EZB-Maßnahmen ist, sind die Kritiker zuletzt allerdings etwas leiser geworden. Daneben hat insbesondere die wahlrechtliche Judikatur des Zweiten Senats die Politik herausgefordert. Die Entscheidungen zum negativen Stimmgewicht,43 den Überhangmandaten44 und insbesondere zur Verwerfung der 5 %-45 wie der 3 %-Klausel46 für die Europawahl haben manche Politiker der etablierten Parteien so erbost, dass man in Berlin schon über eine Entmachtung des Bundesverfassungsgerichts nachzudenken begann.47 Sie sahen in der – in der Tat nicht völlig geradlinigen und auch im Gericht selbst umstrittenen48 – Rechtsprechung einen Übergriff auf ihr Terrain, einen Eingriff in das Ringen um Machtgewinn und Machterhalt, und natürlich auch in ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen. Das gilt auch für die Rechtsprechung des Senats zur Öffentlichkeitsarbeit von Regierungsmitgliedern, auch wenn die Reaktionen hier weniger schrill waren. Andere werfen den Richtern aber auch vor, „Angst vor der Macht“ zu haben.49 In den letzten beiden Jahren sind es vor allem die als zu 2 BvR 1390/12 – u. a. – VB und Organstreitverfahren gegen ESM und Fiskalpakt erfolglos = DVBl. 2014, S. 640 ff. Der Bundestag als Herr der Außenpolitik?, DVBl. 2014, S. 645. 43 BVerfGE 121, 266 – Negatives Stimmgewicht. 44 BVerfGE 131, 316 – Überhangmandate II. 45 BVerfGE 129, 300 – 5 %-Klausel Europawahlen. 46 BVerfGE 135, 259 – 3 %-Klausel Europawahlen. 47 Ketten für Karlsruhe, Der Spiegel, 7. 4. 2014, S. 14 (abrufbar unter: https:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-126427221.html); von Arnim, Die Angst der Richter vor der Macht. Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 7. 2015 zur verdeckten Staatsfinanzierung der Parteien (2 BvE 4/12), 2015, S. 92 ff. m.w.N.; Eckardt/ Huber, Sollten die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts beschnitten werden?, in: Cahn (Hrsg.), Juracon Jahrbuch 2015/2016, 2015, S. 80. 48 BVerfGE 95, 322 – Überhangmandate I ist mit 4:4 Stimmen ergangen, zu BVerfGE 129, 300 – 5 %-Klausel Europawahlen haben die Richter Di Fabio und Mellinghoff, zu BVerfGE 135, 259 – 3 %-Klausel Europawahlen der Richter Müller ein Sondervotum abgegeben. 49 Von Arnim, Die Angst der Richter vor der Macht. Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 7. 2015 zur verdeckten Staatsfinanzierung der Parteien (2 BvE 4/12), 2015, S. 92 ff.
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spät und zu zahm kritisierten Entscheidungen des Ersten Senats zur Bundesnotbremse,50 zur Triage51 etc., die Woche für Woche Demonstranten vor das Bundesverfassungsgericht treiben, die Forderungen nach einer Wiederherstellung ihrer Grundrechte erheben oder Professoren von einer Abdankung des Bundesverfassungsgerichts oder dem Verlust des Rechtsstaats schwadronieren lassen.52 Freilich sind die lautstarke öffentliche Kritik an der Justiz im Allgemeinen und dem Bundesverfassungsgericht im Besonderen nicht immer repräsentativ und große Teile von Politik und Bevölkerung mit Entscheidungen oder Rechtsprechungslinien einverstanden. Nicht selten ist es die Mehrheit, die jedoch keine Veranlassung sieht, sich zu äußern. Für die Adressaten der Kritik ist das ein schwacher Trost. 2. Legitimität von Kritik Kritik an Gerichtsentscheidungen gibt es freilich, seit es Gerichte gibt. Nicht immer ist sie berechtigt, nicht immer von Sachkenntnis getragen, und mitunter auch durch die Brille der eigenen Interessen verzerrt. Harsche öffentliche Kritik am Verfassungs- oder Höchstgericht und einer missbilligten Entscheidung oder Judikatur ist kein deutsches Spezifikum. Das musste auch der sonst nicht gerade im Zentrum der politischen Auseinandersetzungen stehende britische Supreme Court erfahren, als er im Zusammenhang mit dem Brexit über das Erfordernis einer Parlamentsbefassung zu befinden hatte, auch wenn seine Richter – anders als die der vorhergehenden Instanz des High Court in London – nicht auf den Titelseiten der britischen Boulevardpresse abgebildet und als „enemies of the people“ geschmäht wurden.53 Der österreichische Verfassungsgerichtshof geriet bei der Entscheidung über die Annullierung der Bundespräsidentenwahl 2016 durch eine verunglückte Kom50 BVerfG, Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 781/21 u. a., NJW 2022, S. 139 – Bundesnotbremse I; BVerfG, Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/ 21, NJW 2022, S. 167. 51 BVerfG, Beschl. v. 16. 12. 2021 – 1 BvR 1541/20, NJW 2022, S. 380. 52 Lepsius, FAZ v. 10. 12. 2021, S. 9; Lepsius, Einstweiliger Grundrechtsschutz nach Maßgabe des Gesetzes, Der Staat 60 (2021), S. 609 (645 ff.). 53 Phipps, British newspapers react to judges’ Brexit ruling: ,Enemies of the people‘, The Guardian, 4. 11. 2016.
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munikation an den Rand einer Verfassungskrise; vergleichbare Vorgänge lassen sich auch für Italien54, Spanien55 oder Ungarn56 belegen. Die Art und Weise der Kritik an der Justiz ist in den vergangenen Jahren härter geworden. Skandalisierende Meldungen über tatsächliche oder vermeintliche Justizskandale häufen sich, und die weitgehende Sanktionslosigkeit individuellen Fehlverhaltens im Internet trägt dazu bei, anerzogene Klugheits- und Mäßigungsmechanismen über Bord zu werfen. Man könnte diesen Befund mit einem lakonischen Schulterzucken abtun und darauf vertrauen, dass sich die „Wahrheit“ auf Dauer schon durchsetzen wird. Eine solche Haltung übersieht jedoch, dass auch die Justiz als Teil des demokratischen Verfassungsstaates von der Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger lebt, und dass diese Akzeptanz nicht gottgegeben ist, sondern jeden Tag aufs Neue errungen werden muss. Nur eine glaubwürdige, im Wesentlichen als gerecht und effektiv empfundene Justiz, so zeigt es auch der Vergleich mit anderen Staaten, schafft das Vertrauen, das es den Gerichten ermöglicht, ihre friedensstiftende und integrierende Funktion zu erfüllen. Ohne Vertrauen der Rechtsunterworfenen in die Justiz verlieren ihre Entscheidungen an Akzeptanz, droht die Gefahr, dass die an Gesetz und Gemeinwohl ausgerichtete hoheitliche Streitschlichtung durch andere Instrumente ersetzt wird – private Schiedsgerichte, subkulturelle Streitschlichter oder das Faustrecht. a) Grundsatz Natürlich ist fachliche und sachliche Kritik an gerichtlichen Entscheidungen und Rechtsprechungslinien nicht nur legitim – nicht nur für die unterlegenen Parteien, sondern auch für die zur Kontrolle der Gerichte berufene Öffentlichkeit (vgl. § 169 GVG, § 17a BVerfGG). Sie ist durch das Demokratieprinzip sogar indiziert, wenn sie dazu beiträgt, die sachlich-inhaltliche Legitimation der Dritten Gewalt zu erhö54
Cassese, Dentro la Corte, 2015, S. 262. Requejo Pagés, Gestalt und Probleme der Europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: von Bogdandy/Grabenwarter/Huber (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Band VII, 2021, § 106 Rn. 140. 56 Zur Beschränkung der Kompetenzen des Verfassungsgerichts in Ungarn, vgl. Venedig-Kommission, Gutachten Nr. 614/2011 CDL-AD(2011)001, § 9, 74 (abrufbar unter: https://www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDLAD(2011)001-e). 55
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hen und sie an den Willen des Normgebers zurückzubinden. Dies gilt in besonderem Maße für das nur schwach determinierte Verfassungsrecht.57 Konstruktivste Kritik an gerichtlichen Entscheidungen ist in unserer Rechtsordnung vor allem Kritik am Maßstab der Dogmatik. Sie trägt zur Berechenbarkeit, Rationalität und Kohärenz der Rechtsprechung bei und dazu, die Möglichkeiten persönlicher Präferenzentscheidungen des einzelnen Richters zu reduzieren. Dogmatik sichert so die Objektivität der Entscheidungsfindung, die Stimmigkeit der Rechts- bzw. Verfassungsordnung und hilft, Wertungswidersprüche zu vermeiden oder jedenfalls zu vermindern.58 Hervorbringung und Fortentwicklung von Dogmatik sind freilich nur zu einem – geringeren – Teil Aufgabe der Rechtsprechung. Sie ist vielmehr das Produkt eines über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte andauernden dialektischen Prozesses zwischen Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung auf der einen und Rechtswissenschaft und Medien auf der anderen Seite. Dabei kommt vor allem der Rechtswissenschaft eine zentrale Aufgabe zu: Sie hat die verschiedenen Schichten der Rechtsordnung zu analysieren und zu systematisieren, Wertungswidersprüche aufzudecken und zu bereinigen, Rechtsakte einzuordnen und dazu beizutragen, das Substrat der Verfassung, ihre Werte über Legislaturperioden und Amtszeiten einzelner Richterinnen und Richter hinweg zu bewahren, lebendig zu halten und weiterzuentwickeln. Mehr als alle anderen Akteure in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (Peter Häberle) ist die Rechtswissenschaft in der Lage, die juristisch codierte Sprache der Gerichte zu entschlüsseln und auch für ein breiteres Publikum nachhaltig verständlich zu machen. So kann sie – wenn sie ihre Aufgabe ernst nimmt – stellvertretend für die demokratische Öffentlichkeit eine methodisch valide Oberaufsicht des Publikums59 über die Dritte Gewalt gewährleisten.60
57
Huber, Recht und Rechtswissenschaft, JZ 2022, S. 1 (5). Huber, Recht und Rechtswissenschaft, JZ 2022, S. 1 (6 f.). 59 Bentham, Tactik oder Theorie des Geschäftsganges in deliberierenden Volksversammlungen, 1817, S. 11. 60 Huber, Recht und Rechtswissenschaft, JZ 2022, S. 1 (7). 58
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b) Grenzen Problematisch wird Kritik dagegen, wenn sie die Grenze der Sachlichkeit verlässt, ins Persönliche gewendet wird oder die Gerichte als solche infrage stellt. In Polen etwa wurden – vor der Gleichschaltung des Verfassungsgerichts – der damalige Präsident Andrzej Rzeplinski sowie die Richter Marek Zubik und Mirosław Wyrzykowski in der Gazeta Polska vom 11. Januar 2019 auf einer schwarz-rot-gold unterlegten Titelseite als deutsche Agenten denunziert.61 Bei uns wird der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, vor allem von der Springer-Presse seit längerem und kampagnenartig als Marionette der früheren Bundeskanzlerin Merkel angegriffen, seine Wahl im Wege der Organklage angefochten, seine Tätigkeit durch Befangenheitsanträge torpediert u.a.m. Die Richterin Susanne Baer wurde wegen ihrer – der Öffentlichkeit bekannten – sexuellen Orientierung von Abgeordneten und sog. einfachen Bürgerinnen und Bürgern wiederholt beschimpft bzw. gestalkt. III. Öffentlichkeit als Integrationsressource Wie Gerichte auf die Herausforderungen einer zunehmend in voneinander abgeschottete Resonanzräume zerfallenden Gesellschaft bzw. eines nicht mehr erreichbaren Teils der Gesellschaft reagieren können, um den Funktionsauftrag aus Art. 92 GG wirkungsvoll zu erfüllen, ist offen. 1. Allgemeines Unverzichtbar sind Professionalität, Nüchternheit und Unparteilichkeit der Richterinnen und Richter, aber auch ihre Einbindung in tragfähige kollegiale Strukturen. Befunde wie beim sog. Deal im Strafprozess (§ 257c StPO), für den eine empirische Untersuchung zutage förderte, dass sich im Land Nordrhein-Westfalen mehr als die Hälfte der befragten Richter nicht an das Gesetz hielten,62 verbieten sich vor diesem Hintergrund. Wenn die Justiz das Gesetz nicht achtet, delegitimiert sie sich selbst. 61 62
Gazeta Polska, 11. Januar 2019 – Niemcy to wysz kultur. BVerfGE 133, 168 ff. – Deal im Strafprozess.
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Daneben bedarf es mehr und mehr aber auch einer effektiven, die spruchrichterliche Tätigkeit flankierenden Öffentlichkeitsarbeit. Diese ist umso wichtiger, je „politischer“, d. h. normativ weniger determiniert gerichtliche Entscheidungen sind. 2. Adressaten Adressat gerichtlicher Öffentlichkeitsarbeit ist zunächst einmal die jeweilige (nationale) Öffentlichkeit und ihre Medien, die die Entscheidungen für ein größeres Publikum aufbereiten müssen bzw. sollen. Je weniger das geschieht, umso mehr ist ein (Verfassungs-)Gericht gefordert, seine Rechtsprechungslinien auf andere Weise „unter die Leute“ zu bringen. Aussendungen, Newsletter und eine attraktive Homepage sind heute insoweit unverzichtbare Instrumente. Angesichts der grundlegenden Veränderungen der gesellschaftlichen Kommunikation durch die Digitalisierung, ihrer zunehmenden Fragmentierung und einer kontinuierlich steigenden Reiz- und Aufmerksamkeitsschwelle kann es aber auch angezeigt sein, sich auf sozialen Netzwerken wie Youtube, Facebook, Twitter,63 Instagram etc. zu präsentieren und zu kommunizieren. Im Europäischen Verfassungsgerichtsverbund hat auch die Öffentlichkeit in anderen (Mitglied-)Staaten für die Rechtsprechung der Verfassungs- und Höchstgerichte Bedeutung erlangt. Entscheidungen – wie die des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon,64 zum ESM und SKSV,65 zur europäischen Bankenunion oder zu den Anleihekaufprogrammen der EZB – OMT und PSPP – betreffen schon von ihrem Gegenstand auch die (finanziellen) Interessen anderer Mitgliedstaaten. Zum andern stellen sich – wie bei der Beschlussfassung des Rates über das Handelsabkommen CETA,66 der Privilegierung von Einheimischen beim Zugang zu öffentlichen Einrichtungen,67 der Zulässig63
Das Bundesverfassungsgericht ist auf Twitter präsent und hat dort nur ca. 77.000 Follower. 64 BVerfGE 123, 267 ff. – Lissabon. 65 BVerfGE 132, 19 – e. A. ESM; 135, 317 – ESM. 66 Deutschland: BVerfGE 143, 65, 93 Rn. 50 ff. – e. A. CETA. 67 Deutschland: BVerfG NJW 2016, S. 3153, 3154 – Watzmanntherme; Italien: vgl. EuGH, Urt. v. 16. 1. 2003, Rs. C-388/01, ECLI:EU:C:2003:30 – Kommission/Italien.
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keit von Sperrklauseln bei der Europawahl,68 der Interpretation der Grundrechtecharta oder des sonstigen Primärrechts69 – in allen Staaten des europäischen Rechtsraumes häufig dieselben Rechtsfragen. Das verstärkt das transnationale Interesse an der Rechtsprechung und ruft eine Öffentlichkeit jenseits des eigentlichen Zuständigkeitsbereichs auf den Plan. Auch diese bedienen zu müssen, kann ein Verfassungs- oder Höchstgericht an den Rand der Überforderung bringen. Immerhin haben immer mehr Verfassungs- und Höchstgerichte jedenfalls einen englischen Internetauftritt und veröffentlichen auch wichtige Pressemitteilungen auf Englisch, seltener in Französisch, Deutsch oder anderen Fremdsprachen, obwohl dies dem europäischen Rechtsraum angemessen wäre. 3. Instrumente Mehr oder weniger alle Gerichte haben in den vergangenen 20 Jahren eine grundlegende Reform und Neuausrichtung ihrer Öffentlichkeitsarbeit vorgenommen. Sie haben – wie das Bundesverfassungsgericht nach dem Kruzifix-Beschluss – Pressesprecher berufen und eigene Referate für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit installiert. Sie verfassen für ihre wichtigen Entscheidungen begleitende Pressemitteilungen,70 die es der interessierten Öffentlichkeit erleichtern sollen, Inhalt und Gründe schneller zu erfassen. Erleichtert werden kann die Öffentlichkeitsarbeit durch die Berichterstattung juristisch geschulter und über einen längeren Zeitraum in diesem Bereich tätiger Journalisten. Eine dermaßen fachlich grundierte und orientierte Berichterstattung können die Gerichte zwar nicht selbst sicherstellen. Zumindest die Verfassungs- und Höchstgerichte können jedoch Anreize setzen, die einen solchen Qualitätsjournalismus befördern und auch Verleger überzeugen, den Aufwand einer qualifizierten Berichterstattung zu tragen. Bei öffentlich-rechtlichen Sendern wie 68 BVerfGE 129, 300 – Fünf-Prozent-Sperrklausel; 135, 259 – Drei-ProzentSperrklausel. 69 Vgl. BVerfGE 158, 1 ff. – Ökotox. 70 Deutschland: Die erste Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts 1/1998 stammt vom 13. Januar 1998 und betraf einen Antrag auf einstweilige Anordnung gegen die Rechtschreibreform; Italien: d’Amico, Communicazione e Persuasione a Palazzo della Consulta: I Communicati Stampa e le ,Voci di dentro‘ tra tradizione e innovazione, SeD 2 (2018), S. 237.
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ARD, ZDF, BBC, ORF oder RAI dürfte das ohnehin zum Programmauftrag gehören, auch wenn er nicht immer überzeugend erfüllt wird. Gerichte können Journalisten ferner einen strukturierten und institutionell verfestigten Dialog anbieten, der sie bei allfälligen Konflikten mit der Politik, europäischen Institutionen oder der Öffentlichkeit jedenfalls nicht völlig wehr- und sprachlos dastehen lässt. So hat man beim Bundesverfassungsgericht etwa gute Erfahrungen mit der in Karlsruhe bestehenden Justizpressekonferenz ( JPK) gemacht. Dabei handelt es sich um einen eingetragenen Verein, der sich aus ständig bei den Karlsruher Gerichten tätigen Korrespondenten und Redakteuren zusammensetzt71 und satzungsmäßig den Zweck verfolgt, durch regelmäßige Rechtsgespräche zwischen Bundesverfassungsrichtern, Bundesrichtern, Bundesanwälten, Rechtsgelehrten und Politikern auf der einen sowie rechtspolitischen Journalisten auf der anderen Seite am Verständnis des Rechts und seiner Fortentwicklung mitzuwirken. Zur Öffentlichkeitsarbeit eines Verfassungsgerichts im weiteren Sinne gehören schließlich auch Veranstaltungen, Interviews, Vorträge und Publikationen, mit denen das Gericht seine Rechtsprechung in der (Fach-)Öffentlichkeit zu vermitteln und natürlich auch für sie zu werben sucht. Dies fordert naturgemäß vor allem Präsident und Vizepräsident, ist aber letztlich Aufgabe aller Richterinnen und Richter, die ihre spruchrichterliche Tätigkeit auf diese Weise – je nach Temperament und Sozialisation – medial flankieren können bzw. müssen. Dass sich die Politik dadurch herausgefordert fühlen kann, weil sie das (Zusammen-) Spiel mit den Medien als ihr ureigenes Terrain betrachtet, muss dabei in Rechnung gestellt werden und sollte eine gewisse Behutsamkeit bei der Wahl der Form und der Mittel nahelegen.72 Dass der Versuch immer wieder auf Kritik stößt,73 stellt dessen Notwendigkeit jedoch nicht in Frage.
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Satzung der Justizpressekonferenz Karlsruhe e. V. ( JPK), Nr. 8. Vgl. zum reißerischen Artikel von Gude/Hoffmann/Müller, Merkels Chef, Der Spiegel, 10/2013, S. 20 (abrufbar unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d91346544.html) über ein vertrauliches Hintergrundgespräch des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, im Rahmen der Bundespressekonferenz in Berlin sogleich. 73 Rath, Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts, 2013, S. 32. 72
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Als sich etwa Andreas Voßkuhle auf Einladung der Bundespressekonferenz in Berlin in einem vertraulichen Hintergrundgespräch äußerte, stellte „Der Spiegel“ – unter Verstoß gegen die Vertraulichkeitsregeln – in einem reißerischen Beitrag unter der Überschrift „Merkels Chef“ fest: „Es war ein spektakulärer Termin, der am vergangenen Mittwochnachmittag in der Bundespressekonferenz abgehalten wurde, ein Termin, der mit allen Regeln brach. nie zuvor hatte ein Verfassungsgerichtspräsident mit einem Auftritt in der Bundespressekonferenz die große Bühne gesucht. Verfassungsrichter sind schließlich keine Politiker, die ihr Handeln vor der Öffentlichkeit rechtfertigen müssten. Nie zuvor auch hatte ein oberster Verfassungsrichter derart demonstrativ die Distanz zum Berliner Betrieb aufgegeben und im Zentrum der Macht seine eigene Agenda vorgetragen. Die Politik verstand seinen Auftritt als das, was er war: eine unbotmäßige Einmischung.“74
IV. Unkonventionelle Maßnahmen Die Veränderung der sozialen Kommunikation kann aber auch unkonventionelle Maßnahmen wie Tage der offenen Tür, Informationsstände bei geeigneten Veranstaltungen, Filme über Geschichte, Aufbau und Rechtsprechung oder populäre Bücher, Broschüren etc. umfassen. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht eine am 3. Oktober 2018 vom Maxim Gorki Theater am Brandenburger Tor in Berlin aufgeführte Performance „grundgesetzt“, bei der zentrale Passagen des Grundgesetzes 45 Minuten lang rezitiert, getanzt, gesungen und von ca. 40.000 Zuschauer konzentriert, ja andächtig verfolgt wurden, auch beim Verfassungsfest 2019 in Karlsruhe auf den Balkonen des Bundesverfassungsgerichts aufführen lassen, was tausende von Zuschauern sicherlich erstmals veranlasst hat, über das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht nachzudenken. Ein besonders gelungenes Beispiel für eine unkonventionelle Öffentlichkeitsarbeit jenseits der richterlichen Spruchtätigkeit ist auch die in Italien von der Corte Costituzionale unter dem Stichwort „Viaggio in Italia“ – mit ausdrücklicher Rückendeckung des Staatspräsidenten – 74 Gude/Hoffmann/Müller, Merkels Chef, Der Spiegel, 10/2013, S. 20 (abrufbar unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-91346544.html).
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durchgeführte Reise der Richterinnen und Richter in die Gefängnisse und Schulen des Landes. Das Projekt wurde von der RAI übertragen und in einem Dokumentarfilm auf der Biennale gezeigt. Der Film ist spektakulär und hat ein enormes positives Echo ausgelöst.75 V. Fazit Seit die Studierenden 1968 gegen den (vermeintlichen) „Muff von 1000 Jahren“ an den Universitäten ankämpften, ist eine Institution nach der anderen entzaubert worden. Die Justiz blieb dabei lange außen vor. Zwar gab es schon früh Bemühungen, ihre nationalsozialistische Erblast aufzuarbeiten. Gleichwohl blieb die Debatte um die „furchtbaren Juristen“ des NS-Regimes eine Frage für speziell Interessierte, die die Mitte der Gesellschaft kaum erreicht hat. Im Gegenteil: die Tätigkeit des jedenfalls institutionell76 unbelasteten, dezidiert neue Wege beschreitenden Bundesverfassungsgerichts, das mit Entscheidungen wie dem Elfes-77 und dem Lüth-Urteil78 ein „weiter so“ nach 1949 verhindert hat, aber auch der Auschwitz-Prozess und das Wirken des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer haben u. a. dazu beigetragen, dass die Dritte Gewalt weniger Angriffsflächen bot als andere Institutionen. In jüngster Zeit scheint sich die Haltung der Öffentlichkeit zur Justiz jedoch zu ändern. Sie ist anspruchsvoller, kritischer und irrationaler geworden, und die Justiz tut sich schwer, damit umzugehen. Auch wenn die Deutschen im Vergleich zu anderen Ländern nach wie vor ein besonders hohes Vertrauen in ihre Richterinnen und Richter haben, sind ihre Entscheidungen zunehmend Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Kontroversen. Das betrifft nicht nur das Bundesverfassungsge-
75 Corte cost. 149/2018; Stasio, Il Viaggio e i suoi protagonisti (abrufbar unter: https://www.cortecostituzionale.it/jsp/consulta/viaggioItalia/viaggio-in-italia-resoc onto.do); Chinni, La Communicazione della Corte Costituzionale: Risvolti Giuridici e Legittimazione Politica, SeD 2 (2018), S. 255; d’Amico, Communicazione e Persuasione a Palazzo della Consulta: I Communicati Stampa e le ,Voci di dentro‘ tra tradizione e innovazione, SeD 2 (2018), S. 237. 76 Siehe jüngst Michl, Wiltraud Rupp-von Brünneck (1912 – 1977), 2022. 77 BVerfGE 6, 32 ff. – Elfes. 78 BVerfGE 7, 198 ff. – Lüth.
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richt, sondern auch die Fachgerichtsbarkeit, die in der Mediendemokratie und mit deren Mitteln für die Erfüllung ihres Auftrags aus Art. 92 GG sorgen müssen.
Der Wächter im Schloss Bellevue: Zur Rolle des Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung Von Stefan Ulrich Pieper1 I. Einleitung Herzlichen Glückwunsch, lieber Herr Schmidt-Jortzig, nachträglich zu Ihrem Geburtstag! Für mich ist es eine große Ehre, heute anlässlich Ihres Geburtstages sprechen zu dürfen. Herr Schliesky hat mir das Thema nahegelegt, weil er meinte, dass es im Kontext der Tagung von Interesse sein könnte. Für mich ist das Thema zwar kein dienstlicher Alltag, aber die Fragen, die ich ansprechen werde, kommen in schöner Regelmäßigkeit auf mich zu, seit ich den Bundespräsidenten berate2 – im Schnitt alle vier Jahre gegen Ende einer Legislaturperiode bis zum Abschluss der Regierungsbildung. Der Bundespräsident ist Verfassungsorgan, der Verfassungsorganwalter ist „einzelner Akteur im demokratischen Rechtsstaat.“ Den anderen Verfassungsorganen gegenüber zeichnet er sich dadurch aus, dass er ein monokratisches Verfassungsorgan ist, das Verfassungsorgan also aus nur einem Verfassungsorganwalter besteht. Alle anderen Verfassungsorgane treffen ihre Entscheidungen als Kollegialorgane – in der Regel mit Mehrheit. Die Entscheidungen sind dem einzelnen Organwalter eines Kollegialorgans nicht mehr unmittelbar zurechenbar, insbesondere dann nicht, wenn der Entscheidungsprozess im Arkanbereich des Verfassungsorgans liegt (vgl. etwa § 30 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) oder aber die Entscheidung in geheimer Abstimmung erfolgt (vgl. etwa §§ 4, 49 GOBT). Das ist angesichts des monokratischen Charakters des Verfas1 Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung wieder und beruht auf öffentlich zugänglichen Quellen. Der Vortragsstil wird beibehalten. 2 Vgl. allgemein Pieper, Rechtsberatung für den Bundespräsidenten – Ein Werkstattbericht, Berliner Anwaltsblatt 2020, S. 15 ff.
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sungsorgans beim Bundespräsidenten anders. Zum einen entscheidet er allein und die Entscheidung ist ihm ohne weiteres zuzurechnen. Bei Kollegialorganen fällt die Entscheidung nach einer Aussprache, in der die verschiedenen Ansichten gegenübergestellt, diskutiert und abgewogen werden. Und bei Bundestag (Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG) und Bundesrat (Art. 52 Abs. 3 S. 3 GG – vgl. aber Art. 53 Abs. 3 S. 4 GG) findet das zudem auch öffentlich statt. Demgegenüber trifft der Bundespräsident seine Entscheidungen „einsam“. Entscheidungsfindung und Gründe bleiben im Arkanum. Der Diskurs in einem Kollegialorgan wird beim Bundespräsidenten idealtypisch durch die Beratung des Staatsoberhauptes durch den Chef des Bundespräsidialamtes und damit durch die Bediensteten des Amtes kompensiert.3 Der Bundespräsident sollte in der Öffentlichkeit niemals mit Ansichten und Fakten konfrontiert werden, die nicht zuvor Teil der Beratung durch das Präsidialamt gewesen sind. Trotzdem sind es seine alleinigen Entscheidungen.4 Und bei den Entscheidungsprozessen spielen die Erfahrungen, die Biographie, die Sozialisation, die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Anschauungen des Verfassungsorganwalters selbstverständlich eine nicht zu gering zu erachtende Rolle. Gutes und bewusstes Entscheiden setzt voraus, dass sich der Entscheider seiner Vorverständnisse5 klar wird und in Kenntnis dessen seine Entscheidungen trifft. So bringt jeder Bundespräsident seine Persönlichkeit in das Amt ein und füllt es vor dieser persönlichen Folie aus. Dabei wird er durch das Amt geprägt und prägt zugleich die Amtsführung.6 3 Zu dieser Funktion des Bundespräsidialamtes vgl. Pieper, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 60 Rn. 42 f. m.w.N. 4 Dem trägt das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes Rechnung, denn der Gesetzgeber hat die Vorbereitung präsidentieller Akte vom Auskunftsanspruch ausgenommen, vgl. die Gesetzesbegründung zum IFG: „Auch die Tätigkeit des Bundespräsidialamtes fällt in der Regel nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes, insbesondere nicht die Vorbereitung präsidentieller Akte des Bundespräsidenten und die vom Bundespräsidenten delegierten Akte. (…)“, (BT-Drs. 15/ 4493, S. 8); zum Auskunftsanspruch gegenüber dem Bundespräsidenten vgl. Pieper, Grundrechtliche Gewährleistungen, Bundesverwaltungsgericht und der Bundespräsident, DVBl. 2020, S. 921 ff. 5 Zum Begriff vgl. Lechner/Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2019, Rn. 91 m.w.N.; allgemein Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972. 6 Siehe auch Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2022, Art. 54 Rn. 13 ff.
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II. Verfassungsrechtliche Ausgangslage Der Bundespräsident hat eine Reihe von verfassungsrechtlichen Aufgaben in den verschiedenen Phasen des Verfassungslebens.7 Eine zentrale Rolle spielt er im Rahmen der Regierungsbildung8 nach einer Bundestagswahl, um die es hier geht.9 Seine Aufgaben reichen von der – meist öffentlich wenig beachteten – Festlegung des Wahltages gemäß § 16 S. 1 Bundeswahlgesetz (BWahlG) 10 bis zur Ernennung des Bundes7 Vgl. dazu BVerfG, Urt. v. 10. 6. 2014 – 2 BvE 2/09 –, Rn. 94 f. (abrufbar unter: http://www.bverfg.de/e/es20140610_2bve000209.html); vgl. insgesamt dazu Pieper, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 54 Rn. 2 ff. m.w.N.; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2022, Art. 54 Rn. 8 – 13. 8 Vgl. dazu jüngst: Klein, Regierungsbildung, in: Die Organisation des Verfassungsstaates: Festschrift für Martin Morlok zum 70. Geburtstag, Krüper/Bock/ Heinig/Merten (Hrsg.), 2019, S. 501 – 509; Bryde, Regierungsbildung im Vielparteienparlament, in: Die Organisation des Verfassungsstaates: Festschrift für Martin Morlok zum 70. Geburtstag, Krüper/Bock/Heinig/Merten (Hrsg.), 2019, S. 511 – 520. 9 Vgl. m.w.N. Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Band II, 2015, Art. 54 Rn. 19; vgl. zu den Tücken des Art. 63 Abs. 4 GG Hölscheidt/Mundil, „Wer hat die meisten Stimmen? Die Wahl des Bundeskanzlers in der dritten Wahlphase“ DVBl. 2019, S. 73 ff. 10 Von Art. 39 Abs. 1 GG vorgegeben ist der Zeitrahmen für die Bundestagswahl: die Wahl muss frühestens 46 und spätestens 48 Monate nach Beginn der Wahlperiode des bestehenden Bundestages stattfinden. Zudem muss der Wahltag ein Sonntag oder gesetzlicher Feiertag sein, § 16 S. 2 BWahlG. Die Anordnung des Bundespräsidenten bedarf der Gegenzeichnung gemäß Art. 58 S. 1 GG. In der Praxis wird der Wahltag ca. 9 Monate vor dem avisierten Termin festgelegt. Innerhalb der Bundesregierung ist der Bundesminister des Innern für die Bundestagswahl federführend. Entsprechend der Praxis bei vorausgegangenen Bundestagswahlen bittet er zur Vorbereitung der Entscheidung des Bundeskabinetts die Innenminister/-senatoren der Länder um Stellungnahmen, welche Sonntage oder gesetzlichen Feiertage innerhalb des vorgeschriebenen Zeitraums aus der Sicht des jeweiligen Landes als Tag der nächsten Bundestagswahl ungeeignet oder weniger geeignet erscheinen. Anschließend werden der Deutsche Bundestag und die Vorsitzenden der Fraktionen im Deutschen Bundestag um Stellungnahme gebeten. Nach Eingang dieser Stellungnahmen beschließt dann die Bundesregierung ihre Empfehlung zum Wahltermin und empfiehlt dem Bundespräsidenten den Erlass der „Anordnung über die Bundestagswahl“. Von dieser Empfehlung kann der Bundespräsident (selbstverständlich) abweichen, de facto handelt es sich allerdings um einen Vorschlag, der aufgrund der vorangegangenen Abstimmung bereits weitgehend Konsens gefunden hat. Verfahrenstechnisch wird dies so gehandhabt, dass mit Schreiben des Chefs des Bundeskanzleramtes dem Bundes-
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kanzlers und der Bundesminister, Art. 63 und 64 GG. Für den Bundespräsidenten ebenfalls relevant ist die Wahlkampfzeit, weil er wie alle Verfassungsorgane und staatliche Stellen gehalten ist, ca. sechs Monate vor dem Termin keine unzulässige Wahlwerbung für eine Partei zu machen.11 1. Verfassungsrechtlicher Befund: Bundeskanzlerwahl Die eigentliche Rolle des Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung, also bei der Wahl und Ernennung des Bundeskanzlers und bei der Ernennung der Bundesminister (Art. 63 und 64 GG), ist in der Verfassung letztlich nur rudimentär geregelt. Aufgaben und Verfahrensweisen ergeben sich weitgehend aus der Staatspraxis. Vergegenwärtigen wir uns zunächst kurz die Mechanik des Art. 63 GG, die die Grundlage für diese Staatspraxis ist: a) Der Verfassungstext: Wahl und Ernennung des Bundeskanzlers12 Nüchtern stellt Art. 63 Abs. 1 GG fest, der Bundeskanzler werde auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt. Nähme man den Wortlaut ernst, könnte der Bundespräsident einen ungebundenen, freien Vorschlag machen.13 Denn das Procedere, das dem Wahlvorschlag des Bundespräsidenten vorausgeht, ist im Grundgesetz nicht geregelt. Wo das Grundgesetz nichts vorschreibt, befinden wir uns „im Politischen“, herrscht ein Primat der Politik. Auch das schließt ein freies Vorschlagsrecht keineswegs aus, vor allem dann, präsidenten die Büttenfassung der vom Bundeskanzler und vom BM des Innern gegengezeichneten Anordnung übersandt wird, die wie folgt lautet: „Die Wahl zum Deutschen Bundestag findet am …. statt.“ Sie wird anschließend im Bundesgesetzblatt Teil I verkündet. 11 BVerfGE 44, 125; im Vorfeld des Wahltermins sollten vom Bundespräsidenten möglichst keine zwischen den Parteien umstrittenen tagespolitischen Themen öffentlich angesprochen werden, um keinem Vorwurf der Einwirkung in den Wahlkampf ausgesetzt zu sein. Auch öffentliche Auftritte sind zu vermeiden, die den Eindruck einseitiger politischer Parteinahme erwecken. 12 Vgl. etwa Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Band II, 2015, Art. 63 Rn. 17 f., 21 f. m.w.N.; Mager/Holzner, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2021, Art. 63 Rn. 12 ff. 13 Uhle/Müller-Franke, in: Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2022, Art. 63 Rn. 17 f. m.w.N.
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wenn man dem Bundespräsidenten eine politische Rolle zuschreibt.14 Zuvörderst fallen politische Entscheidungen infolge von Wahlen nach parteipolitischen Kautelen. Und wenn Art. 21 GG nur knapp feststellt, die politischen Parteien wirken bei der Willensbildung mit, ist ihr Einfluss jenseits der Verfassung umso größer. Demzufolge werden gerade in den einer Regierungsbildung regelmäßig vorgelagerten Koalitionsvereinbarungen wichtige politische – personelle wie sachliche – Vorentscheidungen getroffen.15 Über den Wahlvorschlag des Bundespräsidenten wird im Bundestag gem. Art. 63 Abs. 1 GG ohne Aussprache abgestimmt.16 Nicht in der Verfassung, sondern in der Geschäftsordnung des Bundestages, ist zudem die geheime Wahl niedergelegt (§§ 4, 49 GOBT). Die geheime Wahl korrespondiert meines Erachtens mit der Verfassungserwartung einer möglichst stabilen Kanzlermehrheit, die namentlich dann erreicht werden kann, wenn die Abgeordneten mit verdeckten Stimmzetteln wählen können und so keiner „Fraktionsdisziplin“ entsprechen müssen.17 Der Vorgeschlagene ist gewählt, wenn er die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl gem. Art. 121 GG) auf sich vereinigt (Art. 63 Abs. 2 GG). Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen. Erreicht der Vorgeschlagene die erforderliche Mehrheit nicht, kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem ersten erfolglosen Wahlgang einen Bundeskanzler wählen.18 Dazu bedarf es ebenfalls der Stimmen von mehr als der Hälfte der Mitglieder des Bundestages. Der Ball liegt sozusagen wieder im Feld der Politik. Der Bundespräsident hat bei einem zweiten Wahlgang (oder beliebig vielen weiteren Wahl14
Hierzu Pieper, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 54 Rn. 9 ff. m.w.N. 15 Vgl. zum bestimmenden Einfluss der Parteien BVerfGE 52, 63, 83. 16 Uhle/Müller-Franke, in: Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2022, Art. 63 Rn. 11. 17 Demgegenüber findet die Abstimmung über die Vertrauensfrage gem. Art. 68 GG namentlich statt, denn der Kanzler muss wissen, auf wen er bauen kann und auf wen nicht. 18 Epping, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 63 Rn. 21 ff. m.w.N.; Uhle/Müller-Franke, in: Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2022, Art. 63 Rn. 19 ff.
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gängen innerhalb der Vierzehntagefrist) kein Vorschlagsrecht mehr. Der Gewählte ist auch hier gem. Art. 63 Abs. 2 GG vom Bundespräsidenten zu ernennen. Kommt gemäß Art. 63 Abs. 2 GG die Wahl eines Kanzlers nicht zustande, genügt es im weiteren Verfahren, wenn ein Kandidat eine relative Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen kann. Ist dies der Fall, steht es allerdings im Ermessen19 des Bundespräsidenten, den Gewählten entweder binnen sieben Tagen zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen (Art. 63 Abs. 4 GG).20 b) Die Staatspraxis – klare Wahlergebnisse: Solange sich in Bundestagswahlen stabile politische Verhältnisse manifestieren und diese eindeutige Mehrheiten generieren, die eine klare Regierungsbildung erlauben, kommt dem Bundespräsidenten keine besondere Rolle zu. Klären sich die politischen Verhältnisse etwa in Koalitionsverhandlungen, entspricht es der Übung der Bundespräsidenten, nach der Wahl des neuen Bundestages und in Zusammenhang mit seinem erstmaligen Zusammentritt die Partei- und – soweit bereits gewählt – die Fraktionsvorsitzenden der im neuen Bundestag vertretenen Parteien zu getrennten Gesprächen zu empfangen. Ziel der Konsultationen ist es, sich zunächst ein Meinungsbild zu verschaffen, um festzustellen, ob ein Kanzlervorschlag des Bundespräsidenten eine tragfähige Mehrheit erhalten wird. In diesem Fall ist die Lage schnell geklärt. Am Ende steht ein Wahlvorschlag des Bundespräsidenten. In der Praxis ist es übrigens bislang noch nie zu einem zweiten oder gar dritten Wahlgang gekommen, selbst wenn die Klärung der politischen Verhältnisse länger dauerte.21
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Epping, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 63 Rn. 28 ff. m.w.N. 20 Vgl. speziell hierzu Hölscheidt/Mundil: „Wer hat die meisten Stimmen? Die Wahl des Bundeskanzlers in der dritten Wahlphase“, DVBl. 2019, S. 73. 21 Vgl. Epping, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 68 Rn. 15.1.
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c) Die Staatspraxis – unklare politische Mehrheiten Bis in die 2000er Jahre war die Parteienlandschaft vergleichsweise stabil.22 Zwar erreichten die Volksparteien nicht mehr die Mehrheiten, die sie von früher gewohnt waren. Trotzdem kam es zu Koalitionen, die zu klaren Mehrheitsverhältnissen im Bundestag führten und stabile Regierungen zur Folge hatten. Angesichts dieser stabilen politischen Landschaft war es Staatspraxis, dass der Bundespräsident zu Koalitionsverhandlungen zwischen den Parteien keine Stellung bezog, sondern das Ergebnis des politischen Prozesses abwartete. Aber schon im Jahre 2005 war es anders. Sie erinnern sich: Nach den vom Bundespräsidenten infolge der Vertrauensfrage (Art. 68 GG) angeordneten Neuwahlen waren die Mehrheiten im Bundestag knapp.23 Vor der konstituierenden Sitzung des Bundestages kam es zu keiner Koalition. Die Gespräche der politischen Parteien dauerten länger und waren schwierig. Infolgedessen führte der Bundespräsident Gespräche über die politischen Mehrheitsverhältnisse erst nach der konstituierenden Sitzung des Bundestages. Der politische Prozess zog sich von der Bundestagswahl am 18. 9. 2005 bis zum 22. 11. 2005 hin, dem Tag der Ernennung der Kanzlerin. Viel schneller ging es 2009, die Bundestagswahl war am 27. 9. 2009, die Bundeskanzlerin wurde bereits am 28. 10. 2009 ernannt. Gespräche des Bundespräsidenten waren nicht erforderlich, ihm wurde sehr schnell eine stabile politische Koalition signalisiert, die Bundeskanzlerin Merkel wünschte. 2013 dagegen zeichnete sich schon vor der Bundestagswahl ab, dass es keine klaren Mehrheiten geben würde. Ich komme gleich darauf zurück. d) Die Beratung des Bundespräsidenten durch das Präsidialamt Sind die Mehrheitsverhältnisse nach einer Bundestagswahl unklar, muss der Bundespräsident letztlich vom Ende des Regierungsbildungsprozesses her denken: Er hat zu berücksichtigen, dass die Verfassung
22 Instruktiv die regelmäßigen Analysen von Jesse in der Zeitschrift für Parlamentsfragen, zuletzt ZParl 2018, S. 223 ff. 23 BVerfGE 114, 159 ff.; Pieper, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 68 Rn. 16.1 m.w.N.
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möglichst stabile Regierungen erwartet.24 Dies muss bereits beim Kanzlerwahlvorschlag gemäß Art. 63 Abs. 1 GG der Leitgedanke sein. Selbst bei einer Entscheidung nach Art. 63 Abs. 4 GG – den mit relativer Mehrheit gewählten Kanzler zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen – geht es letztlich um solche stabilen Regierungsverhältnisse. Dementsprechend berät das Präsidialamt den Bundespräsidenten im Vorfeld einer Wahl über die verschiedenen Möglichkeiten:25 1. Zunächst ist die Dreißig-Tage-Frist des Art. 39 Abs. 2 GG zu beachten, nach der sich der Tag der konstituierenden Sitzung des neuen Deutschen Bundestages richtet. Käme es zu einer klaren Mehrheit für eine Partei oder für eine Regierungskoalition und würden die Koalitionsverhandlungen zügig abgeschlossen, könnte bereits in der ersten Sitzung des neu gewählten Bundestages oder an einem der folgenden Tage auch die Bundeskanzlerwahl stattfinden. 2. Bei einem weniger eindeutigen Wahlausgang geht der Rat dahin, – unabhängig von der 30-Tage-Frist – vor einem Kanzlerwahlvorschlag des Bundespräsidenten das Ende der Koalitionsverhandlungen abzuwarten. 3. Sollte sich dagegen ein „Verhandlungsmarathon“ ohne Aussicht auf Einigung abzeichnen, kommt es auf den Bundespräsidenten an. Denn er hat es angesichts der Regelung des Art. 63 Abs. 1 GG in der Hand, das Kanzlerwahlverfahren durch Vorschlag des aus seiner Sicht aussichtsreichsten Kandidaten in Gang zu setzen. Deshalb rät das Präsidialamt dazu, dass bei absehbar unklaren Mehrheitsverhältnissen der Bundespräsident alsbald nach der Wahl die Partei- und/oder Fraktionsvorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien zu (getrennten) meinungsbildenden Informationsgesprächen zu sich bittet. Die Initiative dazu ging in der Staatspraxis bisher vom Bundespräsidenten selber aus.
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Pointiert nur Epping, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 63 Vorbem Rn. 1. 25 Hierbei spielt übrigens das „Vorleben“ eines Bundespräsidenten eine wesentliche Rolle: Den verfassungsrechtlich versierten Präsidenten (etwa Heinemann, Carstens, von Weizsäcker, Herzog, Wulff oder Steinmeier – alles Juristen) war die Verfassungslage sicher erheblich präsenter als denjenigen, die aus anderen Professionen kamen.
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4. Wann der Bundespräsident durch einen Wahlvorschlag die Kanzlerwahl anstoßen sollte, ist eine politische Frage. Nach der Rechtsauffassung des Präsidialamtes ist ein solcher Zeitpunkt erst dann gekommen, wenn Koalitionsgespräche eindeutig keine hinreichende Aussicht auf Erfolg mehr haben. Denn dann erlaubt das Verfahren gem. Art. 63 GG keine andere Lösung als einen Kanzlerwahlvorschlag des Bundespräsidenten, der entweder zu einer (Minderheiten-)Regierung oder aber in letzter Konsequenz zu Neuwahlen führen muss, wenn sich in der zweiten Wahlphase (Art. 69 Abs. 3 GG) kein mehrheitsfähiger Kandidat oder Kandidatin aus dem politischen Prozess im Bundestag herausschält. 2. Die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2013 Ich komme zum Jahr 2013 zurück: Die Koalitionsverhandlungen gestalteten sich schwierig. Insbesondere war die SPD nur unter großen Bedenken bereit, in eine große Koalition einzutreten, die die einzige regierungsfähige Mehrheit darstellte. Deshalb plante die SPD nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen, den Koalitionsvertrag den Mitgliedern der Partei zur Entscheidung vorzulegen.26 Das Ergebnis dieses Mitgliederentscheids sollte erst am 15. 12. 2013 feststehen. Vor diesem sehr konkreten, unsicheren politischen Szenario stellte sich dem Bundespräsidenten sehr früh die Frage, wie er vorgehen solle, wenn der Mitgliederentscheid der SPD negativ verlaufen würde. Folgendes erschien damals möglich: 1. Die Mitglieder der SPD stimmen für den Koalitionsvertrag. Damit wäre der Weg für eine Regierungsbildung im Sinne der Koalitionsverhandlungen unter Führung der bisherigen Bundeskanzlerin frei gewesen. Die Kanzlerinnenwahl wäre für den 17. 12. 2013 geplant worden. Die Rolle des Bundespräsidenten hätte in der Zeit zwischen Mitgliederentscheid und dem avisierten Kanzlerwahltermin darin bestanden, bei den Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD zu erfragen, ob es zur geplanten Großen Koalition kommen werde und man sich auf eine Führung der Regierung unter Bundeskanzlerin Merkel geeinigt hätte. 26 Dazu Starck, Regierungsbildung in der parlamentarischen Demokratie mit Genehmigung der Parteibasis, JZ 2018, S. 240; Pagenkopf, Verbindliches Mitgliedervotum einer Partei – Angriff auf das Grundprinzip der demokratischen Repräsentation nach Art. 38 I GG, ZRP 2018, S. 37.
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Nach Auffassung des Präsidialamts wäre dies nicht öffentlich erfolgt und hätte durch Telefonate mit den drei Parteivorsitzenden erfolgen können. Als Zeitpunkt wäre der 16. 12. 2013 in Frage gekommen. 2. Das zweite Szenario wäre eine Ablehnung des Koalitionsvertrages durch den Mitgliederentscheid in der SPD gewesen. Denn das hätte wohl eine große Koalition verhindert. Schon unmittelbar nach der Wahl war vertreten worden, dass der Mitgliederentscheid für die SPDAbgeordneten trotz Art. 38 GG bindend wäre.27 3. Exkurs: Allerdings wäre – theoretisch – auch nicht ausgeschlossen gewesen, dass es faktisch trotz negativen Mitgliederentscheids doch zu einer großen Koalition hätte kommen können. Denn gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG sind die Abgeordneten frei und an Weisungen und Aufträge nicht gebunden. Ein Mitgliederentscheid entfaltet keine rechtliche Bindungswirkung. Koalitionsverträge sind politische Übereinkommen28 und werden daher auch von den Parteivorsitzenden unterschrieben. Für den Fall einer Kandidatur von Frau Merkel im Bundestag wäre es daher möglich gewesen, dass auch Mitglieder der SPD-Fraktion oder anderer Parteien in Ausübung des freien Mandats für sie gestimmt hätten, zumal die Kanzler mit verdeckten Stimmzetteln gewählt werden (§§ 4, 49 GOBT). Dabei kann einiges passieren – ich nenne das den „umgekehrten Heide-Simonis-Effekt“.29 Damit hätte es zu einer Mehrheit für die Kanzlerkandidatin und zu einer CDU/CSU-Minderheitenregierung kommen können. Auch andere Möglichkeiten wären denkbar gewesen, etwa eine parlamentarische Zusammenarbeit in Form einer Tolerierung.
27 Thiele, Die neue Macht der Basis, LTO vom 2. 12. 2013 (abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/spd-koalitionsvertrag-mitgliederent scheid-verfassungsmaessigkeit/ zur Debatte); vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. 12. 2013 – 2 BvQ 55/13 –, Rn. 1 ff., http://www.bverfg.de/e/qk20131206_2bvq005513.html. 28 Vgl. nur für die h.M. Schröder, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Band II, GG 7. Aufl. 2018, Art. 63 Rn. 16 ff. m.w.N.; vgl. Streinz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Band II, GG 7. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 88. 29 Zu den Hintergründen der Nichtwahl von Heide Simonis siehe NDR-Archiv, 2005: Der „Heide-Mörder“ stürzt Simonis (abrufbar unter: https://www.ndr. de/geschichte/chronologie/17-Maerz-2005-Ein-Unbekannter-stuerzt-Heide-Simo nis,shministerpraesidentenwahl100.html).
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4. Politisch wäre es aber wohl wahrscheinlicher gewesen, dass bei einem negativen Mitgliederentscheid eine Große Koalition ausgeschlossen gewesen wäre. 5. Prophylaktisch wurden im Bundespräsidialamt auch weitere Szenarien erwogen: - Infrage stand, ob nach einem negativen Mitgliedsentscheid Koalitionsverhandlungen mit anderen Parteien aufgenommen worden wären (CDU – Grüne; Rot-Rot-Grün; Rot-Grün, Rot toleriert). Die Rolle des Bundespräsidenten hätte auch in diesem Fall darin bestanden, unmittelbar nach Bekanntwerden des Mitgliederentscheids bereits am 15.12. bzw. am 16.12. 2013 – möglichst telefonisch – Kontakt mit der CDU, SPD und den Grünen aufzunehmen. Im Gespräch mit der CDU hätte er sich nach deren weiterem Vorgehen erkundigen müssen, insbesondere ob die CDU nunmehr in Koalitionsverhandlungen mit einer anderen Partei, namentlich den Grünen einzutreten gewillt gewesen wäre. Wäre das der Fall gewesen, hätte der Bundespräsident noch nicht im Hinblick auf einen Kanzlerwahlvorschlag aktiv werden müssen, sondern hätte weitere Koalitionsverhandlungen abwarten können. - In einem Telefonat mit dem SPD-Vorsitzenden – sofern der Vorstand der SPD und das Präsidium nicht bereits zurückgetreten wären, weil die Ablehnung des Koalitionsvertrages zugleich ein politisches Desaster für die SPD-Führung gewesen wäre – hätte der Bundespräsident in Erfahrung bringen müssen, wie die SPD sich weiter hätte verhalten wollen. Denn es wäre auch möglich gewesen, dass nach einem abgelehnten Koalitionsvertrag mit der CDU die SPD nunmehr eine rot-rot-grüne Koalition, die rechnerisch ebenfalls über eine Mehrheit im Deutschen Bundestag verfügte, angestrebt hätte.30 Auch in diesem Fall hätte der Bundespräsident im Hinblick auf einen KanzlerwahlVorschlag gemäß Art. 63 Abs. 1 GG nicht sofort handeln müssen. 6. Als realistisch wurde damals die Situation diskutiert, dass es infolge der Ablehnung des Mitgliederentscheids nicht zu weiteren Koalitionsverhandlungen zwischen den verschiedenen im Bundestag vertretenen Parteien gekommen wäre, weil dies politisch unerwünscht war und 30 Angesichts der Beschlusslage bei der SPD wurde es aber eher ausgeschlossen, dass es zu einem solchen Bündnis in dieser Legislaturperiode kommt.
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Neuwahlen angestrebt wurden. Im Hinblick auf diese Lage hätte sich die Frage gestellt, wie der Bundespräsident weiter vorgehen sollte: Da die Verfassungserwartung des Art. 63 GG auf eine möglichst stabile Regierungsmehrheit für die nächsten vier Jahre ausgerichtet ist, hätte der Bundespräsident in offiziellen Gesprächen – persönlich im Schloss Bellevue und alsbald – mit den Vertretern der verschiedenen Parteien über deren Vorstellungen Aufschluss gewinnen sollen. Für den Fall, dass eine ausreichende parlamentarische Mehrheit in Form einer Koalition nicht zu erwarten gewesen wäre, hätte sich dem Bundespräsidenten die Frage gestellt, ob er zunächst das Verfahren gemäß Art. 63 GG hätte durchlaufen müssen oder ob es bereits zu einem früheren Zeitpunkt ohne das formale Durchlaufen der Mechanik des Art. 63 GG zu Neuwahlen hätte kommen können. Letzteres wurde 2013 – zumindest mittelbar – von Teilen der Politik und in der Öffentlichkeit vertreten, die nach Scheitern eines Koalitionsvertrages zur Bildung einer Großen Koalition Neuwahlen in Aussicht stellten.31 Der Art. 63 GG ist indes letztlich in seiner gesamten Mechanik ein Krisenmechanismus, der insbesondere bei Fehlen einer Kanzlermehrheit am Ende auch eine einfache Mehrheit erlaubt. Die Vorschrift stellt im Kern eine Reservekompetenz für den Fall fehlender politischer Mehrheiten dar.32 Daher ist es nach Auffassung des Präsidialamtes zwingend, dass der Bundespräsident auf jeden Fall einen Kanzlerwahl-Vorschlag macht.33 Er könnte sich hierbei formal an den Mehrheiten im Parlament orientieren, d. h. zunächst einen Vorschlag für eine Kandidatin/ Kandidat aus der stärksten Fraktion machen. 7. Fraglich war 2013 – ebenfalls prophylaktisch durchgespielt –, ob der Bundespräsident auch dann etwa die damalige Bundeskanzlerin hätte vorschlagen können, selbst wenn diese ihm signalisiert hätte, für einen solchen Vorschlag nicht zur Verfügung zu stehen. In einem sol31 Uhle/Müller-Franke, in: Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2022, Art. 63 Rn. 10 m.w.N. zu dieser Auffassung etwa sprechen von einer Pflicht zu einem Vorschlag, was es ausschließt, dass der Bundespräsident auf seinen Vorschlag verzichtet. 32 Dazu Pieper, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 54 Rn. 4.1. 33 So die wohl h.M. in der Literatur, vgl. Uhle/Müller-Franke, in: SchmidtBleibtreu (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2022, Art. 63 Rn. 10 m.w.N.; Epping, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 63 Rn. 7.
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chen Fall hätte der Bundespräsident nach Auffassung des Präsidialamtes an die Verantwortung der bisherigen Bundeskanzlerin appellieren müssen, sich für einen Wahlvorschlag zur Verfügung zu stellen, mit dem Argument: wer sich zur Wiederwahl in Bundestagswahlen stellt, darf sich auch in einer solchen Situation nicht dagegen wehren, zur Wahl vorgeschlagen zu werden. Letztlich kann der Bundespräsident auch eine andere Person zur Wahl vorschlagen,34 wenn ein Kandidat zuvor signalisiert, nicht zur Verfügung zu stehen. Es wäre meines Erachtens Sache des Bundestagspräsidenten, die vorgeschlagene Person danach zu fragen, ob sie sich zur Wahl stellen möchten. Verweigert sie dies, wäre das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten gemäß Art. 63 Abs. 1 GG verbraucht. Der Bundestag könnte dann in die weiteren Phasen des Art. 63 GG eintreten. 8. Für den Fall, dass die damalige Bundeskanzlerin für die stärkste Fraktion im Bundestag nicht zur Verfügung gestanden hätte, wäre es für den Bundespräsidenten alternativ auch in Frage gekommen, einen Kandidaten der zweitstärksten Fraktion – konkret der SPD – im Bundestag zur Wahl vorzuschlagen. Denn namentlich in Anbetracht einer geheimen Wahl besteht ja die Möglichkeit, dass ein solcher Kandidat die Kanzlermehrheit auf sich vereinigt (Tolerierung, Minderheitenregierung). Übrigens kann auch ein Kanzler, der mit der absoluten Mehrheit gewählt wird und daher vom Bundespräsidenten zwingend zu ernennen ist, ein echter Minderheitskanzler sein. Denn die Motivation der Abgeordneten bei ihrer Wahl bleibt verborgen. Es ist durchaus denkbar, dass ein Kanzler von Abgeordneten gewählt wird, die keine Regierungsverantwortung übernehmen wollen oder den Eintritt in eine Koalition ablehnen. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass die Stimmabgabe verdeckt erfolgt (§§ 4, 49 GOBT) und den Abgeordneten bei Auflösung des Bundestages und Neuwahlen der Verlust des Mandats droht.35 Dies war auf Länderebene etwa bei der Wahl Holger Börners zum Ministerpräsidenten in Hessen 1984 oder bei der Wahl Richard von Weizsäckers 1981 in Berlin der Fall.36 Neben der Möglichkeit der Ernennung eines Minderheitskanzlers nach Art. 63 Abs. 4 GG zeigt auch 34 Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 63 Rn. 1 ff. m.w.N. der widerstreitenden Ansichten. 35 Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Stand: 96. EL November 2021, Art. 63 Rn. 54. 36 Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem GG, 1986, S. 33.
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diese Konstellation, dass das Grundgesetz eine Minderheitsregierung verfassungsrechtlich anerkennt. 9. Fazit: 2013 war für den Fall klar, dass der SPD-Mitgliederentscheid den Koalitionsvertrag ablehnt und weitere Koalitionsverhandlungen zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien ausgeschlossen gewesen wären, der Bundespräsident diese politische Lage sehr intensiv und nach Möglichkeit auch öffentlichkeitswirksam hätte sondieren müssen. Hätte sich keine tragfähige politische Lösung ergeben, hätte er jemanden dem Bundestag zur Wahl vorschlagen müssen. Dies wäre vermutlich entsprechend der Wahlergebnisse in erster Linie ein Vertreter der stärksten im Bundestag vertretenen Parteien gewesen. Erst wenn eine Kanzlerwahl gemäß Art. 63 GG nicht zu Stande gekommen wäre oder aber ein Kandidat nur eine einfache Mehrheit auf sich vereint hätte (Art. 63 Abs. 4 GG), hätte der Bundespräsident an eine Auflösung des Bundestages und damit an Neuwahlen denken müssen, die gemäß Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG innerhalb von 60 Tagen hätten erfolgen müssen. 10. Diese Möglichkeit wurde im Bundepräsidialamt auch erörtert, aber weniger detailliert als die Ausgangssituation, weil sich bis zur dritten Wahlphase eine eigene Dynamik entwickeln kann, die nur schwer einzuschätzen ist. Dazu nur wenige Überlegungen: Die Entscheidung des Bundespräsidenten selbst ist eine politische Entscheidung. Kriterium für die Entscheidung ist nach dem Verfassungsziel der Vorschrift, ob der Minderheitskanzler in der Lage ist, stabile Regierungsverhältnisse zu gewährleisten.37 Teilweise wird vertreten, dass die Auflösung des Bundestages nach Art. 63 Abs. 4 GG die Ausnahme bleiben müsse, da sich die Parlamentsauflösung durch den Bundespräsidenten nur schlecht in das jeglicher präsidialer Dominanz entkleidete parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes füge.38 Eine Auflösung komme deshalb dann nicht in Betracht, wenn sich erweise, dass der Minderheitskanzler von den Fraktionen dauerhaft toleriert werde. Ob dies der Fall ist, habe der Bundespräsident in eigener Einschätzungsprärogative zu beurteilen, die 37
Epping, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 50. Edition, Stand: 15. 2. 2022, Art. 63 Rn. 28.1; Mager, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2021, Art. 63 Rn. 15 (Die Entscheidung sei „praktisch nicht justitiabel“). 38 Stern, Staatsrecht I, S. 982 f.; Brinktrine, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 63 Rn. 31.
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Entscheidung unterliege aber einer Missbrauchskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht.39 Vorbilder für Minderheitsregierungen gibt es bislang nur auf Landesebene,40 innerhalb Europas vor allem in den skandinavischen Ländern, die insoweit jedoch auf eine völlig andere Tradition zurückblicken.41 Festzuhalten bleibt: Die Ablehnung der Koalitionsvereinbarung durch einen Mitgliederentscheid der SPD hätte eine bisher nie dagewesene Situation zur Folge gehabt. Vielleicht hätte diese Situation eine politische Eigendynamik entfaltet, deren Entwicklung nicht abschließend prognostiziert werden kann. Art. 63 GG erfordert ein aktuelles und flexibles Agieren des Bundespräsidenten im Hinblick auf seine Pflichten im Rahmen der Kanzlerwahl jedenfalls dann, wenn eindeutige politische Mehrheiten nicht zustande kommen. Wir wissen, 2013 kam es anders. Es gab die Große Koalition. Verlassen wir also das Konditional II, das sprachlich keine schöne Zeitform ist.
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Brinktrine, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 63 Rn. 31. Es gibt allerdings auch einzelne Landesverfassungen, die eine Minderheitsregierung dadurch verhindern, dass der Regierungschef nur mit der Mehrheit der Stimmen des Parlaments gewählt werden kann und bei misslungener Regierungsbildung innerhalb einer bestimmten Frist der Landtag als aufgelöst gilt (z. B. Landesverfassung Baden-Württemberg; ähnlich, aber ohne Regelung bei misslungener Regierungsbildung Rheinland-Pfalz); zu Minderheitenregierungen auf Landesebene vgl. Klecha, Minderheitsregierungen in Deutschland, 2010. 41 Als Vorbehalte gegen eine Minderheitsregierung werden insbesondere eine befürchtete Instabilität und Entscheidungsunfähigkeit (vor allem auch in europäischen Kontexten) und die fehlende politische Tradition und Erfahrung mit einer Minderheitsregierung auf Bundesebene vorgebracht. Viele parlamentarische Regelungen seien auf eine stabile Mehrheitsregierung zugeschnitten – vgl. Meinel, Warum eine Minderheitsregierung niemand wollen kann, VerfBlog, 2017/11/20, der beispielhaft die Planung und Erledigung des Gesetzgebungsverfahrens im Zusammenspiel zwischen Kanzleramt, Ressorts und Bundestag und seinen Ausschüssen sowie die europapolitische Kommunikation von Bundestag und Bundesregierung nach Art. 23 Abs. 2 und 3 GG nennt. Die vielfach kritische Haltung gegenüber Minderheitsregierungen ist auch historisch mit Blick auf die Erfahrungen mit Minderheitsregierungen in der Weimarer Republik bedingt. 12 von 20 Reichsregierungen der Weimarer Republik waren Minderheitsregierungen, vgl. Puhl, Die Minderheitenregierung nach dem GG, 1986, S. 22; vgl. auch Krings, Die Minderheitsregierung, ZRP 2018, S. 2. 40
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3. Die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 201742 Erinnern Sie sich an die Nacht vom 19. auf den 20. 11. 2017? Ich denke, Herr Schmidt-Jortzig, Sie kennen das aus Ihrer aktiven politischen Lebensphase: selbst wenn man nicht beteiligt ist, entwickelt man in der Hauptstadt ein Gespür dafür, dass politische Entscheidungen anstehen. Mir jedenfalls ging es in dieser Nacht so, ich blieb lange auf und sah dann tatsächlich in den frühen Morgenstunden des 20. 11. 2017 im Fernsehen den Chef der FDP vor die Presse treten, der das Ende der vierwöchigen Verhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP mit den Worten beendete: „Es ist besser nicht zu regieren als falsch zu regieren“. Vorausgegangen war diesen Sondierungsverhandlungen eine Bundestagswahl, die unklare Verhältnisse gebracht hatte, zumal der Vorsitzende der SPD, Martin Schulz, unmittelbar nach der Wahl eine erneute große Koalition ausgeschlossen hatte.43 Am 20. 11. 2017 sah sich der Bundespräsident mit unklaren politischen Mehrheitsverhältnissen konfrontiert. Denn die übrigen politischen Koalitionsmöglichkeiten waren faktisch ausgeschlossen. Was blieb, war die Fortsetzung der großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD. Aber namentlich in der SPD gab es dafür zunächst keine offensichtliche Bereitschaft.44 Die Überlegungen, die bereits im Jahr 2013 im Hinblick auf die damaligen Wahlergebnisse angestellt worden waren, wurden plötzlich wieder relevant. Zwar war der Bundespräsident – entsprechend der üblichen Beratungspraxis des Präsidialamtes – weit im Vorfeld der Bundestagswahl über die verschiedenen politischen Situationen abstrakt informiert worden. Allerdings hatte niemand wirklich damit gerechnet, dass die Verhandlungen scheitern würde. Die Überraschung am 20. 11. 2017 42 Jesse, Die Bundestagswahl 2017 und die Regierungsbildung – Zäsur im Wählerverhalten, im Parteiensystem und in der Koalitionsbildung, ZfP 2018, S. 168; Schmorleiz, Von der Bundestagswahl zur Kanzlerwahl – Deutschland erhält eine neue Bundesregierung, DVP 2017, S. 487; Ipsen, Eine verzögerte Regierungsbildung – Anmerkungen zum 4. Kabinett Merkel, Recht und Politik 2018, S. 208, 214; Heck/Hefflinger, Die Bildung der Bundesregierung in Krisensituationen, DÖV 2018, S. 739. 43 Vgl. zu den Abläufen Sufken, ZParl 2018, S. 407 ff. (insbesondere S. 415 – 418). 44 Sufken, ZParl 2018, S. 407 ff.
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war auch groß, weil in der Öffentlichkeit der Eindruck vorherrschte, die Sondierungen der Jamaika-Akteure verliefen gut. Bereits am Morgen des 20. 11. 2017 – unmittelbar im Anschluss an die Erklärung der FDP – ließ sich der Bundespräsident ausführlich durch das Amt beraten. Ein Fahrplan für das weitere Agieren wurde entwickelt. Noch am selben Tag besprach sich der Bundespräsident mit der Bundeskanzlerin, die ja geschäftsführend45 im Amt war. Am Nachmittag gab der Bundespräsident eine Erklärung ab.46 Er wies darauf hin, dass mit dem Scheitern der Sondierungen eine Situation bestehe, die es in der fast 70-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben hatte. Er appellierte an alle gewählten Parteien und ihre Gemeinwohlverantwortung sowie an ihre Verantwortung zur Regierungsbildung, die der höchste Auftrag des Wählers an die Parteien in einer Demokratie sei. „Ich erwarte von allen Gesprächsbereitschaft, um eine Regierungsbildung in absehbarer Zeit möglich zu machen. Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält“ – so der Bundespräsident. Er kündigte für die kommenden Tage Gespräche mit den Vorsitzenden aller an den bisherigen Sondierungen beteiligten Parteien an sowie Gespräche mit den Vorsitzenden von Parteien, bei denen es programmatische Schnittmengen für eine Regierungsbildung hätte geben können. Zudem werde er sich mit den Spitzen der anderen Verfassungsorgane austauschen, so mit dem Präsidenten des Bundestages und dem Präsidenten des Bundesrates. Mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts war bereits gesprochen worden. Diese Ankündigungen wurden unmittelbar in der laufenden Woche umgesetzt.47 Ziel seiner Gespräche war es, alle Möglichkeiten einer Regierungsbildung auszuloten. Schon am 24. 11. 2017 teilte die Sprecherin des Bundespräsidenten mit, dass der Bundespräsident nach den Einzelgesprächen mit den Vorsitzenden von CDU, CSU und SPD vereinbart habe, sich zu einem gemeinsamen Gespräch in Schloss Bellevue zu tref45
Vgl. dazu Schemmel, Die geschäftsführende Bundesregierung, NVwZ 2018, S. 105. 46 https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Stein meier/Reden/2017/11/171120-Statement-Regierungsbildung.html. 47 https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/ 11/171122-Regierungsbildung-2.html, Pressemitteilung vom 22. 11. 2017.
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fen. Dieses Treffen fand dann am Donnerstag, den 30. 11. 2017, um 20.00 Uhr in Schloss Bellevue statt.48 Die Gespräche waren und sind vertraulich. Sie fanden im engsten Kreis statt. Wenig bis nichts ist aus diesen Gesprächen nach außen gedrungen. Allerdings setzte das Präsidialamt auf die Macht der Bilder, die von allen Gesprächen veröffentlicht wurden. Der Bundespräsident selbst hat später nur berichtet, er habe die Parteienvertreter auf die verfassungsrechtliche Situation, ihre Verantwortung hingewiesen und sie dazu angehalten, politische Koalitionsmöglichkeiten aus staatspolitischer Notwendigkeit heraus zu sondieren und gegebenenfalls andere Koalitionen zu diskutieren und zu verhandeln. CDU/CSU und SPD haben sich dann zur Aufnahme von Verhandlungen durchgerungen, die SPD erst nach einem Mitgliederentscheid.49 Erst am 14. 3. 2018 erfolgte die Bundeskanzlerwahl, 171 Tage nach der Wahl, solange hatte es noch nie gedauert.50 Auch wenn der Bundespräsident diese Charakterisierung immer zurückgewiesen hat, gilt er in der Öffentlichkeit als Geburtshelfer für die erneute GroKo.51 4. Zwischenfazit Lassen Sie mich zu einem kurzen Zwischenfazit kommen, bevor ich noch einen weiteren Aspekt ansprechen möchte: Die Regierungsbildung zählt zu den verfassungsrechtlich explizit genannten Kompetenzen, die zum Aufgabenkanon des Bundespräsidenten gehören, indem ihm das Vorschlagsrecht für den Kandidaten für die Wahl zum Bundeskanzler zusteht. Der Art. 63 Abs. 1 GG enthält dem-
48 https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/ 11/171124-Regierungsbildung-Gespraeche-2.html, Pressemitteilung vom 24. 11. 2017. 49 Bpb, kurz und knapp, Januar 2018 (abrufbar unter: https://www.bpb.de/ kurz-knapp/hintergrund-aktuell/263524/beginn-der-koalitionsverhandlungen-inberlin/). 50 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1280469/umfrage/dauer-der-re gierungsbildung-nach-einer-bundestagswahl/. 51 Vgl. Pieper, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 54 Rn. 4.1.
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gemäß den Normalfall der Kanzlerwahl,52 die zügig und möglichst ohne umfangreiche Wahlgänge erfolgen soll. Infolgedessen wird der politische Einigungsprozess aus dem Bundestag heraus verlagert. Nach dessen Abschluss ist es Aufgabe des Bundespräsidenten, seine Validität zu prüfen und einen Vorschlag zu machen. Das Vorschlagsrecht korrespondiert mit der Integrationsaufgabe des Bundespräsidenten,53 er zielt auf eine möglichst große Mehrheit im Bundestag. Zumal mit verdeckten Stimmzetteln gewählt wird, was die in Art. 38 GG niedergelegte Unabhängigkeit der Abgeordneten verstärkt. Angesichts des dürftigen normativen Befundes wurde in der verfassungsrechtlichen Literatur schon immer festgehalten, dass dem Bundespräsidenten dann in diesem Bereich Reservekompetenzen zukommen, wenn klare politische Mehrheitsverhältnisse nicht vorliegen.54 Zwar hatten die Verfassungseltern 1949 die Kompetenzen des Staatsoberhauptes, wie sie noch zuvor die Weimarer Reichsverfassung vorgesehen hatte, beschnitten, so dass der Bundeskanzler nicht mehr vom Vertrauen des Staatsoberhauptes und dem Vertrauen des Parlaments abhängig ist. Der Einfluss des Staatsoberhauptes wurde bewusst zurückgedrängt.55 Aber gleichwohl wird in der Staatswissenschaft die Frage erörtert, ob und inwieweit der Bundespräsident bei seinem Wahlvorschlag an die politischen Einigungen der Parteien im Nachgang an die Bundestagswahl und im Vorfeld einer Kanzlerwahl gebunden ist. Für eine Bindung des Bundespräsidenten an die politische Einigung werden eine Ermessensreduktion, das Prinzip der Verfassungsorgantreue und Gewohnheitsrecht angeführt.56 Diese Auffassungen überzeugen meines Erachtens nicht. Im Normalfall einer Einigung der Parteien nach einer Bundestagswahl auf eine Koalition stellt sich die Frage nach der Reservekompetenz nicht: Folgt der Bundespräsident der politischen Einigung nicht, wird der von 52 Vgl. nur Schröder, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Band II, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 63 Rn. 24 ff. m.w.N. 53 Pieper, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 50. Edition, Stand: 15. 2. 2022, Art. 54 Rn. 3 ff. 54 Vgl. Pieper, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2020, Art. 54 Rn. 4.1. 55 Schröder, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Band II, GG 7. Aufl. 2018, Art. 63 Rn. 2 ff. m.w.N. 56 Schröder, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Band II, GG 7. Aufl. 2018, Art. 63 Rn. 27 m.w.N.
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den Parteien gewünschte Bundeskanzler spätesten in der zweiten Wahlphase (Art. 63 Abs. 2 GG) gewählt. Zurecht geht deshalb die wohl eher herrschende Meinung davon aus, dass dem Bundespräsidenten in Bezug auf den Kanzlerwahlvorschlag eine politische Rolle zukommt, die in einem politischen Ermessen beziehungsweise in einer Einschätzungsprärogative mündet. Denn der Bundespräsident müsse beurteilen, ob tatsächlich ein Kandidat mehrheitsfähig ist.57 Das geschieht auch in der präsidialen Praxis. Nach der Rechtsauffassung des Bundespräsidialamtes gibt es keine rechtliche Bindung an die politische Einigung, vielmehr muss der Bundespräsident – angesichts seiner Gesamtfunktion im Hinblick auf die Integration und Repräsentation des Gemeinwesens – sich mit der Mehrheitsfähigkeit eines Bundeskanzlerkandidaten über die gesamte kommende Legislaturperiode klarwerden. Zudem wird in der Literatur streitig diskutiert, ob der Bundespräsident verpflichtet sei, einen Kanzlerwahl-Vorschlag zu präsentieren. Auch dieser Streit liegt meines Erachtens jenseits der politischen Wirklichkeit: Alle Bundespräsidenten hielten sich an ihre Verfassungsrolle. Der Fall einer eher willkürlichen Weigerung, einen Vorschlag zu machen oder einen anderen Vorschlag zu machen, als er der politischen Einigung entspräche, ist wohl unrealistisch. Sollte die politische Situation so verfahren sein, dass es zu keiner mehrheitsfähigen Regierungskonstellation kommt, sollte der Bundespräsident möglichst nah an den Regelungen der Verfassung orientiert handeln: So müsste der Bundespräsident zunächst versuchen, einen Vorschlag zu präsentieren, der auf eine Minderheitsregierung hinausliefe. Minderheitsregierungen sind für Deutschland zwar eher ungewöhnlich, aber keineswegs ausgeschlossen. Die Frage der „stabilen Regierungsverhältnisse“ wird sehr stark von der politischen Situation, u. a. von der Frage einer evtl. von den anderen Parteien erklärten Tolerierung der Regierungspolitik in den verschiedenen Themenfeldern (Europa, Außenpolitik, Innenpolitik) abhängen. Der Minderheitskanzler hat sämtliche Befugnisse, die das GG dem Bundeskanzler einräumt. Herzog betont in seiner Kommentierung, dass ein Minderheitskanzler verfassungsrechtlich „kein Kanzler minderen Rechts sei“.58 Eine Minderheitsregierung müsse ihre Politik so definieren, dass 57 So die wohl h.M. in der Literatur, vgl. Uhle/Müller-Franke, in: SchmidtBleibtreu (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2022, Art. 63 Rn. 10 ff. m.w.N. 58 Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Stand: 96. EL November 2021, Art. 63 Rn. 55.
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sie möglichst wenige förmliche Gesetze benötige. Angesichts des Vorbehalts des Gesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach wesentliche Entscheidungen durch das Parlament selbst getroffen werden müssen, werde aber wenig Handlungsspielraum übrigbleiben.59 In Bereichen wie z. B. beim Budgetrecht dürfte die Minderheitsregierung allerdings erhebliche Schwierigkeiten haben, Mehrheiten zu organisieren. Erweist sich die Minderheitsregierung in der Praxis nicht als stabil, kann der Bundeskanzler jederzeit die Vertrauensfrage nach Art. 67 GG stellen und bei Verlieren der Vertrauensfrage dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen. Die Problematik einer „unechten Vertrauensfrage“, die Gegenstand verfassungsrechtlicher Verfahren war,60 würde sich in diesem Fall nicht stellen. Umgekehrt kann ein Minderheitskanzler vom Parlament nur über den Weg des konstruktiven Misstrauensvotums gestürzt werden, so dass einer einmal ernannten Minderheitsregierung über diese Regelung quasi ein Bestandsschutz garantiert wird. Erst wenn keine Aussicht auf eine stabile Regierung mehr besteht, wäre es m. E. zulässig und vielleicht sogar geboten, dem Bundestag mitzuteilen, dass er keinen Vorschlag machen kann. Dann könnte der Bundestag – wie die wohl h.M. es vertritt – unmittelbar in die zweite Phase eintreten und aus der Mitte heraus einen Vorschlag für einen Kandidaten machen, über den dann abgestimmt wird.61 Ich denke, nur in einer Konstellation ist die Frage nach der Bindung des Bundespräsidenten an die vorherige politische Einigung von Interesse, ein Fall auf den ich gleich zurückkommen werde.
59 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass mittlerweile ein durchaus großer Teil der Gesetzgebungsverfahren auf der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben (Richtlinien und Verordnungen) beruht, bei der die nationalen Spielräume im Rahmen der Umsetzung ohnehin beschränkt sind bzw. bei Verordnungen nicht vorhanden sind. Gerade bei diesen Gesetzgebungsverfahren sind die Chancen einer Minderheitsregierung zur Erlangung der ausreichenden Mehrheit im Parlament relativ groß, da die Verordnungen ohnehin zwingend sind und die Umsetzung der Richtlinien mit Umsetzungsfristen verbunden sind. 60 BVerfGE 62, 1; zur auflösungsgerichteten Vertrauensfrage BVerfGE 114, 159; Pieper, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 50. Edition, Stand: 15. 2. 2022, Art. 68 Rn. 6 f. 61 Vgl. nur Schröder, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Band II, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 63 Rn. 24 f. m.w.N.
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III. Der Wächter im Bellevue Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass das Bundespräsidialamt die Auffassung hat, eine rechtliche Bindung des Bundespräsidenten an die politische Einigung auf einen mehrheitsfähigen Kandidaten bestehe nicht. Der Bundespräsident ist aber – wie alle Verfassungsorgane – an die verfassungsmäßige Ordnung und das GG gebunden ist – Art. 20 Abs. 1 GG. Die Bindung besteht natürlich auch für seine Rolle im Rahmen des Art. 63 GG. In der Literatur wird z. T. die Frage diskutiert, ob der Bundespräsident jemanden zum Minister, Beamten, Richter oder Soldaten ernennen müsse, der ein ausgewiesener Verfassungsfeind ist oder dessen Verfassungstreue in Rede steht.62 Die Frage wird vergleichsweise eindeutig beantwortet: Nein, er muss nicht.63 Es ist ein wenig beachteter, aber in der Praxis sehr relevanter Aspekt der bundespräsidialen Staatspraxis, die rechtlichen Voraussetzungen einer Ernennung und Entlassung von Amtsträgern zu prüfen. Nach § 54 BBG etwa kommt dem Bundespräsidenten bei Entlassungen politischer Beamter ein eigener Ermessenspielraum zu.64 Es ist beständige präsidiale Praxis, nach der sowohl bei Ernennungen wie Entlassungen eine Rechtsprüfung dahingehend stattfindet, ob der zu Ernennende die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Dieses von der Literatur eher am Rande behandelte Kriterium der Verfassungstreue spielte etwa 2005 eine nicht unerhebliche Rolle. Nach den Neuwahlen infolge der Bundestagsauflösung kündigte die CDU einen Kassensturz an. Man wäre wohl gezwungen, einen „verfassungswidrigen“ Haushalt 2006 vorzulegen. Im Bundespräsidialamt war man alarmiert.65 Damals wurde diskutiert, ob der Bundespräsident tatsäch62
Vgl. etwa Schröder, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Band II, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 63 Rn. 21, 40; vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Stand: 96. EL November 2021, Art. 63 Rn. 51. 63 Mager/Holzner, in: von Münch/Kunig/Mager/Holzner (Hrsg.), 7. Aufl. 2021, GG Art. 63 Rn. 19 f. 64 Hebeler/Battis, Bundesbeamtengesetz, 6. Aufl. 2022, § 54 Rn. 9; zum Prüfungsrecht in Personalangelegenheiten gem. Art. 60 Abs. 1 GG Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Rn. 1 f.; m.w.H. zur Praxis Pieper, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 50. Edition, Stand: 15. 2. 2022 Rn. 4.1. 65 Dargestellt nach Müller, Als Angela Merkel beinahe nicht Kanzlerin wurde, FAZ (abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/wahljahr-2009/amtsan tritt-als-angela-merkel-beinahe-nicht-kanzlerin-wurde-1873067.html).
Der Wächter im Schloss Bellevue
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lich jemanden gem. Art. 63 Abs. 1 GG vorschlagen könne, der einen vorsätzlichen Verfassungsbruch ankündige. Im Ergebnis musste der Bundespräsident die damalige designierte Kanzlerkandidatin vorab darauf hinweisen lassen, dass er sie nicht vorschlagen werde, wenn sie ihre Ankündigung nicht zurücknähme. Diese – wohl politisch gedachte – Ankündigung wurde dann aber zeitnah aus der Welt geräumt. Herr Schliesky hatte mir den Titel meines Vortrages nahegelegt. Der Begriff „Wächter“ erinnert an den Begriff des Hüters der Verfassung. Dieser hat eine historische Dimension, die ich hier und heute bewusst nicht aufgriffen habe. Ich denke, er ist in einer bestimmten historischen Situation und einem bestimmten verfassungsrechtlichen Rahmen entwickelt worden. Die Verfassungseltern haben den Bundespräsidenten in bewusster Abkehr vom Reichspräsidenten konstruiert. Ich pflege dem Rechnung zu tragen, indem ich auf die strikte Verfassungsbindung des Bundespräsidenten verweise. Die Bundespräsidenten haben – soweit ich sie erlebt habe – zwar durchaus unterschiedliche Auffassungen zu ihrer Verfassungsrolle. Alle haben sie sehr bewusst ausgefüllt und sehr ernst genommen. Der Bundespräsident ist ein „einzelner Akteur“ im demokratischen Rechtsstaat. Auch wenn seine Befugnisse klar im Grundgesetz festgelegt sind, kommt es darauf an, wie er sie mit Leben erfüllt. Mir war es wichtig, mit meinen Ausführungen zu verdeutlichen, dass dem Verfassungsorganwalter dabei eine erhebliche Verantwortung zukommt, wenn er die Verfassungsrolle bei der Regierungsbildung wahrnimmt.66 Wenn sich Parteien aus eigener Kraft bei auseinanderfallenden Wahlergebnissen nicht zu Koalitionen zusammenfinden, dann bedarf es – so sieht es die Verfassung vor – des Einsatzes des Bundespräsidenten. Mit der Wahl einer Partei am rechten äußeren Rand in den Bundestag sind Befürchtungen verbunden, dass eine politisch extreme Rechte so stark werden könne, dass sie das Verfassungssystem aushöhlen oder gar ändern könne. Ein Bundespräsident dürfte meiner Überzeugung nach eine Kandidatin oder einen Kandidaten, die/der solches plant oder unterstützt, dem Bundestag weder vorschlagen noch ernennen. Ich hoffe, dass der Bundespräsident als Verfassungsorgan nie in eine politische Situation kommt, die eine Entscheidung solcher Fragen ge-
66 Kritisch dazu Kingreen, Es lebe die Republik (abrufbar unter: https://verfas sungsblog.de/es-lebe-die-republik/).
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bietet. Und das Wahlergebnis hier in Schleswig-Holstein vom letzten Wochenende lässt hoffen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Schlusswort Von Sönke E. Schulz Es ist doch immer wieder eine ehrenvolle Aufgabe, mit einem Schlusswort dem, nach einem inhaltsvollen und damit auch anstrengenden Tag wohlverdienten, Übergang zum gemütlichen Teil einer Veranstaltung im Wege zu stehen. Um dem Jubilar ausreichend Zeit für einige Worte zu geben, komme ich dem, nicht explizit, aber durchaus nachvollziehbaren und oft konkludent geäußerten Wunsch nach und werde mich kurzfassen. Den Vorträgen ist es herausragend gelungen, nachzuzeichnen, dass zwar insbesondere Institutionen, Ämter und Rollen im Verfassungsstaat eine besondere Bedeutung haben – diese Bedeutung aber durch die jeweiligen Amtsinhaber ausgefüllt wird. Individuelles Handeln des einzelnen Akteurs und des Amtsinhabers also von, auch verfassungsrechtlicher, jedenfalls aber verfassungspolitischer Relevanz ist. Das Bild des Staates, der grundgesetzlich verfassten Staatsordnung, wie wir sie kennen und schätzen, wird vom Verhalten jedes Einzelnen gezeichnet. Damit kommt jedem, der in verantwortlicher Position tätig ist – wir haben dies exemplarisch an einigen wenigen herausgehobenen staatlichen Ämtern dargestellt, es dürfte aber auch für die Wirtschaft, Verbände und andere Teile der Gesellschaft gelten – eine weitergehende Bedeutung zu. Sein individuelles Handeln wird Teil des Staatshandelns und verdient daher eine besondere Beachtung. Aber damit soll der Blick nicht nur auf Amtsträger gelenkt werden: beleuchtet wurden Abgeordnete, Beamte, Richter und der Bundespräsident – nicht ohne Grund haben sich zwei Vorträge aber auch mit dem Bürger (Bürgerstatus) und der Staats-, Welt- und Unionsbürgerschaft befasst. Ohne bürgerschaftliches Engagement im besten Sinne sind moderne Staatsordnungen kaum denkbar; der Verfassungserwartung nach individuellem Gemeinwohlhandeln korrespondiert zugleich eine besondere Schutzgewähr des Staates für diesen Bürgerstatus des Einzelnen.
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Nur wenn sich ein entsprechendes Verständnis gemeineuropäisch herausbildet, ebenfalls begleitet von Schutzgewähr der Union und der Mitgliedstaaten, wird die Europäische Union die große Akzeptanz für sich in Anspruch nehmen können, die die meisten europäischen Staatsordnungen bei weiten Teilen ihrer Bevölkerung genießen. Der einzelne Akteur – so der Titel dieses Symposium – muss vermehrt in den Blickpunkt der Rechts- und Staatswissenschaft rücken. Ich hoffe, dass es gelungen ist, mit den Vorträgen und dieser Veröffentlichung einen kleinen Beitrag geleistet haben, dieses Desiderat zu verkleinern. Auch wenn die Diskussionen durchaus weitere lohnenswerte Betrachtungsgegenstände haben aufscheinen lassen: vom individuellen Verhalten der Inhaber von Regierungsämtern, sei es während der aktiven Zeit oder nachwirkend nach dem Ausscheiden aus dem Amt, über die Rolle jedes einzelnen individuellen Journalisten als Teil der „vierten Gewalt“ und damit einem essentialen Bestandteil des demokratischen Staates, bis hin zu der spannenden Frage, welche Folgen die Amtsausübung und die damit verbundenen Erwartungshaltungen für den jeweiligen Amtsinhaber und sein Verhalten haben. Tatsächliche Beschreibungen mögen existieren, Analysen der (verfassungs-)rechtlichen Anforderungen und Konsequenzen sind rar gesät. Schließen will ich mit einigen persönlichen Worten: Zahlreiche Politiker und Beamte können, was die Maßstäbe der Gemeinwohlorientierung und einer der Amtswürde entsprechenden Amtsausübung betrifft, sich an Ihnen, lieber Herr Schmidt-Jortzig, ein Vorbild nehmen! Ich wünsche im Namen von Professor Utz Schliesky sowie aller Teilnehmer des Symposiums ganz persönlich alles Gute und dass Sie noch viele Jahre derart vorbildhaft wirken können. Diese meine persönlichen Wünsche passen so gut zu dem Titel und zu den Erkenntnissen des Symposiums: Das Gemeinwesen, unsere rechtstaatlich-demokratisch, republikanische Staatsordnung hängt vom Handeln jedes Einzelnen ab. Dem Grundgesetz dürfte eine Verfassungserwartung zugrunde liegen, dass auch der Einzelne – in welcher Rolle auch immer – im Interesse des Gemeinwesens agiert. Dies haben Sie, lieber Professor Schmidt-Jortzig, – sowohl im politischen wie wissenschaftlichen Haupt- als auch im Ehrenamt – immer getan. Und daher mein Wunsch, dass Sie noch viele Jahre in diesem Sinne wirken können.
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Ich hoffe, wir konnten Ihnen mit dem bisherigen Tag – und natürlich auch mit dem was da noch kommt – sowie der Veröffentlichung der Beiträge eine kleine nachträgliche Freude zu ihrem Geburtstag machen! Und nun räume ich das Feld für den Jubilar – ich denke verbunden mit den besten Wünschen aller Anwesenden!
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Utz Schliesky Prof. Dr. Schliesky ist Direktor des Schleswig-Holsteinischen Landtages sowie außerplanmäßiger Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zudem ist er Vorstandsmitglied des Lorenz-von-Stein-Instituts für Verwaltungswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität. Claus Christian Claussen Herr Claussen ist Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtages und war Minister für Justiz, Europa und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein (seit Juni 2022 a.D.). Prof. Dr. Kerstin von der Decken Prof. Dr. von der Decken ist seit Juni 2022 Ministerin für Justiz und Gesundheit des Landes Schleswig-Holstein. Zuvor war sie Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Völkerrecht, Europarecht und Allgemeine Staatslehre sowie Direktorin des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Prof. Dr. Florian Becker, LL.M. (Cambridge) Prof. Dr. Becker ist Professor für Öffentliches Recht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. PD Dr. Sönke E. Schulz Dr. Schulz ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Schleswig-Holsteinischen Landkreistages und Privatdozent an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Prof. Dr. Peter M. Huber Prof. Dr. Huber ist Richter des Bundesverfassungsgerichts und Professor für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Stefan Ulrich Pieper Prof. Dr. Pieper ist stellvertretender Leiter der Zentralabteilung sowie Leiter des Referats Verfassung und Recht, Justitiariat im Bundespräsidialamt, außerplanmäßiger Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster und Lehrbeauftragter an der Universität Potsdam.