Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik: Beitrag zu einem liberalen Grundrechtsverständnis im demokratischen Rechtsstaat [1 ed.] 9783428540884, 9783428140886

Die Publikation wendet sich gegen das verbreitete Abwägungsdenken im Grundrechtsbereich. Während das deutsche Verfassung

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German Pages 379 Year 2013

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Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik: Beitrag zu einem liberalen Grundrechtsverständnis im demokratischen Rechtsstaat [1 ed.]
 9783428540884, 9783428140886

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1241

Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik Beitrag zu einem liberalen Grundrechtsverständnis im demokratischen Rechtsstaat

Von Renata Camilo de Oliveira

Duncker & Humblot · Berlin

RENATA CAMILO DE OLIVEIRA

Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1241

Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik Beitrag zu einem liberalen Grundrechtsverständnis im demokratischen Rechtsstaat

Von Renata Camilo de Oliveira

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Wintersemester 2012/2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14088-6 (Print) ISBN 978-3-428-54088-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84088-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Patrice

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2012/2013 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Sie wurde im September 2012 abgeschlossen. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Bernhard Schlink, der die Entwicklung der Arbeit durch seine stete Diskussionsbereitschaft und wertvollen Anregungen maßgeblich gefördert hat. Herrn Prof. Dr. Volker Neumann danke ich herzlich für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens. Dank gebührt auch Herrn Prof. Dr. Stephan Kirste, der noch im Rahmen eines LL.M-Studiums meine ersten Schritte im deutschen Verfassungsrecht hervorragend betreut hat. Für die sprachliche Hilfe und Korrektur danke ich Cornelia Pardeike und Daniel Schneider. Der Konrad-Adenauer-Stiftung verdanke ich die finanzielle Förderung. Meinen Eltern, Celina und Antônio, sowie meinen Schwestern, Claudia und Mariana, möchte ich an dieser Stelle für ihre ständige Unterstützung und den Rückhalt, den sie mir immer geben, herzlich danken. Meinem Mann, Patrice Schmidt, danke ich für seine Liebe und humorvolle Unterstützung, mit der er mich durch die Höhen und Tiefen der Promotionszeit begleitet hat. Ihm ist die Arbeit gewidmet. Berlin, im Januar 2013

Renata Camilo de Oliveira

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I. Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz . 22 I. Der Begriff des Paradigmas und seine Anwendung auf das Recht . . . . . . . . . . . . . 23 II. Der liberale Rechtsstaat, Abwehrfunktion und Rechtsformalismus . . . . . . . . . . . . 24 1. Der Minimalstaat und das bürgerlich-liberale Grundrechtsverständnis . . . . . . 25 2. Das klassische Gewaltenteilungsschema und die Judikative als „bouche de la loi“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 III. Der Sozialstaat, funktionaler Grundrechtspluralismus und Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Materialisierung des Rechtsstaates und Wandel des Grundrechtsverständnisses: Der objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Machtzuwachs für die Justiz und Komplexitätsgewinn aus der Perspektive des interpretativen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3. Kelsens Interpretationstheorie und das Scheitern der reinen Rechtslehre: Neue Wege im Umgang mit der Rechtsunbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 IV. Auf dem Weg zum demokratischen Rechtsstaat: Verfassungstheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Zur Rehabilitierung des Abwehrrechts: Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft und die Freiheitsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Grundrechte und Demokratie: Bemerkungen zur Rolle der Gesetzgebung und Rechtsprechung nach der Diskurstheorie von Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

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Inhaltsverzeichnis

C. Konturen der verfassungsgerichtlichen Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung im Grundrechtsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 I. Drittwirkung und die Grundrechte in der Wertordnung des GG und unter dem Abwägungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Lüth-Urteil (1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Anmerkung und Weiterentwicklung: Abwägungs- und Drittwirkungsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 II. Kollidierende Verfassungsgüter als immanente Grundrechtsschranken . . . . . . . . . 70 1. Dienstpflichtverweigerung (1970) und Kriegsdienstverweigerung II (1985) . 71 a) Dienstpflichtverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 b) Kriegsdienstverweigerung II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Anmerkung und Weiterentwicklung: Umgang mit vorbehaltlosen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 III. Grundrechtliche Schutzpflicht und Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Schwangerschaftsabbruch I (1975) und II (1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Schwangerschaftsabbruch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 b) Schwangerschaftsabbruch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2. Anmerkung und Weiterentwicklung: Schutzfunktion und verfassungsgerichtliche Kontrolle ihrer Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 IV. IT-Grundrecht und die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes . . . . 89 1. Online-Durchsuchung (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. Anmerkung: Verhältnismäßigkeit, Schutzpflicht und Wesensgehaltsgarantie . 94 V. Exkurs über die Rezeption des Abwägungsdenkens im brasilianischen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Oberstes Bundesgericht: Zuständigkeiten, Wendung zum Aktivismus und Übernahme der Abwägungsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Das Argumentieren mit der Abwägungsmethode am Beispiel einiger Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) HC 82424 – Judendiskriminierung und Rassismusverbot: Zu Grenzen der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

Inhaltsverzeichnis

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b) Inq 2424 – Unverletzlichkeit der Wohnung: Die Relativierung der Grundrechtsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) STA-AgR 175 – Recht auf Gesundheit: Von mangelnder Wirksamkeit zu überhöhter Juridifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Abwägung in der Grundrechtsdogmatik . . . 116 I. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Verknüpfung mit der Güterabwägung, Entstehung und Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 II. Anwendungsbereiche: Übermaßverbot, Untermaßverbot und Schranke der Gleichheitssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 III. Abwehrrecht und die „triadische Struktur“ der Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Der grundrechtliche Schutzbereich, der Eingriff und die Schranke . . . . . . . . . 122 2. Die Schranken der Einschränkbarkeit (sog. Schranken-Schranken) . . . . . . . . 126 IV. Übermaßverbot und seine drei Teilgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Geeignetheit: Zweck-Mittel-Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Erforderlichkeit: Mittel-Mittel-Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Proportionalität und die Abwägungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 V. Schutzpflicht und Untermaßverbot: Zwischen Bindung und Gestaltungsspielraum 136 1. Schutzpflicht: Herleitung, Anwendungsbereich und Umfang . . . . . . . . . . . . . 136 2. Vom Übermaß- zum Untermaßverbot? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 E. Theoretische Fundierungen der Abwägung und des wertorientierten Grundrechtsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 I. Integrationslehre von Rudolf Smend und die Grundrechte als ein Wertsystem . . . 146 II. Institutionelles Grundrechtsverständnis von Peter Häberle und die immanenten Grundrechtsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 III. Prinzipientheorie der Grundrechte von Robert Alexy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Strukturelle Unterscheidung von Regeln und Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

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Inhaltsverzeichnis 2. Auflösung der Regelkonflikte bzw. der Prinzipienkollisionen und das Kollisionsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3. Werttheorie der Grundrechte, Abwägungsgesetz und Rationalität der Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4. Der juristische Diskurs als Sonderfall des moralischen Diskurses . . . . . . . . . 165 5. Kritische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis 173 I. Kollidierende Verfassungsgüter als verfassungsimmanente Grundrechtsschranken 173 1. Erzeugung von Kollisionen und das tendenziell uferlose Feld kollidierender Verfassungsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Relativierung der Grundrechtsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3. Entdifferenzierung der verschiedenen Freiheitsrechte und ihrer Schrankenregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 II. Axiologisches Verständnis der Verfassung und Grundrechte als objektiv-rechtliche Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Entdifferenzierung von Rechtsnormen, Zielsetzungen und Wertorientierungen und Relativierung der normativen Wirkkraft der Grundrechte . . . . . . . . . . . . 187 2. Funktionaler Pluralismus, Schutzpflicht und Verkürzung des Abwehrrechts . 192 3. Das Verfassungsgericht als Ideologiekritiker des Gesetzgebers und Hüter der gesellschaftlichen Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 III. Methodologische Einwände: Rationalitätseinbußen der Rechtsanwendung und Dezisionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 1. Der Mangel an rechtlichem Maßstab für die Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2. Vom Übermaß- zum Untermaßverbot? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3. Der naive Glaube an die Methode und die Tendenz zum Begründungsdefizit 213 IV. Konstitutionalisierungstendenz und Verschiebung der Gewichte zwischen Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 1. Abbau der Rechtsordnung und Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

Inhaltsverzeichnis

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2. Vom Rechtsstaat zum Verfassungsjurisdiktionsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 I. Dogmatik der Einzelgrundrechte und Ausbau des Abwehrrechts . . . . . . . . . . . . . 232 1. Grundrechte als subjektive Freiheitsrechte und Gewährleistungsinhalt einzelner Grundrechte nach Ernst-Wolfgang Böckenförde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Die sachlich-normative Reichweite der einzelnen Grundrechte als Grenzbestimmung und der Beitrag der Normbereichsanalyse von Friedrich Müller . . 237 3. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i. V. m. den verschiedenen Dogmatiken der Einzelgrundrechte nach Bernhard Schlink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 4. Die Reflexivität des Abwehrrechts in mehrpoligen Rechtsverhältnissen nach Ralf Poscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 II. Rechtssicherheit und Richtigkeit: Zur Rehabilitierung der prinzipienorientierten Rechtsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Die Integrität als Prinzipienkohärenz und die konstruktive Interpretation von Ronald Dworkin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 2. Die Differenzierung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs und das Kohärenzmodell von Klaus Günther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 III. Kritische Analyse und Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . 271 H. Grundzüge einer zum Abwägungsdenken alternativen Grundrechtsdogmatik . . 281 I. Liberales und deontologisches Grundrechtsverständnis, Neutralitätsgebot und positive Freiheitsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 II. Sorgfältige Schutzbereichsbestimmung der Spezialgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . 292 1. Schutzbereichsbestimmung durch den Zusammenhang von Sachbereich und Normprogramm: Zwischen Richtigkeit und Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . 294 2. Auffanggrundrecht: Subsidiärer Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit . . 306 3. Zu den Einwänden gegen eine präzise Schutzbereichsbestimmung: Verkürzung des Grundrechtsschutzes, Verschiebung des Problems und Irrationalität 307 III. Grundrechtsbindung im Gefüge der Gewalten und Rechtfertigungsanforderungen 313 1. Grundrechtseingriff und positivrechtliche Ausgestaltung der Gesetzesvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

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Inhaltsverzeichnis 2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechtsbindung des Gesetzgebers und der Rechtsanwendungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 3. Weitere Kontrollinstrumentarien: Bemerkungen zur Wesensgehaltsgarantie . 325 IV. Dreiecksverhältnisse, Abwehrrecht und Leistungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 1. Abwehrrechtliche Erfassung der Dreiecksverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 2. Verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wahrnehmung von Leistungspflichten 335

J. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 II. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

A. Einleitung I. Gegenstand der Untersuchung Die Grundrechte werden in der gegenwärtigen Dogmatik zunehmend als abwägungsbedürftige Prinzipien betrachtet. Dies gilt nicht nur für die Grundrechte als objektive Wertentscheidungen, sondern auch für die Grundrechte als Abwehrrechte, die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch dem Abwägungsgebot unterzogen werden. In dieser Entwicklung sowie überhaupt in der Doppelgestalt der Grundrechte liegen zentrale und mehrheitlich noch nicht zufriedenstellend beantwortete Fragen des Verfassungsrechts, wie z. B. nach den Maßstäben für das Gewichten und Abwägen, dem Verhältnis zwischen subjektivrechtlichem und objektiv-rechtlichem Grundrechtsgehalt, dem Inhalt und Umfang von Leistungspflichten, der Gefahr einer Konstitutionalisierungstendenz, der wachsenden Einbindung des Gesetzgebers oder den Möglichkeiten der Kategorien des Eingriffs, der Abwehr und der Schranke, die erweiterten Grundrechtsfunktionen zu bewältigen. In diesem Zusammenhang verfolgt die Arbeit allerdings mit Fragestellungen, die lediglich Bezug auf das Abwägungskonzept und das damit verbundene Kollisionsdenken nehmen, eine beschränkte Zielsetzung. Die Ergebnisse hinsichtlich des Grundrechtsverständnisses und der Interpretation des Gewaltenteilungsgrundsatzes können jedoch zur Lösung anderer grundrechtsdogmatischer Kontroversen beitragen. Die Diskussion über die Güterabwägung hat trotz ihrer beachtlichen Dauer und sehr intensiver Bemühungen keineswegs zu einer Einigung geführt. Vielmehr belegen die Meilensteine der Diskussion, dass ein rationaler, nachvollziehbarer Umgang mit der Abwägungstechnik nach wie vor eine zentrale Schwierigkeit des Verfassungsrechts ist.1 Gleichwohl versuchen das BVerfG und die h. L. in dem Begriff der Abwägung, der zunächst nur eine methodische und dogmatische Verlegenheit bezeichnet, einen Schlüssel zur Methode und Dogmatik des Verfassungsrechts zu finden.2 Das Abwägungsmodell hat in diesem Sinne die Probleme der 1 Die Existenz verschiedenster Thesen über das Abwägungsgebot bestätigt diese Beobachtung. Vgl. etwa Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht (1976); Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts (1979); Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1981); Müller, Die Positivität der Grundrechte (1990); Alexy, Theorie der Grundrechte (1994); Stern, StR III/2, § 84 (1994), S. 814 ff.; Ossenbühl, in: Abwägung im Recht (1996), S. 25; Leisner, Der Abwägungsstaat (1997); Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik (2004). 2 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 13.

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A. Einleitung

sog. Grundrechtskollisionen, der Operationalisierung und Abstimmung verschiedener Grundrechtsdimensionen, der Schranken vorbehaltloser Grundrechte sowie der Spezifizierung der jeweils besonderen Grundrechtsschranken scheinbar gelöst. Es erscheint als eine Art „Allheilmittel“ für sämtliche Schwierigkeiten der Grundrechtsdogmatik, gehört inzwischen zum Standardrepertoire des Grundrechtsdenkens, und der h. M. zufolge lassen sich Prinzipienkollisionen nicht anders auflösen als durch Abwägung der kollidierenden Güter.3 Im Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt es sogar weltweit als „Exportschlager“ und wird dabei nicht selten in sehr unkritischer und unreflektierter Weise rezipiert, was hier exemplarisch durch einen Bezug auf die Übernahme in Brasilien gezeigt wird.4 Ob das Abwägungsmodell die Anforderungen an eine rationale Begründung erfüllt und eine adäquate Garantie der Grundrechte fördert, ist aber fraglich. Zwar ist die Kritik am Abwägungs-, Prinzipien- und Wertedenken sowie an den sich daraus für die Rolle der Verfassungsgerichte ergebenden Folgen fast ebenso alt wie dieses Denken selbst,5 durchsetzen konnte sie sich aber bislang nicht. Vielmehr hat der Widerstand gegen den Wandel – möglicherweise aufgrund der festen Etablierung dieses Modells – sogar nachgelassen. Die Rechtsprechung zu den Grundrechten und deren Dogmatik sind in der Tat so sehr vom Abwägungskonzept dominiert worden, dass dogmatische Alternativen kaum mehr Konturen gewinnen und Resonanz finden. Die Güterabwägung sei ein notwendiges Übel.6 Gegen diese Tendenz wendet sich die vorliegende Untersuchung und zielt darauf ab, aus verschiedenen Gesichtspunkten eine Kritik an der Abwägung im Grundrechtsbereich und an ihren theoretischen Grundlagen zu entfalten sowie auch die bisherigen Lösungsversuche aufzugreifen und zu einem eigenen Konzept fortzuentwickeln.

3 Vgl. etwa Stern, StR III/2, § 84, S. 816; ders., in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 17; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 120, 290 und passim; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 175 ff.; Wendt, AöR 104/1979, 414, 455; Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts, S. 253; Barroso, Interpretação e aplicação da Constituição, S. 352; Mendes, Direitos fundamentais, S. 20, 79 ff.; Guerra Filho, in: Leituras complementares de Direito Constitucional, S. 87, 91; Barcellos, Ponderação, racionalidade e atividade jurisdicional, S. 31 ff., 68 ff. 4 Im Zentrum der Untersuchung stehen freilich die deutsche Dogmatik und Rechtsprechung. Am Rande werden allerdings auch Bemerkungen über die Rezeption in Brasilien gemacht. Dieser Bezug soll nicht nur die Relevanz des Themas für die brasilianische Grundrechtsdogmatik darstellen, sondern insbesondere auch zeigen, dass die Anwendung der Abwägung in einer anderen verfassungsrechtlichen Kultur ähnliche oder noch ernstere Probleme als in Deutschland aufwerfen kann. 5 s. etwa Forsthoff, in: FS Carl Schmitt, S. 35 ff.; Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1532 ff.; ders., Der Staat 42/2003, 165, 190; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht; ders., in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 460 ff.; Müller, Die Positivität der Grundrechte; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 310 ff.; Leisner, Der Abwägungsstaat; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 49 ff., 241 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 75 ff., 94 ff.; Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik. 6 Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts, S. 253.

II. Gang der Untersuchung

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Die Kritik am herrschenden Abwägungsmodell und an der ihm zugrunde liegenden Wert- und Prinzipientheorie wird in Auseinandersetzung sowohl mit der Rechtsprechung als auch mit der Literatur und insbesondere im Hinblick auf die Kompetenzverteilung zwischen demokratischem Gesetzgeber und Judikative geführt. Die Rechtsprechung ist an „Gesetz und Recht“ gebunden und unter den Bedingungen rechtsstaatlicher Gewaltenteilung stehen gesetzgeberische Kompetenzen den Organen der Rechtsanwendung nicht zur Verfügung. Die Legitimität des geltenden Rechts, von der jeder Anspruch auf Rationalität der Rechtsprechung abhängt, setzt die Bewahrung des Gesetzgebungsprozesses voraus.7 Auf der Grundlage dieser Prämisse wird eine kritische Analyse des Abwägungsdenkens und somit der Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsrechtsprechung im demokratischen Rechtsstaat mit dem Zweck durchgeführt, zu einem rechtsstaatlich adäquaten Verständnis der Grundrechte und des Gewaltenteilungsgrundsatzes beizutragen. Hierbei strebt die Arbeit insbesondere an, die Grundrechte als subjektive Rechte des Einzelnen wieder verstärkt in den Vordergrund der Grundrechtsdogmatik zu rücken und zugleich die Eigenständigkeit des Gesetzgebers gegenüber dem Verfassungsgericht wieder beschreibbar zu machen.

II. Gang der Untersuchung Die häufige Anwendung der Abwägung im Verfassungsrecht ist auf einen Wandel des Grundrechtsverständnisses und eine Funktionserweiterung der Justiz zurückzuführen, die sich aus der Entwicklung des liberalen Rechtsstaates zum Sozialstaat ergeben haben. Darüber hinaus ist die Stellung des Richters bei der Grundrechtsanwendung im demokratischen Rechtsstaat ein wesentliches Thema, das mit der extensiven Abwägungsrechtsprechung verstärkt aufgeworfen wurde. Die Untersuchung setzt das Bestehen eines Unterschieds zwischen den Prinzipien des Rechtsstaates und deren paradigmatischen Lesarten voraus. Die in dieser Arbeit vorgenommene Anwendung des Paradigmenbegriffs auf das Recht bezweckt daher, so weit wie möglich diejenigen Vorverständnisse herauszuarbeiten, welche in Bezug zur Interpretation der Grundrechte und des Gewaltenteilungsgrundsatzes stehen.8 Das Rechtsparadigma besagt, wie im Rahmen eines Sozialmodells die Grundrechte und die Prinzipien des Rechtsstaates zu verstehen und zu verwirklichen sind.9 Das bedeutet nichts anderes, als dass die Grundrechtsanwendung „– bewusst oder un-

7

462.

Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 292; Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445,

8 Das Vorhaben ist darüber hinaus, „ein undogmatisches Analysieren von Dogmatik“ durchzuführen. Luhmann, in: Ausdifferenzierung des Rechts, S. 308, 316. 9 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 238, 308.

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A. Einleitung

bewusst – von einer bestimmten Grundrechtstheorie geleitet und bestimmt“ wird.10 Der Versuch, die Opposition zwischen bürgerlichem Formalrecht und sozialstaatlich materialisiertem Recht zu überwinden, führte dazu, dass seit den 1970er-Jahren die Diskussion zum paradigmatischen Rechtsverständnis allmählich gewissermaßen reflexiv wurde. Die Untersuchung thematisiert diesen Hintergrund ausdrücklich und geht bereits am Anfang auf deren grundrechts- und staatstheoretische Grundlagen ein (Kapitel B.). Der historischen und theoretischen Analyse folgt eine erste Annäherung an die verfassungsgerichtliche Abwägungsrechtsprechung im Grundrechtsbereich. Gegenstand der Diskussion sind hier weniger die Einzelfälle und deren Ergebnis als vielmehr die grundsätzlichen dogmatischen Richtungen als solche – v. a. die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des objektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte. Die Entwicklung dieser Rechtsprechung soll in groben Zügen nachgezeichnet werden. Eine umfassende Behandlung der inzwischen kaum mehr überschaubaren Entscheidungen, die Bezug auf die Abwägung oder auf das Wertdenken nehmen, ist nicht beabsichtigt. Vielmehr ist die Auswahl nur als erstes Anschauungsmaterial gedacht. Der detaillierten Darstellung des Lüth-Urteils, der Entscheidung zur Dienstpflichtverweigerung und zur Kriegsdienstverweigerung II, der 1. und 2. Schwangerschaftsabbruchsurteile sowie der Entscheidung zur OnlineDurchsuchung folgt ein Überblick über die Entwicklung der jeweiligen Argumentationsfiguren, insbesondere der mittelbaren Drittwirkung, der verfassungsimmanenten Schranken und der Schutzpflicht. Anschließend wird die Rezeption des Abwägungsmodells im brasilianischen Verfassungsrecht erörtert. Die Untersuchung versucht in diesem Kapitel im Wesentlichen nachzuvollziehen, aus welchen grundrechtsdogmatischen Hauptschwierigkeiten das Wert-, Prinzipien- und Abwägungsdenken herauszuführen scheint, und ebenfalls auszuloten, wie stark das Abwägungsmodell sowie das objektiv-rechtliche Grundrechtsverständnis die Rechtsprechung des BVerfG tatsächlich prägen (Kapitel C.). Im Anschlusskapitel wird die Stellung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik systematisch beschrieben, und zwar in Auseinandersetzung mit der Literatur, aber auch mit Hinweisen auf die Rechtsprechung. Die Ausführungen umfassen u. a. die drei Argumentationsmodelle des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die sog. „triadische Struktur“ der abwehrrechtlichen Dogmatik – d. h. Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung –, die Elemente des Übermaßverbots sowie die Diskussionen um die grundrechtliche Schutzpflicht, v. a. deren Herleitung, Anwendungsbereich, Umfang und Kontrolle. Die Arbeit befasst sich daher mit der Verhältnismäßigkeit nicht nur als Übermaß-, sondern auch als Untermaßverbot. Der Grund hierfür besteht darin, dass einerseits die überragende Bedeutung dieses Grundsatzes nach wie vor bei den Anforderungen an Grund10 Böckenförde, NJW 1974, 1529, der folglich die Notwendigkeit hervorhebt, die Frage des grundrechtstheoretischen Ansatzpunkts der Interpretation zu reflektieren (S. 1530). s. auch Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 45.

II. Gang der Untersuchung

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rechtsbeschränkungen liegt. Gleichzeitig besteht aber ein gewisser Zusammenhang zwischen Abwehrrecht und Schutzpflicht – sei es aufgrund der dogmatischen Verkürzung des Ersteren, sei es aufgrund der „Schutz-durch-Eingriff“-Problematik (Kapitel D.). Im Anschluss daran werden wichtige theoretische Grundlagen des Abwägungsdenkens und des wertorientierten Grundrechtsverständnisses ausgeführt. Einem Überblick über die Grundzüge der Integrationslehre von Smend und des institutionellen Grundrechtsverständnisses von Häberle sowie über die Verbindung dieser Theorien mit dem Abwägungsmodell folgt eine ausführlichere Darlegung der Prinzipientheorie von Alexy. Besondere Betonung verdienen hierbei die strukturelle Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln (bei der die Prinzipien als Optimierungsgebote konzipiert werden), die verschiedenen Kriterien zur Sicherstellung der Rationalität der Abwägung (Vorrangbedingungen, Kollisionsgesetz, Abwägungsgesetz usw.), die Verteidigung der Wertejudikatur und die Charakterisierung des juristischen Diskurses als Sonderfall des moralischen Diskurses (Kapitel E.). Im Schrifttum richtet sich die Kritik an der Abwägung oft unvermittelt gegen ihre rechtsstaatlich bedenklichen Folgen, ohne aber deutlich zu machen, dass die Prämisse einer Assimilation von Rechtsprinzipien an Werten bzw. abwägungsbedürftigen Prinzipien das originäre Problem sein kann, welches möglicherweise Ergebnis einer Fehlinterpretation der verfassungsgerichtlichen Rolle ist. Die Untersuchung wird diese Problematik ausdrücklich zum Gegenstand haben. Hinsichtlich der Gefahr einer Erzeugung von Kollisionen und einer Relativierung der Grundrechtsgarantie wird zunächst ermittelt, ob die Beschränkung der Grundrechte durch kollidierende Verfassungswerte zu einer methodisch vermittelten und rechtsstaatlich begründbaren Schrankenbestimmung führt. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen deontologischer und axiologischer Ebene wird weiter die Frage erörtert, ob die im Rahmen der Abwägung gefallenen Entscheidungen ihre strikte Verbindung mit den Alternativen des deontologischen juristischen Codes verlieren und ob dadurch die normative Kraft der Grundrechte als subjektive Rechte beeinträchtigt wird. Daran schließen sich Ausführungen zur Verkürzung des Anwendungsbereichs des Abwehrrechts und zu seiner möglichen Schwächung durch die Ausdehnung unterschiedlicher Grundrechtsfunktionen sowie auch zum Risiko, dass das Verfassungsgericht die Rolle eines Ideologiekritikers des Gesetzgebers oder sogar eines Wächters der gesellschaftlichen Werte einnimmt, an. Besondere Bedeutung erlangt ferner die Frage, ob die Abwägung eine verfassungsadäquate Begründung der Entscheidung fördert, insbesondere indem die gerichtlichen Entscheidungen als bloßes Ergebnis der Anwendung einer holistischen, im Voraus bestimmten Methode angesehen werden, die außerdem nur über fragliche Gewichtungsmaßstäbe verfügt. Schließlich werden dann speziell die Konstitutionalisierungstendenz und die Verschiebung der Gewichte zwischen Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit behandelt, die das Verfassungsgericht mit Aufgaben einer konkurrierenden Gesetzgebung belastet. Solche problematischen Aspekte des Abwägungsdenkens und des objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnisses sind Gegenstand von Kapitel F.

20

A. Einleitung

Als Antwort auf die Kritik an der Abwägung wird häufig bekräftigt, dass es keine andere akzeptable und realisierbare Möglichkeit gibt: Ein Modell, das die Grundrechtsnormen als abwägungsfrei ansieht, sei legalistisch, unzureichend und inadäquat, weil Gewichten und Abwägen eigentlich unausweichlich seien.11 Dagegen versucht die Untersuchung zu zeigen, dass die Antwort des Abwägungsmodells zur positivistischen Vorstellung des Rechts als geschlossenem Regelsystem und zur Behandlung der strukturellen Unbestimmtheit des Rechts weder die einzige noch die angemessenere im demokratischen Rechtsstaat ist. In der Folge werden somit Alternativen zu einem abwägungsorientierten Umgang mit den Grundrechten diskutiert, mit denen schrittweise deutlich wird, dass das grundrechtliche Instrumentarium auch ohne die Abwägung und ohne Verlust seines deontologischen Geltungssinns zur Lösung von Konflikten nicht defizitär ist. Eine erste Reihe von Ansätzen umfasst die Vorschläge von Böckenförde, Müller, Schlink und Poscher und bezieht sich spezifisch auf die Grundrechtsdogmatik. Mit einem dogmatischen Ausbau des Abwehrrechts reagieren diese Autoren sowohl auf die Kritik am Abwehrrecht als auch auf die Einebnung seiner dogmatischen Strukturen durch das Abwägungselement. Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen und z. T. abweichender Ergebnisse steht hier das dogmatische Element im Vordergrund. Bei den verschiedenen Vorschlägen wird außerdem auch deutlich, dass die methodischen und dogmatischen Vorzüge des Abwehrrechts auch verfassungs- und demokratietheoretische Vorteile gegenüber dem Abwägungsmodell abbilden: Die Grundrechtsdogmatik soll das Bild eines politisch gestaltenden, in einem grundrechtlichen Rahmen handelnden Gesetzgebers wieder sichtbar machen. Eine zweite Reihe von Ansätzen betrifft allgemeiner die Frage der Rechtsinterpretation. Im Hinblick auf die dem Recht inhärente Unbestimmtheit legen Dworkin und Günther Kohärenztheorien vor und liefern dabei einen breiten Rahmen für die Differenzierung zwischen einer normorientierten und normgelösten politischen Argumentation sowie für die Erfassung der Spannung zwischen Rechtssicherheit und Richtigkeit innerhalb der richterlichen Praxis. Dworkins liberale politische Philosophie und sein Konzept der Integrität des Rechts sowie Günthers Unterscheidung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs lassen darauf schließen, dass es auch bei Annahme einer prinzipienorientierten Interpretation möglich ist, eine fundierte Antwort auf die Frage der Unbestimmtheit des Rechts innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft zu geben – und zwar ohne Entstellung der gültigen Rechtsnormen (Kapitel G.). An die Analyse der alternativen Ansätze schließt sich ein eigener Lösungsvorschlag an, bei dem eine Rehabilitierung der Abwehrrechtsdogmatik sowie die Notwendigkeit einer Rekonstruktion der Rechtsprechungsdiskurse zur normativen Anwendung im Vordergrund stehen. Als Antwort auf das Modell der Einzelfallab11 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 106 ff., 154 ff.; ders., Rechtstheorie 18/1987, 405 ff. s. auch Wendt, AöR 104/1979, 414, 455; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 175 ff.; Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 17; Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 85; Barcellos, Ponderação, racionalidade e atividade jurisdicional, S. 68 ff.

II. Gang der Untersuchung

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wägung wird eine Rückbesinnung auf eine deontologische, liberale und sich an Auslegung und dogmatischem Denken orientierende Betrachtungsweise der Grundrechte vorgeschlagen, die von einer differenzierten Bereichsdogmatik der einzelnen Grundrechte ausgeht. Die Herausarbeitung der verschiedenen Grundrechtsdogmatiken beginnt mit der Bestimmung des Schutzbereichs, der durch den Zusammenhang von Lebens- bzw. Sachbereich und Normprogramm zu ermitteln ist. Doch die Unterscheidungen gehen weit darüber hinaus und betreffen auch die Abstufung der Gesetzesvorbehalte, die Gestaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und die Herausarbeitung der Wesensgehaltsgarantien. Im Rahmen der Entfaltung des Ansatzes wird ebenfalls zu zeigen sein, dass ein liberaler Ansatz der Verfassungsinterpretation, dem zufolge die Verfassung dem staatlichen Handeln – auch den staatlichen Regelungen von Dreiecksverhältnissen – in Form individueller Rechte Grenzen setzt, hinsichtlich einer Verpflichtung auf die Realisierung politischer Zielsetzungen aber Zurückhaltung übt, nach wie vor seine Berechtigung besitzt. Überlegungen zur abwehrrechtlichen Erfassung der Dreiecksverhältnisse und zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Wahrnehmung grundrechtlicher Leistungspflichten beschließen daher Kapitel H. Eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse der Arbeit sowie ein Blick auf das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Verfassungsrechtsprechung schließen die Untersuchung ab (Kapitel J.).

B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz Ausgegangen wird von der Prämisse, dass das Verfassungsrecht (so wie jedes Menschenwerk) Ergebnis eines sozialen Kontexts und insbesondere von Weltanschauungen ist, welche Umstand seiner Hervorbringung waren. In diesem Sinne wird zur Bearbeitung des Themas auf den Begriff des Paradigmas zurückgegriffen. Dies begründet sich dadurch, dass bestimmte paradigmatische Denkformen in der Lesart der Grundrechte sowie des Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzips auszumachen sind. Gleichermaßen ist die Schaffung, Anwendung oder Übernahme neuer Interpretationsmethoden (wie der Güterabwägung im Verfassungsrecht) Ergebnis eines spezifischen historischen Kontexts und zugleich Resultat von Hintergrundannahmen, welche die Basis für die verfassungsrechtliche Hermeneutik bilden.1 All das wirft die Frage auf, in welchem Ausmaß die Rechtsparadigmen die Frage der Interpretation bzw. Anwendung der Grundrechte und des Gewaltenteilungsgrundsatzes beeinflussen. Ebenso zentral ist die Betrachtung dessen, was in diesem Fall genau unter dem demokratischen Rechtsstaat zu verstehen ist und gegen was er Opposition bezieht. Die Klärung dieser Hintergründe erweist sich als unabdingbar, sodass die Untersuchung das Vorhandensein eines Unterschieds zwischen den Prinzipien des Rechtsstaates und ihren paradigmatischen Lesarten voraussetzt. Da die Grundrechtsinterpretation (bewusst oder unbewusst) von einer bestimmten Grundrechtstheorie2 geleitet wird und da die Arbeit an verschiedenen Stellen für ein bestimmtes Verständnis der Grundrechte und des Gewaltenteilungsgrundsatzes optiert, ohne dies in den jeweiligen Zusammenhängen eingehender darlegen zu können, ist hier ferner auf gewisse verfassungstheoretische Grundlagen einzugehen.

1 In diesem Sinne betont Habermas, Faktizität und Geltung, S. 468, dass „die Interpretation des Rechts auch eine Antwort auf die Herausforderungen einer in bestimmter Weise wahrgenommenen gesellschaftlichen Situation“ ist. 2 Böckenförde, NJW 1974, 1529, der Grundrechtstheorie als „eine systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte“ definiert. s. auch Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 45: „Schließt man den Rückgriff auf ,Theorien der Rechtsphilosophie und Thesen der allgemeinen Staatslehre‘ von vornherein aus der verfassungsrechtlichen Dogmatik aus, (…) wird dies nicht zu größerer Klarheit und Überzeugungskraft der verfassungsrechtlichen Argumentation führen, sondern lediglich dazu, dass die jeweiligen Vorverständnisse unreflektiert und unaufgeklärt in die Verfassungsinterpretation eingehen.“ Zum Verhältnis von Grundrechtstheorie und Grundrechtsdogmatik vgl. ferner Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 124 ff.

I. Der Begriff des Paradigmas und seine Anwendung auf das Recht

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I. Der Begriff des Paradigmas und seine Anwendung auf das Recht Der Begriff des Paradigmas wurde von Thomas Kuhn in die Wissenschaftsphilosophie eingeführt. Es handelt sich um ein janusköpfiges Konzept, das es zwar ermöglicht, die wissenschaftliche Entwicklung als einen über „Brüche“ ablaufenden Prozess zu erklären, wozu die bestimmten Sinngebungen thematisiert und verdeutlicht werden, die sich als Vorverständnisse und Weltanschauungen durchgesetzt und als selbstverständlicher Hintergrund sozialer Praktiken verallgemeinert haben. Jedoch bringt dies notwendigerweise Verkürzungen und Vereinfachungen mit sich, wodurch die Lösungen der praktischen Probleme auf den Verbreitungsraum einer bestimmten Weltanschauung, die in bestimmten Gesellschaften und Zeitperioden als tendenziell hegemonial gedacht wird, begrenzt werden.3 Die Anwendung dieses Begriffs enthüllt ein im Verborgenen existierendes, gemeinsames, „schweigendes“ Hintergrundbild, welches zwar Konsense innerhalb der Lebenswelt über bestimmte problematisch gewordene Themen ermöglicht, aber auch das Handeln und die Wahrnehmung der Gesellschaft in Bezug auf sich selbst, wie auch auf die jeweilige Umgebung, in der sie eingebettet ist, gewissermaßen konditioniert.4 Habermas greift in der Entwicklung seiner Diskurstheorie des Rechts u. a. auf Ausdrücke wie „Sozialmodell“, „soziale Vision“ oder schlicht „Theorie“ zurück, wenn er in dieser den obigen Begriff anwendet, wobei er deutlich macht, dass alle diese Termini mit impliziten Bildern verbunden sind, die jede Person von der eigenen Gesellschaft entwirft und die der Praxis der Rechtsetzung und Rechtsanwendung 3 s. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, S. 175 ff.; Carvalho Netto, Revista da Ordem dos Advogados do Brasil 68/1999, 77, 78. 4 Kurz gefasst ist die Lebenswelt der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen. Sie ist der unproblematische, intersubjektive, prinzipiell unerschöpfliche Hintergrund, der die Kommunikation ermöglicht. Sie bildet also den „Ort“ der intuitiven, unvermittelten und nicht thematisierten Gewissheiten. s. dazu Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 192, 198 ff. In Anbetracht der Einzigartigkeit aller Erfahrungen eines Individuums ist es möglich, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass jeder Äußernde den Bedeutungsinhalt (Signifikat) von allen Wörtern (Signifikant) auf eigene Weise bildet und diesen zuordnet. Die Kommunikation über die Sprache würde dadurch jedoch unwahrscheinlich (Luhmann), ungeachtet dessen und seiner gesamten Komplexität findet sie aber mit Selbstverständlichkeit statt. Zu verdanken ist dies dem Vorhandensein von allgemeinen Sphären des Vorverständnisses, aus denen ein Hintergrundbild zusammengesetzt ist. In diesen sind die Begriffe zu finden, deren Bedeutungen als so „offensichtlich“ gelten, dass sie genau deshalb nicht hinterfragt werden müssen. Denn würde jedes Wort eines bestimmten Dialogs in seiner Bedeutung angezweifelt und würde wiederum das Gleiche mit den Elementen der nachgeschickten Erklärungen passieren, könnte keine Kommunikation zustande kommen. Diese Vorverständnisse, Teil eines verbürgten „stummen“ Hintergrunds, machen auch das Kuhn’sche Paradigma aus. Hervorzuheben ist ferner, dass es nicht möglich ist, die conditio des Paradigmas zu verlassen – wie Kuhn betont. Es besteht dann nur die Möglichkeit, im Einklang mit dem Aufkommen neuer sozialer Praktiken das Paradigma zu ändern, was zwangsläufig zur Neuschreibung der als solche angesehenen Wirklichkeit führt (Paradigmenwandel). Vgl. Carvalho Netto, Revista Fórum Administrativo 01/2001, 11, 15.

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

eine Perspektive geben.5 Böckenförde spricht im Zusammenhang mit dem Verfassungsrecht von Grundrechtstheorien, die Ausdruck bestimmter Staatsauffassungen und Grundvorstellungen über das Beziehungsverhältnis der Einzelnen zur staatlichen Gemeinschaft sind und die ferner die Grundrechtsanwendung leiten und bestimmen.6 Rechtsparadigmen, sofern sie als eine Art unthematischer Hintergründe funktionieren, beeinflussen das Bewusstsein aller Akteure, nämlich der Bürger und Klienten, wie auch des Gesetzgebers, der Justiz und der Verwaltung. Sie eröffnen und begrenzen Deutungsperspektiven, aus denen sich die Grundsätze des Rechtsstaates (in einer bestimmten Interpretation) auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext beziehen lassen, und beleuchten somit Restriktionen und Möglichkeitsspielräume für die Verwirklichung der Grundrechte.7 Die beiden in der modernen Rechtsgeschichte folgenreichsten und heute noch miteinander konkurrierenden Rechtsparadigmen sind die des bürgerlichen Formalrechts und des sozialstaatlich materialisierten Rechts.8 Diese werden im Folgenden nachvollzogen, als Grundlage der zu führenden Diskussion bezüglich des demokratischen Rechtsstaates. Die Frage der paradigmatischen Verständnisse des Rechts wird hier freilich nur in Form einer kursorischen Übersicht diskutiert, ohne eine scharfe Unterscheidung zwischen Ideen- und Realgeschichte zu treffen und mit der gewissen Vereinfachung, die ein typisierendes Verfahren mit sich bringt – denn natürlich ist die Geschichte viel reicher als die hier dargestellten Idealtypen. Die historischen Ereignisse lassen sich ferner in unzählbar verschiedenen Weisen nachvollziehen. Die Rekonstruktion der Moderne in drei Paradigmen ist also mit dem Ziel des Kapitels, die dem Grundrechtsverständnis und der verfassungsrechtlichen Hermeneutik zugrunde liegenden herrschenden Vorannahmen aufzuzeigen, verbunden.

II. Der liberale Rechtsstaat, Abwehrfunktion und Rechtsformalismus Der liberale Rechtsstaat bedeutete den Bruch mit dem Paradigma vormodernen Rechts.9 Als dessen Auftakt können die bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahr5

Es geht also um Bilder nicht nur einer wissenschaftlichen Gemeinschaft (wie bei Kuhn), sondern auch der Bürger einer politischen Gemeinschaft. 6 Böckenförde, NJW 1974, 1529 f., 1537. 7 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 472, 527. 8 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 239. 9 Dem vormodernen Rechtsverständnis nach beruhte das Recht auf einem Fundament – vergleichbar einer undifferenzierten normativen Legierung – aus Religion, Recht, Moral, Tradition und Sitte, die alle weitgehend gerechtfertigt und in ihrem Wesentlichen nicht ausdifferenziert waren. Die Gesellschaft wies die Kennzeichen einer Kastengesellschaft auf, in der das Recht in Abhängigkeit des von Geburt an in der sozialen Hierarchie zugesprochenen sozialen Status vergeben wurde. Auf diese Weise war die „Herstellung von Gerechtigkeit“ bedingt durch die Weisheit und das feine Gespür des Richters, von dem jedoch zu erwarten war, dass er

II. Der liberale Rechtsstaat, Abwehrfunktion und Rechtsformalismus

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hunderts sowie die Kodifikationen des 19. Jahrhunderts gewertet werden. Das Recht wurde fortan als Ordnung von Gesetzen verstanden, die vernunftgemäß ausgearbeitet und in Schriftform abgefasst waren; als normatives System allgemeiner und abstrakter Regeln, die universelle Gültigkeit für sämtliche Mitglieder der Gesellschaft beanspruchten. Diese noch abstrakten Ideen (die sog. Rechte der ersten Generation10 bzw. Individualrechte) waren rein formeller Natur und besiegelten das Ende der Privilegien der Kastengesellschaft.11

1. Der Minimalstaat und das bürgerlich-liberale Grundrechtsverständnis Der Ausgangszustand einer Trennung von Staat und Gesellschaft kann als idealtypisch beschrieben werden. Anschaulich hierbei ist Adam Smiths Vorstellung der „unsichtbaren Hand“ des Marktes, d. h. die Vorstellung, dass die entpolitisierte Sphäre des Marktes sich selbst über den Mechanismus des Ausgleichs von Angebot und Nachfrage regulieren könne, sofern jeder einzig und allein sein Glück und Individualinteresse verfolgte. Dies hatte zur Folge, dass das Recht seine Grenzen vorwiegend im negativen Sinne zog und sich – kennzeichnend für den sog. Minimalstaat – darauf beschränkte, das freie Spiel der Bedürfnisverwirklichung von individualisierten sozialen Akteuren sicherzustellen. Vor diesem Hintergrund kam im Wesentlichen dem Privatrecht die Aufgabe zu, über die Organisation einer entpolitisierten, staatlichen Eingriffen entzogenen Wirtschaftsgesellschaft den negativen Freiheitsstatus der Rechtssubjekte und damit das Prinzip rechtlicher Freiheit zu verwirklichen.12 Die private Autonomie – als das Recht auf das größtmögliche Maß die absolut gesetzten Unterschiede der gesellschaftlichen Hierarchie wiedergab. Vgl. Carvalho Netto, Revista de Direito Comparado 3/1999, 473, 476 f. Dieses Paradigma löste sich allmählich während wenigstens drei Jahrhunderten auf, aus vielerlei Gründen: Die Ausweitung des Warenhandels und infolgedessen der Prozess der Verstädterung und des wirtschaftlichen Aufstiegs des Bürgertums, als zusätzliche Faktoren zu Reformation, Aufklärung und der Wissenschaftsrevolution im 17. Jahrhundert, brachten schließlich die Differenzierung zwischen den normativen Sphären der Religion, der Moral, des Rechts und der Politik mit sich, wodurch wiederum ein Prozess tiefgreifender paradigmatischer Veränderungen ausgelöst wurde. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme ist in diesem Sinne etwa nach Luhmanns Perspektive gerade das Kennzeichen der Moderne. 10 Vgl. Isensee, in: HStR V, § 111, S. 156, Rn. 22 f. Die Aufteilung der historischen Entwicklung der Grundrechte in drei Generationen überwiegt in der brasilianischen Grundrechtsdogmatik und fand sogar in die Rspr. des STF Eingang. Vgl. etwa MS 22164 v. 30. 10. 1995 (DJ 17. 11. 1995). 11 Vonnöten war genau eine schriftlich ausgefertigte Rechtsordnung, welche die Hindernisse aufheben sollte, die der freien Entwicklung des Kapitals entgegenstanden, wie z. B. die Privilegien des Adels und des Klerus sowie die Beschränkungen des Zugangs zu Eigentum. 12 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 477. Der Rechtsstaat beschränkt sich nach diesem Modell auf die Gewährleistung äußerer und innerer Sicherheit und überlässt alle weiteren Funktionen einer von staatlichen Regulierungen weitgehend freigesetzten, sich selbst steuernden Wirtschaftsgesellschaft in der Erwartung, dass sich gerechte Lebensverhältnisse über

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

gleicher subjektiver Handlungsfreiheit13 – wurde mit dem Privatrecht verknüpft und sollte v. a. durch die Vertragsfreiheit und durch das Recht auf Eigentum gesichert sein. Die Gleichheit ihrerseits schien durch die Abstraktion und Allgemeinheit des bürgerlichen Formalrechts, das den negativen Freiheitsstatus eines „jeden“ gleichmäßig garantiert, ebenfalls gesichert zu sein. Unter rechtlicher Freiheit verstand man somit das Recht, alles tun und lassen zu können, was ein Minimum an rechtlicher Regelung nicht verbot, und die Gleichheit beschränkte sich auf die Gleichheit vor dem Gesetz. Geprägt wurde dieses Modell ferner durch die naturrechtliche Annahme, dass die Menschen von Natur aus frei sind.14 Diesen Naturzustand und die vor-staatliche Freiheitssphäre galt es unter den Bedingungen des Verfassungsstaates weiter zu sichern, sodass nur ausnahmsweise und in gerechtfertigten Fällen Freiheitsbeschränkungen zugelassen werden konnten. Dem bürgerlich-rechtsstaatlichen Grundrechtsverständnis liegt damit zugleich eine bestimmte Einsicht des Verhältnisses von Staat und Individuen zugrunde: Während die Freiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat prinzipiell unbegrenzt ist, ist die staatliche Eingriffbefugnis gegenüber dem Einzelnen stets begrenzt.15 Aus diesem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip ergeben sich weiter unterschiedliche Rechtfertigungslasten: Während der Freiheitsgebrauch prinzipiell nicht gerechtfertigt werden muss, müssen seine Einschränkungen gerechtfertigt werden. Noch anders ausgedrückt: Die generelle Vermutung für die Zulässigkeit einer Freiheitsentfaltung des Bürgers entspricht der prinzipiellen Vermutung der Unzulässigkeit einer Freiheitsbeschränkung durch den die privatrechtlich gesicherte Autonomie der Einzelnen aus dem freien Spiel ihrer subjektiven Zwecksetzungen und Präferenzentscheidungen spontan herstellen (S. 215). Der Glaube war demnach, dass, während auf der einen Seite das Privatrecht, als Reich individueller Freiheit, als Teil der Organisation einer entpolitisierten Wirtschaftsgesellschaft und unberührt von staatlicher Einmischung, mit den allen beliebigen Individuen ureigenen mathematischen Wahrhaftigkeiten übereinstimmen würde, auf der anderen Seite dem öffentlichen Recht, im Sinne einer reinen Konvention, nur die Aufgabe zukommen sollte, die Wiederkehr des Absolutismus dauerhaft zu verhindern, d. h. insbesondere auch die freie Zirkulation der Individualrechte in der Gesellschaft sicherzustellen. Vgl. Carvalho Netto, Revista de Direito Comparado 3/1999, 473, 478. 13 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 481, 153 ff. – in Anknüpfung an und Auseinandersetzung mit Kants Rechtsprinzip. s. Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 337. 14 Bildhaft dargestellt wird diese Annahme etwa in Art. 1 der Virginia Bill of Rights 1776: „That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights (…)“ und Art. 1 der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen 1789: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits.“ 15 Vgl. zum Folgenden Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1530 f.; Schlink, EuGRZ 1984, 457, 467; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 148, 169, Rn. 7, 47; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 105; bereits früher Schmitt, Verfassungslehre, S. 126, 158, 175 ff., der die staatsgerichteten Abwehrrechte im Weimarer Methodenstreit mit Nachdruck als die „eigentlichen“, „echten“ Grundrechte bezeichnete (S. 164 f.). Mit der Betonung des Abwehrrechts richtete er sich zum einen gegen die „sozialistischen“ Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung. Verborgen lag dieser Betonung aber auch seine ablehnende Haltung gegenüber dem bürgerlichen Rechtsstaat zugrunde. s. diesbezüglich Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 32 f.

II. Der liberale Rechtsstaat, Abwehrfunktion und Rechtsformalismus

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Staat (Regel-Ausnahme-Verhältnis). Diese liberale ratio bildet ebenfalls den Ausgangspunkt des Eingriffs- und Schrankendenkens16 sowie der entsprechenden – unten zu erläuternden – dreistufigen Struktur des Abwehrrechts: Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung. Wie Böckenförde ferner hervorhebt, hat das BVerfG, indem es jede Grundrechtsbeschränkung den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips unterstellte, diese liberale ratio auch aufgenommen und ihr einen neuen Akzent verliehen. Darin liegt also eine weitere dogmatische Ausformung dieser ratio, allerdings nur dann, wenn das Verhältnismäßigkeitsprinzip seine Konturen behält und nicht in ein kriterienloses Abwägen auseinanderfließt.17 In diesem Zusammenhang blieb die Funktion der Grundrechte relativ klar: Sie galten grundsätzlich lediglich als staatsbezogene subjektive Abwehrrechte. Die „klassische“18 Abwehrfunktion der Grundrechte war somit, nur die Freiheitssphäre des Einzelnen vor ungerechtfertigten Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu bewahren, und deshalb begründeten sie ausschließlich unmittelbare Unterlassungsansprüche sowie – wenn ein Eingriff schon erfolgt war – Ansprüche auf Beseitigung. Sie sicherten und sichern dem Einzelnen einen „Freiraum“ gegenüber dem Staat, der nicht ohne weiteres eingeschränkt werden darf. 19 Aus den Grundrechten folgte allerdings nicht etwa ein Gebot an den Staat, positiv für die tatsächliche Verwirklichung von Freiheit Sorge zu tragen – z. B. in Form der Einrichtung bestimmter Rechtsinstitute oder des Schutzes vor Übergriffen Dritter. Sie verlangten lediglich 16

Der Begriff des Eingriffs- und Schrankendenkens wird sowohl von Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 3, als auch von Schlink, EuGRZ 1984, 457 ff. – jeweils als pejorativer und nicht pejorativer Begriff – verwendet. 17 Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1531. Erst in der Nachkriegszeit wurde also der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Grundrechtsdogmatik entfaltet. Er kommt aber im Rahmen des altbekannten negatorischen Grundrechtsschutzes zum Zuge und zielt darauf, die Abwehrkraft der Grundrechte gegen staatliche Freiheitseingriffe zu verstärken. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 221. 18 Ausführlich zur Entstehung, Entwicklung und Bedeutung der abwehrrechtlichen Funktion als „klassische“ Grundrechtsfunktion Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 18 ff., der freilich zutreffend beobachtet, dass sich die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte erst unter der Rechtsprechung des BVerfG in der dogmatischen Form entwickelt hat, wie sie heute u. a. mit der Schrankendogmatik und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verbunden wird (S. 47). s. auch Isensee, in: HStR V, § 111, S. 155 ff., Rn. 21 ff.; einschränkend Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 224 ff. 19 Im deutschen formalen Rechtsstaat wirkte die Abwehrfunktion der Grundrechte außerdem nur gegen gesetzlich nicht gedeckte Eingriffe der Exekutive in die Rechtssphäre des Einzelnen. s. dazu Grimm, JuS 1980, 704. Dadurch enthielten die Grundrechte, wie Schlink, EuGRZ 1984, 457 f., beobachtet, nur den Vorbehalt des Gesetzes: „Abgewehrt werden Eingriffe und Beschränkungen, die nicht durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes stattfinden“. Erst mit der institutionellen Bewährung der Grundrechte durch ein spezielles, zu ihrem Schutze berufenes Gericht erhält das staatsgerichtete Abwehrrecht eine dogmatische Gestalt, die es auch grundsätzlich zur Begrenzung legislativer Freiheitseingriffe befähigt. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 47, 45. In Brasilien hingegen besteht seit Beginn der republikanischen Geschichte das unter US-amerikanischem Einfluss entwickelte richterliche Prüfungsrecht, das seitdem auch gegenüber der Legislative ausgeübt werden kann.

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

ein Nichthandeln vom Staat, sodass die Aktualisierungskompetenz bei dem Einzelnen und der Gesellschaft selbst lag.20 Dementsprechend waren auch die Funktionen von Gesetzgeber und Rechtsprechung hierbei ziemlich deutlich: Während die Grundrechte lediglich als staatsbezogene Abwehrrechte galten, blieben Aufgaben und Ziele des Staates der Politik überlassen.

2. Das klassische Gewaltenteilungsschema und die Judikative als „bouche de la loi“ Im liberalen Modell war in der Tat das klassische Gewaltenteilungsschema, das die Willkür der absolutistischen Staatsgewalt rechtsstaatlich disziplinieren sollte, auf die strikte Gesetzesbindung von Justiz und Verwaltung zurückzuführen.21 Diese strikte Gesetzesbindung, die durch den Vorrang der gesetzgebenden Gewalt unterstrichen wird, hatte dabei den ausschließlichen Sinn, die exekutivischen und judikativischen Staatsapparate dem Willen des gesetzgebenden Volkes zu unterwerfen. Wenn Sieyès formulierte, dass das Gesetz „nichts zu erlauben“ habe und dass sich der Bereich bürgerlicher Freiheit vielmehr auf alles erstrecke, „was es nicht verbietet“, ist hier jedoch die grundsätzliche und vorgängige Freiheitsvermutung zugunsten der Bürger ausgesprochen.22 Da, je weniger „verboten“ wird, desto größer nach diesem Modell der ursprüngliche bürgerliche Freiheitsraum bleibt, muss von gesetzlichen Verboten das Äußerste an Präzision gefordert und entsprechend die Interpretationsmacht der Gerichte gegenüber den Gesetzen möglichst beschränkt werden. Das allgemeine und abstrakte Gesetz präzisierte typische Tatbestände in „bestimmten“ Rechtsbegriffen und verknüpfte diese mit eindeutig definierten Rechtsfolgen. Diese Gesetzgebungsart war auf eine Rechtsordnung zugeschnitten, die lediglich die rechtliche Freiheit der Bürger gegen Übergriffe eines auf die Ordnungswahrung beschränkten Staatsapparates schützen sollte – während die Wirtschaftsgesellschaft der ökonomischen Selbststeuerung überlassen blieb.23 Die gängige Methode der Interpretation und Anwendung des Rechts war unter diesen Prämissen die deduktiv-dogmatische: Zu befolgen war die Oberprämisse (das Gesetz), von der auf die Unterprämisse (den Sachverhalt) geschlossen wurde, um schließlich zu einer rechtsgültigen Lösung zu gelangen; als ob es sich um eine Art 20 Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1531. In diesem klassischen Modell gehörte es nicht zur Funktion der Verfassung, Individualwohl- und Gemeinwohlsphäre unter einer übergreifenden inhaltlichen Idee zu konzentrieren. Denninger, in: Der gebändigte Leviathan, S. 158, 159. 21 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 300: Die richterliche Entscheidungspraxis werde als nur vergangenheitsorientiertes Handeln betrachtet, das an die Entscheidung des Gesetzgebers fixiert sei, während der Gesetzgeber zukunftsorientierte Entscheidungen treffe, die künftiges Handeln bänden. s. auch Schlink, EuGRZ 1984, 457, 458. 22 Hierzu und zum Folgenden Maus, in: Sturz der Götter?, S. 121, 126 f. 23 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 519 f.; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 159 ff., 172.

II. Der liberale Rechtsstaat, Abwehrfunktion und Rechtsformalismus

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mechanistische Analyse handeln würde, in der es keinerlei Interferenz durch die Subjektivität des Anwendenden geben dürfte. Die Norm wurde als Willensakt des staatlichen Gesetzgebers betrachtet, der seinen Sinn in sich trug und folglich ohne jeden Rückgriff auf die hinter ihm stehenden Interessen oder die vor ihm liegende soziale Realität zu verstehen war.24 Dem fügte z. B. die Schule der Exegese hinzu, dass die Kodifikationen als Reflex der Naturrechte angesehen wurden, als Ableger der Vernunft und folglich als ein klares, vollständiges und abgeschlossenes Werk, das in sich das ganze Recht beinhalte (Dogma der Klarheit und Vollständigkeit).25 Dies garantiere für jeden Fall ein bereits vorhandenes Gesetz, und alle Fälle konnten auf einen schlichten und unzweideutigen Ausdruck reduziert werden. Der Gesetzespositivismus war also von den Entwürfen der sprachlichen Eindeutigkeit, inhaltlichen Lückenlosigkeit und systematischen Geschlossenheit geprägt.26 Unter der Voraussetzung eines Gesetzespositivismus bzw. „Gesetzeskults“ wurde die hermeneutische Tätigkeit des Richters überwiegend als eine rein mechanische Handlung verstanden, vorbestimmt durch die unmittelbare Lektüre von einschlägigen Texten, die klar und präzise verfasst sein sollten, und durch die Subsumtion dieser unter eine konkrete Tatsache, die als Gegebenheit betrachtet wurde. Jegliche Interpretation galt es zu vermeiden, sogar in der Befragung des Gesetzgebers, falls Zweifel angesichts undurchsichtiger oder lückenhafter Texte auftreten sollten. Die Erkenntnis, dass in der Tat die schriftliche Rechtsordnung zahlreiche Lücken und „Widersprüche“ aufweisen kann, führte also dazu, dass man auf die Idee kam, den Willen des Gesetzgebers in den legislativen Präzedenzfällen zu suchen, bzw. man versuchte, im Einklang mit dem für die Gesetzesverfassung maßgeblichen gesellschaftlichen Rahmen der Zeit, den vermuteten Willen aufzudecken und auf den konkreten Fall anzuwenden.27 Dem Richter kam schon bei Montesquieu lediglich die Rolle des „bouche de la loi“ zu.

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Grimm, JuS 1980, 704, 705 f. Genau in diesem Moment der Blütezeit der Naturrechtslehre erstarkte auch der juristische Positivismus – auch wenn dies zunächst widersprüchlich scheinen mag. Die deutlichste Ausprägung des Positivismus im Recht war die erwähnte Schule der Exegese, die ihre größte Wirkung im 19. Jh. entfaltete. Diese stützte sich auf die Doktrin der Gesetzestreue: Als einzige Quelle des Rechts wurde das Gesetz gesehen, alles im Gesetz Festgelegte war das Recht. 26 Vgl. Grimm, JuS 1980, 704, 705 f. 27 Bildhaft dargestellt wird dieser Entwurf im Allgemeinen Preußischen Landrecht (1794): „§ 46. Bey Entscheidungen streitiger Rechtsfälle darf der Richter den Gesetzen keinen andern Sinn beylegen, als welcher aus den Worten, und dem Zusammenhange derselben, in Beziehung auf den streitigen Gegenstand, oder aus dem nächsten unzweifelhaften Grunde des Gesetzes, deutlich erhellet. § 47. Findet der Richter den eigentlichen Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so muß er, ohne die prozeßführenden Parteyen zu benennen, seine Zweifel der Gesetzcommißion anzeigen, und auf deren Beurteilung antragen.“ 25

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

III. Der Sozialstaat, funktionaler Grundrechtspluralismus und Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraums Die Entfaltung des liberalen Staatsmodells, das durch die Prämissen rein formeller Freiheit und Gleichheit charakterisiert war, ermöglichte letztendlich eine der geschichtlichen Phasen mit größter Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.28 Die gigantische Konzentration von ökonomischer Macht, die Ausbreitung von Armut, das ungeordnete wirtschaftliche Wachstum, das Auftauchen sozialistischen, anarchistischen und kommunistischen Ideenguts und der Volksbewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, all das erschütterte die „soziale Blindheit“29 des liberalen Staates. Aus diesem Grund und angesichts der zunehmenden Komplexität der Gesellschaftsstruktur lässt sich beobachten, wie v. a. ab dem Ende des Ersten Weltkriegs eine Neuformulierung von Staat und Recht sowie die Etablierung eines neuen Verfassungsparadigmas, nämlich das des Sozialstaates, stattfanden.

1. Materialisierung des Rechtsstaates und Wandel des Grundrechtsverständnisses: Der objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte Die traditionellen Grundrechte erfahren in diesem Zusammenhang eine neue Lesart und es werden die sog. „Rechte zweiter Generation“ einigen Rechtsordnungen hinzugefügt.30 Da der Marktmechanismus nicht so funktioniert und die Wirtschaftsgesellschaft nicht eine machtfreie Sphäre von der Art darstellt, wie es im liberalen Modell unterstellt wird, kann der Grundsatz rechtlicher Freiheit unter den gesellschaftlichen Bedingungen, wie sie im Sozialstaatsmodell wahrgenommen werden, nur durch die Materialisierung bestehender Rechte und Schaffung neuer Typen von Recht durchgesetzt werden.31 Die Veränderungen auf den klassischen 28

Carvalho Netto, Revista de Direito Comparado 3/1999, 473, 479. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 470; Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1531 f. s. dazu auch Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 227 ff. 30 Seit der brasilianischen Verfassung von 1934, die durch die Vorstellung eines sozialen Rechtsstaates nach dem Vorbild der Weimarer Verfassung geprägt war, enthielten in diesem Sinne alle weiteren brasilianischen Verfassungen (nämlich von 1937, 1946, 1967/69 und 1988) mehrere Bestimmungen über die Wirtschafts- und Sozialordnung. Die als Abwehrrechte verstandenen Freiheitsrechte stehen somit seitdem neben einer Fülle von Vorschriften, die nicht bloß auf die Abwehr staatlicher Freiheitsverkürzungen, sondern auf die Gestaltung der sozialen Verhältnisse zielen. Bis zur Verfassung von 1988 wurden aber solche Bestimmungen – im Unterschied zu den Abwehrrechten – weitgehend als bloße Programmsätze (sog. programmatische Normen) verstanden. 31 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 482 f. Die rein formelle Gleichbehandlung stellte sich in Anbetracht der faktisch in der Gesellschaft bestehenden Ungleichheiten als nicht ausreichend heraus. Von daher erwies es sich als notwendig, „einerseits die bestehenden Pri29

III. Sozialstaat, funktionaler Pluralismus und Entscheidungsspielraum

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Gebieten des Eigentums und des Vertragsrechts,32 die Anerkennung einer objektivrechtlichen Dimension der Grundrechte, die neu geschaffenen Gesetze in den Bereichen des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherung sowie diejenigen gegen Trustbildung sind Beispiele für diesen Wechsel der Perspektive: von einem Standpunkt der Privilegierung einer individualistischen Gesellschaft, in der die Aktivität des abstinenten Staates sich darauf zu beschränken hatte, die Privatinitiative zu erleichtern, zur Vorstellung eines lenkenden, umverteilenden und paternalistischen Staates, der in die sozialen und wirtschaftlichen Fragen eingreift.33 Hierbei ist von der Verrechtlichung des Sozialen und der Materialisierung des bürgerlichen Formalrechts die Rede. Unter Freiheit versteht man hier nicht mehr das Recht, alles zu tun, was nicht durch ein Minimum an Gesetzen eingeschränkt ist, sondern man geht dazu über, einen ganzen Komplex von sozialen, gemeinschaftlichen und wirtschaftlichen Gesetzen vorauszusetzen, welche es erlauben, materielle Ungleichheiten zu erkennen, die schwächere Partei in verschiedener Beziehung zu unterstützen und den Prozess der Konzentration von Wirtschaftsmacht zu kontrollieren.34 Das Hauptargument für die Materialisierung ist also das Prinzip rechtlicher Freiheit selbst: „rechtliche Freiheit, also die rechtliche Erlaubnis, etwas zu tun oder zu lassen, ohne faktische (wirkliche, reale) Freiheit, also die tatsächliche Möglichkeit, zwischen dem Erlaubten zu wählen, [ist] wertlos“.35 Darüber hinaus erhält die Verfassung fortan materiellen Vorrang vor dem Privatrecht, sodass dem Staat die Aufgabe zugewiesen wurde, den Einfluss der Grundrechte auf das Privatrecht umzusetzen.36 Dieser vatrechtsnormen inhaltlich zu spezifizieren und andererseits eine neue Kategorie von Grundrechten einzuführen, die Leistungsansprüche auf eine gerechte Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums (…) begründen“ (S. 485). 32 So z. B. die Sozialbindung des Eigentums und die richterliche Intervention in Vertragsinhalt und -abschluss. Vgl. hierzu Habermas, Faktizität und Geltung, S. 486 ff. (m. w. N.). 33 Im sozialstaatlichen Modell bilden zwei Aspekte ein neues Hintergrundverständnis: Einerseits entstand das Bild einer komplexer werdenden Gesellschaft von funktional spezifizierten Handlungsbereichen, die die individuellen Akteure in die Rangstellung von „Klienten“ verdrängen und den Kontingenzen verselbständigter Systemoperationen ausliefern; andererseits bestand die Erwartung, dass diese Kontingenzen mit Einsatz von Steuerungsleistungen eines präventiv oder reaktiv tätig werdenden Sozialstaates normativ kontrolliert werden können. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 488. 34 Mit anderen Worten: Es lässt sich die Verinnerlichung von der Idee einer Gleichheit in der Gesetzgebung feststellen, die sich aber letztendlich als tendenziell materiell entpuppte. Carvalho Netto, Revista de Direito Comparado 3/1999, 473, 480. 35 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 458. 36 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 478; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 159, Rn. 355. Das Privatrecht selbst diene nach Carvalho Netto, Revista da Ordem dos Advogados do Brasil 68/1999, 77, 83, nicht mehr nur der Sicherung individueller Selbstbestimmung, sondern enthalte auch den Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit. Man glaube nämlich nicht mehr an eine absolute Wahrheit mathematischer Prägung der Individualrechte, sodass nun sowohl Privatrecht als auch öffentliches Recht als reine Konventionen dastünden und die Unterscheidung zwischen ihnen nicht mehr ontologischer Art sei. Der fürsorgliche Staat absorbiere die gesamte Dimension der Öffentlichkeit und werde somit über die Gesellschaft –

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

Prozess, der schon unter der Weimarer Verfassung begann, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Rechtsprechung des BVerfG und die dabei entwickelte Ausstrahlungswirkung, mittelbare Drittwirkung und Schutzpflicht beschleunigt. Es ist somit ein unbestrittener Wandel des Grundrechtsverständnisses festzustellen, der sich in der Verfassungsrechtsprechung widerspiegelt. Aufmerksame Kritiker (wie etwa Böckenförde, Schlink, Grimm und Habermas)37 verweisen auf einen neuen Verfassungszustand einer politischen Gesamtrechtsordnung, die nicht mehr nur umfassenden individuellen Rechtsschutz gewährleistet, sondern auch für die soziale Wohlfahrt und Sicherheit der Bürger sorgt. In einem Kontext, in dem der Staat hinsichtlich der eigenen gesellschaftlichen Bedürfnisse dazu übergeht, auch für die Wohlfahrt und die Sicherheit Vorsorge zu treffen, scheint die „klassische“ Abwehrfunktion der Grundrechte unzureichend zu sein. Mehrere Autoren betonen in diesem Sinne eine objektive, wertsetzende Dimension der Grundrechte und erachten das abwehrrechtliche Grundrechtsverständnis, wenn nicht für verfehlt, so doch für defizitär und ergänzungsbedürftig. Insbesondere in der früheren Diskussion um die Drittwirkung der Grundrechte (d. h. um ihre Einwirkung auf den Privatrechtsverkehr) wird deutlich, dass dem staatsgerichteten Abwehrrecht aus verfassungspolitischer Perspektive nicht zugetraut wurde, die gesellschaftliche Dimension grundrechtlicher Freiheit und Gleichheit zu erfassen.38 So stellte Nipperdey – einer der Hauptvertreter der sog. unmittelbaren Drittwirkung – bereits 1950 die Ausschließlichkeit der Grundrechtsbindung des Staates in Frage und leitete die Lohngleichheit von Mann und Frau aus der unmittelbaren Geltung des Gleichheitssatzes für Einzel- und Kollektivvertragsparteien ab. Eine restriktive Auslegung des Art. 1 Abs. 3 GG gehe an Sinn und Zweck der modernen demokratischen Verfassung vorbei.39 Dass unmittelbar auf das Privatrechtssubjekt wirkende Grundrechte zu einer weitgehenden Beschränkung der Privatautonomie führen können, liegt allerdings auf der Hand. Entsprechend stieß die Ansicht Nipperdeys auf Widerstand. Als konstruktive Alternative dazu – bzw. als dogmatische Entschärfung davon – entwickelte Dürig dann die Lehre der mittelbaren Grundrechtswirkung.40 Die Theorie, nach der die Grundrechte als objektive Werte im Sinne einer gestaltlosen Masse, ohne Zugang zu Gesundheit und Bildung, bereit, vom allwissenden Leviathan geformt zu werden – gestellt. 37 Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 60 ff.; Schlink, EuGRZ 1984, 457 f., 465 ff.; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 166 ff., 228 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 299 ff. 38 Vgl. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 48 ff., dem zufolge das Abwehrrecht in die Defensive geriet und der zutreffend im Hintergrund der früheren Debatte um die Drittwirkung eigentlich die Diskussion um das Verhältnis von Rechtsstaat und Sozialstaat sieht (S. 49). Diesbezüglich auch Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 222 f. 39 Nipperdey, RdA 1950, 121 ff.: „Die Durchsetzung grundrechtlicher Bestimmungen, also der Normen höchsten Grades, ist nur dann voll gewährleistet, wenn nicht nur die gesetzgebenden Körperschaften, die Verwaltungsbeamten und die Richter, sondern auch die einzelnen Rechtsgenossen, die Staatsbürger an sie gebunden sind“ (S. 124). 40 Dürig, in: Gesammelte Schriften, S. 215 ff.

III. Sozialstaat, funktionaler Pluralismus und Entscheidungsspielraum

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oder selbst als Wertordnung auf das Privatrecht ausstrahlen, ermöglichte schließlich die abwägungsgesteuerte, einzelfallbezogene Heranziehung individueller Freiheitsund Gleichheitswerte im Privatrecht. Die Grundrechte sollten insbesondere über wertausfüllungsfähige Begriffe und Generalklauseln auf das Privatrecht einwirken.41 So oder so schien das Abwehrrecht unfähig zu sein, komplexere Freiheitskonflikte abzubilden. Sein Freiheitsverständnis wird als unzureichend und seine staatstheoretische Grundlage als historisch überholt betrachtet. Die Grundrechte sollten dann nicht nur als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen wirken, sondern überdies als objektive Gestaltungsprinzipien für die Sozialordnung insgesamt.42 Es ist also eine eindeutige Funktionserweiterung der Grundrechte festzustellen, wobei diese Entwicklung vom subjektiven Recht zum objektiven Prinzip zunächst eine theoretische Fundierung insbesondere durch werttheoretische und institutionelle Grundrechtsverständnisse erhielt. Nach beiden theoretischen Orientierungen haben die Grundrechte nicht – primär – den Charakter staatsbezogener Abwehrrechte zur Freiheitssicherung, sondern eher objektiver Ordnungsprinzipien. Den Werttheorien zufolge setzen die Grundrechte fundamentale Gemeinschaftswerte fest und erhalten ihren objektiven Gehalt eben dadurch, dass sie Ausdruck der Wertentscheidungen des staatlichen Gemeinwesens sind. Die Freiheit liegt dem werthaft verstandenen staatlichen Ganzen nicht voraus, sondern ist von vornherein in es einbezogen. Sie soll darüber hinaus der Realisierung der in den Grundrechten ausgedrückten Werte dienen und gilt nur im Rahmen der durch die Grundrechte insgesamt ausgerichteten Wertordnung. Gemäß dem institutionellen Grundrechtsverständnis wird die Verwirklichung der Grundrechte in Abhängigkeit von staatlichem Tätigwerden gesehen. Die Grundrechte entfalten und verwirklichen sich in normativen Regelungen institutioneller Art, die einerseits von der Ordnungsidee der Grundrechte getragen sind, zugleich aber die Sachgegebenheit der Lebensverhältnisse, für die sie gelten, in sich aufnehmen und ihnen normative Relevanz verleihen. Die rechtliche Freiheit wird hier selbst zu einem „Institut“, das sich erst in der näheren rechtlichen Ausgestaltung sowie der Abstimmung von Ordnungsideen und Sachgegebenheiten entfaltet. An die Stelle der vor-staatlichen, undefinierten liberalen Freiheit tritt eine objektivierte, bereits normativ und institutionell gestaltete Freiheit. Sie soll darüber hinaus der Realisierung des institutionell-objektiven Sinns der Freiheitsgewährleistung dienen. In beiden Fällen ist somit 41

Diese Änderung des Grundrechtsverständnisses kann ebenfalls in Brasilien beobachtet werden, wenn auch später und nicht immer anhand der gleichen Terminologie. Inzwischen wird es allerdings auch dort weitgehend akzeptiert, dass den Grundrechten als Werte eine Doppelfunktion zukommt, nämlich eine subjektive bzw. eine entgegengesetzte objektive Funktion. Auf diese Weise strahlt deren Wirkung auf das gesamte Recht ab, einschließlich der privatrechtlichen Verhältnisse. Vgl. etwa Silva, A Constitucionalização do Direito; Guerra Filho, in: Leituras complementares de Direito Constitucional, S. 87, 92 f.; Dimoulis/Martins, Teoria geral dos direitos fundamentais, S. 98 ff., 111 ff.; Mendes/Coelho/Branco, Curso de Direito Constitucional, S. 343 ff. 42 Grimm, JuS 1980, 704. Vgl. etwa BVerfGE 7, 198, (205) (Lüth); 39, 1 (41 f.) (Schwangerschaftsabbruch I).

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

eine Objektivierung und inhaltliche Ausrichtung der grundrechtlichen Freiheit festzustellen. Sie wird zu einer objektivierten wertbezogenen bzw. institutionell gebundenen Freiheit.43 Das objektiv-rechtliche Grundrechtsverständnis bzw. die Vorstellung, dass die Grundrechte eine objektive Wertordnung verkörpern, bildete ferner in der Folge den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer breiten Palette von Grundrechtsfunktionen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit – sondern eher auf Anschaulichkeit – ist inzwischen neben der Abwehrfunktion von Drittwirkung, Schutzpflicht, Leistungsrechten, Teilhaberechten, Organisationsdimension, Einrichtungsgarantie (bzw. Institutsgarantie und institutionelle Garantie), Verfahrensrechten, Ausgestaltungsauftrag, Prinzip und nicht zuletzt wertsetzender Dimension bzw. objektiver Grundrechtsfunktion die Rede. Zutreffend bezeichnet Poscher dieses Phänomen als funktionalen Pluralismus und hebt hervor, dass dieser Pluralismus ein heterogenes Grundrechtsverständnis bildet.44 Für die vorliegende kursorische Übersicht wird zunächst von den Ansätzen ausgegangen, die versuchen, unterschiedliche Funktionen unter dem Dach der Leistungsfunktion zu bündeln und die daher mit einem funktionalen „Dualismus“45 arbeiten: Grundrechte als Abwehr- und als Leistungsrechte.46 43 Zum Ganzen Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1532 f. Zu einer eingehenderen Darstellung der Theorien Smends und Häberles vgl. unten E.I. und E.II. Auch sozialstaatliche Grundrechtstheorien gewinnen hierbei an Bedeutung. Sie suchen in diesem Sinne den erwähnten Auseinanderfall von rechtlicher und realer Freiheit zu überwinden. Für sie haben die Grundrechte nicht nur negativ-ausgrenzenden Charakter, sondern vermitteln auch soziale Leistungsansprüche an den Staat. Was allerdings den negativ-ausgrenzenden Charakter der Freiheiten angeht, sind diese Theorien nicht festgelegt und können deshalb sowohl an die liberalen Grundrechtstheorien als auch an die institutionellen oder an die Werttheorien der Grundrechte anknüpfen. Ebd., 1536. Dieses Verständnis fällt somit unter die gleich zu behandelnde Kategorie der funktionalen pluralistischen Grundrechtstheorie. 44 Denn es gibt weder eine pluralistische Grundsrechtstheorie, die alle der genannten Funktionen anerkennt, noch einen festen Kanon von Grundrechtsfunktionen, die jeder pluralistischen Theorie zugrunde liegen, noch würden die meisten Ansätze alle von ihnen anerkannten Grundrechtsfunktionen allen Grundrechten beilegen. Mit seinem Ausgangspunkt, den Alternativen, die zu einem abwehrrechtlichen Grundrechtsverständnis entwickelt wurden, teilt der funktionale Pluralismus die Ansicht, dass das Abwehrrecht nicht ausreicht, um die Vielfalt der als grundrechtsrelevant wahrgenommen Phänomene zu erfassen. Der funktionale Pluralismus setzt aber nicht auf ein Gegenmodell zum Abwehrrecht, sondern entnimmt den unterschiedlichen Gegenmodellen nur weitere Grundrechtsfunktionen neben dem Abwehrrecht, die dieses ergänzen. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 85. 45 Freilich kann auch beim funktionalen Dualismus oft von einem Pluralismus die Rede sein; denn neben den Abwehrrechten wird in der Regel von entweder einer in sich dann aber auch wieder differenzierten Leistungspflicht (oder auch Schutzpflicht) oder – wie im Fall der objektiven Grundrechtsfunktion – von einer Reihe weiterer, jeweils eigenständiger Grundrechtsfunktionen ausgegangen. In Deutschland sind die dualistischen Grundrechtstheorien, die von der Unterscheidung zwischen Abwehrrecht und Schutzpflicht ausgehen, überwiegend zu finden. Vgl. etwa Isensee, in: HStR V, § 111, S. 145 ff., Rn. 1 ff.; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 234; Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 12 f.; Canaris, AcP 184/1984, 201, 225 ff. Die grundrechtliche Schutzpflicht genießt in der Tat unter allen zusätzlich entwickelten

III. Sozialstaat, funktionaler Pluralismus und Entscheidungsspielraum

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Während das Abwehrrecht die Freiheit des Einzelnen vor ungerechtfertigten Eingriffen des Staates bewahrt und damit auf Unterlassen des eingreifenden Handelns gerichtet ist, zielt das Leistungsrecht auf die positive Unterstützung der Freiheit der Grundrechtsträger durch staatliches Handeln und begründet folglich Handlungspflichten. Aus der leistungsrechtlichen Funktion der Grundrechte folgt also, anders formuliert, das Gebot an den Staat, aktiv für die tatsächliche Verwirklichung von Freiheit Sorge zu tragen – sog. status positivus. Sie verlangen vom Staat die Erbringung von Leistungen, etwa in Form des Schutzes vor Übergriffen Dritter (Schutzpflichten), der Einrichtung bestimmter Rechtsinstitute (Einrichtungsgarantie) oder noch anderer Leistungen.47 Im brasilianischen Verfassungstext ist in diesem Sinne neben den Abwehrrechten eine Fülle von Bestimmungen vorhanden, die nicht nur auf die Abwehr staatlicher Freiheitsverkürzungen, sondern auch auf die Gestaltung der sozialen Verhältnisse zielen. Er enthält nämlich mehrere Vorschriften über die Wirtschafts- und Sozialordnung, mit sozialen Rechten und Staatszielen.48 Im Text des GG sind hingegen die Grundrechte weitgehend nur als Abwehrrechte gefasst, sodass eine leistungsrechtliche Seite nur sporadisch verankert – etwa in Art. 1 Abs. 1 S. 2 und Art. 6 – und jedenfalls nicht generell proklamiert wurde. Seit dem Lüth-Urteil49 und durch die Entfaltung des objektiv-rechtlichen Grundrechtsver-

Grundrechtsfunktionen eine prominente Stellung, sodass auf sie weiter unten näher eingegangen wird. Gegen eine Bündelung der anderen – in der Konkurrenz zum Abwehrrecht entwickelten – Grundrechtsfunktionen unter dem Dach der grundrechtlichen Schutzpflicht sprechen aber nicht nur die zum Teil andersartigen, dem institutionellen Denken entstammenden Wurzeln der Verfahrens- und Organisationsdimension der Grundrechte, sondern auch, dass sich einige Grundrechtsfunktionen wie die Ausgestaltungs- und Einrichtungspflicht nur schwer mit der Schutzpflicht in Verbindung bringen lassen. Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 84. 46 So z. B. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 74 ff., der weiter zwischen drei leistungsrechtlichen Ausprägungen der Grundrechte unterscheidet, nämlich Einrichtungsgarantien, Schutzpflichten und originären Leistungsrechten. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 395 ff., spricht seinerseits von Leistungsrechten im weiteren Sinne und gliedert sie in drei Gruppen: Rechte auf Schutz, Rechte auf Organisation und Verfahren und Rechte auf Leistungen im engeren Sinne (soziale Grundrechte). Auch Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 224, 293 ff. spricht von Leistungsrechten im weiteren Sinne und unterteilt diese in Schutzrechte, soziale Grundrechte, grundrechtliche Rechte auf Organisation und Verfahren sowie Grundrechtsschutz konstituierter Positionen im Bereich der grundrechtlichen Leistungsrechte im materiellen Sinne. In der brasilianischen Grundrechtsdogmatik überwiegt die Gegenüberstellung von u. a. individuellen und sozialen Grundrechten, die auf dem Verfassungswortlaut selbst fußt (Titel II, jeweils Kapitel I und II der CF) und der Unterscheidung zwischen Abwehr- und Leistungsrechte mutatis mutandis ähnelt. 47 Vgl. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 74 ff. 48 So lautet z. B. der Art. 6 CF: „Soziale Rechte nach dieser Verfassung sind die Rechte auf Bildung, Gesundheit, Ernährung, Arbeit, Wohnung, Freizeit, Sicherheit, Rentenversicherung, Schutz von Mutterschaft und Kindheit, Sozialhilfe für die Bedürftigen.“ 49 BVerfGE 7, 198, (205 ff.), hier ist allerdings noch zurückhaltend von „objektiver Wertordnung“ und von dem Einfluss der Grundrechte auf das Privatrecht die Rede. Die Verknüpfung von „objektiver Wertordnung“ bzw. „objektiv-rechtlichem Gehalt“ und Schutz-

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

ständnisses werden allerdings zunehmend auch Grundrechtsfunktionen dort angenommen, wo das GG keinen textlichen Hinweis gibt.50

2. Machtzuwachs für die Justiz und Komplexitätsgewinn aus der Perspektive des interpretativen Handelns Dass die Funktionserweiterung der Grundrechte zu einer Änderung der Gestalt des Gewaltenteilungsgrundsatzes führen kann, liegt auf der Hand. Den Grundrechten wurden nämlich durch das objektiv-rechtliche Verständnis ganz neue Anwendungsbereiche erschlossen. Sie wurden erstens aus der einseitigen Staatsrichtung gelöst und auch für die gesellschaftliche Ordnung maßgeblich gemacht und zum anderen aus der einseitigen Abwehrfunktion gelöst und ebenfalls zur Grundlage staatlicher Handlungspflichten ausgebildet.51 Sie wenden sich hierbei an den Gesetzgeber, nicht nur mit der Verpflichtung zur Unterlassung (Abwehrfunktion), sondern ggf. auch mit der Aufforderung, die grundrechtlich geschützten Freiheiten sozial erst umzusetzen, wobei die Kontrolle sowohl der Abstinenz als auch der Realisierung bei der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt.52 Mit der Funktionserweiterung der Grundrechte geht daher auch ein Zuwachs an Vorbehalten gegen das Gesetz einher, durch den ferner das Demokratieprinzip zugunsten einer Ausweitung der richterrechtlichen Rechtsfortbildung ausgehebelt wird.53 Der Wandel des Grundrechtsverständnisses bringt also auch eine Veränderung der Grundrechtsanwendung mit sich – wie bei der Entfaltung des Abwägungsmodells besonders deutlich wird. In der Tat, wie Denninger hervorhebt, entsprechen diesem Wandel unter methodolopflichten findet sich in BVerfGE 39, 1 (42) (Schwangerschaftsabbruch I); fortgeführt in BVerfGE 49, 89 (142) (Kalkar I); 53, 30 (57) (Mülheim-Kärlich). 50 Wie Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 86, hervorhebt, sind die Grundrechte nach funktional pluralistischem Verständnis aus einem Bündel von Grundrechtsnormen zusammengesetzt, die jeweils einer besonderen Grundrechtsfunktion zugeordnet werden. 51 Zutreffend hebt Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 221 f., hervor, dass sich die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und die Entdeckung des objektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte als die folgenreichsten Neuerungen in der Grundrechtsdogmatik der Nachkriegzeit erwiesen haben. Während aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Rahmen des altbekannten negatorischen Grundrechtsschutzes zum Zuge kommt und als Verstärkung der gewohnten Abwehrfunktion dient, werden den Grundrechten durch das objektiv-rechtliche Verständnis ganz neue Anwendungsgebiete erschlossen. 52 Grimm, JuS 1980, 704. 53 Vgl. Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 33 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 57 ff. (vgl. zu diesem Buch die Rezension von Vesting, Der Staat 41/2002, 73 ff.); Kriele, JA 1984, 629, 631. Vor dem Risiko einer Juridifizierung der politischen Auseinandersetzungen und einer Kompetenzverschiebung zugunsten der Rechtsprechung hat bereits Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1536, gewarnt. Die im Zeichen knapper Ressourcen unausweichlichen Prioritätsentscheidungen über den Einsatz und die Verteilung der verfügbaren staatlichen Finanzmittel werden von einer Frage politischen Ermessens zu einer Frage der Grundrechtsinterpretation. Damit kann die Zuständigkeit, sie zu treffen, vom Parlament bzw. von der Regierung auf die Gerichte, letzthin das BVerfG, verlagert werden. s. u. F.IV.

III. Sozialstaat, funktionaler Pluralismus und Entscheidungsspielraum

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gischen Gesichtspunkten „verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe“ (wie z. B. Wechselwirkung, Verhältnismäßigkeit, Wertabwägung, Drittwirkung und immanente Grundrechtsschranken), welche wesentliche Elemente einer „ungeschriebenen Verfassung“ ausmachen.54 Nun, je höher die materielle Bindung des Gesetzgebers ist, desto mehr kann auch die Rechtsanwendung unter Berufung auf die höherrangigen Verfassungsprinzipien ihre strikte Gesetzesbindung lockern.55 Darüber hinaus bestanden auch andere Bedingungen, die eine Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraums begünstigt haben. Im Rahmen der Gestaltung der materialisierten Rechtsordnung erwies sich nämlich die alte Vorgehensweise der Verhaltensregulierung (rechtmäßig/rechtswidrig und Tatbestand/ Rechtsfolge) als unzureichend, was die Herausbildung eines neuen Typus der Gesetzgebung bewirkte: Die Gesetze zeigten bestimmte Zielsetzungen auf und überließen die Spezifizierung der Normen den anwendenden Organen (sog. regulatives Recht). Der Staat beginnt, ganze Programme zur zukünftigen Entwicklung (Zielprogramme) vorzuschreiben und ihre schrittweise Umsetzung zu veranlassen, anstatt einfach über „erlaubt“ und „verboten“ zu entscheiden, wie es für die klassische Gesetzgebung typisch war.56 Im Hinblick auf die enorme Zunahme von Aufträgen zu gesetzlichen Eingriffen ließ sich also das Phänomen beobachten, dass diese Funktion fast bis zum Stillstand überlastet wurde, denn die Parlamentarier waren nicht in der Lage, mit der notwendigen Schnelligkeit auf die wachsende Nachfrage nach komplexen gesetzlichen Regeln zu reagieren. Um dieser Lähmung entgegenzuwirken, entstand in diesem Zusammenhang aus der Not die Praxis, einen Großteil der Aufgaben weiterzugeben, d. h. es wurde der Verwaltung57 und der 54

Denninger, in: Der gebändigte Leviathan, S. 158 ff. Grimm, JuS 1980, 704, 705. Die neue Dimensionierung der Rolle der Rechtsprechung spiegelt sich ebenfalls in den Normenkontrollentscheidungen wider. Bei der Umsetzung einer konkreten Wertordnung bzw. der verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen wurden einerseits immer mehrere „Korrekturen“ der vom Gesetzgeber falsch festgelegten Politik durch die Verfassungsgerichtsbarkeit möglich. Zugleich aber schien die Dichotomie Verfassungsmäßigkeit/Verfassungswidrigkeit (als Nichtigkeit) dem paradigmatischen Wechsel des Sozialstaates entgegenzustehen. Die Rechtsprechung musste nämlich die vom Gesetzgeber festgelegten Bestimmungen flexibler berichtigen können, was zu dem Trend führte, die Normenkontrollentscheidungen zu relativieren. Diese Relativierung wird insbesondere dadurch deutlich, dass sowohl das BVerfG als auch das STF immer öfter Entscheidungsvarianten wie etwa die Unvereinbarerklärung und die Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung verwenden – statt einfach die verfassungswidrigen Gesetze als nichtig zu erklären. Vgl. dazu Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, S. 225 ff., Rn. 394 ff.; Mendes, Jurisdição constitucional, S. 339 ff. In einigen Entscheidungen scheint ferner die kassatorische Kompetenz diesen Gerichten nicht mehr zu reichen. Sie erteilen dann über die Erklärung der Verfassungswidrigkeit hinaus Handlungsanweisungen bzw. machen mehrere Vorgaben, wie eine akzeptable Regelung auszusehen hat. 56 Vgl. Cappelletti, Juízes Legisladores?, S. 41; Grimm, Der Zukunft der Verfassung, S. 172, 192 f., 233: „An die Stelle der klassischen Konditionalprogramme treten typischerweise Zielvorgaben.“ 57 Cappelletti, Juízes Legisladores?, S. 18 ff., betont hierzu, dass die Ermächtigungen des Gesetzgebers in vielen Fällen einer Abdankung gleichkamen. Der Autor spricht vom „Grö55

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

Rechtsprechung die Aufgabe zugeteilt, die breiten gesellschaftlichen Zwecke des Staates zu gewährleisten. Hierfür ist insbesondere der auch von Habermas58 hervorgehobene Machtzuwachs für die Justiz und die Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraums von Interesse, welche das Normengefüge des klassischen Rechtsstaates auf Kosten der Autonomie der Bürger aus dem Gleichgewicht zu bringen drohen. In der Tat besteht die materialisierte Rechtsordnung des Sozialstaates nicht einmal in erster Linie aus klar geschnittenen Konditionalprogrammen, sondern enthält, wie ausgeführt, auch politische Zielsetzungen bzw. Finalprogramme. Sie ist weiterhin in der Rechtsanwendung auf eine Begründung aus Prinzipien angelegt. Insofern nimmt hier eine positive Anerkennung der Unbestimmtheit des Rechts, der Offenheit von Gesetzestexten und der prinzipiellen Dimension des Rechts, als Gegensatz zur beschränkten positivistischen Vorstellung vom Recht als einem rekursiv geschlossenen Regelsystem, ihren Anfang. Im Vergleich zu der liberalen Trennungsthese von Staat und Gesellschaft zieht aber die Materialisierung des Rechts eine „Remoralisierung“ nach sich, welche die lineare Bindung der Justiz an die Vorgaben des politischen Gesetzgebers lockert. Zwar hatte der Vorrang der gesetzgebenden Gewalt und der Aufstieg des Gesetzespositivismus auch in Deutschland Wirkungen entfaltet, was durch die Oberhand des Rechtsformalismus im 19. Jh. deutlich wird.59 Mit dem Übergang zum Sozialstaat forderte aber die Richterschaft mehr Entscheidungsspielraum. Die Etablierung des NS-Systems trug darüber hinaus zu der antiformalistischen Rechtsanwendungsdoktrin und zu einer Lockerung der Gesetzesbindung entscheidend bei.60 Die freiwillige Botmäßigkeit der NS-Justiz wurde allerdings nach Maus in der Nachkriegszeit wenig problematisiert. Vielmehr wurde die NS-Vergangenheit als Ergebnis der Bindung des Richters an das positive Recht aufgearbeitet bzw. verdrängt,61 und es wird weiterhin aufgrund von immanenten und allgemeinen Klauseln, ßenwahn“ der Legislative und der Verwaltung und hebt die Überführung von Befugnissen von der Legislative zur Exekutive hervor. Auf diese Weise würde der Sozialstaat, anfangs noch charakterisierbar als „legislativer Staat“, sich allmählich in einen „administrativen Staat“ oder in Wahrheit sogar in einen „bürokratischen Staat“ verwandeln. s. auch Habermas, Faktizität und Geltung, S. 521 – 526, der sich darüber hinaus für eine „Demokratisierung“ der Verwaltung einsetzt (S. 531). Die beunruhigendere Problematik der Legitimationsbasis der wachsend steuernden Verwaltung musste hier grundsätzlich ausgeklammert bleiben; denn ihre Untersuchung würde den Rahmen der Arbeit sprengen. 58 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 300 f. 59 Vgl. etwa Grimm, JuS 1980, 704, 705 f.; Maus, in: Sturz der Götter?, S. 121, 133 f. 60 Maus, in: Sturz der Götter?, S. 121, 138 ff. Der Richter (als „die Verkörperung des lebendigen Gewissens der Nation“) sollte sich von der „Buchstabensklaverei des positivistischen Rechts“ befreien und das nationalsozialistische Wertsystem befolgen. 61 In diesem Sinne betonte Radbruch, SJZ 1, 1946, 105: „Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ,Gesetz ist Gesetz‘ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts“. s. auch Grimm, JuS 1980, 704: „Der formale Rechtsstaat, der die Exekutive ans Gesetz band, ohne dieses selbst anderen als for-

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besonders unscharfen Begriffen und anderen Kontrollmaßstäben entschieden, die im Verfassungstext nicht unbedingt einen Anhaltspunkt finden.62 In der Nachkriegszeit ist also eindeutig eine Rechtsrenaissance zu beobachten, welche ferner das neue eingerichtete BVerfG geradezu aufgefordert hat, eine aktive Rolle zu übernehmen.63 Die Überwindung des Formalismus galt daher nach 1945 als wichtigster Fortschritt des GG gegenüber den früheren deutschen Verfassungen, sodass sich eine wertbestimmte Auslegung des Rechts gegen die frühere positivistische Auslegungsmethode der Gesetzestreue weitgehend durchsetzte.64 Die Hinwendung des BVerfG zu einem materialen Verfassungsverständnis entsprach in diesem Sinne der in der Rechtswissenschaft allgemeinen und von der Rechtsprechung mindestens verbal mitvollzogenen Wendung von Positivismus, Formalismus und Relativismus zu materialen, wertphilosophischen und naturrechtlichen Begründungen.65 Dazu

mellen Bindungen zu unterwerfen, war machtlos gegenüber Unrecht in Gesetzesform gewesen“. Nun bildete das NS-System nicht wirklich einen formalen Rechtsstaat. Vielmehr verfügte die Regierung über Gesetzgebungsbefugnisse (vgl. das sog. Ermächtigungsgesetz vom 23. März) und der Reichstag verkam praktisch zu einem reinen Akklamationsgremium mit NSDAP-Mitgliedern. Die wesentlichen Freiheitsrechte (nämlich Art. 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der WRV) wurden außerdem auch formell außer Kraft gesetzt (§ 1 der VO v. 28. 2. 1933, RGBl. 1933 I). 62 So z. B. BVerfGE 34, 269 (287) (Soraya): „Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren.“ Am Beginn seiner Tätigkeit sprach das Gericht sogar von überpositiven Normen: „Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechts an und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen.“ BVerfGE 1, 14 (18) (Südweststaat). 63 Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 52 f. Während aber dieser Zusammenhang zwischen Rechtsrenaissance und Aktivismus der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland z. T. nur als historische Reminiszenz interessant ist, stellt es in Brasilien noch eine Aktualität dar. Auch in Brasilien überwog der Rechtsformalismus im 19. und noch größtenteils im 20. Jh. Dass ein etwa verspäteter Aufstieg der „Dritten Gewalt“ und ein Wandel im Verständnis der verfassungsrechtlichen Methodik allmählich stattfindet, ist allerdings kaum in Frage zu stellen. Zu dieser neuen hermeneutischen Orientierung zählen insbesondere die Prämisse, dass Prinzipienkollisionen eine Abwägung verlangen, und die Übernahme des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als Kontrollmaßstab. s. hierzu u. C.V. 64 s. Grimm, JuS 1980, 704, 706. Zu der Naturrechtsrenaissance der Nachkriegszeit passte ferner der abwägungsgesteuerte, einzelfallbezogene Einsatz individueller Freiheits- und Gleichheitswerte im Privatrecht viel besser als etwa eine Grundrechtsfreiheit des Privatrechts. Vgl. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 49 f. 65 Vgl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 23 f., der ferner beobachtet, dass diese Hinwendung auch zum Versuch passte, das Legitimitätsdefizit der untypischen Entstehung des GG auszugleichen. Das Gericht begründet dann die Legitimation des GG nicht durch das demokratische Verfahren, sondern durch seinen Inhalt, der übergesetzlichen Gerechtigkeitswerten und dem kulturellen Zustand des deutschen Volkes entspreche. s. BVerfGE 3, 225 (233 f.) (Gleichberechtigung); 5, 85 (379) (KPD-Verbot). Die Grundfrage der Verfassungsle-

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

kommt, dass ungefähr zur selben Zeit die Methodenlehre den außerrechtlichen Faktoren der richterlichen Entscheidung auf die Spur kam und die Gesetzesbindung zur sowieso realitätsfernen Fiktion erklärte. Bekräftigt wurden Entwürfe wie folgende: Die Falllösung wird nicht vom Gesetz bestimmt; das Gesetz determiniert nicht die Herstellung der Entscheidung, sondern nur ihre Rechtfertigung und Darstellung; das Gesetz wird vom Richter nicht zur Urteilsfindung, sondern zur Verteidigung seiner Standesideologie gebraucht; die Rationalität richterlichen Handelns soll hauptsächlich in den richterlichen Vorverständnissen und Wertungsvorgängen gesucht werden, die offenzulegen sind.66 Auch diese rechtswissenschaftliche Entwicklung begünstigte also die distanzierte Einstellung zum Gesetz und eine wertbestimmte Herangehensweise an das positive Recht. Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die vom Richter auszuübende Tätigkeit nicht mehr als eine rein mechanisch verstandene Aufgabe der syllogistischen Anwendung angesehen wird. Die juristische Hermeneutik sucht zunehmend nach verfeinerten Methoden wie der teleologischen, systematischen und historischen Analyse,67 die es ermöglichen, den Gesetzessinn zu emanzipieren, und zwar vom subjektiven Willen des Gesetzgebers in Richtung auf einen angenommenen „objektiven Willen“ des Gesetzes an sich bzw. auf einen „objektiven Willen“ des Gesetzgebers.68 Es ergibt sich auf jedem Fall ein Komplexitätsgewinn aus der Perspektive des interpretativen Handelns. In diesem Sinne ist die interpretative Theorie von Hans Kelsen anschaulich. Zwar sah dieser Autor die Rechtsordnung noch als ein abgeschlossenes und durch Regeln hierarchisch geordnetes Ganzes an, erkannte aber schon in den 1930er-Jahren die offene und unbestimmte Struktur des Rechts.69 Diese Struktur – sei es im civil-law- oder im common-law-System – besteht immer in allgemeinen und abstrakten Normen, zu denen man nur durch Texte (Gesetzes-, Verfassungs-, Präzedenzfall-, Entscheidungstexte) Zugang hat. gitimität wird dann zur Frage nach Werten und Kulturgütern und die Grundrechtsrechtsprechung wird infolgedessen als Abwägung von Werten und Gütern betrieben. 66 Vgl. zum Ganzen Grimm, JuS 1980, 704, 706. Anschaulich in diesem Sinne Esser, Vorverständnis und Methodenwahl. Interessanterweise taucht die Abwägung (Balancing) erst seit Ende der 1930er-Jahre als ausdrückliche Methode der US-amerikanischen Verfassungsrechtsprechung auf. Hinter dieser Neuorientierung standen natürlich spezifische soziale Gründe. Die Ausbreitung antiformalistischer Tendenzen in der Rechtswissenschaft wird allerdings auch dort als ein entscheidender Faktor für die Expansion dieser Methode betrachtet. Vgl. Aleinikoff, The Yale Law Journal 96, 1987, 943, 948, 952 ff., 955 ff. 67 Bereits Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, S. 213 ff., sprach von vier Mitteln zur Sinnbestimmung der Rechtsnormen: das grammatische, das logische, das systematische und das historische Element. In Anlehnung daran ist noch heute von vier Auslegungsmitteln (sog. canones) die Rede, nämlich die grammatische, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung. 68 Carvalho Netto, Revista de Direito Comparado 3/1999, 473, 481. Vgl. in diesem Sinne BVerfGE 1, 299 (312) (Wohnungsbauförderung); 11, 126 (131) (Nachkonstitutioneller Bestätigungswille); 62, 1 (45) (Bundestagsauflösung I) (m. w. N.). 69 Kelsen, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 8/1934, 9 ff.

III. Sozialstaat, funktionaler Pluralismus und Entscheidungsspielraum

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3. Kelsens Interpretationstheorie und das Scheitern der reinen Rechtslehre: Neue Wege im Umgang mit der Rechtsunbestimmtheit Im Hinblick auf die Offenheit der Texte und folglich auf die dem Recht inhärente Unbestimmtheit ist für Kelsen die Interpretation „ein geistiges Verfahren, das den Prozess der Rechtsanwendung in seinem Fortgang von einer höheren zu einer niedrigeren Stufe begleitet“.70 Durch die Interpretation wird also die niedrigere Norm zur Anwendung der höheren Norm hervorgebracht. Die in der Rechtsordnung hierarchisch verfügbaren Normen bewahren daher eine Bestimmungsrelation. Diese ist aber niemals vollständig, sodass von einem Grenzbereich der Unbestimmtheit und des Ermessensspielraums für den Anwender der Norm gesprochen werden kann.71 Gehofft wird im Grunde, dass die niedrigere Norm den Bestimmungsprozess für die hierarchische Anordnung der Rechtsnormen weiterführt. Diese Unbestimmtheit eröffnet folglich verschiedene Möglichkeiten, die Norm anzuwenden, sodass sie als eine Art Rahmen verschiedener Lesarten in Bezug auf ihre Anwendung verstanden werden kann. Nach dieser Betrachtungsweise werden die Rechtsnormen nicht über einen reinen Erkenntnisakt geschaffen, sondern mittels eines Willensakts des rechtsanwendenden Organs, das sich innerhalb des Möglichkeitenspektrums zur Hervorbringung der niedrigeren Norm auf eine gewählte Interpretation festlegen muss. Mit anderen Worten, die Interpretation des Rechts eröffnet nicht nur einen einzigen Sinn der Norm und damit eine einzige Lösung (welche durch das Gesetz festgelegt würde), sondern sie erlaubt in den meisten Fällen die Übernahme mehrerer möglicher Lösungen.72

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Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 346. Hervorzuheben ist, dass die Unbestimmtheit sowohl „beabsichtigt“ sein kann, etwa im Falle ihrer Erwünschtheit seitens des rechtsetzenden Organs, das die Norm solchermaßen formuliert, dass dem Anwender die Aufgabe zukommen muss, die Steuerung der allgemeinen Norm an die Einzelheiten des konkreten Falles anzupassen, und dass sie genauso auch „unbeabsichtigt“ sein kann, wenn der Text an sich bereits Raum lässt für Widersprüche oder Doppeldeutigkeiten, oder aber wenn sich zwei Normen widersprechen. s. dazu Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 347 f. 72 In den Worten Kelsens: „Versteht man unter ,Interpretation‘ die erkenntnismäßige Feststellung des Sinnes des zu interpretierenden Objektes, so kann das Ergebnis einer Rechtsinterpretation nur die Feststellung des Rahmens sein, den das zu interpretierende Recht darstellt, und damit die Erkenntnis mehrerer Möglichkeiten, die innerhalb dieses Rahmens gegeben sind. Dann muss die Interpretation eines Gesetzes nicht notwendig zu einer einzigen Entscheidung als der allein richtigen, sondern möglicherweise zu mehreren führen, die alle – sofern sie nur an dem anzuwendenden Gesetz gemessen werden – gleichwertig sind, wenn auch nur eine einzige von ihnen im Akt des rechtsanwendenden Organs, insbesondere des Gerichtes, positives Recht wird.“ Reine Rechtslehre, S. 349. 71

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

Unter diesen Möglichkeiten gibt es laut Kelsen nach dem positiven Recht keine, der ein höheres Maß an Richtigkeit zugesprochen werden könnte.73 Die Lösungen stellen schlicht mögliche Resultate dar, und die Frage, die sich im Moment der Auswahl einer der möglichen Lösungen stellt, ist ihrem Charakter nach einzig und allein politisch, nicht aber theoretisch oder wissenschaftlich. Die Wahl des ermächtigten, rechtsanwendenden Organs erfolgt nach Ermessen und impliziert einen verbindlichen, Recht schaffenden Willensakt, was die sog. authentische Interpretation charakterisiert. Diese unterscheidet sich von jeder anderen Interpretation, insbesondere von der Interpretation durch die Rechtswissenschaft, die eine rein erkenntnismäßige Feststellung des Sinnes von Rechtsnormen ist.74 Diese beschreibende Funktion der Rechtswissenschaft hatte aber ursprünglich in der reinen Lehre die Aufgabe, das freie Ermessen der rechtsanwendenden Organe zu begrenzen. Im konkreten Lösungsfall bedeutete dies, dass der Richter einem von der Rechtswissenschaft vorgegebenen Rahmen der möglichen Interpretationsansätze verpflichtet war. Er konnte zwar frei zwischen der einen oder anderen Möglichkeit (innerhalb des gegebenen Rahmens) wählen, konnte aber keine dritte oder willkürliche Möglichkeit in Betracht ziehen. Dennoch lässt sich etwa in der Ausgabe der „Reinen Rechtslehre“ von 1960 in der Kelsen‘schen Theorie eine Wende zum „Dezisionismus“ feststellen, denn ab dieser Ausgabe kann das Interpretieren gleichgesetzt werden mit dem Hervorbringen einer Norm, die innerhalb oder außerhalb des Rahmens zu situieren ist, der die anzuwendende Norm darstellt.75 Damit verfällt man jedoch einem totalen Dezisionismus, der letztendlich den Rechtsanwendern vollständigen Freiraum für die Hervorbringung von Fallentscheidungen lässt. Die Unterscheidung zwischen gesetzgebendem Handeln und Gesetzesanwendung verschwimmt. Tatsächlich kann aber ein solcher Rahmen möglicher Interpretationen niemals hergestellt werden. Wie erwähnt, ist jede Interpretation durch ein Hintergrundbild von vielfältigen Traditionen, Gewohnheiten und Weltanschauungen geprägt. Deshalb kann nicht von den möglichen Interpretationen gesprochen werden, sondern nur von möglichen Interpretationen, in Anbetracht eines gegebenen Rechtsparadigmas und seiner Möglichkeiten, aber auch seiner Beschränkungen.76 Hinsichtlich der ei73

Auch der Grundsatz der Interessenabwägung liefere nach Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 350, keinen objektiven Maßstab, nach dem entgegengesetzte Interessen miteinander verglichen und demnach Interessenkonflikte entschieden werden können. 74 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 350 ff. Diese anderen Interpretationen werden als nicht authentisch genannt, d. h., dass sie nicht verbindlich sind – weil sie nicht von einer ermächtigten Autorität getroffen werden und daher kein Recht schaffen. 75 Paulson, in: Rechtsprechungslehre, S. 409 ff., betont, dass diese „dezisionistische Wende“ bereits in den 1950er-Jahren begann. Kelsen hatte eben versucht, sein Projekt im Völkerrecht durchzuführen, und erlebte die drastische Erfahrung, dass die von ihm entwickelten Sinndeutungen der UNO-Abkommen bzw. seine ganze strikte und „reine“ Wissenschaft um diese Abkommen nicht verhindern konnten, dass die UNO ganz außerhalb des von ihm hervorgebrachten Rahmens errichtet wurde. Das führte ihn zu der Erkenntnis, dass sein Projekt gescheitert war: Die Wissenschaft kann die Autorität nicht begrenzen. 76 Cattoni de Oliveira, Direito Processual Constitucional, S. 58.

IV. Auf dem Weg zum demokratischen Rechtsstaat

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genen Grenze menschlicher Rationalität ist es unmöglich, im Voraus alle Situationen zu berücksichtigen, die eventuell in den Schutzbereich einer Norm fallen könnten, um somit den (die) Sinn(e) des betreffenden Gesetzestextes mit dem Ziel festzulegen, a priori die Rechtsanwendung zu gestalten. Genau hier zeigt sich deutlich die fehlende Nachhaltigkeit dieser theoretischen Herangehensweise. Diese übersieht nämlich die Relevanz des konkreten Falles bzw. die Situation normativer Anwendung für die Rechtsprechungsdiskurse. Die Norm wird auf den Text beschränkt, von der Realität (also vom konkreten Fall) abgekoppelt, auf die sie angewendet werden sollte; der Text, unbestimmt in seinen multiplen Bedeutungen, gerät im Verlauf der Anwendung in eine andauernde Isolierung von den Elementen, die ihm zu einer wie auch immer beschaffenen Sinnstiftung verhelfen könnten. Solche Perfektive will außerdem der Funktion der Erwartungsstabilisierung Rechnung tragen, ohne aber die Legitimität der Rechtsentscheidung stützen zu müssen. Die Geltung des Rechts wird danach lediglich an seine Genese gebunden – „Regeln sind gültig, weil sie von den zuständigen Institutionen regelrecht erlassen werden“. Somit führt jedoch die positivistische Deutung der richterlichen Entscheidungspraxis dazu, dass die Garantie der Rechtssicherheit die Richtigkeitsgarantie überschattet. Die eindimensionale positivistische Vorstellung des Rechts als die eines prinzipienlosen Regelsystems nötigt außerdem zu der Konsequenz, dass Kollisionsfälle eine Unbestimmtheit der Rechtslage herbeiführen, die nur noch dezisionistisch beseitigt werden kann.77 Die Frage der Rechtsinterpretation soll für die weitere Entwicklung dieser Untersuchung exakt an dem Punkt wieder aufgenommen werden, wo Kelsen aufhörte. Die Unbestimmtheit des Rechts kann nicht einfach beseitigt werden und ebenso wenig kann sie durch positivistische Anstrengungen gezügelt werden.

IV. Auf dem Weg zum demokratischen Rechtsstaat: Verfassungstheoretische Grundlagen Zwar stammen die ersten Zweifel am Sozialstaatsmodell bereits aus der Zeit des Endes des Zweiten Weltkrieges, die Unangemessenheit dieses Modells zeigte sich in ihrer ganzen Dimension jedoch erst ab den 1970er-Jahren. Die Wirtschaftskrise erschütterte die objektivistische Rationalität der Technokraten und der ökonomischen Planung, genauso wie die antithetische Opposition zwischen Technik und Politik;78 beide hatten den Staat letztendlich in ein paternalistisches Unternehmen verwandelt, das jeden Bereich gesellschaftlichen Lebens gängelt. Aus juristischer Sicht war in diesem Sinne ein wichtiger Faktor der „Krise des Sozialstaates“ die „Unempfindlichkeit“ der anwachsenden staatlichen Bürokratien gegenüber den Beschränkungen der individuellen Selbstbestimmung ihrer Klienten, wodurch die 77 78

Zum Ganzen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 247 f., 255 f. Carvalho Netto, Revista de Direito Comparado 3/1999, 473, 481.

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

eigenständige Gestaltung des Privatlebens erschwert wurde – als symmetrische Schwäche gegenüber der „sozialen Blindheit“ des bürgerlichen Formalrechts.79

1. Zur Rehabilitierung des Abwehrrechts: Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft und die Freiheitsbegriffe Der Versuch, die Opposition zwischen bürgerlichem Formalrecht und sozialstaatlich materialisiertem Recht zu überwinden, führte dazu, dass seit den 1970erJahren die Diskussion zum paradigmatischen Rechtsverständnis gewissermaßen reflexiv wurde und sich in ein ausdrückliches Thema der Rechtsdogmatik verwandelte. Man findet darin zu der Erkenntnis, dass ein gesellschaftstheoretisches Hintergrundverständnis zur Rechtspraxis existiert, womit sich die Rechtsprechung nicht mehr weiter von ihrem Sozialmodell abwenden kann.80 Das Bewusstsein nicht nur, dass unterschiedliche Grundrechtstheorien existieren, sondern auch dass ein Zusammenhang zwischen Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation besteht, kommt in diesem Sinne im klassischen Beitrag von Böckenförde „Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation“ anschaulich zum Ausdruck. Dieser Autor machte sich bereits 1974 zum erklärten Ziel, „den notwendigen Zusammenhang von Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation ausdrücklich und allgemein bewusst zu machen“, und zeigt, dass die hinter den Grundrechten stehenden verfassungstheoretischen Positionen ihre Interpretation – bewusst oder unbewusst – leiten und bestimmen.81 Die Diskussionen um das Grundrechtsverständnis enden jedoch in keiner Weise mit der Anerkennung eines Zusammenhangs von unterschiedlichen Rechtsparadigmen und Grundrechtsinterpretation. Vielmehr wurden die angeführten Überlegungen zu einem abwehrrechtlichen Grundrechtsverständnis einerseits und zu einer institutionellen oder wertorientierten Dimension der Grundrechte andererseits zu unterschiedlichen Grundrechtstheorien entfaltet, die heute immer noch miteinander konkurrieren. Zwar rückte das dogmatische Element seit den 1970er-Jahren mehr in 79 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 470. Ein fürsorgendes, Lebenschancen zuteilendes Staatsmodell, das mit sozialen Rechten jedermann erst die materielle Grundlage für eine menschenwürdige Existenz gewähren will, liefe sicherlich Gefahr, mit seinen penetranten Vorgaben eben die Autonomie zu beeinträchtigen, um deretwegen es doch die faktischen Voraussetzungen für eine chancengleiche Nutzung negativer Freiheit erfüllen soll (S. 490). s. auch Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 14, 27, 47. 80 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 470, 474. Diese Reflexivität lässt sich auch in anderen Wissensbereichen ausmachen und kann veranschaulicht werden am Beispiel des Einbürgerns von Begriffen wie dem der „Weltanschauung“ in das philosophische und politische Denken. Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 7 f., spricht vom „historischen Bewusstsein“ als einem Vorrecht (oder aber einer Bürde) des modernen Menschen, im Sinne der Erlangung des nunmehr vollen Bewusstseins der Geschichtlichkeit jeder Gegenwart, der Relativität aller Meinungen und des Partikularcharakters jeder Sichtweise. 81 Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1530.

IV. Auf dem Weg zum demokratischen Rechtsstaat

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den Vordergrund der Auseinandersetzungen; während aber eine Serie von Arbeiten auf die Kritik des Abwehrrechts mit einem grundrechtsdogmatischen Ausbau des Modells reagiert, möchte eine andere Reihe von Arbeiten ab den 1980er-Jahren die Kritik des Abwehrrechts zu einer Dogmatik neuer Grundrechtsfunktionen oder Grundrechtsverständnisse entwickeln.82 So, während z. B. Alexy auf eine Verteidigung der Werttheorie der Grundrechte durch die Formulierung einer Prinzipientheorie abzielt83 und andere Autoren versuchen, weitere neben dem Abwehrrecht entwickelte Grundrechtsfunktionen dogmatisch auszugestalten,84 beabsichtigen wiederum andere Ansätze, das Abwehrrecht als grundrechtliche Leitfunktion zu rehabilitieren, und überlegen, wie das Eingriffs- und Schrankendenken die erweiterten Grundrechtsfunktionen bewältigen können.85 Statt für jedes neue Grundrechtsproblem eine neue, wenig strukturierte und vage Grundrechtsfunktion zu entwickeln, zielt insoweit auch die vorliegende Untersuchung zunächst auf eine konstruktive Entfaltung des Abwehrrechts – freilich ohne die Existenz anderer Grundrechtsfunktionen generell zu leugnen.86 Angesichts der 82 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 60 ff., nach dem das Abwehrrecht seit den 1970er-Jahren zwischen dogmatischem Ausbau und dogmatischer Konkurrenz steht. Darüber hinaus unterscheidet der Autor drei große Strömungen in der aktuellen grundrechtsdogmatischen Diskussion: die Prinzipientheorie, der funktionale Grundrechtspluralismus und die abwehrrechtliche Tradition (72 ff.). 83 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 18, 477. 84 Exemplarisch Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 68 ff., 75 ff., 96 ff.; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 74 ff., 102 ff., 182 ff. 85 Vgl. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 462 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, mit zahlreichen weiteren Nachweisen von Werken, die auf einen Ausbau bzw. eine Verteidigung des Abwehrrechts zielen in S. 61 ff., 97 (inkl. Fn. 396). Hinsichtlich der Drittwirkung führte Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, S. 62 ff., 140 ff., bereits 1970 eine wegweisende dogmatische Reaktion auf die Kritik des Abwehrrecht vor. Schwabe beharrt auf der Staatlichkeit allen Rechts und damit auch aller rechtlich geregelten Verhältnisse. Richten sich die Grundrechte gegen staatliche Beschränkungen, so ist jede staatliche Einschränkung der in ihnen verbürgten Freiheiten grundrechtsrelevant – inkl. der Einschränkungen mittels gesetzter, angewandter und vollstreckter Normen des Privatrechts. Seine Theorie sieht darüber hinaus die Lösung des Drittwirkungsproblems am Konflikt zwischen dem einen Bürger und dem Staat. Sie führt nämlich den privaten Eingriff auf die staatliche Rechtsordnung zurück und rechnet deshalb dem Staat den Eingriff zu: Ermächtigt die Rechtsordnung Private zu „Eingriffen“ und verpflichtet sie den Betroffenen, solche Eingriffe zu dulden, dann seien diese dem Staat zuzurechnen. Sie seien ebenso vor den Grundrechten zu rechtfertigen wie freiheitsbeschränkende Maßnahme staatlicher Organe. Die Erstreckung des Abwehrrechts auf privatrechtliche Dreieckskonstellationen wird jedoch auch hierbei letztlich auf eine Abwägung kollidierender Grundrechtspositionen reduziert (S. 107 ff.). Damit werden allerdings die dogmatischen Strukturen des Abwehrrechts der Tendenz nach eingeebnet und verspielt. Dieser Ansatz stieß darüber hinaus auch bei Vertretern des funktionalen Pluralismus und der Prinzipientheorie auf Kritik. Vgl. etwa Isensee, in: HStR V, § 111, S. 207 ff., Rn. 118 f.; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 166 ff., bzw. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 416 ff. 86 Ein abwehrrechtszentriertes Grundrechtsverständnis unterscheidet sich von dem funktional-pluralistischen nicht dadurch, dass es die Existenz anderer Grundrechtsfunktionen generell leugnet. Diese sind nur nicht allgemein anerkannt. Wie Poscher, Grundrechte als Ab-

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Staatlichkeit allen Rechts ist in der Tat im Prinzip unklar, wieso Art und Ausmaß der staatlichen Bindung an die Grundrechte z. B. beim Privatrecht anders sein sollten als beim öffentlichen Recht. In Anbetracht der Grundrechtsbindung muss sich vielmehr jede staatliche Konfliktregelung, welche die grundrechtliche Freiheit verkürzt, vor ihr rechtfertigen. Für die Annahme eines abwehrrechtszentrierten Grundrechtsverständnisses sprechen ferner die Relativierung der Differenzierung zwischen Privatund öffentlichem Recht sowie nicht zuletzt die dogmatischen Schwächen der Alternative zum Abwehrrecht, die der Rechtsprechung insbesondere durch die Güterabwägung eine sehr breite und unstrukturierte Kontrollmöglichkeit eröffnen. Die Arbeit schließt sich daher dem Versuch an, das Abwehrrecht auch unter den heutigen sozialen Bedingungen verfassungstheoretisch sowie dogmatisch anschlussfähig zu machen. In diesem Sinne richtet sich die Untersuchung nicht gegen die sozialstaatlichen Zwecke des erweiterten Grundrechtsverständnisses.87 Die wirtschaftliche und soziale Ordnung muss nach wie vor Gegenstand staatlicher Planung, Gestaltung und Veränderung sein. Auch der Schutz der Menschen vor Risiken, die die früheren Gefahren vielfach übertreffen und neuartige Schutzmaßnahmen erfordern, ist als staatliche Aufgabe angenommen. Wie im Einzelnen noch zu zeigen sein wird, ist jedoch das Mittel des objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnisses und das damit verbundene Abwägungsmodell rechtsstaatlich und demokratisch zu bedenklich. Die Beeinträchtigung des Demokratieprinzips ist besonders deshalb problematisch, weil sie gerade den Prozess gefährdet, der überhaupt die Verwirklichung realer Freiheit und Gleichheit (d. h. gleicher subjektiver Freiheiten) ermöglichen kann.88 Hingegen lässt sich das Abwehrrecht als rechtstechnisch-konstruktives Denken wohl auf die wehrrechte, S. 72, betont: „Der Pluralismus des abwehrrechtlichen Modells ist einzelgrundrechtsspezifisch, der des funktional-pluralistischen grundsätzlich ubiquitär“. 87 Im Unterschied zu einer älteren Kritikergeneration sollen also hinter den zu entwickelten Einwänden gegen das objektiv-rechtliche Grundrechtsverständnis nicht Vorbehalte gegen sozialstaatliche Ziele stehen – wie sie etwa bei Forsthoff, in: FS Carl Schmitt, S. 35, 38 ff.,45 ff., zum Vorschein kommen. Vgl. dazu Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 222 f. So hat bereits Schlink, EuGRZ 1984, 457, 465, bekräftigt: „Wenn das Eingriffs- und Schrankendenken dem demokratischen Gesetzgeber die Entscheidungen über politische Prioritäten und staatliche Präferenzen überlässt, dann leugnet es die Veränderung der Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit (…) keineswegs, sondern es sieht die Veränderungen in den Entscheidungen sich sehr wohl niederschlagen.“ Der Ausbau von etwa staatlichen Leistungen, die Gewährung von Leistungsrechten, die Einrichtung von Verfahren, die Gestaltung von Organisationen und die Sicherung von Verfahrenspositionen wurden, wie der Autor ferner beobachtet, ohnehin immer politisch erstritten. Rechtsprechung und Rechtswissenschaft haben dieses Netz nicht geschaffen. Sie haben nur seinen Ausbau registrieren, konturieren und ggf. korrigieren können. 88 Die Erhaltung des politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses ist, wie im Folgenden dargetan wird, eine Bedingung der Möglichkeit der Konstituierung einer Gemeinschaft freier und gleicher Rechtsgenossen. „Letztlich können die privaten Rechtssubjekte nicht in den Genuss gleicher subjektiver Freiheiten gelangen, wenn sie sich nicht selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer politischen Autonomie, über berechtigte Interessen und Maßstäbe klar werden und auf die relevanten Hinsichten einigen, unter denen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll.“ Habermas, Faktizität und Geltung, S. 13.

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veränderten Bedingungen der Freiheitsverwirklichung erstrecken und sich mit dem Selbstverständnis einer demokratischen, postindustriellen und hochkomplexen Gesellschaft versöhnen.89 Einzelne Ausarbeitungen des Abwehrrechts, die sich auch gegen die tendenzielle Einebnung seiner dogmatischen Strukturen durch ein Abwägungselement richten, werden weiter unten diskutiert. Schon hier ist allerdings den freiheits- und staatstheoretischen Fragen kurz nachzugehen, die durch die Kritik des Abwehrrechts aufgeworfen wurden.90 Auf einer theoretischen Ebene hat die Kritik des Abwehrrechts hauptsächlich zwei Stoßrichtungen: zum einen gegen den mit ihm assoziierten (negativen) Freiheitsbegriff, zum anderen gegen die von ihm vorausgesetzte Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Ein adäquates abwehrrechtliches Grundrechtsverständnis muss nun, um der Kritik gerecht zu werden, eine Antwort darauf geben, wie es die soziale, reale und nicht nur individuelle, rechtlich-formale Freiheit sichern will und ferner, wie die demokratische Prägung des Staates (trotz der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft) zu erfassen ist. Für staatsgerichtete Grundrechte ist die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft konstitutiv und zwar in dem Sinne, dass die Grundrechte rechtstechnisch ein Rechtssubjekt „Staat“ als Grundrechtsverpflichteten und eine „Gesellschaft“ von Grundrechtsträgern als Grundrechtsberechtigte voraussetzen.91 Mit dieser rechtstechnischen Ausgestaltung verbinden sich aber keine gesellschaftstheoretischen Festlegungen für die Beziehung von Staat und Gesellschaft – weder in Richtung einer antidemokratischen Gesellschaftsfreiheit des Staates, noch in Richtung einer liberalistischen Staatsfreiheit der Gesellschaft.92 Die Differenzierung von Staat und Gesellschaft ist somit nicht konkretistisch im Sinne des liberalen Rechtsstaatsmodells zu interpretieren.93 Ein adäquates abwehrrechtliches Grund89 Wie Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 56, beobachtet: Viele der Probleme, welche die Entwicklung vom subjektiven Recht zum objektiven Prinzip vorangetrieben haben, könnten auch vom Abwehrrecht her gelöst werden. Viele, aber nicht alle; denn erst das Verständnis der Grundrechte als objektive Prinzipien ermögliche, jedes gesellschaftliche und politische Problem als Grundrechtsproblem zu rekonstruieren. 90 Zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 107 ff. 91 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 144. Vgl. dazu auch Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 96: „Jede politische Philosophie oder Verfassungstheorie, die davon ausgeht, dass der Einsatz staatlicher Zwangsgewalt besonderen Anforderungen unterliegt, muss (…) eine Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft vornehmen.“ 92 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 144, 417. 93 So auch Habermas, Faktizität und Geltung, S. 215, der vier Hauptprinzipien des demokratischen Rechtsstaates statuiert: das Prinzip der Volkssouveränität, das der Gewährleistung eines umfassenden individuellen Rechtsschutzes, das der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und eben das der Trennung von Staat und Gesellschaft (S. 209 ff.). Nach ihm besagt „das Prinzip der Trennung von Staat und Gesellschaft“ allgemein die rechtliche Garantie einer gesellschaftlichen Autonomie, die jedem auch gleiche Chancen einräumt, als Staatsbürger von seinen politischen Teilnahme- und Kommunikationsrechten Gebrauch zu machen. Es fordert in dieser abstrakten Fassung eine Zivilgesellschaft, also Assoziationsverhältnisse und eine poli-

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rechtsverständnis soll vielmehr auch die tiefreichenden Interdependenzen zwischen Staat und Gesellschaft ernst nehmen und sich entsprechend von der Vorstellung einer von staatlichen Regulierungen weitgehend unabhängigen gesellschaftlichen Ordnung bzw. Wirtschaftsgesellschaft befreien. Die gesamte rechtliche Ordnung einer Gesellschaft ist auf der einen Seite staatliche Ordnung (d. h. grundrechtlich zu rechtfertigen) und auf der anderen Seite in demokratischen Gesellschaften das Ergebnis eines politischen Prozesses, der auf die staatlichen Entscheidungen gerichtet ist.94 Die demokratische Pointe des Abwehrrechtsverständnisses wird darüber hinaus in der Diskussion um die Freiheitsbegriffe besonders deutlich. Das Abwehrrecht wird durch die Kritik mit einem rein negativen Freiheitsbegriff identifiziert und einer Reihe unterschiedlicher Freiheitsvorstellungen entgegengesetzt. Gegenüber seinem negativen Freiheitsverständnis werden u. a. eine positive (werthaltige), eine reale, eine politische und eine normative Freiheit betont.95 Wird aber die aktuelle dogmatische Konstruktion des Abwehrrechts genauer betrachtet, dann lässt sich feststellen, dass sie sehr viel voraussetzungsvoller ist, als durch die Verkürzung auf die Eingriffsabwehr gegen den Staat nahegelegt wird. Die Identifikation des Abwehrrechts mit der negativen Freiheit ist eigentlich, wie Poscher beobachtet, eine grobe Verkürzung des Abwehrrechts auf einen Ausschnitt seines wesentlich komplexeren dogmatischen Systems. Der negative Freiheitsbegriff ist zwar derjenige, auf dem die Struktur des Abwehrrechts aufbaut und an den die anderen Freiheitsvorstellungen anknüpfen. Er ist aber lediglich ein dogmatisches Element, d. h. ein Ausschnitt des Eingriffs- und Rechtfertigungsschemas.96 Seine tische Kultur, die von Klassenstrukturen hinreichend entkoppelt sind, sowie organisatorische Vorkehrungen gegen den unmittelbaren Durchgriff sozialer Macht auf administrative Macht. 94 Insoweit gilt es die Ansätze zu problematisieren, denen zufolge ein Bereich der Rechtsordnung (wie etwa die privatrechtliche Ordnung) nicht den allgemeinen grundrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen unterstellt wird – als ob es eine staatsfreie rechtliche Ordnung der Gesellschaft gäbe. Damit wird nur die staatliche Vermitteltheit des Privatrechts ausgeblendet und die Verantwortung des Staates dafür maskiert. Zum Ganzen Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 150. Vgl. darüber hinaus auch die scharfsinnige Kritik des Autors an der Lehre der grundrechtlichen Schutzpflicht. Diese Lehre blende eben die Tatsache aus, dass der Staat selbst die rechtlichen Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht schafft. Die Akkumulation sozialer Macht werde praktisch als staatsunabhängiger, gesellschaftsinterner Prozess gesehen. Der Staat erscheine erst in der Rolle des an der Machtzuweisung unbeteiligten Retters, der den Ohnmächtigen – dessen Ohnmacht er doch rechtlich eingerichtet hat – schütze (S. 149). 95 Das Abwehrrecht wird, wie Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 109, hervorhebt, mit der Freiheit eines „Naturzustandes“ assoziiert, die sich negativ über die Abwesenheit staatlichen Eingriffs definiert. Darüber hinaus könne es nach der Kritik die werthaften ethischmoralischen Anforderungen, die realen Verwirklichungsbedingungen der Freiheit, die freiheitskonstitutive Funktion von Regelungen bzw. die politische Autonomie nicht erfassen. Zu den unterschiedlichen Freiheitsbegriffen in der grundrechtlichen Diskussion s. ebd., S. 112 ff. Bei Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 150 ff., kommt die Kritik exemplarisch zum Ausdruck; s. u. E.II. 96 Die negative Freiheit wird aus den dogmatischen Elementen des Schutzbereichs und des Eingriffs gebildet und ist – wie diese – lediglich ein Ausschnitt eines komplexeren dogmati-

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dogmatische Funktion ist dabei, die staatlichen Eingriffe in die grundrechtlichen Schutzbereiche unter Rechtfertigungszwang zu stellen (d. h. das Abwehrrecht und seine Rechtfertigungsstruktur zu aktivieren). Rechtfertigungsbedürftigkeit bedeutet allerdings keinen außergewöhnlichen Vorgang und noch weniger eine Rechtfertigungsunfähigkeit.97 Das Abwehrrecht garantiert somit keine negative Freiheit und auch keinen staatsfreien Naturzustand, sondern „nur“ Freiheit vor nicht gerechtfertigten staatlichen Beschränkungen. Dass Freiheit zwangsläufig auf eine Rechtsordnung verwiesen ist und die Notwendigkeit der Schrankenziehung des Freiheitsgebrauchs sind dabei durchaus mitgedacht. Die durch das Abwehrrecht gewährleistete Freiheit ist mit anderen Worten kein rechtsfreier Naturzustand, sondern Freiheit in einer in der Abwehrrechtsdogmatik schon mitgedachten und durch es geprägten Rechtsordnung.98 Dass das negative Freiheitsverständnis strukturell das Eingriffs- und Schrankendenken prägt, bedeutet ferner auch nicht, dass andere Freiheitsvorstellungen für das Abwehrrecht keine Bedeutung haben. In seiner komplexen dogmatischen Struktur werden vielmehr unterschiedliche Freiheitsbegriffe bzw. -vorstellungen miteinander verknüpft. Spuren positiver Freiheit im Sinne einer Bewertung des Freiheitsgegenstandes lassen sich insofern in der Ausdifferenzierung und in der konkreten Ausgestaltung der einzelnen Grundrechte finden. Bestimmte Verhalten werden nämlich nicht einfach durch ein allgemeines Freiheitsrecht (die allgemeine Handlungsfreiheit), sondern durch besondere Grundrechte mit besonderen Rechtfertigungsanforderungen unter einen besonders ausgestalteten Schutz gestellt.99 schen Systems. Sie ist also nur ein dogmatischer, rechtstechnischer Freiheitsbegriff und nicht die empirische Freiheit, die das Abwehrrecht garantiert. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 122 f. Auch Schlink, EuGRZ 1984, 457, 467, bezeichnet das Eingriffs- und Schrankendenken als rechtstechnisch-konstruktives Denken. s. ferner – unter Hervorhebung der gesellschaftlichen Selbstorganisation – Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 43. 97 Vgl. dazu Schlink, EuGRZ 1984, 457, 467. Selbstverständlich lebten die Freiheitsrechte nur in gesellschaftlichen Zusammenhängen und dank staatlicher Vorkehrungen. Von einer vorstaatlichen Freiheit könne somit nur in dem Sinne die Rede sein, dass ihr Gebrauch gegenüber dem Staat nicht gerechtfertigt werden müsse und dass der Staat hingegen seine Eingriffe rechtfertigen müsse. Genau diese Verteilung von Rechtfertigungslasten soll aus dem bereits oben angeführten rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip abgeleitet werden – und nicht etwa ein Regel-Ausnahme-Verhältnis. Der Autor bekräftigt ferner zutreffend: „nur ein ideologisch verkürztes Eingriffs- und Schrankendenken versteht Rechtfertigungsbedürftigkeit als Rechtfertigungsunfähigkeit, weil alles so wohl bestellt, keine Veränderung notwendig und kein entsprechender Zweck legitim sei.“ Auf derartige Verkürzungen sei aber das Abwehrrecht als rechtstechnisch-konstruktives Denken nicht fixiert: Es könne Veränderungen des Status quo für rechtfertigungsbedürftig und simultan den Status quo für veränderungsbedürftig und diese Veränderungen für rechtfertigungsfähig halten. 98 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 124. s. auch Huster, Rechte und Ziele, S. 78 f. 99 Dies betrifft somit bereits die Ebene der Schutzbereiche, die ausdifferenziert und unterschiedlich ausgeformt sind. Anhaltspunkte für eine ganze Reihe positiver Freiheitsvorstellungen lassen sich darüber hinaus den unterschiedlichen Schrankenregelungen – insbesondere den qualifizierten Gesetzesvorbehalten – entnehmen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeits-

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Dieser (nur) fragmentarische Bezug zu positiven Freiheitsvorstellungen garantiert einerseits eine gewisse inhaltliche Orientierung des Abwehrrechts und andererseits die erforderliche Offenheit der positiven Ausgestaltung einer Freiheit durch den politischen Prozess.100 Steuerung und Flexibilität gelten auch für die Frage nach der Verteilung der faktischen Ressourcen für einen realen Freiheitsgebrauch. Das Abwehrrecht bezieht sich auf die reale Freiheit, also nicht dadurch, dass es die Verteilung der knappen gesellschaftlichen Mittel oder der Handelsspielräume direkt regelt, sondern indem es (verfahrensrechtliche und inhaltliche) Vorgaben für die Regelung dieser Verteilung durch den Staat enthält.101 Prozedural bindet das Abwehrrecht die rechtlichen Entscheidungen über die Verteilung realer Freiheit an den politischen Prozess, der wiederum über die Grundrechte gesteuert wird. Inhaltlich geben die Grundrechte einen Rahmen für die Verteilungsentscheidungen vor, die nicht unverhältnismäßig oder diskriminierend sein dürfen. Ferner wird auch in den durch die Abwehrrechte geöffneten Eingriffsmöglichkeiten auf die Regelung realer Freiheit Einfluss genommen. Nicht zuletzt hat das Eingriffs- und Schrankendenken auch mit der politischen Freiheit ein enges Verhältnis. Die Grundrechte als Abwehrrechte binden einerseits die rechtliche Ausgestaltung der Freiheit über den Gesetzesvorbehalt102 an den institutionalisierten politischen Prozess des Gesetzgebungsverfahrens und konstituieren zugleich über den Inhalt ihrer Garantien die Bedingungen für einen freien Prozess der informellen öffentlichen Meinungsbil-

überlegungen kommen schließlich weitere positive Freiheitsvorstellungen über die Zweckgebote und -verbote in Betracht. Neben den textlichen Zweckvorgaben enthält in diesem Sinne schon das allgemeine Zweckverbot, dem zufolge der Eingriff nicht Selbstzweck sein darf, eine positive Freiheitsvorstellung im Sinne einer grundsätzlich in ihren Lebensgestaltungsentscheidungen freien Person, auf die der Staat nicht paternalistisch zugreifen darf, nur weil er ein Verhalten für verbotswürdig erachtet. s. hierzu auch Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 450. Darüber hinaus weisen auch die den Einzelgrundrechten zugeordneten Zweckverbote Elemente positiver Freiheitsvorstellungen auf – wie bei der Differenzierung von subjektiven und objektiven Zulassungsbedingungen in der Dogmatik der Berufsfreiheit deutlich wird. 100 Zum Ganzen Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 126 ff. Die Anbindung des Abwehrrechts an positive Freiheitsvorstellungen wird also nicht in einer umfassenden Weise über eine sittliche Interpretation der Schutzbereiche angelegt, sondern nur fragmentarisch über die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Grundrechte. Die Elemente positiver Freiheitsvorstellungen sind also „punktuell, nicht systematisch, nicht hierarchisch und nicht unmittelbar konfliktentscheidend“ (S. 130). Vgl. dazu auch H.I. Zur Diskussion um das offene und präformierte Grundrechtsverständnis s. ferner Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 47 ff. 101 Hierzu und zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 131 f. 102 Der Gesetzesvorbehalt, der zudem durch die Wesentlichkeitslehre verstärkt wurde, knüpft jeden Eingriff an ein Parlamentsgesetz, d. h. an den mit höchster demokratischer Legitimation versehenen politischen Prozess. Nach der Wesentlichkeitslehre muss der Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen über die Voraussetzungen, Umstände und Folgen von Eingriffen selbst treffen und nicht an die Verwaltung delegieren. s. dazu etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 62, Rn. 264 ff.; BVerfGE 49, 89 (126 f.) (Kalkar I); 57, 295 (320 ff.) (3. Rundfunkentscheidung); 88, 103 (116) (Streikeinsatz von Beamten); 101, 1 (33 f.) (Hennenhaltungsverordnung).

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dung, der die institutionalisierten Abläufe begleitet.103 Sie tragen dadurch dem alsbald zu erläuternden Zusammenhang zwischen privater und öffentlicher Autonomie besonders Rechnung. Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass das Abwehrrecht nicht auf der Grundlage eines einseitigen Freiheitsbegriffs zu verstehen, sondern auf verschiedene Freiheitsvorstellungen bezogen ist, die es dogmatisch teils durch inhaltliche Vorgaben, teils durch verfahrensrechtliche Anforderungen miteinander verknüpft.104 Ihm geht es nicht um die Konstruktion einer möglichst staats- und rechtsfreien Gesellschaft (bzw. eines Naturzustandes). Die negative Freiheit dient vielmehr nur dazu, jede staatliche Ordnung rechtlicher Freiheit an bestimmte inhaltliche und prozedurale Bedingungen zu knüpfen und so eine in positiver, realer und politischer Perspektive freiheitliche Gesellschaft zu fördern. Die Abwehrrechte konstituieren somit noch keine empirische Freiheit, sondern steuern nur den Regelungsprozess, in dem rechtlich geregelte Freiheit erst konstituiert wird. Sie regeln die gesellschaftlichen Konflikte nicht selbst, sondern sichern einen Raum, in dem politische Entscheidungen und gesellschaftliche Selbstorganisation möglich bleiben. Sie enthalten ein System von Vorkehrungen, das Regelungen ausschließt, die für bestimmte Freiheitsbereiche besonders bedrohlich erscheinen, und garantieren allgemein, dass Freiheitsräume nicht unverhältnismäßig oder diskriminierend verteilt werden.105 Gerade dadurch, dass die Grundrechte nicht mit einer spezifischen Freiheitsvorstellung gleichgesetzt werden, trägt ihr Umgang mit den Freiheitsfragen der Komplexität und dem Pluralismus der modernen Gesellschaften sowie dem komplementären Verhältnis von Grundrechten und Demokratie besonders Rechnung. Ein abwehrrechtszentriertes Grundrechtsverständnis ermöglicht insofern, das Bild von einem politisch gestaltenden, in einem grundrechtlichen Rahmen handelnden Gesetzgeber wieder sichtbar zu machen.

103 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 142, der ferner auch den Bezug zwischen Abwehrrecht und normgeprägter Freiheit aufzeigt. Das Abwehrrecht vermittelt zwar keinen Anspruch auf Erlass eines Normbestands; es kann aber durchaus an die durch das einfache Recht eingeräumte Rechtsposition anknüpfen und ihre Verkürzung unter Rechtfertigungszwang stellen. Es kann außerdem als Maßstab für Inhaltsregelungen herangezogen werden, wenn aus dem geltenden einfachen Recht ein allgemeiner abstrakter Freiheitsgegenstand extrapoliert wird, gegenüber dem die konkreten Ausgestaltungen thematisiert werden können – wie z. B. das aus der Fülle des Vertragsrechts abgeleitete „Prinzip der eigenen Gestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen“. Es bietet schließlich auch Lösungsansätze für die Problematik einer möglichen Pflicht zur Inhaltsneubestimmung. Vgl. ebd., S. 133 – 141. 104 Hierzu und zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 143, 416. 105 Zum Ganzen Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 100 f.

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2. Grundrechte und Demokratie: Bemerkungen zur Rolle der Gesetzgebung und Rechtsprechung nach der Diskurstheorie von Habermas Der erwähnten Reflexivität hinsichtlich des paradigmatischen Rechtsverständnisses und der Komplexität des Rechtslegitimitätsproblems in modernen Gesellschaften möchte das prozeduralistische Verständnis des demokratischen Rechtsstaates Rechnung tragen, insbesondere indem es einen internen Zusammenhang zwischen Rechtsstaat und Demokratie, Grundrechten und Volkssouveränität oder auch zwischen privater und öffentlicher Autonomie anerkennt und entfaltet. Dafür setzt sich Habermas das Ziel, einem dritten Rechtsparadigma schärfere Konturen zu geben, das die beiden anderen in sich aufhebt und damit den klassischen Liberalismus und den sozialstaatlichen Paternalismus hinter sich lässt. Dieses dritte Rechtsparadigma soll die ursprüngliche Idee der Selbstkonstituierung einer Gemeinschaft freier und gleicher Rechtsgenossen wieder sichtbar machen und weiterhin den wuchernden Partikularismus einer Rechtsordnung überwinden, die in Anpassung an die unbegriffene Komplexität der Gesellschaftsumgebung ihr Zentrum verlor.106 Das positive Recht wird von Habermas als ein Medium der sozialen Integration in den modernen und hochkomplexen Gesellschaften begriffen. In diesen tritt eine zunehmende Pluralisierung der Weltanschauungen und Lebensformen hervor, die die Zonen der Überlappung oder der Konvergenz lebensweltlicher Hintergrundüberzeugungen schrumpfen lassen. Die sakralisierten Überzeugungskomplexe zerfallen in mehr oder weniger beliebig thematisierbare Gehalte, was ein wachsendes Dissensrisiko mit sich bringt.107 In diesem Zusammenhang muss laut ihm das moderne Rechtssystem zwar die funktionalen Anforderungen der verschiedenen sozialen Teilsysteme durch die Stabilisierung von Verhaltenserwartungen erfüllen. Es soll aber über diese Funktion hinaus auch den prekären Bedingungen einer Sozialintegration genügen, die letztlich nicht mehr durch ein religiöses Weltbild oder metaphysische Begründungen erfolgen kann, sondern durch Verständigungsleistungen von sozial interagierenden Subjekten.108 Ohne religiöse oder metaphysische Rückendeckung kann allerdings das auf legales Verfahren zugeschnittene und jederzeit abänderbare Zwangsrecht seine sozialintegrative Kraft nur dadurch bewah106

Habermas, Faktizität und Geltung, S. 239, 474. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 42. s. auch Rosenfeld, Harv. Law Rev. 108/1995, 1163, 1172. 108 Der Autor übernimmt somit die systemtheoretische Ansicht, der zufolge das Recht die Funktion hat, Erwartungen zeitstabil zu sichern. Die von Habermas vertretene sozialintegrative Funktion des Rechts wird allerdings von Luhmann stark bezweifelt. Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 125 f.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 178 ff. Erwähnenswert ist weiterhin, dass nach Habermas auch das Geld und die administrative Macht systembildende Mechanismen der gesellschaftlichen Integration sind. „Moderne Gesellschaften werden nicht nur sozial, über Werte, Normen und Verständigungsprozesse, sondern auch systemisch, über Märkte und administrativ verwendete Macht, integriert.“ Ebd., S. 58 f. 107

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ren, dass es im Ganzen aus einem demokratischen Verfahren hervorgeht, das jedem gleiche subjektive Freiheiten gewährleistet. Die dem Recht immanente Spannung zwischen Faktizität und Geltung manifestiert sich dadurch, dass einerseits das geltende Recht die Durchsetzung staatlich sanktionierter Verhaltenserwartungen und damit Rechtssicherheit garantiert und dass andererseits die Verfahren der Rechtsetzung und Rechtsanwendung die Legitimität der in dieser Weise stabilisierten Verhaltenserwartungen versprechen. Im Geltungsmodus des Rechts verschränkt sich somit die Faktizität der staatlichen Rechtsdurchsetzung (Androhung und Sanktion) mit der Legitimität eines dem Anspruch nach rationalen, weil freiheitsverbürgenden und demokratischen Verfahrens der Rechtsetzung, wobei folglich der Gesetzgebungsprozess im Rechtssystem den eigentlichen Ort der sozialen Integration bildet.109 Unter Bedingungen eines nachmetaphysischen Weltverständnisses hängt also die Legitimität des Rechts davon ab, dass es aus der diskursiven Meinungs- und Willensbildung gleichberechtigter Bürger hervorgeht. Diese können aber ihre durch demokratische Teilnahmerechte garantierte öffentliche Autonomie nur angemessen wahrnehmen, wenn ihre private Autonomie gewährleistet ist. Die private Autonomie dient der Entstehung der öffentlichen ebenso sehr wie umgekehrt die angemessene Wahrnehmung der öffentlichen Autonomie der Entstehung der privaten dient. Dieser zirkuläre Zusammenhang zeigt sich auch in der Genese des geltenden Rechts. Denn legitimes Recht reproduziert sich nur in Formen eines rechtsstaatlich regulierten Machtkreislaufs, der sich aus den Kommunikationen einer politischen Öffentlichkeit speist.110 Da die grundlegende Quelle der Legitimität des positiven Rechts im de109 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 46, 50 ff.; ders., Die Einbeziehung des Anderen, S. 294 ff. Der Autor bringt hierbei den kantschen Entwurf von einem internen Zusammenhang zwischen Zwang und Freiheit voran. Der Zwang rechtfertigt sich nach Kant nur als „die Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“. Weder Kant noch Rousseau sind aber Habermas zufolge dem komplementären Verhältnis von Volkssouveränität und Grundrechten gerecht geworden: „(…) die Idee der Menschenrechte, die sich im Recht auf gleiche subjektive Handlungsfreiheiten ausspricht, darf weder dem souveränen Gesetzgeber als äußere Schranke bloß aufgelegt noch als funktionales Requisit für dessen Zwecke instrumentalisiert werden.“ Ebd., S. 299. 110 Zum Ganzen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 492 f. s. auch ders., Die Einbeziehung des Anderen, S. 301 ff. Darüber hinaus versucht Habermas ein Modell des politischen Machtkreislaufs zu entwickeln, welches sich auf den demokratischen Rechtsstaat richtet und die kommunikative Macht des Staatsbürgerpublikums einschließt. Nach diesem Modell sind Kommunikations- und Entscheidungsprozesse des politischen Systems auf der Achse Zentrum/ Peripherie angeordnet und durch ein System von Schleusen strukturiert. Zum Zentrum gehören die Verwaltung (einschließlich der Regierung), das Gerichtswesen und die demokratische Meinungs- und Willensbildung (mit der parlamentarischen Körperschaft, politischen Wahlen, Parteienkonkurrenz usw.) sowie eine an den Rändern der Administration gebildete innere Peripherie (Universitäten, Versicherungssysteme, Kammern, Stiftungen usw.). Die äußere Peripherie ist wiederum zusammengesetzt aus „Abnehmern“ sowie „Zulieferern“. Erstere sind diejenigen, die gemäß ihrer korporativen und privaten Interessen vom Staat Dienstleistungen einfordern (wie z. B. Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Interessenverbände). Unter den Zulieferern werden andererseits jene verstanden, die gesellschaftlichen Problemen Resonanz

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mokratischen Rechtsetzungsprozess liegt, muss der politische Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auch für das Grundrechtsverständnis konstitutiv sein. Grundrechte und Demokratie setzen sich wechselseitig voraus. Nicht selten wird zwar die Beziehung zwischen Rechtsstaat und Demokratie als eine Konkurrenz beschrieben, denn die Volkssouveränität – auch um die Gefahr einer Mehrheitstyrannei zu meiden – soll ihre Grenzen in den Grundrechten finden. Grundrechte sind aber erforderliche Bedingungen, die die Ausübung der Demokratie erst ermöglichen. Obwohl sie den Gesetzgeber binden und somit ihm nicht zur Disposition stehen, dürfen sie dem Gesetzgeber nicht als bloße äußere Schranke aufgelegt werden. „Ermöglichende Bedingungen erlegen dem, was sie konstituieren, keine Beschränkungen auf.“ Die Grundrechte bilden die formalen Bedingungen für die rechtliche Institutionalisierung der diskursiven Meinungs- und Willensbildung, in der die Volkssouveränität rechtliche Gestalt annimmt.111 Das Problem der beiden verschaffen und zudem das Interesse verfolgen, die aufgeworfenen Fragen normativ zu lösen, sprich: die sog. Zivilgesellschaft. Diese setzt sich aus Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen, die für die Öffentlichkeit eine Grundlage bilden, dadurch dass sie die Probleme des privaten Lebensbereichs (Ebene der einfachen Interaktionen) wahrnehmen, problematisieren, verallgemeinern und thematisieren. So ermöglicht sie, dass sich der Machtkreislauf auf offizielle Weise vollzieht. Habermas hebt aber hervor, dass aufgrund des zunehmenden Fehlens der Integration zwischen den Sozialsystemen eine ständige Notwendigkeit von Aktionen des politischen Systems bestehe und deswegen Entscheidungen oft getroffen würden, ohne die Meinung der Bürger in Betracht zu ziehen, womit versucht werde, die Komplexität der Probleme zu verringern. In diesem Zusammenhang gewönnen bürgerlicher Ungehorsam und die neuen sozialen Bewegungen eine zentrale Bedeutung in der Theorie, da sie Alternativen mit dem Potential darstellten, den Kommunikationsfluss in den Momenten umzukehren, in denen Entscheidungen als illegitim gewertet werden, also wenn die Zivilgesellschaft vom politischen System vernachlässigt werde. Die aufstrebenden Bewegungen problematisierten diesen Gegenkreislauf und versuchten, in der Öffentlichkeit Unterstützung zu finden, um das Zentrum unter Druck zu setzen. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 430 – 467. 111 Zum Ganzen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 162, 135. Die Vorstellung, dass sich der materielle Rechtsstaat mit der Demokratie nicht vereinbaren lasse und dass er nur die Gestalt annehmen könne, die das Demokratieprinzip ihm erlaube, kommt etwa bei Maus, in: Sturz der Götter?, S. 121 ff. zum Ausdruck. Nach der hier zugrunde liegenden Ansicht ist Demokratie hingegen nicht einfach mit Wille der Mehrheit bzw. mit unbeschränkter Freiheit des Gesetzgebers zu identifizieren. Wie Grimm, JuS 1980, 704, 708 f., zutreffend beobachtet, ist das Mehrheitsprinzip zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Demokratie. In einer Demokratie müsse auch die Minderheitsmeinung als prinzipiell gleichberechtigte Alternative respektiert werden und präsent bleiben. Es müsse also u. a. stets die Möglichkeit bewahrt werden, dass die Minderheit irgendwann auch Mehrheit werden kann. Dadurch, dass die Mehrheit keinen Anspruch auf Wahrheit begründe und keine Gewähr auf Vernunft biete, könne die Mehrheit nie das Recht zu endgültiger, sondern nur zu vorläufiger Realisierung der eigenen politischen Vorstellungen verleihen. Als Minderheit müsse man andererseits die Gewissheit behalten können, nicht nur seiner Überzeugung wegen nicht verfolgt zu werden, sondern auch dass man die Möglichkeit hat, selbst die Mehrheit zu gewinnen. Dafür, hebt Grimm ferner hervor, müsse aber die Minderheit auch die gleichen Wirkungsbedingungen genießen wie die Mehrheit. Dies verlange z. B. ein offenes Kommunikationssystem, Sicherheit vor staatlichem Eingriff im elementaren Bereich wie den der Daseinsvorsorge und des Berufslebens usw. – oder in Kürze: ein Grundrechtskatalog. Die Grundrechte seien somit Gelingensvoraussetzungen für Demokratie.

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anderen Paradigmen besteht nach Habermas genau darin, dass in beiden der interne Zusammenhang zwischen privater und öffentlicher Autonomie aus dem Blick gerät: Die bloß formalrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie hat sich als unzureichend erwiesen, und die soziale Steuerung durch Recht gefährdet die Privatautonomie, die sie doch wiederherstellen soll. Beide Paradigmen teilen das produktivistische Bild einer industriekapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft und sind auf die Frage fixiert, ob es ausreicht, die private Autonomie durch Freiheitsrechte zu sichern, oder ob die Entstehung privater Autonomie über die Gewährung von sozialen Leistungsansprüchen gesichert werden muss. Beide assimilieren Rechte an Gütern, die man aufteilen und besitzen kann. Damit subjektive Rechte zu einer privatautonomen Lebensgestaltung ermächtigen können, dürfen sie nicht als sozialstaatliche Begünstigungen verstanden werden, sondern müssen zugleich eine gleichberechtigte Teilnahme an der Praxis bürgerlicher Selbstbestimmung ermöglichen.112 Besagt die Gleichheit, dass „in den jeweils relevanten Hinsichten Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll“, muss dann begründet werden, welche Hinsichten relevant sind. Deswegen versteht auch Alexy den Gleichheitssatz als eine Argumentationslastregel.113 Die Hinsichten, unter denen Unterschiede zwischen konkreten Erfahrungen und Lebenslagen von bestimmten Gruppen für eine chancengleiche Nutzung subjektiver Handlungsfreiheiten relevant werden, müssen also erst in öffentlichen Diskussionen geklärt werden. Im politischen Streit über die grundsätzlich umstrittenen Kriterien der Gleich- bzw. Ungleichbehandlung können aber nur die Betroffenen selbst die jeweils relevanten Hinsichten auf überzeugende Weise artikulieren und begründen. Sie allein sind die Stimmen, die wirklich sagen können, welches die relevanten Gründe sind. Dieser Streit um die Interpretation von Bedürfnissen kann nicht einfach an den Gesetzgeber und noch weniger an Richter und Beamte delegiert werden.114 Darüber hinaus wird auch das Verständnis der Verfassung neu reflektiert. Diese wird als anspruchsvoller Prozess der Rechtsverwirklichung angesehen, in dem alle beteiligten Akteure ihren Beitrag zum Bild leisten können, wie der normative Gehalt des demokratischen Rechtsstaates im Horizont vorgefundener gesellschaftlicher Strukturen und Tendenzen wirksam ausgeschöpft werden kann. Der Streit um das „richtige“ paradigmatische Rechtsverständnis ist in der Tat im Kern ein politischer Streit, der im demokratischen 112

Habermas, Faktizität und Geltung, S. 491 ff., 505 f. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 370 ff. Bereits früher Podlech, Gleichheitssatz, S. 77. Auch in den Formulierungen des BVerfG kommt dieses Verständnis zum Ausdruck. So gebiete der Gleichheitssatz, „wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln“ (BVerfGE 98, 365/385). Die sog. „neue Formel“ des Gerichts verlangt ferner das Vorhandensein eines Unterschieds von solcher Art und solchem Gewicht, dass er die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnte (BVerfGE 55, 72/88; 107, 205/214). Was „wesentlich“ ist bzw. was Art und Gewicht eines Unterschieds sind, hängt aber von Gründen ab, die nur die Betroffenen selbst klären können. 114 Zum Ganzen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 499 f., 513 f. 113

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B. Rechtsparadigmen, Grundrechtsverständnisse und Gewaltenteilungsgrundsatz

Rechtsstaat alle Beteiligten betrifft.115 Justiz und Dogmatik sind an diesem Interpretationsstreit in privilegierter Weise beteiligt; aber sie können ein Verfassungsverständnis nicht anderen allein mit wissenschaftlicher Autorität auferlegen. Vielmehr stellt die Diskurstheorie zwei Anforderungen an die richterliche Entscheidungspraxis, damit sie die sozialintegrative Funktion der Rechtsordnung und den Legitimitätsanspruch des Rechts erfüllt, nämlich die Garantie der Rechtssicherheit und der Richtigkeit. Die dem Recht immanente Spannung zwischen Faktizität und Geltung reflektiert sich also innerhalb der richterlichen Praxis als Spannung zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem Anspruch, richtige Entscheidungen zu fällen. Die gefällten Urteile müssen gleichzeitig den Bedingungen konsistenten Entscheidens (d. h. Konsistenz mit dem geltenden Recht) und rationaler Akzeptabilität (Folge von ihrer Angemessenheit für den konkreten Fall) genügen.116 Die „hermeneutische Wende“, eingeläutet durch die Existenz-Analyse Heideggers und die philosophische Hermeneutik Gadamers, trug gemeinsam mit der sich seit den 1970er-Jahren belebenden Diskussion zum Fortschritt des Interpretationsparadigmas bei. Seither wird deutlich, dass keine Methode für sich allein die Rationalität der Entscheidung sicherstellen kann, dass die Bedeutung der Zeichen auch und gerade im Hinblick auf die Zeitdimension provisorisch ist117 und dass wir einen Text nicht unabhängig von seiner Auslegungssituation interpretieren können. Gadamer zeigte, dass „anwenden“ nicht bedeutet, etwas Allgemeines, im Voraus Gegebenes anzupassen, um nachträglich die Fäden einer bestimmten Fallsituation zu entwirren. Eine „Anwendung“ kann niemals bloß eine ergänzende Operation darstellen, die nachträglich dem Verstehen hinzugefügt wird, da das, worauf wir etwas anwenden sollen, von Anfang an und im Ganzen den tatsächlichen und konkreten Inhalt des hermeneutischen Verstehens mitbestimmt.118 Demnach ist die Rekon115

Habermas, Faktizität und Geltung, S. 477. Vgl. auch in Bezug auf die Äußerungsrechte bei dem BVerfG Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, S. 37, Rn. 65: „Interpretation, Wandel und Fortbildung des Verfassungsrechts sind ein Teil auch des politischen Prozesses, an dem alle interessiert und beteiligt sind.“ Darüber hinaus bekräftigt etwa Carvalho Netto, Revista de Direito Comparado 3/1999, 473, 481, dass die Grundrechte, um sich an die hochgradig komplexen Gesellschaften der postindustriellen Ära anzupassen, auch einen prozesshaften Beiklang erhalten, wodurch die Idee eines partizipativen, pluralistischen und offenen Rechts unterbreitet wird, in dem die Bürger an der öffentlichen Debatte teilhaben sollen, welche die Demokratie des neuen Paradigmas gestaltet. In zahlreichen Rechtssystemen zeigt sich zudem ein verstärktes Aufkommen von „Rechten dritter Generation“, nämlich die sog. „diffusen“ und „kollektiven“ Rechte, deren Inhaber im Fall einer Schädigung nicht klar und deutlich bestimmt werden können. Dazu zählen z. B. Umweltrechte und Verbraucherrechte. Die brasilianische Verfassung von 1988 statuierte in diesem Sinne nicht nur solche Rechte, sondern auch Sammelklagen oder Gruppenklagen zu ihrer Sicherung. 116 Zum Ganzen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 241 ff. 117 s. dazu Vesting, Der Staat 41/2002, 73, 79 f. 118 Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 42. Es gilt von daher die Konzeptionen zu problematisieren, die die Ebene der Auslegung und die der Anwendung absolut trennen möchten. Vgl. die Kritik an Kelsens Theorie (B.II.3.) und darüber hinaus an der

IV. Auf dem Weg zum demokratischen Rechtsstaat

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struktion des konkreten Falles, argumentativ durch das gerichtliche Verfahren entwickelt, als integrativer Teil der eigenen Konkretisierung oder Bestimmung der anzuwendenden Norm zu sehen. Hervorgehoben wird also die Komplexität hinsichtlich der Rechtsprechungsaktivität im Paradigma des demokratischen Rechtsstaates. Angesichts der bewussten strukturellen Unbestimmtheit des Rechts äußert sich ein Zuwachs an Forderungen hinsichtlich der Stellung des Richters. Diese zeigen sich nicht nur gegenüber den juristischen Texten, aus denen eine Entscheidung hergeleitet wird, sondern auch gegenüber dem konkreten Fall und seinen faktischen Tatbeständen, die gleichermaßen interpretiert werden und in Wirklichkeit notwendigerweise zum Prozess der normativen Verdichtung oder Anwendung des Rechts gehören. Die Rechtsentscheidungen müssen auf konstruktive Weise die zugrunde liegenden Prinzipien und Regeln des geltenden Rechts neu herausarbeiten, um so dem Glauben sowohl an die Rechtmäßigkeit (Rechtssicherheit) als auch an die gefühlsmäßige Verwirklichung der Gerechtigkeit, die sich von der Angemessenheit der Entscheidung hinsichtlich der Besonderheiten (einzigartig und nicht wiederholbar) des konkreten Falles ableiten lässt, eine Richtung zu geben und zu stärken.119 Hierbei handelt es sich genau um den Leitfaden der interpretativen Theorien des demokratischen Rechtsstaates. Die Diskussionen zur Rechtsprechungsaktivität im prozeduralen Rechtsparadigma enden jedoch in keiner Weise mit der Anerkennung der Existenz einer Rechtsordnung, welche Prinzipien beinhaltet. Ganz im Gegenteil lässt sich sogar ein wahrer Wettbewerb zwischen verschiedenen Sichtweisen darüber, wie mit dem unbestimmten Charakter des Rechts – insbesondere der Grundrechte – umzugehen sei, feststellen. Solche Entwürfe finden sich weiterhin in den Diskussionen über Grenzen und Möglichkeiten der Rechtsprechung gegenüber der Gesetzgebung, d. h. in der Interpretation bzw. Gestaltung des Prinzips der Gewaltenteilung im demokratischen Rechtsstaat. Ausgehend von der Analyse der Güterabwägungsmethode werden an dieser Stelle einige der Vorschläge bearbeitet, mit dem Ziel, zu einer rechtsstaatlich adäquaten Interpretation des Gewaltenteilungsgrundsatzes beizutragen. Die Abwägungsdogmatik setzt sich mit der Unbestimmtheit des Rechts auseinander und stellt einen Versuch dar, das positivistische geschlossene Regelmodell zu überwinden. Insoweit steht sie im Zusammenhang mit der Anerkennung von Prinzipien und wird ferner stets einzelfallbezogen angewendet. Inwieweit sie eine adäquate Garantie der Grundrechte und des Demokratieprinzips bringt, lässt sich jedoch in Frage stellen.

additiven Verknüpfung von Semantik und juristischer Argumentation in Alexys Modell (E.III.5.). 119 Carvalho Netto, Revista de Direito Comparado 3/1999, 473, 481.

C. Konturen der verfassungsgerichtlichen Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung im Grundrechtsbereich Das BVerfG hat die Abwägung zwar nicht erfunden; es versucht aber in diesem Begriff, „der zunächst nur eine methodische und dogmatische Verlegenheit bezeichnet, einen Schlüssel zur Methode und Dogmatik des Verfassungsrechts zu finden“.1 Die Abwägung im Verfassungsrecht hängt in der Tat mit den zwei folgenreichsten Neuerungen in der Grundrechtsdogmatik der Nachkriegszeit eng zusammen: die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und die Entdeckung des objektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte – und dies ungeachtet der Tatsache, dass beide Entwicklungen nicht gerade in dieselbe Richtung drängen.2 Das Abwägungsdenken steht in diesem Sinne zum einen bekanntlich in Beziehung mit dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis, wonach die Grundrechtsbestimmungen nicht nur subjektive Rechte, sondern auch Wertentscheidungen bzw. eine objektive Wertordnung begründen.3 Aus der objektiven Dimension der Grundrechte wurden nämlich die im Privatrecht mittelbare Drittwirkung der Grundrechte sowie eine breite Palette von Grundrechtsfunktionen hergeleitet,4 die anscheinend zu Grundrechtskollisionen und damit zu Abwägungen führen – sei es zwischen den Grundrechtspositionen verschiedener Beteiligter, sei es überhaupt zur Konkretisierung der einzelnen Funktionen.

1

Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 13. So, während der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Rahmen des altbekannten negatorischen Grundrechtsschutzes zum Zuge kommt und als Verstärkung der gewohnten Abwehrfunktion dient, werden den Grundrechten durch das objektiv-rechtliche Verständnis ganz neue Anwendungsgebiete erschlossen. s. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 221 f. 3 In der Rechtsprechung wird in verschiedenen Wendungen von Grundrechten als Wertentscheidungen, objektiven Werten, Wertmaßstäben, objektiven Grundsatznormen, wertentscheidenden Grundsatznormen, objektiv-rechtlichen Prinzipien und ähnlichem gesprochen, jedoch ist immer gemeint: objektive Prinzipien im Unterschied zu subjektiven Rechten. Vgl. Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 45. Die wechselnde Terminologie ist bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 33, nachgewiesen. 4 Als Leitentscheidungen des BVerfG können gelten für die Drittwirkung BVerfGE 7, 198 (Lüth); für Leistungs- und Teilhaberechte E 33, 303 (numerus clausus I); für Schutzpflichten E 39, 1 (Schwangerschaftsabbruch I); für Verfahrensgarantien E 53, 30 (Mülheim-Kärlich) und für Organisationsprinzipien E 57, 295 (3. Rundfunkentscheidung). 2

C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

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Verfassungsrechtlich ist die Abwägung allerdings dadurch geadelt, dass sie sich als drittes Element des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit darstellt.5 Dieser Grundsatz hat seinerseits auch eine relativ junge, dennoch ungeheure Karriere auf der Verfassungsebene gemacht. Aus den Niederungen des deutschen Polizeirechts, wo er lediglich einen rechtmäßigen Zweck und ein zur Erreichung des Zwecks geeignetes und erforderliches Mittel verlangte, wurde er seit den 1950er-Jahren zum ungeschriebenen Grundsatz mit Verfassungsrang6, der heute als maßgeblicher Verfassungsmaßstab dient und mittlerweile auch weltweit als Exportschlager gilt.7 In diesem Kontext gewinnt er ferner den neuen Bestandteil: die Verhältnismäßigkeit i. e. S. bzw. das Abwägungsgebot. Die Etablierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – auch Übermaßverbot genannt – ist so suggestiv, dass ihm inzwischen auch ein Untermaßverbot an die Seite gestellt wurde, welches der Kontrolle des nicht (ausreichend) handelnden Staates dienen soll. Der Grundsatz verdankt diese erstaunliche Karriere v. a. dem BVerfG. Seine Rechtsprechung zu den Grundrechten ist durch und durch Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung und die Gesetzesvorbehalte in Grundrechtsbestimmungen sind dabei zum „Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes“ geworden.8 Bereits seit den 1970er-Jahren kann eine weitgehende Übereinstimmung (trotz nicht verstummter kritischer Stimmen) dahingehend registriert werden, dass das Übermaßverbot drei Bestandteile beinhaltet: Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit i. e. S. Entsprechend argumentiert auch das BVerfG in zahl5 Obwohl die Abwägung im Verfassungsrecht hauptsächlich als dritte Stufe des Verhältnismäßigkeitsgebots in Erscheinung tritt, werden beide Begriffe vom BVerfG in ihrer Beziehung zueinander nicht immer klar bestimmt, sie ergänzen und überschneiden einander in verschiedenen Weisen. Das BVerfG stellt nämlich sowohl das Abwägungsgebot über die Verhältnismäßigkeitsprüfung als auch umgekehrt diese über jenes. s. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 56. Zwar wurde die Abwägung in der Wertordnung des GG überwiegend in Überprüfung richterlicher Rechtsfindung entwickelt, während die Abwägung unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit regelmäßig der Kontrolle des Gesetzgebers zuzuordnen war. Ebd., S. 48; auch Stern, StR III/2, § 84, S. 817. Diese Tendenz hat aber inzwischen stark nachgelassen; denn zum einen spricht das Gericht oft von Wertentscheidungen o. Ä. auch im Zusammenhang mit der Verhältnismäßigkeit und bei der Kontrolle der Gesetzgebung (s. u. C.II., III. und IV.), und zum anderen verknüpft es nicht selten die Abwägung und das Verhältnismäßigkeitsgebot auch bei der Überprüfung der richterlichen Rechtsfindung – s. etwa BVerfGE 35, 202 (232) (Lebach); 59, 231 (265 ff.) (Freie Mitarbeiter); 80, 367 (378 f.) (Tagebuch); 85, 248 (257 ff.) (Ärztliches Werbeverbot); 89, 1 (9 ff.) (Besitzrecht des Mieters). 6 In den 1960er-Jahren erklärte das BVerfG seinen verfassungsrechtlichen Rang: BVerfGE 19, 342 (348 f.) (Wencker). Daran wird auch in späteren Entscheidungen festgehalten. s. etwa BVerfGE 23, 127 (133) (Zeugen Jehovas); 30, 173 (199) (Mephisto); 65, 1 (44) (Volkszählung); 76, 1 (50) (Familiennachzug). 7 Vgl. Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 26; Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445 f. 8 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445. Stern, StR III/2, § 84, S. 763 f., beobachtet in diesem Sinne, dass kaum eine verfassungsgerichtliche Überprüfung eines Gesetzes ohne eine Heranziehung dieses Grundsatzes auskommt – mit zahlreichen Nachweisen aus der Judikatur in S. 763 f., 788, Fn. 7 und 159.

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

reichen Entscheidungen mit diesen einzelnen Elementen.9 In seiner Rechtsprechung wird jedoch nicht immer sorgfältig nach den drei Bestandteilen klar unterschieden. Stattdessen wird bisweilen nur pauschal auf den Grundsatz als solchen oder auf eine Abwägung nach diesem Grundsatz verwiesen.10 Dabei kann außerdem ebenso beobachtet werden, dass unter dem Stichwort der Verhältnismäßigkeit i. e. S. oft auch Prüfungen anderer Stufen der Rechtfertigungsstruktur (insbesondere Erforderlichkeitsprüfungen) zu finden sind.11 Ähnliches gilt für die Heranziehung der objektiven Dimension der Grundrechte. Auch wenn zahlreiche Entscheidungen mit dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis oder auch mit anderen Funktionen argumentieren, so wird doch die große Mehrheit aller Grundrechtsfragen wohl abwehrrechtlich diskutiert und entschieden.12 Nicht, dass die Schutzpflicht z. B. oder die Abwägung nicht der Dreh- und Angelpunkt von mehreren Entscheidungen wären; aber im Allgemeinen kann beobachtet werden, dass das Gericht mehr davon gesprochen als daran geprüft hat. Im Folgenden wird versucht, die Entwicklung der Abwägungsrechtsprechung in groben Zügen nachzuzeichnen. Eine umfassende Behandlung der inzwischen kaum mehr überschaubaren Entscheidungen, die Bezug auf die Abwägung oder auf das Wertdenken nehmen, ist nicht beabsichtigt.13 Vielmehr ist die Auswahl nur exemplarisch bzw. als ein erstes Anschauungsmaterial gedacht. Die Diskussion wird in diesem Sinne auch in Auseinandersetzung mit dem Schrifttum durchgeführt. Der detaillierten Darstellung einiger wichtiger Entscheidungen folgt allerdings auch ein Überblick auf die Entwicklung der jeweiligen Argumentationsfiguren (insbesondere der mittelbaren Drittwirkung, der verfassungsimmanenten Schranken und der Schutzpflicht). Im Anschluss daran wird schließlich die Rezeption des Wertdenkens und des Abwägungsmodells im brasilianischen Verfassungsrecht erörtert. 9

Vgl. etwa BVerfGE 30, 292 (315 ff.) (Erdölbevorratung); 37, 1 (21 ff.) (Weinwirtschaftsabgabe); 39, 210 (230 ff.) (Mühlenstrukturgesetz); 39, 210 (208 ff.) (Mühlenstrukturgesetz); 80, 137 (159 ff.) (Reiten im Walde); 81, 156 (188 ff.) (Arbeitsförderungsgesetz 1981); 109, 279 (355 ff.) (Großer Lauschangriff); 120, 274 (318 ff.) (Online-Durchsuchung). 10 s. etwa BVerfGE 39, 1 (47) (Schwangerschaftsabbruch I); 69, 1 (35 f., 38 f.) (Kriegsdienstverweigerung II); 76, 256 (359 f.) (Beamtenversorgung); 80, 244 (255) (Vereinsverbot); 80, 367 (379 f.) (Tagebuch); 83, 201 (212) (Bundesberggesetz). 11 So der durchgängige Befund für die Entscheidungen des BVerfG bis zum 35. Bd. bei Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 17 – 126. s. auch ders., in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 462, wo der Autor ferner beobachtet, dass auch Erörterungen zum Gleichheitssatz oder zum Vertrauensschutz in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e. S. hineingezogen werden (S. 459 f., Fn. 31, 32). Dieser Befund sollte nicht verwundern. Denn die Verhältnismäßigkeit i. e. S. ist bekanntlich das unbestimmtere Kriterium des Übermaßverbots. Wie weiter unten (F) behandelt wird, erscheint der Durchgriff auf die Abwägung als der „den Entscheidungsspielraum weiter öffnende Weg“. Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 32. 12 s. u. C.I. und C.IV. sowie die umfangreiche Erfassung der Grundrechtsrechtsprechung zu mehrpoligen Rechtsverhältnissen in Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 227 ff. 13 Eine umfangreiche Erfassung der älteren Entscheidungen des BVerfG findet sich in Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 17 ff., und Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts, S. 28, 43 ff.

I. Drittwirkung und die Grundrechte in der Wertordnung des GG

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I. Drittwirkung und die Grundrechte in der Wertordnung des GG und unter dem Abwägungsgebot Die Rechtsprechung, in der das BVerfG die Grundrechte unter das Abwägungsgebot stellt, hat als Auftakt das Lüth-Urteil. Mit ihm fängt das Gericht zugleich an, die Grundrechte in der Wertordnung des GG zu erfassen.14 Das Urteil wurde am 15. 01. 1958 verkündet und ist freilich eine der wichtigsten Entscheidungen der Grundrechtsjudikatur des BVerfG. Es formte das Grundrecht der Meinungsfreiheit, festigte den Gesetzesvorrang, begründete die Grundrechtswirkung auf das Privatrecht und entdeckte die in Art. 1 – 19 verkörperte „objektive Wertordnung“, die „alle Bereiche des Rechts“ beeinflusst.15 Es hat somit eine fundamentale Bedeutung für die Frage der Drittwirkung, und seitdem hat die Abwägungsmethode in der Rechtsprechung des BVerfG einen festen Platz gefunden.

1. Lüth-Urteil (1958) Der damalige Senatsdirektor der Staatlichen Pressestelle Hamburg, Erich Lüth, rief 1950 öffentlich zum Boykott des Films „Unsterbliche Geliebte“ auf, der unter der Regie Veit Harlans gedreht wurde, eines in der nationalsozialistischen Filmproduktion des Dritten Reichs führenden Regisseurs.16 Daraufhin klagten die Produktions- und Verleihfirma dieses Films gegen Lüth auf Unterlassung weiterer Boykottaufrufe aus § 826 BGB. Das Landgericht Hamburg ordnete Lüths Vorgehen als eine sittenwidrige und somit unerlaubte Handlung im Sinne des § 826 BGB ein und verurteilte Lüth, bei Vermeidung einer Geld- oder Haftstrafe es zu unterlassen, zum Boykott des Films Harlans aufzufordern: Das Vorgehen Lüths verstoße gegen „die demokratische Rechts- und Sittenauffassung des deutschen Volkes“.17 Gegen diese Verurteilung wandte sich Lüth mit einer Verfassungsbeschwerde an das BVerfG. Der erste Senat des BVerfG ging zunächst der grundsätzlichen Frage nach, ob Grundrechtsnormen auf das bürgerliche Recht einwirken und wie diese Wirkung im Einzelnen gedacht werden muss – d. h. inwieweit Grundrechte auch für das Verhältnis der Bürger zueinander eine Bedeutung haben. Hierbei erkannte das Gericht 14

Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 17 f. „Zwar konnte das BVerfG im LüthUrteil bereits auf frühere Entscheidungen verweisen, in denen es die freiheitliche demokratische Grundordnung überhöhend als wertgebundene Ordnung oder Wertordnung bezeichnet hatte. Aber was damals als schmückendes Beiwerk gedient hatte, wurde im Lüth-Urteil zum tragenden Argument, zum Mittel einer verfassungsrechtlichen Gewichtung des Gebrauchmachens von grundrechtlichen Freiheiten.“ 15 Fiedler, in: Menzel, Verfassungsrechtsprechung, S. 97. 16 Im Jahr 1940 drehte Harlan z. B. im Auftrag von Joseph Goebbels den antisemitischen Propagandafilm „Jud Süß“. Er wurde allerdings vom Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit freigesprochen. 17 BVerfGE 7, 198 (201).

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

die Grundrechte als in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat an, fügte jedoch hinzu: „Ebenso richtig ist aber, dass das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will (…), in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat (…). Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muss als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten.“18 Durch die Erkenntnis der objektiv-verfassungsrechtlichen Bedeutung der Normierung von Grundrechten in der Errichtung einer „objektiven Wertordnung“ wurde die grundrechtskonforme Auslegung, die Ausstrahlungswirkung und damit im Privatrecht die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte begründet. Indem die einzelnen Grundrechte als objektive Wertentscheidung und ihre Gesamtheit als eine Wertordnung verstanden werden, müsse sich also das einfache Recht und gerade auch das Privatrecht in Auslegung und Anwendung von ihnen beeinflussen lassen. Die Problematik des Verhältnisses der Grundrechte zum Privatrecht führe darüber hinaus im Falle des Grundrechts der freien Meinungsäußerung zur Frage, wie sich die grundgesetzlich garantierte Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) zu den Schranken der „allgemeinen Gesetze“ (Art. 5 Abs. 2 GG) verhalte. Die Relation zwischen Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 GG sowie die Kollision zwischen der Meinungsfreiheit Lüths und den Interessen Harlans bzw. der mitbetroffenen Filmgesellschaften wird vom BVerfG in zwei Hauptschritten gelöst: Zum einen durch eine gewissermaßen abstrakte Abwägung zur Feststellung, ob ein allgemeines Gesetz vorliegt; und zum anderen mittels einer konkreten Abwägung zur Ermittlung, ob das im allgemeinen Gesetz geschützte Interesse tatsächlich höheren Rang beanspruchen kann. Allgemeine Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG seien nach Auffassung des BVerfG alle die Gesetze, die nicht eine Meinung als solche verböten, die vielmehr dem Schutze eines Gemeinschaftswerts dienten, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang habe.19 Angesichts der grundlegenden Bedeutung, die gerade dem Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit für den freiheitlich-demokratischen Staat zukomme, sei allerdings das allgemeine Gesetz in seiner dieses Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt zu interpretieren (Wechselwirkung).20 Diese eingeschränkte Auslegung des allgemeinen Gesetzes bzw. die Beurteilung, ob ein überwiegendes Interesse anderer vorliege, erfordere 18

BVerfGE 7, 198 (205). BVerfGE 7, 198 (209 f.). Zur Gegenüberstellung vom formalen und materialen Verständnis der Allgemeinheit der Gesetze vgl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 22 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 144 ff., Rn. 588 ff. Zu dem von Smend entwickelten materialen Verständnis s. u. E.I. 20 Es finde also „eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die ,allgemeinen Gesetze‘ zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts (…) ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.“ BVerfGE 7, 198 (208 f.). 19

I. Drittwirkung und die Grundrechte in der Wertordnung des GG

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dann den zweiten, konkreten Abwägungsschritt. In den Worten des Gerichts: „Es wird deshalb eine ,Güterabwägung‘ erforderlich: Das Recht zur Meinungsäußerung muss zurücktreten, wenn schutzwürdige Interessen eines anderen von höherem Rang durch die Betätigung der Meinungsfreiheit verletzt würden. Ob solche überwiegenden Interessen anderer vorliegen, ist auf Grund aller Umstände des Falles zu ermitteln.“21 Die hierbei erforderliche Abwägung müsse ferner innerhalb der in den Grundrechten zu findenden Wertordnung, die zugleich eine Wertrangordnung sei, vorgenommen werden.22 § 826 BGB, der grundsätzlich alle Rechte und Güter gegen sittenwidrige Angriffe schütze, sei dem BVerfG zufolge als ein allgemeines Gesetz, d. h. Schranke im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, anzusehen. Zu prüfen war aber noch, ob der Zivilrichter jeweils die Bedeutung des Grundrechts gegenüber dem Wert des im allgemeinen Gesetz geschützten Rechtsguts richtig abwog. Dabei beurteilte das BVerfG die Motive und Zwecke Lüths und prüfte, ob er bei der Verfolgung seiner Ziele notwendig und angemessen vorgegangen war.23 Der Beschwerdeführer verfolgte keine eigenen Interessen wirtschaftlicher Art. Das Ziel seiner Äußerungen war vielmehr, Harlan als repräsentativen Vertreter des deutschen Films auszuschalten, weil er befürchtet habe, dass das Wiederauftreten Harlans – v. a. im Ausland – so gedeutet werden könne, als habe sich im deutschen Kulturleben gegenüber der Nazi-Zeit nichts geändert. Das Gericht stellte außerdem fest, dass Lüths Äußerungen im Rahmen seiner allgemeinen politischen und kulturpolitischen Bestrebungen gesehen werden müssten. Der Beschwerdeführer sei für seine Bestrebungen um Wiederherstellung eines wahren Friedens mit dem jüdischen Volke bekannt. Er habe darüber hinaus unter den gegebenen Umständen sogar davon ausgehen dürfen, dass man in der Öffentlichkeit gerade von ihm eine Äußerung dazu erwartete. Die beruflichen Interessen Harlans und die wirtschaftlichen Interessen der Filmgesellschaften überwögen im konkreten Fall die Meinungsäußerungsfreiheit von Lüth nicht. Denn erstens müssten private und namentlich wirtschaftliche Interessen Einzelner grundsätzlich zurücktreten, wenn es um die Meinungsbildung einer für das Gemeinwohl wichtigen Frage gehe. Derjenige, der sich durch die öffentliche Äußerung eines andern verletzt fühle, könne ferner ebenfalls vor der Öffentlichkeit erwidern. Von einer Vernichtung der künstlerischen und menschlichen Entfaltungsfreiheit Harlans könne schließlich nicht gesprochen werden. Lüth standen keinerlei Zwangsmittel zu Gebote, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen; er konnte nur an das Verantwortungsbewusstsein der von ihm Angesprochenen appellieren und musste es ihrer freien Willensentschließung überlassen, 21

BVerfGE 7, 198 (210 f.). Hervorhebung durch die Verfasserin. BVerfGE 7, 198 (215). Trotz dieser Formulierung setzt das BVerfG weder im Lüth-Urteil noch in der weiteren Entwicklung seiner Rechtsprechung eine Rangordnung der Grundrechte selbst fest. Das GG und seine Grundrechte wurden also in seiner Rechtsprechung nie zu einer Wertrangordnung. s. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 19, 43. 23 Zum Folgenden BVerfGE 7, 198 (215 ff.). 22

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

ob sie ihm folgen wollten.24 Das BVerfG kam somit zu dem Schluss, dass Lüth durch die Entscheidung des Landgerichts Hamburg in seinem Grundrecht der Meinungsfreiheit verletzt wurde, und gab der Verfassungsbeschwerde statt.

2. Anmerkung und Weiterentwicklung: Abwägungs- und Drittwirkungsrechtsprechung Mit dem Lüth-Urteil eröffnet das BVerfG die Rechtsprechung, in der es mindestens verbal in der Gesamtheit der Grundrechte eine Wertordnung sehen und diese mit dem Abwägungsgebot verknüpfen möchte. Insoweit steht das Urteil sowohl mit der Entwicklung des objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnisses als auch mit der Entfaltung des Abwägungsgebots und damit auch des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Beziehung. Nachdem Aspekte dieses Grundsatzes im Lüth-Urteil herangezogen wurden,25 um einen grundrechtlichen Maßstab für die Rechtsanwendung zu finden, übertrug das Gericht diese Überlegung spätestens26 im Apothekenurteil 1958 auf den Gesetzgeber. Der Grundsatz wurde hierbei grundlegend bei der Begrenzung der Berufsfreiheit des Art. 12 GG herangezogen und hat somit dem Gericht ein Mittel an die Hand gegeben, die Grundrechtsbindung gerade auch des (zu Eingriffen ermächtigten) Gesetzgebers zu prüfen.27 Im Zusammenhang mit der hier entwickelten Dreistufentheorie28 findet man auch das Verlangen nach Ab24

BVerfGE 7, 198 (221). Diese finden sich sowohl in der Frage, ob das Mittel des Beschwerdeführers notwendig und angemessen war, als auch in den Überlegungen zu einer Wechselwirkung. Die dabei entwickelte Wechselwirkungslehre sei nach Ipsen, Staatsrecht II, S. 141, eine auf die Meinungsfreiheit bezogene Frühform des Übermaßverbots. Ein allgemeines Gesetz könne die Meinungsfreiheit nicht beliebig, sondern nur unter Wahrung eines die Angemessenheit im Sinne einer Güterabwägung einschließenden Verhältnismäßigkeitsgebots beschränken. 26 Das Gericht erwähnte allerdings schon 1954 den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz flüchtig (BVerfGE 3, 383/399), entwickelte damals aber noch nicht seinen Inhalt. Zur Suche nach Heranziehungen von Aspekten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gegenüber dem Gesetzgeber schon vor dem Apothekenurteil vgl. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 143 ff. 27 In diesem Fall überprüfte und verneinte das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit einer bayerischen Regelung, welche die Erteilung der Betriebserlaubnis zur Eröffnung neuer Apotheken von der Existenz öffentlichen Interesses an der Einrichtung und von der Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage der neuen und der benachbarten bestehenden Apotheken abhängig machte. Ziel der Niederlassungsbeschränkung war die Erhaltung der Volksgesundheit gewesen, die der Gesetzgeber bei freier Konkurrenz vieler Apotheken gefährdet sah. Scharfe Konkurrenz könne demnach u. a. zu schädlicher Tablettensucht führen. 28 BVerfGE 7, 377 (404 ff.). Der Grundsatz wurde zwar hier noch nicht ausdrücklich genannt. Die Stufentheorie wird jedoch rückblickend als „das Ergebnis strikter Anwendung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit“ gedeutet (BVerfGE 13, 97/104 – Befähigungsnachweis). Sie geht davon aus, dass für berufsbezogene Regelungen unterschiedliche Anforderungen gelten, je nachdem, in welchen Bereich des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG eingegriffen wird. Eingriffe in die Berufsfreiheit sind demnach grundsätzlich als reine Berufsausübungsregelungen (1. Stufe) oder als Berufswahlregelung zu qualifizieren, wobei bei Letzterer zwischen 25

I. Drittwirkung und die Grundrechte in der Wertordnung des GG

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wägungen der jeweils einschlägigen öffentlichen und privaten Güter oder Interessen, die Unterscheidung von überragend wichtigen und sonstigen Gemeinschaftsgütern, die Kennzeichnung des Art. 12 Abs. 1 GG als eine Wertentscheidung sowie ein Immanenzverständnis der Regelungsbefugnis.29 Mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat das BVerfG eine Lösung für das Problem der Grundrechtsbindung aller Gewalten gefunden, die kaum überschätzt werden kann; sie hat nämlich dem Abwehrrecht die spezifische Leistungsfähigkeit vermittelt, mit der es heute verknüpft wird.30 In der Folge wurde dieser Grundsatz in der Tat zum wohl wichtigsten Element der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung und genau in diesem Kontext wird er, wie erwähnt, mit dem Abwägungsgebot verknüpft. Doch untersucht man die Begründungen der Entscheidungen näher, die Bezug zur Abwägungsmethode nehmen, dann lässt sich feststellen, dass das BVerfG insgesamt mehr davon geredet als daran überprüft hat.31 So waren bereits im Apothekenurteil die Überlegungen des Gerichts zur Verhältnismäßigkeit i. e. S. nicht entscheidungserheblich, sondern vielmehr die mangelnde Erforderlichkeit oder gar schon mangelnde Geeignetheit des bayerischen Apothekengesetzes.32 Diese Feststellung gilt nämlich nicht nur für die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers, sondern auch für die Überprüfung richterlicher Rechtsfindung. subjektiven (2. Stufe) und objektiven Zulassungsbeschränkungen (3. Stufe) differenziert wird. Die Anforderungen an die Rechtfertigung des Eingriffs steigen mit seiner Zuordnung zu den jeweiligen Stufen. Je nach Stufe wird dann das Vorhandensein von vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls, wichtigem Gemeinschaftsgut bzw. überragend wichtigem Gemeinschaftsgut verlangt. So erklärte das Gericht: „Eine Regelung (…), die schon die Aufnahme der Berufstätigkeit von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängig macht und die damit die Freiheit der Berufswahl berührt, ist nur gerechtfertigt, soweit dadurch ein überragendes Gemeinschaftsgut, das der Freiheit des Einzelnen vorgeht, geschützt werden soll.“ BVerfGE 7, 377 (406). Die Stufenlehre wurde ferner erst einmal ausgebaut, dann aber gewissermaßen verabschiedet. s. dazu Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 57 ff.; Stern, StR III/2, § 84, S. 801 ff. 29 Vgl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 51. Das Gericht deutete nämlich Art. 12 Abs. 1 als ein einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit und erstreckte die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers bezüglich der Berufsausübung auch auf die Berufswahl. 30 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 46. 31 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 462. Vgl. die umfangreiche Erfassung der Abwägungsrechtsprechung des BVerfG bis zum Bd. 35 in ders., Abwägung im Verfassungsrecht, S. 17 – 126. s. ferner z. B. BVerfGE 79, 256 (272 ff.) (Kenntnis der eigenen Abstammung); 97, 228 (262 f.) (Kurzberichterstattung); 100, 313 (384 f.) (Telekommunikationsüberwachung I); 120, 274 (322 ff.) (Online-Durchsuchung). 32 Das Gericht bestritt nämlich u. a. den empirischen Zusammenhang zwischen Niederlassungsfreiheit und Gefährdung der Volksgesundheit sowie entsprechend die Aussicht, dem Medikamentenmissbrauch durch die Niederlassungsbeschränkung entgegenzuwirken. BVerfGE 7, 377 (415 ff., 431 ff.) (Apothekenurteil). Vgl. auch Schlink, EuGRZ 1984, 457, 460 f. Soweit der Tablettenmissbrauch überhaupt durch staatliche Eingriffe zu steuern sei, sei er auf andere, nicht weniger erfolgversprechende, jedoch weniger einschneidende Weise zu steuern.

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

Auch wenn im Lüth-Urteil doch eine gewisse Bewertung der Qualitäten des Grundrechtsgebrauchs33 zu finden ist, so gewichtet das Gericht weder hier noch in den nachfolgenden Judikaten die Grundrechte selbst und hat auch nie eine Wertrangordnung der Grundrechte festgelegt.34 In den folgenden Jahren versuchte es ferner, den im Lüth-Urteil entwickelten Ansätzen mehr Sachlichkeit zu verleihen, sodass eine „Entwicklung von fragwürdig an einer unausgewiesenen Vorstellung von rechtem Gebrauch grundrechtlicher Freiheit orientierten Bewertungen und Gewichtungen zu sachhaltigen, in eingehender Analyse der tatsächlichen Konfliktsituation“ zu überprüfenden Kriterien zu beobachten ist.35 Darüber hinaus nimmt das Gericht trotz des Rückgriffs auf das Wertdenken sowohl im Lüth-Urteil als auch in den folgenden Entscheidungen zum Privatrecht wohl die Existenz subjektiver Rechte an.36 Wieso dann das Reden von objektiven Werten? Zeigt die Drittwirkungsrechtsprechung, dass das Abwehrrecht nicht imstande ist, die privatrechtlichen Konstellationen zu erfassen, sodass die Grundrechte hierbei als abwägungsrelevante Werte zu verstehen sind?37 33

BVerfGE 7, 198 (218, 229) (Lüth). Vgl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 19 ff., 43. Im Lüth-Urteil hat das Gericht nicht wirklich eine Abwägung zwischen dem Rang des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung und dem Wert des im „allgemeinen Gesetz“ geschützten Rechtsguts betrieben. Der Wert des Schutzes vor sittenwidriger Handlung wurde nicht in Frage gestellt, sondern nur die Zuordnung von Lüths Handlungen als sittenwidrig. 35 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 29. Exemplarisch in diesem Sinne ist der spiegelbildliche Blinkfüer-Beschluss (BVerfGE 25, 256). Nach dem Berliner Mauerbau hatten marktbeherrschende Verlagshäuser, u. a. der Axel-Springer-Verlag, in einem Rundschreiben die Zeitschriftenhändler aufgefordert, keine Zeitung oder Magazine mehr zu vertreiben, die das Rundfunk- und Fernsehprogramm der DDR enthielten. Den Boykottbrechern wurde dabei mit Liefersperren gedroht. Der Herausgeber der kleinen Zeitung „Blinkfüer“, die entsprechende Hinweise auf die DDR-Programme erhielt, wandte sich mit einer Schadenersatzklage an die Zivilgerichte. Gegen die abweisende Entscheidung des BGH legte er unter Berufung auf Art. 2, 3 und 5 GG Verfassungsbeschwerde ein. Das BVerfG nahm dabei nicht einmal eine Grundrechtsgebrauchsbewertung vor, sondern qualifizierte die Androhung der Liefersperre als unzulässiges Mittel im geistigen Kampf der Meinung, auf das sich die Gewährleistung der Meinungsfreiheit nicht erstrecke. Der Fall wird somit an der abwehrrechtlichen Kategorie des Schutzbereichs entschieden: Die Meinungsfreiheit decke die politische Einflussnahme mit geistigen Mitteln (inkl. Boykottaufrufe), nicht aber den wirtschaftlichen Druck des Zeitungskonzerns gegen den von ihm wirtschaftlich abhängigen Einzelhändler. BVerfGE 25, 256 (264 ff.) (Blinkfüer). Vgl. dazu auch Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 261. 36 Verfehlt der Richter die Maßstäbe der mittelbaren Grundrechtsbindung und „beruht sein Urteil auf der Außerachtlassung dieses verfassungsrechtlichen Einflusses auf die zivilrechtlichen Normen, so verstößt er nicht nur gegen objektives Verfassungsrecht, indem er den Gehalt der Grundrechtsnorm (als objektiver Norm) verkennt, er verletzt vielmehr als Träger öffentlicher Gewalt durch sein Urteil das Grundrecht, auf dessen Beachtung auch durch die rechtsprechende Gewalt der Bürger einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat.“ BVerfGE 7, 198 (206 f.) (Lüth). Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte schließt das subjektive Recht des Bürgers nicht aus. Sie verhalten sich vielmehr komplementär. Vgl. ferner BVerfGE 50, 290 (337) (Mitbestimmung); 57, 295 (320) (3. Rundfunkentscheidung). 37 Das Wertdenken wurde in der Tat in der Rechtsprechung des BVerfG zunächst eingeführt, um das Problem der Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht, d. h. das Drittwir34

I. Drittwirkung und die Grundrechte in der Wertordnung des GG

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Das Lüth-Urteil ist das Paradigma der Drittwirkungsrechtsprechung.38 Seitdem werden privatrechtliche Gesetze und das Verhältnis der Bürger untereinander stets im Lichte der Grundrechte gesehen. Auch wenn das Gericht im Lüth-Urteil die grundsätzliche Frage, wie Grundrechtswirkung auf das Privatrecht im Einzelnen gedacht werden muss, nicht „in vollem Umfang“ erörtern will, so bezieht es doch schon damals erkennbar Stellung gegen die Vertreter einer Grundrechtsneutralität des Privatrechts und gegen die Befürworter einer unmittelbaren Drittwirkung im Sinne Nipperdeys und des BAG.39 Ausschlaggebend für die Entscheidungsbegründung war darüber hinaus im Ergebnis wohl die Lehre der mittelbaren Drittwirkung. Im weiteren Verlauf der Rechtsprechung bestätigte sich die Vermutung, dass sich das Gericht gegen die unmittelbare und auf die mittelbare Grundrechtsbindung festlegen will.40 In der mittelbaren Grundrechtswirkung wird inzwischen auch allgemein das Charakteristikum der Drittwirkungsrechtsprechung gesehen.41 Genau in diesem Zusammenhang möchte das BVerfG die einzelnen Grundrechte als Werte und ihre Gesamtheit als eine objektive Wertordnung verstehen, welche – ähnlich wie in Dürigs Lehre – den Ausgangspunkt für die Erfassung des Drittwirkungsproblem, zu lösen. Vgl. dazu Schlink, EuGRZ 1984, 457, 463 f.; ders., Osaka University Law Review 1992, 41, 46. 38 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 238. Wenn das Gericht über die Auswirkungen der Grundrechte auf bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten zu entscheiden hat, verweist es nach wie vor sehr häufig auf die Ausführungen vom Lüth-Urteil. s. etwa BVerfGE 73, 261 (269) (Sozialplan); 85, 1 (13) (Bayer-Aktionäre); 86, 1 (11) (Titanic); 89, 214 (214) (Bürgschaftsverträge); 90, 27 (33) (Parabolantenne I); 99, 185 (196) (Scientology); 101, 361 (388) (Caroline von Monaco II). 39 BVerfGE 7, 198 (204). Zu den Positionen Nipperdeys und Dürigs s. o. B.III.1. 40 Exemplarisch in diesem Sinne BVerfGE 66, 116 (135) (Springer/Wallraff). Vgl. auch BVerfGE 99, 185 (194) (Scientology). s. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 239 ff., der ferner beobachtet, dass das BVerfG nicht gegen das staatsgerichtete Abwehrrecht argumentiert, sondern gegen eine unmittelbare Drittwirkung und damit gegen eine Privatgerichtetheit der Grundrechte. Die Figur der mittelbaren Grundrechtsbindung erlaube es auf der einen Seite, keine Zweifel an der Ablehnung einer unmittelbaren Drittwirkung aufkommen zu lassen, und auf der anderen Seite, die intuitiv wahrgenommene Bedeutung des grundrechtlichen Abwehrrechts aufgrund der staatlichen Vermitteltheit des Privatrechts inhaltlich zur Geltung zu bringen (S. 278). 41 Vgl. etwa Stern, StR III/1, § 76, S. 1528 ff.; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. 1, Vorb. 1 – 19, S. 39 f., Rn. 31. Einschränkend zu einer direkten Assoziation von mittelbarer Drittwirkung und privatrechtlichen Fallkonstellationen Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 246. Die Entscheidungen, die sich etwa auf das Familienrecht und Arbeitsrecht beziehen, weisen regelmäßig keine Bezugnahme zum Lüth-Urteil und zu den drittwirkungsrechtlichen Grundsätzen auf. Hingegen kann ein Bezug zur mittelbaren Grundrechtswirkung auch in Entscheidungen gefunden werden, die andere Bereiche der Rechtsordnung (wie etwa das Strafrecht) betreffen. s. dazu ebd., S. 248, 250 f., 306 ff. (mit Nachweis), der somit zur Schlussfolgerung kommt, dass die mittelbare Drittwirkung weder eine notwendige noch eine exklusive Figur zur Deutung des Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht sei. Zur Argumentationsfigur der Wechselwirkung bzw. der Ausstrahlungswirkung in strafrechtlichen Fällen s. etwa BVerfGE 12, 113 (124) (Schmid-Spiegel); 49, 24 (54 f.) (Kontaktsperre-Gesetz); 82, 43 (50) (Strauß-Transparent).

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

kungsproblems bilden soll. Doch betrachtet man die Entscheidungen zur mittelbaren Drittwirkung näher, dann lässt sich feststellen, dass das Gericht auch hier an der Staatsgerichtetheit der Grundrechte festhält und ferner Kategorien des Abwehrrechts fruchtbar macht. Es hat nämlich die Grundrechte als staatsgerichtete Abwehrrechte über die Figur der mittelbaren Drittwirkung aktualisiert und damit zugleich die Distanz zu der Lehre der unmittelbaren Grundrechtsbindung der Privatrechtssubjekte deutlich gemacht.42 Ungeachtet der einleitenden Worte, mit denen das BVerfG Abwehrfunktion und objektive Wertordnung gegenüberstellt, hebt es in der Tat bereits im Lüth-Urteil die Grundrechtsbindung des Zivilrichters43 nachdrücklich hervor, nimmt die Existenz eines subjektiven Rechts an und legt in der Folge grundsätzlich abwehrrechtliche Prüfungsmaßstäbe an. Es stellt nämlich fest, dass das zivilgerichtliche Urteil die Meinungsäußerungsfreiheit beschränke, dass § 826 „ein allgemeines Gesetz“ im Sinne der Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 2 GG sei, und entwickelt im letzten Abschnitt des Urteils Verhältnismäßigkeitsüberlegungen. Auch in den nachfolgenden Judikaten über Drittwirkungsfälle spricht das Gericht häufig von Ausstrahlungswirkung, Wertentscheidung, objektiver Grundsatznorm o. Ä., wendet aber regelmäßig abwehrrechtliche Prüfungsmaßstäbe an.44 Hinter der Rede von mittelbarer Grundrechtsbindung oder auch Ausstrahlungswirkung steht insofern in der Rechtsprechung des BVerfG nichts weiter als die kumulative Aktualisierung der abwehrrechtlichen Bindung der einzelnen Gewalten im Rahmen der Rechtsanwendung.45 Bei der Auslegung und Anwendung des be42 Diese Feststellungen werden von Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 227 ff., 256 ff., im Wege einer umfangreichen Analyse der Rspr. nachgewiesen. So auch Schlink, EuGRZ 1984, 457, 464. 43 BVerfGE 7, 198 (203 f.) (Lüth). 44 Vgl. etwa BVerfGE 20, 31 (33 f.) (Ehemäklerlohn); 25, 256 (264 ff.) (Blinkfüer); 34, 269 (280, 282) (Soraya); 35, 202 (220 ff.) (Lebach); 42, 143 (147 ff., 150) (Deutschland-Magazin); 52, 283 (296 ff.) (Tendenzbetrieb); 54, 129 (135 f.) (Kunstkritik); 66, 116 (131, 135 f.) (Springer/Wallraff). So stellt Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 263, fest, dass – abgesehen von der Mephisto-Entscheidung (BVerfGE 30, 173/199) – keine weitere Entscheidung die Anwendung einer abwehrrechtlichen Kategorie im Rahmen der Drittwirkung ablehnt. 45 In diesem Sinne beobachtet Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 280, dass das BVerfG die unmittelbare Bindung der rechtsanwendenden Gewalten bei der Konkretisierung gesetzlicher Vorschriften meint, wenn es bezüglich der Zivilrichter und der übrigen Fachgerichte von dem Erfordernis der Auslegung im Lichte der Grundrechte, der Beachtung der Ausstrahlungswirkung, der Wechselwirkung und der mittelbaren Grundrechtswirkung spricht. Entsprechend unterscheidet das BVerfG stets zwischen Grundrechtskonformität der Gesetze (Verfassungsmäßigkeit der abstrakten Norm) und Grundrechtskonformität der Anwendung grundrechtskonformer Gesetze (Verfassungsmäßigkeit der Anwendung der Norm auf den konkreten Einzelfall). Vgl. hierzu ebd., S. 279; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, S. 161, Rn. 289. Die Entscheidungen des Gerichts, die das Verhältnis von Grundrechten und Privatrechtsgesetzgeber betreffen, nehmen in diesem Sinne zu dessen Konkretisierung keinen Bezug auf die drittwirkungsrechtlichen Grundsätze. s. etwa BVerfGE 10, 59 (Elterliche Gewalt); 24, 119 (Adoption I); 31, 275 (Bearbeiter-Urheberrechte); 47, 85 (Ehereformgesetz); 66, 84 (Unterhalt III); 78, 38 (Gemeinsamer Familienname); 82, 126 (Kündigungsfristen für Arbeiter).

I. Drittwirkung und die Grundrechte in der Wertordnung des GG

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stehenden, grundrechtskonformen Privatrechts sind die (Zivil-)Gerichte an die Grundrechte gebunden. Die mittelbare Drittwirkung verdeutlicht somit diese selbständige Bindung der rechtsanwendenden Staatsorgane bei der Konkretisierung des Privatrechts oder, anders gewendet, die unmittelbare Grundrechtsbindung der rechtsprechenden Gewalt im Bereich des Privatrechts. Die Mittelbarkeit der Wirkung bezieht sich also nur auf den über die (unmittelbare) Grundrechtsbindung des Staates vermittelten Einfluss der Grundrechte auf die rechtlichen Beziehungen der Privaten; denn zwischen den Bürgern ist die Wirkung nur mittelbar.46 Damit kann zunächst festgehalten werden, dass die Figur der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte in der Rechtsprechung weniger als eine neue, objektive Grundrechtsfunktion entwickelt wurde, sondern vielmehr als eine Aktualisierung, eine besondere Ausprägung ihrer klassischen Abwehrfunktion. Anfang der 1990er-Jahre hat aber das BVerfG im Handelsvertreter-Beschluss einen neuen Aspekt zur Drittwirkungsrechtsprechung eingebracht. Es hat nämlich die in anderen Kontexten entwickelte Schutzfunktion47 als Grund der Grundrechtswirkung auf das Privatrecht herangezogen. Dabei wandte sich ein sog. Einfirmenvertreter unter Berufung auf Art. 12 und 14 GG gegen die Verurteilung wegen eines individual-vertraglich vereinbarten Wettbewerbsverbots, die inhaltlich der Regelung des § 90a HGB a. F. entsprach. Das BVerfG zog das Schutzpflichtenargument heran, um die schwächere Partei im Rechtsverkehr vor Überlegenheit gesellschaftlicher Macht zu schützen. Unter Rückgriff auf die Wertordnungs-Rechtsprechung und auf Art. 12 Abs. 1 GG wurden die Zivilgerichte in Fällen gestörter Vertragsparität angewiesen, den staatlichen Schutzauftrag bei der Anwendung gerade der vertragsrechtlichen Generalklauseln zu beachten.48 Nach dem Handelsvertreter-Beschluss hat das BVerfG die grundrechtliche Schutzpflicht noch in einigen Entscheidungen zum Privatrecht herangezogen.49 In Bezug auf die Drittwirkungsrechtsprechung 46

Die mittelbare Einflussnahme der Grundrechte auf die rechtlichen Beziehungen der Privaten besteht gerade darin, dass der Staat bei der Regelung der Beziehungen der Privaten der unmittelbaren Grundrechtsbindung unterworfen ist. Diese Mittelbarkeit nennt Poscher (s. u. G.I.4.) Reflexivität, die sich allerdings nicht nur auf das Privatrecht beschränkt, sondern auf alle Regelungen gesellschaftlicher Konflikte bezieht. 47 BVerfGE 39, 1 (44, 57 f., 66) (Schwangerschaftsabbruch I). s. u. C.III. 48 BVerfGE 81, 242 (254 ff.) (Handelsvertreter). Der Staat habe nach dem Gericht zwar die im Rahmen der Privatautonomie getroffenen Regelungen zu respektieren. Wo aber der Vertragspartner ein so starkes Übergewicht hat, dass er vertragliche Regelungen faktisch einseitig setzen kann, müssten staatliche Regelungen ausgleichend eingreifen, um grundrechtlich verbürgte Positionen zu sichern. Hierbei wird das Sozialstaatsprinzip auch als Maßstab neben den Grundrechten genannt (S. 55). „Der entsprechende Schutzauftrag der Verfassung richtet sich hier an den Richter, der den objektiven Grundentscheidungen der Grundrechte in Fällen gestörter Vertragsparität mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen hat“ (S. 56). 49 BVerfGE 89, 214 (232 ff.) (Bürgschaftsverträge), betreffend die Inhaltskontrolle von Bürgschaftsverträgen mit Banken, soweit vermögenslose Angehörige von Kreditnehmern als Bürgen hohe Haftungsrisiken übernehmen. BVerfGE 97, 169 (175 ff.) (Kleinbetriebsklausel I), in welcher das Gericht den Ausnahmetatbestand für Kleinbetriebe im Kündigungsschutzrecht vor einer aus Art. 12 Abs. 1 GG abgeleiteten Schutzpflicht zugunsten des Arbeitnehmers

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

kann allerdings festgestellt werden, dass der Schutzpflichtgedanke nicht an die Stelle der mittelbaren Drittwirkung tritt, sondern diese nur ergänzt. Er wird nämlich auch über den Mechanismus der mittelbaren Drittwirkung, d. h. über die Grundrechtsbindung des Zivilrichters bei der Anwendung und Konkretisierung der Generalklauseln, angewendet.50 Nach wie vor überwiegen außerdem die Entscheidungen zum Privatrecht, die keinen Bezug zur grundrechtlichen Schutzpflicht aufweisen und sich daher reibungslos in den Bahnen der seit dem Lüth-Urteil etablierten Drittwirkungsrechtsprechung bewegen.51 Das Abwehrrecht bleibt also im Ergebnis auch nach der Entdeckung der Schutzpflicht für privatrechtliche Konstellationen die ganz dominante Grundrechtsfunktion in der Drittwirkungsrechtsprechung des BVerfG.

II. Kollidierende Verfassungsgüter als immanente Grundrechtsschranken Der Verfassungstext vorbehaltloser Grundrechte sieht Beschränkungen der in ihnen gewährten Freiheit zwar nicht vor. Da aber auch hier eine wildwüchsige Freiheitsausübung zu Konflikten führen kann, wurden verschiedene Ansätze zur Lösung dieses Problems entwickelt.52 Die Grundlage für die heute nahezu allgemein anerkannte Möglichkeit, auch vorbehaltlose Grundrechte einzuschränken, legt jedoch das BVerfG. Nach dem Modell des Gerichts können Eingriffe in vorbehaltlose Grundrechte zum Schutz kollidierender Grundrechte Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswerte je nach Einzelfallabwägung gerechtfertigt werden. Dieses Begrenzungsmodell wurde erstmals im am 26. 05. 1970 verkündeten Dienstpflichtverweigerungsbeschluss im Hinblick auf die „Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr“ entwickelt. Behandelt werden zunächst sowohl rechtfertigt. Die Ausnahme solle nämlich kleine Unternehmer vor existenzgefährdenden arbeitsrechtlichen Abfindungen schützen. s. auch BVerfGE 103, 89 (100 ff.) (Unterhaltsverzichtsvertrag); 114, 1 (33 ff.) (Übertragung von Lebensversicherungsverträgen). Ambivalent sind darüber hinaus einige neue Entscheidungen zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor den Medien. In BVerfGE 99, 185 (Scientology) wurde in diesem Sinne auf eine Schutzpflicht abgestellt (S. 194, 198), andererseits klingt die Entscheidung so, als gäbe es einen Eingriff durch das Gericht in das Abwehrrecht (S. 195). Die Kontrolle erfolgt dann jedenfalls anhand der abwehrrechtlichen Kriterien des Gesetzesvorbehalts und der Verhältnismäßigkeit und nicht etwa anhand des Untermaßverbots (S. 195 ff.). 50 BVerfGE 81, 242 (256) (Handelsvertreter); 89, 214 (229) (Bürgschaftsverträge); 103, 89 (100) (Unterhaltsverzichtsvertrag). Bei der E 97, 169 (175 ff.) (Kleinbetriebsklausel I) und 114, 1 (33 ff.) (Übertragung von Lebensversicherungsverträgen) handelte es sich hingegen um Normkontrollverfahren, sodass sie sich nicht auf die mittelbare Drittwirkung beziehen. Vgl. ferner Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 242 ff., 267. 51 s. etwa BVerfGE 82, 272 (280 ff.) (Postmortale Schmähkritik); 84, 192 (195 f.) (Offenbarung der Entmündigung); 85, 1 (13 ff.) (Bayer-Aktionäre); 85, 248 (256 ff.) (Ärztliches Werbeverbot); 86, 1 (10 f.) (Titanic); 89, 1 (8 ff.) (Besitzrecht des Mieters); 90, 27 (32 ff.) (Parabolantenne I); 97, 391 (400 ff.) (Missbrauchsbezichtigung). 52 Vgl. dazu Sachs, in: Stern, StR III/2, § 81, S. 528 ff.

II. Kollidierende Verfassungsgüter als immanente Grundrechtsschranken

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diese Leitentscheidung als auch die spätere Anknüpfung daran im zweiten Urteil zur Kriegsdienstverweigerung vom 24. 04. 1985. Im Anschluss daran folgt dann der allgemeine Überblick auf die Entwicklung des bundesverfassungsgerichtlichen Umgangs mit den vorbehaltlosen Grundrechten.

1. Dienstpflichtverweigerung (1970) und Kriegsdienstverweigerung II (1985) a) Dienstpflichtverweigerung In dem ersten Verfahren wandten sich die Beschwerdeführer gegen eine disziplinarische Arreststrafe, die während ihrer Dienstzeit als Soldaten der Bundeswehr vom Truppendienstgericht angeordnet worden war. Die Strafe war verhängt worden, weil sie sich geweigert hatten, Dienst mit der Waffe zu tun, obwohl ihre – z. T. nach Dienstantritt gestellten – Anträge auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer von Prüfungsausschuss und Prüfungskammer abgelehnt worden waren. Bis zur Entscheidung des BVerfG hatte hingegen das Verwaltungsgericht schon zwei der drei Antragsteller als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Zu entscheiden war nun die Frage, ob ein bereits bei der Bundeswehr dienender Wehrpflichtiger, der während seines Dienstes von der Verweigerungsmöglichkeit aus Art. 4 Abs. 3 GG Gebrauch macht, bis zum Abschluss des Anerkennungsverfahrens zu weiterem Waffendienst gezwungen werden darf. Nach Ansicht des BVerfG sei zwar ein Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer durch den Regelungsvorbehalt des Art. 4 Abs. 3 S. 2 GG gedeckt, nicht aber eine Regelung, die die Wirkung der Anerkennung auf die Zeit nach deren Rechtskraft beschränkt. Diese sei eine Einschränkung des Kriegsdienstverweigerungsrechts selbst. Der Wortlaut des Art. 4 Abs. 3 S. 1 lasse „keinen Raum für eine Interpretation, die die Wirksamkeit des Kriegsdienstverweigerungsrechts bis zum Zeitpunkt der rechtskräftigen Anerkennung hinausschiebt“. In der vorbehaltlosen Formulierung und in dem engen sachlichen Zusammenhang mit Gewissensfreiheit und Menschenwürde offenbare sich das Gewicht „eines unabdingbaren, nicht einschränkbaren Grundrechts, mit dem dem Schutz des Einzelgewissens Vorrang selbst gegenüber der Pflicht zur Beteiligung an der bewaffneten Landesverteidigung und damit an der Sicherung der staatlichen Existenz eingeräumt“ werde.53 Dennoch leitete das BVerfG aus den Vorschriften der Art. 12a Abs. 1, Art. 73 Nr. 1 und Art. 87a GG (später kam noch Art. 115b GG hinzu)54 eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die militärische Verteidigung ab, aufgrund dessen auch Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr ein mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswert sei. Hierbei schuf das Gericht dann die Formel, die als 53 54

BVerfGE 28, 243 (260). BVerfGE 28, 243 (261) bzw. 69, 1 (21).

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

Grundlage für die heute nahezu allgemein anerkannte Möglichkeit dient, auch vorbehaltlose Freiheit einzuschränken: „Nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen. Dabei auftretende Konflikte lassen sich nur lösen, indem ermittelt wird, welche Verfassungsbestimmung für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht hat (…). Die schwächere Norm darf nur so weit zurückgedrängt werden, wie das logisch und systematisch zwingend erscheint; ihr sachlicher Grundwertgehalt muss in jedem Fall respektiert werden.“55 Abzuwägen sei folglich das verfassungsrechtlich anerkannte Ziel der Sicherung des inneren Gefüges der Streitkräfte, die imstande sein müssten, ihre militärischen Aufgaben zu erfüllen, gegen das Interesse des Kriegsdienstverweigerers an der Freiheit von jeglichem Zwang gegenüber seiner Gewissensentscheidung. Die eigenmächtige Dienstverweigerung von Soldaten bedeute – so das Gericht – eine Gefahr für die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte und damit u. U. auch für die Sicherheit des Staates. Die vorläufige Verpflichtung, in Friedenszeiten Waffendienst zu tun, lasse hingegen den Grundwertgehalt der Kriegsdienstverweigerung unberührt, da in dieser Situation der Zwang, eine andere Person töten zu müssten, grundsätzlich nicht so unmittelbar hervortrete. Das Verhalten des Berechtigten habe außerdem dem Toleranzprinzip zu entsprechen. Das Interesse des Verweigerers, vor dem Abschluss des Anerkennungsverfahrens vom Waffendienst freigestellt zu werden, habe somit hinter die genannten staatlichen Belange zurückzutreten. Es sei dem Betroffenen durchaus zuzumuten, für eine kurze Übergangszeit den bisher geleisteten Dienst fortzusetzen. Die Bewertung des Verhaltens der Beschwerdeführer als Dienstvergehen verstoße demnach nicht gegen Art. 4 Abs. 3 GG.56 Ob eine ausreichende gesetzliche Grundlage zur Begründung der Pflicht, Waffendienst weiterzuleisten, und ob zur Lösung der Kollision nicht andere, den Grundrechtsträger weniger belastende Mittel zur Verfügung gestanden hätten, untersuchte das Gericht nicht. b) Kriegsdienstverweigerung II Das in BVerfGE 28, 243 begründete Begrenzungsmodell fand in den Folgejahren umfassende Zustimmung und gilt noch heute als herrschender Ansatz. Im Hinblick auf die „Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr“ folgte das Gericht diesem Modell im zweiten Kriegsdienstverweigerungsurteil nochmals ausführlich. In diesem Verfahren ging es um die Verfassungsmäßigkeit mehrerer Vorschriften des Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetzes (KDVNG). Als Vorüberlegung der Entscheidung unterstreicht das Gericht nochmals die Ansicht, dass in den Vor55 BVerfGE 28, 243 (261). Hiergegen wendet sich vehement die abw. Meinung von Mahrenholz und Böckenförde in BVerfGE 69, 1 (57 ff.). 56 BVerfGE 28, 243 (261 ff.).

II. Kollidierende Verfassungsgüter als immanente Grundrechtsschranken

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schriften der Art. 12a, 73 Nr. 1, 87a und 115b GG eine „verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung“ getroffen worden sei, kraft deren die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr verfassungsrechtlichen Rang hätten. Die gesetzliche Regelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung habe folglich nicht nur dem in Art. 4 Abs. 3 GG gewährleisteten Grundrecht, sondern auch dieser Grundentscheidung Rechnung zu tragen. Daraus, und aus dem Gebot der Wehrgerechtigkeit, folge ferner eine Pflicht des Gesetzgebers, sicherzustellen, dass nur solche Wehrpflichtige als Kriegsdienstverweigerer anerkannt würden, bei denen mit hinreichender Sicherheit angenommen werden könne, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 3 S. 1 GG erfüllt seien.57 Auf die Argumentation mit kollidierendem Verfassungsrecht greift der zweite Senat daraufhin nochmals zurück, um die Verfassungsmäßigkeit der verschiedenen im KDVNG vorgesehenen Anerkennungsverfahren zu überprüfen. Dabei ging es zunächst um die Verhältnismäßigkeit der Kumulation des als lästige Alternative ausgestalteten Zivildiensts und der Anerkennungsverfahren. Das Gericht entschied, dass diese Kumulation dem aus dem Rechtsstaatsprinzip fließenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht widerspreche; denn beide Elemente – Ersatzdienst und Anerkennungsverfahren – gewährleisteten nach der verfassungsrechtlich unbedenklichen Auffassung des Gesetzgebers nur in ihrem Zusammenwirken mit hinreichender Sicherheit, dass lediglich diejenigen Wehrpflichtigen vom Wehrdienst freigestellt würden, deren Kriegsdienstverweigerung auf einer Gewissensentscheidung beruhe.58 Kurz gesagt: Die Kumulation sei geeignet, um zu prüfen, ob Gewissensgründe für die Verweigerung vorlägen. Im Übrigen stellte das Gericht fest, dass Ersatzdienst und Anerkennungsverfahren jeweils für sich genommen nicht ausreichten, um das Vorliegen einer Gewissensentscheidung hinreichend zuverlässig zu überprüfen. Eine weitergehende Analyse der Erforderlichkeit und eine Prüfung der Proportionalität dieser Kumulation fanden aber nicht statt. Erwägungen, die sich ebenfalls dem Kriterium der Geeignetheit aber auch z. T. dem der Verhältnismäßigkeit i. e. S. zuordnen lassen, sind allerdings in der Untersuchung der Verhältnismäßigkeit des Anerkennungsverfahrens vor den Ausschüssen und Kammern für Kriegsdienstverweigerung zu finden. Das Kriegsdienstverweigerungsgesetz (KDVG) sah zwei Arten von Anerkennungsverfahren vor. In Friedenszeiten konnten damals nur ungediente Wehrpflichtige, die weder einberufen noch hinsichtlich einer möglichen Einberufung benachrichtigt waren, im schriftlichen Verfahren vor dem Bundesamt für den Zivildienst als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden (§ 4 Abs. 1 KDVG). Über die Anträge von gedienten, einberufenen oder vorbenachrichtigten Wehrpflichtigen und von Soldaten sollten Ausschüsse und Kammern für Kriegsdienstverweigerung in einem eingehenderen Verfahren entscheiden (§§ 9 bis 15 KDVG). Im Spannungs- und Verteidigungsfall fand dieses zweite Verfahren nicht nur bei diesen Personengruppen, sondern auch bei 57 58

BVerfGE 69, 1 (21); auch 48, 127 (168 f.). BVerfGE 69, 1 (35).

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

Anträgen der in § 4 Abs. 1 genannten Wehrpflichtigen statt (§ 8 S. 1 KDVG). Die Ausschüsse und Kammern für Kriegsdienstverweigerung wurden ferner nach §§ 9 Abs. 2, 18 Abs. 1 S. 2 KDVG mit einem vom Bundesminister der Verteidigung bestimmten Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Beisitzern besetzt. Als Gründe für die Bejahung der Verhältnismäßigkeit des eingehenderen, in den §§ 9 ff. KDVG vorgesehenen Verfahrens fügte das Gericht u. a. ein, dass es der Gefahr von situationsbedingten Anträgen entgegenwirke und die Erfordernisse der Personalplanung der Bundeswehr berücksichtige.59 Die Verhältnismäßigkeit dieses Verfahrens für den Spannungs- und Verteidigungsfall ergebe sich außerdem primär daraus, dass der Zivildienst unter den dann gegebenen Umständen nicht länger geeignet sei, die eigentliche Probe auf das Vorliegen der behaupteten Gewissensentscheidung zu bilden. In dieser Lage wachse nämlich die Wahrscheinlichkeit einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3. Der Staat sei darüber hinaus wegen der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für die militärische Landesverteidigung verpflichtet, für den Spannungs- und Verteidigungsfall ein auch dann zur Ermittlung des Vorliegens der behaupteten Gewissensentscheidung geeignetes Verfahren vorzusehen.60 Auch die Bestimmung des Vorsitzenden durch den Bundesminister der Verteidigung sei verfassungsrechtlich unbedenklich, denn sie ändere nichts an seiner Verpflichtung, eine ausschließlich am Recht orientierte Entscheidung zu treffen.61 Die Entscheidungen der Ausschüsse und Kammern für Kriegsdienstverweigerung gehörten, hieß es weiter, zu der alltäglichen Aufgabe der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, Entscheidungen zu treffen, „die eine Abwägung öffentlicher, von dem Ressort, dem sie angehören, zu verwaltender Interessen und privater, insbesondere grundrechtlich gesicherter Rechte erfordern“. Die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung binde ebenso wie das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 GG alle staatlichen Organe.62

2. Anmerkung und Weiterentwicklung: Umgang mit vorbehaltlosen Grundrechten Die in der ersten Entscheidung zur Dienstpflichtverweigerung begründete Rechtsprechung und die dabei entwickelte Schrankenformel fanden in den Folgejahren umfassende Zustimmung und erfreuen sich in Rechtsprechung und Literatur

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BVerfGE 69, 1 (37). BVerfGE 69, 1 (39). Der die Erfüllung einer Pflicht für die Gemeinschaft fordernde Staat könne nach dem Gericht um so weniger darauf verzichten, die in Anspruch genommene Gewissensposition festzustellen, je bedeutsamer für die Allgemeinheit und belastender für den Einzelnen die Gemeinschaftspflicht sei. 61 Vgl. dagegen die abw. Meinung von Mahrenholz in BVerfGE 69, 1 (87 ff.). 62 BVerfGE 69, 1 (50 f.). Hervorhebung durch die Verfasserin. 60

II. Kollidierende Verfassungsgüter als immanente Grundrechtsschranken

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weiterhin großer Gefolgschaft.63 Die ohne geschriebenen Vorbehalt gewährleisteten Grundrechte stehen insofern seitdem faktisch unter einem qualifizierten Vorbehalt, dem Vorbehalt kollidierenden Verfassungsrechts, und werden darüber hinaus einer Einzelfallabwägung unterworfen. In BVerfGE 28, 243 wird die Abwägung zwar noch nicht in Beziehung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebracht, aber doch häufig in den nachfolgenden Judikaten.64 So bezieht sich das Gericht in der Kriegsdienstverweigerung II wohl auf die drei Teilgrundsätze des Übermaßverbots, überprüft aber letztlich v. a. die Geeignetheit und in gewissem Sinne die Erforderlichkeit des Gesetzes.65 Die Überlegungen zu kollidierendem Verfassungsrecht und Abwägung waren also dabei nicht entscheidungserheblich. Vielmehr ziehen sie nur einen gewissen Widerspruch in die Argumentation des Gerichts hinein: Das Recht der Kriegsdienstverweigerung setze eine unüberwindliche Schranke der Pflicht zur Landesverteidigung entgegen, aber gleichzeitig solle eine Abwägung zwischen diesem Grundrecht und der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für die militärische Verteidigung stattfinden.66 Wie weiter unten diskutiert wird, ist es eigentlich durchaus fraglich, ob gerade diesen für das Begrenzungsmodell durch kollidierendes Verfassungsrecht fundamentalen Entscheidungen tatsächlich ein Kollisionsfall zugrunde lag.67 Auf jeden Fall ist eine starke Relativierung der grundgesetzlichen Entscheidung, der zufolge Art. 4 Abs. 3 GG dem Gewissen des Einzelnen Vorrang vor der Landesverteidigung einräumt, festzustellen. Bereits in der Mephisto-Entscheidung verdeutlichte das BVerfG nochmals, dass dieses Begrenzungsmodell auch auf die Dreieckskonstellationen, d. h. auf die sog. Grundrechtskollisionen, Anwendung findet. In diesem Zusammenhang erteilte es außerdem den früheren Versuchen, die Vorbehaltlosigkeit mancher Freiheitsrechte durch Übertragung der Vorbehalte anderer Grundrechte – etwa der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG oder der Schranke der allgemeinen Gesetze des Art. 5 Abs. 2 GG – zu kompensieren, eine klare Absage.68 Jede erweiternde Auslegung oder Analogie aufgrund der Schrankenregelung anderer Verfassungsbestimmungen 63

Auch in der jüngeren Rspr. wird jene erste Entscheidung zu kollidierendem Verfassungsrecht noch als Beleg für die Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsrechte zitiert. So z. B. BVerfGE 84, 212 (228) (Aussperrung); 107, 104 (118) (Anwesenheit im JGG-Verfahren); 108, 282 (297) (Kopftuch). 64 Vgl. etwa BVerfGE 47, 327 (369 f., 380 ff.) (Hessisches Universitätsgesetz); 83, 130 (143) (Josephine Mutzenbacher); 122, 89 (115 f.) (Wissenschaftsfreiheit in der Theologie). 65 BVerfGE 69, 1 (35 ff.) (Kriegsdienstverweigerung II). 66 Vgl. BVerfGE 69, 1 (22 ff.) (Kriegsdienstverweigerung II). Dieser Widerspruch lag bereits der Leitentscheidung zugrunde, s. E 28, 243 (260 f.) (Dienstpflichtverweigerung). 67 s. u. F.I. Zum einen begründet das Gericht schon in der Leitentscheidung nicht, dass die Landesverteidigung in der Tat eine Regelung erfordert, die nachträgliche Verweigerer zum weiteren Waffendienst verpflichtet. Zum anderen gilt es zu überlegen, ob das Spannungsverhältnis zwischen der Gewissensfreiheit des Einzelnen und dem Verteidigungsauftrag durch Art. 4 Abs. 3 GG nicht abschließend geregelt und damit durch das GG selbst gelöst wurde. 68 BVerfGE 30, 173 (191 f.) (Mephisto), zur Kunstfreiheit; ebenso BVerfGE 32, 98 (107) (Gesundbeter), zur Glaubensfreiheit. s. auch BVerfGE 67, 213 (228) (Anachronistischer Zug).

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

müsse erfolglos bleiben. Gleichwohl seien die Freiheitsrechte nicht schrankenlos gewährt.69 Der Vorbehaltlosigkeit eines Grundrechts komme nur die Bedeutung zu, dass seine Grenzen von der Verfassung selbst zu bestimmen seien. Ein Konflikt mit anderen Verfassungsbestimmungen sei dann nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen. Die Spannungslage zwischen Persönlichkeitsschutz und dem Recht auf Kunstfreiheit sei darüber hinaus nur unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles zu lösen.70 In der Folge bestätigte das Gericht diesen Ansatz der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Grundrechte immer wieder und wendete ihn auf die unterschiedlichen Grundrechte an.71 Es hat somit deutlich gemacht, dass in der gesamten Rechtsordnung schlechterdings kein Recht angenommen wird, welches nicht aufgrund einer Einzelfallabwägung Beschränkungen unterworfen werden könnte. Neben den Grundrechten Dritter72 und der Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr73 erkannte das BVerfG außerdem im Lauf seiner Spruchpraxis zahlreiche mit dem Grundrecht abzuwägende Gemeinwohlbelange an – wie z. B. eine funktionstüchtige Rechtspflege, entnommen der Vorschrift des Art. 92 GG sowie der gerichtlichen Aufgabe, die Grundrechte zu wahren74 ; den Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung75; hochwertige verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter wie etwa das friedliche Zusammenle-

69 Zum Folgenden BVerfGE 30, 173 (193) (Mephisto). Die Freiheitsrechte gingen nach dem Gericht vom Menschenbild des Grundgesetzes aus, d. h. vom Menschen als eigenverantwortlicher Persönlichkeit, die sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfalte. 70 BVerfGE 30, 173 (195 f.) (Mephisto). Diese Entscheidung ist außerdem deswegen interessant, weil sie eine Ausnahme der oben (C.I.2) dargelegten Tendenz bildet, Dreiecksverhältnisse abwehrrechtlich zu erschließen. Das Gericht lehnt nämlich ausdrücklich ab, die Eingriffkategorie und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für die Beurteilung zivilgerichtlicher Entscheidungen anzuwenden (S. 199). Diesbezüglich blieb sie allerdings eine Ausnahme. Vgl. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 262; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 30 ff. 71 s. etwa BVerfGE 32, 98 (107) (Gesundbeter); 33, 52 (71) (Zensur); 41, 29 (50) (Simultanschule); 47, 327 (369 f.) (Hessisches Universitätsgesetz); 52, 223 (247) (Schulgebet); 57, 70 (99) (Universitätskliniken); 67, 213 (228) (Anachronistischer Zug); 75, 369 (379) (Strauß-Karikatur); 77, 240 (253) (Herrnburger Bericht); 81, 278 (292) (Bundesflagge); 81, 298 (307) (Nationalhymne); 83, 130 (139) (Josephine Mutzenbacher); 84, 212 (228) (Aussperrung); 93, 1 (21) (Kruzifix); 100, 271 (283) (Lohnabstandsklausel); 108, 282 (297) (Kopftuch); 119, 1 (23) (Esra); 122, 89 (107) (Wissenschaftsfreiheit in der Theologie). 72 Vgl. etwa BVerfGE 30, 173 (193) (Mephisto); 67, 213 (228) (Anachronistischer Zug); 75, 369 (379) (Strauß-Karikatur); 119, 1 (23) (Esra). 73 Abgeleitet aus Art. 12a Abs. 1, Art. 73 Nr. 1, Art. 87a GG und Art. 115b GG – BVerfGE 28, 243 (261) (Dienstpflichtverweigerung); 48, 127 (159 f.) (Wehrpflichtnovelle); 69, 1 (21) (Kriegsdienstverweigerung II). 74 BVerfGE 33, 23 (32) (Eidesverweigerung aus Glaubensgründen). 75 BVerfGE 33, 52 (71) (Zensur).

II. Kollidierende Verfassungsgüter als immanente Grundrechtsschranken

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ben der Menschen, abgeleitet aus der Aussage des Art. 26 GG76; die Sicherheit der Krankenversorgung als Ausprägung des Sozialstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 1 GG77; die Bundesflagge, festgemacht an Art. 22 GG78; die Nationalhymne, ohne an den Verfassungstext anzuknüpfen79; den Jugendschutz, unter Hinweis auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG80; die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, abgeleitet aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG81, usw. Eine präzise Eingrenzung der verfassungsrechtlichen Positionen, die als kollidierendes Verfassungsrecht herangezogen werden können, ist allerdings bis heute in der Judikatur des BVerfG nicht zu finden.82 Nicht klar am Anfang dieser Rechtsprechung war die Frage, ob die Schranken kollidierenden Verfassungsrechts stets einer gesetzlichen Grundlage bedürfen oder auch von Judikative und Exekutive konkretisiert werden können (unmittelbaren Geltung). In E 28, 243 überprüft das BVerfG eigentlich nicht, ob eine ausreichende gesetzliche Grundlage besteht, um einen bereits bei der Bundeswehr dienenden Wehrpflichtigen bis zum Abschluss des Anerkennungsverfahrens zu weiterem Waffendienst zu zwingen. Diese Pflicht, die ausdrücklich allein in einem Erlass des Bundesministers der Verteidigung vorgesehen war, wird vielmehr unmittelbar mit „der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für die militärische Landesverteidigung“ begründet.83 In jüngeren Entscheidungen hat das Gericht aber eine unmittelbare Geltung abgelehnt und eine gesetzliche Grundlage für die Schranke verlangt.84 Auch die früher stärker diskutierte Frage, ob kollidierendes Verfassungsrecht bereits eine tatbestandliche Beschränkung der vorbehaltlosen Grundrechte herbeiführt (Schutzbereichsbegrenzung) oder als Grundrechtsschranke wirkt (Eingriffsrechtfertigung), beantwortet das BVerfG inzwischen überwiegend im Sinne der zweiten Ansicht.85 Der Ansatz besteht folglich im Grunde genommen darin, von

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BVerfGE 47, 327 (382) (Hessisches Universitätsgesetz). BVerfGE 57, 70 (99) (Universitätskliniken). 78 BVerfGE 81, 278 (293) (Bundesflagge). 79 BVerfGE 81, 298 (308) (Nationalhymne). 80 BVerfGE 83, 130 (139 f.) (Josephine Mutzenbacher). 81 BVerfGE 100, 271 (283) (Lohnabstandsklausel). 82 Vgl. Sachs, in: Stern, StR III/2, § 81, S. 552. Darüber hinaus beobachtet Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 3, dass nicht eine Entscheidung aus der Verfassungsrechtsprechung bekannt geworden sei, die einen Eingriff in ein vorbehaltloses Grundrecht wegen des Fehlens kollidierenden Verfassungsrechts zurückgewiesen hätte. Vielmehr sei das Abwägungsgebot an die Stelle des verfassungsrechtlichen Eingriffsverbots getreten. 83 Andeutungen im Sinne einer unmittelbaren Geltung finden sich z. B. auch in BVerfGE 52, 283 (298) (Tendenzbetrieb); 59, 231 (261 ff.) (Freie Mitarbeiter). 84 Vgl. BVerfGE 107, 104 (120) (Anwesenheit im JGG-Verfahren); 108, 282 (297) (Kopftuch); 122, 89 (107) (Wissenschaftsfreiheit in der Theologie): es bedürfe „grundsätzlich [!] auch insoweit einer gesetzlichen Grundlage“. 85 Nur gelegentlich hat die Rspr. des Gerichts die erste Sichtweise anklingen lassen. Vgl. BVerfGE 81, 278 (293) (Bundesflagge); 83, 130 (139) (Josephine Mutzenbacher). 77

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

einer weiten Tatbestandsinterpretation auszugehen und mittels Abwägung mit ungeschriebenen Einschränkungen zu arbeiten (s. u. F.I.1.). In einigen jüngeren Entscheidungen ist allerdings eine leichte Verschiebung der Akzentsetzung zu beobachten: Ausgangspunkt für die Ermittlung des Grundrechtsschutzes seien nicht kollidierende Verfassungsrechte (sei es als Schutzbereichsbegrenzung oder als Eingriffsrechtfertigung), sondern eine sorgfältige Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs im Hinblick auf seine eigene Schutzrichtung. So legt das BVerfG bereits im Beschluss zum „Sprayer von Zürich“ fest, dass Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zwar vor Einwirkung der öffentlichen Gewalt auf Inhalte, Methoden und Tendenzen künstlerischer Tätigkeit schütze; die Reichweite der Kunstfreiheit „erstreckt sich aber von vornherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung (sei es im Werk- oder Wirkbereich der Kunst)“.86 In ähnlicher Richtung entschied das Gericht im Fall „Glykol“, das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG schütze nicht vor der Verbreitung zutreffender und sachlich gehaltener Informationen am Markt, die für das wettbewerbliche Verhalten der Marktteilnehmer von Bedeutung sein könnten, selbst wenn die Inhalte sich auf einzelne Wettbewerbspositionen nachteilig auswirkten.87 In diesen wie auch in anderen Entscheidungen88 taucht ein etwas engeres Tatbestands- bzw. Schutzbereichsverständnis auf, das z. T. als eine neue Richtung in der deutschen Grundrechtsdogmatik gesehen wird.89

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BVerfG, NJW 1984, 1293, 1294 (Sprayer von Zürich). BVerfGE 105, 252 (265) (Glykol). Streitpunkte waren nämlich, ob die Veröffentlichung der sog. Glykol-Liste durch die Bundesregierung anlässlich des Glykol-Skandals einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG darstellt und ob dafür dann die erforderliche Eingriffsermächtigung vorhanden war. 88 Vgl. etwa BVerfGE 105, 279 (LS 1, 294 ff.) (Osho): Bei nicht diffamierenden, diskriminierenden oder verfälschenden Darstellungen einer religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft durch den Staat sei bereits der Schutzbereich der Religionsfreiheit nicht berührt. s. ferner BVerfGE 99, 185 (194) (Scientology); BVerfG, NJW 2002, 3458, 3459; BVerfGE 103, 44 (59 f.) (Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal II); 104, 92 (104) (Sitzblockaden III); 104, 337 (346) (Schächten), in dem das Gericht Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zwar auf der Rechtfertigungsebene schutzverstärkend heranzog, die staatliche Maßnahme aber an Art. 2 Abs. 1 GG prüfte. Vom Ansatz her vergleichbar ist auch die seit langem st. Rspr. des BVerfG, der zufolge erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptung dem sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht unterfallen – s. BVerfGE 54, 208 (LS 2, 219) (Böll); 61, 1 (8 f.) (NPD Europas); 85, 1 (14 f.) (Bayer-Aktionäre); 90, 1 (15) (Jugendgefährdende Schriften); 90, 241 (247) (Auschwitzlüge). 89 Zustimmend Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 71 ff.; ders., Der Staat 43/2004, 203 ff.; kritisch Kahl, Der Staat 43/2004, 167 ff. Für einen „engen Gewährleistungsgehalt“, kritisch aber gegenüber der Glykol- und der Osho-Entscheidung Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 85 ff. (m. w. N.). 87

III. Grundrechtliche Schutzpflicht und Untermaßverbot

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III. Grundrechtliche Schutzpflicht und Untermaßverbot Auch wenn in der Rechtsprechung des BVerfG und in der Literatur schon vor dem 1. Urteil zum Schwangerschaftsabbruch von grundrechtlicher Schutzpflicht die Rede war, so fing ihre Karriere doch erst recht mit der Entscheidung zur Fristenlösung vom 25. 02. 1975 an.90 Neben das Abwehrrecht treten demnach die grundrechtlichen Schutzpflichten, die auch gegenüber dem Gesetzgeber eingefordert werden können. Die Entscheidungen zu Schleyer, Kalkar I und Mülheim-Kärlich festigten sie dann als Element der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Im Urteil zum Schwangerschaftsabbruch vom 28. 05. 1993 statuierte das BVerfG ferner, dass auch die Schutzpflichten verhältnismäßig zu erfüllen seien, und griff erstmals die dogmatische Figur des Untermaßverbots auf. Ob der staatliche Schutz ausreiche, hänge demnach vom Untermaßverbot ab, das auch der Gesetzgeber beachten müsse. Diese Entscheidungen kennzeichnen daher den Eintritt des BVerfG in ein fragliches Verhältnis funktioneller Konkurrenz zum Gesetzgeber91 und können weitreichende Konsequenzen für die Kompetenzverteilung zwischen Verfassungsrecht und Gesetzgeber haben.

1. Schwangerschaftsabbruch I (1975) und II (1993) a) Schwangerschaftsabbruch I Im 1. Urteil zum Schwangerschaftsabbruch entfaltete das BVerfG erstmals die Schutzdimension der Grundrechte zum Schutze des ungeborenen Lebens92 und stellte diese dem Selbstbestimmungsrecht der Frau gegenüber. Dem Urteil lag die Kontrolle einer sog. „Fristenlösung“ zugrunde, nach der eine Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft unter bestimmten Voraussetzungen straffrei wäre (5. Strafrechtsreformgesetz). Aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und auch aus Art. 1 Abs. 1 GG lasse sich dem Gericht nach die Pflicht des Staates, jedes menschliche

90 Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 66. Weichen für die Herleitung staatlicher Schutzpflichten aus den Grundrechten sind allerdings bereits im Hochschulurteil zu finden (BVerfGE 35, 79/114): Die Wissenschaftsfreiheit „bedeutet nicht nur die Absage an staatliche Eingriffe“, sondern verpflichtet den Staat, „sein Handeln positiv danach einzurichten, d. h. schützend und fördernd einer Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen“. Vgl. auch BVerfGE 24, 119 (144) (Adoption I), die sich freilich auf das ausdrücklich vorgesehene Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG bezieht. 91 So auch Dederer, in: Menzel, Verfassungsrechtsprechung, S. 242. 92 Ob die Leibesfrucht ein eigenständiger Grundrechtsträger ist, der der Schwangeren als beeinträchtigter Dritter gegenübersteht, ist umstritten. Entsprechend hat das BVerfG seine Eigenschaft als Grundrechtsträger offengelassen. BVerfGE 39, 1 (36 f.).

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

Leben zu schützen, ableiten.93 Unter Rückgriff auf seine Wertordnungs-Rechtsprechung meinte es ferner, dass „schon aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der grundrechtlichen Normen“ nicht nur das „Ob“, sondern auch das „Wie“ des gebotenen Schutzes erschlossen werden könne. Die Schutzpflicht gebiete dem Staat, „sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren“. Die Schutzverpflichtung des Staates müsse – so das Gericht – „um so ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist“.94 Es sei zwar in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden, wie der Staat seine Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des sich entwickelnden Lebens erfülle. Er müsse aber „den hierbei entstehenden Konflikt durch eine Abwägung der beiden einander gegenüberstehenden Grundwerte oder Freiheitsbereiche nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Beachtung des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes lösen“.95 Bei der „erforderlichen Abwägung“ beider „Verfassungswerte“ (Selbstbestimmungsrecht der Frau und Schutz des ungeborenen Lebens) kam das Gericht zum Ergebnis, dass die Strafandrohung auch für die ersten zwölf Schwangerschaftswochen das notwendige Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht sei, und erklärte daher die Fristenregelung für nichtig. Der Lebensschutz für die Leibesfrucht habe für die gesamte Dauer der Schwangerschaft grundsätzlichen Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. Dementsprechend müsse der Gesetzgeber ihr einen Abbruch prinzipiell verbieten und von einer Pflicht der Frau zur Austragung des Nasciturus ausgehen.96 Die Schutzpflicht verlange statt der Fristen- eine Indikationsregelung.97 Aus der grundrechtlichen Schutzdimension für das ungeborene Leben ergab sich somit letztlich die Pflicht des Staates, das

93 BVerfGE 39, 1 (41). Hiergegen wendet sich vehement bereits die abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon, indem sie den subjektiv-rechtlichen Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte betont (S. 70 ff.). 94 BVerfGE 39, 1 (42). Das Gericht hebt ferner hervor, dass das menschliche Leben „innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert“ darstelle. 95 BVerfGE 39, 1 (44, 47). Hervorhebung durch die Verfasserin. 96 BVerfGE 39, 1 (43 f.). Auch BVerfGE 88, 203 (253). Merkwürdig ist allerdings, dass die abgeleitete staatliche Schutzpflicht den Frauen ohne weiteres übertragen wurde: Die Pflicht des Staats, Schutzvorkehrungen zu treffen, wird zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht der Frau zum Austragen der Leibesfrucht. Kritisch dazu die abw. Meinung von Mahrenholz und Sommer: Die Schutzpflicht für das ungeborene Leben nimmt „allein den Staat in Anspruch, nicht unmittelbar die Frau“ (BVerfGE 88, 203/340). s. dazu u. F.II.2. 97 Das BVerfG fügte dann das Kriterium der Unzumutbarkeit als Rechtfertigungsgrund ein, der den Übergriff in das ungeborene Leben erlaube. Als Referenz diente dabei die medizinische Indikation. Andere Indikationen, wie die kriminologische (ethische), die embryopathische (eugenische) oder auch die soziale Notlageindikation, müssten gesetzlich so geregelt werden, dass sie unter dem Aspekt der Unzumutbarkeit zur medizinischen Indikation kongruent seien. BVerfGE 39, 1 (49 f.).

III. Grundrechtliche Schutzpflicht und Untermaßverbot

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Abtreibungsverbot gerade auch mit den äußersten Mitteln des Strafrechts durchzusetzen.98 Die vom BVerfG favorisierte und vom Gesetzgeber 1976 zunächst folgsam umgesetzte Indikationsregelung erwies sich allerdings als praktisch unwirksamer Lebensschutz.99 Daraufhin und angesichts des sozialen Drucks100 vollzog der Gesetzgeber 1992 mit überzeugender parlamentarischer Mehrheit einen Wechsel im Schutzkonzept, das neben der medizinischen und eugenischen Indikation wieder eine „Fristenlösung“ vorsah. Im Rahmen dieser Regelung sollte der Lebensschutz maßgeblich durch die Beratung der Schwangeren bewirkt werden (§ 218a I Nr. 1 i. V. m. § 219 StGB). Hierbei wurde der Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten für nicht rechtswidrig und daher für straffrei erklärt, sofern sich die Schwangere beraten ließ. Die Kosten des Abbruchs sollten von der Krankenversicherung übernommen werden. b) Schwangerschaftsabbruch II Diese neue Fristenregelung gelangte nochmals vor das BVerfG, das sie aber dieses Mal als prinzipiell vertretbar erachtete. Es sei „dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht verwehrt, für den Schutz des ungeborenen Lebens zu einem Schutzkonzept überzugehen, das in der Frühphase der Schwangerschaft in Schwangerschaftskonflikten den Schwerpunkt auf die Beratung der schwangeren Frau legt, um sie für das Austragen des Kindes zu gewinnen, und dabei (…) auf eine indikationsbestimmte Strafdrohung (…) verzichtet“.101 Trotzdem war das Gericht mit der Arbeit des Gesetzgebers wieder sehr unzufrieden. Wie der Schutz „richtiger“ innerhalb des Beratungsmodells herbeigeführt werden sollte, regelte das BVerfG gleich einem Verordnungsgeber in einer sich über vier Seiten erstreckenden Vollstreckungsanordnung.102 Es hielt an der Rechtswidrigkeit des Abbruchs trotz 98 BVerfGE 39, 1 (45 ff., 50 ff.); 88, 203 (257 f.). Die Senatsmehrheit betont hierbei, dass das Strafrecht zwar die „ultima ratio“ des Schutzes im Instrumentarium des Gesetzgebers darstelle. Dennoch müsse „auch dieses letzte Mittel eingesetzt werden, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen“ sei. „Dies fordern der Wert und die Bedeutung des zu schützenden Rechtsgutes.“ Nach ihm, hieß es weiter, „greift der Einwand nicht durch, aus einer Freiheit gewährenden Grundrechtsnorm könne niemals eine staatliche Verpflichtung zum Strafen abgeleitet werden. Wenn der Staat durch eine wertentscheidende Grundsatznorm verpflichtet ist, ein besonders wichtiges Rechtsgut auch gegen Angriffe Dritter wirksam zu schützen, so werden oft Maßnahmen unvermeidlich sein, durch welche die Freiheitsbereiche anderer Grundrechtsträger tangiert werden.“ BVerfGE 39, 1 (47). Mit guten Gründen wendet sich die abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon gegen die Herleitung einer Strafpflicht aus den Grundrechten. BVerfGE 39, 1 (70 ff.). 99 Dederer, in: Menzel, Verfassungsrechtsprechung, S. 242, 248. 100 Insbesondere nach der Wiedervereinigung war eine Neuregelung dringend notwendig geworden, da die Bürger der ehemaligen DDR seit langem mit der Fristenlösung gelebt hatten. 101 BVerfGE 88, 203 (264). 102 Vgl. BVerfGE 88, 203 (209 ff.).

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

Straffreiheit fest, statuierte die Verfassungswidrigkeit der Gewährung von Sozialversicherungsleistungen und entwickelte ein bis ins letzte Detail ausgearbeitetes Beratungsmodell. In der Begründung setzte sich das Gericht zunächst mit der staatlichen Schutzpflicht und der entgegenstehenden grundrechtlichen Position der Schwangeren auseinander. Es bestätigte die Ansicht, dass die Verfassung dem Staat gebiete, „sich schützend und fördernd“ vor das ungeborene Leben zu stellen und dieses vor Bedrohungen von Seiten anderer zu bewahren. Diese Schutzpflicht wird aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet, wobei ihr Gegenstand und auch ihr Maß – so das Gericht – durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt würden.103 Obwohl das Leben in Art. 2 Abs. 2 nicht absolut geschützt sei, werde der Schutzpflicht auch nicht dadurch genügt, dass überhaupt Schutzvorkehrungen irgendeiner Art getroffen worden seien. Vielmehr sei die Reichweite der Schutzpflicht im Blick auf die Bedeutung und Schutzbedürftigkeit des zu schützenden Rechtsguts einerseits und damit kollidierender Rechtsgüter andererseits zu bestimmen. Als kollidierende grundrechtliche Position der schwangeren Frau komme dabei ihr Anspruch auf Schutz und Achtung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) in Betracht.104 In diesem Zusammenhang erkannte das Gericht, dass die Verfassung nur den Schutz als Ziel vorgebe, nicht aber seine Ausgestaltung, sodass es Aufgabe des Gesetzgebers sei, Art und Umfang des Schutzes im Einzelnen zu bestimmen. Bei dieser Bestimmung habe er aber das Untermaßverbot zu beachten. Die vom Gesetzgeber getroffenen Vorkehrungen müssten demnach „für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein und zudem auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen“.105 Zwar lasse das Untermaßverbot, hieß es weiter, nicht zu, auf den Einsatz auch des Strafrechts frei zu verzichten. Das Strafrecht sei vielmehr regelmäßig der Ort, das grundsätzliche Verbot der Abtreibung und die darin enthaltene Rechtspflicht der Frau zum Austragen der Leibesfrucht gesetzlich zu verankern.106 Trotzdem könne das Beratungs- und Fristenkonzept verfassungsmäßig sein, wenn dadurch wirksamer Lebensschutz erreicht werden könne.107 103

BVerfGE 88, 203 (251). BVerfGE 88, 203 (254). In den weiteren Ausführungen des Senats wird ferner zum Ausdruck gebracht, dass die miteinander kollidierenden Rechtsgüter nicht zu einem verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden könnten, da Schwangerschaftsabbruch immer Tötung ungeborenen Lebens sei (S. 255 f.). Der Senat betont aber auch, dass sowohl die Rechtsgüter des Ungeborenen als auch der Frau hohen verfassungsrechtlichen Rang hätten (S. 263). 105 BVerfGE 88, 203 (254). Hervorhebung durch die Verfasserin. 106 BVerfGE 88, 203 (257 f.). 107 Das BVerfG begründete weiter ausführlich, warum die Strafdrohung, die es 1975 noch für verfassungsrechtlich geboten hielt, unterbleiben konnte, ohne dass dadurch gegen das Untermaßverbot verstoßen wurde. Wichtige Argumente waren die schlechten Erfahrungen mit der vorherigen Regelung und die Möglichkeit, die Frau durch eine individuelle Beratung für die 104

III. Grundrechtliche Schutzpflicht und Untermaßverbot

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Damit das Untermaßverbot auch ohne Strafandrohung nicht verletzt wird, d. h., um den Mindestanforderungen der Schutzpflicht zu genügen, legt das Gericht aber zunächst eine notwendige Wertung fest, der zufolge ein nicht indizierter Schwangerschaftsabbruch stets rechtwidrig sei.108 Die Abtreibung müsse demnach für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen werden und der Gesetzgeber müsse weiterhin von einer „Gebärpflicht“ der Schwangeren ausgehen. Allein das Kriterium der Unzumutbarkeit könne diese Pflicht begrenzen, sodass eine Rechtfertigung von Abbrüchen grundsätzlich nur im Falle der medizinischen, kriminologischen oder auch embryopathischen Indikation in Betracht komme.109 Lediglich „beratene Abbrüche“ nach § 218a I StGB könnten hingegen nach dem Gericht „nicht für gerechtfertigt (nicht rechtswidrig) erklärt werden“.110 Für jene komme zwar eine Herausnahme aus dem Straftatbestand des § 218 StGB in Betracht; aber dann müsse ihre rechtliche Missbilligung als Unrecht an anderer Stelle der Rechtsordnung in geeigneter Weise zum Ausdruck kommen.111 Um dem Untermaßverbot zu genügen, müsse außerdem die Pflichtberatung deutlicher auf den Lebensschutz ausgerichtet sein. Darüber hinaus formulierte das Gericht eingehende Ausführungen zu Inhalt, Durchführung und Organisation der Beratung.112 Zudem sei eine zusätzliche Aufklärungs- und Beratungspflicht des Austragung des Nasciturus zu gewinnen, was einen Schutz des ungeborenen Lebens mit der Mutter und nicht gegen sie herbeiführen würde. BVerfGE 88, 203 (265 ff.). 108 Zum Folgenden BVerfGE 88, 203 (255 ff., 273 ff.) 109 Andere Ausnahmetatbestände könnten nur dann vor der Verfassung Bestand haben, „wenn in ihrer Umschreibung die Schwere des hier vorauszusetzenden sozialen oder psychischpersonalen Konflikts deutlich erkennbar wird, so dass (…) die Kongruenz mit den anderen Indikationsfällen gewahrt bleibt“. BVerfGE 88, 203 (257). Das Beratungsmodell, das der Frau die Letztverantwortung lasse, müsse hingegen auf eine Rechtfertigung nach Art der allgemeinen Notlagenindikation verzichten (S. 271). Die Einschaltung einer dritten Person, die die Rechtfertigung „objektiv“ feststelle, würde das Schutzkonzept der Beratungsregelung gefährden. Die Frau ihrerseits, die an dem Konflikt existentiell beteiligt sei, könne nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht in eigener Sache über Recht und Unrecht (d. h. über die Unzumutbarkeit des Austragens) entscheiden (S. 274 f.). Leider werden diese „Grundsätze“ weder näher bezeichnet noch irgendwie erläutert. Kritisch – sowohl zur Verwendung des Zumutbarkeitskriteriums als auch zur Forderung nach einer Feststellung der Rechtfertigung durch Dritte – die abw. Meinung von Mahrenholz und Sommer, S. 345 ff.; Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 564, 570 f. 110 BVerfGE 88, 203 (273). 111 BVerfGE 88, 203 (279). Auch hiergegen wendet sich die abw. Meinung mit der Auffassung, „dass rechtliche Missbilligungen außerhalb des Strafrechts im Bereich des Lebensschutzes die Rechtsüberzeugungen der Bevölkerung nicht eigenständig prägen“ (S. 354). 112 Vgl. BVerfGE 88, 203 (270 f., 281 ff.). So solle z. B. die Beratung ergebnisoffen sein, aber die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen (S. 282 f.); die Frau müsse ihre Abbruchgründe mitteilen (S. 285); Personen des sozialen Umfelds der Schwangeren (Vater des Kindes, Eltern der Frau, Arbeitgeber, Vermieter) seien in die Beratung ggf. einzubeziehen (S. 285 f.) oder auch evtl. zu bestrafen (S. 298); die Bescheinigung müsse nicht notwendig schon nach dem ersten Gespräch ausgestellt werden, sondern erst, wenn die Beratungsstelle die Beratung als abgeschlossen ansehe; der Abbruch dürfe nicht unmittelbar im Anschluss an die

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

Arztes zu statuieren.113 Der Arzt müsse u. a. zur Sprache bringen, dass eine Abtreibung menschliches Leben zerstöre, sich „die Gründe der Frau für das Abbruchverlangen“ darlegen lassen, das Geschlecht des zu erwartenden Kindes nicht preisgeben und sich über die Voraussetzungen vergewissern, von denen der Ausschluss der Strafdrohung abhänge. Diese ärztlichen Pflichten müssten strafrechtlich sanktioniert und seine Feststellungen und Beratungen dokumentiert werden.114 Für nur „beratene Abbrüche“ dürften schließlich keine Leistungen aus der Krankenversicherung gewährt werden. Der Rechtsstaat dürfe „eine Tötungshandlung nur zum Gegenstand seiner Finanzierung machen, wenn sie rechtmäßig ist und der Staat sich der Rechtmäßigkeit mit rechtsstaatlicher Verlässlichkeit vergewissert hat“.115 Die Gewährung von Sozialleistungen sei „auch deshalb mit der staatlichen Schutzpflicht für das ungeborene menschliche Leben nicht vereinbar, weil dadurch das allgemeine Bewußtsein in der Bevölkerung, dass das Ungeborene auch gegenüber der Mutter ein Recht auf Leben hat und daher der Abbruch der Schwangerschaft grundsätzlich Unrecht ist, erheblich beschädigt würde“. Das Beratungskonzept könne „die Mindestanforderungen an die staatliche Schutzpflicht nur dann erfüllen, wenn es auf die Erhaltung und Stärkung des Rechtsbewusstseins besonderen Bedacht“ nehme.116 Andererseits gestattete das BVerfG dem Gesetzgeber, Sozialhilfe in Fällen wirtschaftlicher Bedürftigkeit sowie Lohnfortzahlung auch im Fall des „beratenen Abbruchs“ zu gewähren.117

2. Anmerkung und Weiterentwicklung: Schutzfunktion und verfassungsgerichtliche Kontrolle ihrer Wahrnehmung Mit dem 1. Urteil zum Schwangerschaftsabbruch etablierte sich die Ansicht, dass sich der Staat „schützend und fördernd“ vor grundrechtliche Positionen zu stellen hat. Zugleich wird hier deutlich, dass die Entfaltung der Schutzpflicht zu Kollisionen mit Abwehrrechten führen kann. Ausschlaggebend für die Lösung dieser Kollisionen war darüber hinaus in beiden Abtreibungsurteilen das Abwägungsdenken. Die flüchtige Erwähnung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit i. w. S. scheint dabei Beratung erfolgen (Überlegungsfrist) (S. 286); Beratungseinrichtungen bedürften staatlicher Anerkennung und müssten überwacht werden (S. 287 f.) usw. 113 BVerfGE 88, 203 (289 ff.). 114 Das Gericht bestimmte ferner eine Beobachtungspflicht des Staates als notwendiges Element des Schutzkonzepts und beanstandete die gesetzliche Aufhebung der Vorschriften betreffend die Bundesstatistik über Abbrüche. Der Gesetzgeber müsse die Wirksamkeit des neuen Schutzkonzepts beobachten und es ggf. nachbessern. BVerfGE 88, 203 (309 ff.). 115 BVerfGE 88, 203 (315). Zu den Aufgaben der Krankenversicherung gehörten nach dem Senat Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge. Hieran fehle es beim Notlagen-Schwangerschaftsabbruch (S. 314). Anders die abw. Meinung von Mahrenholz und Sommer, S. 357. 116 BVerfGE 88, 203 (319 f.). 117 BVerfGE 88, 203 (321 ff.).

III. Grundrechtliche Schutzpflicht und Untermaßverbot

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eigentlich mehr Legitimationsargument als Prüfungsmaßstab zu sein. Das zeigt sich etwa dadurch, dass die Erforderlichkeit weder des vom Gericht noch des vom Gesetzgeber favorisierten Mittels tatsächlich geprüft wird. Das Gericht ging vielmehr von einer möglichen Ungeeignetheit118 bzw. von einer nicht ausreichenden Geeignetheit119 des vom Gesetzgeber ausgewählten Mittels zur Erfüllung der Schutzpflicht aus und favorisierte einen schweren Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frauen. Wohl entscheidend war hingegen die Bewertung, der zufolge der Schutz der Leibesfrucht grundsätzlichen Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht habe. Die Formel der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers hat sich auf beide Urteile nicht ausgewirkt. Über seine eigene Bekräftigung120, die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers zu beachten, setzte sich das BVerfG vielmehr hinweg.121 Es hat eine intensive, inhaltliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Normen vorgenommen, dem Gesetzgeber weitgehend positiv vorgeschrieben, wie er zu handeln hat, und z. T. sogar detaillierte Vorgaben gemacht, wie eine Regelung auszusehen hat, die es nicht beanstanden wird.122 Das Ergebnis der Schwangerschaftsabbruchsurteile, dem zufolge der Gesetzgeber durch Unterlassen Grundrechte verletzen würde und zum Erlass grundrechtsschützender Gesetze bestimmten Inhalts verurteilt werden könnte, bedeutete einen großen Durchbruch für die Grundrechtsdogmatik.123 Zwar hatte das BVerfG, wie bereits dargelegt, schon früher die Grundrechte im Zusammenhang eines objektiven Wertsystems gesehen, das auch den Gesetzgeber bindet und verpflichtet. Doch es war stets darauf bedacht, nicht in die Gestaltungsfreiheit des Parlaments einzugreifen. Bis 118 Kritisch in Bezug auf das erste Urteil Kriele, JZ 1975, 222, 223: Das BVerfG schrieb dem Gesetzgeber ohne Begründung vor, „dass und in welcher Ausgestaltung eine Strafdrohung als ein geeignetes Mittel zum Schutz des werdenden Lebens zu gelten habe, obwohl die politische Kontroverse gerade war, ob sie tatsächlich ein geeignetes Mittel ist. Früher hatte sich das BVerfG das Urteil über die Geeignetheit solange nicht angemaßt, als sie zweifelhaft war.“ Vgl. auch abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon in BVerfGE 39, 1 (77 ff.). 119 Im zweiten Urteil geht das Gericht eigentlich von einer grundsätzlichen Geeignetheit des Schutzkonzepts aus, das aber angenommenen Mindestanforderungen der Schutzpflicht nicht genügt. 120 BVerfGE 39, 1 (51) (Schwangerschaftsabbruch I); 88, 203 (254, 262) (Schwangerschaftsabbruch II). 121 Kritisch gegenüber der Missachtung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers im 1. Schwangerschaftsabbruchurteil die abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon in BVerfGE 39, 1 (69, 72 ff., 78, 84 ff.); Kriele, JZ 1975, 222, 223. Zum 2. Schwangerschaftsabbruchurteil s. Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 566 ff. Zu beiden Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 541, 548, 551 f., 555; Dederer, in: Menzel, Verfassungsrechtsprechung, S. 247, 250. s. u. F.IV.2. 122 So auch etwa Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 541, 548, 551 f.; Dederer, in: Menzel, Verfassungsrechtsprechung, S. 242, 247, 250; in Bezug auf das erste Urteil Kriele, JZ 1975, 222, 223. 123 Weichen für diesen Wandel sind allerdings bereits im 1. Numerus-clausus-Urteil (BVerfGE 33, 303/332) und v. a. im Hochschulurteil (BVerfGE 35, 79/114) zu finden. Vgl. auch BVerfGE 33, 1 (12 f.) (Strafgefangene).

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

in die 1970er-Jahre hieß es noch vorsichtig, Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen aus der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung „Richtlinien und Impulse“. Die praktische Konsequenz war nur die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte durch verfassungskonforme bzw. verfassungsorientierte Auslegung des bestehenden Zivilrechts, nicht die Anordnung, Zivilrecht spezifischen Inhalts neu zu schaffen.124 Doch gerade das objektiv-rechtliche Grundrechtsverständnis, das der Drittwirkungsrechtsprechung grundsätzlich nur als argumentative Krücke dient, stellte insbesondere ab den 1970er-Jahren die Grundlage für die Entfaltung einer breiten Palette von Grundrechtsfunktionen in der Judikatur125 des BVerfG, unter denen freilich die Schutzpflicht eine prominente Stellung genießt. Neben dem Schutz des ungeborenen Lebens vor Abtreibung entwickelten sich in der Folge einige typischen Fälle der Schutzpflicht in der Judikatur, wie etwa Sicherheitsvorkehrungen gegen Anschläge des Terrorismus126, die Rechtfertigung der Strafvollstreckung127 und der Schutz vor Immissionen und sonstigen Risiken technischer Anlage (wie z. B. bei atomrechtlichen Genehmigungsverfahren)128. Prakti-

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In einer solchen Anordnung hätte das BVerfG „eine vom Grundgesetz schwerlich gewollte Schwächung der gesetzgebenden Gewalt“ gesehen: Bei der Feststellung verfassungswidriger Unterlassung (§ 95 Abs. 1 BVerfGG) „kann es sich regelmäßig nur um die Unterlassung von Handlungen der verwaltenden oder rechtsprechenden Instanzen handeln, nicht um Unterlassungen des Gesetzgebers“. BVerfGE 1, 97 (100) (Hinterbliebenenrente I). Eine Ausnahme galt nur bei ausdrücklichen Verfassungsaufträgen an den Gesetzgeber, wobei auch in solchen Fällen nur die Feststellung der Grundrechtsverletzung getroffen, nicht aber die Anweisung, wie sie zu beheben sei, erteilt werden konnte. BVerfGE 6, 257 (265) (Teilweises gesetzgeberisches Unterlassen). s. Kriele, JZ 1975, 222, 223 f. 125 Leistentscheidung für Leistungs- und Teilhaberechte BVerfGE 33, 303 (numerus clausus I) von 1972, für Schutzpflichten E 39, 1 (Schwangerschaftsabbruch I) von 1975, für Verfahrensgarantien E 53, 30 (Mülheim-Kärlich) von 1979 und für Organisationsprinzipien E 57, 295 (3. Rundfunkentscheidung) von 1981. 126 Vgl. BVerfGE 46, 160 (164 f.) (Schleyer). H.-M. Schleyer wurde durch Terroristen entführt, die im Austausch seines Lebens die Freilassung mehrerer Gefangener verlangten. Das Gericht sah den Staat vor zwei Schutzpflichten: einerseits diejenige für das Leben von Schleyer und andererseits die für die Sicherheit der Gesamtheit der Bürger. In BVerfGE 49, 24 (53 f.) (Kontaktsperre-Gesetz) diente das Argument der Schutzpflicht dazu, besondere Sicherheitsvorkehrungen gegen terroristische Anschläge zu rechtfertigen, und zwar Maßnahmen, die empfindlich in Grundrechte von Untersuchungshäftlingen einschneiden. s. auch u. C.IV. 127 s. etwa BVerfGE 45, 187 (254 f.) (Lebenslange Freiheitsstrafe); 64, 261 (275) (Hafturlaub). Diese Entscheidungen stützen die Vollstreckung von Freiheitsstrafen auch auf die Pflicht des Staates, die Sicherheit der Bürger zu wahren und Leben wie Menschenwürde potentieller oder aktueller Opfer von Straftaten zu schützen. 128 Vgl. zur Genehmigung von Kernkraftwerken BVerfGE 49, 89 (140 ff.) (Kalkar I); 53, 30 (57) (Mülheim-Kärlich); 81, 310 (339) (Kalkar II). Zu gesundheitsgefährdender Wirkung des Flug- und des Straßenverkehrslärms BVerfGE 56, 54 (73 ff.) (Fluglärm); 79, 174 (201 f.) (Straßenverkehrslärm). Thematisch vergleichbar sind etwa die BVerfGE 66, 39 (57 ff.) (Nachrüstung) und 77, 170 (214 f.) (C-Waffen), bei denen es sich um den Schutz der Bewohner gegen militärische Gefahren aufgrund von Stationierung von Raketen bzw. Lagerung und

III. Grundrechtliche Schutzpflicht und Untermaßverbot

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sche Bedeutung hatte also die Schutzpflicht zunächst in erster Linie für das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) erlangt. Als eine etwas jüngere Entwicklung lässt sich ferner die Neigung feststellen, die grundrechtliche Schutzfunktion in Beziehung mit anderen Grundrechten anzuerkennen und auf privatrechtliche Konstellationen anzuwenden. Sie wurde nämlich, wie dargelegt, zunächst im Handelsvertreter-Beschluss und danach noch in anderen Entscheidungen als Grund und Maßstab der Grundrechtswirkung auf das Privatrecht herangezogen.129 Der Schutzpflichtgedanke wird aber in diesem Zusammenhang nicht eingeführt, um an die Stelle der mittelbaren Drittwirkung zu treten. Vielmehr hält das Gericht nach wie vor an der Staatsgerichtetheit der Grundrechte fest, sodass die Schutzpflicht ebenfalls durch die mittelbare Grundrechtsbindung mediatisiert wird.130 Außerdem bleibt das Abwehrrecht in der Rechtsprechung des BVerfG auch nach der Entdeckung der Schutzpflicht für privatrechtliche Konstellationen die ganz dominante Grundrechtsfunktion.131 Bis zum 2. Schwangerschaftsabbruchsurteil hat das BVerfG in keiner der Folgeentscheidungen zu dem Urteil von 1975 die Art und Weise der Wahrnehmung einer Schutzfunktion durch den Gesetzgeber beanstandet.132 In der Tat konnte das Gericht bislang der grundrechtlichen Schutzpflicht nur sehr wenig scharfe Konturen verleihen. Dies kann in seiner Rechtsprechung zu drittbelastenden Genehmigungsverfahren veranschaulicht werden.133 Der Tendenz nach bleiben dabei die Grundrechte als Abwehrrechte unberücksichtigt, solange die Genehmigungsvorschriften bloße Grundrechtsgefährdungen bzw. lediglich ein Restrisiko, nicht aber eine Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Positionen erlauben. Die durch das bloße Risiko begründete objektiv-rechtliche Schutzpflicht wurde ferner zunächst nur auf materiell-rechtliche Genehmigungsvoraussetzungen134 bezogen, später aber auch auf die Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens, d. h. auf verfahrensrechtliche

Transport von chemischen Waffen handelt. Die Gefahr ging aber hierbei nicht von Privaten aus, sondern von einem fremden Staat. 129 BVerfGE 81, 242 (255 f.) (Handelsvertreter). s. auch BVerfGE 89, 214 (232 ff.) (Bürgschaftsverträge); 97, 169 (175 ff.) (Kleinbetriebsklausel I), 103, 89 (100 ff.) (Unterhaltsverzichtsvertrag); 114, 1 (33 ff.) (Übertragung von Lebensversicherungsverträgen). 130 Vgl. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 242 ff., 267. 131 s. etwa BVerfGE 82, 272 (280 ff.) (Postmortale Schmähkritik); 84, 192 (195 f.) (Offenbarung der Entmündigung); 85, 1 (13 ff.) (Bayer-Aktionäre); 85, 248 (256 ff.) (Ärztliches Werbeverbot); 86, 1 (10 f.) (Titanic); 89, 1 (8 ff.) (Besitzrecht des Mieters); 90, 27 (32 ff.) (Parabolantenne I); 97, 391 (400 ff.) (Missbrauchsbezichtigung). 132 Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 541, 550. 133 BVerfGE 49, 89 (140 ff.) (Kalkar I); 53, 30 (57) (Mülheim-Kärlich). s. auch BVerfGE 56, 54 (73 ff.) (Fluglärm), 79, 174 (201 f.) (Straßenverkehrslärm), die nicht unmittelbar ein drittbelastendes Genehmigungsverfahren betreffen, aber damit im Zusammenhang stehen. Eine umfassende Analyse der Rspr. des BVerfG zu drittbelastenden Genehmigungsverfahren findet sich in Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 290 ff. 134 BVerfGE 49, 89 (142) (Kalkar I).

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

Regelungen.135 Gegenüber welchen Gefährdungen die Schutzpflicht aber aktualisiert wird, welche Bedingungen sie notwendig einfordert, welche materiellen und verfahrensrechtlichen Anforderungen sie aufstellt, bleibt allerdings unklar. Das BVerfG weicht vielmehr der Entwicklung fester dogmatischer Kriterien aus und lässt die Anforderungen des Schutzauftrags bewusst offen.136 Sowohl in den Entscheidungen zu Kalkar I und zu Mülheim-Kärlich als auch in denen zu Flug- und zu Straßenverkehrslärm schied entsprechend eine Verletzung der Schutzpflicht aus. Ähnlich wie beim Schwangerschaftsabbruch führten viele der Fälle, in denen die Schutzpflicht herangezogen wurde, zu einer Kollision zwischen Abwehrrecht und Schutzpflicht, die mittels einer Güterabwägung zu lösen sei.137 Angesprochen sind damit die Dreiecksverhältnisse, in denen der Staat zum Schutz eines Grundrechtsträgers in das Grundrecht eines anderen eingreift. Doch abgesehen von der Konstellation der Abtreibung statuiert das BVerfG in der Regel nicht eine bestimmte staatliche Hilfsmaßnahme zur Abwehr Angriffe Dritter. Vielmehr räumt das BVerfG dem Staat normalerweise einen weiteren Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich hinsichtlich der Erfüllung der Schutzpflicht ein. So, obwohl es für den Schwangerschaftsabbruch zunächst eine Pflicht zum Strafen statuierte und danach ein verfassungsrechtliches Schutzprogramm mit ausführlichen inhaltlichen Vorgaben entwickelte, lehnt es in den weiteren Entscheidungen ab, ein bestimmtes Schutzmittel vorzuschreiben.138 In der Regel führt das Gericht eigentlich nur eine Evidenz- bzw. Vertretbarkeitskontrolle durch und überprüft eingeschränkt, ob die staatlichen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind.139 Aus Respekt vor anderen Gewalten weist das BVerfG somit die Entscheidung über spezifische Schutzmaßnahmen regelmäßig wieder in die Sphäre der Politik zurück.140 Beide Urteile zum Schwangerschaftsabbruch gehen also im Ergebnis über die übliche Rechtsprechung zum Kontrollumfang der Schutzpflichtwahrnehmung weit hinaus. Das Kriterium des Untermaßverbots taucht außerdem in der überwiegenden Mehrheit der einschlägigen

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BVerfGE 53, 30 (58, 65 f.) (Mülheim-Kärlich). Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 304 f. 137 Vgl. etwa BVerfGE 45, 187 (254 f.) (Lebenslange Freiheitsstrafe); 49, 24 (55 f.) (Kontaktsperre-Gesetz); 53, 30 (57, 67 f.) (Mülheim-Kärlich); 64, 261 (276 ff.) (Hafturlaub); 97, 169 (175 ff.) (Kleinbetriebsklausel I); 99, 185 (196) (Scientology); 103, 89 (100) (Unterhaltsverzichtsvertrag); 115, 320 (346 ff.) (Rasterfahndung II); 120, 274 (319 ff.) (OnlineDurchsuchung); 121, 317 (356 f.) (Rauchverbot in Gaststätten). 138 BVerfGE 46, 160 (164 f.) (Schleyer); 49, 89 (136 ff. 142 ff.) (Kalkar I); 56, 54 (80 f.) (Fluglärm); 77, 170 (214 f.) (C-Waffen); 79, 174 (202) (Straßenverkehrslärm); 92, 26 (46) (Zweitregister); 121, 317 (356 f.) (Rauchverbot in Gaststätten). 139 BVerfGE 77, 170 (214 f.) (C-Waffen); 79, 174 (202) (Straßenverkehrslärm); 85, 191 (212) (Nachtarbeitsverbot); 92, 26 (46) (Zweitregister). s. auch BVerfGE 56, 54 (80 f.) (Fluglärm). 140 Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 409. 136

IV. IT-Grundrecht und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Entscheidungen gar nicht mehr auf.141 In der Tat hat das BVerfG außer bei den emotional aufgeladenen Problemen des Schutzes des ungeborenen Lebens nie auf eine Verletzung des Untermaßverbots abgestellt.142

IV. IT-Grundrecht und die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Mit dem Urteil zur Online-Durchsuchung und zur heimlichen Überwachung des Internetverkehrs vom 27. 02. 2008 markierte das BVerfG einen weiteren Meilenstein zum Schutz der Privatheit und der Persönlichkeitsentfaltung. Es kam dabei bekanntlich zur spektakulären dogmatischen Innovation einer neuen Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts: das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme – z. T. auch als Computer-Grundrecht, Grundrecht auf digitale Intimsphäre und IT-Grundrecht bezeichnet. Aufschlussreich ist dieses Urteil für die vorliegende Untersuchung nicht nur wegen seiner Aktualität, sondern zunächst insbesondere deshalb, weil das Gericht an dieser Stelle mit verschiedenen Kriterien operiert – nämlich mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der Schutzpflicht und der Wesensgehaltsgarantie.

1. Online-Durchsuchung (2008) Gegenstand der Verfassungsbeschwerden waren Vorschriften des Verfassungsschutzgesetzes Nordrhein-Westfalens (VSG), die einerseits Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde zu verschiedenen Datenerhebungen, insbesondere aus informationstechnischen (IT) Systemen, und andererseits den Umgang mit den erhobenen Daten regeln. Spezifisch § 5 Abs. 2 Nr. 11 VSG ermächtigte die Behörde zu zwei Arten von Überwachungsmaßnahmen: zum einen zum heimlichen Beobachten und sonstigen Aufklären des Internets, zum anderen zum heimlichen Zugriff auf ITSysteme (Online-Durchsuchung).143 Online-Durchsuchungen sollten den Ermitt141 Vgl. etwa BVerfGE 92, 26 (Zweitregister); 96, 56 (Vaterschaftsauskunft); 97, 169 (Kleinbetriebsklausel I); 99, 185 (Scientology); 103, 89 (Unterhaltsverzichtsvertrag); 114, 1 (Übertragung von Lebensversicherungsverträgen); 115, 118 (Luftsicherheitsgesetz); 115, 320 (Rasterfahndung II); 120, 274 (Online-Durchsuchung). 142 Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 69, Rn. 297b. 143 Vgl. BVerfGE 120, 274 ( 276 ff.). Unter der Aufklärung des Internets wird der Zugriff auf Internetkommunikation auf dem technisch dafür vorgesehenen Weg verstanden, etwa durch das Aufrufen von Internetseiten oder die Teilnahme an Chats, Foren oder Tauschbörsen. Dagegen geschieht der Zugriff auf IT-Systeme oder Speichermedien durch eine technische Infiltration, beispielsweise durch das Ausnutzen von Sicherheitslücken oder das Einschleusen von Spähprogrammen. Die Infiltration des Zielsystems ermöglicht es, dessen Festplatte auszulesen, Kommunikationsvorgänge zu überwachen oder gar das Zielsystem fernzusteuern.

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

lungsschwierigkeiten Rechnung tragen, die sich ergeben, wenn Straftäter, insbesondere solche aus extremistischen und terroristischen Kreisen, zur Kommunikation sowie zur Planung und Durchführung von Straftaten IT-Mittel und insbesondere das Internet nutzen. Die Verfassungsmäßigkeit dieser zwei Ermittlungsmaßnahmen wird im Urteil gesondert geprüft, wobei hier nur die eingehenderen Ausführungen des Gerichts über die Ermächtigung zum heimlichen Zugriff auf IT-Systeme oder Speichermedien nachvollzogen werden.144 In Bezug auf die Ermächtigung zur Online-Durchsuchung stellte das Gericht zunächst fest, dass die grundrechtlichen Gewährleistungen der Art. 10 und 13 GG wie auch die bisher entwickelten Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dem durch die Entwicklung der Informationstechnik entstandenen Schutzbedürfnis nicht hinreichend Rechnung trügen.145 Angesichts der verbleibenden Schutzlücke und der lückenfüllenden Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelte das BVerfG dann anhand des Falles eine neue Ausprägung dieses 144

Hinsichtlich der Ermächtigung zur Aufklärung des Internet entschied das Gericht, dass § 5 Abs. 2 Nr. 11 S. 1 Alt. 1 VSG, soweit er auch die heimliche Kenntnisnahme von Kommunikationsvorgängen ermöglicht, das durch Art. 10 Abs. 1 GG gewährleistete Telekommunikationsgeheimnis verletze. Die angegriffene Norm genüge weder dem Gebot der Normenbestimmtheit noch der Verhältnismäßigkeit i. e. S. Zudem enthalte sie keine Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung und werde dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG nicht gerecht. Vgl. BVerfGE 120, 274 (340 ff.). 145 BVerfGE 120, 274 (306). Der Schutzbereich des Telekommunikationsgeheimnisses erfasse zwar auch die Kommunikationsdienste des Internets (s. etwa BVerfGE 113, 348/383). Art. 10 Abs. 1 GG schütze allerdings nur den Kommunikationsvorgang selbst, nicht aber die nach dem Abschluss der Datenübermittlung gespeicherten Daten. Durch den heimlichen Zugriff auf IT-Systeme können allerdings sowohl die infolge der Kommunikation gespeicherten als auch die auf dem Rechner abgelegten Daten zur Kenntnis genommen werden, die gar keinen Bezug zu einer telekommunikativen Nutzung des Systems aufweisen. Die dadurch bedingte Gefährdung gehe somit weit über die hinaus, die mit einer bloßen Überwachung der laufenden Telekommunikation verbunden sei, sodass Art. 10 Abs. 1 GG zu kurz greife (S. 307 ff.). Auch die Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung belasse Schutzlücken. Art. 13 Abs. 1 GG sei nach dem Gericht nur dann betroffen, wenn der Eingriff in der als Wohnung geschützten Räumlichkeit stattfinde – z. B. wenn mit Hilfe des Systems Vorgänge innerhalb der Wohnung überwacht werden oder wenn Ermittler in Wohn- oder Geschäftsräume eindringen, um Überwachungssoftware zu installieren. Da aber der Zugriff auf Rechner auch völlig unabhängig vom Standort erfolgen könne, sei der raumbezogene Schutz nicht in der Lage, die spezifische Gefährdung des IT-Systems abzuwehren (S. 309 ff.). Das Gericht geht schließlich davon aus, dass auch die bisher in der Rspr. entwickelten Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, insbesondere die Gewährleistungen des Schutzes der Privatsphäre und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, keinen hinreichenden Schutz eines IT-Systems böten. Das Schutzbedürfnis des Nutzers eines IT-Systems beschränke sich zum einem nicht allein auf Daten, die seiner Privatsphäre zuzuordnen seien. Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung trage den Persönlichkeitsgefährdungen nicht vollständig Rechnung. Ein Dritter, der auf ein solches System zugreift, könne sich eine potentiell äußerst große und aussagekräftige Datenmasse verschaffen, ohne noch auf weitere Datenerhebungs- und Datenverarbeitungsmaßnahmen angewiesen zu sein. Ein solcher Zugriff gehe in seinem Gewicht für die Persönlichkeit des Betroffenen über einzelne Datenerhebungen, vor denen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schütze, weit hinaus (S. 311 ff.).

IV. IT-Grundrecht und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Rechts: das Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Dieses Grundrecht, das auch auf Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG fuße, bewahre den persönlichen und privaten Lebensbereich der Grundrechtsträger vor staatlichem Zugriff im Bereich der Informationstechnik. Es sei anzuwenden, wenn die Eingriffsermächtigung Systeme erfasse, die allein oder in ihren technischen Vernetzungen personenbezogene Daten des Betroffenen in einem Umfang und in einer Vielfalt enthalten könnten, dass ein Zugriff auf das System es ermögliche, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person zu gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit zu erhalten.146 § 5 Abs. 2 Nr. 11 S. 1 Alt. 2 VSG ermögliche gerade einen Zugriff auf derartige Massenspeicher, sodass ein Eingriff in den Schutzbereich des IT-Grundrechts vorliege. Dieser Eingriff sei ferner verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Die Norm genüge weder dem Gebot der Normklarheit und Normenbestimmtheit147 noch den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Sie enthalte außerdem keine hinreichenden Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlange nach dem Gericht, dass ein Grundrechtseingriff einem legitimen Zweck diene und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen sei. Die Legitimität des Zwecks sowie die Geeignetheit und die Erforderlichkeit des Mittels werden in der Entscheidung kurz analysiert und bejaht.148 Nach § 3 Abs. 1 VSG dienen die vorgesehenen Datenerhebungen der im Vorfeld konkreter Gefahren einsetzenden Sicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes von Bund und Ländern sowie bestimmter auf das Verhältnis zum Ausland gerichteter Interessen der Bundesrepublik. Diese Zwecke seien dem Gericht nach im Prinzip legitim, denn sie hingen mit der aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG folgenden Schutzpflicht des Staates für Leib, Leben und Freiheit zusammen, d. h. mit Verfassungswerten, die mit anderen hochwertigen Gütern im gleichen Rang stünden. Der heimliche Zugriff auf 146 BVerfGE 120, 274 (313 ff.) Dieses Grundrecht enthält Überschneidungen zu den anderen Teilausprägungen des Persönlichkeitsschutzes, gewinnt aber nach Hoffmann-Riem, JZ 2008, 1009, 1014, seine besondere Bedeutung durch die gegenständliche Konzentration auf den Schutz der Inanspruchnahme von IT-Systemen für eigene persönlichkeitsbezogene Zwecke gegen damit verbundene Gefährdungen. Zu einer Unterscheidung aufgrund der Anforderungen an die Eingriffsvoraussetzungen s. T. Böckenförde, JZ 2008, 925, 928. 147 Nach dem Bestimmtheitsgrundsatz habe der Gesetzgeber Anlass, Zweck und Grenzen eines Eingriffs hinreichend bereichsspezifisch, präzise und normenklar festzulegen. Zu der Antwort auf die Frage, in welche Grundrechte Ermittlungsmaßnahmen der Verfassungsschutzbehörde eingreifen, sei somit zunächst und vorrangig der Gesetzgeber berufen. Er dürfe zwar auf andere Normen verweisen. Allerdings müsse hinreichend klar sein, in welchen Fällen der Verweis gelten solle. Lässt der Gesetzgeber dies – wie hier – offen, indem er nur formuliert, es werde verwiesen, „falls ein Eingriff in Art. 10 GG vorliege“, genüge dies nicht. Soweit § 5 Abs. 2 Nr. 11 VSG auf die Eingriffsvoraussetzungen des Gesetzes zu Art. 10 GG verweise, verstieße er folglich bereits gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. BVerfGE 120, 274 (316 ff.). 148 BVerfGE 120, 274 (319 ff.). Allerdings, wie im Folgenden erörtert wird, sind in der umfassenderen Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e. S. auch Überlegungen zu finden, die sich in die vorherigen Stufen des Grundsatzes einordnen lassen.

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

IT-Systeme sei ferner geeignet, diesen Zielen zu dienen. Mit ihm würden die Möglichkeiten der Verfassungsschutzbehörde zur Aufklärung von Bedrohungslagen erweitert. Die Maßnahme verletze auch den Grundsatz der Erforderlichkeit nicht. Zwar wäre eine offene Durchsuchung des Zielsystems gegenüber dem heimlichen Zugriff als milderes Mittel anzusehen. Sie verspreche aber nicht den gleichen Erkenntnisgewinn. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit i. e. S. verlange schließlich, dass die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen dürfe. Die Prüfung an diesem Maßstab könne dazu führen, dass ein Mittel nicht zur Durchsetzung von Allgemeininteressen angewendet werden dürfe, weil die davon ausgehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen schwerer wögen als die durchzusetzenden Belange.149 Das Gericht wertet hierbei den mit der Online-Durchsuchung verbundenen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht als besonders schwerwiegend.150 Sie öffne dem Staat den Zugang zu einem umfassenden Datenbestand, der herkömmliche Informationsquellen an Umfang und Vielfältigkeit bei weitem übertreffen könne und ein beträchtliches Potential für die Ausforschung der Persönlichkeit des Betroffenen aufweise. Da Daten erhoben werden könnten, die Aufschluss über die Kommunikation des Betroffenen mit Dritten gäben, könne der Eingriff auch die Freiheit der Bürger zur unbefangenen Individualkommunikation beeinträchtigen. Zudem würden mit den Kommunikationspartnern der Zielperson notwendigerweise Dritte erfasst, ohne dass es darauf ankäme, ob in deren Person die Voraussetzungen für einen derartigen Zugriff vorlägen. Die Eingriffsintensität des Zugriffs werde weiter durch dessen Heimlichkeit verstärkt. Zum einen müsse Heimlichkeit staatlicher Eingriffsmaßnahmen in einem Rechtsstaat die Ausnahme bilden; zum anderen schließe sie die Einflusschance der Betroffenen auf den Ermittlungsgang aus. Schließlich werde das Gewicht des Eingriffs auch dadurch geprägt, dass infolge des Zugriffs Gefahren für die Integrität des Zugriffsrechners sowie für Rechtsgüter des Betroffenen oder auch Dritter begründet würden. Angesichts der Schwere des Eingriffs entspreche die Online-Durchsuchung im Rahmen einer präventiven Zielsetzung nur dann dem Gebot der Angemessenheit, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestünden.151 Überragend wichtig seien nach dem ersten Senat Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berühre. Die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage müsse somit als Voraussetzung des heimlichen Zugriffs vorsehen, dass zumindest tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für die genannten Schutzgüter bestünden, sodass Vermutungen oder allgemeine Erfahrungssätze allein nicht ausreichten, um den 149 150 151

BVerfGE 120, 274 (321 f.). BVerfGE 120, 274 (322 ff.). BVerfGE 120, 274 (328 ff.).

IV. IT-Grundrecht und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Zugriff zu rechtfertigen. Die Maßnahme könne allerdings schon dann gerechtfertigt sein, wenn noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststehe, dass die Gefahr in näherer Zukunft eintrete, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinwiesen. Diese Drohung müsse weiter von individualisierbaren und identifizierten Personen ausgehen, sodass die Maßnahmen gezielt gegen sie eingesetzt werden könnten. Eine Ermächtigung zum heimlichen Zugriff auf IT-Systeme müsse überdies auch mit geeigneten gesetzlichen Vorkehrungen verbunden werden, um die Interessen des Betroffenen verfahrensrechtlich abzusichern.152 Insbesondere sei der Zugriff grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen. Der Richtervorbehalt rechtfertige sich v. a. daraus, dass die Online-Durchsuchung heimlich erfolge, sodass der Betroffene, der regelmäßig erst nach Abschluss der Maßnahme von ihr erfahre, keine juristischen Abwehrmöglichkeiten habe. Der Gesetzgeber dürfe eine andere Stelle nur dann mit der Kontrolle betrauen, wenn diese gleiche Gewähr für ihre Unabhängigkeit und Neutralität biete wie ein Richter. Von dem Erfordernis einer vorherigen Kontrolle der Maßnahme durch eine dafür geeignete neutrale Stelle dürfe jedoch eine Ausnahme für Eilfälle, etwa bei Gefahr im Verzug, vorgesehen werden, wenn für eine anschließende Überprüfung durch die neutrale Stelle gesorgt sei. Den dargestellten Anforderungen genüge die angegriffene Norm nicht.153 Es fehle schließlich auch an hinreichenden gesetzlichen Vorkehrungen, um Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung zu vermeiden.154 Eine Ermittlungsmaßnahme wie die Online-Durchsuchung schaffe gegenüber anderen Überwachungsmaßnahmen die gesteigerte Gefahr, dass Daten höchstpersönlichen Inhalts erhoben würden. Heimliche Überwachungsmaßnahmen hätten jedoch einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zu wahren, dessen Schutz sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebe. Für die Gewährleistung des verfassungsrechtlich gebotenen Kernbereichsschutzes brachte das Gericht darüber hinaus ein zweistufiges Schutzkonzept hervor: Die gesetzliche Regelung habe darauf hinzuwirken, dass die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten so weit wie möglich unterbleibe. Speziell seien verfügbare informationstechnische Sicherungen einzusetzen. Ist es – wie bei dem heimlichen Zugriff auf ein IT-System – praktisch unvermeidbar, Informationen zur Kenntnis zu nehmen, bevor ihr Kernbereichsbezug bewertet werden könne, müsse für hinreichenden Schutz in der Auswertungsphase

152

BVerfGE 120, 274 (331 ff.). BVerfGE 120, 274 (333 ff.). Die Norm setzt für die Online-Durchsuchung lediglich tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme voraus, dass auf diese Weise Erkenntnisse über verfassungsfeindliche Bestrebungen gewonnen werden können. Dies sei sowohl hinsichtlich der tatsächlichen Voraussetzungen für den Eingriff als auch des Gewichts der zu schützenden Rechtsgüter keine hinreichende materielle Eingriffsschwelle. Eine vorherige Prüfung durch eine unabhängige Stelle ist auch nicht vorgesehen. 154 BVerfGE 120, 274 (335 ff.). 153

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

gesorgt sein. Insbesondere müssten aufgefundene und erhobene Daten mit Kernbereichsbezug unverzüglich gelöscht und ihre Verwertung ausgeschlossen werden.

2. Anmerkung: Verhältnismäßigkeit, Schutzpflicht und Wesensgehaltsgarantie Im Urteil zur Online-Durchsuchung gelingt es dem BVerfG gleichzeitig, der Notwendigkeit einer kontinuierlich dynamischen Verfassungsinterpretation und der Anforderung konsistenten Entscheidens (d. h. Konsistenz mit dem geltenden Recht) weitgehend zu genügen.155 Trotzdem können einige dogmatische Unstimmigkeiten in der Entscheidungsbegründung gefunden werden. Insbesondere taucht hier nochmals die Neigung des Gerichts auf, unter dem Stichwort der Verhältnismäßigkeit i. e. S. bzw. der Abwägung andere Elemente des Übermaßverbots zu prüfen. Unter dem Titel der Güterabwägung werden nämlich v. a. Zweckvorgaben und die Bindung des Mittels an dem Zweck (nicht aber sein Wert oder Gewicht) herausgearbeitet. Schon früher – im Volkszählungsurteil – legte das Gericht in diesem Sinne fest, dass Informationseingriffe zweckbezogen und zweckgebunden geschehen und die Informationserhebungen und -verwendungen durch bereichsspezifische Gesetze geregelt werden müssen.156 Genau diese Zweckvorgabe und -bindung hat das Gericht nun im Hinblick auf das IT-Grundrecht aktualisiert. Da das einschlägige Gesetz der Abwehr bestimmter Gefahren dienen soll, muss der Eingriff eben davon abhängen, dass tatsächliche Anhaltspunkte gerade dieser konkreten Gefahr vorliegen. Was hier klargelegt wird, ist die Notwendigkeit des Bezugs zwischen Eingriff und Zweck und nicht etwa der Wert der Grundrechtsbeeinträchtigung oder des Zwecks. Werden tatsächliche Anhaltspunkte nicht verlangt, dann ist es eigentlich durchaus fraglich, dass die Eingriffsermächtigung den Geboten der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Bestimmtheit Rechnung trägt. Selbstverständlich führt eine grenzenlose Erhebung, Speicherung und Verarbeitung 155 In diesem Sinne erkannte das Gericht einerseits den ungesättigten Grundrechtsgehalt und das Erfordernis, der rapiden Entwicklung der Informations- und Telekommunikationstechnik durch eine dynamische Verfassungsauslegung Rechnung zu tragen. Zugleich aber fügt sich das Urteil inhaltlich in die bisherige Rspr. des BVerfG und in die vorhandenen verfassungsrechtlichen Maßstäbe zum Schutz der Privatheit auf kohärente Weise ein. Zur jüngeren Rspr. des BVerfG betreffend die Entwicklung von technischen Überwachungsmitteln und neuen sicherheitspolitischen Instrumenten vgl. Poscher, JZ 2009, 269, 270; BVerfGE 109, 279 ff. (Großer Lauschangriff); 113, 348 ff. (Vorbeugende Telekommunikationsüberwachung). 156 s. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 467. BVerfGE 65, 1 (46) (Volkszählung): „Ein Zwang zur Angabe personenbezogener Daten setzt voraus, dass der Gesetzgeber den Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt und dass die Angaben für diesen Zweck geeignet und erforderlich sind. (…) Auch werden sich alle Stellen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben personenbezogene Daten sammeln, auf das zum Erreichen des angegebenen Zieles erforderliche Minimum beschränken müssen. Die Verwendung der Daten ist auf den gesetzlich bestimmten Zweck begrenzt.“

IV. IT-Grundrecht und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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von Informationen zur Effektivitätssteigerung der Sicherheitspolitik. So aber sind die Zweckvorgaben, die Geeignetheit und die Erforderlichkeit im Rahmen von Informationseingriffen nicht zu verstehen.157 Dient der Eingriff der Abwehr bestimmter Gefahren, muss die Gefahrprognose „auf die Entstehung einer konkreten Gefahr bezogen sein“158. Die Geeignetheit lässt zwar einen Prognosespielraum, aber jede Prognose muss einen konkret umrissenen Ausgangspunkt im Tatsächlichen besitzen, was hier zu dem Erfordernis von Anhaltspunkten der konkreten Gefahr durch die Zielperson führt. Durch die Anforderung tatsächlicher Anhaltspunkte stellt der Eingriff ferner ein milderes Mittel für die Grundrechtsträger dar. Er behält aber die gleiche Erfolgstauglichkeit im Hinblick auf konkrete Gefahren – nicht aber hinsichtlich eines pauschal angenommenen Sicherheitsinteresses. Die Unbestimmtheit des Gesetzes eröffnet also letztlich mehr Eingriffe, als zur Erreichung des Gesetzeszwecks notwendig sind. Nach dem Bestimmtheitsgrundsatz hat der Gesetzgeber schließlich Anlass, Zweck und Grenzen eines Eingriffs hinreichend bereichsspezifisch, präzise und normenklar festzulegen.159 Lässt die Ermächtigungsnorm unbestimmte Tatbestandselemente genügen, für deren nähere Bestimmung die Norm keine hinreichenden Anhaltspunkte bietet, begegnet sie auch Bestimmtheitsbedenken.160 Dass der Grundrechtseingriff gemessen an dem angestrebten Zweck durchführenswert sein kann, wird nicht abgelehnt. Er muss aber bestimmt geregelt werden und an den angestrebten Zweck gebunden sein. Auch die Heranziehung der Schutzpflicht erweist sich in dieser wie auch in anderen Entscheidungen161 als ambivalent: Einerseits wird nämlich allgemein auf eine grundrechtliche Schutzfunktion abgestellt, andererseits werden aber nur abwehrrechtliche Prüfungsmaßstäbe – und nicht etwa das mit Schutzpflichten in Verbindung gebrachte Untermaßverbot – angewendet. Das Gericht beruft sich im Endeffekt auf die Schutzpflicht, um die Legitimität des Zwecks zu bejahen. Es übernimmt dabei die vom Gesetzgeber ohnehin angestrebten Zwecke und projiziert sie auf die Verfassungsrechtsebene. Es versteht sich aber, dass der Bestand des Bundes und eines Landes sowie die Sicherheit der Bevölkerung vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit – unabhängig vom Vorliegen einer grundrechtlich abgeleiteten Schutzpflicht – legitime Zwecke sind.162 Das Argumentieren mit Schutzpflicht bleibt insofern 157 Vgl. in diesem Sinne den Ansatz von Schlink (G.I.3.), dem zufolge die verschiedenen Zweck- und Mittelverbote und -gebote einzelner Grundrechte zusammen mit den Geeignetheits- und Notwendigkeitskriterien den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterschiedlich ausformen. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 195, 199 ff.; ders., EuGRZ 1984, 457, 460 f. 158 BVerfGE 120, 274 (328) (Online-Durchsuchung). 159 s. BVerfGE 120, 274 (316) (Online-Durchsuchung). 160 Vgl. im diesem Sinne BVerfGE 110, 33 (67 f.) (Zollkriminalamt). 161 BVerfGE 115, 118 (152) (Luftsicherheitsgesetz); 115, 320 (346 f.) (Rasterfahndung II). s. auch BVerfGE 45, 187 (254 f.) (Lebenslange Freiheitsstrafe); 49, 24 (53 f.) (KontaktsperreGesetz); 64, 261 (275) (Hafturlaub). 162 s. aber BVerfGE 120, 274 (319) (Online-Durchsuchung); 115, 320 (346 f.) (Rasterfahndung II). Ähnliches gilt für den Schutz der Bevölkerung vor Gesundheitsgefahren in

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

rhetorisch, als das BVerfG sie nur zur Bestätigung der ohnehin vorhandenen Zwecklegitimität oder als ein pauschales Argument in der „Gesamtabwägung“ benutzt. Nicht gemischt mit der „Gesamtabwägung“ ist hingegen die Herausarbeitung und Anwendung eines aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten und absolut geschützten Kernbereichs der privaten Lebensgestaltung. Zwar spricht das Gericht an dieser Stelle nicht von Wesensgehaltsgarantie oder Mindestposition. Es erklärt aber diesen Kernbereich eindeutig für absolut geschützt, d. h. für unantastbar, und macht somit klar, dass er einem vergleichenden Abwägen und Gewichten im Einzelfall nicht unterzogen werden kann.163 Diese Konstruktion legt die Annahme eines absoluten Wesensgehalts mindestens sehr nahe, und in der Tat hat das Gericht schon früher auf den Zusammenhang zwischen dem Kernbereich privater Lebensgestaltung und der Wesensgehaltsgarantie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hingewiesen.164 Die angegriffene Norm scheiterte also auch an der Nichtwahrung der den Wesensgehalt ausdrückenden Mindestposition des Grundrechts. Im Ergebnis lässt sich somit beobachten, dass auch in diesem Urteil die These von Schlink aktuell wird, der zufolge ein Eingriff in der Regel nicht an einem Missverhältnis zwischen dem Wert der beeinträchtigten Freiheit und dem Rang des öffentlichen Guts scheitert, sondern vielmehr an seiner mangelnden Zwecklegitimität, Geeignetheit und Notwendigkeit zur Förderung des öffentlichen Guts sowie an der Nichtwahrung der Mindestposition.165 Die Herausarbeitung vieler dieser Aspekte unter der freischwebenden Verhältnismäßigkeit i. e. S. scheint allerdings der bequemere und den Entscheidungsspielraum weiter öffnende Weg zu sein. BVerfGE 121, 317 (349, 356) (Rauchverbot in Gaststätten). Hierbei wird die Schutzpflicht als ein pauschales Argument in der „Gesamtabwägung“ verwendet. Trotz der Gemengelage von Verhältnismäßigkeit i. e. S. und Schutzpflicht scheiterte das Gesetz aber letztlich aufgrund eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. 163 BVerfGE 120, 274 (335 ff.) (Online-Durchsuchung). Noch deutlicher BVerfGE 109, 279 (314) (Großer Lauschangriff): „Dieser Schutz darf nicht durch Abwägung mit den Strafverfolgungsinteressen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes relativiert werden.“ 164 BVerfGE 6, 32 (41) (Elfes); 27, 1 (6 f.) (Mikrozensus); 80, 367 (373 f.) (Tagebuch). Der Entwurf eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung greift eigentlich auf ein Sphärenmodell des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zurück, demzufolge sich die Persönlichkeit in drei konzentrisch angelegten Sphären entfaltet: der Sozialsphäre, der Privatsphäre und der Intimsphäre. Die Sozialsphäre umfasst die Darstellung einer Person in der Öffentlichkeit; die Privatsphäre ihr Handeln in kommunikativen Zusammenhängen (etwa in Freundschaften oder der Familie) und die Intimsphäre betrifft schließlich die innere Gedankenwelt (wie sie sich etwa in Tagebuchaufzeichnungen oder vertraulichen Briefen und Gesprächen mit engsten Verwandten und Vertrauten äußert). Während Eingriffe in die Sozial- und Privatsphäre nach der herkömmlichen Eingriffsdogmatik möglich sein sollen, bildet die Intimsphäre den Kernbereich der Persönlichkeit. s. Poscher, JZ 2009, 269, 271; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 88, Rn. 376. Dass der Wesensgehalt und der Menschenwürdegehalt eines Grundrechts evtl. miteinander konvergieren können, sieht das BVerfG auch in E 109, 279 (311) (Großer Lauschangriff). 165 s. u. G.I.3.; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 17 – 126; ders., EuGRZ 1984, 457, 461.

V. Abwägungsdenken im brasilianischen Verfassungsrecht

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V. Exkurs über die Rezeption des Abwägungsdenkens im brasilianischen Verfassungsrecht Als interessantes Beispiel der Tendenz zur Übernahme des Kollisionsdenkens und der damit verbundenen Abwägungsmethode zeigt der Bezug auf das STF, wie die Anwendung dieser Methode und das Verständnis der Grundrechte als Wertentscheidungen auch in einer anderen verfassungsrechtlichen Realität zu vergleichbaren, problematischen Ergebnissen führen kann. Abgesehen von mehreren unübersetzbaren Unterschieden der sozialen Rahmenbedingungen und der verfassungsrechtlichen Kultur Deutschlands und Brasiliens lässt sich nämlich gerade bei der Hinwendung zur Demokratisierung nach einer autoritären Periode eine zunehmende Tendenz zur Juridifizierung der Politik und zum Aktivismus der Verfassungsgerichtsbarkeit auch in Brasilien feststellen.166 Dieser Prozess wird darüber hinaus durch die Rezeption des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Abwägungsgebots begleitet, die als allgemeine Kriterien der Rechtsprechung verstanden werden, welche in der Lage seien, die Rationalität der Wertejudikatur zu garantieren und die Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Kontrollmöglichkeit zu legitimieren. Die folgenden Bemerkungen zeigen zunächst den starken Einfluss des Wertdenkens und des Abwägungskonzepts – insbesondere in ihrer Ausprägung durch die Prinzipientheorie von Alexy – in der brasilianischen Grundrechtsdogmatik. Einige Einwände gegen diese Rezeption werden weiter unten (F.) diskutiert. Erwähnenswert ist allerdings bereits jetzt, dass der Einfluss der deutschen Grundrechtsdogmatik in Brasilien weniger die dogmatischen Strukturen des Abwehrrechts per se als vielmehr das Wert- und Abwägungsdenken umfasst.

1. Oberstes Bundesgericht: Zuständigkeiten, Wendung zum Aktivismus und Übernahme der Abwägungsdogmatik Das brasilianische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit ist von einer komplexen institutionellen Symbiose gekennzeichnet: Es kennt sowohl die diffuse und inzidente Normenkontrolle als auch die konzentrierte und direkte Kontrolle vor dem STF. Seit Beginn der brasilianischen republikanischen Geschichte besteht die unter US-amerikanischem Einfluss entwickelte inzidente Normenkontrolle. Jeder Richter und jedes Gericht beurteilt somit anlässlich seiner Entscheidung des anstehenden Einzelfalles auf Antrag einer Partei die Verfassungsmäßigkeit und folglich die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit der einschlägigen Norm (Verwerfungsbefugnis). Das abstrakte Normenkontrollverfahren vor dem STF zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes oder eines normativen Aktes des Bundes

166

s. Benvindo, On the Limits of Constitutional Adjudication, S. 83 ff.

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

bzw. eines Landes wurde erst 1965 eingeführt167 und seit 1988 erheblich ausgedehnt.168 Die Kombination beider Systeme gibt dem STF eine besondere Position sowohl als letztinstanzlichem Organ der einzelnen Gerichtsbarkeiten, deren Tätigkeit sich hauptsächlich auf die in konkreten Rechtsstreitigkeiten diskutierten Verfassungsfragen konzentriert, als auch als einem Verfassungsgericht, das unmittelbar im abstrakten Normenkontrollverfahren die Verfassungsmäßigkeit von Bundes- und Landesgesetzen am Maßstab der Verfassung überprüft.169 Das STF ist das höchste Rechtsprechungsorgan der brasilianischen Justiz. Es wurde im Jahr 1891 eingerichtet und ist die beständigste Institution der brasilianischen Republik. Es hat sechs Verfassungen institutionell standgehalten und im Laufe seiner Geschichte existenzbedrohende Krisen überstanden – insbesondere während der zwei Diktaturperioden (1937 bis 1945 und 1964 bis 1985).170 Durch die geltende Verfassung von 1988 (CF) und die damit erfolgten Änderungen des Justizwesens171 sowie durch die Erweiterung der abstrakten Normenkontrollverfahren beschäftigt sich das Gericht derzeit vornehmlich mit Verfassungsfragen. Ihm obliegt gemäß dem Art. 102 CF die Aufgabe eines „Hüters der Verfassung“.172 Die CF zählt eine Fülle 167

Allerdings haben die Verfassung von 1934 (noch zögerlich) und die Verfassung von 1946 (dann unmissverständlich) bereits eine Art direkter Verfassungskontrolle vorgesehen: die sog. interventive Feststellungsklage (representação interventiva). Dieses Verfahren besteht noch heute und ist eine Voraussetzung für eine Bundesintervention in ein Land zum Schutz bestimmter Verfassungsprinzipien. 168 1965 wurde das Antragsrecht allein dem Bundesgeneralstaatsanwalt anvertraut. Durch die Verfassung von 1988 ist der Kreis der Antragsberechtigten beträchtlich erweitert, um verschiedene Verfassungsorgane des Bundes und der Länder, politische Parteien mit Vertretung im Nationalen Kongress und gesellschaftliche Organisationen (wie etwa Gewerkschaften) einzuschließen (vgl. Art. 103 CF). Sowohl die CF selbst als auch einige nachträgliche Verfassungsänderungen haben außerdem weitere Arten von abstrakten Normenkontrollverfahren geschaffen und allgemein die Einflussmöglichkeit des STF im institutionellen Gefüge ausgedehnt. 169 Mendes, Jurisdição constitucional, S. 19 ff.; ders., Die abstrakte Normenkontrolle, S. 33 ff. 170 So wurde z. B. 1937 die Möglichkeit geschaffen, gerichtliche Verfassungswidrigkeitsentscheidungen durch Gesetz aufzuheben. Diese Befugnis wurde aber effektiv durch Erlass von Dekret-Gesetzen des Diktators ausgeübt. Auch 1967 hat die Regierung einen „institutionellen Akt“ erlassen, der dem Präsidenten diktatorische Vollmacht gab und den Richtern die persönlichen Garantien nahm, sodass 1969 die erzwungene Amtsaufgabe von Richtern des STF dekretiert wurde. 171 Die CF schuf z. B. das Obere Gericht der Justiz (STJ), dem u. a. die Kontrolle aller Entscheidungen der Regionalen Bundesgerichte und der Berufungsgerichte der Einzelstaaten am Maßstab des Bundesrechts obliegt (Art. 105 CF). Diese Zuständigkeiten standen früher dem STF zu. 172 Das Gericht setzt sich aus elf Richtern (Ministros) zusammen, die vom Präsidenten der Republik nach der Zustimmung der absoluten Mehrheit des Bundessenats ernannt werden (Art. 101 CF). Die mit je fünf Richtern besetzten Senate sind gleichgeordnet und haben dieselben Zuständigkeiten. Der Präsident des STF gehört nicht zu einem Senat, ist aber im Plenum tätig und hat u. a. organisatorische Aufgaben. Die wichtigsten Verfassungsfragen – wie die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder sonstiger Regelungen und die Bund-Länder-

V. Abwägungsdenken im brasilianischen Verfassungsrecht

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von Befugnissen des STF auf, wobei auch hier das Enumerationsprinzip gilt.173 Es entscheidet demnach in erster Instanz u. a. über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, über Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern sowie zwischen den Ländern untereinander, über unrechtmäßige Handlungen des Staatspräsidenten und anderer Staatsorgane, über Rechtsstreitigkeiten zwischen einem ausländischen Staat oder einer internationalen Organisation und dem Bund oder einem Land, ebenso wie über die Bewilligung der Auslieferungen (Art. 102 I CF). Als Berufungsgericht ist es zuständig für abweisende Urteile der Obergerichtshöfe bei Habeas-Corpus, Sicherungsverfügung (mandado de segurança), Habeas-Data und Injunktionsmandat (mandado de injunção) sowie bei politischen Straftaten (Art. 102 II CF). Schließlich kann jedes letztinstanzliche Gerichtsurteil mit einem außerordentlichen Rechtsmittel (recurso extraordinário) vor dem STF angefochten werden, insbesondere wenn damit ein Verfassungsverstoß geltend gemacht wird (Art. 102 III CF). Trotz der besonderen Stellung des STF war die Gestaltung des Gewaltenteilungsgrundsatzes bislang in Brasilien gewissermaßen durch eine Zentralisierung und Hypertrophie der Exekutive geprägt, wobei die wohl nicht unbedeutenden Perioden von Diktatur und/oder Populismus dazu entscheidend beigetragen haben. In der Tat zeigen mehrere Argumentationsfiguren des STF eine Neigung zum Formalismus und eine (manchmal sogar schädliche) Tendenz zu richterlicher Zurückhaltung, wie die Anwendung der political-question-Doktrin, die Gewährung eines großen – auch innenpolitischen – Exekutivermessens und die Anerkennung von nicht unmittelbar anwendbaren Verfassungsnormen bzw. von programmatischen Normen (Programmsätze)174 belegen. In diesem Sinne hebt Baracho Júnior hervor, dass aus den diktatorischen Eingriffen in die Tätigkeit des STF sich die Schwierigkeit der Konsolidierung einer kohärenten Rechtsprechung ergebe. Immerhin habe der sozialstaatliche Entwurf eines Vorrangs des öffentlichen (d. h. staatlichen) Interesses gegenüber dem privaten Interesse die Rechtsprechung des STF bedeutend geprägt. Diese Idee sowie die political-question-Lehre haben insbesondere während der diktatorischen Perioden den Schutz der Freiheitsrechte erheblich beeinträchtigt.175 Streitigkeiten – gelangen im Plenum zur Entscheidung. Regeln über Errichtung, Organisation, Zuständigkeiten und Verfahrensrecht finden sich hauptsächlich in den Art. 101 bis 103-A CF, im Gesetz 9.868/1999 und in seiner Geschäftsordnung. 173 Vgl. die Zuständigkeit des STF in Art. 102, 103, 34 VII i. V. m. 36 III CF. Eine Teilübersetzung des Verfassungstextes von 1988 findet sich in: Paul, Die brasilianische Verfassung von 1988, S. 126 ff. (auch in: JöR 38/1989, S. 462 ff.). 174 Vgl. Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, S. 82; STF, MI- QO 107 v. 23. 11. 1989 1 (19 ff. und passim) (DJ 21. 09. 1990); MI 369 v. 19. 08. 1992, 15 (31, 57 ff.) (DJ 26. 02. 1993); MI 372 v. 01. 08. 1994, 102 (110 ff.) (DJ 23. 09. 1994). s. hingegen die Umorientierung und die Übernahme einer aktiveren Rolle bezüglich des Injunktionsmandats in MI 712 v. 25. 10. 2007, 384 (394, 399 ff., 407 f., 416 ff.) (DJ 31. 10. 2008); MI 670 v. 25.10. 2007 (DJ 31. 10. 2008). Zu den sozialen Rechten – insbesondere zum Recht auf Gesundheit – s. u. C.V.2. 175 Baracho Júnior, in: Crise e desafios da Constituição, S. 509, 512 f. Im Laufe der letzten Jahre können aber nach ihm Indizien einer neuen hermeneutischen Orientierung bezüglich der

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Es ist allerdings kaum in Frage zu stellen, dass allmählich, v. a. seit den 1990erJahren, ein Wandel im Verständnis der verfassungsrechtlichen Methodik und überhaupt in der Selbstinterpretation der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit stattfindet. Zu dieser neuen hermeneutischen Orientierung zählen insbesondere das Verständnis der Grundrechte als objektive Prinzipien bzw. Wertentscheidungen, die Übernahme des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als Kontrollmaßstab und die Prämisse, dass Prinzipienkollisionen eine Abwägung verlangen. In diesem Zusammenhang spricht man u. a. von „der neuen verfassungsrechtlichen Interpretation“ oder auch von „der neuen Hermeneutik der Rechtsprechung des STF“.176 Die Überwindung des Rechtsformalismus gilt daher als wichtigster Fortschritt der CF, sodass sich eine wertbestimmte Auslegung des Rechts gegen die frühere positivistische Auslegungsmethode der Gesetzestreue weitgehend durchsetzt. Gerade bei der Hinwendung zur Demokratisierung nach einer autoritären Periode lässt sich also auch in Brasilien eine Rechtsrenaissance mit einem zunehmenden Trend zur Juridifizierung der Politik und zum Aktivismus der Verfassungsgerichtsbarkeit feststellen – ähnlich wie in der Nachkriegszeit in Deutschland.177 Nach dem Ende der Militärdiktatur, nach einigen Korruptionsskandalen178 und angesichts der großen sozialen Ungleichheit wird in der Tat Politik weitgehend diskreditiert und begegnet z. T. sogar Verachtung. „Legitimationsdefizit der schmutzigen Politik, Legitimationsüberschuss des sauberen Rechts“179 bilden somit auch in Brasilien Bedingungen, welche die Justiz geradezu auffordern, eine aktive Rolle zu übernehmen. Der Aufstieg der „Dritten Gewalt“ fing dabei v. a. in den untergeordneten Instanzen an, die eine aktivere Rolle nicht nur bei der Sicherung der Freiheitsrechte, Spannung zwischen öffentlichen und privaten Interessen festgestellt werden. Zu dieser neuen Orientierung gehöre v. a. die Rezeption des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Prinzip zum Ausgleich dieser Interessen (S. 517 ff.). Durch die Abwägung werden aber Grundrechte im Namen vermeintlicher kollektiver Güter beschränkt, die oft nicht im Lichte von Prinzipien gerechtfertigt werden können (s. u. F.II.1.). Das zeigt sich allerdings auch als ein sozialstaatlicher Entwurf, der insoweit mit der „alten“ Rspr. des STF übereinstimmt. 176 Vgl. Barroso/Barrcellos, in: Barroso, A nova interpretação constitucional, S. 327 ff., bzw. Baracho Júnior, in: Crise e desafios da Constituição, S. 509 ff. 177 Vgl. zur Entwicklung in Deutschland und Brasilien Benvindo, On the Limits of Constitutional Adjudication, S. 31 ff. bzw. 83 ff. (m. w. N.). Speziell zu Deutschland Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 52 f. 178 So etwa 1992 die Entdeckung eines großen Korruptionsnetzwerks im Zuge des Amtsenthebungsverfahrens gegen den damaligen Präsident Collor de Mello sowie 2008, als aufgedeckt wurde, dass das Wahlverhalten von Politikern/Parlamentariern im Gesetzgebungsprozess durch monatliche Schmiergelder manipuliert worden war (sog. mensalão). In beiden Fällen spielte das STF eine bedeutende Rolle, und seine Entscheidungen fanden große Anerkennung beim brasilianischen Volk. s. dazu Oberheiden, Mitteilungen der DBJV 1/2009, 33, 36 ff. 2008 erließ das Gericht ferner einen bindenden Leitsatz (súmula vinculante 13), der den Nepotismus in den drei Gewalten verbot. Diese Maßnahme, die längst von der Legislative getroffen werden sollte, wurde auch grundsätzlich begrüßt. 179 Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 53, in Bezug auf die Rechtsrenaissance in Deutschland.

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sondern auch bei der positiven Gestaltung der Sozialordnung progressiv einnahmen.180 In der Rechtsprechung des STF fand diese Bewegung eigentlich zunächst einen gewissen Widerstand, gewann aber allmählich während der 1990er- und v. a. seit den 2000er-Jahren auch dort breiten Eingang. Eine andere Parallele zu Deutschland kann in der institutionellen Neuerung gefunden werden. Zwar war die Innovation in Brasilien nicht so eindeutig wie die Einrichtung des BVerfG; aber immerhin konzentrierte erst die Verfassung von 1988 die Tätigkeiten des STF weitgehend auf Verfassungsfragen und richtete – mit der erheblichen Erweiterung der Antragsberechtigten und der Verfahrensarten – eine wirklich umfangreiche abstrakte Normenkontrolle ein. Die CF enthält ferner neben einem detaillierten Grundrechtskatalog ein breites Arsenal an Rechtsmitteln und Verfahren zur Sicherung des Verfassungsvorrangs und zum Schutz der Grundrechte.181 In den folgenden Jahren lässt sich außerdem eine klare Tendenz zur Zentralisierung der Kontrollmacht in der Hand des STF – zulasten der diffusen Kontrolle – und eine Zunahme der bindenden Wirkung seiner Entscheidungen beobachten.182 Es wurden also zusätzliche Mechanismen183 geschaffen, die die Stellung und Einflussmöglichkeit des STF im institutionellen Gefüge noch weiter ausgedehnt und darüber hinaus zu seiner Wendung zum Aktivismus beigetragen haben. Unter diesen Bedingungen verstärkte sich mehr als je zuvor das Bild des STF als des „Hüters der Verfassung“ sowie eine Vorstellung von ihm als einem zusätzlichen Forum, vor dem alle gesellschaftlichen und politischen Fragen nochmals behandelt 180

Dazu hat auch die Tatsache beigetragen, dass die CF zahlreiche Rechtsmittel zum Schutz der Grundrechte enthält, wobei die Rechtsstreitigkeiten gegen die getriebene oder auch nicht getriebene [!] Politik exponentiell gestiegen sind. Vgl. Benvindo, On the Limits of Constitutional Adjudication, S. 93 f. (m. w. N.). 181 Neben den verschiedenen abstrakten Normenkontrollverfahren und der allgemeinen Möglichkeit einer inzidenten Normenkontrolle sieht die Verfassung folgende Instrumente zum Schutz der Individualgrundrechte vor: Habeas-Corpus, mandado de segurança (Sicherungsverfügung), Habeas-Data und mandado de injunção (Injunktionsmandat). Zum Schutz der sog. „diffusen“ und kollektiven Rechte zählen ferner das kollektive mandado de segurança-Verfahren, die Popularklage (ação popular) und die Öffentliche Zivilklage (ação civil pública). s. dazu stellv. Mendes, Die abstrakte Normenkontrolle, S. 33 ff.; Oliveira, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 36 ff.; Meirelles, Mandado de segurança (m. w. N.). 182 Für diese Zentralisierung bestanden mindestens drei Beweggründe: 1. – ein politisches Interesse (den Aktivismus der untergeordneten Instanzen zu stoppen), 2. – eine juristische Rechtfertigung (die Rechtseinheit und Rechtssicherheit zu fördern), 3. – ein Effektivitätsargument (der gravierenden Überlastung der Justiz i. A. und des STF i. B. entgegenzuwirken). Vgl. diesbezüglich und kritisch Benvindo, On the Limits of Constitutional Adjudication, S. 97 ff.; Oliveira, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 41 ff., 45 ff. 183 So z. B. die Einführung der abstrakten Normenkontrolle zur Erklärung der Verfassungsmäßigkeit (1993), der Bindungswirkung der Entscheidungen für die Verfassungsmäßigkeit (1999), der Möglichkeit einer flexiblen Bestimmung der zeitlichen Wirkung der Entscheidungen im Rahmen der abstrakten Kontrolle (1999) sowie des bindenden Leitsatzes (súmula vinculante) und der Anforderung einer allgemeinen Bedeutung für die Annahme des außerordentlichen Rechtsmittels (2004).

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und entschieden werden können.184 In jüngeren Entscheidungen lässt sich schließlich das nun wohl aktive STF voll darauf ein, die ihm angesonnene Rolle bei der Fortsetzung des politischen Kampfes zu übernehmen, Veränderungen der Gesellschaftsordnung zu bewirken und dabei die Bedeutung der Grundrechte als objektive Prinzipien zu aktualisieren. In dem Maße, wie das STF eine deutlich aktivere Rolle in politischen Auseinandersetzungen einnimmt, sucht es zugleich zusätzliche Legitimation für seine Entscheidungen. Diese werden dann zunehmend als Folge der Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und als rationale Ergebnisse der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Abwägungsgebots dargestellt. Das Abwägungskonzept dient also als „rationale“ Rechtfertigung für den Machtzuwachs der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Rezeption des Abwägungsdenkens fällt in diesem Sinne nicht zufällig ungefähr zeitlich zusammen mit der Zentralisierung der Kontrollmacht und der Übernahme einer aktiven Rolle durch das STF. Obwohl ähnliche Überlegungen wie die angestellten unter den Begriffen der Abwägung und der Verhältnismäßigkeit wie auch diese Termini in früheren Entscheidungen des STF erscheinen, findet eine eigentliche Rezeption des deutschen Wert- und Abwägungsdenkens in der Rechtsprechung des STF erst seit den 1990er-Jahren und v. a. ab den 2000er-Jahren statt. Vor der Verfassung von 1988 und in den ersten Jahren nach ihrer Verkündung bezieht sich das Gericht eigentlich nur selten und ziemlich pauschal auf die US-amerikanischen Prinzipien des reasonableness und des (substantive) due process of law.185 1993 erwähnt es flüchtig erstmals den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit seinen drei Teilgrundsätzen – jedoch weiterhin mit dem Begriff des reasonableness gemischt.186 Während der 1990er-Jahre taucht das Wert- und Kollisionsdenken immer öfter auf. Entsprechend zieht das STF auch häufiger die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und des reasonableness oder auch des substantive due process heran, meistens aber als sprachliches Dekor, d. h. ohne eine deutliche Unterscheidung zu machen, ohne ihnen scharfe Konturen zu verleihen oder sie methodologisch substantiell zu entfalten.187 Erst seit etwa 2003188 versucht das Gericht den Verhältnismäßigkeits184

In diesem Sinne bekräftigte Gilmar Mendes als damaliger Präsident des STF: Jede polemische Frage habe „einen festen Termin“ mit dem STF und das Verfassungsgericht bestehe, um die rationalsten Entscheidungen zu treffen. Mendes, Correio Braziliense v. 17. 08. 2008. 185 Vgl. etwa STF, Rp 930 v. 05. 05. 1976, 9 (32 ff., 76 ff.) (DJ 02. 08. 1977); Rp 1054 v. 04. 04. 1984, 2197 (2236, 2244, 2271) (DJ 29. 06. 1984); ADI-MC 223 v. 05. 04. 1990, 1 (44, 50, 58, 62, 79 f.) (DJ 29. 06. 1990) (Plano Collor). Mit allgemeinem Hinweis auf ein Verbot von Machtmissbrauch STF, RE 18331 v. 21. 09. 1951, 283 (294 ff.) (DJ 08. 11. 1951); HC 45232 v. 21. 02. 1968, 792 ff. (DJ 17. 06. 1968). 186 STF, ADI-MC 855 – 2 v. 01. 06. 1993, 71 (83 f., 88) (DJ 01. 10. 1993) (Gasflasche). 187 s. etwa STF, ADIs 958 und 966 v. 11. 5. 1994, 124 (138, 152, 158, 167) (DJ 25. 08. 1995); HC 76060 v. 31. 03. 1998, 130 (138) (DJ 15. 05. 1998) (DNA-Test); ADI-MC 1511 v. 16.10.96, 71 (81 ff., 88 ff., 114 f. und passim) (DJ 06. 06. 2003) (Provão); RE 153531 v. 03. 06. 1997, 388 ff. (DJ 13. 03. 1998) (Farra do Boi); ADC 9 v. 13. 12. 2001, 1 (1, 27 f., 46 f., 51) (DJ 23. 04. 2004) (Apagão). Vgl. ferner zu einer allgemeinen Heranziehung des Wert- und Kollisionsdenkens STF, ADI-QO 319 v. 03. 03. 1993, 36 (79 ff.) (DJ 30. 04. 1993) (Schulgeld); HC 71373 v. 10. 11. 1994, 397 (409 ff., 424, 431) (DJ 22. 11. 1996) (DNA-Test).

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grundsatz als Übermaßverbot systematisch zu entwickeln und dabei seine drei Elemente nicht nur zu erwähnen, sondern auch mehr oder weniger differenziert zu prüfen.189 Neuerlich führt das STF darüber hinaus auch das Kriterium des Untermaßverbots in seine Rechtsprechung ein, welches der Kontrolle des nicht handelnden bzw. nicht ausreichend handelnden Staates dienen soll.190 Inzwischen gehört somit die Abwägung auch zum Standardrepertoire der Grundrechtsdogmatik des STF. Hinzu kommen die überwiegende Anerkennung dieser Methode und entsprechend ein Mangel an Kritik durch die Lehre. Die Verfassungsrechtswissenschaft hat sich weithin mit dem Rechtsprechungspositivismus arrangiert und die Verfassungsrechtsprechung praktisch als Theorie-Ersatz angenommen.191 Die große Mehrheit der brasilianischen Literatur zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Abwägungsgebot beschränkt sich in diesem Sinne grundsätzlich auf die deskriptive Erklärung der Bedeutung dieser Kriterien (manchmal auch mit ihrer historischen Entwicklung), eine Hofberichterstattung einiger Entscheidungen des STF und eine mehr oder weniger umfangreiche Darlegung der Prinzipientheorie von Alexy, welche hier als die richtige Grundrechtstheorie dargestellt wird.192 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird dabei als wichtiger Anhaltspunkt für die Rationalität der Rechtsprechung gesehen und weitgehend mit der Prinzipientheorie assoziiert. Aufgrund dieser gewissen Faszination für Alexys Theorie findet man entsprechend 188 Nicht unbedeutend für die zunehmende Orientierung an der Abwägungsdogmatik war ferner die Ernennung 2002 von Gilmar Mendes zum Richter des STF. Bereits früher propagierte Mendes die Übernahme von Aspekten des deutschen verfassungsrechtlichen Systems und dessen Dogmatik in Brasilien. Seitdem er zum Richter des STF ernannt wurde, zieht er in seinen Voten immer wieder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Theorie von Alexy heran. 189 Vgl. etwa STF, IF 2915 v. 03. 02. 2003, 152 (179 ff., 202, 224) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (631 f., 658 ff., 895 ff. und passim) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger); ADI 3324 v. 16. 12. 2004, 140 (178 ff., 193) (DJ 05. 08. 2005) (Universitätswechsel); Inq 2424 v. 26. 11. 2008, 341 (343 – LS 8) (Informativo 529/2008) (Medina, Alvim u. a.); RE 511961 v. 17. 02. 2009, 692 (741 ff., 755 ff., 818 f.) (DJ 13. 11. 2009) (DiplomJournalistik). Allerdings beziehen sich einige Richter nach wie vor auch auf die Prinzipien des reasonableness und/oder des substantive due process. 190 STF, STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70, (78) (DJ 30. 04. 2010) (Medikamentenverteilung – Zavesca). 191 Zu der „Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit“ in Deutschland Schlink, Der Staat 28/1989, 161 ff. 192 Vgl. etwa Barcellos, Ponderação, racionalidade e atividade jurisdicional, S. 24 f., 91 ff.; Steinmetz, Colisão de direitos fundamentais; Barros, O princípio da proporcionalidade, S. 71 ff.; Sarmento, A ponderação de interesses na Constituição Federal, S. 42 ff., 77 ff.; Mendes/Coelho/Branco, Curso de Direito Constitucional, S. 362 ff., 400 ff.; Guerra Filho, in: Leituras complementares de Direito Constitucional, S. 87, 91 ff.; Mendes, Direitos fundamentais, S. 46 ff., 95; Barroso, Interpretação e aplicação da Constituição, S. 227 ff., 350 ff. Differenzierter, aber im Ergebnis der Prinzipientheorie zustimmend Silva, Direitos fundamentais, S. 45 ff., 169 ff. Zweifelnd hingegen an der Rationalität der Verhältnismäßigkeit i. e. S. Dimoulis/Martins, Teoria geral dos direitos fundamentais, S. 201. Allgemein kritisch Benvindo, On the Limits of Constitutional Adjudication, S. 85; Cattoni de Oliveira, Direito Processual Constitucional, S. 73 ff., 149 ff.; Coura, Para uma análise crítica da jurisprudência de valores, S. 143 ff.

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kaum einen alternativen dogmatischen Ansatz, der etwas strukturierter ist. Die in Deutschland entwickelten und wohl ausdifferenzierten dogmatischen Strukturen des Abwehrrechts tendieren stattdessen dazu, in noch extremerer Weise durch die freischwebende Abwägung eingeebnet zu werden. Erwähnenswert ist ferner, dass auch die Prämisse einer Assimilation von Rechtsprinzipien an Werten nicht problematisiert wird. Vielmehr gilt die wertorientierte Auslegung des Rechts noch als wichtiger Fortschritt gegenüber dem früheren Rechtsformalismus. Das Legitimationsdefizit der diskreditierten Politik, der Aktivismus der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie der Mangel an vorherigen dogmatischen Strukturen193 und an kritischer Auseinandersetzung durch die Verfassungsrechtswissenschaft bilden zusammenfassend günstigere Bedingungen für die Etablierung des Abwägungsmodells. Dieses Modell dient wiederum der „rationalen“ Rechtfertigung des Aktivismus und erschwert die Entwicklung einer differenzierten Grundrechtsdogmatik. Nicht, dass die Abwägungsorientierung innerhalb des STF einheitlich oder bereits konsolidiert wäre;194 aber die Richtung der Bewegung ist deutlich. Das aktive STF stellt, gefolgt von der Verfassungsrechtswissenschaft, die Fülle der politischen und gesellschaftlichen Probleme unter seinen Abwägungsvorbehalt.

2. Das Argumentieren mit der Abwägungsmethode am Beispiel einiger Entscheidungen Soweit ersichtlich, wurde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit seinen drei Teilgrundsätzen (allerdings auch mit dem Begriff des reasonableness gemischt) 193

Zur Schwierigkeit der Feststellung und überhaupt der Konsolidierung einer inhaltlichen und methodologischen konsistenten Rechtsprechung tragen außerdem nicht nur die autoritären Eingriffe in der Tätigkeit des STF, sondern auch allgemein die besondere Weise der Entscheidungsbildung des STF bei, die nicht unbedingt eine Übereinstimmung der Entscheidungsgründe der Richter erfordert. Nur der für den Fall verantwortliche Richter (sog. Berichterstatter) ist verpflichtet, die Entscheidung zu begründen, und die weiteren Richter können nur das Einverständnis mit dem Urteilstenor erklären. Hat ein der Richter eine abw. Meinung, muss er freilich seine eigene Begründung anführen. Bei den komplexeren bzw. umstrittenen Fällen ist es allerdings sehr üblich, dass mehrere (oder wohl alle) Richter eigene Begründungen liefern, wobei nur eine Konvergenz von Tenören für die Bildung einer Mehrheit ausreicht. Ein Urteilstenor kann entsprechend die unterschiedlichsten Begründungen haben. 194 Ein Stück verfassungsrichterlicher „Selbstkritik“ findet sich in den Voten von Pertence und Grau in STF, ADI 3112 v. 02. 05. 2007, 386 (520 f. bzw. 525 f.) (DJ 26. 10. 2007) (Waffenkontrolle). Nach Pertence soll sich das STF nicht zu einer Kontrollinstanz der gesetzgeberischen Urteile über reasonableness wandeln. Grau bekräftigt darüber hinaus, dass auf der Grundlage der Kriterien des reasonableness und der Verhältnismäßigkeit Entscheidungen außerhalb der Verfassung getroffen werden. s. auch das Votum von Mello in HC 80948 v. 07. 08. 2001, 309 (333 ff.) (DJ 19. 12. 2001) (widerrechtliche Beweise), das die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zur Relativierung des Grundrechts aus Art. 5 LVI CF ausdrücklich ablehnt. Ebenso Pertence in HC 80949 v. 30. 10. 2001, 1145 (1162 f.) (DJ 14. 12. 2001) (widerrechtliche Beweise).

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erstmals 1993, und zwar bei der Kontrolle des Gesetzgebers, ausdrücklich genannt.195 Hierbei hat aber das Gericht ihn nur flüchtig erwähnt und ihm noch keine scharfe Konturen gegeben. In den folgenden Jahren zog das STF diesen Grundsatz immer häufiger heran – und zwar sowohl zur Kontrolle des Gesetzgebers196 als auch allgemein zur Lösung von Prinzipienkollisionen197 –, meistens aber als argumentative Krücke, d. h. weiterhin ohne ihn methodologisch substantiell zu entfalten. Erst seit Anfang der 2000er-Jahre ändert sich dieses Bild. In einer Reihe von Entscheidungen hat das STF den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Übermaßverbot mehr oder weniger differenziert angewendet und dabei seine drei Elemente mindestens verbal geprüft.198 Neuerlich wurde außerdem auch das Untermaßverbot in seine Grundrechtsrechtsprechung aufgenommen.199 Bei vielen dieser Entscheidungen lässt sich aber beobachten, dass das STF eine Schutzbereichsbestimmung oder überhaupt alle übrigen Schritte des Eingriffs- und Rechtfertigungsschemas vernachlässigt und umgehend in Abwägungen einsteigt.200 195 STF, ADI-MC 855 – 2 v. 01. 06. 1993, 71 (83 f., 88) (DJ 01. 10. 1993) (Gasflasche), in welcher die gesetzlich verankerte Vorschrift, die zur in Anwesenheit des Verbrauchers vorgenommenen Gewichtsüberprüfung jeder Gasflasche mittels Abwiegens verpflichtete, für verfassungswidrig erklärt wurde. Der Eingriff scheiterte hierbei eindeutig an seiner mangelnden Geeignetheit und Notwendigkeit zur Förderung des öffentlichen Guts. 196 Vgl. z. B. ADI 958 und 966 v. 11. 5. 1994, 124 (138, 152, 158, 167) (DJ 25. 08. 1995) – Verfassungswidrigkeit der gesetzlich verankerten Vorschrift, welche politische Parteien, die nicht über eine Minimalquote an Sitzen im Abgeordnetenhaus verfügten, in ihrer Möglichkeit zur Teilnahme an den allgemeinen Wahlen im Jahr 1994 beschränkte; ADI-MC 1511 v. 16.10.96, 71 (81 ff., 88 ff., 114 f. und passim) (DJ 06. 06. 2003) (Provão) – Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen vorgesehenen Pflicht, ein zusätzliches Examen am Ende des Studiums abzulegen. 197 s. etwa STF, HC 71373 v. 10. 11. 1994, 397 (411 ff., 422, 424) (DJ 22. 11. 1996) (DNATest); HC 76060 v. 31. 03. 1998, 130 (138) (DJ 15. 05. 1998) (DNA-Test) – die Unmöglichkeit der Zwangsüberführung zur Durchführung eines DNA-Tests; RE 153531 v. 03. 06. 1997, 388 ff. (DJ 13. 03. 1998) (Farra do Boi) – Verbot von „Stierkämpfen“, Kollision von Schutz und Anreiz kulturellen Brauchtums und Schutz von Tieren vor grausamer Behandlung. 198 Vgl. etwa STF, IF 2915 v. 03. 02. 2003, 152 (179 ff., 202, 224) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (631 f., 658 ff., 895 ff. und passim) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger); ADI 3324 v. 16. 12. 2004, 140 (178 ff., 193) (DJ 05. 08. 2005) (Universitätswechsel); Inq 2424 v. 26. 11. 2008, 341 (343 – LS 8) (Informativo 529/2008) (Medina, Alvim u. a.); RE 511961 v. 17. 02. 2009, 692 (741 ff., 755 ff., 818 f.) (DJ 13. 11. 2009) (DiplomJournalistik). 199 STF, STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70, (78) (DJ 30. 04. 2010) (Medikamentenverteilung – Zavesca). Bereits früher hatte der Richter Mendes das Untermaßverbot im Rahmen von abw. Meinungen herangezogen. Vgl. seine Sondervoten in ADI 3112 v. 02. 05. 2007, 386 (459, 462 ff.) (DJ 26. 10. 2007) (Waffenkontrolle); ADI 3510 v. 29. 05. 2008, 134 (607 ff.) (DJ 28. 05. 2008) (ES-Zellen). 200 Vgl. STF, ADI-MC 1511 v. 16.10.96, 71 (81 ff., 88 ff., 96, 103, 106, 114 f.) (DJ 06. 06. 2003) (Provão); ADC 9 v. 13. 12. 2001, 1 (1, 27 f., 45 ff., 50 f.) (DJ 23. 04. 2004) (Apagão); HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (584 f., 630 ff., 657 ff., 895 ff.) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger); ADI 3105 v. 18. 08. 2004, 123 (168 f., 251, 320 f.) (DJ 18. 02. 2005) (EC 41/2003); RE 511961 v. 17. 02. 2009, 692 (739 ff., 755 ff., 818 f.) (DJ 13. 11. 2009) (Diplom-Journalistik).

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Mehr als in Deutschland tendieren somit die dogmatisch ausdifferenzierten Argumentationsstrukturen des Abwehrrechts dazu, durch die Abwägung eingeebnet zu werden. Ähnlich wie bei der Verfassungsrechtswissenschaft wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch in der Rechtsprechung weitgehend mit der Prinzipientheorie von Alexy in Verbindung gebracht, welche übrigens nicht selten ausdrücklich zitiert wird.201 Die „Abwägung nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit“ wird ferner auch hier als ein wichtiger Anhaltspunkt für die Rationalität der Entscheidungen dargestellt; sie sei nämlich „eine allgemeine Methode zur Lösung der Prinzipienkollisionen“.202 Nichtsdestoweniger kommen die Richter bei der Heranziehung des Abwägungsdenkens bisweilen zu gegenteiligen Ergebnissen.203 a) HC 82424 – Judendiskriminierung und Rassismusverbot: Zu Grenzen der Meinungsfreiheit Eine der ersten Entscheidungen204, bei der das Gericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit seinen drei Teilgrundsätzen dogmatisch differenzierter anwandte, war der Fall Ellwanger205, der darüber hinaus in seiner Grundrechtsjudikatur als ein wichtiger Präzedenzfall betrachtet wird. In diesem Fall wurde Siegfried Ellwanger wegen der Herausgabe und des Vertriebs von Werken antisemitischen Inhalts seiner und anderer Urheberschaft, welche eine Diskriminierung gegen Juden darstellen, des Verbrechens der „Ausübung, Herbeiführung oder Anstiftung der Diskriminierung oder Vorurteil von Rasse, Religion, Ethnie oder nationaler Herkunft anhand gesellschaftlicher Kommunikationsmittel oder Veröffentlichungen jeglicher Art“ (Art. 20, Gesetz 7.716/1989 – a. F.) angeklagt. Ellwanger wurde vom Gerichtshof des Bundesstaates Rio Grande do Sul für das – nach der Verfassung – nicht verjährbare Verbrechen des Rassismus (Art. 5 XLII CF206) verurteilt. Unter Berufung auf das Argument, dass die Diskriminierung von Juden kein Rassismusverbrechen 201 s. z. B. STF, IF 2915 v. 03. 02. 2003, 152 (179 f., 186) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (658 f., 885, 898) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger); ADI 3324 v. 16. 12. 2004, 140 (177 f.) (DJ 05. 08. 2005) (Universitätswechsel); STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70 (83) (DJ 30. 04. 2010) (Zavesca/Miglustat). 202 STF, IF 2915 – 5 v. 03. 02. 2003, 152 (179) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); HC 82.424 – 2 v. 17. 09. 2003, 524 (632, 658) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger); ADI 3324 v. 16. 12. 2004, 140 (178 f.) (DJ 05. 08. 2005) (Universitätswechsel). 203 STF, ADI-MC 1511 v. 16.10.96, 71 (81 ff., 88 ff., 96, 103, 106, 114 f. bzw. 98, 100 f.) (DJ 06. 06. 2003) (Provão); STF, HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (584 f., 630 ff., 669 ff., 680 f. bzw. 809 ff., 841 f., 895 ff.) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger). 204 Bereits früher STF, IF 2915 – 5 v. 03. 02. 2003, 152 (179 ff., 202, 224) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios). 205 STF, HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 ff. (DJ 19. 03. 2004). 206 „XLII – rassistische Handlungen stellen ein nicht kautionsfähiges und nicht verjährbares Verbrechen dar, welches mit Freiheitsentzug nach den gesetzlichen Bestimmungen bestraft wird.“ Hervorhebung durch die Verfasserin. Das Gesetz 7.716/1989 hat dann u. a. diese Bestimmung näher geregelt.

V. Abwägungsdenken im brasilianischen Verfassungsrecht

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darstelle, weil der Judaismus keine Rasse sei und deshalb unter die Verjährung falle, wurde vor dem STJ Habeas-Corpus beantragt, das den Antrag ablehnte. Gegen diese Entscheidung wurde ein neuer Habeas-Corpus-Antrag vor dem STF mit derselben Begründung gestellt. Unbestritten war die Tatsache, dass mit den betreffenden Werken versucht worden war, historische Fakten bezüglich der Judenverfolgungen, und insbesondere des Holocausts, zu negieren und eine Diskriminierung herbeizuführen, indem dem Zionismus das Böse dieser Welt zur Last gelegt wurde, was am Beispiel der nazistischen Doktrin die Verfolgung, Herabwürdigung und Ausgrenzung der Juden rechtfertigen würde.207 Mit der Entscheidung fand zunächst eine gründliche Diskussion über die Bedeutung des Begriffs Rassismus im Verfassungstext statt, d. h., ob der Begriff auf die Referenz zur „Rasse“ zu begrenzen sei, und sich, historisch betrachtet, lediglich auf die schwarze Rasse beziehe,208 oder ob es eigentlich nicht möglich sei, die übliche Bedeutung von Rasse als bloßen biologischen Ausdruck isoliert anzuwenden, sodass die verschiedenen Bedeutungen in Betracht zu ziehen seien, denen der Begriff untergeordnet ist, einschließlich der Anthropologie und der Soziologie. In diesem Sinne erweise sich der traditionelle Rassebegriff anhand der gegenwärtigen genetischen Erfahrungen als zumindest extrem fragwürdig.209 Das STF befand schließlich mehrheitlich, dass der Antisemitismus eine Form von Rassismus darstelle und somit ein nicht verjährbares Verbrechen sei, sei es, weil es unter den Menschen keine unterschiedlichen Rassen gibt, oder sei es, weil diese Bewegung die Juden als eine Rasse behandelt und deren Ausgrenzung fördert und dazu anstachelt.210 Es stellte sich somit die Frage, wie sich die Äußerungen rassistischen Charakters zu der im Verfassungstext garantierten Meinungsfreiheit (Art. 5 IV, IX CF) verhalten. In diesem Punkt versuchten mehrere Richter des STF, und zwar nicht allein diejenigen Richter, welche die mehrheitliche Entscheidung herbeigeführt hatten, den Fall ausgehend von einer unterstellten Wertekollision zwischen der Meinungsfreiheit und dem Recht auf Nichtdiskriminierung (abgeleitet aus dem Gleichheitssatz und der 207

STF, HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (533 f., 555, 570 ff., 664 ff.) (DJ 19. 03. 2004). Diese sei nach der abw. Meinung von Alves der Wille des Verfassungsgebers, als ob Rassismus nur gegen Schwarze gerichtet werden könnte. Vgl. STF, HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (536 ff., 596 ff.) (DJ 19. 03. 2004). Eine ähnliche Argumentation findet sich im Votum von Aurélio (S. 915 ff.). 209 Erwähnenswert ist hier die Position von Celso Lafer, dessen Gutachten in der Entscheidung mehrere Male zitiert wurde (S. 580, 626, 648 f., 684 f., 741 ff.). Demnach liegt der rechtliche Inhalt des Verbrechens rassistischer Praxis in den Theorien und Vorurteilen, mit denen Gruppen und Personen diskriminiert werden, indem ihnen Merkmale einer „Rasse“ zugeschrieben werden. Es gibt nur eine „Rasse“ – die menschliche Rasse – und folglich bilden aus biologischer Sicht weder Juden noch Schwarze, Indios und Roma oder andere Gruppen, Religionen oder Nationalitäten eigene Rassen. Sie alle können jedoch Opfer rassistischer Praxis werden. 210 Vgl. STF, HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (557 ff., 624 ff., 639 ff., 682 f., 739 ff., 752 ff., 757 ff., 813 ff., 1000 f.) (DJ 19. 03. 2004) – Voten von Corrêa, Mello, Mendes, Velloso, Jobim, Gracie, Peluso, Britto und Pertence. 208

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

Menschenwürde und bekräftigt durch das Rassismusverbot) zu begreifen, die mittels einer Abwägung zu lösen sei. Bei dieser Abwägung gab die Mehrheit der Richter dem Recht auf Nichtdiskriminierung den Vorrang. Eine Richterminderheit hingegen kam in der abw. Meinung bei anderer Gewichtung der Abwägung zu einem abweichenden Ergebnis. Für einen Vergleich zwischen der von der Mehrheit (Corrêa, Mello, Mendes, Velloso, Jobim, Gracie, Peluso und Pertece) vertretenen Ansicht, welche die Unzulässigkeit des HC-Antrages befürwortete, und der Ansicht der Minderheit (Alves, Britto und Aurélio), welche für dessen Bewilligung stimmte, lassen sich die Voten der Richter Gilmar Mendes bzw. Marco Aurélio heranziehen. So beginnt Richter Mendes211, den mehrheitlichen Standpunkt vertretend, seine Analyse mit einer flüchtigen Erwähnung der Doktrin der Hate Speech, die dazu entwickelt wurde, um zu verhindern, dass die Ausübung der Meinungsfreiheit als Instrument des Aufrufs zur Diskriminierung missbraucht würde. Nach ihm erscheine die Meinungsfreiheit nicht uneinschränkbar im Verfassungstext, sondern erfahre ihre Schranken, insbesondere was Äußerungen diskriminierenden oder rassistischen Inhalts betreffe, indem einer Grundvorschrift des demokratischen Systems an sich, das die Gleichheit und Toleranz zwischen den verschiedenen Gruppen voraussetze, Rechnung getragen werde. Ausgehend davon führte er explizit das Denken in Kollisionen und Optimierungen an und bestätigte, dass der unvermeidlich offene Charakter des Rassismusbegriffs und die Spannung, die sich gegenüber der Meinungsfreiheit aufbaue, die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderten. Nach Mendes sei in diesem Fall abzuschätzen, was das erlaubte Maß an Meinungsfreiheit sei, ohne dass durch eine Begünstigung von Intoleranz und rassistischer Praxis die einer pluralistischen Gesellschaft innewohnenden Werte, wie z. B. Gleichheit und menschliche Würde, beeinträchtigt würden. Hierbei wurde dann die Grundrechtstheorie Robert Alexys – inkl. seines Abwägungsgesetzes – ausdrücklich als Kriterium für die Verfassungsrechtsprechung angeführt. Nach Mendes „erreicht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die sog. Kollisionen von verfassungsrechtlichen Gütern, Werten oder Prinzipien. In diesem Zusammenhang stellen die Erfordernisse des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine allgemeine Methode zur Lösung eines Prinzipienkonflikts dar, d. h. einen Normenkonflikt, der, im Gegensatz zum Regelkonflikt, weder durch die Aufhebung oder teleologische Reduzierung einer der gegensätzlichen Normen noch durch die Verdeutlichung des genauen Anwendungsbereichs zwischen den Normen gelöst wird, sondern vorrangig und ausschließlich durch Abwägung des relativen Gewichtes jeder einzelnen der prinzipiell zur Begründung von Entscheidungen im gegensätzlichen Sinne anwendbaren und geeigneten Normen.“212 Mendes fasste dann zusammen, wie die Anwendung dieses Grundsatzes als die neutrale Methode zur Lösung von 211

STF, HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (637 – 671) (DJ 19. 03. 2004). Vgl. STF, HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (658) (DJ 19. 03. 2004). So auch IF 2915 v. 03. 02. 2003, 152 (179) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); ADI 3324 v. 16. 12. 2004, 140 (178 f.) (DJ 05. 08. 2005) (Universitätswechsel). Übersetzung und Hervorhebung durch die Verfasserin. 212

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Prinzipienkollisionen und zur Absicherung der Rationalität der gerichtlichen Entscheidung zu erfolgen hat. In klarer Wiedergabe der in Deutschland herrschenden Dogmatik legte er zunächst abstrakt die drei Elemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar und ging dann zu deren Anwendung auf den konkreten Fall über. Er überprüfte somit, ob der Urteilsspruch diese drei Teilgrundsätze erfüllt hat. Für ihn bleibt die Geeignetheit der Verurteilung des Angeklagten für die Erreichung des angestrebten Zieles, welches die Bewahrung einer pluralistischen, von Toleranz beherrschten Gesellschaft sei, unbestreitbar. Mit dieser Entscheidung werde die Position des Staates im Sinne des Schutzes der Grundprinzipien der Menschenwürde (Art. 1 III CF), des politischen Pluralismus (Art. 1 V CF), der Bekämpfung von Terrorismus und Rassismus (Art. 4 VIII) sowie der Verfassungsnorm, der zufolge der Rassismus ein nicht verjährbares Verbrechen ist (Art. 5 XLII), abgesichert. Gleichermaßen besteht für Mendes kein Zweifel daran, dass die Verurteilung erforderlich sei. In der Tat sei in Fällen wie diesem, ausgehend von der Verfassungsbestimmung selbst, nur schwerlich ein milderes Mittel zu finden. Die Kriminalisierung und Unverjährbarkeit der Ausübung von Rassismus werde durch den Verfassungsgeber selbst bestimmt. Schließlich bewertete er das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit i. e. S. In diesem Punkt sei es notwendig, die vorhandene Proportion zwischen dem verfolgten Ziel (welches die Erhaltung der einer pluralistischen Gesellschaft innewohnenden Werte sei) und der der Meinungsfreiheit auferlegten Last abzuwägen. Er erkannte den durch den Verfassungsgeber dieser Freiheit eingeräumten unbestreitbaren Schutz und dessen enorme Bedeutung für das demokratische System an. Es sei jedoch unleugbar, dass sich die Meinungsfreiheit nicht auf die rassistische Intoleranz und den Aufruf zur Gewalt erstrecke. Für ihn existierten unzählige andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter, die anhand der Hypothese, dass hinsichtlich der Freiheit eine absolute, unantastbare Reichweite gegeben sei, geopfert würden. Die Verurteilung wegen eines rassistischen Verbrechens habe daher den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht verletzt. Das Recht auf Nichtdiskriminierung stelle im vorliegenden Fall einen höheren Wert als die Meinungsfreiheit dar, und die Aufrechterhaltung der Verurteilung sei die Entscheidung, die im höchsten Maße eine Förderung der Demokratie, des Wohlergehens und einer pluralistischen Kultur erreiche, da man dadurch besser gegen soziale Intoleranz vorgehen könne. In gleicher Weise versuchte Richter Aurélio213 die Prinzipien der Menschenwürde und der Meinungsfreiheit als abzuwägende Werte zu behandeln, die angesichts des vorliegenden Falles und der verfolgten Ziele einer Hierarchisierung zu unterziehen seien. Bei der Einschätzung der Wichtigkeit der Meinungsfreiheit in einem demokratischen System hob er jedoch hervor, dass der Schutz dieser Freiheit sich nicht nur auf die vorherrschenden bzw. politisch korrekten Ideen beziehe, sondern auch ideologische Bekundungen umfasse, wie radikal und absurd diese auch erschienen. Im Folgenden zog auch Aurélio ausdrücklich die Konzeptionen von Alexy hinsichtlich Kollision und Abwägung – einschließlich seines Abwägungsgesetzes – 213

STF, HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (857 – 924) (DJ 19. 03. 2004).

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sowie die Charakterisierung der Prinzipien als Optimierungsgebot heran.214 In diesem Sinne stellte er fest: Die Prinzipienkollision finde, ausgehend von dem Kriterium der Abwägung, eine Lösung in der Dimension des Wertes, was einen Mittelweg zwischen Bindung an und Flexibilisierung der Rechte ermögliche. Somit nahm er eine Bewertung der drei Teilelemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor. Unter spezieller Berücksichtigung einer angenommenen Nichtveranlagung der brasilianischen Gesellschaft zu einer Diskriminierung des jüdischen Volkes betrachtete er die Meinungsfreiheit als vorrangig. Angesichts der Wichtigkeit der Freiheitsrechte sei der Begriff „Rassismus“ vielmehr wörtlich und restriktiv auszulegen, sodass er im Prinzip nur die Diskriminierung gegen Schwarze umfasse. Eine Gewährung des HC, welche eine Nichtverurteilung wegen des Verbrechens des Rassismus bewirken würde, sei für die Förderung der Demokratie, das Wohlergehen und eine pluralistische Kultur verhältnismäßig besser, da die freie Auswahl bzw. Entscheidung über das Thema der öffentlichen Meinung selbst überlassen bliebe. Die Entscheidung des STF verkörpert also im Ergebnis keine normative Differenzierung zwischen Hassrede und Meinungsfreiheit. Durch Behandlung der Verfassungsgrundsätze als Optimierungsgebote schafft sie eine Grauzone zwischen dem Zulässigen und Unzulässigen – so als ob ein Verbrechen „mehr oder weniger“ begangen würde bzw. ein Grundrecht „mehr oder weniger“ existierte. Ausgehend von der Abwägungsmethode wurde bei beiden Voten die Darlegung einer im höchsten Maße objektiven Lösung in Übereinstimmung mit den zu realisierenden Zielen angestrebt. In Anbetracht der voneinander abweichenden axiologischen Prämissen hinsichtlich der Frage, wie die durch die festzulegende Entscheidung zu bevorzugenden Zielsetzungen und Werte zu verstehen seien, gelangen sie indessen zu diametral entgegengesetzten Urteilen. b) Inq 2424 – Unverletzlichkeit der Wohnung: Die Relativierung der Grundrechtsgarantie Ähnlich wie in Deutschland kann bei der Anwendung der Abwägungsdogmatik in Brasilien auch eine Gefahr beobachtet werden, den Wortlaut und die Ausgestaltung der Grundrechtsgarantien auszuhöhlen. Exemplarisch in diesem Sinne ist die Entscheidung in der Inq 2424 bezüglich der Untersuchung von Korruptionsdelikten. In diesem Untersuchungsverfahren hatte das STF u. a. über die Zulässigkeit der vorgebrachten Beweise zu entscheiden, welche mittels Dokumentenzugriff und Einsatz technischer Mittel zur akustischen Überwachung (Lauschangriff) in der Anwaltskanzlei eines der Beschuldigten erlangt wurden, wobei sich Polizeikräfte hierfür dreimal während nächtlicher Zeit Zugang zu den Örtlichkeiten verschafft hatten.215 Die Angeklagten beriefen sich auf das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Woh214

STF, HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (885 f., 898) (DJ 19. 03. 2004). STF, Inq 2424 v. 26. 11. 2008, 341 (343 – LS 8) (Informativo 529/2008) (Medina, Alvim u. a.) – mit abw. Meinung von Aurélio, Mello und Grau. 215

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nung (Art. 5 XI CF)216, das den Wohnungszutritt auf gerichtliche Anordnung nur während des Tages erlaubt, sodass die Beweise widerrechtlich und somit unzulässig seien (Art. 5 LVI CF). In der Tat wird „Haus“ bzw. „Wohnung“ auch im brasilianischen Verfassungsrecht als räumliche Privatsphäre verstanden und umfasst nach st. Rechtsprechung ebenfalls Betriebs- und Geschäftsräume, sofern diese dem unkontrollierten öffentlichen Zutritt entzogen sind.217 Bei seiner Entscheidung bestätigte das Gericht anfänglich, dass Büros in Anwaltskanzleien hinsichtlich deren Unverletzlichkeit gemäß Art. 5 XI CF sehr wohl mit einer Wohnung gleichzustellen seien. Es merkte jedoch an, dass die angeführten Maßnahmen keinesfalls in aller Öffentlichkeit hätten erfolgen können, was jedoch geschehen wäre, hätten diese während des Tages stattgefunden. Darüber hinaus stellte es fest, dass die durch die Unverletzlichkeit der Wohnung und die durch das Recht/die Pflicht des Staates zum Strafen vertretenen Rechtswerte keinen absoluten Charakter hätten und, im Falle eines Konfliktes, im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips abzuwägen seien. Trotz der rechtlichen Gleichstellung des Arbeitsbüros mit einer Wohnung erachtete es das Gericht als notwendig, zum Zwecke der Kollision und zur Anwendung des Prinzips der praktischen Konkordanz zu ermitteln, welches Recht, Interesse bzw. welcher Rechtswert durch diese Bestimmung geschützt sei. Da Art. 5 XI CF auf den Schutz der Intimsphäre, des Privatlebens und der Menschenwürde abziele, erachtete es die Gleichstellung von leerstehendem Büro und Wohnung stricto sensu als fragwürdig. Das Gericht schloss die Möglichkeit des Schutzes der Büroräume nicht aus, entschied aber, dass eine Abwägung erforderlich sei. Es kam daraufhin zu dem Schluss, dass die Maßnahmen zulässig seien, da diese eine verfassungsmäßige logisch-rechtliche Berechtigung hätten, und die Beschränkung, die sich, gemäß den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, auf die Notwendigkeit der Förderung rechtmäßiger Ziele der öffentlichen Ordnung stütze, auch nicht eine Auslöschung des Wesensgehalts des Grundrechts zur Folge habe. Die Relativierung der Grundrechtsgarantie zu einem Gesichtspunkt des Abwägungsprozesses liegt hier auf der Hand. c) STA-AgR 175 – Recht auf Gesundheit: Von mangelnder Wirksamkeit zu überhöhter Juridifizierung Die aktuelle Judikatur zum Recht auf Gesundheit zeigt den Eintritt der brasilianischen Justiz in ein fragliches Verhältnis funktioneller Konkurrenz zu den an-

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„XI – das Haus ist unverletzliche Heimstatt des Individuums, niemand darf es ohne Zustimmung seines Bewohners betreten, es sei denn bei Gefahr im Verzug oder Unfall oder zwecks Hilfeleistung oder, während des Tages, auf gerichtliche Anordnung.“ Hervorhebung durch die Verfasserin. 217 Vgl. STF, AP 307 v. 13. 12. 1994, 2104 ff. (DJ 13. 10. 1995); MS-MC 23595 v. 17. 12. 1999 (DJ 01. 02. 2000); HC 82788 v. 12. 04. 2005, 179 ff. (DJ 02. 06. 2006).

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deren Gewalten besonders deutlich.218 In der Realität ist die Frage der Effektivierung sozialer Grundrechte i. A. gegenwärtig eines der polemischsten und umstrittensten Themen der Grundrechtsdogmatik in Brasilien.219 Lange Zeit wurden die sozialen Grundrechte von Rechtsprechung und h. L. grundsätzlich als bloße politische Programmsätze (sog. programmatische Normen) betrachtet, die vom Gesetzgeber lediglich verlangten, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten um eine Verwirklichung dieser Ziele zu bemühen. Allmählich änderte sich aber während der 1990er-Jahre und v. a. seit den 2000er-Jahren dieses Verständnis grundlegend. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Recht auf Gesundheit gewinnt die Problematik der Judiziabilität der sozialen Grundrechte große Bedeutung. Art. 196 CF220 wird in diesem Sinne zunehmend als subjektives Recht interpretiert, aufgrund dessen der Einzelne – auch unabhängig von einer gesetzlichen Konkretisierung – eine positive Leistung vom Staat fordern kann. Bisweilen wird zwar bekräftigt, dass die Entscheidung über neue Leistungsansprüche durch einen Ausgleich zwischen „Existenzminimum“ und „Vorbehalt des Möglichen“ zu finden wäre.221 Praktisch setzen sich aber fast alle Ansprüche gerichtlich durch.222 So betont das STF wiederholt, dass hinsichtlich einer Entscheidung zwischen dem Schutz des Rechts auf Leben und Gesundheit, welches sich als subjektives, durch die Verfassung geschütztes Recht für alle bestimmt, und der Bevorzugung eines finanziellen und sekundären Interesses des Staates, was eine Entscheidung gegen dieses grundlegende Vorrecht bedeuten würde, aus ethisch-rechtlichen Gründen nur eine mögliche Option für den Richter besteht: Diejenige, welche dem unabänderlichen Respekt vor dem Leben und der menschlichen Gesundheit den Vorzug gibt.223 218 Angesichts der Tatsache, dass diese Problematik ohne Schwierigkeiten Thema eines eigenständigen Dissertationsvorhabens sein könnte, muss die folgende Darstellung freilich kursorisch bleiben. 219 Es gilt wieder hervorzuheben, dass die brasilianische Verfassung ausgreifende Grundrechte enthält, die nicht nur der Freiheitssicherung durch Eingriffabwehr, sondern auch der Verbürgung staatlicher Leistungen und der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse dienen sollen. Exemplarisch in diesem Sinne ist der bereits zitierte Art. 6 CF: „Soziale Rechte nach dieser Verfassung sind die Rechte auf Bildung, Gesundheit, Ernährung, Arbeit, Wohnung, Freizeit, Sicherheit, Rentenversicherung, Schutz von Mutterschaft und Kindheit, Sozialhilfe für die Bedürftigen.“ 220 „Art. 196: Die Gesundheit stellt ein Recht aller und eine Verpflichtung des Staates dar. Sie wird durch Sozial- und Wirtschaftspolitik gewährleistet, die darauf abzielt, das Krankheitsrisiko und andere Schadensrisiken zu vermindern und den allgemeinen und gleichen Zugang zu den ihrer Förderung, ihrem Schutz und ihrer Wiederherstellung dienenden Maßnahmen und Dienstleistungen zu ermöglichen.“ Hervorhebung durch die Verfasserin. 221 Mendes/Coelho/Branco, Curso de Direito Constitucional, S. 828; STF, ADPF-MC 45 v. 29. 04. 2004 (DJ 04. 05. 2004); STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70 (78) (DJ 30. 04. 2010) (Zavesca/Miglustat). 222 Vgl. die Rechtsprechungsanalyse bei Romero, TD 41/2008, S. 12, 21 ff.; Wang, UC Berkeley, Alacde, S. 7 ff. 223 Vgl. STF, Pet. 1246 v. 31. 01. 1997 (DJ 13. 02. 1997) (Duchenne-Muskeldystrophie); RE 271286 v. 12. 09. 2000, 1409 (1418) (DJ 24. 11. 2000) (HIV/AIDS); RE-AgR 273834 v. 31. 10.

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In diesem Zusammenhang kann zwar beobachtet werden, dass ein Großteil der sich auf das Recht auf Gesundheit beziehenden Klagen aufgrund der unsicheren Umsetzung der bereits auf unterverfassungsrechtlicher Ebene bestehenden öffentlichen Gesundheitspolitik erfolgt, und eben nicht aufgrund des Mangels an einer spezifischen Gesetzgebung.224 Gegenwärtig nehmen jedoch in beträchtlichem Maße auch gerichtliche Entscheidungen zu, nach denen die staatlichen Behörden zur Zahlung von Medikamenten und Therapien verurteilt werden, die über den Rahmen der durch das SUS225 schon zur Verfügung gestellten Leistungen hinausgehen. Zahlreiche Entscheidungen verpflichten somit den Staat, nicht nur die Wirksamkeit und den gleichberechtigten Zugriff auf die bereits bestehende öffentliche Gesundheitspolitik zu gewährleisten, sondern verlangen ihm auch ab, zusätzliche Haushaltsmittel für die Befriedigung individueller Leistungsansprüche bereitzustellen. In einigen Fällen sind die geforderten Behandlungen sogar experimenteller Natur oder sollen im Ausland durchgeführt werden.226 Darüber hinaus wurde die Regierung in einigen Urteilen sogar dazu verpflichtet, (noch) nicht zugelassene Arzneimittel bereitzustellen.227 Inzwischen ist es schon offensichtlich, dass diese eingreifende 2000, 4045 (4054 f.) (DJ 02. 02. 2001) (HIV/AIDS); RE-AgR 393175 v. 12. 12. 2006, 1524 (1529) (DJ 02. 02. 2007) (Schizophrenie); STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70 (115 f., 138) (DJ 30. 04. 2010) (Zavesca/Miglustat). Wenn das STF das Ziel einer finanziellen Stabilität zur Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems im Ganzen als eine sekundäre Frage hinstellt, so sind diese Bemerkungen zumindest missverständlich. Denn wenn es um die Förderung der Gesundheit geht, so ist die Aufrechterhaltung des öffentlichen Gesundheitssystems nicht eine sekundäre, sondern wohl eine entscheidende Frage. 224 Mendes/Coelho/Branco, Curso de Direito Constitucional, S. 834 f. So werden z. B. sehr oft Medikamente für HIV/AIDS beantragt, obwohl das Gesetz 9.313/1996 die Regierung bereits dazu verpflichtet hat, für alle HIV-Infizierte die entsprechende medikamentöse Kombinationstherapie (HAART) unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. s. etwa STF, RE-AgR 271286 v. 12. 09. 2000, 1409 ff. (DJ 24. 11. 2000) (HIV/AIDS); RE-AgR 273834 v. 31. 10. 2000, 4045 (4047) (DJ 02. 02. 2001) (HIV/AIDS). Darüber hinaus erstellt der öffentliche Gesundheitsdienst eine Liste der abzugebenden Medikamente, die regelmäßig zu aktualisieren ist und deren Änderungsnotwendigkeit im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle und von Sammelklagen bestritten werden kann. s. dazu Barroso, UNIJUS 11 – 15/2008, 13, 23 ff., 32 ff. 225 Das einheitliche Gesundheitssystem (sistema único de saúde – SUS) besteht aus der Gesamtheit der öffentlichen Maßnahmen und Dienstleistungen im Gesundheitsbereich. Es ist somit das unentgeltliche staatliche Gesundheitssystem, zu dem jeder Zugang haben kann. Diejenigen, die es sich leisten können, bevorzugen dennoch in der Regel eine „private Krankenversicherung“. 226 Exemplarisch in diesem Sinne STF, Pet. 1246 v. 31. 01. 1997 (DJ 13. 02. 1997) (Duchenne-Muskeldystrophie), in welcher der Staat dazu verurteilt wurde, eine experimentelle Behandlung in den USA – spezifisch in der Cell Therapy Research Foundation – zu bezahlen. Er musste hier die Kosten für Flugtickets, Übernachtungen, Verpflegung, Ärzte und Krankenhaus tragen. 227 s. Romero, TD 41/2008, S. 17 f., 18, 22, 39 f., 46. Das Zulassungsverfahren ist im Gesetz 6.360/1976 geregelt, wird von der Nationalen Behörde für Gesundheitsüberwachung (Agência Nacional de Vigilância Sanitária – ANVISA) durchgeführt und zielt gerade auf die Risikovorsorge und Abwehr von Gefährdungen der Gesundheit ab, die durch unsichere oder wirkungslose Arzneimittel entstehen können.

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C. Verfassungsgerichtliche Abwägungs- und Wertordnungsrechtsprechung

Rechtsprechung die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems als Ganzes und das Recht auf gleichberechtigten Zugriff auf die öffentliche Gesundheitspolitik gefährdet – denn die Vollstreckung der Urteile geht grundsätzlich zulasten anderer Patienten und/oder Dienstleistungen.228 Angesichts dieser ungeordneten Lage versucht die Entscheidung des STF in der STA-AgR 175229 unter Rückgriff auf die Abwägungsdogmatik, Maßstäbe für die Vorgehensweise der Gerichte bezüglich der Bewilligung von Medikamenten zu entwickeln. In diesem Fall wird spezifisch die Pflicht des Staates auf Bewilligung des Arzneimittels Zavesca (Miglustat) diskutiert, das in der durch das SUS erstellten Liste der unentgeltlich abzugebenden Medikamente nicht vorgesehen war, jedoch möglicherweise die Überlebensdauer verlängern und/oder die Lebensqualität einer Patientin mit Niemann-Pick Typ C erhöhen könnte. Angesichts der Komplexität der Problematik der Effektivierung sozialer Grundrechte sowie unter Berufung auf das Untermaßverbot und auf Alexys Theorie stellt das Gericht hierbei zunächst lapidar fest: Abwägungen seien unausweichlich.230 Das Gericht nahm dann eine abstrakte Bewertung der verschiedenen Gesichtspunkte vor, die bei dieser Abwägung zu berücksichtigen seien. Diese seien die Prinzipien des „Vorbehalts des finanziell Möglichen“ und der Gewaltenteilung einerseits und die Menschenwürdegarantie und das Gebot des „Existenzminimums“ andererseits. In Anbetracht dieser verschiedenen Gesichtspunkte und ausgehend von einer Analyse des Wortlauts des Art. 196 CF statuierte das STF dann folgende Parameter: (1) Wenn die Behandlung gemäß der bestehenden öffentlichen Gesundheitspolitik schon vorgesehen ist, obliegt es der Gerichtsbarkeit, deren effektive Bereitstellung zu gewährleisten; (2) der Staat kann nicht dazu verurteilt werden, (noch) nicht zugelassene Arzneimittel zur Verfügung zu stellen; (3) die Bewilligung einer Behandlung alternativ zu einer bereits durch das SUS angebotenen Behandlung kann nur dann gefordert werden, wenn für den betreffenden Patienten die Unwirksamkeit bzw. Unangemessenheit der bereits angebotenen Behandlung nachgewiesen wird; (4) der Staat kann nicht dazu verurteilt werden, eine experimentelle Behandlung, d. h. Untersuchungen ohne wissenschaftlichen Nachweis der entsprechenden Wirksamkeit, bereitzustellen; (5) die Forderung von Behandlungen, die nicht mehr als experimentell betrachtet werden, jedoch noch nicht in das SUS aufgenommen wurden, 228 Vgl. Romero, TD 41/2008, S. 7 ff., 22 f.; Barroso, UNIJUS 11 – 15/2008, 13, 14, der zutreffend beobachtet, dass es, neben erforderlichen und verdienstvollen Interventionen, zu einer Vielzahl unsinniger und emotionaler Entscheidungen gekommen ist, welche die Fortsetzung der öffentlichen Gesundheitspolitik an sich gefährden, indem die administrative Tätigkeit desorganisiert und die Zuteilung der ohnehin knappen öffentlichen Mittel zusätzlich erschwert wird. 229 Der Berichterstatter war der Richter Gilmar Mendes; sein Votum erging allerdings ohne abw. Meinung und fand höchste Anerkennung durch die anderen Richter. 230 Hierzu und zum Folgenden STF, STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70 (78 ff., 83) (DJ 30. 04. 2010). Vgl. auch Mendes/Coelho/Branco, Curso de Direito Constitucional, S. 828 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 465 ff.

V. Abwägungsdenken im brasilianischen Verfassungsrecht

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ist sorgfältig bei den jeweiligen Einzel- und Sammelklagen zu prüfen.231 Eine Lösung dieser Problematik sei mittels Abwägung von Fall zu Fall anzustreben.232 Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen entschied das STF, dass der Staat zur kostenlosen Bereitstellung des von der Patientin geforderten Medikaments (Zavesca) verpflichtet sei. In der Analyse ist der Fall eindeutig der Hypothese (5) zuzuordnen, da das Medikament in den Richtlinien des SUS nicht vorgesehen war, im Verlaufe des Prozesses jedoch die behördliche Zulassung erhielt. Das Gericht zog jedoch in Betracht, dass der Staat in diesem Fall nicht nachgewiesen hatte, dass eine entsprechende Bereitstellung „die öffentliche Ordnung, Wirtschaft, Gesundheit und Sicherheit gravierend beeinträchtigen würde“.233 Der Entscheidung im Fall STA-AgR 175 kommt das Verdienst zu, einige Maßstäbe für den Umgang mit einer Situation hervorgebracht zu haben, die sich allmählich als unhaltbar erweist. Es ist allerdings fragwürdig, ob sich alle der aufgestellten Parameter aus einer Abwägung der dargestellten Gesichtspunkte ergeben. Insbesondere die Kriterien (1), (2) und (4) scheinen vielmehr aus der simplen Tatsache zu resultieren, dass der Richter die vorhandenen, verfassungsmäßigen Regelungen anzuwenden (d. h. durchzusetzen bzw. zu befolgen) hat. Parameter (5) nimmt seinerseits nochmals Bezug auf die Abwägung, womit jedoch keinerlei weitere Unterscheidung gegeben wird, die es erlauben würde, bestimmte Ergebnisse zu erreichen oder auszuschließen. Bei Richtlinie Nummer (3) wäre eine Analyse angebracht, ob diese unter Berufung auf den Gleichheitssatz oder das Effektivitätsgebot nicht eine bessere Rechtfertigung finden würde. Letztendlich lässt sich also auch in der brasilianischen Rechtsprechung beobachten, dass die Abwägung dem Gericht zeitweilig in hohem Maße lediglich als argumentative Krücke und sprachliches Dekor dienlich ist.

231

STF, STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70 (jeweils 92, 93 f., 95 f., 96, 97) (DJ 30. 04. 2010). STF, STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70 (83, 104, auch 111, 135 f.) (DJ 30. 04. 2010). 233 STF, STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70 (71, 76, 102 ff.) (DJ 30. 04. 2010). Wie dies nachzuweisen wäre und woraus verfassungsrechtlich spezifisch dieses Erfordernis hergeleitet werden soll, wird nicht dargelegt und bleibt völlig unklar. Sollte dies zum allgemeinen Prüfungsmaßstab auch für die Rechte auf Bildung, Ernährung, Arbeit, Wohnung, Freizeit usw. (Art. 6 CF) werden, so wäre ein praktisch unbeherrschbarer Zugriff der Rechtsprechung auf die ganze politische Gestaltung der Sozialordnung kaum noch zu vermeiden. Dabei wurde außerdem der Grundsatz des Vorranges der Selbsthilfe vor der Staatshilfe praktisch nicht thematisiert. Zum Vorrang der Selbsthilfe im Hinblick auf das medizinische Existenzminimum vgl. Neumann, NZS 2006, 393, 394. 232

D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Abwägung in der Grundrechtsdogmatik I. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Verknüpfung mit der Güterabwägung, Entstehung und Grundlage Die Abwägung im Verfassungsrecht, die häufig Güter-, Interessen- oder Wertabwägung1 genannt wird, tritt, wie bereits dargelegt, hauptsächlich als dritte und somit entscheidende Stufe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (i. w. S.) in Erscheinung. Demzufolge macht die Abwägung den eigentlichen Kern der Problematik der Verhältnismäßigkeit aus. Die Rechtsgeschichte des modernen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wurzelt jedoch eigentlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zum Polizeirecht, wobei der Grundsatz damals lediglich die Kriterien der Rechtmäßigkeit des Zwecks und des Mittels sowie der Geeignetheit und der Erforderlichkeit des Mittels zur Erreichung des Zwecks enthielt.2 Seit den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts entfaltet er aber v. a. durch entscheidende Rechtsprechungsimpulse größte Wirksamkeit auf verfassungsrechtlicher Ebene, besonders im Bereich der Grundrechte, und hier wird heute seine „Hauptfunktion“ gesehen.3 In diesem Kontext gewinnt er auch den neuen Bestandteil: das Abwägungsgebot. Auch die Abwägung ist keine Erfindung des BVerfG oder des Verfassungsrechts. Sie wurde aber vom BVerfG für die Behebung von Grundrechtskollisionen „fruchtbar“ gemacht und gehört ebenfalls seit dem Lüth-Urteil zum Standardrepertoire der Grundrechtsdogmatik.4 Bemerkenswert ist allerdings, dass es in vielen Fällen bei der Verwendung dieser beiden Begriffe zu Unklarheiten kommt. In der Regel werden die dritte Stufe des

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Zwischen Güter-, Interessen- und Wertabwägung oder einfach Abwägung wird in der Regel kein Unterschied gemacht. Vgl. diesbezüglich Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 129, Fn. 2. 2 Vgl. dazu Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 2 ff., 6 ff.; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 24, 135, 194; Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445; Stern, in: FS Lerche, S. 165, 167 ff.; Heinsohn, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 39 ff.; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 2 ff. 3 s. Stern, in: FS Lerche, S. 165, 167, 171 f.; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 9 ff., 17; Wendt, AöR 104/1979, 414, 416. 4 Stern, StR III/2, § 84, S. 815 ff. Vgl. die bis Bd. 40 reichenden Nachweise von Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts, S. 28.

I. Entstehung und Grundlage

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Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und das Abwägungsgebot gleichgesetzt.5 Denn Abwägung bedeutet, wie Stern bekräftigt, einander gegenüberstehende Verfassungsgüter verhältnismäßig (proportional) zu gewichten, und sei daher nichts anderes als die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit i. e. S.6 Die Güterabwägung sei dann als Bestandteil des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anzusehen.7 Lerche bezeichnet jedoch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als einen Anwendungsfall des Prinzips der Güterabwägung.8 In der brasilianischen Literatur wird die Güterabwägung in der Regel ebenfalls mit der dritten Stufe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes identifiziert.9 Zudem erfolgt in der Rechtsprechung des STF der Rückgriff auf die deutsche Abwägungsmethode meistens im Zusammenhang mit der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Werden diese so miteinander in Bezug gesetzt, lässt sich jedoch ein gewisser Mangel an Strenge feststellen.10 Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung ist die in der Dogmatik mehrheitlich eingenommene Perspektive, in der beide Begriffe gleichgesetzt werden. Die h. M. leitet den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Anlehnung an Formulierungen des BVerfG aus dem Rechtsstaatsprinzip oder auch aus dem „Wesen der Grundrechte“ her.11 Andere Auffassungen sehen weiterhin seine verfassungsrecht5 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100; Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 26, 29. Nach Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 83 – 91, sei eine weitgehende Austauschbarkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit dem Prinzip der Güterabwägung möglich. Denn es bestehe hinsichtlich der gedanklichen Operation beider kein Unterschied. Auch nach Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 3, bestehe eine Übereinstimmung zwischen Abwägungs- und Verhältnismäßigkeitsgebot. 6 Stern, StR III/2, § 84, S. 818, 785. 7 Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts, S. 207. 8 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 22. Auch Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 125. 9 Vgl. Steinmetz, Colisão de direitos fundamentais, S. 152 f.; Mendes, Direitos fundamentais, S. 48; Sarmento, A ponderação de interesses na Constituição Federal, S. 89 f.; Guerra Filho, in: Leituras complementares de Direito Constitucional, S. 87, 95. 10 Exemplarisch diesbezüglich Barros, O princípio da proporcionalidade, S. 87, 177, der zufolge die Verhältnismäßigkeit i. e. S. in einem konkreten Fall nicht das gerechte Maß aufzeigt und dieses folglich anhand der Güterabwägung gemessen werden muss. An anderer Stelle heißt es jedoch, dass aus dem Abwägungsprozess der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hervorgeht, womit deren Beziehung zueinander im Ergebnis unklar bleibt. Auch in der Rechtsprechung ist die Beziehung der Gebote der Abwägung und der Verhältnismäßigkeit nicht immer klar bestimmt. So stellt Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 56, fest, dass diese Gebote einander in verschiedener Weise ergänzen und überschneiden. 11 Vgl. etwa BVerfGE 69, 1 (LS 5, 35) (Kriegsdienstverweigerung II); Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 20, S. 521, Rn. 80; Stern, in: FS Lerche, S. 165, 172 f. (m. w. N.); Sachs, Verfassungsrecht II, S. 147; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. 1, Vorb. 1 – 19, S. 52, Rn. 55; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 45; kritisch Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 114 ff. Auch in Brasilien: Barros, O princípio da proporcionalidade, S. 93 ff.; Mendes, Direitos fundamentais, S. 47. Zu einer Ableitung der Elemente der Zwecklegitimität, der Geeignetheit und der Erforderlichkeit – nicht aber der Angemessenheit –

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

liche Grundlage etwa in der Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG), im Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG und im Gebot vernünftigen Staatshandelns (zumindest des Subprinzips der Erforderlichkeit).12 Angeführt wird ferner, dass er als Rechtsgrundsatz in sich steht, denn die Notwendigkeit des Rückgriffs auf ihn folgt aus der Insuffizienz der Subsumtionsmethode. Der Grundsatz gilt demnach für die gesamte Rechtsordnung.13 Die von Alexy dargelegte Begründung aus dem Prinzipiencharakter der Grundrechtsnormen ist für das Thema dieser Untersuchung besonders von Interesse und auch in der Rechtsprechung des STF äußerst einflussreich. Indem er Prinzipien als Optimierungsgebote relativ auf die rechtlichen und die tatsächlichen Möglichkeiten definiert, wird der Kreis zwischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Güterabwägung und Prinzipiencharakter geschlossen. Die Teilgrundsätze der Erforderlichkeit und der Geeignetheit folgten demnach aus dem Charakter der Prinzipien als Optimierungsgebote relativ auf die tatsächlichen Möglichkeiten, und die Verhältnismäßigkeit i. e. S. folge aus der Relativierung auf die rechtlichen Möglichkeiten.14 Die rechtliche Möglichkeit der Realisierung einer Grundrechtsnorm, die sich in einer Kollision befindet, hänge daher von dem gegenläufigen Prinzip ab und eine Abwägung sei dann erforderlich, um eine Entscheidung zu treffen. Der Prinzipiencharakter der Grundrechtsnormen impliziere somit die Notwendigkeit einer Abwägung zu ihrer Anwendung im Kollisionsfall. Das bedeute aber nichts anderes, als dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i. e. S. aus dem Prinzipiencharakter der Grundrechtsnormen deduzierbar sei.15

II. Anwendungsbereiche: Übermaßverbot, Untermaßverbot und Schranke der Gleichheitssätze Im Verfassungsrecht hat sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit überwiegend im Bereich der Grundrechte entfaltet. Seine Anwendbarkeit im Organisationsrecht bleibt nach wie vor umstritten. Das BVerfG hat sie freilich ausdrücklich abgelehnt, ihn aber wiederum im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie zur aus den Gesetzesvorbehalten und dem Rechtsstaatsprinzip vgl. Raue, AöR 131/2006, 79, 97 ff., 108 ff. 12 Zur Darstellung der verschiedenen verfassungsrechtlichen Begründungsversuche vgl. Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 85 ff.; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 30 ff. (m. w. N.). Zu einem kritischen Überblick und schließlich zu einer normtheoretischen Begründung v. Arnauld, JZ 2000, 276 ff. 13 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 447 ff. Vgl. auch v. Arnauld, JZ 2000, 276, 278 ff. 14 Ähnlich stellt Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 44 f., fest, dass die Grundsätze der Geeignetheit und Erforderlichkeit stärker der empirischen Seite des ZweckMittel-Schemas zugewandt seien, das Gebot der Verhältnismäßigkeit i. e. S. hingegen zum Wertelement dieses Schemas gehöre. s. dazu auch Schlink, EuGRZ 1984, 457, 460. 15 Zum Ganzen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 f.; ders., Rechtstheorie 18/1987, 405, 415. Auch Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 89 f., 186 ff.

II. Anwendungsbereiche

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Anwendung gebracht.16 Der ablehnenden Haltung hat außerdem das Schrifttum teilweise widersprochen.17 Ungeachtet dieser Kontroverse geht es in der vorliegenden Untersuchung spezifisch um seine Wirkung auf die grundrechtlichen Garantien. In Deutschland wird hierbei zwischen dem Übermaßverbot als Schranke gegenüber Eingriffen in den Schutzbereich der Freiheitsrechte, dem Untermaßverbot als Regulativ grundrechtlicher Schutzpflichten und der Verhältnismäßigkeit als Schranke in Gleichheitssätzen unterschieden.18 Die klassische Anwendung des Grundsatzes auf der Verfassungsebene ist die als Schranke der Grundrechtseinschränkungen, wo er für die Frage der Rechtfertigung gesetzlicher wie auf gesetzlicher Grundlage vorgenommener Grundrechtseingriffe sowie allgemein für Verfassungsgüterkollisionen eine entscheidende Rolle spielt. Der Gesetzgeber darf in den Schutzbereich von Grundrechten nur eingreifen, wenn der Eingriff durch die Verfassung gedeckt ist und nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt. Geht der Eingriff von der Verwaltung oder Rechtsprechung aus, muss er durch ein Gesetz gedeckt sein, das den vorher erwähnten Voraussetzungen entspricht.19 Der Grundsatz – hier auch Übermaßverbot genannt – verlangt von der eingreifenden Staatsgewalt, dass sie in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise einen legitimen Zweck verfolgt. Aus den Grundrechten werden Schutzpflichten hergeleitet, und das BVerfG tendiert dazu, gelegentlich auch hier den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzuwenden.20 Die Schutzpflichten wären dann verhältnismäßig zu erfüllen. Dafür spricht die dogmatische Figur des Untermaßverbots, das die untermäßige Wahrnehmung von grundrechtlichen Schutzpflichten verbieten soll. Vieles bezüglich der Schutzpflicht bleibt noch umstritten, so auch, ob sich das Untermaßverbot tatsächlich zu einem Korrelat des Übermaßverbots entfalten lässt und ob es überhaupt dogmatische Vorgaben zur näheren Bestimmung des Mindestmaßes an Schutz leisten kann. Während einige Autoren21 versuchen, ähnliche argumentative Strukturen für 16 Vgl. BVerfGE 79, 311 (341) (Staatsverschuldung); 81, 310 (338) (Kalkar II); zur kommunalen Selbstverwaltung hingegen BVerfGE 79, 127 (Rastede). 17 Vgl. Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 449 (m. w. N. in Fn. 11); Stern, StR III/2, § 84, S. 787 f. Ablehnend Ossenbühl, in: FS Lerche, S. 151, 162; Löwer, in: HStR III, § 70, S. 1292 f., Rn. 10. In der Landesverfassungsgerichtsbarkeit wurde der Grundsatz sowohl gegenüber kommunalen Neugliederungsgesetzen entfaltet als auch zum Schutze der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie. Stern, StR III/2, § 84, S. 786. Vgl. ferner den Überblick über sein Anwendungsfeld bei Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 25 ff.; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 127 ff. Auch im Europäischen Gemeinschaftsrecht und in der EMRK wurde er längst durch den EuGH und den EGMR als allgemeiner Grundsatz anerkannt und angewendet, wenngleich ohne exakte Dogmatik. Vgl. dazu Kutscher, in: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 89 ff.; Heinsohn, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 75 ff. 18 s. dazu Michael, JuS 2001, 148 ff. 19 Stern, in: StR III/2, § 84, S. 791. 20 BVerfGE 88, 203 (254) (Schwangerschaftsabbruch II). 21 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 198 ff., 312; Michael, JuS 2001, 148, 151 f.

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

das Untermaßverbot zu entwickeln, wie sie für das Übermaßverbot bereits bestehen, lehnen andere Autoren22 aus verschiedenen Perspektiven überhaupt die eigenständige dogmatische Bedeutung dieser Figur ab. Allgemein anerkannt ist allerdings, dass dem Gesetzgeber bei der Pflichterfüllung ein weiter Einschätzungs-, Wertungsund Gestaltungsspielraum zusteht. Mittlerweile findet der Verhältnismäßigkeitgrundsatz evtl. auch bei der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes Anwendung. Das ist die sog. „neue Formel“23 des BVerfG zur Schrankenproblematik des Art. 3 Abs. 1 GG, der zufolge danach zu fragen ist, ob zwischen zwei Gruppen „Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“. Hier wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung von einer bloßen Willkürkontrolle unterschieden. Bei geringer Intensität der Ungleichbehandlung wird lediglich die Willkür24 sowie bei größerer Intensität die Verhältnismäßigkeit25 vollständig geprüft. Vier Kriterien werden herangezogen, um die Intensität der Ungleichbehandlung zu bestimmen: (1) je weniger der Betroffene das Kriterium der Ungleichbehandlung beeinflussen kann, (2) je mehr das Differenzierungskriterium personen- bzw. personengruppen- und nicht situationsbezogen ist, (3) je mehr das Kriterium der Ungleichbehandlung einem der Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 3 GG ähnelt und (4) je stärker die Ungleichbehandlung die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten erschwert, desto höher ist die Intensität und sind folglich die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung.26 In Bezug auf Art. 3 Abs. 1 GG besteht auch die Möglichkeit, dass er eine Differenzierung gebietet (Differenzierungsgebot) und deshalb durch eine Gleichbehandlung verletzt wird. Folglich kommt auch hier eine Verhältnismäßigkeitsprüfung der Gleichbehandlung in Betracht. So oder so steht dem Gesetzgeber auch bei (Un-)Gleichbehandlungen ein weiter Ermessensspielraum zu. 22 Dietlein, ZG 1995, 131, 139 ff.; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 85 ff.; Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 78. Insoweit übereinstimmend Hain, DVBl. 1993, 982, 983 f.; Starck, JZ 1993, 816, 817; Stern, StR III/2, § 84, S. 813 f. 23 BVerfGE 55, 72 (88) (Präklusion I); 105, 73 (110) (Pensionsbesteuerung); 107, 205 (214) (Familienversicherung). „Neue“ und „alte“ Formel existieren allerdings nebeneinander. Nach der „alten“ Formel gebietet der Gleichheitssatz, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. s. BVerfGE 49, 148 (165); 98, 365 (385) (Versorgungsanwartschaften). Zu der alten und neuen Formel s. Michael, JuS 2001, 148, 152; Hesse, in: FS Lerche, S. 121, 122 ff. 24 Handelt es sich bei der Rechtfertigungsprüfung lediglich um eine Willkürkontrolle, dann beschränkt sie sich auf eine Evidenzkontrolle und eine Differenzierung wird schon als gerechtfertigt und willkürfrei akzeptiert, wenn sich nur irgendein sachlicher Grund zu ihren Gunsten erkennen lässt – BVerfGE 107, 27 (46) (Doppelte Haushaltsführung). Eine Ungleichbehandlung ist dann willkürlich, wenn sie nicht geeignet ist, einem Differenzierungsziel zu dienen. Darüber hinaus wird bekräftigt, dass die Willkürkontrolle eine auf die Geeignetheit beschränkte Verhältnismäßigkeitskontrolle sei. Vgl. Michael, JuS 2001, 148, 152. 25 Zu einer auf die Gleichheitssätze zugeschnittenen Argumentationsstruktur des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vgl. Michael, JuS 2001, 148, 152 ff. 26 Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 105, Rn. 438.

III. Abwehrrecht und Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit spielt allerdings nach wie vor eine überragende Rolle als Übermaßverbot, d. h. hinsichtlich der Frage der Rechtfertigung gesetzlicher wie auf gesetzlicher Grundlage vorgenommener Grundrechtseingriffe, sowie allgemein bei den sog. Verfassungsgüterkollisionen. Dabei handelt es sich genau um die Anwendung, welche bisher am stärksten durch das STF und die h. L. in Brasilien übernommen wird. Da aber die Schutzpflicht zunehmend an Bedeutung gewinnt und im Übrigen ein gewisser Zusammenhang zwischen Abwehrrecht und Schutzpflicht besteht, wird die Untersuchung auch auf die Problematik des Untermaßverbots eingehen.

III. Abwehrrecht und die „triadische Struktur“ der Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen Aus der bisherigen Diskussion geht hervor, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach wie vor eine überragende Bedeutung unter den Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen hat. Vor der Einwirkung dieses Grundsatzes auf die Einschränkungen sind aber nach der h. M. grundrechtlicher Gewährleistungsbereich und Grundrechtsschranke zu ermitteln. Diese gegenwärtig praktizierte Grundrechtsdogmatik wird dementsprechend überwiegend durch die Gegenüberstellung von Schutzbereich und Eingriff (oder Schranke) geprägt und darüber hinaus hat die sog. „triadische Struktur“ (Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung oder auch Schutzbereiche, Grundrechtsschranken und Schranken-Schranken) in der Wissenschaft sowie in der Rechtsprechung des BVerfG weitgehende Zustimmung erfahren,27 wobei sie teilweise auch von der brasilianischen Literatur rezipiert wird.28 Bei der Anwendung der Grundrechtsnorm wird demzufolge stets zuerst ihr Schutzbereich herausgearbeitet. Danach wird konstatiert, ob und wieweit ein Handeln des Staates einen Eingriff in diesen Schutzbereich darstellt. Wird der Eingriff bejaht, ist seine mögliche Rechtfertigung zu ermitteln, also ob und inwieweit dieser Eingriff durch die Verfassung entweder selbst erfolgt oder von ihr zugelassen ist und ob die Bedingungen dieser Zulassung erfüllt sind.29 Hier werden dann die „SchrankenSchranken“ zur Sprache gebracht.

27 Vgl. etwa Stern, in: StR III/2, § 84, S. 791, 794; ders., in: FS 50 Jahre BVerfG, S.1 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 49 ff., Rn. 195 ff.; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 164 f., Rn. 38; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 275 ff., der aber die Bezeichnung „triadische Struktur“ für Schutzgut/Eingriff/Schranke verwendet. Kritisch etwa Böckenförde, Der Staat 42/ 2003, 165 ff. 28 Mendes, Direitos fundamentais, S. 13 ff.; Dimoulis/Martins, Teoria geral dos direitos fundamentais, S. 125 ff.; Silva, Direitos fundamentais, S. 72 f., 126 ff.; Mendes/Coelho/ Branco, Curso de Direito Constitucional, S. 373 ff. 29 Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 166.

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

1. Der grundrechtliche Schutzbereich, der Eingriff und die Schranke In den unterschiedlichen Lebensbereichen schützen die verschiedenen Grundrechte den Einzelnen zuerst gegen staatliche Eingriffe. Der grundrechtlich geschützte Lebensbereich gilt als Schutzbereich des Grundrechts. Der Begriff des Schutzbereichs bezeichnet somit den Wirklichkeitsausschnitt, in dem der Schutz wirken soll. Der Grundrechtsschutzbereich wird ferner von der Grundrechtsgewährleistung differenziert, die auf rechtlich ausgeformte Schutzwirkungen der Grundrechte bezogen ist. Ein Grundrecht hat damit seinen Schutzbereich und gewährleistet in diesem Bereich subjektive Rechte (Abwehr-, Schutz-, Teilhabe- oder Leistungsrechte).30 Im Rahmen dieser ersten Stufe ist dann der Schutzbereich und/ oder Gewährleistungsgehalt des betroffenen Grundrechts zu ermitteln. Bei Freiheitsrechten ist der h. M. nach der Schutz auf Freiheit im umfassenden Sinn gerichtet, sodass der Grundrechtsträger sich in Bezug auf den benannten Lebensbereich bzw. in ihm selbstbestimmt und nach seinem Belieben (im Sinne subjektiver Freiheit) verhalten kann. Rechtliche Freiheit sei also die rechtliche Erlaubnis, zu tun und zu lassen, was man will.31 Dieses freie und beliebige Verhalten, das sowohl Handeln als auch Unterlassen und bloßes Sich-Befinden umfasst, kann als Grundrechtsausübung oder Grundrechtsgebrauch bezeichnet werden. Allerdings kann eine solche grenzenlose Grundrechts- oder Freiheitsausübung, bei dem der Einzelne tun und lassen kann, was er will, zu Konflikten mit den Interessen der Allgemeinheit und auch mit Rechten und Grundrechten anderer führen. Deswegen ergeben sich Eingriffe in die Grundrechte und werden dem Grundrechtsgebrauch Schranken gesetzt.32 Dadurch ist die Korrelation von Schutzbereich und Eingriff festgelegt, zwischen beiden gibt es nämlich eine untrennbare Verknüpfung, sie sind aufeinander bezogen. Ein Eingriff ist immer dann gegeben, wenn das Gesetz oder das sich auf seine Grundlage stützende Verwaltungshandeln oder die Rechtsprechungsentscheidung in den tatbestandlich fixierten Schutzbereich der Grundrechtsnorm beschränkend

30 Zum Ganzen Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 49 ff., Rn. 195 ff. Die Begrifflichkeit und die Terminologie sind aber in der Literatur wie in der Praxis uneinheitlich. Stern z. B. verwendet die Begriffe Schutzbereich, Gewährleistungsgehalt, Schutzgut und Grundrechtstatbestand als Synonyme zum Ausdruck der Ermittlung von dem Schutzgehalt des in Rede stehenden Grundrechts; Stern, in: StR III/2, § 84, S. 791 f. und ders., in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 5. Lerche, in: HStR V, § 121, S. 746, Rn. 11, bekräftigt, dass der Schutzbereich einmal den jeweils unterschiedlichen Tatbestand der einzelnen Grundrechtsnormen und zum anderen die Grundrechtsgewährleistung (Rechtsfolge) umfasst. 31 Vgl. etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 155; 202 ff., 290 ff.; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG-Komm, Bd. 1, Vorb. 1 – 19, S. 50, Rn. 51; Kahl, Der Staat 43/2004, 167, 168 f. (m. w. N. in Fn. 16, 17); kritisch Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 167; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 236, Rn. 174 ff., der eine enge Tatbestandstheorie vertritt und die Ausübung grundrechtlicher Freiheit unter einen Vorbehalt der Friedlichkeit stellt. 32 Zum Ganzen Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 50 f., Rn. 199, 206.

III. Abwehrrecht und Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen

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einwirkt.33 Eingriff ist also jedes staatliche Handeln, das den Einzelnen an einem Verhalten, das in den Schutzbereich einer Grundrechtsnorm fällt, ganz oder teilweise hindert. Dabei ist gleichgültig, ob diese Wirkung unbeabsichtigt oder final, mittelbar oder unmittelbar, tatsächlich oder rechtlich, mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt.34 Zur Vornahme eines Eingriffs bedarf der Staat allerdings stets einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung und genau hier liegt eine bedeutende Crux35 dieses dogmatischen Ansatzes. Die Eingriffsrechtfertigung soll durch eine Schranke36 erfolgen, die somit einen grundrechtlichen Schutz ausschließt. Aber trotz vieler Bemühungen kann nicht gesagt werden, dass eine befriedigende Schrankensystematik bereits vorhanden ist.37 33 Eingriffe können somit sowohl generell (Gesetz, Rechtsverordnung, Satzung) als auch individuell (Verwaltungsakt, Gerichtsurteil) erfolgen. Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 51, Rn. 207; Lerche, in: HStR V, § 121, S. 768, Rn. 48. 34 Dieser Begriff wird in Bezug auf einen älteren Eingriffsbegriff als modern bezeichnet. Das klassische Eingriffsverständnis verlangt, dass der Eingriff beabsichtigte und unmittelbare Folge des Staatshandelns, Realakt mit rechtlicher Wirkung ist und mit Befehl und Zwang angeordnet bzw. durchgesetzt wird. Die Erweiterung zum modernen Eingriffsbegriff ist auf dieselbe Änderung vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat zurückzuführen, die auch die subjektiv-rechtlichen Gewährleistungsgehalte der Grundrechte erweitert und um objektivrechtliche ergänzt hat; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 57, Rn. 238 ff. Vgl. auch Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 23; Sachs, Verfassungsrecht II, S. 101 ff.; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 175 f., Rn. 61 ff. 35 Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 168. 36 In diesem Sinne bezeichnet Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174 ff., 277, den Begriff des Eingriffs als Oberbegriff für die Begriffe der Hinderung, der Beeinträchtigung und der Beseitigung und unterscheidet diesen von der Schranke als Rechtfertigung von Eingriffen. Ein Eingriff, der nicht durch eine Schranke gerechtfertigt sei, sei demnach definitiv grundrechtlich verboten. In Zusammenhang mit diesen Begriffen sind weitere Differenzierungen vorhanden. So differenziert z. B. Lerche, in: HStR V, § 121, S. 762 ff., Rn. 37 ff., 45 ff., die Begrenzungen der Grundrechte zwischen Prägungen und Eingriffen. Ähnlich ist die Unterscheidung zwischen Schranken setzenden und ausgestaltenden Normen. Vgl. etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 300 ff. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 85, differenziert seinerseits zwischen eingreifendem und ausgestaltendem, schützendem bzw. sicherndem Gesetz. Auch Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 106 ff., unterscheidet weiterhin zwischen eingreifenden, verdeutlichenden, grundrechtsprägenden, missbrauchswehrenden und konkurrenzlösenden Normen. Die Begriffe Eingriff, Schranke, Be- oder Einschränkung, Beeinträchtigung und Begrenzung werden ihrerseits z. T. gleichbedeutend benutzt. s. Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 51 f., Rn. 207 f.; auch Isensee, in: HStR V, § 111, S. 174 f., Rn. 58. Die folgende Einteilung handelt von Unterscheidungen innerhalb der Klasse der Schranke, die hier als Eingriffrechtfertigung verstanden wird. 37 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 258; Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S.1, 8 f. (m. w. N.). Hier kann es nicht darum gehen, die Diskussion um die Schrankentheorie nachzuzeichnen. Hervorzuheben ist jedoch, dass das „Eingriffs- und Schrankendenken“ auf das klassisch-liberale Freiheitsverständnis zurückzuführen, aber als rechtstechnisch-konstruktives Denken nicht darauf fixiert ist. Zu Lösungswegen, wie die Kategorien des Eingriffs, der Abwehr und der Schranke die erweiterten Grundrechtsfunktionen bewältigen könnten, vgl. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 463 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 317 ff.; s. unten H.IV.1. Zur Gegenüberstellung der Außen- und Innentheorie vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte,

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

Auf jeden Fall ist, solange die rechtsstaatliche Konzeption noch gelten soll, zur Rechtfertigung von Eingriffen eine Grundlage in der Verfassung selbst erforderlich. Da jede Einschränkung der Grundlage von Normen mit Verfassungsrang bedarf, sind Grundrechtsschranken immer entweder Normen von Verfassungsrang (sog. verfassungsunmittelbare Schranken) oder Normen von Unterverfassungsrang, zu deren Setzung Verfassungsnormen ermächtigen (sog. verfassungsmittelbare Schranken).38 Die Grundrechtsbestimmung, die den Gesetzgeber zu Beschränkungen ermächtigt, wird als Gesetzesvorbehalt bezeichnet. Gesetzesvorbehalt ist eine bestimmten Grundrechten beigefügte Bestimmung, dass das Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann. Er erlaubt somit dem Gesetzgeber, Eingriffe in den Schutzbereich vorzunehmen, und verlangt gleichzeitig für den Eingriff der Verwaltung eine gesetzliche Ermächtigung. Wenn die Verfassung dem Gesetzgeber diese Befugnis ausdrücklich zu erkennen gibt, darf er zwar den Grundrechtsgebrauch begrenzen, aber dies nicht nach Belieben, sondern mit einer Rechtfertigungslast, sonst wäre er nicht an die Grundrechtsnormen gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG). Es bestehen sowohl einfache (oder schlichte) als auch qualifizierte Gesetzesvorbehalte. Den einfachen Gesetzesvorbehalt haben die Grundrechte, bei denen die Eingriffe lediglich durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes erfolgen müssen, ohne besondere Anforderungen an dieses Gesetz zu stellen, wie z. B. Art. 2 Abs. 2 S. 3 und Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG oder Art. 5 VI 2. Teil und XV CF. Einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt haben die Grundrechte, bei denen die Verfassung nicht nur verlangt, dass die Eingriffe durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes stattfinden, sondern daneben eine inhaltliche Begrenzung vorsieht und fordert, dass das Gesetz an bestimmte Situationen anknüpft, bestimmten Zwecken dient oder bestimmte Mittel verwendet,39 wie z. B. Art. 5 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 2 GG bzw. Art. 5 XII 2. Teil, XIII, LX CF. Bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt – schrankenlos gewährleistete Grundrechte wie z. B. Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG bzw. Art. 5 VI 1. Teil und XII 1. Teil CF – sieht zwar die Verfassung keine Eingriffsmöglichkeit durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes vor, aber auch solche vorbehaltlosen Grundrechte S. 250 ff., der die Außentheorie vertritt und dem zufolge sich die Außentheorie bevorzugt mit einer individualistischen Staatstheorie verbinde (ebd., S. 251). Diese Verbindung ist aber dabei nicht dargetan. So auch Lerche, in: HStR V, § 121, S. 744, Fn. 16. Die früher stark diskutierte Frage, ob kollidierendes Verfassungsrecht bereits eine tatbestandliche Beschränkung der Grundrechte herbeiführt (Innentheorie) oder als Grundrechtsschranke wirkt (Außentheorie), wird heute ganz überwiegend im Sinne der zweiten Ansicht beantwortet. Die Außentheorie, die grundsätzlich kollidierendes Verfassungsrecht wie qualifizierte Gesetzesvorbehalte behandelt, kommt, wie im Folgenden dargestellt wird, zu einer umfassenden Abwägung im Einzelfall. Kritisch gegenüber der Außentheorie Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 64. Aus der jüngeren Literatur vertreten ferner die Innentheorie etwa Bamberger, Der Staat 39/2000, 355, 372 ff.; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 173, Rn. 56; Muckel, in: FS Schiedermair, S. 347, 349 ff. 38 Vgl. Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 11 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 258 f. 39 Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 60, Rn. 255. Vgl. auch Schlink, EuGRZ 1984, 457, 459; Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 21 f.

III. Abwehrrecht und Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen

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werden nicht ohne Schranke gewährt. Hier kann ebenfalls eine wildwüchsige Freiheitsausübung zu Konflikten führen40 und deswegen besteht Einigkeit darüber, dass nicht alles, was auf irgendeine Weise unter den Tatbestand vorbehaltloser Gewährleistungsnormen gefasst werden kann, im Ergebnis grundrechtlich geschützt ist.41 Jedoch zeigt das Fehlen eines Gesetzesvorbehalts, dass der Gesetzgeber nicht mehr Raum dafür hat, die Gefahr von Konflikten zu beurteilen und zu bekämpfen. Hier könnte daher die Vollmacht des Gesetzgebers eigentlich nicht weiter gehen, als die Grenzen ihrer Schutzbereiche nachzuweisen, nicht aber inhaltliche Beschränkungen zu regeln. Die herrschende Grundrechtsdogmatik versucht dieses Paradoxon dadurch zu lösen, dass sie, wie dargelegt, verfassungsimmanente Schranken der Grundrechte sucht und findet.42 Der Gedanke der Einheit der Verfassung verlangt, dass kein Grundrecht isoliert betrachtet wird, weil dies sonst auf Kosten anderer Verfassungsgarantien gehen könnte.43 Darüber hinaus haben die Rechtsprechung und die h. L. für nicht vorgesehene Eingriffe die Rechtfertigung aus kollidierenden Verfassungswerten (Grundrechte und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter) als behutsam einzusetzende Möglichkeit entwickelt. Das bedeutet, dass die vorbehaltlosen Grundrechte, wenn ihre Ausübung mit anderen Grundrechten oder übrigen Verfassungsgütern kollidiert, durch eine einzelfallbezogene Abwägung beschränkt werden können (kollidierendes Verfassungsrecht als Eingriffsrechtfertigung). Zunächst vom BVerfG eingrenzend-zögerlich, später weiter ausgreifend vorangetrieben, werden dogmatisch und praktisch die anderen Grundrechte und sonstige mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte (Verfassungsgüter) als immanente Schranken herangezogen.44

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Schlink, EuGRZ 1984, 457; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 60, 72 f., Rn. 259, 314. Vgl. etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 107; Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 11; Mendes, Direitos fundamentais, S. 40. 42 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 259, 262, 292, spricht in diesem Zusammenhang von ungeschriebenen Schrankenklauseln, die Bezug auf Prinzipien als Optimierungsgebot nehmen. Der Nicht-Schutz erfolgt also durch ungeschriebene Schrankenklauseln, d. h. immanente Schranken. 43 Michael, JuS 2001, 148, 150; Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 17. 44 Eingangsentscheidung BVerGE 28, 243 (260 f.) (Dienstpflichtverweigerung), fortgeführt in E 30, 173 (193) (Mephisto); 32, 98 (107) (Gesundbeter), seither st. Rspr. s. o. C.II.2. und etwa BVerfGE 33, 23 (29) (Eidesverweigerung aus Glaubensgründen); 33, 52 (71) (Zensur); 41, 29 (50) (Simultanschule); 47, 327 (369 f.) (Hessisches Universitätsgesetz); 52, 223 (247) (Schulgebet); 57, 70 (99) (Universitätskliniken); 67, 213 (228) (Anachronistischer Zug); 75, 369 (379) (Strauß-Karikatur); 77, 240 (253) (Herrnburger Bericht); 81, 278 (292) (Bundesflagge); 81, 298 (307) (Nationalhymne); 83, 130 (139) (Josephine Mutzenbacher); 84, 212 (228) (Aussperrung); 93, 1 (21) (Kruzifix); 100, 271 (283) (Lohnabstandsklausel); 108, 282 (297) (Kopftuch); 122, 89 (107) (Wissenschaftsfreiheit in der Theologie). Vgl. ferner Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 15 (m. w. N.). 41

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

Die Idee der immanenten Grundrechtsschranken wurde danach auch auf die durch Gesetz einschränkbaren Grundrechte übertragen.45 Solche „verfassungsunmittelbare Kollision“ und Abwägung könne also nicht nur bei vorbehaltlosen Grundrechten, sondern auch dort erfolgen, wo der vorhandene Gesetzesvorbehalt nicht ausreicht, um zwingenden Erfordernissen grundrechtlicher Eingrenzung Rechnung zu tragen.46 Daher sei die nähere Bestimmung der Einschränkungsmöglichkeiten immer im Lichte der Bedeutung des jeweiligen Grundrechts im Einzelfall vorzunehmen.47 Zudem hat die Judikatur des BVerfG weitere Wertungs- und Abwägungserfordernisse in die Aussagekraft der einzelnen Grundrechte selbst hineingetragen.48 Insoweit hat das Abwägungsmodell die Probleme der Abstimmung verschiedener Grundrechtsdimensionen, der Schranken schrankenloser Grundrechte und der Spezifizierung der jeweils besonderen Grundrechtsschranken scheinbar gelöst.49 Diese „Situativität“ einer auf das Ganze der Verfassung gerichteten Normanwendung kann allerdings, wie weiter unten gezeigt wird, zu einer Relativierung der Bedeutung des positiven grundrechtlichen Tatbestands und zu einer Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraums führen.50

2. Die Schranken der Einschränkbarkeit (sog. Schranken-Schranken) Der Gesetzesvorbehalt erlaubt zwar dem Gesetzgeber, selbst Eingriffe in den grundrechtlichen Schutzbereich vorzunehmen oder die Verwaltung dazu zu ermächtigen. Ebenfalls werden Grundrechtsnormen durch die sog. verfassungsimmanenten Schranken begrenzt. Diese Einschränkungen dürfen allerdings nicht beliebig stattfinden und können nie die völlige Preisgabe des Grundrechtsschutzes bedeuten, sonst würden die Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs. 3 GG) und die Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) leerlaufen. Da der Gesetzgeber, wie übrigens auch die anderen Staatsgewalten, an die Grundrechtsnormen gebunden ist, unterliegen die Einschränkungen ihrerseits Begrenzungen, und daher findet immer eine Prüfung der Schrankenzulässigkeit statt. Es geht hier um Schranken der Einschränkbarkeit von Grundrechten und deswegen wird von Schranken-Schranken gesprochen. 45

Vgl. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 20 f. Lerche, in: HStR V, § 122, S. 789, Rn. 23. Vgl. etwa BVerfGE 107, 104 (118 ff.) (Anwesenheit im JGG-Verfahren). 47 Etwa BVerfGE 7, 198 (208 f.) (Lüth); 7, 377 (403 f.) (Apothekenurteil); 50, 290 (340) (Mitbestimmung); 67, 157 (173 f.) (G 10) usw. 48 Lerche, in: HStR V, § 121, S. 755, Rn. 25. Vgl. auch die detaillierte Darstellung bei Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts, S. 25 ff., 43 ff. 49 Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 12. 50 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 301; Lerche, in: HStR V, § 121, S. 755 ff., Rn. 25 ff. 46

III. Abwehrrecht und Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht die einzige vorhandene Beschränkung. Unter den Begriff der Schranken-Schranken werden üblicherweise auch die folgenden gefasst: die Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG), das Verbot des einschränkenden Einzelfall- und Einzelpersonengesetzes (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG), das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) und das rechtsstaatliche Gebot, Gesetze in Tatbestand und Rechtsfolge klar und bestimmt zu fassen (Bestimmtheitsgrundsatz).51 Die Bindung an die Grundrechtsnormen setzt aber das BVerfG vornehmlich durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch, der gegenwärtig eine weitgehende Anwendung auch durch das STF erfährt. Somit spielt er sowohl in Deutschland als auch in Brasilien für die Frage der Rechtfertigung gesetzlicher wie auf gesetzlicher Grundlage vorgenommener Grundrechtseingriffe sowie für Verfassungsgüterkollisionen eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus wird dieser Grundsatz als die zentrale „Schranken-Schranke“ für alle Grundrechtseinschränkungen bezeichnet,52 und die Gesetzesvorbehalte in Grundrechtsbestimmungen werden als praktischer „Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes“53 angesehen. Nach wie vor umstritten ist in diesem Zusammenhang die Relation zwischen der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen den sog. relativen und absoluten Wesensgehaltstheorien, in deren Rahmen sich die Rechtsprechung des BVerfG bewegt.54 Der relativen Theorie zufolge müsse der Wesensgehalt nicht nur für jedes einzelne Grundrecht, sondern sogar für jeden einzelnen Fall gesondert ermittelt werden. Nur das Abwägen und Gewichten der im Einzelfall stehenden gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen und Güter ermögliche die Feststellung, ob der Wesensgehalt angetastet wurde oder nicht.55 Eine Begrenzung taste dann den Wesensgehalt an, wenn sie unverhältnismäßig sei, also wenn sie ungeeignet, nicht erforderlich oder nicht in angemessenem Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts stehe.56 Somit reduziere sich die Wesensgehaltsgarantie auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Wesensgehalt sei das, was nach einer Abwägung übrigbleibe.57 Demgegenüber besagt die absolute Theorie58, dass jedes 51

Zur Erläuterung dieser Schranken-Schranken s. etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 69 ff., Rn. 298 ff.; Lerche, in: HStR V, § 122, S. 791 ff., Rn. 25 ff.; Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 27 ff. 52 Stern, StR III/2, § 84, S. 788, 764. 53 Schlink, EuGRZ 1984, 457, 459 f.; ders., in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445. 54 Vgl. dazu Stern, StR III/2, § 85, S. 850 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 69 f., Rn. 299 ff. 55 s. Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 2, Rn. 16 ff. 56 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 148 f., Rn. 332; Dürig, in: Gesammelte Schriften, S. 127, 156 f. Ähnl. Isensee, in: HStR V, § 111, S. 180, Rn. 74. Weil eine unzulässige Grundrechtsbegrenzung bereits als solche verfassungswidrig ist, erblickt Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 234 ff., in Art. 19 Abs. 2 GG nur deklaratorische Bedeutung. 57 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 269, 272. Vgl. ferner STF, IF 2915 v. 03. 02. 2003, 152 (179) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (658) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger); ADI 3324 v. 16. 12. 2004, 140 (178) (DJ 05. 08. 2005) (Universitätswechsel): „Der

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

Grundrecht einen festen Kern habe, der vom einzelnen Fall unabhängig sei und in den keinesfalls eingegriffen werden dürfe. Aber das, was genau unangetastet bleiben soll, ist bisher nicht präziser bestimmt worden. Vielmehr besteht Anlass zu fragen, was von einem Grundrecht auf keinen Fall preisgegeben werden darf, nur dann, wenn der Eingriff in das Grundrecht so intensiv ist, dass dessen Preisgabe droht.59 Darüber hinaus legt Alexy fest, dass der Umfang des Schutzes von Prinzipienrelationen abhänge, und dass die Überzeugung, dass es Rechte gebe, die auch unter extremsten Umständen nicht zurückwichen, vom Standpunkt des Verfassungsrechts aus nicht gelten könne. Somit stelle die Wesensgehaltsgarantie gegenüber dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz keine zusätzliche Schranken-Schranke von Grundrechten dar.60 Abgesehen von der Notwendigkeit einer Abwägung scheint es tatsächlich so, dass die Möglichkeit einer absoluten, abstrakten Feststellung des Wesensgehalts fragwürdig ist. Mit der Herausarbeitung der Bedeutung des einzelnen Grundrechts durch die Gesetzgebung und Rechtsprechung können allerdings typische Sachverhalte festgestellt werden, in denen der Wesensgehalt angetastet wäre, aber ob das bei der zu entscheidenden Rechtsangelegenheit der Fall ist, muss immer wieder analysiert und begründet werden.

IV. Übermaßverbot und seine drei Teilgrundsätze Bei dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geht es um eine Analyse der Relation zwischen Mittel und Zweck staatlichen Handelns. Er verlangt, dass ein Grundrechtseingriff (Mittel) geeignet, notwendig und angemessen zur Erreichung eines verfolgten, seinerseits auch rechtmäßigen Zwecks sein muss. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit findet stets sachbezogen statt, d. h., dass sie auf konkret betroffene Rechtspositionen verweist. Im Einzelfall sind dann Mittel und Zweck ebenso wie die drei Bestandteile oder Elemente des Übermaßverbots, nämlich Geeignetheit, Erforderlichkeit und Proportionalität, zu prüfen. Vor der dreistufigen Prüfung der Zweck-Mittel-Relation müssen somit schon die von der grundrechtsbeschränkenden Staatsgewalt eingesetzten Mittel und verfolgten Zwecke rechtmäßig sein. Zum Teil werden verschiedene Ansätze für die Verhältnismäßigkeitsprüfung Verhältnismäßigkeitgrundsatz stimmt – mit den Worten Robert Alexys – gleichermaßen mit dem sog. und relativ verstandenen Wesensgehalt der Grundrechte überein (…). In diesem Sinne legt das Verhältnismäßigkeitsprinzip die äußerste Grenze der noch möglichen legitimen Beschränkung eines bestimmten Grundrechts fest.“ Übersetzung der Verfasserin. Kritisch Lerche, in: HStR V, § 122, S. 791 f., Rn. 27, der dennoch die Hauptfunktion des Art. 19 Abs. 2 GG nur in einer „Signalbedeutung“ erblickt (Rn. 32). 58 Vgl. Stern, StR III/2, § 85, S. 865 ff.; Raue, AöR 131/2006, 79, 93 ff.; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 19, S. 462, Rn. 9; v. Arnauld, JZ 2000, 276, 277. Wohl auch BVerfGE 7, 377 (411) (Apothekenurteil); 34, 238 (245) (Tonband); 80, 367 (373) (Tagebuch). 59 Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 69 f., Rn. 300. 60 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 272.

IV. Übermaßverbot und seine drei Teilgrundsätze

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von Gesetzen und von Maßnahmen der Verwaltung oder Rechtsprechung angewendet. Das gilt bereits für die Bewertung des ausgewählten Ziels und Mittels. Bei dieser Auswahl ist der Gesetzgeber viel freier als die Exekutive oder Judikative. Der Verwaltung sind die zu verfolgenden Zwecke schon durch die gesetzlich festgelegten Aufgaben vorgegeben61 und die Rechtsprechung ist noch enger dazu verpflichtet, für einen bestimmten Fall aus dem vorgegebenen Recht die Lösung zu finden.62 Der Gesetzgeber darf dagegen grundsätzlich die Zwecke seines Handelns, wie auch die Mittel, im Rahmen des Grundgesetzes autonom fixieren. Bei den Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt bildet allerdings nach der h. M. nur die Realisierung kollidierender Grundrechte Dritter und anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswerte einen legitimen Zweck, nicht aber schon jedes öffentliche Interesse.

1. Geeignetheit: Zweck-Mittel-Relation Die Geeignetheit, z. T. auch Tauglichkeit63 genannt, verlangt lediglich, dass das Mittel den Zweck fördert, d. h. ihm überhaupt dient. Geeignet ist ein Mittel oder eine Maßnahme dann, wenn die Grundrechtsschranke die Wahrscheinlichkeit der Erreichung des angestrebten Zwecks erhöht.64 Hier besteht daher schon ein ZweckMittel-Zusammenhang. Um die Befolgung des Teilgrundsatzes der Geeignetheit durch eine bestimmte Maßnahme der öffentlichen Gewalt festzustellen, obliegt es dem Richter, zu untersuchen, welches die vom Staat angestrebten Ziele sind und ob die Maßnahme – zumindest hypothetisch – zu ihrer Verwirklichung geeignet ist.65 Der Zweck braucht folglich nicht mit Sicherheit tatsächlich erreicht zu werden. Es wird nur negativ ausgeschlossen, dass es sich nicht um ein gänzlich „untaugliches Mittel“66 handelt. In diesem Sinne fragt das BVerfG, ob das Mittel z. B. „schlechthin ungeeignet“ oder „grundsätzlich ungeeignet“ ist.67 Eine Teileignung reicht schon aus.68 Deshalb wird die Geeignetheit des Mittels in der Regel nicht verneint.69 61 Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Verwaltungshandlungen ist dann genau zu unterscheiden, ob die mögliche Unverhältnismäßigkeit im Vollzugsakt selbst oder bereits in der abstrakten Ermächtigungsnorm liegt, die eventuell zu prüfen ist. Michael, JuS 2001, 148, 151. Erwähnenswert ist hier, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf der Verwaltungsebene v. a. für das Verwaltungsermessen angewendet wird, weil es im Bereich der gebundenen Verwaltung in der Regel keinen Raum dafür gibt. 62 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 450. 63 Vgl. etwa Stern, StR III/2, § 84, S. 776; Barros, O princípio da proporcionalidade, S. 78. 64 Vgl. zu ähnlichen Begriffsbestimmungen Sachs, Verfassungsrecht II, S. 149; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 50 ff.; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 59 f.; Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 75 ff.; Steinmetz, Colisão de direitos fundamentais, S. 149; Barros, O princípio da proporcionalidade, S. 78. 65 Sarmento, A ponderação de interesses na Constituição Federal, S. 87. 66 BVerfGE 37, 104 (117) (Bonus-Malus-Regelung). 67 BVerfGE 19, 119 (127) (Couponsteuer); 69, 1 (53) (Kriegsdienstverweigerung II) bzw. E 70, 1 (26) (Orthopädietechniker-Innungen); 85, 191 (212) (Nachtarbeitsverbot).

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

Hinsichtlich noch nicht abgeschlossener Maßnahmen hängt die Kontrolle der Geeignetheit, ebenso wie die der Erforderlichkeit, erheblich von Prognosen – nicht aber von Bewertungen –70 ab. Hierbei erhält die Geeignetheitsprüfung auch unterschiedliche Bedeutungen für die Verwaltung und den Gesetzgeber, der eine Einschätzungsprärogative gegenüber der ersten hat. Während die Tauglichkeit von Verwaltungsmaßnahmen, die verfolgten Zwecke zu erreichen, voll überprüfbar ist, billigt das BVerfG dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber, insbesondere wenn eine Einschätzung zukünftiger Entwicklungen vorzunehmen ist, einen gewissen Prognosespielraum zu, der v. a. hinsichtlich wirtschaftslenkender Gesetze eine wichtige Rolle spielt.71 Folglich wird ein Gesetz nur dann als ungeeignet und somit verfassungswidrig erklärt, wenn dessen Voraussicht durch den Gesetzgeber „bei Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten im Zeitpunkt des Erlasses“ auf einer offensichtlich fehlerhaften Prognose basiert.72 Allein die Tatsache, dass mangelnde Geeignetheit des Gesetzes nachträglich deutlich wird, genügt nicht, um es für verfassungswidrig zu erklären, wobei jedoch der Gesetzgeber zur Nachbesserung verpflichtet werden kann.73

2. Erforderlichkeit: Mittel-Mittel-Relation Die Erforderlichkeit – oder Notwendigkeit – fordert die Einsetzung des geeigneten und mildesten Eingriffs, d. h., dass der Zweck nicht durch ein gleich wirksames, aber weniger beeinträchtigendes Mittel erreichbar sein darf. Die Voraussetzung, dass kein anderes milderes Mittel mit gleicher Erfolgstauglichkeit besteht,

68 BVerfGE 16, 147 (183) (Werkfernverkehr); 73, 301 (317). Vgl. auch Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 51 f.; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 60; Barros, O princípio da proporcionalidade, S. 79; Stern, StR III/2, § 84, S. 776 (m. w. N. in Fn. 85). 69 Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 55 f., 59 ff., belegt mit zahlreichen Nachweisen aus der Judikatur, dass einerseits die Geeignetheit in der gerichtlichen Praxis nur zur Ablehnung von Extremfällen einer Mittelverfehlung des Gesetzgebers dient, andererseits aber eine umfassendere Geeignetheitsprüfung im Rahmen des Erforderlichkeitsprinzips erfolgt. 70 Prognosen unterscheiden sich nach Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 455 ff., von Bewertungen. Prognosen seien Aussagen über die Wirklichkeit in der Zukunft und daher würden sie sich dort als wahr oder falsch erweisen. Bewertungen seien dagegen Entscheidungen, mit denen von zwei Größen die eine der anderen vorgezogen werde. 71 Vgl. BVerfGE 50, 290 (332 f.) (Mitbestimmung); auch Degenhart, Staatsrecht I, S. 162; Stern, StR III/2, § 84, S. 777 f. 72 BVerfGE 39, 210 (230) (Mühlenstrukturgesetz); auch 69, 1 (53) (Kriegsdienstverweigerung II). Weitere Nachweise bei Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 52 f. 73 Vgl. BVerfGE 77, 84 (109) (Arbeitnehmerüberlassung); Degenhart, Staatsrecht I, S. 162; Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 33 (m. w. N. in Fn. 184).

IV. Übermaßverbot und seine drei Teilgrundsätze

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lässt sich weiterhin in Bezug auf die Realisierung der Grundrechte bestimmen.74 Erforderlich ist ein grundrechtsbeschränkendes Mittel dann, wenn es keine Alternative gibt, die weniger in die grundrechtlichen Schutzgegenstände eingreift und zugleich die Wahrscheinlichkeit der Zweckerreichung in demselben oder besserem Maße erhöht.75 Abweichungen der Erfolgstauglichkeit werden nur z. T. in Extremfällen akzeptiert, nämlich wenn es sich um ein weitaus weniger grundrechtsbelastendes Mittel handelt, das beinahe ebenso gute Erfolgsaussichten hat.76 Die Erforderlichkeitskontrolle ist die einzige Stelle des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, an der der Eingriff mit Blick auf alternative Mittel geprüft wird. Da Zwecksetzung staatlichen Handelns keine Aufgabe der Gerichte ist, gibt es andererseits auch hier keinen Raum für jegliche Erwägung von Zweckalternativen.77 Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers in der Frage der Geeignetheit wirkt sich darüber hinaus notwendigerweise auch auf die Erforderlichkeitsprüfung aus. Während bei Gesetzen das vom Gesetzgeber autonom determinierte Ziel maßgeblich ist, wird bei Maßnahmen der Verwaltung das bestimmende Ziel wiederum durch das Gesetz vorgeschrieben. Wie bei der Geeignetheitsprüfung geht es aber hier nicht um Bewertungen, sondern um Prognosen. Das Vorhandensein eines milderen, die Bürger weniger belastenden Mittels kann zwar nur bewertend festgestellt werden; für diese Feststellung müssen jedoch die Bewertungen der betroffenen Bürger als Tatsachen angenommen werden, sodass keine eigene Bewertung seitens des Staates getroffen werden muss.78 In diesem Zusammenhang kann weiterhin zwischen komplexen und einfachen Konstellationen unterschieden werden. Die einfache Konstellation besteht darin, dass nur zwei Prinzipien und zwei Rechtssubjekte (Staat/Bürger) im Spiel sind. Bei komplexen Konstellationen muss zusätzlich beachtet werden, dass, wenn das gewählte Mittel mehrere Zwecke erfüllen kann, nur Mittelalternativen in Betracht kommen, die alle Zwecke erreichen würden. Da es sich bei der Erforderlichkeits74 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 101 f., formuliert diese Voraussetzung mit Bezug auf den sog. Prinzipcharakter der Grundrechte. So werde bei zwei gleich gut geeigneten Mitteln zur Herbeiführung oder Förderung eines durch ein Prinzip begründeten Zwecks gefragt, welches weniger intensiv oder gar nicht die Realisierung dessen beeinträchtige, was ein anderes Prinzip verlange. 75 Vgl. Sachs, Verfassungsrecht II, S. 149; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 19; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 56 ff.; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 66; Sarmento, A ponderação de interesses na Constituição Federal, S. 88; Barroso, Interpretação e aplicação da Constituição, S. 228. Statt vieler: BVerfGE 30, 292 (316) (Erdölbevorratung); 49, 24 (58) (Kontaktsperre-Gesetz); 92, 262 (273). 76 Sachs, Verfassungsrecht II, S. 149. Ähnlich sei nach Wendt, AöR 104/1979, 414, 467, zu fragen, „ob mit einem unerheblichen Weniger an Geeignetheit ein erhebliches Mehr an Freiheit (…) zu gewinnen ist.“ Das lässt sich allerdings aus den Formulierungen des BVerfG („gleich wirksam“, „ebenso gut“ u. a.) nicht entnehmen. Vgl. also dagegen Michael, JuS 2001, 148, 149; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 67. 77 Michael, JuS 2001, 148, 149. 78 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 456 f.

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

prüfung jedoch nicht um eine Bewertung handelt, bietet sie nicht immer eine Antwort für komplexe Konstellationen. In diesem Sinne fragt sie in sog. Grundrechtskonflikten, ob es eine Alternative gibt, die den einen Bürger besser stellt, ohne dass dadurch der andere schlechter gestellt wird. Wenn aber nur andere Mittel vorhanden sind, die zwar zugunsten des einen, jedoch zulasten des anderen gehen, ist das Potential der Erforderlichkeitsanalyse erschöpft. Ebenso ist die Lösung nicht durch eine Erforderlichkeitsprüfung zu finden, wenn der Bürger zwar durch ein milderes Mittel geschont werden kann, aber nur um den Preis, dass der Staat die Erlangung des Zwecks verfehlt oder für die Erreichung zusätzliche Ressourcen aufwenden bzw. anderen Bürgern zusätzliche Belastungen aufbürden muss.79

3. Proportionalität und die Abwägungsmethode Besonders problematisch ist das dritte Kriterium des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, das u. a. als Proportionalität, Verhältnismäßigkeit i. e. S., Angemessenheit und Abwägungsgebot bezeichnet wird.80 Die Proportionalität bezieht sich auf die Frage, ob ein Grundrechtseingriff gemessen an dem angestrebten Zweck durchführenswert ist oder nicht. Sie verlangt, dass der Eingriff und das verfolgte Ziel in einem angemessenen, d. h. in recht gewichtetem und wohl abgewogenem Verhältnis zueinander stehen müssen.81 So formuliert das BVerfG bündig, dass eine Grundrechtsbegrenzung „in angemessenem Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts stehen“ muss.82 Im selbigen Sinn bekräftigt das STF, dass über die Verhältnismäßigkeit i. e. S. nachzuforschen ist, ob die fragliche Norm „eine ausgewogene Beziehung zwischen dem Grad der Beschränkung eines Prinzips und dem der Verwirklichung eines entgegengesetzten Prinzips aufstellt“.83 Je schwerwiegender die Bedeutung des Eingriffs für den Einzelnen ist, desto gewichtiger müssen auch seine rechtfertigenden Gründe sein. Um dieses angemessene Verhältnis herzustellen, greifen Rechtsprechung und h. L. auf die Abwägungsmethode zurück.

79 Zum Ganzen Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 457. Vgl. ferner zu komplexen Konstellationen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 101 f., Fn. 86, dem zufolge sei in solchen Konstellationen eine Abwägung unerlässlich; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 70 ff.; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 210 ff. 80 Vgl. etwa Stern, StR III/2, § 84, S. 782 f. (m. w. N.). 81 Vgl. zu ähnlichen Begriffsbestimmungen Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 19; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 75; Stern, StR III/2, § 84, S. 782 f.; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 13 ff.; Mendes, Direitos fundamentais, S. 50, 84 f.; Steinmetz, Colisão de direitos fundamentais, p. 152 f. 82 BVerfGE 67, 157 (173) (G 10). 83 STF, IF 2915 v. 03. 02. 2003, 152 (180) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (658) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger); ADI 3324 v. 16. 12. 2004, 140 (179) (DJ 05. 08. 2005) (Universitätswechsel). Übersetzung der Verfasserin.

IV. Übermaßverbot und seine drei Teilgrundsätze

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In diesem Zusammenhang möchte ferner das BVerfG seit dem Lüth-Urteil die objektiv-verfassungsrechtliche Bedeutung der Normierung von Grundrechten in der Errichtung einer „objektiven Wertordnung“ oder eines „Wertsystems“ erkennen, im Rahmen dessen Abwägungen unerlässlich seien.84 Zwar verwendet das Gericht seit den 1970er-Jahren – möglicherweise als Reaktion auf die heftige Kritik eines Teils der Literatur – öfter anstelle von „objektiver Wertordnung“ die Bezeichnung „objektiv-rechtlicher Gehalt“ oder objektive Grundsatznorm. Der Ausdruck „Wertordnung“ (Verfassungswerte, Wertentscheidungen o. Ä.) ist aber keineswegs aus der Rechtsprechung verschwunden,85 und – noch wichtiger – das Verständnis, dass Grundrechte wie Werte angewendet werden können bzw. abwägungsbedürftige Prinzipien bilden, ist nach wie vor aktuell.86 Hierbei ist vom Gewicht der Werte, Prinzipien, Rechtsgüter, Belange oder Interessen87 und von Güterabwägung, Wechselwirkung, schonendstem Ausgleich,88 praktischer Konkordanz,89 sowie von Nutzen-Kosten-Analyse90 die Rede. Häufig wird zwischen den grundrechtlich ge84 BVerfGE 7, 198, (205, 215) (Lüth). Vgl. auch statt viele Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 120, 290; Wendt, AöR 104/1979, 414, 455; Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 17 (m. w. N.); Barcellos, Ponderação, racionalidade e atividade jurisdicional, S. 68 ff. 85 Vgl. z. B. aus jüngster Zeit BVerfGE 102, 347 (360) (Schockwerbung I): „Diese Ziele stehen mit der Wertordnung des Grundgesetzes in Einklang.“ BVerfGE 103, 89 (100) (Unterhaltsverzichtsvertrag): „Im Privatrechtsverkehr entfalten die Grundrechte ihre Wirkkraft als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen durch das Medium der Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen (…).“ BVerfGE 107, 104 (118) (Anwesenheit im JGG-Verfahren): „Sowohl kollidierende Grundrechte Dritter als auch andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise im Stande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen.“ BVerfGE 120, 274 (319) (OnlineDurchsuchung): „Die Sicherheit des Staates (…) und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit der Bevölkerung vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit sind Verfassungswerte, die mit anderen hochwertigen Gütern im gleichen Rang stehen.“ BVerfGE 121, 317 (356) (Rauchverbot in Gaststätten): Dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung komme „in der Wertordnung des Grundgesetzes ein hohes Gewicht“ zu. 86 In Brasilien wird darüber hinaus gar die Prämisse einer Assimilation von Rechtsprinzipien an Werten durch die Lehre grundsätzlich nicht problematisiert. Vgl. etwa Barroso, Interpretação e aplicação da Constituição, S. 156 ff., 350 ff.; Mendes, Direitos fundamentais, S. 46 ff., 95; Sarmento, A ponderação de interesses na Constituição Federal, S. 42 ff.; Steinmetz, Colisão de direitos fundamentais, S. 152 ff.; Guerra Filho, in: Leituras complementares de Direito Constitucional, S. 87 ff.; Barcellos, Ponderação, racionalidade e atividade jurisdicional, S. 10, 34, 41 und passim. 87 Diese abwechslungsreiche Rede zeigt auch, wie höchst heterogene Dinge abwägend einander gegenübergestellt werden. Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 31. 88 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 153; ders., in: HStR V, § 122, S. 777 f., Rn. 3 ff. 89 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 28, 142, Rn. 72, 318 – trotz der kritischen Einstellung des Autors gegenüber der Abwägung. 90 So Barroso, Interpretação e aplicação da Constituição, S. 228: Behandelt werde hier eine Feststellung des Nutzen-Kosten-Verhältnisses der Maßnahme, d. h. eine Abwägung zwischen den verursachten Schäden und den zu erreichenden Zielen. Ähnl. Sarmento, A ponderação de interesses na Constituição Federal, S. 89: Der Teilgrundsatz der Verhältnismäßigkeit i. e. S.

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

schützten Rechtsgütern und den entgegenstehenden öffentlichen Interessen oder Gemeinschaftsinteressen (Nutzen der Allgemeinheit) sowie in Kollisionsfällen zwischen den betroffenen Grundrechten abgewogen. Da die Verfassung aber keine Wertehierarchie vorgibt, die als Maßstab für das angeblich erforderliche Abwägungsverfahren dienen könnte, ist es in der Regel nicht möglich, die Bedeutung betroffener Güter abstrakt zu ermitteln.91 Deswegen werden vielmehr die besonderen Umstände der Einschränkungssituation berücksichtigt. Die Abwägung erfolgt daher stets bezogen auf den Einzelfall92 und es wird von relativen Gewichten gesprochen. Alexy verknüpft an dieser Stelle die Schranken-Schranken mit dem von ihm definierten Prinzipiencharakter der Grundrechtsnormen. Demnach sei eine Einschränkung der Grundrechte nur dann zulässig, wenn gegenläufigen Prinzipien im konkreten Fall gegenüber dem grundrechtlichen Prinzip ein höheres Gewicht zusteht. Die Grundrechte seien dann Beschränkungen ihrer Einschränkung und Einschränkbarkeit.93 Auch die Güterabwägungsprozedur verläuft über drei Stufen. In einer ersten Stufe wird begründet, dass die Abwägung erforderlich ist. Das ist der Fall, wenn verschiedene Normen einschlägig sind, die, könnte man sie unabhängig voneinander anwenden, zu miteinander unvereinbaren Ergebnissen führen würden (Spannungslage). Hier wird also abstrakt festgestellt, welche Interessen oder Güter auf dem Spiel stehen. Ausgehend von ihren grundsätzlichen Bedeutungen erfolgt dann zunächst eine abstrakte rechtliche Bewertung der Rechtsgüter und geschützten Interessen, ohne aber irgendwelche abstrakten Vorrangverhältnisse festzulegen. Danach werden ihre Gewichte unter Betrachtung aller abwägungsrelevanter Einzelfallumstände bestimmt. Also wird konkret die Intensität des Betroffenseins ermittelt, wie schwer, (…) beinhalte seinerseits eine Untersuchung des Nutzen-Kosten-Verhältnisses der zu bewertenden Norm. Mit anderen Worten: Die Belastung, welche der Grundsatz auferlegt, müsse geringer sein als der durch ihn erzeugte Nutzen. Ferner führt Alexy, Cardozo L. Rev. 17/1996, 1027, 1030, an: „The conceptualization of the principles as optimization commands does indeed lead to the incorporation of criteria of economic rationality into the law, which is the precise purpose of this conceptualization.“ 91 Gelegentlich geben die Verfassungen zwar einige Kriterien für Feststellungen von Vorrangrelationen vor. So verfährt etwa die CF, welche der Meinungsäußerungsfreiheit durch die Unverletzlichkeit der Intimsphäre und der persönlichen Ehre sowie durch das Recht am eigenen Bild Schranken setzt (Art. 5, IV, V, X). In gleicher Weise legt das GG einige Vorrangrelationen fest, wie z. B. in Art. 5 Abs. 2 den Vorrang des Schutzes der Jugend und der Ehre gegenüber der freien Meinungsäußerung und Presseberichterstattung. Aber dabei bleiben Rspr. und h. M. nicht stehen und verlangen Abwägungen auch dort, wo die Grundrechtsnormen kein vergleichendes Gewicht deuten; Schlink, EuGRZ 1984, 457, 461. 92 Deswegen stellt Lerche, in: HStR V, § 122, S. 783, Rn. 16, Fn. 43, fest, dass die Verhältnismäßigkeit i. e. S. ein gewissermaßen formales Prinzip sei. Denn es sei nicht an einzelne Sachgehalte gebunden und werde im Einzelfall stets im Blick auf bestimmte Sachgehalte – nämlich kollidierende Güter – anwendbar. Übereinstimmend Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 77 ff. („keine inhaltlichen Maßstäbe“). Vgl. auch Wendt, AöR 104/ 1979, 414, 462. 93 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 267.

IV. Übermaßverbot und seine drei Teilgrundsätze

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wie oft, wie lange usw. das Mittel in Grundrechte eingreift, wie viel dem Betroffenen zugemutet wird, ebenso der Grad und die Wichtigkeit der Zweckerreichung und damit der konkrete Gemeinwohlgewinn bzw. das Interesse Dritter festgelegt. Schließlich ist zu fragen, ob die Zweckerreichung im konkreten Fall zu dem Mittel außer Verhältnis steht. Es wird also entschieden, welchem Rechtsgut der höhere Wert gegeben wird bzw. wie ein Ausgleich herbeizuführen ist.94 Immerhin bleibt das Problem des Maßstabs bestehen, was die Frage aufwirft: An welcher dritten Bezugsgröße sind die Gewichte der Werte zu messen, um feststellen zu können, ob eine verhältnismäßige Relation hergestellt wurde?95 Hierbei wird häufig auf eine grundgesetzlich vorgegebene Wertordnung bzw. Wertstruktur96 oder auf Bewertungsmaßstäbe der Verfassung97 als Drittmaß verwiesen, ebenso ist von Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes98 die Rede. Weiterhin formulierte Alexy, ausgehend von Äußerungen des BVerfG99, ein Abwägungsgesetz, das als Kriterium dienen soll und lautet: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muss die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.“100 Inwieweit solche Kriterien zu einer rationalen Begründung der Abwägung führen können, wird weiter unten diskutiert.

94 Stern, StR III/2, § 84, S. 819. Vgl. auch Michael, JuS 2001, 148, 150; Alexy, in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 9, 27 ff.; Barroso, Interpretação e aplicação da Constituição, S. 358 f. 95 Stern, StR III/2, § 84, S. 784. 96 Vgl. Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 24; Wendt, AöR 104/1979, 414, 455 f.; BVerfGE 32, 98 (108) (Gesundbeter); 49, 24 (56) (Kontaktsperre-Gesetz): Ein Konflikt innerhalb des GG sei „nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems“ zu lösen. s. auch BVerfGE 120, 274 (319) (Online-Durchsuchung); 121, 317 (356) (Rauchverbot in Gaststätten). 97 BVerfGE 38, 105 (118); 80, 367 (380). 98 Vgl. etwa BVerfGE 34, 238 (245) (Tonband); 63, 131 (144) (Gegendarstellung); 109, 279 (314) (Großer Lauschangriff); Stern, StR III/2, § 84, S. 785 (m. w. N.). Zu Brasilien s. etwa STF, IF 2915 – 5 v. 03. 02. 2003, 152 (179) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (658) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger); Sarmento, A ponderação de interesses na Constituição Federal, S. 96. 99 Wie z. B.: „Je mehr der gesetzliche Eingriff elementare Äußerungen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, um so sorgfältiger müssen die zur Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden“ (BVerfGE 20, 150/159). Vgl. ferner BVerfGE 7, 377 (404 f.) (Apothekenurteil); 35, 202 (226) (Lebach); 41, 251 (264) (Speyer-Kolleg) u. a. 100 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 146. s. u. E.III.3.

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

V. Schutzpflicht und Untermaßverbot: Zwischen Bindung und Gestaltungsspielraum Auch wenn in der Literatur101 und in der Rechtsprechung des BVerfG schon vor dem ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch von grundrechtlicher Schutzpflicht die Rede war, so gelangt dieser Aspekt der Grundrechtsdogmatik erstmalig und sensationell in BVerfGE 39, 1 zu voller Entfaltung. Insbesondere nachdem die Schutzpflicht auch als Lösung des Drittwirkungsproblems entdeckt wurde, genießt sie ferner unter den neben dem Abwehrrecht entwickelten Funktionen eine prominente Stellung in der deutschen Grundrechtsdogmatik.102

1. Schutzpflicht: Herleitung, Anwendungsbereich und Umfang Als eine leistungsrechtliche Ausprägung der Grundrechte (status positivus) zielt die Schutzfunktion auf die positive Unterstützung der Freiheit der Grundrechtsträger durch staatliches Handeln ab. Spezifisch bestimmt sie die Pflicht des Staates, die in den Grundrechten gewährleisteten Rechtsgüter gegen Gefährdungen oder Beeinträchtigungen nicht-staatlichen Ursprungs zu schützen. Der Staat soll sich „schützend und fördernd“ vor grundrechtliche Positionen stellen, die Bedrohungen von Seiten anderer ausgesetzt sind.103 Als Bedrohung gilt insbesondere jedes Verhalten Dritter oder auch ein Naturereignis104, das – ginge es vom Staat aus – als Grundrechtseingriff zu bewerten wäre.105 Der Staat stellt sich hier nicht als Gegner, sondern als Garant der bedrohten Freiheit dar, deren Sicherung ihm durch die Schutzfunktion aufgegeben ist. Dass Schutzpflichten auf verfassungsrechtlicher Ebene bestehen,

101 So hat Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, Rn. 2, bereits 1958 aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG die „Schutzverpflichtung der staatlichen Gewalt“ abgeleitet. Aus der inzwischen kaum mehr überschaubaren Literatur zur Schutzpflicht vgl. etwa Isensee, in: HStR V, § 111, S. 143 ff.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 293 ff.; Canaris, AcP 184/1984, 201, 225 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 380 ff.; Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 75 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 74 ff. 102 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 84. Zum funktionalen Pluralismus s. ebd., S. 84 ff.; oben B.III.1. 103 BVerfGE 39, 1 (42) (Schwangerschaftsabbruch I); 53, 30 (57) (Mülheim-Kärlich); st. Rspr. 104 Ob die Schutzpflicht auch auf Naturgefahren bezogen ist, wird nicht einheitlich beurteilt. Zustimmend Sachs, in: Stern, StR III/1, § 67, S. 734; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 75; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 103; ablehnend Isensee, in: HStR V, § 111, S. 202 f., Rn. 112. 105 So etwa Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 75; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 194, Rn. 97.

V. Schutzpflicht und Untermaßverbot

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dürfte zwar unstreitig sein.106 Gestritten wird allerdings v. a. über ihre dogmatische Herleitung, ihren Anwendungsbereich und Umfang. Zur dogmatischen Begründung bzw. Herleitung der Schutzpflichten verweist die Rechtsprechung des BVerfG auf zwei miteinander verwobene Ansätze. Primär werden sie aus den objektiv-rechtlichen Wertentscheidungen der Verfassung – bzw. der Wertordnung des GG, dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte o. Ä. – hergeleitet. Hierbei hat das Gericht die Schutzpflicht insbesondere im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 GG107, gelegentlich aber auch mit anderen Grundrechten, wie z. B. Art. 12 Abs. 1 GG,108 entfaltet. Der zweite Ansatz speist sich auch aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG.109 Die Literatur ihrerseits zieht als Grundlage der Schutzpflicht eher primär Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG heran.110 Diese Vorschrift gebietet in der Tat nicht nur wie die klassischen Grundrechte Unterlassen, sondern stellt dem Staat auch die positive Aufgabe, die Menschenwürde zu schützen, und zwar auch vor Übergriffen Dritter.111 Aber dabei bleiben Rechtsprechung und Literatur nicht stehen und nehmen Schutzpflichten auch dort an, wo die Verfassung keinen textlichen Hinweis gibt. Im Grundgesetz ist die grundrechtliche Schutzpflicht in der Tat nur sporadisch verankert (wie etwa in Art. 1 Abs. 1 S. 2, Art. 6 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 5) und jedenfalls nicht generell proklamiert. In der Literatur wird aber vertreten, dass sie 106 Wo der Verfassungstext andere Grundrechtsfunktionen ausdrücklich vorsieht, werden diese auch von Vertretern eines abwehrrechtszentrierten Grundrechtsverständnisses anerkannt. s. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 86, 96 f. 107 BVerfGE 39, 1 (41 f.) (Schwangerschaftsabbruch I); 49, 89 (140 f.) (Kalkar I); 53, 30 (57) (Mülheim-Kärlich); 56, 54 (73) (Fluglärm); 77, 170 (214) (C-Waffen); 79, 174 (201 f.) (Straßenverkehrslärm); 121, 317 (356) (Rauchverbot in Gaststätten). 108 BVerfGE 81, 242 (254 f.) (Handelsvertreter); 92, 26 (46) (Zweitregister); 97, 169 (175 f.) (Kleinbetriebsklausel I). 109 BVerfGE 39, 1 (41) (Schwangerschaftsabbruch I); 49, 89 (142) (Kalkar I); 88, 203 (251) (Schwangerschaftsabbruch II); 115, 118 (152) (Luftsicherheitsgesetz). Zur Begründung unter Rückgriff auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG vgl. BVerfGE 46, 160 (164) (Schleyer); 49, 24 (53) (Kontaktsperre-Gesetz); 57, 250 (284 f.) (V-Mann); 96, 56 (64) (Vaterschaftsauskunft).; 115, 320 (346) (Rasterfahndung II). 110 So etwa Canaris, AcP 184/1984, 201, 226; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 87 f.; Starck, JZ 1993, 816. Die Begründungsansätze in der Literatur sind aber vielfältig und beziehen sich u. a. auch auf das Sozialstaatsprinzip. Vgl. die Überblicksdarstellung bei Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 52 ff. Bisweilen wird die Schutzpflicht ebenfalls als notwendiges Korrelat des staatlichen Verbots der Selbsthilfe angesehen. Vgl. Isensee, in: HStR V, § 111, S. 186 ff., Rn. 83 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414 f. Zum abwehrrechtszentrierten Ansatz von Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 148 f., dem zufolge der Staat nicht kraft grundrechtlicher Schutzpflichten, sondern aufgrund seines rechtsstaatlichen Gewaltmonopols dazu verpflichtet ist, die Interessenkonflikte der Grundrechtsträger umfassend zu regeln, s. u. G.I.4. 111 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 80, Rn. 351. s. auch Isensee, in: HStR V, § 111, S. 151, Rn. 13: Das Gebot des Achtens kann wohl als Ausdruck des Abwehrrechts, das des Schützens als Ausdruck der Schutzpflicht gedeutet werden. Für ihn leistete das Argument aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG aber nur Geburtshelferdienste für die grundrechtliche Schutzpflicht (S. 185, Rn. 80).

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

Geltung für alle Freiheitsgrundrechte intendiere. Sie entspreche demnach dem Abwehrrecht in ihrer thematischen Reichweite und beziehe sich auf alle in den Abwehrrechten genannten Schutzgüter (so z. B. auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf das Eigentum, auf die Freiheit der Person und der Berufsausübung). Jedes Schutzgut eines Freiheitsgrundrechts komme in Betracht.112 Im Schrifttum ist außerdem auch die Tendenz festzustellen, den Anwendungsbereich des Abwehrrechts durch die Entfaltung der Schutzpflicht – insbesondere durch die Ausweitung ihres Anwendungsfelds im Privatrecht – zu verkürzen. Beim funktionalen Pluralismus herrscht in diesem Sinne die Vorstellung, dass das Abwehrrecht nicht ausreicht, um die Vielfalt der als grundrechtsrelevant wahrgenommen Phänomene zu erfassen.113 Die Schutzpflicht sei notwendig, um die Bedeutung der Grundrechte für das Vertragsrecht oder gar für das Privatrecht sicherzustellen, sodass die Anwendung des Abwehrrechts für diese oder auch für andere Bereiche zurückgenommen wird.114 Die Schutzpflicht träte in die Funktion der herkömmlichen Drittwirkung ein und übernähme deren Anwendungsfeld.115 Noch auffälliger auseinander gehen aber die Ansichten bei der Frage, wie die Schutzpflichten zu erfüllen sind, d. h. bei den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das „Wie“ des Schutzes (Umfang). Denn abgesehen von der Unmöglichkeit, unbegrenzte Schutzansprüche jemals zu erfüllen, stünden sie in gravierendem Gegensatz zum demokratischen System: Zum einen wären die vom Volk gewählten 112 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 294 f.; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 188, 192, Rn. 86, 93; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 76 f.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 74 ff. 113 Vgl. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 87 f.: „Pluralistische Grundrechtstheorien schöpfen einen großen Teil ihrer Legitimation aus vermeintlichen Defiziten oder jedenfalls Grenzen einer abwehrrechtlichen Grundrechtsdogmatik“. Der Autor bemerkt aber auch, dass die Äußerungen zu den Defiziten des Abwehrrechts mit einer mehr oder weniger weitgehenden Beschränkung des Anwendungsbereichs des Abwehrrechts einhergehen. s. u. F.II.2. 114 s. etwa Dürig, in: Gesammelte Schriften, S. 215 f.; Stern, StR III/1, § 76, S. 1574 ff.; einschränkend für das privatautonome Vertragsrecht Canaris, AcP 184/1984, 201, 217, 225 ff.; weitgehend für das ganze Privatrecht, das jedoch als „Einrichtung“ behandelt wird, Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 180 ff. (m. w. N. für die Begründung mittels Schutzpflicht in Fn. 83). Die oben dargestellte (C.I.2.) Tendenz, die grundrechtliche Schutzpflicht auf privatrechtliche Konstellationen anzuwenden, wird in der Literatur z. T. so gelesen, als würden die grundrechtlichen Schutzpflichten zur Begründung der Nichtanwendung des Abwehrrechts für das Privatrecht herangezogen. Vgl. Stern, StR III/1, § 76, S. 1572 ff. 115 In diesem Sinne bemerkt etwa Isensee, in: HStR V, § 111, S. 214, Rn. 129, dass die Schutzpflichten dazu in Anspruch genommen werden, die Grenzen der Privatautonomie zu bestimmen, vertragliche Regelungen, die grundrechtliche Positionen betreffen, zu überprüfen, am Maßstab der Grundrechte zu korrigieren oder zu legitimieren. Der Autor kritisiert allerdings diese sog. erweiterte Schutzpflichtenlehre und ihre Verbindung mit sozialstaatlichen Zielen: Beim grundrechtlichen Schutz handele sich um juristischen fassbaren Tatbestand einer Rechtsverletzung. In Bezug auf soziales Staatsziel liege nur politisch fassbarer Sachverhalt des wirtschaftlichen und des sozialen Ungleichgewichts vor. Vgl. ebd., S. 215 f., Rn. 132 f. Kritisch ebenfalls Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 87 ff.; Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 36 ff.

V. Schutzpflicht und Untermaßverbot

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Entscheidungsträger an detaillierte gerichtliche Vorgaben gefesselt (Jurisdiktionsstaat) und zum anderen würden unbegrenzte Leistungsansprüche häufig auf Kosten von Freiheitsrechten anderer gehen.116 Die Abwehr des privaten Übergriffes durch den Staat erweist sich in diesem Sinne als ambivalent, denn sie stellt den Rechtsstaat in der Regel von zwei Seiten unter grundrechtlichen Rechtfertigungszwang („Schutz-durch-Eingriff“-Problematik).117 Die Umfangsproblematik wird dadurch noch verschärft, dass die konkreten geforderten Rechtsfolgen der Schutzpflichten dem Verfassungstext grundsätzlich nicht zu entnehmen sind. Regelt die grundrechtliche Schutzpflicht das „Ob“ und damit auch das Erfordernis wirksamer Wahrnehmung, lässt der Verfassungstext hingegen Art und Ausmaß der geschuldeten Handlung im Regelfall offen. Die Verfassung enthält also keine oder, wenn doch, dann nur fragmentarische Normierungen hinsichtlich des „Wie“ der Erfüllung. Aus allen diesen Gründen wird allgemein eingeräumt, dass die Entscheidung über Art und Weise der Pflichterfüllung grundsätzlich Sache der zuständigen Organe – in erster Linie des Gesetzgebers – ist.118 Dies erkennt auch das BVerfG durchaus an und lässt entsprechend die Frage nach dem Umfang der Schutzpflicht weitgehend offen.119 Es räumt dem Gesetzgeber einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich ein und führt in der Regel nur eine Evidenz- bzw. Vertretbarkeitskontrolle durch: Verletzt ist die Schutzpflicht nur dann, wenn die öffentliche Gewalt gänzlich untätig geblieben ist oder wenn offensichtlich ist, dass die getroffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen.120 Diese begrenzte verfassungs116 Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 80, 265. s. auch Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 222; abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon in BVerfGE 39, 1 (73). 117 Vgl. Isensee, in: HStR V, § 111, S. 147, 233, Rn. 5, 165: In solchem Grundrechtsdreieck Staat – Opfer – Störer komme dem Opfer ein Recht auf Schutz (status positivus), dem Störer aber ein Recht aus Eingriffabwehr (status negativus) zu. Zutreffend betont der Autor ferner, dass absolute Sicherheit nicht erreichbar und nicht einmal wünschbar sei, „weil sie die grundrechtliche Freiheit kostete“ (S. 221, Rn. 145). 118 Vgl. etwa Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 155 f., Rn. 350; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 79 ff.; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 238 f.; Hain, DVBl. 1993, 982, 984. 119 „Ob, wann und mit welchem Inhalt sich eine solche Ausgestaltung von Verfassungs wegen gebietet, hängt von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen ab.“ BVerfGE 49, 89 (142) (Kalkar I); 56, 54 (78) (Fluglärm). 120 BVerfGE 77, 170 (214 f.) (C-Waffen); 79, 174 (202) (Straßenverkehrslärm); 92, 26 (46) (Zweitregister): „Bestimmte Anforderungen an die Art und das Maß des Schutzes lassen sich der Verfassung aber grundsätzlich nicht entnehmen. Die staatlichen Organe, denen die Wahrung des Grundgesetzes als Ganzes anvertraut ist, haben bei der Erfüllung von Schutzpflichten einen weiten Gestaltungsraum. Oft geht es darum, gegensätzliche Grundrechtspositionen auszugleichen und jeder angemessene Geltung zu verschaffen. Dafür gibt das Grundgesetz nur den Rahmen, nicht aber bestimmte Lösungen vor. Das BVerfG kann deswegen die Verletzung einer Schutzpflicht nur feststellen, wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

rechtliche Nachprüfung wird zuweilen als Effektivitätsgebot bezeichnet; denn verlangt sei nur ein effektiver bzw. wirksamer Schutz des jeweiligen Rechtsguts.121 Allerdings macht das BVerfG auch hier den Prüfungsumfang von einer Wertungsfrage abhängig. Berücksichtigt werden in diesem Sinne nicht nur Art und Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung bzw. -gefährdung, die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und die Existenz und Wirkung vorhandener Regelungen122 sowie die Möglichkeit des Bürgers, sich selbst zu helfen,123 sondern ebenfalls die Wertigkeit des betroffenen Grundrechts.124 Wesentlich über diese übliche Rechtsprechung hinaus geht ferner das 2. Urteil zum Schwangerschaftsabbruch, nach dem der Gesetzgeber bei der Pflichterfüllung das – erstmals in der Verfassungsrechtsprechung auftauchende – Untermaßverbot zu beachten habe. So, während das Übermaßverbot zur Kontrolle des handelnden Staates angewendet wird, soll das Untermaßverbot der verfassungsgerichtlichen Überprüfung des nicht handelnden bzw. nicht ausreichend handelnden Staates dienen.

2. Vom Übermaß- zum Untermaßverbot? Der Begriff des Untermaßverbots wurde erstmals von Canaris125 in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht und u. a. von Isensee aufgegriffen. Ziel des Untermaßverbots sei es nach Isensee, eine „effektive Erfüllung der Schutzpflicht“ bzw. den verfassungsrechtlichen „Mindeststandard“ an Grundrechtssicherheit zu dahinter zurückbleiben.“ s. auch BVerfGE 56, 54 (80 f.) (Fluglärm): „evident“. Zur besonderen Unbestimmtheit der Schutzpflicht im Vergleich mit dem Abwehrrecht vgl. BVerfGE 96, 56 (64) (Vaterschaftsauskunft). 121 Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 81 ff. s. auch Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 541, 545; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 232, Rn. 165. 122 BVerfGE 49, 89 (142) (Kalkar I); 56, 54 (78) (Fluglärm) 123 Isensee, in: HStR V, § 111, S. 220, Rn. 142: „Schutzbedarf ergibt sich für den Saat nur, soweit der Bürger nicht in eigener Verantwortung für seine Sicherheit sorgen und ihm nicht zugemutet werden kann, sein Recht selber zu verteidigen und notfalls das Gericht anzurufen“ (Subsidiaritätsprinzip). 124 So z. B. BVerfGE 39, 1 (42) (Schwangerschaftsabbruch I); 46, 160 (164) (Schleyer): „Da das menschliche Leben einen Höchstwert darstellt, muss diese Schutzverpflichtung besonders ernst genommen werden“; 56, 54 (78) (Fluglärm): „dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts“; 76, 1 (51 f.) (Familiennachzug): „Die Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entspricht vielmehr dem Rang und der Bedeutung des auf dem Spiele stehenden Grundrechtsgutes (…)“; 88, 203 (254) (Schwangerschaftsabbruch II): „Bedeutung und Schutzbedürftigkeit des zu schützenden Rechtsguts“. 125 Canaris, AcP 184/1984, 201, 228, spricht hierbei vom verfassungsrechtlich gebotenen Schutzminimum bzw. vom Minimalschutz (S. 245). Bei der Beschreibung dieses Schutzminimums sind seine Ausführungen aber noch zurückhaltend. „Die Lehre von der Schutzgebotsfunktion und vom eng damit zusammenhängenden gesetzgeberischen Unterlassen“ sei – so der Autor – „noch wenig konturiert“. Wann das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum unterschritten sei, lasse sich nicht generell sagen, sondern hänge von der Art des betroffenen Rechtsguts und der Möglichkeit zu privatautonomem Selbstschutz ab.

V. Schutzpflicht und Untermaßverbot

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gewährleisten.126 In diesem Sinne heißt es im 2. Schwangerschaftsabbruchsurteil, der Staat müsse zur Erfüllung seiner Schutzpflicht ausreichende Maßnahmen ergreifen, die dazu führen, dass ein „angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht wird“.127 Auf den ersten Blick scheint das Untermaßverbot nichts weiteres als einen wirksamen, d. h. einen effektiven Schutz zu verlangen. Bereits aus der Annahme einer Schutzpflicht als solcher folgt aber das Gebot der Pflichterfüllung im Sinne eines effektiven Schutzes, das vermeintlich Inhalt des Untermaßverbots sei. Das Untermaßverbot geht allerdings im 2. Schwangerschaftsabbruchurteil über ein reines Effektivitätsgebot hinaus. Das legislative Handeln muss nicht nur effektiv sein, sondern darf auch Mindestanforderungen bzw. einen Mindeststandard nicht unterschreiten.128 Unter Anwendung des Untermaßverbots soll dann die Frage beantwortet werden, welches Mindestmaß staatlicher Maßnahmen im Hinblick auf Schutzpflichten geboten ist, das auch das BVerfG von der Legislative einfordern und damit als Untergrenze gesetzgeberischen Handlungsspielraums festlegen kann. Wie aus dem Untermaßverbot dieses Mindestmaß gesetzgeberischen Handelns abgelesen werden soll, wird indes nicht klar. Auch das BVerfG hat sich näheren Erörterungen des Begriffs entzogen. Offensichtlich soll das Untermaßverbot als Korrelat zum Übermaßverbot wirken und sicherstellen, dass der Gesetzgeber seiner grundrechtlichen Schutzpflicht proportional genügt – genau wie dieser nur verhältnismäßig Grundrechte einschränken darf. Die Rede vom Untermaßverbot will in der Tat implizieren, es gebe Elemente ähnlicher Gestalt wie für die Kontrolle des handelnden Staates auch für die des nicht handelnden Staates. Was aber genau die Struktur des Untermaßverbots ausmacht, bleibt ebenfalls bislang offen. Einerseits wird im Schrifttum z. T. versucht, ähnliche argumentative Strukturen für das Untermaßverbot zu entwickeln, wie sie für das Übermaßverbot bereits bestehen, und ihm gegenüber sonstigen Beschränkungen legislativen Gestaltungsspielraums neuen Gehalt abzugewinnen. Die drei Teilgrundsätze der Verhältnismäßigkeit seien demnach auch hier anzuwenden, sodass das Untermaßverbot mit gewissen Anpassungen strukturell dem Übermaßverbot entsprechen würde. Gefragt wird nach dieser Ansicht zunächst, ob die Erreichung legitimer Ziele durch das staatliche (Teil-)Unterlassen gefördert werde – was im Fall von Dreieckskonstellationen praktisch immer vorliege.129 Des Weiteren komme es darauf an, ob ein zum Unterlassen alternatives staatliches Verhalten das leistungsgrundrechtliche Prinzip intensiver fördere und kollidierende Rechte oder Güter weniger oder höchstens 126 Isensee, in: HStR V, § 111, S. 232 f., Rn. 165, der freilich auch vom Effektivitätsgebot spricht (Rn. 165 f.). 127 BVerfGE 88, 203 (261) (Schwangerschaftsabbruch II). 128 Es gilt nochmals hervorzuheben, dass sich das BVerfG nicht gegen das Schutzkonzept des Gesetzgebers als solches wendet. Dieses wird vielmehr als vertretbar und als wahrscheinlich wirksamer als die bisherige Regelung eingeschätzt. Immerhin genüge es dem Untermaßverbot, d. h. den Mindestanforderungen der Schutzpflicht, nicht. 129 Hierzu und zum Folgenden Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 198 ff., 312.

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D. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abwägung in der Grundrechtsdogmatik

gleich intensiv beeinträchtige. Schließlich fordere das Untermaßverbot eine Abwägung des Gewichts der unterlassenen Förderung des leistungsgrundrechtlichen Prinzips mit den Gründen, die gerade dieses Unterlassen verlangten oder rechtfertigten. Genau hier liege ferner der Schwerpunkt der Kontrolle, d. h. auf der Abwägung des Unterlassens der fördernden Handlung (Eingriff in grundrechtliche Schutzrechte) gegen rechtfertigende Gründe (welche Rechte und Güter werden wie weit durch das Unterlassen gefördert).130 Wie unten behandelt wird, lassen sich aber die drei Teilgrundsätze des Übermaßverbots (auch mit Anpassungen) nicht ohne Einwände auf das Untermaßverbot übertragen.131 Es bleibt somit umstritten, ob und inwieweit das Untermaßverbot dogmatische Vorgaben zur näheren Bestimmung des Mindestmaßes an Schutz tatsächlich leisten kann. Auch Befürworter grundrechtlicher Schutzpflichten räumen in diesem Sinne ein, dass es sich bei dem Untermaßverbot nicht um eine Konkretisierung, sondern lediglich um eine Reformulierung der grundrechtlichen Schutzpflicht handelt, und lehnen dementsprechend die eigenständige dogmatische Bedeutung dieser Figur ab.132 Dort, wo die Erfüllung der Schutzpflicht einen Grundrechtseingriff voraussetzt, sprechen auch die Vertreter der sog. Kongruenzthese dem Untermaßverbot die Eigenständigkeit ab.133 Die Kongruenzthese besagt nämlich, dass sich bei Dreieckskonstellationen die Grenzen der Verwirklichung des zu schützenden und des beeinträchtigten Grundrechts decken. Indem das Übermaßverbot – insbesondere das Erforderlichkeitskriterium – dazu führt, dass „der Staat gerade noch tun darf, was er als ,erforderlich‘ für das zu schützende Gut tun muss“134, fallen Über- und Untermaßverbot zusammen. Das Untermaßverbot sei daher, genauer gesagt, „nichts anderes als eine Erscheinungsform des Übermaßverbots bei Vorliegen verfassungs-

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Ähnlich Michael, JuS 2001, 148, 151 f. Als Zwecke seien nach ihm sowohl das grundrechtliche Schutzziel als auch die mit dem Schutz kollidierenden Interessen herauszuarbeiten. Das vom Staat gewählte Mittel stelle sich folglich nur dann als ungeeignet dar, wenn es weder dem Schutzzweck noch anderen Zwecken förderlich sei. Des Weiteren solle gefragt werden, ob ein wirksameres schützendes Mittel existiere, das in Grundrechte Dritter bzw. andere verfassungsimmanente Zwecke nicht stärker eingreife – Effektivität statt Erforderlichkeit. Während also die Erforderlichkeitsprüfung nach milderen, gleich effektiven Alternativen frage, seien bei der Effektivitätskontrolle des Untermaßverbots effektivere, gleich milde Mittel zu erwägen. Schließlich sei zu prüfen, ob der Schutz des gewählten Mittels hinreiche [!] bzw. ob die Schutzdefizite unter Abwägung gegen die kollidierenden Zwecke zumutbar [!] seien. 131 s. u. F.III.2.; Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 462 f. 132 Dietlein, ZG 1995, 131, 139 ff.; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 85 ff.; Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 78. 133 Vgl. Hain, DVBl. 1993, 982, 983 f.; Starck, JZ 1993, 816, 817; Stern, StR III/2, § 84, S. 813 f. Kritisch Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 192; Dietlein, ZG 1995, 131, 134 ff., der deutlich macht, dass die Schutzpflicht mit dem Untermaßverbot doch eine zusätzliche Einschränkung des Gesetzgebers formulieren soll. 134 Hain, DVBl. 1993, 982, 983. Zustimmend Stern, StR III/2, § 84, S. 814; Starck, JZ 1993, 816, 817.

V. Schutzpflicht und Untermaßverbot

143

rechtlicher Schutzpflichten“.135 Aus ihm folge nichts, was sich nicht schon aus dem Übermaßverbot ergäbe. Somit gerate der Gesetzgeber nicht mehr „in der Klemme zwischen Übermaß- und Untermaßverbot“; denn im Ergebnis habe er nur den herkömmlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten.136

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Das Übermaßverbot verlange zunächst für jede Schranke der Grundrechte, dass ein legitimer Zweck vorliege, was im Fall der Schutzpflicht unumstritten bzw. sogar gefordert sei. Das vom Gesetzgeber eingesetzte Mittel müsse ferner diesen Zweck fördern, d. h. zu seinem Schutz geeignet sein, sodass der Gesetzgeber hierbei einen effektiven Schutz bewirken müsse. Genüge der Gesetzgeber dem Teilgrundsatz der Geeignetheit nicht, dann liege neben einer Verletzung des Übermaßverbots auch eine des Untermaßverbots vor. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlange darüber hinaus das mildeste noch gleich wirksame Mittel zum Schutz des Rechtsguts – und stelle dadurch die Wirksamkeit der Schutzmaßnahme sicher. Die Schutzmaßnahme müsse schließlich angemessen, d. h. verhältnismäßig im engeren Sinne, sein. Zum Ganzen Starck, JZ 1993, 816, 817. s. auch Dederer, in: Menzel, Verfassungsrechtsprechung, S. 246: Über- und Untermaßverbot seien „lediglich zwei Seiten ein und derselben Medaille, nämlich des verhältnismäßigen, schonendsten Ausgleichs“. 136 Noch einen anderen Ansatz, der mit der Ableitung der Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG konsequent ist, führt Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 85 ff., vor. Nach ihm statuieren die Schutzpflichten einen bindenden Mindeststandard nur dann und nur in dem Umfang, in dem sich der Schutzbereich des Grundrechts mit dem des Art. 1 Abs. 1 GG deckt (sog. Menschenwürdegehalt). Der Autor spricht zwar auch von Untermaßverbot; er versucht aber nicht, ähnliche argumentative Strukturen für das Untermaßverbot zu entwickeln, wie sie für das Übermaßverbot bestehen.

E. Theoretische Fundierungen der Abwägung und des wertorientierten Grundrechtsverständnisses Bislang ging es v. a. um eine Darstellung der Entwicklung und Anwendung der Abwägung in der Grundrechtsrechtsprechung und -dogmatik. Nun sollen bedeutende theoretische Grundlagen dieses Modells und überhaupt des objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnisses explizit ausgeführt werden. Dargelegt werden im Folgenden der werttheoretische Ansatz Smends, die institutionelle Grundrechtstheorie Häberles sowie insbesondere die Prinzipientheorie Alexys. Die Werttheorie der Grundrechte hat ihren Ausgangspunkt in der Integrationslehre von Rudolf Smend.1 Bei diesem Autor ist die erste offene Kritik am grundrechtlichen Abwehrrecht als einer besonderen Form des Grundrechtsverständnisses zu finden, wobei diese Kritik bereits Argumente formuliert, denen das Abwehrrecht auch unter dem GG ausgesetzt wird.2 Das Deutungsschema des Abwehrrechts erhält seitdem Konkurrenz durch das Deutungsschema der Grundrechte als Wertsystem (ohne dass dieses Deutungsschema jedoch dogmatisch mehr als punktuell ausformuliert worden wäre). Darin trifft sich seine Überlegung mit den von unterschiedlichen Autoren mit verschiedenen Akzenten vorgeschlagenen institutionellen Grundrechtsverständnissen, denen zufolge die Grundrechte nicht oder nicht nur den Charakter staatsbezogener Abwehrrechte haben, sondern eine öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Einrichtung in ihrem wesentlichen Bestand schützen sollen. Eine umfassende Entfaltung des institutionellen Grundrechtsverständnisses findet sich in der Theorie von Peter Häberle, der übrigens als Anhänger der SmendSchule gilt. Ausgehend insbesondere von einer Kritik an der negativen Freiheitsvorstellung des Abwehrrechts zielt auch er auf eine Bestimmung der Bedeutung der Grundrechte als Werte im Wertsystem der Verfassung und darüber hinaus auf die Ermittlung von immanenten Grundrechtsgrenzen mittels einer Güterabwägung. Sein Ansatz soll dem Staat die Einrichtung und Ausgestaltung grundrechtlicher Institute und damit „wirkliche“, „reale“ – und nicht nur formale – Freiheit ermöglichen. Bei Häberle kommt somit das Verständnis, das dem Staat die Einrichtung grundrechtlicher Institute und damit ein Tätigwerden „innerhalb“ des Schutzbereichs erlaubt, beispielhaft zum Ausdruck. Alexy seinerseits begreift seine Prinzipientheorie als eine Rationalisierung und Ausarbeitung sowohl der den Grundrechten seit Smend 1

Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1533. Zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 35: Das Abwehrrecht wird bereits hier „als bloß formale Freiheit der wirklichen, realen Freiheit gegenübergestellt“. Smend artikuliert seinen Einwand in kritisch produktiver Absicht und liefert damit Ansatzpunkte für ein neues Verständnis der Freiheitsrechte. 2

E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

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zugeschriebenen Wertedimension als auch des institutionellen Grundrechtsverständnisses.3 Bei der Prinzipientheorie von Alexy und seinen Schülern handelt es sich um eine besonders einflussreiche und radikale Deutung, die eine bestimmte rechtstheoretische und methodische Sicht auf die Grundrechte projiziert. Trotzdem wird dabei auch versucht, die Anstöße zu einer neuen Konzeption der Grundrechte an konkreten Fragestellungen auszuarbeiten und in ein operationalisierbares dogmatisches Gerüst umzusetzen.4 Darüber hinaus besitzt sie ein sehr breites Beschreibungspotential und bietet insoweit eine Erklärung für eine dogmatische Praxis an, bei der die Abwägung von Grundrechtspositionen im Vordergrund steht – oder zumindest als im Vordergrund stehend gesehen wird. Bei aller Kritik an dieser Theorie darf in der Tat nicht übersehen werden, dass Alexy die verschiedenen Formen des Abwägungsmodells mit dem Optimierungsgebot in eine theoretische Fassung gebracht hat, an deren inhaltlichen Implikationen eine Abwägungsdogmatik kaum vorbeikommen wird.5 Vom objektiven Prinzip im Sinne des Optimierungsgebots nach Alexys Theorie spricht das BVerfG zwar kaum ausdrücklich.6 In der Literatur wird aber zutreffend beobachtet, dass das relative Verständnis der Grundrechte als Optimierungsgebote mit ihrem Verständnis als objektive Prinzipien besonders harmoniert. Der Begriff des Prinzips im Sinne des Optimierungsgebots wurde in der Tat gerade deshalb geprägt, um den Gehalt zu erfassen, den die Rechtsprechung des BVerfG in ihrer Entwicklung vom Verständnis der Grundrechte als subjektive Rechte zu ihrem Verständnis der Grundrechte als objektive Prinzipien den Grundrechten letztlich lässt.7

3

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 134, 477, 513 f. Wie Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 60, beobachtet, blieb der Schwerpunkt der Kritik des Abwehrrechts zunächst in erster Linie auf der Ebene der Grundrechtstheorie (Freiheitsvorstellung, Verhältnis von Staat und Gesellschaft etc.). Entsprechend waren auch die dogmatischen Ansätze der Theorien von Smend und Häberle gewissermaßen rudimentär. 5 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 100. Deswegen sei eine abwägungsskeptische Haltung überhaupt eine Bedingung der Möglichkeit eines zur Prinziptheorie von Alexy alternativen dogmatischen Angebots. 6 Immerhin möchte es z. B. in BVerfGE 81, 278 (292) (Bundesflagge) eine Kollision zwischen der Kunstfreiheit und dem Schutz der Bundesflagge erblicken und im Wege fallbezogener Abwägung einen verhältnismäßigen „Ausgleich der gegenläufigen, gleichermaßen verfassungsrechtlich geschützten Interessen mit dem Ziele ihrer Optimierung“ finden. s. auch etwa BVerfGE 83, 130 (143) (Josephine Mutzenbacher). Von Interesse hier ist allerdings weniger die Ähnlichkeit der Wortwahl, sondern vielmehr die Konvergenz zwischen der Abwägungspraxis und der Theorie von Alexy. Das STF seinerseits bezieht sich oft explizit auf diese Theorie. s. z. B. STF, IF 2915 v. 03. 02. 2003, 152 (179 f., 186) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (658 f., 885, 898) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger); ADI 3324 v. 16. 12. 2004, 140 (177 f.) (DJ 05. 08. 2005) (Universitätswechsel); STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70 (83) (DJ 30. 04. 2010) (Zavesca/Miglustat). 7 Zum Ganzen Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 45 f. s. auch Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 21. Dieses Anliegen bringt Alexy deutlich zum Ausdruck. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 18, 115 ff. und passim. 4

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

Da die Prinzipientheorie nicht nur die ausdifferenzierteste, sondern auch die derzeit weltweit einflussreichste theoretische Fundierung der Abwägung bildet,8 liegt der Schwerpunkt der folgenden Darlegung auf ihr. Die Behandlung dieser Theorie wird sich allerdings in erster Linie auf den Ansatz von Alexy selbst konzentrieren. Denn für die vorliegende Untersuchung ist das Verständnis der Grundannahmen dieses Modells – und nicht seiner variierenden Details – von Interesse. Abgesehen von einigen grundlegenden Einwänden auch gegen die Prinzipientheorie (E.III.5.) wird die Kritik an den Ansätzen von Smend, Häberle und Alexy erst im nächsten Kapitel, d. h. im Zusammenhang mit problematischen Aspekten des Abwägungspragmatismus und des wertorientierten Grundrechtsverständnisses, entfaltet.

I. Integrationslehre von Rudolf Smend und die Grundrechte als ein Wertsystem Im Zuge der Abkehr vom Positivismus und Formalismus entwickelte Smend seine verfassungstheoretische Lehre, welche das Dissoziieren von Norm und Wirklichkeit überwinden soll9 und den Sinn des Staates als Integration auffassen will. Der Staat wird hier als geistige Wirklichkeit verstanden, die aus der Wechselwirkung individueller Lebensvorgänge dauernd hergestellt und stetig erneuert wird.10 Er sei somit nicht ein ruhendes Ganzes, eine statische Gegebenheit, sondern ein Prozess, ein geistiger Gesamtzusammenhang, der sich in seinen Lebensäußerungen (z. B. Gesetze, Urteile) immerfort erneuere und fortbilde.11 Er sei überhaupt nur vorhanden in 8 In der Tat gilt Alexy gegenwärtig als einer der einflussreichsten Grundrechtstheoretiker überhaupt. Zu seinen Schülern zählen unter vielen anderen Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, und Silva, Direitos fundamentais. Auch v. Arnauld, JZ 2000, 276, 279; Bamberger, Der Staat 39/2000, 355, 376; Stern, StR III/2, § 84, S. 818; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 66 f.; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 167, 218, Rn. 42, 138; Barcellos, Ponderação, racionalidade e atividade jurisdicional, S. 24 f.; Barros, O princípio da proporcionalidade, S. 174 f. und passim; Mendes/Coelho/Branco, Curso de Direito Constitucional, S. 362 ff., 400 ff.; Barroso, Interpretação e aplicação da Constituição, S. 350 ff.; Guerra Filho, in: Leituras complementares de Direito Constitucional, S. 87, 91, u. a. übernehmen Aspekte seines Denkens. 9 „Die Integrationslehre lehnt alles isolierte Verstehen der Norm einerseits, der Wirklichkeit andererseits ab. Die Norm hat ihren Geltungsgrund, ihre Geltungsqualität, ihren Geltungsinhalt vom Leben und dessen aufgegebenem Sinn her, wie umgekehrt das Leben nur aus der Beziehung zu seinem aufgegebenen und normierten Lebenssinn zu verstehen ist.“ Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 478 (Art. Integrationslehre). 10 Auch das Individuum sei nicht an sich und für sich gesehen, sondern gemeinschaftsbezogen. Es gestalte sich als solches durch die und in der Interaktion mit anderen Individuen. Vgl. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 125 ff. Soweit ein anderer Werktitel nicht angegeben ist, beziehen sich die folgenden Zitate auf das hier wiederabgedruckte Werk „Verfassung und Verfassungsrecht“. 11 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 136. s. auch ebd., S. 474 (Art. Integrationslehre).

I. Integrationslehre von Rudolf Smend

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dem täglichen Plebiszit, in den stetigen Vorgängen der Zusammenfassung der in ihm verbundenen Individuen. Für den Kern dieses staatlichen Lebensvorgangs, d. h. für den Kern des Prozesses beständiger Herstellung und Erneuerung, steht eben der Begriff der Integration. Smend unterscheidet weiter drei wesentliche Integrationsfaktoren oder -typen, die allerdings in der Regel nicht isoliert voneinander aufträten: die persönliche, die funktionelle und die sachliche Integration.12 Insbesondere in Bezug auf die sachliche Integration wird deutlich, dass der Staat als Integrationsvorgang zu einer Kultur- und Wertgemeinschaft begriffen wird. Die Legitimität des Staates beruht nach Smend auf konkreten Werten, „die die Geltung einer bestimmten staatlichen Rechtsordnung einerseits fordern und andererseits tragen“.13 Die Theorie des Staates als permanenter Lebensvorgang bzw. als Lebenswirklichkeit des Integrationsprozesses schlägt sich zugleich in dem Verständnis der Verfassung und in der Vorstellung nieder, dass die Legitimität und Verbindlichkeit der Verfassung nicht primär eine Frage ihrer positiven Setzung ist; vielmehr komme es auch auf die Bezugnahme auf bestimmte durch sie verkörperte objektive Werte an. Die Verfassung ist in der Smend’schen Integrationslehre „die Rechtsordnung des Staats, genauer des Lebens, in dem der Staat eine Lebenswirklichkeit hat, nämlich seines Integrationsprozesses“.14 Sie sei nicht „lediglich ein Organisationsstatus, das den Staat als eine feste Gegebenheit voraussetzt und organisiert, sein Handeln regelt, anordnet und begrenzt“, sondern vielmehr „eine Lebensordnung, die auch den grundlegenden politischen Lebensvorgang des Staats ergreift, in dem er durch die ständige fließende Einbeziehung der Einzelnen überhaupt wirklich wird“.15 Durch die Charakterisierung der Verfassung als Lebensordnung des Integrationsprozesses wird insbesondere ihre Funktion für die Einheit des Staates hervorgehoben – zulasten 12

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nennt Smend einige Erscheinungsbeispiele dieser Integrationstypen. Im Mittelpunkt der persönlichen Integration stehe demnach das Führertum, das allerdings mit der aktiven Beteiligung der Einzelnen am politischen Leben und nicht mit Passivität oder Unterdrückung verbunden wird. Bei der funktionelle Integration handele es sich um integrierende Funktionen oder Verfahrensweisen, die als kollektivierende Lebensformen wirkten. Gemeint sind Vorgänge, in denen sich die Willensbildung vollziehe, die die Eingebundenheit der Bürger in das Gemeinschaftsleben verstärkten, wie z. B. Wahlen, parlamentarische Verhandlungen und Volksabstimmungen. Die sachliche Integration schließlich sei die Integration durch gemeinschaftliche Werte, die z. B. durch staatliche Symbole (wie Fahnen, Wappen, Staatsoberhäupter), nationale Feiertage, gemeinsame Sprache, repräsentative Vorgänge der Landesgeschichte und dergleichen verkörpert würden. Unter den sachlichen Integrationsfaktoren stehe weiter das Staatsgebiet, jedoch nicht im Sinne der Drei-Elemente-Lehre als einfache räumliche Wirklichkeit, sondern vielmehr als „anschauliche Zusammenfassung der Totalität des Wertbesitzes eines Staates und Volkes“ – was meist als Vaterland oder Heimat bezeichnet werde. Eine besondere Bedeutung für die sachliche Integration kommt ferner der Verfassung und insbesondere den Grundrechten zu. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 142 ff., 148 ff., 160 ff., 169. Ein homogener Sachgehalt wird darüber hinaus auch als wichtiges Element für die Demokratie gewertet. Ebd., S. 221. 13 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 166. 14 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 189. 15 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 484 (Art. Integration).

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

ihrer Ordnungsaufgabe.16 Der eigentliche Sinn der Verfassung wird also im staatlichen Integrationsprozess zur Einheit gesehen. Dieser eigentliche, immanente Sinn und die Intention der Verfassung seien weiter nicht auf Einzelheiten, sondern auf die Totalität des Staates und die Totalität seines Integrationsprozesses gerichtet.17 Das erfordere eine elastische, von aller sonstigen Rechtsauslegung weit abweichende Verfassungsauslegung. Dementsprechend lehnt Smend es ab, die Verfassung rein normativ aufzufassen und ausschließlich anhand ihres Wortlauts und ihrer Systematik auszulegen. Die Verfassungsnormen seien demnach aus dem Ganzen der Verfassung heraus auszulegen und in ihrer Beziehung zum gesamten Vorgang verfassungsrechtlicher Integration zu bestimmen. Alle staatsrechtlichen Einzelheiten seien also nicht an sich und isoliert zu verstehen, sondern nur als Moment des durch sie zu verwirklichenden Sinnzusammenhanges, der funktionellen Totalität der Integration. Hierbei scheint es für Smend durchaus auch möglich, verschiedene Ränge von Verfassungswerten zu erkennen. Aufgrund der Elastizität der formulierten Verfassung könne sich ihr System schließlich gegebenenfalls von selbst ergänzen und wandeln. Es besitze nämlich eine „Wandlungsund Ergänzungsfähigkeit“. In diesem Zusammenhang wird deutlich, wie bereits Smend mit seiner Theorie des Staates als permanenten Lebensvorgang den Verfassungsbegriff dynamisiert. Die Verfassung als Konstituierungsakt einer Gemeinschaft erneuere sich gewissermaßen jeden Augenblick.18 Der Wendung zu einer materialen Staatsrechtstheorie entspricht weiter ein neues Grundrechtsverständnis. Die Grundrechte setzen nach Smend grundlegende Gemeinschaftswerte fest. Sie normierten ein nationales „Wert- oder Güter-, ein Kultursystem“, durch das die Staatsangehörigen einen materialen Status erhielten, dank dessen sie sich sachlich als ein Volk und zu einem Volk von nationaler Eigenart integrieren sollten.19 Sie erschienen als maßgeblich konstituierende Faktoren des beständigen Integrationsprozesses des Staates zu einer Erlebnis-, Kultur- und Wertgemeinschaft und seien somit wichtige Elemente des Prozesses der immer neuen Herstellung der Lebenstotalität des Staates. Das Wertsystem der Grundrechte soll nach Smend „der Sinn des von dieser Verfassung konstituierten Staatslebens sein“. Aus diesem Grund lehnt er ab, den Grundrechten lediglich eine negative, staatsbeschränkende Wirkung beizumessen. Vielmehr werden sie über ihre bisherige „antistaatliche“ Funktion als Schranke hinaus auch als ein Beitrag zum Prozess der staatlichen Selbstverwirklichung, zur sozialen Gruppenbildung und zur erlebnis16 In diesem Sinne betont Friedrich, AöR 112/1987, 1, 13, 16, dass die Verfassung nur in ihrem „Integrationswert“ gesehen werde. Dadurch werde die Theorie der rechtlichen Ordnungsaufgabe des Verfassungsrechts nicht gerecht. Die Integrationslehre ebne die Spannung zwischen Integrations- und Rechtswert zur politischen Wirklichkeit ein und unterschätze die Eigenbedeutung des Rechts. 17 Hierzu und zum Folgenden Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 190 f., 239 ff. 18 Vgl. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 192 f. 19 Hierzu und zum Folgenden Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 264 ff.

I. Integrationslehre von Rudolf Smend

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haften Eingliederung in den Staat gesehen.20 Von dem Wertsystem der Grundrechte erhalte die positive Staats- und Rechtsordnung ihre Legitimität: „im Namen dieses Wertsystems soll diese positive Ordnung gelten, legitim sein“.21 Daraus folgt weiter, dass die Grundrechte zum einem als Auslegungsregel für das positive spezielle Recht gelten sollen und zum anderen „nur aus ihrem geistigen Gesamtzusammenhang richtig angewendet werden“ können.22 In der Auslegung des Art. 118 WRV (Meinungsfreiheit)23 wird das materiale Grundrechtsverständnis Smends und seine Auswirkung auf die Grundrechtsinterpretation besonders deutlich. Die Meinungsfreiheit sei nämlich nicht primär ein subjektives Abwehrrecht, sondern ein Mittel zur Organisation des Gruppenwillens und des politischen Gemeinschaftslebens. Ausgehend von der integrierenden Funktion der Grundrechte qualifiziert er ferner die Bestimmung der Allgemeinheit des Gesetzes als Abwägung zwischen den jeweils zu schützenden Werten. Die Allgemeinheit des Gesetzes definiert er als „die Allgemeinheit derjenigen Gemeinschaftswerte, die als solche den ursprünglich individualistisch gedachten Grundrechtsbetätigungen gegenüber den Vorrang haben“.24 „,Allgemeine‘ Gesetze im Sinne des Art. 118 sind also Gesetze, die deshalb den Vorrang vor Art. 118 haben, weil das von ihnen geschützte gesellschaftliche Gut wichtiger ist als die Meinungsfreiheit.“ Ein weiteres Kriterium für die Bestimmung der Güterwichtigkeit wird nicht gegeben. Damit kommt alles auf eine Bewertungsfrage an, deren Be20 Friedrich, AöR 112/1987, 1, 8. Vgl. Smend, VVDStRL 4/1928, S. 44, 48: Die Grundrechte sollen nicht nur „Schranken, sondern Verstärkungen des Staats und der Staatgewalt sein“. Bereits Smend schrieb somit den Grundrechten auch einen institutionellen Charakter zu. Er betonte in diesem Sinne die Wichtigkeit institutioneller Auffassungen vom Wesen der Meinungsäußerung, insbesondere der Presse, als einer öffentlichen Einrichtung. Auch die Lehrfreiheit wurde als „eine öffentliche Institution zum Schutz einer der höchsten Formen des deutschen geistigen Lebens“ gesehen. Smend, VVDStRL 4/1928, S. 44, 50, 73. Zu Smends Kritik am negativen Abwehrrecht als ein reduziertes Grundrechtsverständnis sowie an der mangelnden Adäquanz der dem Abwehrrecht zugrunde gelegten Unterscheidung von Staat und Gesellschaft für die Beschreibung sich selbst organisierender, republikanischer Gemeinwesen s. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 34 ff. 21 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 265. Dieses Wertsystem halte inkl. der bürgerlichen Rechtsordnung an ihren Kerninstituten fest und enthalte dadurch ihre wichtigste Legitimationsquelle. Ebd., S. 266. 22 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 266. s. auch Smend, VVDStRL 4/1928, S. 44, 51: Die Grundrechte „sind nur aus dem Gesamtzusammenhang der Grundrechte heraus zu verstehen“. 23 Art. 118 der WRV: „(1) Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.“ 24 Hierzu und zum Folgenden Smend, VVDStRL 4/1928, S. 44, 52. Nach ihm sei Allgemeinheit „selbstverständlich die materiale Allgemeinheit der Aufklärung: die Werte der Gesellschaft, die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die konkurrierenden Rechte und Freiheiten der Anderen“. Wenn die Freiheitsbetätigungen wichtigere Gemeinschaftswerte verletzen, sei dies folglich eine Überschreitung, ein Missbrauch des Grundrechts.

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

antwortung „dem sittlichen und kulturellen Werturteil der Zeit“ zugeschoben wird.25 Die Feststellung, ob ein Gesetz allgemein ist, hängt demnach von einer Abwägung ab, und wie Smend selbst betont: „Derartige Abwägungsverhältnisse können schwanken (…).“26 Mehrere Aspekte der Integrationslehre fanden Eingang in die Rechtsprechung des BVerfG. So geht z. B. der heute zum verfassungsrechtlichen Gemeingut gehörende Grundsatz, dass alle Verfassungsbestimmungen aus der Einheit der Verfassung heraus auszulegen sind, auf Smends Formulierungen zurück. Auch der Topos der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person27 steht den Überlegungen Smends zumindest nahe. Insbesondere aber speist sich das seit den 1950er-Jahren vom BVerfG entwickelte Grundrechtsverständnis in vielfacher Hinsicht aus der Integrationslehre. Die Grundrechte, so das Gericht im Lüth-Urteil, seien nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat, sondern auch eine „objektive Wertordnung“, ein Wertsystem der Gesellschaft. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, hieß es weiter, sei für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung „schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist (…)“.28 Seit dem Lüth-Urteil hat ferner das Abwägungsgebot in der Rechtsprechung des BVerfG einen festen Platz gefunden, wobei Smends Beitrag zu Art. 118 der WRV durchaus als eine Wurzel dieser Entwicklung gesehen werden kann.29 Nicht zufällig ging es im Auftakt der Abwägungspraxis gerade um das Verhältnis zwischen Meinungsäußerungsfreiheit und allgemeinem Gesetz. Wie bereits ausgeführt, verstand das BVerfG dabei als allgemeine Gesetze alle die Gesetze, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die vielmehr dem Schutze eines Gemeinschaftswerts dienen, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat.30 Mit dieser Definition will das Gericht zwar das formale und das materiale Verständnis der Allgemeinheit der Gesetze in Einklang bringen.31 Mit Wertungen und Abwägungen schlägt es sich aber auf die 25

Smend, VVDStRL 4/1928, S. 44, 54. Smend, VVDStRL 4/1928, S. 44, 53. 27 BVerfGE 4, 7 (15 f.) (Investitionshilfe); 33, 303 (334) (numerus clausus I); 50, 290 (353) (Mitbestimmung); 65, 1 (44) (Volkszählung). Zustimmend Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 5. 28 BVerfGE 7, 198 (208) (Lüth). Hervorhebung durch die Verfasserin. Das BVerfG übernahm damit Kernaspekte der Integrationslehre. Es polte sie aber zugleich um: Denn das Grundrecht diene nicht mehr dazu, aus Staat und Gesellschaft ein möglichst homogenes Ganzes zu machen und soziale Konflikte einzuebnen, sondern den „Kampf der Meinungen“ zu ermöglichen. 29 Hierzu und zum Folgenden Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 22 f., der ferner betont, dass das Zivilrecht eine weitere Wurzel des Abwägungsgebots bildet. 30 BVerfGE 7, 198 (209 f.) (Lüth). 31 Nach dem formalen Verständnis – auch als Sonderrechtslehre bezeichnet – sind allgemeine Gesetze diejenigen, die „nicht eine Meinung als solche verbieten“, die „sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten“. Die Feststellung, ob ein Gesetz Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit ist, ob es eine Meinungsdiskriminierung enthält, bedarf allerdings 26

II. Institutionelles Grundrechtsverständnis von Peter Häberle

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Seite des von Smend entwickelten materialen Verständnisses. Genau wie bei Smend müssen eben die Fragen nach dem Vorrang der Gemeinschaftswerte und nach der Allgemeinheit der Gesetze in „Abwägungsverhältnissen“ beantwortet werden.32 Weiter unten wird das der Integrationslehre zugrunde liegende Verständnis der Grundrechte als Werte sowie das daraus folgende Abwägungsgebot problematisiert. Der wesentliche Beitrag dieser Theorie zur Überwindung des staatsrechtlichen Positivismus ist allerdings unbestritten. Die Aktualität und Anziehungskraft von Smends Theorie ergeben sich in der Tat weniger aus den Einzelergebnissen, sondern v. a. aus ihrer Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen Sein und Sollen, die auch einen Ausgangspunkt für den hier zu entwickelnden Ansatz bilden soll. Die in der Integrationslehre angelegte Dynamisierung des Verfassungsrechts, ihre Bereitschaft zu einer weitergehenden Annahme seiner „fließenden Geltungsfortbildung“33, verdient ebenfalls grundsätzliche Zustimmung.

II. Institutionelles Grundrechtsverständnis von Peter Häberle und die immanenten Grundrechtsgrenzen Im Zuge von verschiedenen Angriffen34 auf das Abwehrrecht und auf seine angeblich negative Freiheitsvorstellung entwickelte Häberle seine institutionelle Grundrechtstheorie. In seiner – erstmals 1962 erschienenen – Dissertationsschrift will er zum einen mit seiner institutionellen Grundrechtsdeutung und seiner Immanenzlehre den Dichotomien von Individuum und Gesellschaft, Faktischem und Normativem entgehen und zum anderen mit seinem Abwägungskonzept die Grundrechtsdogmatik vom „Eingriffs- und Schrankendenken“ befreien. Die Grundrechte verkörpern für Häberle nicht nur subjektive öffentliche Rechte, sondern haben auch eine soziale Funktion, eine institutionelle Seite, aufgrund derer sie „freiheitlich geordnete und ausgestaltete Lebensbereiche“ gewährleisten.35 Gerade diesen institutionellen Charakter der Grundrechte verkenne die negative Freinicht einer Operation von Wertung bzw. Abwägung. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 22 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 144 ff., Rn. 588 ff. 32 Das Verständnis der Grundrechte als ein Wertsystem hat auch den Beginn der theoretischen Diskussion über die mittelbare Drittwirkung maßgeblich beeinflusst, wie es in der Lehre Dürigs exemplarisch zum Ausdruck kommt. Nach der Position Dürigs strahlen die Grundrechte als Wertsystem auf das Privatrecht aus, sodass individuelle Freiheits- und Gleichheitswerte im Privatrecht abwägungsgesteuert und einzelfallbezogen eingesetzt werden können. Dürig, in: Gesammelte Schriften, S. 215, 233 ff. 33 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 242. 34 Vgl. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 48 ff., 52 ff. 35 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 70, 11: Die Grundrechte seien nicht nur um der individuellen Persönlichkeitsentfaltung willen gewährleistet, sondern erzielten auch einen „Gesamterfolg“.

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

heitsvorstellung des abwehrrechtlichen Grundrechtsverständnisses.36 Das Abwehrrecht verstehe Freiheit als einen vom Staat ausgegrenzten Bereich individueller Beliebigkeit und verliere dabei aus dem Blick, wie normativ voraussetzungsvoll die Freiheit in der sozialen Lebenswirklichkeit tatsächlich sei. Ohne staatliches Zutun stelle reale Freiheit ein unwahrscheinliches Phänomen dar. Ohne eine rechtliche Ordnung menschlichen Verhaltens sei sie nicht realisierbar. In diesem Sinne betont Häberle gegenüber dem Abwehrrecht, dass reale Freiheit die aus der abwehrrechtlichen Perspektive nur als Freiheitsbeschränkung wahrgenommenen staatlichen Handlungen gerade voraussetze. Gegenüber einer als Beliebigkeit verstandenen Freiheit fordert er weiter ein werthaftes Freiheitsdenken ein. Grundrechtliche Freiheit bedeute demnach nicht etwa Freiheit für jedes beliebige Verhalten, sondern gebundene, verantwortungsvolle Freiheit. Häberle wendet sich ferner auch gegen die individualistische Perspektive des Eingriffsdenkens. Die institutionell verstandenen Grundrechte hätten nämlich weniger eine individuelle als eine kollektive, soziale Lebenswirklichkeit im Auge. Zahlreiche Grundrechtsbegrenzungen gefährdeten daher „nicht die Freiheit, sondern stärken sie, indem sie ihr zur ,sozialen Wirklichkeit‘ verhelfen“.37 Nicht etwa Begrenzungen, sondern ein Zustand, in dem eine Vielzahl der Berechtigten die Grundrechte nicht tatsächlich in Anspruch nehmen können, gefährde die Grundrechte als Institute. Die Freiheiten bzw. die Grundrechte entfalten und verwirklichen sich nach Häberle nur in normativen Regelungen institutioneller Art, die somit eigentlich Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Freiheit darstellten. Grundrechtliche Freiheit sei deshalb, richtig verstanden, nicht Verneinung des Rechts und des Staates, sondern Freiheit in rechtlich geprägten Lebensverhältnissen. Sie sei nicht Freiheit vom, sondern stets Freiheit im Recht und Staat.38 Diese Grundvorstellung gelte nicht nur für die institutionellen Garantien oder Institutsgarantien (wie Ehe, Familie und Eigentum), sondern für sämtliche Grundrechte, insbesondere auch für die Freiheitsrechte. Die rechtliche Freiheit werde selbst zu einem „Institut“, die sich erst in der näheren rechtlichen Ausgestaltung entfalte: „Die individuelle Freiheit bedarf der institutionell gewährleisteten Lebensverhältnisse, der institutionellen Seite der Grundrechte sowie der diese anreichernden Normenkomplexe.“ Diese Normenkomplexe gäben der Freiheit „Richtung und Maß, Sicherheit und Geborgenheit, Inhalt und Aufgabe“.39 Da der Grundrechtsgebrauch durch den Einzelnen nur im Rahmen der institutionell gewährleisteten Lebensverhältnisse möglich sei, 36

Zum Folgenden Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 150 ff. Hierzu und zum Folgenden Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 117 ff. 38 Vgl. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 151, 225 f.: „Recht und Freiheit gehören wesensgemäß zusammen. Freiheit und Recht lassen sich weder einander entgegensetzen noch voneinander trennen. (…) Das Recht schafft Freiheit und es macht frei. Das Recht ist keine Relativierung und Verkürzung der Freiheit. Freiheit ist ihrerseits rechtlich geordnete und ausgestaltete und damit auch rechtlich begrenzte Freiheit. (…) ist doch die Freiheit keine Freiheit vom Recht, sondern Freiheit im Recht und zum Recht.“ 39 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 98. 37

II. Institutionelles Grundrechtsverständnis von Peter Häberle

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finde er in ihnen seinen Inhalt und auch seine Grenzen. Der Gesetzgeber müsse deshalb nicht nur durch die Schaffung entsprechender Normenkomplexe grundrechtsausgestaltend tätig werden, sondern ebenfalls durch Grundrechtsbegrenzungen, wenn dies die Aufrechterhaltung des Instituts insgesamt erfordere. Durch die Ausübung seiner ausgestaltenden und begrenzenden Funktion greife der Gesetzgeber aber nicht von außen in das Grundrecht ein, sondern zeichne bereits bestehende immanente Grenzen nach, konkretisiere die wesensmäßigen Grundrechtsgrenzen.40 Die Grundrechte bilden in der Tat auch für das institutionelle Denken Häberles „konstitutive Elemente des verfassungsrechtlichen Wertsystems“ bzw. „konstitutive Bestandteile des Ganzen der Verfassung“. Sie stünden mit anderen Verfassungsrechtsgütern in einem Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit, was dazu führe, dass sowohl ihr Inhalt als auch ihre Grenzen nur mit Blick auf die sonstigen Verfassungsgüter und mittels einer Abwägung bestimmt werden könnten.41 Diese Betrachtungsweise folgt gerade daraus, dass die Grundrechte keine prinzipiell unbegrenzte Freiheit verkörperten, die unter dem Vorbehalt einer späteren Einschränkung stehe. Vielmehr trügen sie ihre Grenzen stets „immanent“ in sich und seien von vornherein durch Verfassungsgüter gleichen oder höheren Ranges begrenzt. Grenzziehungen wirkten demnach nicht nachträglich auf das Grundrecht ein. Die Grundrechte seien in ein Wertsystem eingebettet, das den Rang verschiedener Verfassungsrechtsgüter bereits fixiere. Die Konkretisierung dieser zulässigen immanenten Grundrechtsgrenzen sei infolgedessen „kein die Grundrechte von außen treffender Vorgang“; vielmehr werde dem Grundrecht nur der Platz zugewiesen, den es von vornherein im Wertsystem einnehme. Der Gesetzgeber (oder auch der Richter42), der die immanenten Grundrechtsgrenzen konkretisiere, schränke folglich die Grundrechte nicht ein, sondern bestätige, sichere und verwirkliche sie.43

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Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 180 ff. Mit den Worten Häberles ausgedrückt: „Grundrechte sind nur dann Institute, wenn sie von zahllosen Grundrechtsberechtigten in Anspruch genommen werden können (…). Grundrechte sind nur dann Institute, wenn sie von den Grundrechtsberechtigten tatsächlich in Anspruch genommen werden (…). Grundrechte sind nur dann Institute, wenn sie zu dauerhaftem individuellem Verhalten führen. Grundrechte sind nur dann Institute, wenn sie durch ausgestaltende und begrenzende Normenkomplexe (…) in der sozialen Wirklichkeit ,eingerichtet‘ und dort dauerhaft vorhanden sind, so dass sie von der individuellen Freiheit samt ihrem Verpflichtungsgehalt ,vorgefunden‘ werden können. Grundrechte sind nur dann Institute, wenn ihr Sollen zugleich ,Sein‘, ihre Normativität zugleich Normalität ist (…).“ Ebd., S. 123. 41 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 11 ff. Rechtsgüter wie z. B. das Strafrecht, der Sozialstaat, die besonderen Gewaltverhältnisse, die Volksgesundheit, die öffentliche Sicherheit und Ordnung seien eigentlich Bedingungen für die Grundrechte. Sie seien Voraussetzungen für die vom GG gemeinte Kulturgemeinschaft, für eine wertverwirklichende Wechselwirkung zwischen Individuum und Gemeinschaft (S. 14). 42 Vgl. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 102, 185. 43 Zum Ganzen Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 51, 59. Nach dem Immanenzverständnis von Häberle bedeuten Grundrechtsbegrenzungen keinen Einbruch öffentlicher Interessen in die privaten Freiheiten der Grundrechte, sondern die Realisierung der Verschrän-

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

Erst durch die staatlichen Tätigkeiten, die zum einen Rechtsinstitute zur Verfügung stellten und zum anderen zum Schutz gleich- oder höherrangiger Rechtsgüter die den Grundrechten bereits immanenten Grenzen aufdeckten, erlangten die Grundrechte rechtliche und soziale Wirksamkeit. In staatlichen Begrenzungen individueller Willkür und des Freiheitsmissbrauchs sowie in den Verhinderungen von Grundrechtskollisionen lägen dementsprechend „keine echten Eingriffe“; vielmehr gestalteten sie die als Institute gedachte Freiheit aus und dienten somit der Aufrechterhaltung der Grundrechte. Eingriffe in die Grundrechte sind eigentlich für Häberle stets Grundrechtsverletzungen. Ein staatliches Handeln, das über den „institutionellen Sinn“, den „sachlichen Gehalt“ bzw. den „eigentlichen Inhalt“ eines Grundrechts verfügt, ist für ihn verfassungsrechtlich immer untersagt.44 Regelungen von Freiheitsbereichen griffen hingegen in die Grundrechte nicht ein, sondern gestalteten die einzelnen Freiheiten mittels einer Güterabwägung als lebendige soziale Institute aus.45 Über Werte- bzw. Güterabwägungen sind dann nach Häberle Inhalt und Grenzen der Grundrechte zu bestimmen sowie Konflikte zwischen verschiedenen im GG genannten oder auch nicht ausdrücklich genannten46 Verfassungsgütern zu lösen. Die Totalität seines Abwägungskonzepts wird dabei von seinem Immanenzverständnis getragen, dem zufolge sämtliche Grundrechte – also mit oder ohne ausdrückliche Schrankenbestimmungen – unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze stehen.47 Dieser Generalvorbehalt und der Grundsatz der Güterabwägung verweisen für ihn in Anknüpfung an das Lüth-Urteil auf die Wertrangordnung und Wertverhältnisordnung des GG. Allgemeine Gesetze definiert er somit auch in Anlehnung an Smends Ansatz als Gesetze, die Rechtsgüter schützen, die sich „gegenüber dem betreffenden Grundrecht als gleich- oder höherrangig“ erweisen. Entscheidend sei nur, dass die kung, in der Individuum und Gesellschaft gemäß ihrem Wesen stehen. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 129. 44 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 223, 122. Ein derartiges Handeln erweise sich als „unzulässige Reglementierung einer Freiheit und damit deren Vernichtung sowie Verletzung der Verfassung“. Beispiel dafür sei eine Regelung, die positiv alle erlaubten Meinungsinhalte festlegt: „Da sich die Freiheit einer vorherigen Definition entzieht (…), wäre sie in ihrem Wesen getroffen, wenn der Staat positiv bestimmte, welche Meinungen geäußert werden dürfen“ (S. 196 f.). Beispiel für die Antastung des institutionellen Sinns eines Grundrechts seien Enteignungen, „wenn sie in solcher Zahl erfolgen, dass letztlich die Eigentumsfreiheit als Institut bedroht wäre“ (S. 122). 45 Zum Ganzen Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 222 ff. Da nachträglich an die Grundrechte herangetragene Grenzen nicht denkbar seien, stellt Häberle eine „logische“ Unmöglichkeit des Eingriffsdenkens fest. s. auch ebd., S. 158: „Da Freiheit und Eigentum Rechtsbegriffe sind, muss es zunächst Gesetze geben, die umschreiben, was Freiheit und Eigentum sind.“ 46 Diese Grenzen könnten sich z. B. aus Kompetenzbestimmungen ergeben oder aus der sozialen Funktion des Grundrechts folgen. Vgl. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 33. 47 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 229, behandelt die positivrechtlichen Gesetzesvorbehalte nur noch als „staatsrechtliche Reminiszenz“. Kritisch dazu bereits Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 17 ff.

II. Institutionelles Grundrechtsverständnis von Peter Häberle

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Wertigkeit der Grundrechte und der sie begrenzenden Rechtsgüter allein von der Verfassungsebene aus zu bestimmen sei.48 Nach Häberle kann „für jedes Grundrecht gesondert ermittelt werden, welche Rechtsgüter ihm gleich- und höherwertig sind, welchen Rang und welches Gewicht es im Rechtsgüterschutzsystem des GG einnimmt.“49 Wie sich diese Rangordnung ermitteln lässt, wird indes nicht vollends deutlich. Maßgeblich sind zwar die Abwägung der verschiedenen Verfassungsgüter und die Betrachtung des Ganzen der Verfassung, aber gleichzeitig bedarf es einer fallabhängig fortschreitenden Judikatur. Den grundrechtlich geschützten Lebensbereichen müsse nämlich „von Fall zu Fall nachgespürt werden“.50 Das Grundrecht sei demnach „eine Größe, die in der jeweiligen Konfliktsituation gleichsam ,neu‘ entsteht und jeweils von Fall zu Fall aktualisiert und konkretisiert wird, unbeschadet der Tatsache, dass sie von der Verfassung von vornherein fixiert ist.“51 Durch das Wertdenken von Häberle, das sich übrigens mehreren Aspekten der Smend’schen Lehre annähert, erhielt die wertorientierte Rechtsprechung des BVerfG eine weitere theoretische Fundierung. Exemplarisch für den Einfluss dieses Denkens in der Rechtsprechung ist das seit der oben dargestellten BVerfGE 28, 243 etablierte Begrenzungsmodell durch kollidierende Verfassungsgüter (sog. immanente Schranken der Grundrechte), das dem Immanenzverständnis Häberles sehr nahe steht. Nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte, so das Gericht im Beschluss zur Dienstpflichtverweigerung, seien „mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung“ imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen. „Dabei auftretende Konflikte lassen sich nur lösen, indem ermittelt wird, welche Verfassungsbestimmung für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht hat (…).“52 Das Mittel der Kollisionslösung solle, hieß es weiter, eine Abwägung der Verfassungsgüter sein.53

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Zum Ganzen Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 31 f. Hervorhebung durch die Verfasserin. Die Grundrechte dürfen folglich „nur begrenzt werden zum Schutze von verfassungsrechtlich gleich- oder höherwertigen Rechtsgütern, sie dürfen aber auch stets dann begrenzt werden, wenn dies zum Schutz dieser Rechtsgüter erforderlich ist“. 49 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 33. 50 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 102. Auch hier wird eine Annäherung an Smends Ansatz sichtbar; denn die Wirklichkeit von Grundrechten im sozialen Leben sei „nicht nur Zustand, sondern ein Vorgang“ (S. 103). 51 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 35. Im Wertsystem der Verfassung solle die Wertigkeit der Verfassungsgüter fixiert, aber nicht starr und fertig vorgegeben sein; sie solle für jedes Grundrecht immer wieder neu bestimmt, aber nicht relativiert werden. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 130. 52 BVerfGE 28, 243 (261) (Dienstpflichtverweigerung). 53 BVerfGE 28, 243 (261) (Dienstpflichtverweigerung). Vgl. ferner BVerfGE 30, 173 (195) (Mephisto); 47, 327 (369 f.) (Hessisches Universitätsgesetz); 49, 24 (56) (Kontaktsperre-Gesetz); 81, 278 (293) (Bundesflagge); 100, 271 (283 f.) (Lohnabstandsklausel).

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

Dem Anliegen der Theorie Häberles, der Verschränkung von öffentlichen und privaten Interessen, der Auslegungs- und Konkretisierungsbedürftigkeit der Grundrechte, der Angewiesenheit realer individueller Freiheit auf gesellschaftliche und staatliche Institutionen Rechnung zu tragen, kann man nach der Erfahrung mit dem liberalen Rechtsstaat nur beipflichten. Zu kritisieren ist allerdings das dem Anliegen zugrunde liegende Verständnis der Grundrechte als Werte sowie seine grundrechtsdogmatische Umsetzung. Wie unten behandelt wird, eröffnet auch diese Theorie ein unterstrukturiertes Argumentationsfeld, in dem sich „die subjektive, fallweise Einschätzung von Grundrechtsgebrauch als mehr oder weniger wertvoll durchsetzt“.54

III. Prinzipientheorie der Grundrechte von Robert Alexy Alexy macht sich „die Rehabilitierung der Werttheorie der Grundrechte“ zum erklärten Ziel.55 Dabei behauptet er, dass die Werttheorie des BVerfG durch die Formulierung einer Prinzipientheorie verteidigt werden kann.56 Ebenso ruht das Abwägungsmodell von Alexy auf seiner Prinzipientheorie und ist mit seiner Theorie der juristischen Argumentation verknüpft. Für dieses Modell hat die Abwägungstendenz der Grundrechtsdogmatik einen normtheoretischen Grund. Infolgedessen geht es Alexy darum, auf der Grundlage einer normtheoretisch aufgeklärten Beschreibung der Grundrechte ein rationales Argumentationsangebot für den Umgang mit Abwägungen zu entwickeln.

1. Strukturelle Unterscheidung von Regeln und Prinzipien Für Alexys Grundrechtstheorie ist die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien als zwei verschiedene Gruppen von Normen57 fundamental. Sie sei „ein Schlüssel zur Lösung zentraler Probleme der Grundrechtsdogmatik“ und ohne sie seien weder eine adäquate Schrankentheorie noch eine zufriedenstellende Kollisionslehre möglich.58 Regeln sind nach diesem Ansatz Normen, „die stets nur entweder 54

Zum Ganzen Schlink, EuGRZ 1984, 457, 463. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 18. 56 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 477. 57 Hier sind die Ansätze zu kritisieren, die Normen und Prinzipien gegenüberstellen. Nach Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 72, sind Prinzipien ebenso wie Regeln unter dem Begriff der Norm zusammenzufassen. Beide seien Normen, weil beide sagen, was gesollt sei. Sie seien Gründe für konkrete Sollensurteile, wenn auch Gründe sehr verschiedener Art. 58 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71. Bei einigen Schülern tritt jedoch dieser Doppelcharakter der Grundrechte oder sogar des Rechts gewissermaßen zurück. Grundrechte oder gar moderne Rechtssysteme werden nur noch prinzipiell verstanden. Vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien bzw. Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle, S. 254 f. 55

III. Prinzipientheorie der Grundrechte von Robert Alexy

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erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Wenn eine Regel gilt, dann ist es geboten, genau das zu tun, was sie verlangt, nicht mehr und nicht weniger“. Sie hätten daher den Charakter von definitiven Geboten. Prinzipien seien hingegen „Optimierungsgebote, die dadurch charakterisiert sind, dass sie in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können und das gebotene Maß ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängt. Der Bereich der rechtlichen Möglichkeiten wird durch gegenläufige Prinzipien und Regeln bestimmt.“ Die Prinzipien verlangten also nur, dass etwas in einem relativ auf die tatsächlichen und rechtlichen Optionen möglichst hohen Maße realisiert wird.59 Es gehe nicht um Alles-oder-Nichts-Fragen, sondern lediglich um eine teilweise Realisierung. Prinzipien und Regeln hätten somit einen Strukturunterschied,60 der sich weiterhin auf die Art der Auflösung des Konflikts zwischen Regeln und der Kollision zwischen Prinzipien auswirke. Aus diesem Grundunterschied werden ferner weitere verschiedene Eigenschaften abgeleitet, nämlich, dass Regeln und Prinzipien unterschiedlichen Prima-facieCharakter hätten sowie verschiedene Arten von Gründen für Sollensurteile und von Grundrechtsschranken darstellten. Da die Prinzipien gebieten, dass etwas relativ auf die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten in möglichst hohem Maße umgesetzt wird, enthalten sie nach Alexy keine definitiven, sondern lediglich Prima-facieGebote. Dass ein Prinzip in einem Fall einschlägig sei, bedeute nicht, dass das, was es in diesem Fall fordere, im Ergebnis gelte. Prinzipien hätten keinen Festsetzungsgehalt im Blick auf tatsächliche Möglichkeiten oder kollidierende Prinzipien und könnten deshalb durch gegenläufige Gründe ausgeräumt werden.61 Im Gegensatz dazu verlangten Regeln, genau das zu tun, was sie gebieten, und enthielten deswegen eine Festsetzung im Raum der rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten. Die Unmöglichkeit der Festsetzung könne zu der Ungültigkeit der Regel führen; wenn das aber nicht der Fall sei, gelte, was die Regel sagt, definitiv.62 59 Zum Ganzen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f.; ders., in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 217, 224; ders., Rechtstheorie 18/1987, 405, 407 f. 60 Alexys Unterscheidung geht zwar auf Dworkin zurück. Beide Ansätze weichen allerdings in wesentlichen Punkten voneinander ab. So werden die Prinzipien bei Dworkin nicht als Optimierungsgebote gekennzeichnet und der Unterschied zwischen Prinzipien und Regeln ist auch nicht strukturell. Vgl. auch Alexy, in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 217, 219 ff. 61 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 87 f. 62 Die Regeln verlören ihren strikt definitiven Charakter und erhielten damit eine Art von Prima-facie-Charakter nur durch die Einfügung einer Ausnahmeklausel aus Anlass der Entscheidung eines Falles. Dieser Prima-facie-Charakter der Regel sei allerdings von grundsätzlich anderer Art als der der Prinzipien. Der Prima-facie-Charakter der Regeln, der sich auf die Tatsache einer bereits getroffenen autoritativen oder tradierten Festsetzung stütze, sei eben stärker. Im Gegenteil zu einem Prinzip sei eine Regel deswegen nicht schon dann überspielt, wenn das gegenläufige Prinzip im konkreten Fall ein größeres Gewicht habe als das die Regel stützende Prinzip. Andererseits könne der Prima-facie-Charakter von Prinzipien durch die Annahme einer Argumentationslast zugunsten bestimmter Prinzipien verstärkt werden, so z. B.

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

Eine weitere sich unterscheidende Eigenschaft sei, dass Regeln und Prinzipien Gründe für Normen unterschiedlicher Art darstellen. Während Prinzipien nach diesem Modell immer nur Prima-facie-Gründe sind, enthalten Regeln, wenn nicht eine Ausnahme zu statuieren ist, definitive Gründe. Wenn eine Regel ein Grund für ein zu fällendes konkretes Sollensurteil sei, d. h., wenn die Regel gelte, anwendbar sei und keine Ausnahme zulasse, dann sei sie ein definitiver Grund, und wenn das konkrete Sollensurteil zum Inhalt habe, dass jemandem ein Recht zukomme, dann sei dieses Recht ein definitives Recht. Im Gegensatz dazu bildeten Prinzipien stets nur Prima-facie-Gründe, die für sich genommen nur Prima-facie-Rechte statuierten. Allerdings sei die Feststellung definitiver Rechte eine Voraussetzung für Entscheidungen über Rechte. Deswegen sei, um vom Prinzip (Prima-facie-Recht) zum definitiven Recht zu kommen, die Festsetzung einer Präferenzrelation notwendig, die nach dem Kollisionsgesetz der Feststellung einer Regel entspreche (s. E.III.2.). Das bedeute, dass Prinzipien als solche niemals definitive Gründe darstellten. Ein Prinzip könne nur dann ein im Ergebnis tragender Grund für ein konkretes Sollensurteil sein, wenn es ein Grund für eine Regel sei, die einen definitiven Grund für dieses konkrete Sollensurteil bilde.63 Grundrechtsschranken sind Alexy zufolge Normen, welche die Realisierung grundrechtlicher Prinzipien einschränken und die sowohl Regeln als auch Prinzipien sein können. Eine Regel sei eine Grundrechtsschranke, wenn sie verfassungsmäßig sei und wenn bei ihrer Geltung an die Stelle eines grundrechtlichen Prima-facieRechts oder einer grundrechtlichen Prima-facie-Freiheit ein inhaltsgleiches definitives Nicht-Recht oder eine inhaltsgleiche definitive Nicht-Freiheit trete. Im Gegensatz dazu sei bei Prinzipien, um zu definitiven Einschränkungen zu gelangen, eine Abwägung zwischen dem jeweiligen grundrechtlichen Prinzip und dem einschränkenden Prinzip notwendig. Ein Prinzip bilde dann eine Grundrechtsschranke, wenn es ein Grund dafür sei, dass an die Stelle eines grundrechtlichen Prima-facieRechts oder einer grundrechtlichen Prima-facie-Freiheit ein inhaltsgleiches definitives Nicht-Recht oder eine inhaltsgleiche definitive Nicht-Freiheit trete.64

2. Auflösung der Regelkonflikte bzw. der Prinzipienkollisionen und das Kollisionsgesetz Prinzipienkollisionen und Regelkonflikte sind nach Alexy festzustellen, wenn zwei Normen, jeweils für sich angewendet, zu miteinander unvereinbaren Ergebnissen, also zu zwei sich widersprechenden konkreten rechtlichen Sollensurteilen

die Einfügung einer Argumentationslast zugunsten individueller und zulasten kollektiver Güter. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 88 ff. 63 Zum Ganzen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 90 ff. 64 Zum Ganzen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 255, 257.

III. Prinzipientheorie der Grundrechte von Robert Alexy

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führen.65 Ein Konflikt zwischen Regeln kann ihm zufolge durch zwei Arten gelöst werden: (1) entweder werde eine Ausnahmeklausel, die den Konflikt beseitige, in eine der Regeln eingefügt oder (2) mindestens eine der Regeln werde für ungültig erklärt. Das Problem der Nichtigkeit könne weiter durch Regeln wie lex posterior derogat legi priori und lex specialis derogat legi generalis gelöst werden.66 Anders sei der Fall für Prinzipienkollisionen. Wenn zwei Prinzipien kollidierten, müsse weder ein Prinzip für ungültig erklärt werden noch sei eine Ausnahmeklausel einzubauen. In solchen Fällen müsse eines der beiden Prinzipien lediglich zurücktreten, weil das andere unter bestimmten Umständen vorgehe. Die Vorrangfrage könne allerdings unter anderen Umständen umgekehrt zu lösen sein. Darüber hinaus werden Prinzipienkollision und Abwägung unzertrennlich gebunden. Den Prinzipien kämen in konkreten Fällen unterschiedliche Gewichte zu und das Prinzip mit dem jeweils größeren Gewicht gehe vor. Während Regelkonflikte in der Dimension der Geltung stattfänden, erfolgten somit Prinzipienkollisionen in der Dimension des Gewichts. Aus dieser Sichtweise liegt der Vorteil der Grundrechtsnormen, die einen Prinzipcharakter haben, gerade darin, dass sie im Konfliktfall mit den kollidierenden Prinzipien abgewogen werden können. Durch die Abwägung werde entschieden, welchem der abstrakt gleichrangigen Interessen im konkreten Fall das höhere Gewicht zukomme. In solchen Kollisionsfällen genieße keine der Belange einen absoluten Vorrang.67 Vielmehr werde unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles eine konkrete, relative oder bedingte Vorrangrelation zwischen den Prinzipien festgesetzt. Unter Bezug auf den jeweiligen Fall werden daher nach der Prinzipientheorie Bedingungen angegeben, unter denen der eine Wert dem anderen vorgeht. Die entscheidende Frage ist dann, unter welchen Bedingungen welches Prinzip vorzugehen und welches zurückzuweichen hat. Wie bereits ausgeführt, kommt es nach diesem Modell für die Vorrangigkeit auf das Gewicht des Belanges an. Problematisch ist dann, dass die meisten Verfassungsgüter oder -interessen kein Gewicht in einem quantifizierbaren Sinne haben.68 Darüber hinaus entwickelt der Autor ein „Kollisi65 Obwohl das BVerfG die Kollision oft als Konflikt nennt, solle die von Alexy ausgewählte Terminologie zum Ausdruck bringen, dass Prinzipienkollisionen und Regelkonflikte etwas grundsätzlich anderes seien. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77 (inkl. Fn. 28). 66 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77 f. Ebenso bereits Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 62. 67 Zum Ganzen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79 ff. Auch die Menschenwürde-Norm ist Alexys Auffassung nach kein absolutes Prinzip. Laut ihm enthält die Menschenwürde-Norm sowohl ein Menschenwürde-Prinzip als auch eine Menschenwürde-Regel. Der Regelcharakter werde dadurch erkennbar, dass in Fällen, in denen diese Norm einschlägig sei, nicht gefragt werde, ob sie anderen Normen vorgehe oder nicht, sondern lediglich, ob sie verletzt sei oder nicht. Allerdings bestehe wegen der Offenheit der Menschenwürde-Norm ein weiter Spielraum bei der Festlegung, unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt sein würde, und bei dieser Festlegung gebe es die Möglichkeit der Abwägung. Ebd., S. 95 ff. 68 In diesem Sinne lehnt Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 132, 141 f., eine Metrisierung durch Zahlenwerte im Verfassungsrecht ab und bekräftigt, dass zwischen den drei Wertur-

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

onsgesetz“, das den Charakter der Prinzipien als Optimierungsgebote widerspiegele und den Zusammenhang zwischen Grundrechtsnormen als Prinzip und entscheidungsbezogenen grundrechtlichen Regeln bestimmen könne. Dieses Kollisionsgesetz lautet: „Die Bedingungen, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht, bilden den Tatbestand einer Regel, die die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips ausspricht.“69 Um dieses Kollisionsgesetz näher zu erklären, nimmt Alexy zwei der zahlreichen Güterabwägungen des BVerfG in Anspruch70, nämlich den Verhandlungsunfähigkeitsbeschluss71 und das Lebach-Urteil. Im Folgenden wird seine Analyse der zweiten Entscheidung nachvollzogen. Dem Lebach-Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das ZDF beabsichtigte die Ausstrahlung eines Dokumentarfernsehspiels, das von einem Verbrechen berichten sollte, bei dem vier schlafende Soldaten der Wachmannschaft eines Munitionsdepots der Bundeswehr bei Lebach getötet und Waffen in der Absicht, mit ihnen weitere Straftaten zu begehen, erbeutet wurden. Ein wegen Beihilfe an diesem Verbrechen Verurteilter, der zu dem Zeitpunkt der geplanten Ausstrahlung kurz vor seiner Entlassung stand, war der Meinung, dass die Ausstrahlung des Fernsehspiels, in dem er genannt und im Bilde vorgeführt werden sollte, seine Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG verletzen würde, und besonders deswegen, weil sie seine Resozialisierung gefährden würde. Das BVerfG prüfte dabei zuerst, ob die Ausstrahlung für die vom ZDF verfolgten Ziele geeignet und erforderlich war. Zu diesen Zielen zählten u. a. die Aufklärung der Bevölkerung über die Wirksamkeit der Strafverfolgung, eine abschreckende Wirkung auf potentielle Täter und eine Stärkung der öffentlichen Moral und sozialen Verantwortung.72 Weiterhin analysierte das

teilsformen, nämlich klassifikatorisch, metrisch und komparativ, die dritte die größte Bedeutung für das Verfassungsrecht hat. 69 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 84, 104; ders., Rechtstheorie 18/1987, 405, 414. 70 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79 ff. 71 BVerfGE 51, 324. In diesem Fall ging es um die Zulässigkeit der Durchführung einer Hauptverhandlung gegen einen Beschuldigten, dem wegen der Belastungen eines solchen Verfahrens die Gefahr eines Schlaganfalls und eines Herzinfarkts drohte. Hier wurde ein Spannungsverhältnis „zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Interesse des Beschuldigten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte, zu deren Schutz das Grundgesetz den Staat ebenfalls verpflichtet“, festgestellt (BVerfGE 51, 324/345). Anders formuliert: Es bestand ein Konflikt zwischen dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege. Das Gericht entschied dabei, dass, wenn die Durchführung der Hauptverhandlung die konkrete Gefahr bringt, dass der Beschuldigte sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, die Fortsetzung des Verfahrens (Eingriff) das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und damit das Grundrecht des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (BVerfGE 51, 324/346) verletzt. Die Vorrangbedingung (Gefahr von Lebenseinbuße oder Gesundheitsschaden) entspreche nach Alexy einer Grundrechtsverletzung (Rechtsfolge). 72 BVerfGE 35, 202 (243) (Lebach).

III. Prinzipientheorie der Grundrechte von Robert Alexy

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Gericht die Proportionalität durch die Güterabwägung als dritte Stufe der Verhältnismäßigkeit i. w. S.73 Das BVerfG stellte hierbei zunächst fest, dass eine Spannungslage zwischen dem in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Schutz der Persönlichkeit und der Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG besteht.74 Auf einer zweiten Stufe kam es zu einem generellen Vorrang der Freiheit der Berichterstattung des Rundfunks im Falle einer aktuellen Berichterstattung über Straftaten.75 Das ist allerdings nur ein grundsätzlicher Vorrang, was nicht bedeutet, dass jede aktuelle Berichterstattung erlaubt wäre. Die Entscheidung wurde dann nach Alexy auf der dritten Stufe der Abwägung getroffen. Hier legte das Gericht fest, dass im Falle einer wiederholten – nicht mehr durch das aktuelle Informationsinteresse gedeckten – Fernsehberichterstattung über eine schwere Straftat, welche die Resozialisierung des Täters gefährdet, der Persönlichkeitsschutz der Freiheit der Berichterstattung vorgeht. Im zu entscheidenden Fall war die Berichterstattung daher verboten.76 Die Bedingungen der Vorrangrelation bildeten die Tatbestandsmerkmale einer Regel, die laute: Eine wiederholte, nicht mehr durch das aktuelle Informationsinteresse gedeckte Fernsehberichterstattung über eine schwere Straftat, welche die Resozialisierung des Täter gefährdet (Bedingung), sei grundrechtlich verboten (Rechtsfolge).77 Die Bedingung der Vorrangrelation sei folglich gleichzeitig die Tatbestandvoraussetzung einer Regel, welche beim Vorliegen der Vorrangbedingung die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips vorschreibe. Die Präferenzsätze korrespondierten daher mit Regeln, die darüber hinaus den Grundrechtsbestimmungen zuzuordnen seien. Das Abwägungsergebnis ist somit nach diesem Modell eine zugeordnete Grundrechtsnorm und genau aus der Formulierung dieser Norm ergibt sich für Alexy die Richtigkeit der Abwägung: „Als Ergebnis jeder richtigen grundrechtlichen Abwägung lässt sich eine zugeordnete Grundrechtsnorm mit Regelcharakter formulieren, unter die der Fall subsumiert werden kann.“78 Die Kritik, dass Abwägungen zu Einzelentscheidungen führen, treffe daher nicht zu. Die Abwägungsentscheidungen als richterliche Entscheidungen ergingen zwar in der Regel zur Lösung eines Einzelfalles. In dem Maße, wie das Abwägungsergebnis einen be73 Vgl. aber die Rekonstruktion der Verhältnismäßigkeitsüberlegungen dieser Entscheidung als Erforderlichkeitsprüfung in Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 34; dagegen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 85, Fn. 48. 74 BVerfGE 35, 202 (225) (Lebach). 75 BVerfGE 35, 202 (231) (Lebach). 76 BVerfGE 35, 202 (237) (Lebach). 77 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 86; ders., in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 217, 230 f. 78 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 87. Fraglich ist hierbei, ob und wie sich diejenigen definitiven Regeln, die das Ergebnis eines grundrechtlichen Abwägungsverfahrens sind, konzeptuell von den übrigen definitiven Regeln unterscheiden. Kritisch Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 273.

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

dingten Präferenzsatz bilde, der nach dem Kollisionsgesetz einer Regel entspreche, seien Einzelfallabwägung und Universalisierbarkeit miteinander verbunden.79 Folglich habe die Begründung von Präferenzsätzen den Charakter der Begründung von relativ konkreten Regeln, die durch die allgemeinen juristischen Argumente begründet werden könnten.80 Nun kann jede Entscheidung unabhängig vom sog. Kollisionsgesetz generalisiert und somit als eine „Entscheidungsregel“ angesehen werden. Dazu kommt, dass allgemeine juristische Argumente auf keinen Fall nur als abwägungsspezifische Begründung dienen können. In der Tat ist das, was Alexy als Entscheidungsregel bezeichnet, nichts anderes als eine Präzedenz. Die Universalisierung einer Entscheidung als Präjudiz folgt aber nicht aus dem Kollisionsgesetz, sondern vielmehr aus den Grundsätzen der Gleichheit und Rechtssicherheit.81 Wo die Fälle hinreichend gleich sind, sind derartige Entscheidungsregeln immer wieder anzuwenden, sofern kein hinreichender Grund für eine Abweichung vorliegt.

3. Werttheorie der Grundrechte, Abwägungsgesetz und Rationalität der Abwägung Werttheoretische Annahmen haben einen so breiten Eingang in die Rechtsprechung des BVerfG gefunden, dass inzwischen der Doppelcharakter der Grundrechte zum Grundbestand der Grundrechtsdogmatik gehört: Grundrechte als subjektive Abwehrrechte und als objektive Wertentscheidungen. Alexy selbst unterscheidet zwar den Prinzipbegriff vom Wertbegriff, möchte trotzdem die Wertorientierung des BVerfG ausdrücklich verteidigen. Der Unterscheidung nach gehören die Prinzipien dem deontologischen Bereich an, während die Werte axiologische Begriffe sind. Die deontologischen Begriffe seien auf Sollensbegriffe zurückzuführen, wie z. B. das Gebot, das Verbot, die Erlaubnis und das Recht auf etwas. Demgegenüber bezögen sich die axiologischen Begriffe nicht auf Gebote oder Sollen, sondern darauf, was das Gute sei, was z. B. als schön, sicher, freiheitlich oder rechtsstaatlich gelten könne. Da die Prinzipien nach diesem Ansatz Gebote bestimmter Art seien, nämlich Optimierungsgebote, würden sie den deontologischen Ebenen zugeordnet.82 Die Anwendung von Werten, die auch als Bewertungskriterien bezeichnet werden, korre-

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Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 152. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 144 f. So könne die Begründung durch sonstige canones der Auslegung, dogmatische, präjudizielle, allgemeine praktische und empirische Argumente sowie durch die spezifisch juristischen Argumentationsformen erfolgen. Beispiele dazu seien der Wille des Verfassungsgebers, der dogmatische Konsens und frühere Entscheidungen. s. u. E.III.4.; auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 285 ff. 81 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 339 f., selbst führt diese Grundsätze u. a. zur Begründung der Hauptregeln der Präjudizienverwendung an. 82 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 126 f. 80

III. Prinzipientheorie der Grundrechte von Robert Alexy

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spondiere allerdings mit der Anwendung von Prinzipien und natürlich auch umgekehrt.83 Zwar sei das, was im Prinzipienmodell prima facie gesollt sei, im Wertemodell prima facie das Beste, und ebenso sei das, was im Prinzipienmodell definitiv gesollt sei (Regeln), im Wertemodell definitiv das Beste (Bewertungsregeln); gleichwohl bestehe eine strukturelle Übereinstimmung zwischen Prinzipien und Werten. Deswegen ist es Alexys Auffassung nach nicht problematisch, von der Feststellung, dass eine bestimmte Lösung vom Standpunkt des Verfassungsrechts aus die beste ist, zu der Feststellung, dass sie verfassungsrechtlich gesollt ist, überzugehen.84 Ebenfalls akzeptiert er komparative Werturteile im Verfassungsrecht.85 Dadurch dass Prinzipien und Werte in derselben Weise angewendet werden, verliert freilich die dargestellte Differenzierung zwischen deontologischem und axiologischem Charakter letztlich ihren Sinn. So bekräftigt der Autor: „Jede Prinzipienkollision kann als Wertekollision und jede Wertekollision kann als Prinzipienkollision dargestellt werden“.86 Diesem Modell zufolge kann somit im Ergebnis ebenso von einer Prinzipienkollision und einer Abwägung zwischen Prinzipien wie von einer Wertekollision und einer Abwägung zwischen Werten gesprochen werden. Ferner entspreche der gradweisen Erfüllung von Prinzipien die gradweise Realisierung von Werten. So ließen sich letztendlich Sätze über Prinzipien in Sätze über Werte und Sätze über Werte in Sätze über Prinzipien ohne Gehaltverlust umformulieren.87 Entsprechend stimmt Alexy der Annahme einer Wertordnung durch das BVerfG zu. Er erkennt zwar an, dass eine Rangordnung grundrechtlicher Werte inakzeptabel und dass eine Ordnung der Werte oder Prinzipien, die das grundrechtliche Entscheiden in allen Fällen intersubjektiv festlegt, nicht möglich ist.88 Allerdings lehnt er damit nur eine sog. harte und keine weiche Wertordnung ab. Genau eine solche weiche Ordnung sei jedoch durch die Abwägungen des BVerfG und das sich dadurch ergebende Netzwerk konkreter Präferenzentscheidungen entstanden.89 Darüber hinaus beschränkt Alexy die weiteren vorhandenen Einwände gegen die Werttheorie und das Abwägungsmodell nur auf zwei Analyseebenen:90 auf der einen 83 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 131. Prinzipien und Werte seien daher dasselbe, einmal in deontologischem und einmal in axiologischem Gewand. 84 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 133 f.; ders., Rechtstheorie 18/1987, 405, 409; ders., in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 217, 228 f., wo der Autor ferner bekräftigt, dass das Rechtssystem sowohl deontologische als auch axiologische Elemente umfasst. 85 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 132. 86 Alexy, Rechtstheorie 18/1987, 405, 409. 87 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 125. 88 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 139 – 142; ders., in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 217, 229. s. diesbezüglich auch Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 130 ff., 154 ff. 89 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 142 f. 90 Nach Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 136 – 142, richtet sich die Kritik an einer harten Wertordnung oder an Werten, die Gegenstände von irgendwelchen Evidenzen sind, nicht gegen

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

die Einwände, dass die Abwägung kein rationales oder ein irrationales Verfahren sei, auf der anderen die liberalen und rechtsstaatlichen Einwände. Auf die methodologische Kritik, dass die Abwägung kein rationales Verfahren sei, antwortet Alexy mit Hinweis auf die Diskurstheorie: „Eine Abwägung ist rational, wenn der Präferenzsatz, zu dem sie führt, rational begründet werden kann“, d. h. rationale Begründung von Sätzen, die bedingte Präferenzen zwischen gegenläufigen Werten festsetzen.91 Die Abwägung als sog. Begründungsmodell unterscheide dann zwischen dem psychischen Vorgang, der zur Festsetzung des Präferenzsatzes führe, und dessen Begründung, die kontrollierbar sei. Um abwägungsspezifische Argumente, d. h. spezifische für die Begründung von Präferenzsätzen, vorzulegen, formuliert der Autor ferner, ausgehend von Äußerungen des BVerfG, das bereits erwähnte Abwägungsgesetz: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muss die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein“. Die Wichtigkeit der Erfüllung des einen Prinzips müsse demnach das bei dessen Erfüllung erforderliche Maß der Nichterfüllung des anderen rechtfertigen. Oder noch anders gewendet: Es komme für das zulässige Maß der Nichtrealisierung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips auf den Wichtigkeitsgrad der Realisierung des anderen an. Da die Prinzipien als Optimierungsgebote – die relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten erfüllt werden können – definiert sind, hänge das Maß ihrer Erfüllung von einer Relation mit gegenläufigen Prinzipien ab. Das Abwägungsgesetz sage dann, worin dieses Verhältnis bestehe, und mache klar, dass das Gewicht von Prinzipien nicht an sich oder absolut bestimmbar sei, sondern dass immer nur von relativen Gewichten die Rede sein könne.92 Die Abwägung sei somit kein abstraktes oder pauschales Verfahren. Ebenfalls biete das Abwägungsgesetz kein definitives Entscheidungsverfahren,93 sondern eine Regel, die vorsehe, wie abzuwägen sei. Es sage, was in Abwägung wichtig sei, nämlich dass sich eine sehr intensive Beeinträchtigung (Nichterfüllung) nur durch einen sehr hohen Wichtigkeitsgrad der Erfüllung (Nichtbeeinträchtigung) des gegenläufigen Prinzips rechtfertigen lasse. Es sage noch nicht, wann das der Fall sei, aber schon, was zu begründen sei, um den bedingten Präferenzsatz, der das Ergebnis der Abwägung sei, zu rechtfertigen, nämlich Sätze über Beeinträchtigungs- und Wichtigkeitsgrade.94 Daher sei die Abwägung keine Leerformel. Hierbei verhelfe außerdem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu einer rationalen Abwägung; denn durch ihn werde sichergestellt, dass die Abwägung die Ebene der Richtigkeit und Begründung nicht verlasse. In diesem Zusammenhang erkennt Alexy aber an, eine weiche Wertordnung oder gegen Werte als Bewertungskriterien und folglich sagt sie nichts gegen das Konzept der Abwägung. 91 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 144. 92 Zum Ganzen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 146. 93 Es gehe immer um die Bestimmung der Beeinträchtigung des einen Prinzips durch eine bestimmte Lösung eines bestimmten Falles und die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen Prinzips in diesem Fall. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 146, Fn. 218. 94 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 149 f.

III. Prinzipientheorie der Grundrechte von Robert Alexy

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dass das Abwägungsgesetz keinen Maßstab formuliert, mit dessen Hilfe Fälle definitiv entschieden werden können, und dass weiterhin die Argumente, die zur Begründung jener Sätze angeführt werden können, nicht abwägungsspezifisch sind. Die Rationalität der Abwägung hänge daher wiederum von der allgemeinen juristischen Argumentation ab.95 Gegen die liberale und rechtsstaatliche Kritik, dass eine Werttheorie der Grundrechte zur Zerstörung grundrechtlicher Freiheit im liberalen Sinne führe, argumentiert Alexy, dass die rechtliche Freiheit ein Wert unter anderen sei, und dass sie angesichts gegenläufiger Prinzipien sehr unterschiedlich gewichtet werden könne, was dazu führe, dass sich die Werttheorie der Grundrechte als solche gegenüber der rechtlichen Freiheit neutral verhalte.96 Dem rechtsstaatlichen Einwand, dass eine Werttheorie die Bindung an die Verfassung nicht ernst nehme, zu interpretatorischer Willkür und damit zu Verfassungsunsicherheit führe, widerspricht Alexy zum einen mit Hinweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und zum anderen mit dem „Argument“, dass es keine andere akzeptable Alternative gebe. Die Ablehnung der Charakterisierung der Prinzipien als Optimierungsgebot impliziere das Leugnen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes selbst. Dieser Grundsatz ermögliche, dadurch dass die Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte durch ihn bestimmt werden könne, die Sicherstellung der normativen Kraft der Grundrechte.97 Ein Modell, das die Grundrechtsnormen als abwägungsfrei ansehe (sog. Regelmodell), sei schließlich legalistisch, unzureichend und inadäquat, weil Abwägungen eigentlich unausweichlich seien.98

4. Der juristische Diskurs als Sonderfall des moralischen Diskurses Alexys Theorie der juristischen Argumentation geht davon aus, dass sich das juristische Begründen letzthin immer auf praktische Fragen bezieht (was geboten, verboten und erlaubt sowie was gut und schlecht ist). Der juristische Diskurs sei darüber hinaus ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses und die Ra95

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 152; ders., in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 217, 232. 96 Eigentlich kann die Prinzipientheorie praktisch jede Kritik, die an ihr geäußert wird, auf ein Prinzip zurückführen und in sich aufnehmen, indem sie es in die Güterabwägung einstellt (s. E.III.5.). Wird z. B. gegen dieses Modell angeführt, dass es den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu stark einschränke, so kann der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zum formalen Prinzip erhoben werden, das Eingang in die Abwägung finden muss, sodass der Vorwurf gegenstandslos zu werden scheint. Vgl. in diesem Sinne Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 251, 126 ff. Zu den formellen Prinzipien auch Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle, S. 147 ff., 251. 97 Vgl. Alexy, Cardozo L. Rev. 17/1996, 1027, 1031: „(…) for the principle of proportionality, with its three subrules, implies the thesis of optimization, and vice versa.“ 98 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 106 ff., 154 ff.; ders, Rechtstheorie 18/1987, 405 ff.

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

tionalität juristischen Begründens hänge von der rationalen Begründbarkeit allgemeiner moralischer Urteile ab.99 Beide Diskurse seien in gleicher Weise am Prinzip der Universalisierbarkeit und an bestimmten Diskursregeln orientiert. Weil die juristische Argumentation aber unter einer Reihe von einschränkenden Bedingungen stattfinde – nämlich die Bindung an Gesetz, Präjudiz und Dogmatik –, sei sie ein Sonderfall. Diese Bindungen an autoritativ vorgegebenes Material führten allerdings nicht in allen Fällen zu genau einem Ergebnis und in den problematischen Fällen seien dann Wertungen notwendig. Hinsichtlich der Rationalität des juristischen Diskurses komme es dann grundsätzlich darauf an, inwieweit diese zusätzlichen Wertungen rational kontrollierbar seien.100 In Bezug auf die rationale Begründbarkeit allgemeiner praktischer oder moralischer Urteile erkennt Alexy zwar an, dass materiale Moraltheorien, die auf jede moralische Frage mit zwingender Gewissheit genau eine Antwort gäben, nicht realisierbar seien. Ihr gegenüber seien aber prozedurale Moraltheorien möglich, die Bedingungen oder Regeln rationalen praktischen Entscheidens oder Argumentierens formulierten.101 Hierbei bleibe allerdings ein weiter Raum für verschiedene mögliche Ergebnisse. Um dieses Problem zu lösen, stellt Alexy eine Verbindung zwischen der Moraltheorie und der Theorie des Rechts durch ein prozedurales Modell her, das vier Stufen hat, nämlich (1) der allgemeine praktische Diskurs, (2) das Gesetzgebungsverfahren, (3) der juristische Diskurs und (4) das Gerichtsverfahren.102 Dieses Modell müsse jedoch zum Erfassen der grundrechtlichen Argumentation angepasst werden. Denn der grundrechtliche Diskurs sei nicht an die durch das Gesetzgebungsverfahren 99

Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 32 ff., 261 ff., 349 ff.; ders., Theorie der Grundrechte, S. 498 f. 100 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 498 f.; ders., Rechtstheorie 18/1987, 405, 418. 101 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 499. 102 Das Regelsystem des allgemeinen praktischen Diskurses drücke ein allgemeines Gesetzbuch der praktischen Vernunft aus, gebe aber keinesfalls genau eine Antwort auf jede Frage. Indem die sozialen Konflikte jedoch genau eine Lösung verlangten, sei eine institutionalisierte Prozedur der Rechtserzeugung erforderlich, in der nicht nur argumentiert, sondern auch entschieden werde. Diese Prozedur bilde das Gesetzgebungsverfahren des demokratischen Verfassungsstaats, das angesichts der faktischen Möglichkeiten über ein beträchtliches Maß an praktischer Rationalität verfüge und deshalb im Rahmen der ersten Prozedur gerechtfertigt werden könne. Allerdings könne auch das Gesetzgebungsverfahren niemals für jeden Fall von vornherein genau eine Lösung festlegen. Darüber hinaus komme die Prozedur des juristischen Diskurses in Betracht, die wie die erste nicht in einem strengen Sinne institutionalisiert sei, aber anders als diese unter der Bindung an Gesetz, Präjudiz und Dogmatik stehe. Diese Bindung verringere zwar die Ergebnisunsicherheit, die aber aufgrund der Erforderlichkeit allgemeiner praktischer Argumentation im Rahmen der juristischen Argumentation nicht beseitigt werde. Dies begründe die Notwendigkeit der vierten Prozedur, nämlich der des gerichtlichen Verfahrens, die wiederum im strengen Sinne institutionalisiert sei, d. h. in der nicht nur argumentiert, sondern auch entschieden werde. Die Wertungsfragen im Gerichtsverfahren könnten dann z. T. im Rahmen von Bindungen entschieden werden. Wenn das aber nicht der Fall sei, könnten sie infolge rationaler praktischer Argumentation entschieden werden, was der Entscheidung auch dann einen rationalen Charakter gebe. Zum Ganzen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 500 f.

III. Prinzipientheorie der Grundrechte von Robert Alexy

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getroffenen Entscheidungen gebunden, sondern diesen vorgeordnet. An die Stelle der wichtigen Bindung an das Gesetz träten die sehr abstrakten und offenen Grundrechtsbestimmungen.103 Dies werfe wiederum die Frage nach der Möglichkeit einer rationalen Kontrollierbarkeit der grundrechtlichen Argumentation und Entscheidung auf. Statt von Bindung an Gesetz solle dann bei der grundrechtlichen Argumentation von Bindung an den Wortlaut der Grundrechtsbestimmungen und an den Willen des Verfassungsgebers104 gesprochen werden. Bei der Ermittlung von Wortlaut und Wille spielten die Regeln und Formen der semantischen und der genetischen105 Interpretation eine besondere Rolle. Der systematischen, der historischen und der komparativen Interpretation komme hingegen lediglich eine ergänzende Rolle zu.106 Alexy sieht, dass die semantische und die genetische Interpretation, für sich genommen, gänzlich unzureichend für die Bindung der grundrechtlichen Argumentation sind. Aber immerhin könnten sie dazu Beiträge leisten.107 Es ist allerdings bereits hier anzumerken, dass der Autor das semantische Argument auf den Wortlaut der Grundrechtsbestimmungen begrenzt. Nicht zum Kontext der Bindung durch Gesetz zähle daher die sog. objektiv-teleologische Auslegung, die sich auf Zwecke beziehe, die vom Interpreten dem Gesetz zugeordnet seien.108

103

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 501. Es ist immer wieder zu Recht hervorgehoben worden, dass von der Metapher des allmächtigen Autors Abschied genommen werden muss. Eine bestimmte Absicht lässt sich nur im Rahmen einer bestimmten Sprache ausdrücken. Die Absicht ist also nicht vom Sprachsystem unabhängig und folglich kann man nicht von einem vor-ausdrücklichen Willen auf die Bedeutung des Textes schließen, sondern lediglich umgekehrt von der Bedeutung eines Textes zurück auf den Willen. Der gesetzgeberische Wille kann daher nicht als maßgeblicher Punkt außerhalb der Sprache verstanden werden, welcher gegenüber der Vielfalt der Interpretationen den identischen Textsinn wahrt. Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 369, Rn. 361d. Vgl. auch Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 54: „die Autoren wissen zwar, was sie beabsichtigen, aber sie wissen auch, dass sie ihrer ursprünglichen Absicht nur die beschränkte Maßgeblichkeit geben können, die der Text transportiert.“ Zur falsifikationischen Rekonstruktion der grammatischen und genetischen Elemente sowie der Folgediskussion Schlink, Der Staat 19/1980, 73, 92 ff. 105 Zur genetischen Interpretation gehöre auch die subjektiv-teleologische Interpretation, bei der es um Zwecke gehe, die der Verfassungsgeber mit den Grundrechtsbestimmungen verbunden hat. 106 Vgl. hierzu Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 289 ff.; ders., Theorie der Grundrechte, S. 502 ff. 107 Wenn der Wortlaut einer Grundrechtsbestimmung eine bestimmte Interpretation verlange oder ausschließe, binde er die grundrechtliche Argumentation, aber nur insoweit, dass eine Argumentationslast zu seinen Gunsten bestehe. Allerdings erkennt Alexy das Problem, dass zwar nicht alles, aber schon vieles mit dem abstrakten Wortlaut der Grundrechtsbestimmung vereinbar ist. Entsprechendes gelte für die Entstehungsgeschichte: Wenn sich aus ihr etwas Eindeutiges für oder gegen eine bestimmte Auslegung ergebe, binde sie als Argumentationslast. 108 Zum Ganzen: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 501 ff. 104

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

Wie bei der allgemeinen juristischen Argumentation bildeten die Präjudizien das zweite Stück der Basis grundrechtlicher Argumentation. Bei der Bindung dieser Argumentation spielten sie eine erhebliche Rolle. In diesem Sinne lauteten die beiden Hauptregeln der Präjudizienverwertung: „(1) Wenn ein Präjudiz für oder gegen eine Entscheidung angeführt werden kann, ist es anzuführen; (2) Wer von einem Präjudiz abweichen will, trägt die Argumentationslast.“109 Das bedeute, dass sich aus jeder Entscheidung des BVerfG infolge des Universalisierbarkeitsprinzips eine mehr oder weniger konkrete Entscheidungsregel ergebe. Derartige Entscheidungsregeln würden bei ausreichend gleichen Fällen immer wieder Anwendung finden. Ihre präjudizielle Kraft zeige sich aber auch, wenn das Gericht sie auf Fälle mit neuen Merkmalen erstrecke, sowie in den Fällen, in denen es aufgrund des Vorliegens eines neuen Merkmals eine solche Erstreckung nicht vornehme. Die Entscheidungsregeln des BVerfG bildeten zusammen ein relativ umfassendes und dichtes Netzwerk von Normen, das durch jede neue Entscheidung verdichtet werde. Daraus folge aber nicht zu viel Bindung, weil die Entscheidungsregeln nur eine Prima-facie-Bindung hätten. Die Präjudizien trügen daher zwar zur Sicherheit der grundrechtlichen Argumentation Unverzichtbares bei, genügten aber allein der rationalen Kontrolle des grundrechtlichen Begründens auch nicht. Neue Fälle wiesen immer neue Merkmale auf, die als Gründe für eine Differenzierung herangezogen werden könnten. Somit könne, wenn ausreichende Gründe dafür vorgetragen werden könnten, eine Entscheidungsregel aufgegeben werden.110 Insoweit ist Alexy völlig im Recht. Andererseits ist aber festzustellen, dass er das BVerfG als einzigen Interpreten des Grundgesetzes ansieht und überschätzt. So bekräftigt er, dass das Grundgesetz praktisch so gelte, wie es das BVerfG auslege.111 Das dritte Stück der Basis grundrechtlichen Argumentierens bilde die Dogmatik, insbesondere die sog. materialen Grundrechtstheorien (Theorien relativ hohen Abstraktionsgrades). Obwohl sie darauf Bezug nähmen, stützten sie sich weder unmittelbar auf die Autorität der Verfassung noch unmittelbar auf die Autorität der Präjudizien des BVerfG. Gesetz, Präjudiz und Dogmatik stellten eine Linie deutlich reduzierender autoritativer Kraft dar. Fänden materiale Theorien breite Zustimmung, 109

Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 339 f. Zum Ganzen: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 506 f. 111 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 504. Ähnlich Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 582 (Art. Bundesverfassungsgericht): „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne.“ Vgl. dazu auch Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, S. 265, Rn. 475. Solche Annahmen zeigen jedoch eine gewisse Geringschätzung für die Existenz eines Hintergrundbildes, das sich aus Vorurteilen und Entwürfen zusammensetzt, die wohl auch die Interpretationen des BVerfG beeinflussen. Wie bereits dargestellt wurde (B.IV.2.), wird die Verfassung im prozeduralistischen Rechtsparadigma als ein anspruchsvoller Prozess der Rechtsverwirklichung angesehen, in dem alle beteiligten Akteure ihren Beitrag dazu leisten können, wie der normative Gehalt des demokratischen Rechtsstaates im Horizont vorgefundener gesellschaftlicher Strukturen und Tendenzen wirksam ausgeschöpft werden kann. Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 477. 110

III. Prinzipientheorie der Grundrechte von Robert Alexy

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dann verfügten sie zwar über das Gewicht einer herrschenden Meinung, diese lasse sich allerdings jederzeit durch Argumente erschüttern. Ihnen komme somit der Charakter einer im Wesentlichen nicht autoritativ, sondern argumentativ gestützten Basis grundrechtlicher Argumentation zu.112 Es bestehen verschiedene Konstruktionen von Grundrechtstheorien.113 Alexy geht davon aus, dass eine materiale Grundrechtstheorie nur in Form einer Prinzipientheorie möglich sei, und ferner, dass eine Werttheorie der Grundrechte unerlässlich sei.114 Weiterhin vertritt er eine Prinzipientheorie, die von einem Bündel grundrechtlicher Prinzipien ausgehe und diese durch Prima-facie-Vorränge zugunsten der Prinzipien der rechtlichen Freiheit und der rechtlichen Gleichheit in eine weiche Ordnung bringe.115 Diese dargelegte Basis determiniere und strukturiere die grundrechtliche Argumentation ein Stück weit auf rationale Weise. Die Determinierung sei aber noch unvollständig, was zu einer begrenzten Kontrollierbarkeit und somit zu einer Rationalitätslücke führe. In diese Rationalitätslücke trete dann schließlich der Prozess der grundrechtlichen Argumentation: der grundrechtliche Diskurs. Dieser beinhalte aber die allgemeine praktische Argumentation als notwendigen Bestandteil, was zur Ergebnisunsicherheit und somit zur Erforderlichkeit autoritativen grundrechtlichen Entscheidens führe. Darüber hinaus sei die Institutionalisierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit vernünftig, deren Entscheidungen der Begründung und Kritik im rationalen grundrechtlichen Diskurs bedürftig und fähig seien.116

5. Kritische Bemerkungen Soweit die Einwände gegen die Theorie von Alexy und seinen Schülern in engerem Zusammenhang mit problematischen Aspekten des Abwägungspragmatismus oder auch des wertorientierten Grundrechtsverständnisses stehen, werden sie im nächsten Kapitel behandelt. Da es sich aber bei diesem Modell um eine besonders radikale und einflussreiche Deutung handelt, die eine bestimmte rechtstheoretische und methodische Sicht auf die Grundrechte projiziert, bedarf es auch einer grundsätzlichen Kritik. Hier werden somit grundlegende Bedenken erörtert, die sich spezifisch gegen dieses Denken richten. Die Prinzipientheorie von Alexy gewinnt ihre große Anziehungskraft aus einem Vorzug, der gleichzeitig einen großen Mangel darstellt: Sie besitzt nämlich ein fast 112

Zum Ganzen: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 509. Diese Theorien können unterschiedlich eingeordnet werden. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1530, beispielsweise nennt fünf verschiedene Grundrechtstheorien: die liberale, institutionelle, wertorientierte, demokratisch-funktionale und die sozialstaatliche Grundrechtstheorie. 114 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 509, 512. 115 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 520. 116 Zum Ganzen: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 520 f. 113

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

unbeschränktes Beschreibungspotential. Was auch immer entschieden wird, lässt sich als Optimierung unterschiedlicher Prinzipien im Einzelfall erklären. Sie vermag somit alle Grundrechtsentscheidungen zu beschreiben, aber zugleich gibt sie der grundrechtlichen Argumentation sehr wenige Unterscheidungen vor, die es erlauben würden, bestimmte Ergebnisse auch auszuschließen. Symptomatisch für diese Grenzenlosigkeit ihres Deutungspotentials ist die Tatsache, dass in den tausenden Seiten, die Prinzipientheoretiker über die Grundrechtsrechtsprechung geschrieben haben, kaum eine im Ergebnis kritische Auseinandersetzung mit einer Entscheidung zu finden ist. Ebenso kann die Prinzipientheorie fast jede Kritik, die an ihr geäußert wird, auf ein (materielles oder formelles) Prinzip zurückführen und in sich aufnehmen, indem sie es in die Abwägung einstellt. Doch, wie Poscher beobachtet, dass sich diese Theorie gegen Kritik zu immunisieren vermag, mache sie aus wissenschaftstheoretischer Perspektive eher verdächtig – zumindest soweit in der Falsifizierbarkeit einer Theorie ein Kriterium ihrer Wissenschaftlichkeit gesehen wird.117 Die Prinzipientheorie müsse nichts ausgrenzen und könne auch das einfangen, was mit anderen Konzeptionen nicht mehr zu beschreiben sei bzw. als Bruch erscheine. Somit bleibe ihr Erklärungswert im Sinne einer großen Orientierungsleistung auch gering. Erklärungen sollten uns nämlich eine Orientierung in der Welt ermöglichen. Das Modell von Alexy gebe aber wenige Strukturen bzw. Unterscheidungen vor, an denen eine solche Orientierung anknüpfen könnte.118 Gerade der kategoriale normstrukturelle Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien (sowie seine Verbindung mit verschiedenen Anwendungsweisen) ist in der von Alexy und dessen Schülern apostrophierten Weise nicht haltbar. In der Tat hat Alexys Differenzierungsvorschlag weniger mit der Normstruktur als mit dem kontingenten Inhalt und der Anwendung von Normen in komplexen Situationen zu tun. In diesem Sinne beobachtet Günther, dass der Unterschied eher darin bestehe, ob wir eine Norm als Regel behandeln, indem wir sie ohne Rücksicht auf die ungleichen Merkmale der Situation anwenden, oder ob wir eine Norm als Prinzip behandeln, indem wir sie unter Berücksichtigung aller (tatsächlichen und rechtlichen) Umstände einer Situation anwenden. Die unterschiedlichen Behandlungsarten hängen aber nicht von der Normstruktur selbst ab, sondern nur davon, ob wir sie ohne oder mit Rücksicht auf die besonderen Umstände einer Situation anwenden. Dass bestimmte Normen Angemessenheitsargumentationen119 verlangen, zeigt sich eigentlich erst in 117 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 76. Exemplarisch Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle, S. 251: „Für die Adäquatheit des (durch formelle Prinzipien modifizierten) Prinzipienmodells lässt sich als starkes und allgemeines Argument anführen, dass es seiner Konzeption nach geeignet sei, alle Aspekte, die für die Begründung richterlicher Entscheidungen von Bedeutung sind, als Prinzipien in sich aufzunehmen.“ Zu den formellen Prinzipien ebd., S. 147 ff.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 127 ff., 251. 118 Zum Ganzen Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 75 ff., 81 f.: „Dem prinzipientheoretischen Denken ist nichts fremd.“ Indem es für alles offen ist und nur Offensichtliches ausschließt, bleibt auch fast alles möglich. 119 Die Angemessenheitsargumentation ist hier von der Verhältnismäßigkeit i. e. S. strikt zu unterscheiden. Sie erfolgt nach Günther eigentlich in jedem Anwendungsdiskurs und beziehe

III. Prinzipientheorie der Grundrechte von Robert Alexy

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Anwendungssituationen und folgt nicht, wie Alexy vorschlägt, aus einem strukturellen Unterschied der Normen. Die Forderung, eine Norm unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände anzuwenden, können wir im Grunde genommen an jede Norm richten.120 Vor diesem Hintergrund muss auch gefragt werden, welche Kriterien eine Entscheidung über die Anwendungsweise erlauben, wenn man regelmäßig nicht wie in einem modernen Rechtssystem eindeutig zwischen den sog. Regeln und den sog. Prinzipien unterscheiden kann. Das Modell von Alexy macht nämlich die Wahl des einzuschlagenden Anwendungsweges von der Eigenart der auszulegenden Norm abhängig – als ob die Zuordnung einer Norm zur Regelebene (dann Subsumtion) oder Prinzipienebene (dann Abwägung) eine Selbstverständlichkeit wäre.121 Diese Problematik gilt auch für die definitiven Regeln, die Ergebnisse einer grundrechtlichen Abwägung seien und die – nach dem Kollisionsgesetz – zugeordnete Grundrechtsnormen bildeten, unter die der Fall subsumiert werden könne.122 Ob die Situationsmerkmale, die als Tatbestandsmerkmale die Wenn-Komponente der sog. Regel konstituieren, in einem neuen Fall ähnlich sind, oder ob es neue relevante Umstände zu berücksichtigen gibt, wissen wir erst in der Angemessenheitsargumentation. Der behauptete rechtstheoretische Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien dient der Theorie eigentlich dazu, das Verständnis der Grundrechte als Optimie-

sich genau auf die Angemessenheit einer Norm in einer Situation in Rücksicht auf alle besonderen Merkmale der Anwendungssituation. s. u. G.II.2. 120 Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 270 ff., 341 f.: „Wir sind daher bei jeder Norm dazu verpflichtet, in Angemessenheitsargumentationen einzutreten, und zwar unabhängig davon, wie ,bestimmt‘ die gleichbleibenden Umstände sind, unter denen sie als gültig anerkannt worden ist.“ Das schließt jedoch nicht aus, wie der Autor auch zutreffend beobachtet, dass aus rechtfertigungsbedürftigen Gründen bestimmte Normen künstlich auf einem konventionellen Niveau gehalten werden mit der Konsequenz, dass Regeländerungen aus Angemessenheitsgründen nur in Ausnahmefällen möglich sind oder eine Geltungsentscheidung erforderlich machen (S. 272). 121 Vgl. auch die Kritik an dem mit dem Regelbegriff verbundenen Subsumtionsideal und an der Verkürzung der juristischen Argumentation (nur Subsumtion oder Abwägung) bei Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 77 f.: „Die Welt der juristischen Argumentation ist unendlich reicher, als die Unterscheidung von unmittelbar anwendbaren Regeln und abzuwägenden Prinzipien nahe legt.“ s. ferner Habermas, Faktizität und Geltung, S. 266: Bis auf diejenigen Normen, die in ihrer Wenn-Komponente die Anwendungsbedingungen so weit spezifizieren, dass sie auf wenige hochtypisierte Standardsituationen (ohne hermeneutische Schwierigkeiten) Anwendung finden können, sind alle geltenden Normen sozusagen von Haus aus unbestimmt. Sie bleiben nämlich hinsichtlich ihrer Situationsbezüge regelmäßig unbestimmt und bedürfen zusätzlicher Relationierungen im Einzelfall. 122 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 87: „Als Ergebnis jeder richtigen grundrechtlichen Abwägung lässt sich eine zugeordnete Grundrechtsnorm mit Regelcharakter formulieren, unter die der Fall subsumiert werden kann.“

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E. Theoretische Fundierungen der Abwägung

rungsgebot als rechtstheoretisch zwingende Erkenntnis auszugeben.123 Die Theorie erstellt in diesem Sinne zunächst ein begriffsjuristisch anmutendes Regelbild und stellt ihm die Prinzipien gegenüber. Werden unmittelbar zu subsumierenden Regeln Prinzipien gegenübergestellt, ist die Einordnung der Grundrechte nicht schwer. Sie müssen eben meistens Prinzipien und damit Optimierungsgebote sein. Umgangen wird dadurch gerade die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob ein Verständnis der Grundrechte als Optimierungsgebote überhaupt sinnvoll ist. Schließlich ist auch die nur additive Verknüpfung von Semantik und juristischer Argumentation im Alexys Modell einer kritischen rechtsmethodologischen Nachfrage würdig. Aus dem dargestellten Modell der juristischen Argumentation ergibt sich, dass zwischen den vom Gesetzgeber geschaffenen Normsätzen, den diesen semantisch zugeordneten Normen und den für dieses Zuschreiben vorgebrachten Argumenten unterschieden wird. Die als Gründe für die Zuordnung vorgebrachten Argumente werden also von Alexy nicht als zu strukturierender Teil des Vorgangs der Normativität aufgefasst: Die Norm als semantischer Gegenstand sei von den sie stützenden Gründen klar zu unterscheiden.124 Alexy stellt somit eine äußere, eine lediglich additive Verknüpfung von Semantik und juristischer Argumentation her. Die Semantik erschöpft sich dabei in der Erkenntnis angeblich objektiv vorgegebener Regeln; und da solche Regeln in schwierigen Fällen die Entscheidung nicht nachweisen können, bedürfen sie der Ergänzung durch eine normgelöste juristische Argumentation. Das führt wiederum zu der unten (G.III.) zu erörternden Sonderfallthese von Alexy, laut welcher der juristische Diskurs ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses sei. In der Tat aber ist die juristische Textarbeit viel komplexer, als es dieses additive Modell nahelegt. Der Weg von Normtext zur Rechtsnorm soll gerade nicht als Anwendung objektiver semantischer Regeln aufgefasst werden. Vielmehr gewinnt der bloße Text erst in der juristischen Argumentation seine Bedeutung; erst hier wird der tragende Leitsatz der Entscheidung hergestellt.125

123 Hierzu und zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 80 f. Kritisch auch Benvindo, On the Limits of Constitutional Adjudication, S. 210 ff., 310 ff., der den metaphysischen und logozentrischen Charakter dieser Einordnung betont. 124 „Dem Ideal der Rechtsstaatlichkeit dürfte eine klare Trennung zwischen dem, was ein Gesetzgeber als Norm gesetzt hat, und dem, was ein Interpret an Gründen für eine bestimmte Interpretation vorträgt, mehr dienen (…).“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 68. 125 Zum Ganzen Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 261 f., Rn. 254 ff., die entsprechend vorschlagen, das additive Modell aus Semantik plus juristischer Argumentation durch eine integrale Analyse der juristischen Argumentation als semantischer Praxis zu ersetzen. „Dann würde deutlich, dass der vom Gesetzgeber geschaffene Normtext nicht die Norm schon enthält und nur noch durch Argumentation vervollständigt werden muss, sondern dass der Normtext überhaupt erst auf dem Weg über eine juristische Argumentation zur Grundlage für die Erzeugung einer Rechtsnorm werden kann“ (Rn. 256).

F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis In den vorangegangenen Kapiteln analysierte die Untersuchung den historischen Wandel des Grundrechtsverständnisses und des Gewaltenteilungsgrundsatzes (B.), was die Rechtsprechung (C.) und die Literatur (D.) unter Güterabwägung verstehen und stellte wichtige theoretische Rechtfertigungen und Begründungen dieser Methode (E.) dar. Nun sollen problematische Aspekte des Abwägungspragmatismus sowie des objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnisses explizit zur Sprache gebracht werden. Die einzelnen Ebenen der Kritik stehen allerdings nicht unverbunden nebeneinander. So stehen beispielsweise die methodologischen Einwände in engem Zusammenhang mit der Relativierung der Grundrechtsgarantien und mit der Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraums. Auch das Begrenzungsmodell mit immanenten Schranken kann mit dem axiologischen Verständnis der Verfassung in Beziehung gesetzt werden. Die unterschiedlichen Faktoren konvergieren schließlich mit den rechtsstaatlichen Einwänden, d. h. mit der Tendenz einer Verschiebung der Gewichte zwischen Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die folgende Zuordnung der kritischen Einwände zielt nur darauf, die verschiedenen problematischen Aspekte etwas anschaulicher zu machen.

I. Kollidierende Verfassungsgüter als verfassungsimmanente Grundrechtsschranken Ginge man allein vom Wortlaut der vorbehaltlosen Normierung aus, so wären zwar keinerlei inhaltliche Beschränkungen möglich, aber es wurde bereits gezeigt, dass auch bei vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten Einigkeit darüber besteht, dass nicht alles, was auf irgendeine Weise unter ihren Tatbestand gebracht werden kann, im Ergebnis grundrechtlich geschützt ist.1 Darüber hinaus ist versucht worden, durch zahlreiche Kriterien einen Nicht-Schutz zu erreichen.2 Etabliert wurde aber der 1

Vgl. etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 107; Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 11. Früher wurde z. B. Art. 2 Abs. 1 GG als ein allgemeiner Gemeinschaftsvorbehalt angesehen – so etwa Dürigs Theorie der Nichtstörungsschranken. Dieser Theorie nach gäbe es drei immanente Schranken, nämlich die rechtslogisch immanente Schranke (Rechte anderer), die gesellschaftlich immanente Schranke (verfassungsmäßige Ordnung) und die ethisch immanente Schranke (Sittengesetz); Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1, Rn. 70 ff. Allerdings, nachdem das BVerfG Art. 2 Abs. 1 GG als selbständiges Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aufgefasst und den Begriff der verfassungsmäßige Ordnung als die 2

174 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Nicht-Schutz durch die ungeschriebenen Schrankenklauseln. Die herrschende Grundrechtsdogmatik und die Rechtsprechung akzeptieren also, dass es verfassungsimmanente Schranken gibt und somit die vorbehaltlosen – aber auch die vorbehaltenen – Grundrechte durch andere kollidierende Grundrechte und sonstige mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter beschränkt werden können (kollidierende Verfassungsgüter als Einschränkungsrechtfertigung).

1. Erzeugung von Kollisionen und das tendenziell uferlose Feld kollidierender Verfassungsgüter In dem oben dargestellten Beschluss zur Dienstpflichtverweigerung aus dem Jahre 1970 hat das BVerfG die Formel entwickelt, die der Einschränkung vorbehaltloser Grundrechte zugrunde liegt: „Nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen. Dabei auftretende Konflikte lassen sich nur lösen, indem ermittelt wird, welche Verfassungsbestimmung für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht hat (…). Die schwächere Norm darf nur so weit zurückgedrängt werden, wie das logisch und systematisch zwingend erscheint; ihr sachlicher Grundwertgehalt muss in jedem Fall respektiert werden.“3 Die Einschränkung der Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt wäre dann an ziemlich strenge inhaltliche Maßstäbe gebunden: Nur die Umsetzung kollidierenden Verfassungsrechts könnte einen solchen Eingriff rechtfertigen. Diese Eingangsentscheidung war zwar sehr vorsichtig und zurückhaltend formuliert, erwies sich aber bald als Tor für einen breiten Strom, so groß war der angestaute Problemdruck,4 und letztendlich wurden verfassungsunmittelbare immanente Schranken der Grundrechte etabliert.5 Die Idee der immanenten Grundrechtsschranken wurde danach auch auf die durch Gesetz einschränkbaren Grundrechte übertragen. Eine solche „verfassungsunmittelbare Kollision“ und Abwägung kann daher auch dort erfolgen, wo der vorhandene

gesamte verfassungsmäßige Rechtsordnung interpretiert hat (Elfes-Entscheidung: BVerfGE 6, 32/34 ff.), fand dieser Lösungsweg kaum mehr Resonanz. Den Versuchen, die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG und auch die Schranke der allgemeinen Gesetze des Art. 5 Abs. 2 GG auf die vorbehaltlosen Grundrechte zu übertragen, erteilte das BVerfG ferner in der MephistoEntscheidung eine deutliche Absage, BVerfGE 30, 173 (191 ff.). Andere Versuche m. w. N. bei Sachs, in: Stern, StR III/2, § 81, S. 528 ff.; kritisch Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 11 ff. und passim. 3 BVerfGE 28, 243 (261) (Dienstpflichtverweigerung). 4 Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 173. 5 Zu einer Darstellung der Entwicklung der immanenten Grundrechtsschranken in der Rspr. s. Sachs, in: Stern, StR III/2, § 81, S. 551 ff.

I. Kollidierende Verfassungsgüter als verfassungsimmanente Grundrechtsschranken 175

Gesetzesvorbehalt nicht ausreicht, um zwingenden Erfordernissen grundrechtlicher Eingrenzung Rechnung zu tragen.6 Fraglich ist hierbei zunächst, wie viele Bestimmungen der Verfassung sich unschwer zu Verfassungswerten oder -gütern stilisieren lassen7 und damit, wie viele Kollisionen (Spannungslagen) erzeugt werden können. In diesem Zusammenhang gilt es auch zu berücksichtigen, dass die h. M. – wie auch das BVerfG und das STF – dazu tendiert, von einer weiten Auslegung des Grundrechtstatbestands auszugehen, um erst danach zu prüfen, ob ein Eingriff gerechtfertigt werden kann. Bereits aufgezeigt wurde allerdings auch die wechselseitige Bedingtheit von Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken: Je weiter der Schutzbereich eines Grundrechts gezogen ist, umso mehr staatliche Akte können potentiell in dieses Grundrecht eingreifen und bedürfen entsprechend einer Rechtfertigung – d. h. einer Schranke. Dazu kommt, dass der vom BVerfG und vom STF verwendete weite Prinzipsbegriff, der z. B. auch von Alexy übernommen wird, letztendlich höchst heterogene Dinge als mögliche in Abwägungen einstellbare Werte, Interessen usw. erfasst. Das alles bewirkt eine problematische Erzeugung von Kollisionen zwischen Grundrechten und anderen Verfassungsgütern, die zur Abwägung und daher zur Begrenzung von Grundrechten führen. Denn, wie Ossenbühl hervorhebt, könne eine Spannungslage (Kollision), die die Voraussetzung der Abwägung sei, künstlich erzeugt werden und sei jedenfalls selbst Ergebnis einer Interpretation oder manchmal auch eines Verzichts auf Interpretation – also auf eine sachgerechte Ausschöpfung und Umreißung des grundrechtlichen Schutzbereichs.8 Bereits auf der Vorstufe der Abwägung gibt es somit Probleme, wenn etwa eine Spannungslage vorschnell angenommen wird, obwohl sie gar nicht existiert. Manche exemplarischen Entscheidungen zeigen in der Tat, dass eine sorgfältige Bestimmung, d. h. eine sachgerechte Begrenzung des grundrechtlichen Schutzbereichs, möglicherweise die angebliche Spannungslage aufgelöst hätte. So wollten in der oben dargestellten Entscheidung zum Ellwanger-Fall (HC 82424) mehrere Richter des STF eine Spannungslage zwischen Meinungsfreiheit einerseits und Menschenwürde und Rassismusverbot andererseits erblicken. Die Frage, ob das Grundrecht auf Meinungsfreiheit in der brasilianischen Verfassungsordnung rassistische Äußerungen schützt oder ob es von einer Abwägung im Einzelfall abhängt, bleibt im Ergebnis unklar. Auch in einer frühen Entscheidung von 1957 sah das BVerfG eine Spannungslage zwischen Meinungsfreiheit und Eigentumsgarantie, als ein Mieter ein Wahlplakat seiner politischen Partei an der Außenwand des Mietshauses angebracht hatte. Die Frage, ob die Meinungsfreiheit in der Tat die eigen6 Lerche, in: HStR V, § 122, S. 789, Rn. 23. s. BVerfGE 107, 104 (118) (Anwesenheit im JGG-Verfahren). 7 Vgl. Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 169. Angesichts der Weite der brasilianischen Verfassung – mit u. a. zahlreichen Bestimmungen über die Wirtschafts- und Sozialordnung – taucht diese Problematik dabei in noch verschärfter Weise auf. 8 Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 32.

176 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

mächtige Inanspruchnahme fremden Eigentums zur Meinungsbekundung gestattet, gerät ebenfalls aus dem Blick.9 Die vorschnelle Annahme einer Spannungslage ist besonders dann problematisch, wenn es nicht um kollidierende Grundrechtspositionen geht, sondern um die Beschränkung von Grundrechten durch andere Verfassungsgüter. Die Wortwahl und Argumentation der Gerichte in manchen Entscheidungen ruft in diesem Sinne den Eindruck hervor, dass eine Grundrechtseinschränkung aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts schon gestattet sei, wenn der Staat ein Ziel mit Verfassungsrang verfolge. Dass der Gebrauch eines Grundrechts möglicherweise negative Auswirkungen auf andere „mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter“ hat, bedeutet aber noch keine unausweichliche Spannungslage. Diese läge nur dann vor, wenn der Verfassung zwei konkrete gegensätzliche Verhaltensanweisungen zu entnehmen wären.10 Hingegen zeigt bereits die traditionelle Schrankenformel, der zufolge die Einschränkung vorbehaltloser Grundrechte „durch Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte“ gerechtfertigt sein könne, das Erfordernis gegenläufiger Verhaltensanweisungen nicht auf.11 Bei dieser Entscheidung begründet das Gericht auch nicht, dass die Landesverteidigung tatsächlich eine Regelung erfordert, die nachträgliche Verweigerer zum weiteren Waffendienst verpflichtet – was schon fraglich ist.12 Die Existenz einer Kollision wird offensichtlich als derart selbstverständlich erachtet, dass eine Begründung unnötig zu sein scheint.13 Art. 4 Abs. 3 GG regelt aber, wie noch zu behandeln sein wird, das 9

BVerfGE 7, 230 (234). Hingegen legt das Gericht im Beschluss zum „Sprayer von Zürich“ fest: die Reichweite der Kunstfreiheit erstrecke sich „von vornherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums“. BVerfG, NJW 1984, 1293, 1294. 10 s. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 224 ff. Der Autor hebt ferner hervor, dass in der Literatur das Erfordernis einer Kollisionslage kaum je mit Inhalt gefüllt wird. Vielmehr wird es zumeist als ausreichend betrachtet, dass der Gebrauch des vorbehaltlosen Freiheitsrechts negative Auswirkungen auf ein anderes verfassungsrechtlich geschütztes Gut hat. Ebd., S. 225, Fn. 97 (m. w. N.). 11 Vgl. BVerfGE 28, 243 (LS 2, 261). Auch z. B. BVerfGE 84, 212 (228) (Aussperrung). Unpräzise bleibt auch der Satz, die vorbehaltlose Freiheit könne, „obwohl sie ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet ist, jedenfalls zum Schutz von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden, denen gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang gebührt.“ BVerfGE 100, 271 (283) (Lohnabstandsklausel). Auch andere Formulierungen greifen das Erfordernis gegenläufiger Handlungspflichten nicht auf, wie beispielsweise: Eine Einschränkung vorbehaltloser Grundrechte sei erlaubt, wenn sie „der Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Güter“ diene. BVerfGE 83, 130 (139) (Josephine Mutzenbacher). 12 In diesem Sinne betont etwa Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4, S. 268, Rn. 133, dass Landesverteidigung und Gewissensfreiheit nicht notwendigerweise miteinander kollidieren. Da das GG zulässt, die militärische Landesverteidigung z. B. auch durch eine Berufsarmee sicherzustellen, ist die Wehrpflichtarmee verfassungsrechtlich nicht zwingend, sondern nur eine gestattete politische Entscheidung. 13 Exemplarisch auch in Bezug auf Grundrechtskollisionen BVerfGE 30, 173 (193) (Mephisto); 52, 223 (247) (Schulgebet); 67, 213 (228) (Anachronistischer Zug); 75, 369 (379) (Strauß-Karikatur); 93, 1 (21) (Kruzifix).

I. Kollidierende Verfassungsgüter als verfassungsimmanente Grundrechtsschranken 177

Spannungsverhältnis zwischen der Gewissensfreiheit des Einzelnen und dem Verteidigungsauftrag abschließend.14 Die angeblich aufgetretene Güterkollision hat somit das GG vorab und ausdrücklich zugunsten des Grundrechts gelöst.15 Demzufolge liegt gerade dieser für das Begrenzungsmodell durch kollidierendes Verfassungsrecht fundamentalen Entscheidung tatsächlich kein Kollisionsfall zugrunde. Aus dieser Betrachtung zur Vorstufe der Abwägung ist somit zunächst festzuhalten, dass bereits das Vorliegen einer Spannungslage manipulativ gefährdet ist. Das ist die Warnung von Ossenbühl, wenn er hervorhebt, dass der Durchgriff auf die Abwägung mittels Annahme einer Spannungslage „als der bequemere und den Entscheidungsspielraum weiter öffnende Weg“ erscheine.16 Das aktuelle Begrenzungsmodell neigt dazu, von einem breiten Schutzbereich auszugehen, auf den Nachweis konkret gegenläufiger Pflichten zu verzichten und stattdessen eine pauschale Spannungslage zur Abweichung des Grundrechtsnormbefehls genügen zu lassen. Nicht zu rechtfertigen ist allerdings insbesondere, wenn einer konkreten abwehrrechtlichen Pflicht, Eingriffe zu unterlassen, lediglich unbestimmte Aussagen der Verfassung gegenübergestellt werden. Hinzu kommt entsprechend die problematische Heranziehung von zahlreichen verfassungsrechtlichen Positionen als kollidierendes Verfassungsrecht.17 Das BVerfG und das STF sind in der Tat großzügig bei der Anerkennung von Gemeinwohlgütern, die mit Attributen wie „überragend“, „hervorragend wichtig“ u. a. den Grundrechten begrenzend entgegengesetzt werden. Zu diesen Gütern zählen seit langem nicht nur unterschiedliche grundrechtliche Funktionen (s. u. F.II.2.), sondern etwa auch die bundesstaatlichen Kompetenzbestimmungen, die Ermächtigungsnormen und Organisationsvorschriften18, die ein weites Feld möglicher kollidierender Verfassungsgüter eröffnen. Darüber hinaus lassen sich zahlreiche Beschränkungen gewinnen. Die Bedenken gegen eine solche Vorgehensweise werden dadurch noch bekräftigt, dass verfassungsrechtlicher Rückhalt für die Begründung 14 Dieses Grundrecht richtet sich in seiner staatliches Handeln begrenzenden Freiheitsverbürgung gerade gegen die staatliche Aufgabe der Herstellung einer funktionsfähigen militärischen Landesverteidigung. So auch abw. Meinung von Mahrenholz und Böckenförde in BVerfGE 69, 1 (64); Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4, S. 268 f., Rn. 134, 137; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 280; Mager, in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. 1, Art. 4, S. 369 f., Rn. 84. 15 Eine ähnliche Bemerkung kann auch in Bezug auf den HC 82424 gemacht werden. Ellwangers Äußerungen wurden mittels Interpretation als Rassismus aufgefasst, und dieser wird in der CF als ein nicht verjährbares Verbrechen eingestuft. Die angeblich aufgetretene Kollision zwischen Meinungsfreiheit einerseits und Recht auf Nichtdiskriminierung andererseits hat die CF vorab und ausdrücklich zulasten der Meinungsfreiheit gelöst. 16 Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 32. 17 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 74, 66, Rn. 328, 291; Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 32; Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 176 f.; Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 168 f.; Maus, Rechtstheorie 20/1989, 191, 196. 18 BVerfGE 28, 243 (261) (Dienstpflichtverweigerung); 32, 40 (46) (Dienstpflichtverweigerung II); 48, 127 (159 f.) (Wehrpflichtnovelle); 69, 1 (21) (Kriegsdienstverweigerung II).

178 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

und Umgrenzung solcher Güter nicht immer gesucht wird.19 Oft leiten die Gerichte aus irgendeiner Verfassungsvorschrift andere „Rechtsgüter“ ab, die in dem Verfassungstext selbst nicht normiert sind, oder greifen statt auf näher bezeichnete Verfassungsbestimmungen auf „andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte“, „Gemeinschaftsinteressen“ oder ebenso qualifizierte „Rechtsgüter“, auf „andere oberste Grundwerte der Verfassung“ usw. zurück.20 In diesem Sinne hat das BVerfG im Lauf seiner Spruchpraxis beispielsweise folgende mit dem Grundrecht abzuwägende Gemeinwohlbelange anerkannt: die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr, abgeleitet aus Art. 12a Abs. 1, Art. 73 Nr. 1, Art. 87a und Art. 115b GG21; eine funktionstüchtige Rechtspflege, entnommen der Vorschrift des Art. 92 GG sowie der gerichtlichen Aufgabe, die Grundrechte zu wahren22 ; den Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung, ohne an den Verfassungstext anzuknüpfen23 ; hochwertige verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter wie etwa das friedliche Zusammenleben der Menschen, abgeleitet aus der Aussage des Art. 26 GG24 ; die Sicherheit der Krankenversorgung als Ausprägung des Sozialstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 1 GG25 ; die Bundesflagge, festgemacht an Art. 22 GG26 ; die Nationalhymne, ohne an den Verfassungstext anzuknüpfen27; den Jugendschutz, unter Hinweis auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG28 ; die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, abgeleitet aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG29; um nur einige zu nennen.30 19

Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 32. Vgl. BVerfGE 28, 243 (261) (Dienstpflichtverweigerung); 33, 23 (32) (Eidesverweigerung aus Glaubensgründen); 33, 52 (71) (Zensur); 49, 24 (55 ff.) (Kontaktsperre-Gesetz); 57, 70 (99) (Universitätskliniken); 81, 298 (308) (Nationalhymne); 83, 130 (139) (Josephine Mutzenbacher); 100, 271 (283 f.) (Lohnabstandsklausel). s. auch Sachs, in: Stern, StR III/2, § 81, S. 553 f.; Bamberger, Der Staat 39/2000, 355, 359 f. Zum STF s. etwa ADC 9 v. 13. 12. 2001, 1 (26 ff., 49 ff.) (DJ 23. 04. 2004) (Apagão); IF 2915 v. 03. 02. 2003, 152 (182 ff.) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); Inq 2424 v. 26. 11. 2008, 341 (343 – LS 8) (Informativo 529/2008) (Medina, Alvim u. a.). 21 BVerfGE 28, 243 (261) (Dienstpflichtverweigerung); 48, 127 (159 f.) (Wehrpflichtnovelle); 69, 1 (21) (Kriegsdienstverweigerung II). 22 BVerfGE 33, 23 (32) (Eidesverweigerung aus Glaubensgründen). 23 BVerfGE 33, 52 (71) (Zensur). 24 BVerfGE 47, 327 (382) (Hessisches Universitätsgesetz). 25 BVerfGE 57, 70 (99) (Universitätskliniken). 26 BVerfGE 81, 278 (293) (Bundesflagge). 27 BVerfGE 81, 298 (308) (Nationalhymne). 28 BVerfGE 83, 130 (139 f.) (Josephine Mutzenbacher). 29 BVerfGE 100, 271 (283 f.) (Lohnabstandsklausel). 30 In den genannten Fällen ging es um immanente Schranken von vorbehaltlosen Grundrechten. Wenn die Grundrechtsgewährleistung einem Gesetzesvorbehalt unterstellt ist, werden allerdings auch die unterschiedlichsten Gemeinwohlbelange den Grundrechten begrenzend entgegengesetzt. So z. B. Erhaltung und Pflege eines hohen Leistungsstandes des Handwerks – 20

I. Kollidierende Verfassungsgüter als verfassungsimmanente Grundrechtsschranken 179

Indem diese verfassungsimmanenten Schranken (kollidierenden Verfassungsgüter) so pauschal angenommen und angewendet werden, erhalten sie allerdings eine Funktion, die die grundrechtlichen Freiheitsgewährleistungen generell relativiert. Wenn alles, was im Verfassungstext benannt ist, Verfassungswert bzw. -gut ist und davon noch weitere Rechtsgüter abgeleitet werden, dann hat Berufung auf kollidierendes Verfassungsrecht banal zu erfolgen.31 In ihrer Weite und Unbestimmtheit ist die Ansammlung von Rechtsgütern, die übrigens nicht sämtlich ohne Bedenken als Verfassungsprinzip einzustufen sind, durchaus imstande, die Grundrechte in beträchtlicher Weise zu relativieren.

2. Relativierung der Grundrechtsgarantie Nimmt man einen weiten Schutzbereich an, ohne zugleich alle eingeschlossenen Verhaltensweisen auch definitiv für zulässig zu halten, setzt eine weite Tatbestandsinterpretation zwangsläufig voraus, dass eine Grundrechtsschranke besteht. Ist diese nicht vorhanden, muss man sich über die normativen Vorgaben der Verfassung hinwegsetzen und mittels Abwägung mit ungeschriebenen und der Tendenz nach uferlosen Einschränkungen arbeiten.32 Mit der Annahme eines weiten SchutzbeBVerfGE 13, 97 (113) (Handwerksordnung); Vermeidung von Arbeitslosigkeit – BVerfGE 21, 245 (251) (Führungskräfte der Wirtschaft); Staatssicherheit – BVerfGE 28, 175 (186) (PorstFall); Schutz der freiheitlichen und demokratischen Ordnung – BVerfGE 30, 1 (26 f.) (Abhörurteil); Energieversorgung – BVerfGE 30, 292 (317) (Erdölbevorratung); Sicherung der Volksernährung – BVerfGE 25, 1 (16) (Mühlengesetz); 39, 210 (230) (Mühlenstrukturgesetz); Funktionsfähigkeit der Unternehmen und der Gesamtwirtschaft – BVerfGE 50, 290 (332) (Mitbestimmung); Erhaltung eines leistungsfähigen einheimischen Winzerstandes – BVerfGE 37, 1 (22) (Weinwirtschaftsabgabe); 51, 193 (210) (Schlossberg); Erhaltung einer funktionsfähigen Steuerrechtspflege – BVerfGE 21, 173 (179); 54, 301 (315); 69, 209 (218) (Steuerberaterprüfung); Funktionsfähigkeit und Gleichgewicht öffentlicher Haushaltswirtschaft – BVerfGE 82, 60 (82) (Steuerfreies Existenzminimum); Finanzierung der Staatsaufgaben – BVerfGE 85, 360 (375) (Akademie-Auflösung). Zustimmend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 98. Zu weiteren Beispielen s. etwa Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts, S. 133 ff.; Stern, StR III/2, § 84, S. 824 f.; ders., in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 15 f. Auch das STF hat unterschiedliche Gemeinwohlbelange als Verfassungswerte anerkannt, oft ohne an den Verfassungstext anzuknüpfen, wie z. B. die Funktionsfähigkeit der Energieversorgung in ADC 9 v. 13. 12. 2001, 1 (26 ff., 49 ff.) (DJ 23. 04. 2004) (Apagão); die wirtschaftliche Lage der Länder i. V. m. dem Vorbehalt des finanziell Möglichen in IF 2915 v. 03. 02. 2003, 152 (182 ff.) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios) und die öffentliche Ordnung bzw. das Recht / die Pflicht des Staates zum Strafen in Inq 2424 v. 26. 11. 2008, 341 (343 – LS 8) (Informativo 529/2008) (Medina, Alvim u. a.). 31 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 74 f., Rn. 328. 32 s. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 234, 236. Vgl. auch Bamberger, Der Staat 39/ 2000, 355: Die herrschende Formel trägt „die Tendenz der uferlosen Grundrechtsbeschränkung aus jedem verfassungspolitischen Anlass in sich“; Hoffmann-Riem, Der Staat 43/2004, 203, 229: Als Reaktion darauf, dass die Gewährleistungsgehalte im Laufe der Zeit immer weiter gezogen worden sind, „wurden immer neue Rechtfertigungsgründe gefunden und ausgedehnt (…); letztlich wurde fast alles Entscheidende in die Einzelfallabwägung verlagert“.

180 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

reichs – insbesondere bei den vorbehaltlosen Freiheitsrechten – schafft man sich folglich tendenziell zahlreiche Begrenzungsnotwendigkeiten und damit auch die Rechtfertigung von Begrenzungen. Die Konsequenzen dieses verfassungstheoretisch-dogmatischen Ansatzes für die Grundrechtsgewährleistung sind weittragend. Insofern ist die von Böckenförde und Mahrenholz in der abw. Meinung zur Kriegsdienstverweigerung II geäußerte Kritik am herrschenden Modell der immanenten Grundrechtsschranken durchaus berechtigt.33 „Ein sehr breites und unbestimmtes Arsenal möglicher Grundrechtseinschränkungen“ wird geschaffen, welches zahllose Spannungsverhältnisse erzeugt, für deren Auflösung die Verfassung keine Maßstäbe enthält. Die Grundrechte werden zu bloßen „Abwägungsgesichtspunkten“ degradiert und das anwendbare Recht hat seinen Sitz nicht mehr in der Verfassung, sondern im Abwägungsspruch des Richters. Dieser dogmatische Ansatz gefährdet somit die Integrität der Grundrechtsgeltung und verändert das Grundgefüge einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung. Die in der Verfassung normierten Grenzen staatlichen Handelns, wie sie gerade in den Grundrechten als Abwehrrechte zum Ausdruck kommen, begrenzen nicht mehr als solche, d. h. nach Maßgabe ihres Schutzbereichs und Gewährleistungsinhalts, die Tätigkeit der hoheitlich handelnden Staatsgewalt. Sie relativieren sich vielmehr zu Positionen und Gesichtspunkten eines Abwägungsprozesses, dessen Kriterien nicht mehr in der Verfassung selbst enthalten sind. Die Grundrechte erscheinen als ein Interesse des Grundrechtsträgers, dem andere Gesichtspunkte oder Interessen gegenüberstehen. Werden als Gegenposition der Abwägung dabei Kompetenzbestimmungen oder Organisationsregelungen herangezogen, von denen noch weitere Güter abgeleitet werden, kann nahezu jede Grundrechtsbeschränkung im Wege der Verfassungsinterpretation legitimiert werden. In diesem Sinne wurde die vorbehaltlos gewährleistete Gewissensfreiheit in den oben behandelten Entscheidungen zur Dienstpflicht- und Kriegsdienstverweigerung zum bloßen Interesse des Grundrechtsträgers herabgestuft, während die militärische Landesverteidigung bzw. Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zum „Rechtswert von verfassungsrechtlichem Rang“ bzw. zur „verfassungsrechtlichen Grundentscheidung“ erhöht wurden.34 Diese Entscheidungen sind ferner exemplarisch, weil dem Grundrecht ausgerechnet dasjenige Interesse entgegengesetzt wurde, vor dem es schützen soll. Art. 4 Abs. 3 GG richtet sich in seiner staatliches Handeln begrenzenden Freiheitsverbürgung gerade gegen die staatliche Aufgabe der Herstellung einer effektiven militärischen Landesverteidigung.35 Wird nun dieses „Gegeninter33 Zum Folgenden abw. Meinung von Mahrenholz und Böckenförde in BVerfGE 69, 1 (62 ff.). 34 Bereits die überhöhende Wortwahl des Gerichts in manchen Entscheidungen – wie etwa Rechtswerte, oberste Grundwerte der Verfassung bzw. Grundentscheidung – legt die Vermutung nahe, dass unter Rückgriff auf die gefundenen „Rechtswerte“ die normativen Entscheidungen der Verfassung zu korrigieren wären. s. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 277. 35 So auch Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4, S. 268 f., Rn. 134, 137; abw. Meinung von Mahrenholz und Böckenförde in BVerfGE 69, 57 (64 f.); Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte,

I. Kollidierende Verfassungsgüter als verfassungsimmanente Grundrechtsschranken 181

esse“ seinerseits als Begrenzung des Grundrechts oder gleichrangige Gegenposition eingeführt, spitzt sich die Relativierung der Grundrechtsgeltung besonders zu. Das Grundrecht verliert entgegen seinem normativen Gehalt den Charakter einer verfassungsrechtlich eindeutigen Entscheidung und wird zum bloßen abzuwägenden Interesse. So gelangen wir zum widersprüchlichen Ergebnis, dass Grundrechte Schranken durch ausgerechnet dasjenige staatliche Handeln erfahren, zu dessen Abwehr sie überhaupt erkämpft wurden.36 Ähnliche Kritik gilt der erwähnten Entscheidung des STF bezüglich der Unverletzlichkeit der Wohnung im Inq 2424, die sich außerdem – unter Berufung auf das Interesse an der öffentlichen Ordnung und ohne an den Verfassungstext anzuknüpfen – offenbar über den ausdrücklichen Wortlaut der Verfassung hinwegsetzt.37 Auch in den theoretischen Versuchen, dieses Begrenzungsmodell zu rechtfertigen, wird die Relativierung der Grundrechtsgarantie deutlich sichtbar, was am Beispiel von Alexys Theorie veranschaulicht werden kann. Nach dieser Theorie haben die Grundrechte grundsätzlich nicht den Charakter von definitiven Geboten, sondern sind lediglich Optimierungsgebote, die in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können.38 Sie setzen dem Staat nicht mehr bindende Grenzen und sichern dementsprechend nicht mehr definitive individuelle Freiheiten. Ihre Erfüllung hängt vielmehr von den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten ab. Sie stellen nur Prima-facie-Gründe dar, die für sich genommen nur Prima-facie-Rechte statuieren. Sie können durch gegenläufige Gründe ausgeräumt werden, und ihre Realisierung hängt von einer Abwägung mit dem jeweiligen kollidierenden Prinzip ab. Zu den möglichen kollidierenden Prinzipien zählt ferner ein breites Feld von Gütern; denn zu den Prinzipien gehören keineswegs nur Prinzipien, die auf individuelle Rechte bezogen sind, sondern auch solche, die kollektive Güter zum Gegenstand haben und die als Gründe für oder gegen Prima-facie-Grundrechte angewendet werden können.39 Durch diese Theorie werden die Grundrechte eindeutig zu abwägungsrelevanten Interessen gemacht, denen zahlreiche andere Güter oder Interessen entgegengesetzt werden können. In der Tat ist das Optimierungsgebot ein so offenes Konzept, dass es praktisch jeden nicht völlig unsinnigen Eingriff in die Freiheit zu rechtfertigen gestattet.40 S. 280; Mager, in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. 1, Art. 4, S. 369 f., Rn. 84; Bamberger, Der Staat 39/2000, 355, 365; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 4, S. 177, Rn. 60. 36 Abw. Meinung von Mahrenholz und Böckenförde in BVerfGE 69, 1 (64); Bamberger, Der Staat 39/2000, 355, 365. 37 STF, Inq 2424 v. 26. 11. 2008, 341 (343 – LS 8) (Informativo 529/2008) (Medina, Alvim u. a.). 38 Vgl. zum Folgenden Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. 39 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 98 f., 117 f., 155: Die rechtliche Freiheit sei ein Wert unter anderen. 40 Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 54. Vgl. Auch Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 75 ff., 81 f. Nichts anderes gilt für das institutionelle Denken von Häberle, der darüber hinaus durch die Negierung der Möglichkeit gesetzgeberischer Eingriffe in Schutzbereiche der jeweiligen Freiheitsrechte und durch die Annahme eines Generalvorbehalts gegen

182 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Nach der traditionellen Schrankenformel, der übrigens auch Alexy41 beipflichtet, sollten zwar die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte – sowie diejenigen mit nicht ausreichendem Gesetzesvorbehalt – allein unter einem sozusagen qualifizierten Vorbehalt stehen, dem Vorbehalt kollidierenden Verfassungsrechts. In ihrer Weite und Unbestimmtheit führen allerdings die verfassungsimmanenten Schranken dazu, dass nahezu jeder gewünschte Eingriff in ein Grundrecht auf kollidierendes Verfassungsrecht gestützt werden kann. Alle – auch die vorbehaltlosen – Grundrechte tendieren so de facto dazu, einem einfachen Gesetzesvorbehalt unterworfen zu werden. Möglicherweise aus der Not wird in diesem Sinne der Begriff „Rechtsgut von Verfassungsrang“ (o. Ä.) derart extensiv ausgelegt, dass so gut wie jeglicher staatliche Belang auf die Verfassungsrechtsebene projiziert und den Grundrechten entgegengesetzt werden kann. In diesem Sinne hebt Kriele hervor, dass, wenn tatsächlich eine Kollision zwischen dem Grundrecht und den in einfachen Gesetzen konkretisierten immanenten Schranken besteht, „dann findet sich regelmäßig irgendein Weg, das gesetzlich geschützte Rechtsgut in die Verfassungsebene hineinzuprojizieren: Es wird dann als Ausfluss des Sozialstaats- oder des Rechtsstaatsprinzips, der Menschenwürde (…) interpretiert: Das gesamte bürgerliche Recht lässt sich ausnahmslos aus dem Grundgesetz ableiten: (…). Das Verwaltungsrecht steckt in den organisationsrechtlichen Vorschriften, im Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip oder in den Grundrechten (…)“ usw. „Wollte man das ernstnehmen, gäbe es schließlich kein einziges gesetzlich geschütztes Rechtsgut, das nicht unter Berufung auf die eine oder andere Klausel des Grundgesetzes als Verfassungsgut ausgegeben werden könnte.“ Alles Gesetzesrecht wäre konkretisiertes Verfassungsrecht, sodass sich der Unterschied zwischen Verfassungsrecht und Gesetzesrecht verflüssigen würde – obwohl freilich die Grundrechte für den Gesetzgeber verbindlich sind.42

die insoweit eindeutige Aussage des GG verstößt. In der grundgesetzlichen Formulierung der meisten Grundrechtsbestimmungen findet in der Tat das Eingriffs- und Schrankendenken ein klares textliches Fundament. So darf beispielsweise in die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden; die Meinungs- und Pressefreiheit finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2); Beschränkungen des Post- und Fernmeldegeheimnisses dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden usw. Das GG schreibt ferner ausdrücklich vor, dass alle Grundrechte sämtliche öffentlichen Gewalten binden (Art. 1 Abs. 3), und bezieht sich in Art. 19 Abs. 1 noch einmal auf den Fall, dass ein Grundrecht „nach diesem Grundgesetz (…) durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann (…)“. Gegenüber der Annahme eines Generalvorbehalts wird im Folgenden auch auf die differenzierte Schrankensystematik des GG näher eingegangen. 41 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 107 ff. 42 Kriele, JA 1984, 629, 631. Da ferner das letzte Wort bei der Normenkontrolle dem Verfassungsgericht zusteht, hängt von ihm die autoritative Anerkennung des Verfassungsrangs eines Rechtsguts ab. Welche Werte aus der Verfassung tatsächlich destilliert werden können, bestimmt somit letztendlich das Verfassungsgericht.

I. Kollidierende Verfassungsgüter als verfassungsimmanente Grundrechtsschranken 183

In einigen exemplarischen Entscheidungen wird die Unübersichtlichkeit der möglichen kollidierenden Verfassungsgüter besonders deutlich. In BVerfGE 33, 23 wird z. B. die mit dem Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 GG kollidierende Eidespflicht des Zeugen vor Gericht als Ausprägung des Gemeinschaftsinteresses an einer funktionstüchtigen Rechtspflege aufgefasst. Dieses Rechtsgut sei wiederum im Wertsystem des GG durch die Vorschrift des Art. 92 GG festgemacht, sodass auch der Eidespflicht des Zeugen Verfassungsrang zukomme.43 Auch die ebenfalls vorbehaltlos gewährleistete Kunstfreiheit wird in verschiedenen Entscheidungen zum bloßen Interesse des Grundrechtsträgers herabgestuft, während z. B. die Bundesflagge oder auch die dritte Strophe der Nationalhymne zu verfassungsrechtlich geschützten Werten gemacht wurden.44 Damit könne die Verurteilung eines Künstlers, der die Nationalhymne oder auch die Bundesflagge satirisch darstellt, nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB (Verunglimpfung der Symbole des Staates) verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. So führt das Gericht an, dass die Bundesrepublik als freiheitlicher Staat auf die Identifikation ihrer Bürger mit den in der Flagge versinnbildlichten Grundwerten angewiesen sei und dass ihre Verunglimpfung die Autorität des Staates beeinträchtigen könne.45 Abgesehen von der Tatsache, dass diese Argumentation bei weitem die Bedrohungen übertreibt, die von den satirischen Äußerungen ausgingen, und dass sich die Bundesrepublik wohl ohne Rückgriff auf strafrechtliche Instrumente behaupten konnte, ist die hier geschaffene Schranke der Kunstfreiheit durchaus zweifelhaft. Die Bundesrepublik ist als freiheitlicher Staat vielmehr auf die Identifikation ihrer Bürger mit der gemeinsamen liberalen politischen Kultur, in der die Verfassungsgrundsätze – wie der der Kunstfreiheit – Wurzeln schlagen, angewiesen. Hier, wie auch in anderen Fällen, taucht die Tendenz auf, mögliche staatliche Interessen per Erhebung in den Verfassungsrang zu Grundrechtsschranken aufzuwerten.46 43

BVerfGE 33, 23 (32) (Eidesverweigerung aus Glaubensgründen). BVerfGE 81, 278 (293) (Bundesflagge) bzw. 81, 298 (308) (Nationalhymne). Die Bundesflagge ist zwar im Art. 22 GG genannt, der allerdings nur ihre Farben bestimmt. Die Nationalhymne ihrerseits findet gar keine Erwähnung im GG. 45 BVerfGE 81, 278 (293 f.) (Bundesflagge). Der erste Teil der Argumentation nähert sich übrigens dem bereits von Smend geäußerten Verständnis des Art. 3 WRV (Reichsfarben) an. Für ihn war der Inhalt dieser Vorschrift der, dass „das deutsche Staatsvolk als solches in diesem Symbol und in den durch dieses Symbol repräsentierten Werten von Verfassungs- und Rechts wegen eins sein“ sollte. Smend, VVDStRL 4/1928, S. 44, 49. s. auch ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 241, 260 f. 46 Vgl. Bamberger, Der Staat 39/2000, 355, 357. Exemplarisch ist auch ein Beschluss des BVerwG zum Verbot einer Theateraufführung. Durch eine Ordnungsverfügung war das „RockComical“ mit dem Titel „Maria-Syndrom“ verboten worden, das sich kritisch mit einigen Grundlagen des katholisch-christlichen Bekenntnisses, insbesondere der Jungfrauengeburt Marias, auseinandersetzen wollte. Die gegen die Ordnungsverfügung gerichteten Klagen blieben bis in die letzte Instanz erfolglos. Nach den Gerichten erfülle das „Rock-Comical“ den Straftatbestand des § 166 Abs. 1 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen). § 166 Abs. 1 StGB schütze im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1, 2 GG den öffentlichen Frieden in seiner religiösen und weltanschaulichen Ausprägung des Toleranzgedankens. Kunstwerken, welche die verfassungsrechtlich gewährleistete Ordnung beeinträchtigen, können Schranken gesetzt werden. 44

184 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Hinzu kommt die Problematik einer möglichen unmittelbaren Geltung dieser immanenten Schranken. Werden die kollidierenden Verfassungsgüter als verfassungsimmanente Schranken ernst genommen, dann bilden sie nicht nur zugelassene Einschränkungsmöglichkeiten, die der Gesetzgeber gegebenenfalls zu verwirklichen hat, sondern bereits unmittelbar geltende und als solche effektive Einschränkungen.47 Die Realisierung der Grundrechte ließe sich somit unmittelbar durch die Judikative begrenzen, d. h. durch Schranken gestalten, die von den Gerichten im Moment der normativen Anwendung des Rechts durchgesetzt werden. An die Stelle des verfassungsrechtlichen Eingriffsverbots und des Gesetzesvorbehalts träte dann eine (verfassungsunmittelbare) Ermächtigung der Exekutive mit Richtervorbehalt, die letztlich durch Interpretation und Abwägung des Verfassungsgerichts auszuüben wäre.48 Entsprechend könnten die Richter diese Schranken zur Anwendung bringen, ohne dass sie dazu einer Ermächtigung durch den Gesetzgeber bedürfen. Damit wären aber vorbehaltlose Grundrechtsnormen, deren Freiheitsgehalt die Verfassung besonders stark sichern wollte, mindestens ebenso leicht, wenn nicht gar leichter zu beschränken, als die Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt.49 Unabhängig von einer möglichen unmittelbaren Geltung ist aber Ergebnis dieses Begrenzungsmodells, dass alle Grundrechte unter dem Vorbehalt ungeschriebener Verfassungsgüter stehen, sodass man freilich Gefahr läuft, die verfassungsrechtliche Schrankensystematik zu verkennen und alle Grundrechte einer tendenziell uferlosen Abwägung im Einzelfall preiszugeben.

BVerwG, NJW 1999, 304 f. (Theater-Beschluss). s. auch die Vorinstanz OVG Koblenz, NJW 1997, 1174. Kritisch auch Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 310 f. Zum STF vgl. etwa RE 153531 v. 03. 06. 1997, 388 ff. (DJ 13. 03. 1998) (Farra do Boi); ADC 9 v. 13. 12. 2001, 1 (26 ff., 49 ff.) (DJ 23. 04. 2004) (Apagão); IF 2915 v. 03. 02. 2003, 152 (182 ff.) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); ADI 3105 v. 18. 08. 2004, 123 (168 f., 251, 320 f.) (DJ 18. 02. 2005) (EC 41/ 2003); Inq 2424 v. 26. 11. 2008, 341 (343 – LS 8) (Informativo 529/2008) (Medina, Alvim u. a.). 47 So überprüft das Gericht in BVerfGE 28, 243 auch nicht, ob eine ausreichende gesetzliche Grundlage besteht, um einen bereits bei der Bundeswehr dienenden Wehrpflichtigen bis zum Abschluss des Anerkennungsverfahrens zu weiterem Waffendienst zu zwingen. Diese Pflicht wird vielmehr unmittelbar mit „der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für die militärische Landesverteidigung“ begründet. Andeutungen im Sinne einer unmittelbaren Geltung finden sich etwa auch in BVerfGE 52, 283 (298) (Tendenzbetrieb); 59, 231 (261 ff.) (Freie Mitarbeiter). In jüngeren Entscheidungen hat das BVerfG dies zwar abgelehnt und gesetzliche Grundlage für die Schranke verlangt. Vgl. BVerfGE 107, 104 (120) (Anwesenheit im JGGVerfahren); 108, 282 (297) (Kopftuch); 122, 89 (107) (Wissenschaftsfreiheit in der Theologie): es bedürfe „grundsätzlich [!] auch insoweit einer gesetzlichen Grundlage“. Eine unmittelbare Geltung der immanenten Schranken erscheint aber eine logische Konsequenz ihrer Immanenz zu sein. 48 Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 21 f. 49 Vgl. Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 169 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 109 f., Rn. 71 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 74 ff., Rn. 327 ff.

I. Kollidierende Verfassungsgüter als verfassungsimmanente Grundrechtsschranken 185

3. Entdifferenzierung der verschiedenen Freiheitsrechte und ihrer Schrankenregelungen Bei dem herrschenden Abwägungsmodell ist eine Nivellierungstendenz festzustellen, die eigentlich sowohl die Verschiedenheit der unterschiedlichen Grundrechte als auch die differenzierten Schrankenregelungen der Verfassung überrollt.50 Die Ausdehnung der grundrechtlichen Schutzbereiche und die Abwägungsstrategie entdifferenzieren also einerseits die verschiedenen, auch in der Verfassung verschieden gesicherten Grundrechte in ein allgemeines Freiheitsrecht und stellen andererseits alle Grundrechtsgewährleistungen vollends unter den Vorbehalt ungeschriebener Schranken. Die Grundrechte werden nicht mehr als Garantien spezifischer Freiheiten des Bürgers gegen spezifische Eingriffe verstanden, sondern wandeln sich in pauschale, umfassende Handlungsfreiheiten51, womit eine Steigerung des Bedürfnisses nach Schranken notwendigerweise einhergeht, wie sie kollidierendes Verfassungsrecht für alle Grundrechte, Bereiche und Verhaltensweisen bereitstellt. Der Grundgesetzgeber hat absichtlich und explizit auf allgemeine Schrankenklauseln verzichtet und die einzelnen Grundrechtsgewährleistungen mit sehr verschiedenen Schrankenregelungen versehen.52 Wenn angenommen wird, dass alle Grundrechtsnomen nur gelten, soweit dem geschützten Freiheitsinteresse kein höherwertiges Rechtsgut entgegensteht, werden die im Grundgesetz getroffenen Regelungen – insbesondere die Vorbehaltlosigkeit mancher Grundrechte – nicht ernst genommen. Die abgestufte Systematik einfacher und qualifizierter Gesetzesvorbehalte sowie die Vorbehaltlosigkeit mancher Grundrechte verlieren vielmehr im Widerspruch zum Verfassungstext in der Praxis tendenziell ihren Sinn.

50

Vgl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 199 ff., 47, 51. So schützt z. B. die Kunstfreiheit demnach nicht mehr nur das Kunstspezifische, sondern wird zur Handlungsfreiheit des Künstlers, etwa sein Kunstwerk auf der Straße kundzutun oder zu verkaufen, auch wenn dies mit dem Inhalt der Kunst nicht in Zusammenhang steht. Hierzu und zur Unterscheidung zwischen dem „sachspezifisch Geschützten“ und den austauschbaren Modalitäten der Grundrechtsausübung, s. u. G.I.2; Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 56, 75; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 229 ff., 236 f. 52 Der Entwurf von Herrenchiemsee (1948) enthielt noch in Art. 21 Abs. 3 und 4 die folgenden generellen Schrankenregelungen: „(3) Die Grundrechte sind, soweit sich aus ihrem Inhalt nichts anderes ergibt, im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung zu verstehen. (4) Eine Einschränkung der Grundrechte ist nur durch Gesetz und unter der Voraussetzung zulässig, dass es die öffentliche Sicherheit, Sittlichkeit oder Gesundheit zwingend erfordert. Die Einschränkung eines Grundrechts oder die nähere Ausgestaltung durch Gesetz muss das Grundrecht als solches unangetastet lassen.“ Diese Bestimmungen wurden aber als gefährlich angesehen und durch die Konkretisierung und Differenzierung der Schranken bei den einzelnen Grundrechten ersetzt. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 105, Fn. 98. In der CF ist zwar die Schrankensystematik nicht so klar gegliedert wie im GG; beide Verfassungstexte kennen aber Grundrechte mit einfachen und mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt sowie vorbehaltlose Grundrechte. 51

186 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Die Eingriffsrechtfertigung durch kollidierende Verfassungswerte, weil kein Grundrecht absolut unbegrenzt bleiben kann, unterläuft daher die differenzierten Schrankenregelungen des Grundgesetzes und führt darüber hinaus zu einer methodisch unvermittelten und unbegründbaren Schrankenbestimmung.53 Man kann zwar eine sachgerechtere, differenzierendere Methodik der Verfassungskonkretisierung in der Rechtsprechung des BVerfG identifizieren. Neben dieser besteht aber auch die dargestellte Tendenz, die Grundrechte als Werte und ihre Gesamtheit als Wertsystem zu behandeln; ihre Konkretisierung, Begrenzung und Vermittlung mit anderen Verfassungsnormen methodisch durch Abwägung von Gütern oder Interessen bewältigen zu wollen. Als „rigide“ Verfassung54 verlangt das GG Deutlichkeit und Methodenklarheit im Umgang mit positivem Verfassungsrecht. Trotz der Abkehr von einem nur-formalen Verfassungsdenken sind die Gesetzesvorbehalte in ihrer Funktion als formalisierte Eingriffsermächtigungen für die Freiheitsgarantien weiterhin unentbehrlich, und fehlende positivrechtliche Ansatzpunkte für Grundrechtseingriffe lassen sich durch verfassungstheoretische Überlegungen nicht ersetzen.55

II. Axiologisches Verständnis der Verfassung und Grundrechte als objektiv-rechtliche Prinzipien In der gegenwärtigen Grundrechtsdogmatik werden die Grundrechte zunehmend zu abwägungsbedürftigen Prinzipien stilisiert. Dies gilt nicht nur für die Grundrechte als objektive Wertentscheidungen, sondern auch für die Grundrechte als Abwehrrechte, die sich im Rahmen des aufgreifenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch dem Abwägungsgebot unterziehen müssen. Das objektiv-rechtliche Grundrechtsverständnis bildete darüber hinaus den Ausgangspunkt für die Entfaltung einer breiten Palette von neuen Grundrechtsfunktionen, die wiederum zu weiteren Abwägungen führen können. Trotz der schwankenden Terminologie – Grundrechte als Werte, Wertenscheidungen und Wertmaßstäbe, als wertentscheidende Grundsatznormen, objektive Grundsatznormen, objektiv-rechtliche Prinzipien u. ä. – steht im Hintergrund dieser Entwicklung (mindestens implizit) das Verständnis, dass ein Konflikt zwischen Verfassungsprinzipien wie ein Konflikt zwischen Werten gelöst 53 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 108 f., Rn. 70 f. Kritisch ebenfalls Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 3, 226; Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 170; Muckel, in: FS Schiedermair, S. 347, 350 f.; Bamberger, Der Staat 39/2000, 355, 364. 54 Unter „rigider“ Verfassung versteht Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 17, nicht nur die geschriebene Verfassung, deren Änderung nur durch erhöhte Anforderungen (etwa qualifizierte Mehrheit) möglich ist, sondern auch das Verfassungsgesetz, „dessen Struktur vom Bestreben nach Normklarheit und Eindeutigkeit des geltenden Verfassungsbestandes geprägt ist, dessen Behandlung daher unter dem Rechtsstaatsgebot auch den Anforderungen optimaler Methodenklarheit zu genügen hat“. 55 Zum Ganzen Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 79, 110, Rn. 64, 71. Vgl. auch Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 55.

II. Axiologisches Verfassungsverständnis und funktionaler Pluralismus

187

werden soll.56 Im Schrifttum richtet sich die Kritik an der Abwägung oft unvermittelt gegen ihre rechtsstaatlich bedenklichen Folgen, ohne aber deutlich zu machen, dass die Prämisse einer Angleichung von Rechtsprinzipien (Rechtsnormen oder auch subjektive Rechte) an objektive Prinzipien (Werte, Zielsetzungen oder auch Optimierungsgebote) ebenfalls ein fundamentales Problem sein kann, welches weiterhin möglicherweise Ergebnis einer falschen Selbstinterpretation der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist. Hier wird daher zunächst das vom BVerfG und vom STF ausgebildete methodologische Selbstverständnis problematisiert, das die Orientierung an Prinzipien mit der Werte- bzw. Güterabwägung gleichstellt. Besondere Bedeutung erlangt in diesem Zusammenhang die Frage, ob die im Rahmen der Abwägung gefallenen Entscheidungen nicht die strikte Verbindung mit den typischen Alternativen des deontologischen juristischen Codes, nämlich gesollt/nicht gesollt, verlieren und ob dadurch die normative Kraft der Grundrechte als subjektive Rechte beeinträchtigt wird (1). Des Weiteren wird die Verkürzung des Anwendungsbereichs des Abwehrrechts und seine Schwächung durch die Ausdehnung unspezifischer Grundrechtsfunktionen, die sich in Eingriffstitel verwandeln lassen, diskutiert (2). Ins Auge zu fassen ist schließlich das Risiko, dass das Verfassungsgericht die Rolle eines Ideologiekritikers des Gesetzgebers oder sogar eines Wächters der gesellschaftlichen Werte einnimmt: eine kulturalistische Annahme, die dem gesellschaftlichen Pluralismus nicht gerecht wird und den Schutz von Minderheiten beeinträchtigen kann (3).

1. Entdifferenzierung von Rechtsnormen, Zielsetzungen und Wertorientierungen und Relativierung der normativen Wirkkraft der Grundrechte Die Angleichung von Rechtsnormen an Werte bzw. an abwägungsbedürftige Prinzipien wird in besonders scharfer Weise von Habermas kritisiert, der den Rechtsnormen (inkl. der Rechtsprinzipien) eine normative Struktur einräumt. Er führt vier Merkmale zur Differenzierung zwischen Normen und Werten an, nämlich: (1) ihre Bezüge zu obligatorischem bzw. teleologischem Handeln; (2) die binäre bzw. graduelle Codierung ihres Geltungsanspruchs; (3) ihre absolute bzw. relative Verbindlichkeit; (4) die Kriterien, denen der Zusammenhang von Norm- bzw. Wertsystemen ausreichen muss. Während Werte als intersubjektiv geteilte Präferenzen zu verstehen sind (teleologischer Sinn), verpflichten die gültigen Normen ihre Adres56 Darüber hinaus hat Alexy die unterschiedlichen Formen der Abwägungsdogmatik auch mit dem Optimierungsgebot in eine theoretische Fassung gebracht, an deren inhaltlichen Implikationen eine Abwägungsdogmatik kaum vorbeikommen wird. Vgl. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 100. Zur Konvergenz zwischen der Entwicklung der Grundrechte als objektive Prinzipien und dem Verständnis der Grundrechte als Optimierungsgebote s. Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 43 f.; Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 21.

188 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

saten ausnahmslos und gleichermaßen zu einem Verhalten, das generalisierte Verhaltenserwartungen erfüllt (deontogischer Sinn). Normen treten mit einem binären Geltungsanspruch auf und sind entweder gültig oder ungültig. Zu normativen Sätzen kann daher nur mit „Ja“ oder „Nein“ Stellung genommen werden. Werte hingegen drücken die Vorzugwürdigkeit von Gütern aus, die in bestimmten Kollektiven als erstrebenswert gelten. Sie legen lediglich Vorzugsrelationen fest, die besagen, dass bestimmte Güter attraktiver sind als andere. Deswegen kann den evaluativen Sätzen mehr oder weniger zugestimmt werden. Die Sollgeltung der Normen besitzt weiterhin den absoluten Sinn einer unbedingten und universellen Verpflichtung – das Gesollte beansprucht, gleichermaßen gut für alle zu sein. Die Attraktivität der Werte hat demgegenüber den relativen Sinn einer in Kulturen und Lebensformen adoptierten Einschätzung von Gütern – wichtige Wertentscheidungen sagen, was aufs Ganze gesehen gut für uns (oder für mich) ist. Verschiedene Normen müssen, wenn sie für denselben Kreis von Adressaten Geltung beanspruchen, in einem kohärenten Zusammenhang stehen, sie müssen ein System bilden. Daher dürfen sie einander nicht widersprechen. Verschiedene Werte konkurrieren hingegen lediglich um Vorrang. Sie bilden daher flexible und spannungsreiche Konfigurationen.57 Die von Habermas unternommene Differenzierung zwischen Normen und Werten – deontologischer und teleologischer Ebene – verweist auf den Unterschied zwischen dem Gerechten und dem Guten.58 Er differenziert nämlich zwischen moralischer, ethischer und auch pragmatischer Fragestellung im Gebrauch der Vernunft (sei sie dialogisch oder praktisch). In diesem Sinne beziehen sich ethische Fragen darauf, was gemäß der typischen Wertkonstellation einer Kultur oder Lebensform langfristig als „gut“ oder „schlecht“ für uns (oder für mich) angesehen wird. Die moralischen Fragen hingegen beziehen sich auf eine gleichmäßige Berücksichtigung der Interessen aller, d. h. auf die gleichermaßen für alle gute Handlungsweise. Pragmatische Fragestellungen schließlich stehen in Beziehung zum zweckmäßigen Handeln. Auch Rechtsnormen erheben nach Habermas, trotz ihres räumlich und zeitlich beschränkten Geltungsbereichs, den Anspruch, mit Moralnormen im Einklang zu stehen. Das Recht schließt allerdings nicht nur moralische Gründe ein. Rechtsnormen sind gültig, auch wenn sie nicht mit moralischen, sondern mit pragmatischen oder ethisch-politischen Gründen gerecht57 Zum Ganzen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 311, dem zufolge sich der Ausdruck „deontologisch“ auf den binär codierten Verpflichtungscharakter von Verhaltenserwartungen bezieht. s. auch ders., Die Einbeziehung des Anderen, S. 368. 58 Die Unterscheidung geht auf Immanuel Kant zurück, der die evaluativen Fragen des guten Lebens von den normativen (regelnden) Fragen des moralisch Richtigen differenziert und dem zufolge sich Glück oder das gute Leben im Gegensatz zum moralisch Richtigen philosophisch nicht bestimmen lassen. s. ferner Habermas, Faktizität und Geltung, S. 311: Anders als die ethischen Überlegungen, die am Telos je meines oder je unseres guten Lebens orientiert seien, verlangten moralische Überlegungen, die auf die unparteiliche Regelung von Handlungskonflikten zielten, eine von der Ego- bzw. Ethozentrik gelöste Perspektive. Vgl. auch Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 10 f., 105 ff., der den Vorrang des Rechten vor dem Guten als Grund für die Einräumung subjektiver Grundrechte hervorhebt.

II. Axiologisches Verfassungsverständnis und funktionaler Pluralismus

189

fertigt werden können.59 Die rechtlich regelungsbedürftigen Materien sind gleichzeitig eingeschränkter und umfangreicher als moralisch relevante Fragen. Denn einerseits ist nur das äußere, das erzwingbare Verhalten rechtlicher Regelung zugänglich.60 Andererseits bezieht sich aber das Recht nicht nur auf die Regulierung interpersoneller Handlungskonflikte, sondern ebenfalls auf die Verfolgung politischer Zielsetzung und Programme. Auch deswegen betreffen rechtliche Regelungen nicht nur moralische, sondern auch pragmatische und ethische Fragen sowie Kompromissbildungen zwischen widerstreitenden Interessen. Auf dieses verzweigte Netz von Diskursen und Verhandlungen sei allerdings nur die legislative – und nicht die judikative – Rechtfertigungspraxis angewiesen. Das durch ein Rechtssystem definierte Recht domestiziere vielmehr gleichsam die Zielsetzungen und Wertorientierungen des Gesetzgebers durch den strikten Vorrang normativer Gesichtspunkte, die bei der Rechtsprechung gegenüber teleologischen Gehalten stets vorherrschen sollten.61 Indem die Grundrechte als abwägungsbedürftige Prinzipien bzw. als Optimierungsgebote verstanden werden, kann aber ihr deontologischer Geltungssinn verloren gehen. Dadurch, dass die individuellen Rechte als Güter, Interessen oder Werte stilisiert werden, müssen sie im Einzelfall mit anderen Gütern, Interessen oder Werten auf gleicher Ebene um den Vorrang konkurrieren, und funktionalistische Argumente können so auf Kosten normativer Argumente die Oberhand gewinnen. Die im Rahmen der Güterabwägung gefallenen Entscheidungen können dann graduell danach herbeigeführt werden, was von den Gerichten auf einer axiologischen Ebene als besser, schlechter, wertvoller, lieber, vernünftiger usw. angesehen wird.62 Genau dadurch entsteht aber die Gefahr, dass die normative Kraft der Grundrechte und eine verfassungsadäquate Begründung der richterlichen Entscheidungen beeinträchtigt werden. Denn die Grundrechte verlieren ihren strikten Vorrang gegenüber nicht juristischen Argumenten und die gerichtlichen Entscheidungen werden vom geltenden Recht losgelöst. Die Gleichstellung der Grundrechte mit Gütern bzw. Werten kann somit dazu führen, dass die Grundrechte einer Kosten-Nutzen-Analyse unterliegen, die die verfassungsrechtlichen Garantien stark relativiert.

59 Vgl. Habermas, in: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 100 ff.; ders., Faktizität und Geltung, S. 193. 60 In diesem Sinne hebt Habermas, Faktizität und Geltung, S. 146 ff., hervor, dass die moralisch urteilende und handelnde Person unter unerhörten kognitiven, motivationalen und organisatorischen Anforderungen stehe, von denen sie als Rechtsperson entlastet werde. 61 Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 296 f.; ders., Faktizität und Geltung, S. 312. 62 Wie Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 455, beobachtet, können Bewertungen nur im Hinblick darauf getroffen werden, dass sie Folgen haben, die ihrerseits wieder positiv oder negativ bewertet werden können, dass sie sich mit anderen Bewertungen besser oder schlechter vertragen und dass sie Zustimmung oder Ablehnung finden. Sie sind also nur dezisionistisch zu leisten. s. dazu F.III.1.

190 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Der vom BVerfG und STF verwendete weite Prinzipsbegriff, der auch von Alexy übernommen wird, erfasst letztendlich alle möglichen in Abwägungen einstellbaren Werte, Interessen usw., ohne dass sie jeweils in Frage gestellt werden oder im Lichte von subjektiven Rechten gerechtfertigt werden müssen. Alexy verzichtet auf die von Dworkin eingeführte Unterscheidung zwischen Prinzipien und politischen Zielsetzungen (policies) und legt in diesem Sinne fest: Zu den Prinzipien gehören keineswegs nur Prinzipien, die auf individuelle Rechte bezogen sind, d. h. die Primafacie-Grundrechte gewähren, sondern auch solche, die kollektive Güter zum Gegenstand haben und die v. a. als Gründe gegen Prima-facie-Grundrechte, aber auch als Gründe für sie angewendet werden können.63 Prinzipien können sich daher sowohl auf individuelle Rechte als auch auf kollektive Güter beziehen. Es wurde aber bereits gezeigt (F.I.), dass ein solches Verständnis eine breite Annahme – wenn nicht Erzeugung – von Werten bzw. Gütern ermöglicht, die den Grundrechten begrenzend entgegengesetzt werden und die oft nicht unmittelbar einen verfassungsrechtlichen Rückhalt haben. Damit wird die dafür charakteristische Vermischung von Prinzipien und funktionalen Imperativen des administrativen oder des ökonomischen Systems übernommen. In diesem Sinne erkannte das BVerfG im Verlauf seiner Spruchpraxis unter anderem folgende Zielsetzungsargumente als Verfassungswerte an: Funktionsfähigkeit der Bundeswehr64, Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege (bzw. Strafrechtspflege)65, friedliches Zusammenleben der Menschen66, Sicherheit der Krankenversorgung67, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit68 und Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht69.70 Das Gericht 63 Zur Prinzipienebene zählen nach Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 117 f., 98, alle für das grundrechtliche Entscheiden unter dem Grundgesetz relevanten Prinzipien und das ist der Fall, wenn man das Prinzip zu Recht für oder gegen eine grundrechtliche Entscheidung anführen kann. 64 BVerfGE 28, 243 (261) (Dienstpflichtverweigerung); 48, 127 (159 f.) (Wehrpflichtnovelle); 69, 1 (21) (Kriegsdienstverweigerung II). 65 BVerfGE 33, 23 (32) (Eidesverweigerung aus Glaubensgründen); 44, 353 (374) (Durchsuchung Drogenberatungsstelle); 47, 239 (250) (Zwangsweiser Haarschnitt); 51, 324 (343) (Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten). 66 BVerfGE 47, 327 (382) (Hessisches Universitätsgesetz). 67 BVerfGE 57, 70 (99) (Universitätskliniken). 68 BVerfGE 100, 271 (283 f.) (Lohnabstandsklausel). 69 BVerfGE 49, 24 (56 f.) (Kontaktsperre-Gesetz); 120, 274 (319) (Grundrecht auf Computerschutz). Vgl. ferner BVerfGE 33, 52 (71) (Zensur) – Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung ; 81, 278 (292 ff.) (Bundesflagge) – funktionierende staatliche Ordnung und Autorität des Staates. Vgl. ferner Stern, StR III/2, § 84, S. 824 f. 70 Auch das STF hat unterschiedliche Zielsetzungsargumente als Rechtsprinzipien bzw. Verfassungswerte anerkannt, wie z. B. die Wirtschaftspolitik und -stabilität in ADI-MC 223 v. 05. 04. 1990, 1 (49, 63 f., 80) (DJ 29. 06. 1990) (Plano Collor); den Tierschutz in RE 153531 v. 03. 06. 1997, 388 ff. (DJ 13. 03. 1998) (Farra do Boi); die Funktionsfähigkeit der Energieversorgung in ADC 9 v. 13. 12. 2001, 1 (26 ff., 49 ff.) (DJ 23. 04. 2004) (Apagão); die wirtschaftliche Lage der Länder i. V. m. dem Vorbehalt des finanziell Möglichen – IF 2915 – 5 v.

II. Axiologisches Verfassungsverständnis und funktionaler Pluralismus

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hat darüber hinaus beispielsweise die Erhaltung eines hohen Leistungsstandes des Handwerks oder eines leistungsfähigen einheimischen Winzerstandes als wichtiges Gemeinschaftsinteresse71, die Vermeidung von Arbeitslosigkeit als besonders wichtiges Gemeinschaftsgut72, die Erhaltung einer funktionsfähigen Steuerrechtspflege als überragendes Gemeinschaftsgut73 und die Trägerschaft und Finanzierung der Staatsaufgaben als überragend wichtiges Gemeinschaftsgut74 eingeordnet. Es liegt auf der Hand, dass die Argumentation mit kollidierendem Verfassungsrecht und mit Gewichten von Gemeinschafts- und Individualgütern den Handlungsspielraum des Staates in den abwehrrechtlich geschützten Bereichen erheblich erweitert. Dass Grundrechte auch dazu da sind, staatliches Handeln vor Probleme und Schwierigkeit zu stellen, gerät allerdings aus dem Blick. Durch die Stilisierung von verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu Verfassungswerten und durch die Verwendung eines weiten Prinzipsbegriffs kann vielmehr nahezu jedes beliebige staatliche Interesse in „Rechtsgut von Verfassungsrang“ oder „überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“ umgewandelt und in die Einzelfallabwägung einbezogen werden. Im Vergleich dazu wird der Begriff des Prinzips z. B. von Dworkin enger gefasst. Laut ihm sind Prinzipienargumente solche, die ein individuelles Recht aufstellen sollen. Die auf kollektive Güter bezogenen Argumente nennt er „policies“ (Zielsetzungen).75 In der richterlichen Entscheidungspraxis genössen Prinzipienargumente Vorrang vor Zielsetzungsargumenten, die ihren genuinen Ort im Gesetzgebungsprozess fänden und über ihn in den juristischen Diskurs gelangten. Daraus folge nicht, dass notwendigerweise jedes Recht sich im konkreten Begründungszusammenhang einer Einzelfallentscheidung gegen jedes kollektive Gut durchsetzen könne. Der Vorrang eines kollektiven Ziels müsse aber seinerseits im Lichte von Rechtsprinzipien gerechtfertigt werden können.76 Alexy behauptet, sich auf Dworkin zu stützen, transformiert aber die Differenzierung zwischen Prinzipien und Regel in einen normstrukturellen Unterschied und verkürzt die Grundrechte letztlich weitgehend auf politische Zielsetzungen. Die Grundrechte, die in der liberalen Theorie

03. 02. 2003, 152 (182 ff.) (DJ 28. 11. 2003); die Aufrechterhaltung der Sozialversicherung in ADI 3105 v. 18. 08. 2004, 123 (168 f., 251, 320 f.) (DJ 18. 02. 2005) (EC 41/2003) und die öffentliche Ordnung bzw. das Recht/ die Pflicht des Staates zum Strafen in Inq 2424 v. 26. 11. 2008, 341 (343 – LS 8) (Informativo 529/2008) (Medina, Alvim u. a.). 71 BVerfGE 13, 97 (113) (Handwerksordnung); 37, 1 (22) (Weinwirtschaftsabgabe). 72 BVerfGE 21, 245 (251) (Führungskräfte der Wirtschaft). 73 BVerfGE 69, 209 (218) (Steuerberaterprüfung). 74 BVerfGE 85, 360 (375) (Akademie-Auflösung). 75 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 146 ff., 158 ff.; ders., Law’s Empire, S. 223. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 99, 154 f., meint, dass dem von Dworkin hervorgehobenen Unterschied auch im Rahmen eines weiten Prinzipbegriffs Rechnung getragen werden könne. Doch auch hier zeigt sich freilich der wissenschaftstheoretische Verdacht seiner Prinzipientheorie, die fast jede an ihr geäußerte Kritik auf ein Prinzip zurückführen und in sich aufnehmen kann, indem sie es in die Abwägung einstellt (s. o. E.III.5.). 76 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 254, 315 f.

192 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

von Dworkin die Politik begrenzen und ihre Legitimität bedingen, verlieren dabei gerade diese Dimension. Im Recht geht es darum, was gesollt ist. Das Recht ist also deontologisch und soll nicht mit dem im Lichte unserer Wünsche Erreichbaren verwechselt werden. Es ist also zu überlegen, dass unabhängig von den Themenbereichen, welche die Normen ordnen, und unabhängig von den Werten, Gütern und Interessen, die sich aus den verschiedenen dargestellten Gründen im Prozess ihrer Hervorbringung als entscheidend erwiesen haben, die Rechtsnormen an sich nach einem Binärcode des Rechts funktionieren, nämlich „gesollt/nicht gesollt“, oder nach Luhmann „Recht/ Unrecht“. Deshalb, auch wenn die Grundrechte moralische oder ethische Gehalte zeigen, sollen diese nicht mit der Moral oder der Ethik verwechselt werden, ebenso wie mit der Politik oder der Ökonomie usw.77 Auch aus diesem Grunde begreift Dworkin Rechte als „Trümpfe“, die im juristischen Diskurs der normativen Anwendung gegen politische Argumente benutzt werden können; d. h. gegen nicht juristische Argumente, die im Moment der Rechtsanwendung nicht eingefügt, besetzt oder zur Rechtsnorm erhoben werden können, geschweige denn, dass sie die Qualität einer Verfassungsnorm besitzen würden. Die Grundrechte sind Rechtsnormen und nicht lediglich attraktive Güter oder Interessen. Sie beanspruchen allgemeine Verbindlichkeit und nicht nur eine spezielle Vorzugswürdigkeit. Sie haben, wie übrigens alle Rechtsnormen, eine deontologische und nicht, wie Werte, teleologische Struktur.

2. Funktionaler Pluralismus, Schutzpflicht und Verkürzung des Abwehrrechts Wie die Argumentation mit immanenten Grundrechtsschranken erweitert auch die Ausdehnung unspezifischer grundrechtlicher Funktionen den Handlungsspielraum des Staates in den abwehrrechtlichen geschützten Bereichen. Sie führt nämlich ebenfalls zu einer problematischen Erzeugung von Kollisionen nicht nur zwischen unterschiedlichen Grundrechten, sondern auch zwischen unterschiedlichen Grundrechtsfunktionen dogmatisch weitgehend unbestimmten Inhalts, was wiederum zu weiteren unspezifischen Abwägungen führt. In der Tat kann die Erweiterung der Grundrechtsfunktionen auch kollidierende Verfassungsrechte schaffen und so dem Staat die legitimierende Berufung auf Abwägung von und Übereinstimmung mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen eröffnen. 77 In diesem Sinne kennzeichnet die Moderne nach Luhmann genau die funktionale Differenzierung von autopoietischen Teilsystemen, die zwar kognitiv offen, operativ jedoch geschlossen sind. Diese Ausdifferenzierung findet mittels einer Spezialisierung in der Kommunikation von Teilsystemen des sozialen Systems statt, die auf der Basis von spezifischem und verschiedenem binären Code operieren. Demnach sei das Recht ein Teilsystem, das sich von dem der Politik, der Moral, der Religion usw. unterscheide und nach dem binären Code Recht/ Unrecht operiere. Vgl. Luhmann, Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 235 ff.

II. Axiologisches Verfassungsverständnis und funktionaler Pluralismus

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Die neuen Grundrechtsfunktionen lassen sich daher als Eingriffstitel gegen abwehrrechtliche Positionen instrumentalisieren, können so die Zahl der Grundrechtseingriffe in die Höhe treiben und entsprechend zu einer Schwächung der Abwehrrechte führen.78 Insbesondere in den grundrechtlich verstandenen Schutzpflichten liegt die Gefahr von Kollisionen mit Freiheitsrechten begründet. Der staatliche Schutzauftrag für eine grundrechtlich gesicherte Freiheit kann eben in der Regel nur durch Beschneidung anderer Freiheiten oder derselben Freiheit anderer erfüllt werden.79 Der Staat steht dann bei solchen Dreiecksverhältnissen vor zwei gegensätzlichen Verhaltensanweisungen: Die grundrechtliche Schutzpflicht verlangt im Prinzip einen Grundrechtseingriff, während das Abwehrrecht genau diesen Eingriff unter Rechtfertigungszwang stellt. Da aber zusätzlicher Schutz stets denkbar ist,80 können die Grundrechte als Schutzpflichten im Ergebnis zur Grundlage einer Fülle von Freiheitsbeschränkungen werden. Wie Ladeur betont, werden verschiedene unübersichtliche Interessen auf dem Umweg über das Verfassungsrecht als Schutzpflicht und damit als prinzipiell gleichrangig behandelt und zum Gegenstand unspezifischer Abwägungen mit kollidierenden Rechten. Dadurch relativieren sich die Grundrechte als Abwehrrechte völlig und werden situativen Veränderungen durch den Staat ausgesetzt, was „willkürgefährdete“, vom Zufall abhängige Wertungen des Staates verursache.81 Das Risiko, dass die Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil verkehrt wird, bringen die Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch exemplarisch zum Ausdruck. Bis zum 1. Abtreibungsurteil lag in diesem Sinne die Funktion des BVerfG hinsichtlich der Freiheitsrechte grundsätzlich nur darin, ihre Verletzungen durch übermäßige Eingriffe der staatlichen Gewalt abzuwehren. Verfassungsgerichtliche Kontrolle von Strafvorschriften bedeutete daher die Prüfung, ob der Staat überhaupt oder in dem vorgesehenen Umfang strafen darf. Unter dem Titel einer wertentscheidenden Grundsatznorm kommt aber das Gericht zum umgekehrten Ergebnis, 78 Vgl. ferner Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 409: „Weitere Grundrechtsfunktionen neben dem Abwehrrecht einzufordern, stärkt das Abwehrrecht nicht, sondern führt zu seiner Schwächung. Die unbestimmten Kriterien objektiv-rechtlicher Grundrechtsfunktionen weichen die Dogmatik des Abwehrrechts auf. Neue Grundrechtsfunktionen lassen sich als Eingriffstitel gegen abwehrrechtliche Positionen wenden.“ 79 Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 222. s. auch Isensee, in: HStR V, § 111, S. 147, 233, Rn. 5, 165. Ähnliches gilt für das mit der Schutzpflicht in Verbindung gebrachte Untermaßverbot. Soll das Übermaßverbot als Schutz der Bürgerfreiheit wirken, so wirkt das Untermaßverbot oft als Titel für Eingriffe in eben diese Freiheiten, mindestens indirekt, indem es den Gesetzgeber aktiviert, zum Schutze des einen Rechtsgutes in ein anderes einzugreifen. 80 In der Tat enthalten Leistungsrechte im Allgemeinen einen Impuls zum progressus in infinitum. Nicht nur zusätzlicher Schutz, sondern auch stärkere Förderung, günstigere Einrichtung von Rechtsinstituten, bessere Ausgestaltung usw. sind stets denkbar. 81 Vgl. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 36 f. Der Autor stellt weiterhin fest, dass die Stilisierung der Grundrechte zu abwägungsbedürftigen Prinzipien die Unterschiede zwischen den einzelnen Grundrechten sowie ihren verschiedenen Dimensionen einebne. Ebd., S. 44. Vgl. auch Isensee, in: HStR V, § 111, S. 236, Rn. 175.

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dass der Staat strafen muss.82 Aus einer Freiheit gewährenden Grundrechtsnorm wird also eine Pflicht des Gesetzgebers zum stärksten denkbaren Eingriff in den Freiheitsbereich des Bürgers abgeleitet.83 Fragwürdig ist ebenfalls die aus der staatlichen Schutzpflicht entnommenen „Gebärpflicht“ der Schwangeren. Die Pflicht des Staates, Schutzvorkehrungen zu treffen, wird zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht der Frau zum Austragen der Leibesfrucht. Im Ergebnis wurden somit aus der Schutzpflicht konkrete Handlungspflichten nicht nur für den Staat, sondern auch für die Bürger hergeleitet.84 Innerhalb des Dreiecks zwischen der Frau, dem ungeborenen Leben und dem Staat kann aber die Schutzpflicht für das ungeborene Leben allein den Staat in Anspruch nehmen, nicht unmittelbar schon die Frau. Nur der Staat ist verpflichtet, Grundrechtsbegrenzungen zu rechtfertigen; der Bürger ist diesbe-

82 Nicht dass jede Pflicht zum Grundrechtsschutz mit den Mitteln des Strafrechts a priori und ausnahmslos zurückgewiesen wird. Aber die entscheidenden und kontroversen Fragen, ob das Beratungsverfahren einen effektiven Schutz des ungeborenen Lebens bewirken kann, ob die Strafdrohung auf der Grundlage einer Indikationenregelung ein geeignetes und erforderliches Mittel zu diesem Schutz darstellt, und wer, wenn diese Fragen ungeklärt sind, die Einschätzungsprärogative hat, verwies das BVerfG in den zweiten Rang. Es traf vielmehr eine positive Entscheidung im Gegensatz zur Meinung des Gesetzgebers, ohne sich mit dessen entgegengesetzter und liberaler Ansicht argumentativ auseinanderzusetzen. Vgl. dazu F.IV.2.; Kriele, JZ 1975, 222, 223. Abgesehen davon ist aber die Warnung, Grundrechte dürfen nicht zur Grundlage einer Fülle von – richterlich statuierten – Freiheitsbeschränkungen werden, ernst zu nehmen. 83 Vgl. zum Ganzen abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon in BVerfGE 39, 1 (70 ff.). Auch die Senatsmehrheit bemerkt übrigens, dass Strafvorschriften an der Spitze der Skala der Eingriffsmöglichkeiten stehen. Vgl. ebd., S. 47: „Die Strafnorm stellt gewissermaßen die ,ultima ratio‘ im Instrumentarium des Gesetzgebers dar.“ So auch BVerfGE 88, 203 (258) (Schwangerschaftsabbruch II). 84 Dieser Ansatz führte außerdem im 2. Abtreibungsurteil zu einer Reihe weiterer nicht unproblematischer Folgen. So gerät die abbrechende Frau, bei der keine vom BVerfG akzeptierte Indikationslage gegeben ist, auch bei Einhaltung aller gesetzlichen Bestimmungen über das Beratungsverfahren ins Unrecht und bleibt darin. Dies gilt auch dann, wenn bei ihr „an sich“ eine psycho-soziale Notlage vorlag; denn unter die „beratenen Abbrüche“ fallen auch die wegen sozialer Notlagenindikation an sich gerechtfertigten Abtreibungen. Kritisch hierzu die abw. Meinung von Mahrenholz und Sommer und die von Böckenförde in BVerfGE 88, 203 (353 bzw. 362 ff.); Dederer, in: Menzel, Verfassungsrechtsprechung, S. 249, Fn. 47; Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 564, 570 f. Nicht unumstritten sind auch die Implikationen der Entscheidung für das ärztliche Berufsrecht. Das Gericht widmete mehr als fünf Seiten des Urteils der Stellung des Arztes und seinen Pflichten, erstaunlicherweise aber ohne mit der gebotenen Klarheit festzustellen, dass, ob und wann der abbrechende Arzt in seinem Handeln gerechtfertigt ist oder nicht. Es statuierte außerdem eine lange Reihe von ärztlichen Pflichten und forderte, dass diese strafrechtlich abgesichert werden. Dies ging so weit, dass das BVerfG dazu nicht nur dem Gesetzgeber Vorschriften für die Ausgestaltung der Lehrpläne an öffentlichen Schulen machte, sondern auch die „staatsfreien“ öffentlich-rechtlichen und die erst recht staatsfreien privaten Rundfunkanstalten programmlich auf die Erfüllung der Aufgabe „Lebensschutz“ verpflichtete. Weshalb dies alles verfassungsrechtlich geboten sein soll, ist jedenfalls dem Untermaßverbot nicht ohne weiteres zu entnehmen. Vgl. Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 562 ff., 568 f., 571.

II. Axiologisches Verfassungsverständnis und funktionaler Pluralismus

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züglich nicht unmittelbarer Grundrechtsadressat.85 Zwar ist das Ergebnis, dass die Schutzpflicht dem Gesetzgeber vorschreiben könne, mit welchen rechtlichen Mittel er die Regelung eines Konflikts verfolgen muss, bislang gewissermaßen singulär geblieben. Das ist aber eine mindestens mögliche – wenn nicht zwangsläufige – Folge der aktuellen Entfaltung der Schutzpflichtdogmatik, insbesondere des Untermaßverbots. Mit dem Übergriff der Schutzpflicht auf die Ebene der inhaltlichen Konfliktentscheidung treten Abwehrrecht und Schutzpflicht in Konkurrenz, und bei der Koordinierung der verschiedenen Grundrechtsfunktionen droht das Abwehrrecht überspielt zu werden.86 Selbst Befürworter grundrechtlicher Schutzpflichten sind insofern für das abwehrrechtsgefährdende Potential der Entwicklung dieser Funktion sensibilisiert worden. So warnt etwa Isensee vor einer Hypertrophie der Schutzpflicht: „Seit die Schutzpflicht sich als Kategorie durchgesetzt hat, regen sich Bestrebungen, sie ins Uferlose auszudehnen, sie mit heterogenen Gehalten anzureichern und dergestalt zu überfrachten, dass die Abwehrfunktion leidet und der richtige Rechtsgedanke diskreditiert werden kann.“87 In diesem Sinne gilt es auch, die Tendenz zur Verkürzung des Anwendungsbereichs des Abwehrrechts durch die Entfaltung anderer Funktionen – v. a. der Schutzpflicht – zu problematisieren. Wie bereits dargestellt, herrscht beim funktionalen Pluralismus die Vorstellung, dass das Abwehrrecht nicht ausreicht, um die Vielfalt der als grundrechtsrelevant wahrgenommen Phänomene zu erfassen.88 Die abwehrrechtliche Dogmatik sei z. B. nicht imstande, die Bedeutung der Grundrechte für das Vertragsrecht oder gar für das Privatrecht zu bewältigen, sodass die Anwendung des Abwehrrechts für diese oder auch für andere Bereiche zurückgenommen werden sollte.89 Doch abgesehen von der Tatsache, dass die große Mehrheit der Drittwirkungsfälle mit abwehrrechtlichen Kategorien operiert,90 ist dabei auch festzustellen, dass die Äußerungen zu den Defiziten des Abwehrrechts mit einer 85 Vgl. dazu die abw. Meinung von Mahrenholz und Sommer in BVerfGE 88, 203 (340 ff.). Deswegen hielten diese Richter das Handeln der Frau (Abbruch oder Fortsetzung der Schwangerschaft) – nachdem sie sich beraten ließ – für grundrechtlich fundiert und somit erlaubt. 86 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 196. 87 Isensee, in: HStR V, § 111, S. 155, Rn. 20, der auch betont, dass alle weiteren Funktionen, so es sie denn gebe, ergänzend hinzuträten. Sie könnten die Hauptfunktion – d. h. die Abwehrfunktion – nicht „modifizieren, verdrängen oder ersetzen“ (S. 150, Rn. 11). 88 Hierzu und zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 87 ff. 89 Vgl. etwa Dürig, in: Gesammelte Schriften, S. 215 f.; Stern, StR III/1, § 76, S. 1572 ff.; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 180 ff.; Canaris, AcP 184/1984, 201, 217, 225 ff. Kritisch Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 87 ff., und insofern auch Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 36 ff.; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 215 f., Rn. 132 ff. 90 s. o. insbesondere C.I.2. Diese Feststellung wird auch von Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 233 ff., im Wege einer umfangreichen Analyse der diesbezüglichen Rechtsprechung nachgewiesen.

196 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

mehr oder weniger extensiven Einschränkung seines Anwendungsbereichs einhergehen. Argumente, die für eine solche Einschränkung sprechen, liegen aber nicht auf der Hand.91 Angesichts der Staatlichkeit allen Rechts ist vielmehr im Prinzip unklar, wieso die Abwehrrechte nicht auch etwa auf das Privatrecht oder das Vertragsrecht zu erstrecken wären bzw. wieso Art und Ausmaß der staatlichen Bindung an die Grundrechte beim Privatrecht anders sein sollten als beim öffentlichen Recht. Werden die pluralistischen Theorien z. T. aus einer Ideologiekritik des liberalen Grundrechtsverständnisses legitimiert, dann ist es wohl erstaunlich, dass sie gerade die relative und kontingente Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht, die allein durch die Rechtsordnung produziert wird, wieder als kategorial und substantialistisch behandeln und damit zumindest einen guten Teil der Ideologie, die sie kritisieren, in ihrem Modell mit der Beschränkung des Abwehrrechts wieder aufnehmen.92 Die Annahme grundrechtlicher Schutzpflichten zur Bewältigung bestimmter Duldungspflichten kann außerdem zu einer Asymmetrie der grundrechtlichen Erfassung des Konflikts führen. Während der sog. Störer gegen eine staatliche Regelung seines einen Dritten beeinträchtigenden Verhaltens Abwehrrechte anführen könnte, sollte sich der beeinträchtigte Dritte „nur“ auf eine grundrechtliche Schutzpflicht – und die damit verbundene Mindestposition – berufen.93 Eine Grundrechtstheorie, die dem Störer eine stärkere Grundrechtsposition von vorn91 Soweit hierbei auf die Problematik der Duldungspflichten hingewiesen wird (so etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417 ff.; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 164 ff.), ist dann erklärungsbedürftig, wieso Duldungspflichten, die im öffentlichen Recht als Grundrechtseingriffe anerkannt sind, es in anderen Bereiche der Rechtsordnung nicht sein sollten. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 88. Zur Erfassung der Duldungspflichten im Privatrecht vgl. ebd., S. 169 ff. Entscheidend ist hier, dass die Dreiecksverhältnisse über die Figur des normativen (und nicht faktischen) Grundrechtseingriffs abwehrrechtlich zu erfassen sind. Für die grundrechtliche Beurteilung ist stets das staatliche Verhalten maßgeblich – in diesem Fall: die Regelung des Freiheitskonflikts und nicht etwa ein zugerechneter privater Eingriff. Somit führt die Eingriffsrelevanz von Duldungspflichten nicht zu einer Zurechnung privaten Verhaltens zum Staat. s. ebd., S. 173 f. und unten G.I.4. 92 Vgl. die bereits oben (B.IV.1.) ausgeführte Diskussion um die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, die nicht mit der Vorstellung einer grundrechtlich nicht zu verantwortenden rechtlichen Ordnung der Gesellschaft verbunden werden soll. 93 Vgl. diesbezüglich Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 89 ff.; im Ansatz auch Suhr, JZ 1980, 166, 167 (zu seiner Zeit sprach man freilich meistens noch von einer sozialstaatlichen – statt schutzpflichtrechtlichen – Mindestposition). Diese Asymmetrie vermeidet etwa Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 181 ff., dadurch, dass er – in gewisser Anlehnung an Häberles Überlegungen – immanente Einrichtungsgarantien auf alle Grundrechte projiziert und das Privatrecht als die „Einrichtung“ der Grundrechte im Verhältnis Privater zueinander behandelt. Allerdings ist auch bei diesem Modell eine eindeutige Relativierung der Bindung des Staates bei der Setzung und Anwendung des Privatrechts festzustellen – was übrigens den pluralistischen Theorien eigentümlich ist. An die Stelle des Abwehrrechts und seiner Struktur tritt im Ergebnis das unbestimmte Kriterium des „Mindestmaßes“ bzw. des Untermaßverbots. Abgesehen von den extremen Fällen einer Menschenwürdeverletzung tendiert also dieser Ansatz in Bezug auf das Privatrecht praktisch dazu, nur eine Grundrechtsgeltung nach Maßgabe der Gesetze anzuerkennen.

II. Axiologisches Verfassungsverständnis und funktionaler Pluralismus

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herein einräumt, ist allerdings mit der Prämisse gleicher Freiheiten nicht vereinbar. Selbstverständlich können rechtliche Regelungen asymmetrische Behandlungen begründen; sie sind aber Ergebnisse politischer Entscheidungen – und nicht a priori grundrechtlich zu begründen. Mit den Freiheitsrechten verbindet sich vielmehr die Vorstellung grundrechtlicher Gleichheit, d. h.: Jedermann soll den gleichen freiheitsrechtlichen Status genießen. Die Asymmetrie ist somit politisch zu verantworten und findet ihre Grenzen in dem, was der freiheitsrechtliche Status jedem Bürger gleichermaßen vermittelt. Die Verdrängung des Abwehrrechts durch die Entfaltung anderer Funktionen ist außerdem besonders deswegen problematisch, weil sie der Rechtsprechung eine sehr breite und unstrukturierte Kontrollmöglichkeit eröffnet. Die Funktionen, die dem Abwehrrecht an die Seite gestellt werden, verfügen in diesem Sinne bislang über sehr einfache Strukturen, die der Rechtsprechung letztlich kaum konkrete Vorgaben machen. Im Ergebnis laufen pluralistische Ansätze eigentlich zumeist auf eine Abwägung hinaus – sei es zwischen den Grundrechtspositionen verschiedener Beteiligter, sei es überhaupt zur Konkretisierung der einzelnen Funktionen.94 Diese allgemeine Zuflucht zum Konzept der Abwägung gilt auch für die Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflicht, die bisher die größte dogmatische Aufmerksamkeit erfahren hat, aber nicht über die vage Aussage hinausgekommen ist, dass ein Mindestmaß an grundrechtlichem Schutz zu gewährleisten sei. Zur näheren Bestimmung dieses Mindestmaßes bestehen keine dogmatischen Vorgaben. Eine solche leistet auch das Untermaßverbot nicht, von dem sogar Befürworter grundrechtlicher Schutzpflichten einräumen, dass es keine eigenständige dogmatische Bedeutung habe, der Schutzpflicht keine dogmatischen Konturen verliehe und es sich eigentlich nicht um eine Konkretisierung, sondern lediglich um eine Reformulierung der grundrechtlichen Schutzpflicht handele.95 Die pluralistischen Ansätze tendieren somit dazu, nicht nur das Abwehrrecht ohne ausreichende Begründung als Maßstab für bestimmte staatliche Grundrechtseingriffe auszuschließen, sondern auch etwas 94 Repräsentativ Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 85, der zwar eine stärkere dogmatische Ausdifferenzierung der Schutzpflichten vorschlägt (S. 75 ff.), dann aber für die Schutzpflichten in Dreieckskonstellationen wieder zum Abwägungskonzept kommt: „Einzellfallabwägungen sind in diesem Bereich meist unvermeidbar. (…) Das Austarieren ist (…) eine Frage des Einzelfalls.“ 95 Dietlein, ZG 1995, 131, 139 ff.; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 85 ff.; Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 78. Kritisch auch die Befürworter der Kongruenzthese, Hain, DVBl. 1993, 982 ff.; Starck, JZ 1993, 816, 817: „Der Ausdruck Untermaßverbot besagt also über den Begriff der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht hinaus nichts Neues.“ Wie Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 94 f., hervorhebt: Ist ein Mindestmaß an Schutz geschuldet und wird dieses Mindestmaß unterschritten, liegt eine Verletzung der Schutzpflicht und damit ebenfalls ein Verstoß gegen das Untermaßverbot vor. Dieses bringt also die grundrechtliche Schutzpflicht nur auf einen anderen Begriff, fügt ihr jedoch dogmatisch nichts hinzu. Wie bei den Abwägungsentscheidungen im Rahmen der Prinzipientheorie, bleibt es dabei, dass nur anhand der Umstände des Einzelfalles entschieden werden kann, wann etwa die allgemeinen Schutzvorkehrungen der Rechtsordnung ausreichen. Zum Untermaßverbot vgl. auch unten F.III.2.

198 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

an seine Stelle zu setzen, was dem Abwehrrecht im Hinblick auf die Komplexität seiner dogmatischen Struktur nicht äquivalent ist.96 Durch die zusätzlichen Grundrechtsfunktionen dogmatisch weitgehend unbestimmten Inhalts, die in einem weitgehend ungeklärten Verhältnis zueinander stehen, dehnen sich die verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstäbe deutlich aus. Aufgrund ihrer Unbestimmtheit degradieren auch die neuen Funktionen die Freiheitsrechte zu bloßen „Abwägungsgesichtspunkten“ und eröffnen dem Verfassungsgericht eine weitreichende Gestaltungsmöglichkeit; denn es kann nun nicht nur Unterlassungs-, sondern auch bestimmte Handlungsgebote festlegen.

3. Das Verfassungsgericht als Ideologiekritiker des Gesetzgebers und Hüter der gesellschaftlichen Werte Das dem Abwägungsdenkens zugrunde liegende Verständnis, dass ein Konflikt zwischen Verfassungsprinzipien wie ein Konflikt zwischen Werten gelöst werden soll und dass die Verfassung eine objektive Wertordnung bildet, stellt weiterhin der Rechtsprechung Spielraum zur Verfügung, um in der Gesellschaft die Rolle eines Ideologiekritikers des Gesetzgebers und sogar eines Wertewächters zu übernehmen; eine kulturalistische Annahme, die dem gesellschaftlichen Pluralismus nicht gerecht wird. Indem sich das Verfassungsgericht von der Idee der Realisierung verfassungsrechtlich vorgegebener materialer Werte leiten lässt, kann es sich in eine autoritäre Instanz verwandeln.97 Wenn im Kollisionsfall alle Gründe den Charakter von Zielsetzungsargumenten annehmen können, fällt jene Brandmauer, die mit einem deontologischen Verständnis der Rechtsnormen in den juristischen Diskurs eingezogen wird. Wie im Folgenden darzulegen ist, darf die Verfassung unter Bedingungen des kulturellen und gesellschaftlichen Pluralismus nicht als eine konkrete Wertordnung verstanden werden, die der Gesellschaft a priori eine bestimmte Lebensform überstülpt. Das Risiko einer Enteignung der politischen Willensbildungsprozesse und überhaupt der gesellschaftlichen Interessenfindungsprozesse durch die Justiz wird in der Tat durch eine grundsätzliche Transformation des Verfassungsbegriffs besonders begünstigt: Die Verfassung wird nicht mehr als Dokument der Institutionalisierung von Verfahren und grundrechtlichen Garantien von Freiheitsräumen angesehen, die gerade die genannten gesellschaftlichen und politischen Prozesse sichern soll, sondern als eine Gemengelage widerstreitender Güter und zugleich als ein grund96 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 95. Wenn die dogmatischen Strukturen des Abwehrrechts nicht zuletzt ebenfalls durch ein Abwägungselement der Tendenz nach eingeebnet werden, bieten sie insoweit einen Vorzug gegenüber anderen Konzeptionen. Vgl. ebd., S. 100. Zur besonderen Unbestimmtheit der Schutzpflicht im Vergleich mit dem Abwehrrecht s. auch BVerfGE 96, 56 (64) (Vaterschaftsauskunft). Ebenso, aber in Bezug auf die sog. Wertentscheidungen, abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon in BVerfGE 39, 1 (71 f.). 97 s. hierzu und zum Folgenden Habermas, Faktizität und Geltung, S. 315, 320.

II. Axiologisches Verfassungsverständnis und funktionaler Pluralismus

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legender Text, aus dem die richtigen Werte und Verhaltensweisen unmittelbar abgeleitet werden können.98 Die an Werten orientierte Lösbarkeit der Konflikte zwischen Einzelwohl- und Gemeinwohlverfolgung wird dann im Rahmen der die Verfassung tragenden Wertordnung vorausgesetzt. Weil es das Verfassungsgericht ist, welches einzelfallbezogen und letztinstanzlich über Rang, Bedeutung und Reichweite einzelner Werte entscheidet, nimmt die Verfassung insofern einen unbestimmt-flexiblen Charakter an, der das Verfassungsgericht in die Lage einer politischen Schiedsinstanz für die Auswahl zwischen konkurrierenden Gesetzgebungsprojekten versetzen kann. Genau der Vorwurf, die Rolle des Gesetzgebers bei der positiven Gestaltung der Sozialordnung und sogar eines Wächters gesellschaftlicher Werte einzunehmen, wird in diesem Sinne dem BVerfG z. B. hinsichtlich des 1. und des 2. Urteils zum Schwangerschaftsabbruch gemacht. Das Kernproblem dieser Urteile scheint in der Tat weniger zu sein, ob der Gesetzgeber unter Berücksichtigung der Grundrechtsposition der Frau das ungeborene Leben durch vertretbare Entscheidung schützt, sondern mehr, dass er die ethische Missbilligung nichtindizierter Schwangerschaftsabbrüche im Gesetz zum Ausdruck bringen muss, um das sittliche Bewusstsein der Bürger zu prägen.99 Das Gericht fordert also den Gesetzgeber dazu auf, einen gesellschaftlichen Wertewandel zu stoppen und seine eigene Wertvorstellung, der zufolge die Frauen eine „Gebärpflicht“ haben, durch Strafandrohung bzw. durch Beharren auf der Rechtswidrigkeit der Abtreibung im „Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit“ durchzusetzen.100 Schon grundrechtsdogmatisch ist es allerdings eine Überdehnung der grundrechtlichen Schutzpflicht, wenn man ihr abverlangt, sie solle das sittliche Bewusstsein formen.101 98

Vgl. Maus, in: Sturz der Götter?, S. 121, 131. BVerfGE 39, 1 (44, 57 f., 66) (Schwangerschaftsabbruch I); 88, 203 (272 ff., 278 f., 319 f.) (Schwangerschaftsabbruch II). s. dazu auch F.IV.2; abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon in BVerfGE 39, 1 (92 ff.); Kriele, JZ 1975, 222. 100 Insoweit lässt sich sogar die harsche Attacke in der Öffentlichkeit verstehen: Im Urteil „haben offenbar sechs Leute ihre mehr oder weniger katholisch-dogmatisch ausgeprägte Gesinnung hineingerührt“. Gerste, Die Zeit 23, v. 04. 06. 1993, 1. Die Ausführungen des Gerichts werden andererseits von Starck, JZ 1993, 816, 821, auch dadurch gerechtfertigt, dass die Verfassung die Minderheiten vor der Mehrheit schützen soll. Der Gedanke des Schutzes der Minderheit scheint allerdings hier pervertiert zu werden; denn er bedeutet, dass die Minderheitsmeinung als prinzipiell gleichberechtigte Alternative zu respektieren ist und präsent bleiben kann. Es muss also stets die Möglichkeit bewahrt werden, dass die Minderheit selbst die Mehrheit gewinnen kann. Ist die Minderheitsmeinung für die Bewahrung dieser Möglichkeit nicht notwendig, ist sie auch nicht gerichtlich durchzusetzen – sondern dem demokratischen Prozess zu überlassen. s. dazu Grimm, JuS 1980, 704, 708. 101 So auch die abw. Meinung von Mahrenholz und Sommer, BVerfGE 88, 203 (355), die zudem die Annahme, dass ein Rechtswidrigkeitsurteil außerhalb des Strafrechts in Abtreibungsfällen das Rechtsbewusstsein prägt, in Frage stellt. Zweifelnd auch Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 565 f., der ferner den Mangel an Kohärenz des Gesamtduktus moniert: Leistungen der Krankenversicherung seien für „beratene Abbrüche“ unzulässig, Arzt- und Krankenhausverträge aber rechtswirksam. Ebenso solle die Arbeitnehmerin ihren Lohnanspruch behalten. 99

200 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

In einem pluralistischen, weltanschaulich neutralen und freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen soll es vielmehr den gesellschaftlichen Kräften überlassen bleiben, Gesinnungspostulate zu statuieren.102 Wird dem abwehrrechtlichen Grundrechtsverständnis vorgeworfen, es trage zur Stabilisierung des gesellschaftlichen Status quo bei,103 zeigen diese Entscheidungen beispielhaft, dass gerade ein objektiv-rechtliches Grundrechtsverständnis auch Veränderungsimpulse verhindern kann.104 Sittliche Vorstellungen können so auf der Ebene der Verfassung hineinprojiziert und dem gesellschaftlichen Wandel und politischen Prozess entzogen werden. In posttraditionellen Gesellschaften, die durch eine Pluralisierung der Sittlichkeit gekennzeichnet sind, lässt sich aber die Frage der Sittlichkeit letztlich nur politisch beantworten und entsprechend auf den politischen Prozess – nicht auf die Verfassungsinterpretation – verweisen.105 Die Judikative ist beim Gewichten von Werten eigentlich demselben Ideologieverdacht wie der Gesetzgeber ausgesetzt und kann für sich keinen neutralen Ort außerhalb des politischen Prozesses beanspruchen, in dem übrigens viel mehr als nur ethische Fragen berücksichtigt werden. Die Frage nach ethisch-politischer Selbstverständigung, also was für die Bürger als Angehörige einer konkreten Gemeinschaft im Horizont ihrer Lebensform und ihres Traditionszusammenhangs jeweils das Beste ist, bildet gewiss einen wichtigen Teil der politischen Meinungs- und Willensbildung.106 Diese lässt sich aber nicht auf ethische Diskurse beschränken, weil sie weitaus mehr umfasst als Orientierungen zu gemeinsamen Werten. Unter den Bedingungen des kulturellen und gesellschaftlichen Pluralismus ist es nicht möglich, einen vollkommenen Kompromiss anzunehmen und ein Gleichgewicht in der Übereinstimmung von Überzeugungen und ethischen Gründen zu suchen. Die Legitimität der demokratischen Willensbildung muss auf kommunikativen Bedingungen und auf den Prozessen normativer Rechtfertigung aufbauen, welche auf einer

102

Vgl. die abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon in BVerfGE 39, 1 (94). So z. B. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 222. Zwar zeigt der Blick zurück in die deutsche Geschichte, dass die Grundrechte als objektive Prinzipien dazu tendieren, Veränderungen zu bewirken, als subjektive Rechte dagegen, auf dem Status quo aufzuruhen. Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 50 f. Kommen aber die Veränderungsimpulse vom Gesetzgeber, kann der objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte genau als Titel gegen die Veränderung verwendet werden. Die durch das Eingriffs- und Schrankendenken geforderte Rechtfertigungsbedürftigkeit bedeutet außerdem keineswegs eine Rechtfertigungsunfähigkeit (s. o. B.IV.1.). 104 Wie im Folgenden näher erläutert wird (F.IV.), bieten die Grundrechte als objektive Prinzipien in der Tat mehr Stoff, der gegen den Gesetzgeber gewandt werden kann, als die Grundrechte als subjektive Rechte. Ist der politische Kampf um ein Gesetz verloren, dann eröffnet das objektiv-rechtliche Grundrechtsverständnis eine neue Runde – den rechtlichen Kampf vor dem Verfassungsgericht. Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 51. 105 Vgl. darüber hinaus die Kritik von Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 126, an einer sittlichen Interpretation des Schutzbereichs. 106 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 343 ff. 103

II. Axiologisches Verfassungsverständnis und funktionaler Pluralismus

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allgemeinen Ebene die Auswahl der besten Argumente ermöglichen.107 Die Rechtsprechung soll daher nicht das Mittel zum Eintritt teleologischer Inhalte in das Recht sein, vielmehr soll sich dabei, wie bereits betont, der normative Charakter gegen Zielsetzungen durchsetzen. Die Rechtsnormen können also verschiedene Gehalte aufweisen, was allerdings nicht zum Verlust ihres rechtlichen Charakters führt. Obwohl die Demokratie eine offensive Verfassungsrechtsprechung fordert, im Sinne des Schutzes der Grundrechte und allgemein der Verfassungsnormen, welche den demokratischen Gesetzgebungsprozess gewährleisten, darf und braucht doch die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht ein republikanischer Wächter vorgeblicher ethischpolitischer Werte zu sein, die in der Gesellschaft für einheitlich und mehrheitsfähig gehalten werden.108 In diesem Sinne zeigt sich bereits die Grundannahme der Integrationslehre, der zufolge die Grundrechte ein national geprägtes Kultur- und Wertsystem normieren, in dem das Volk sich sachlich einig weiß, als problematisch.109 Die Vorstellung der 107 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 339 ff. Besonders problematisch ist es ferner, wenn die Politik selbst solche freischwebenden Kontrollmaßstäbe internalisiert und dazu übergeht, politische Streitfragen in Karlsruhe auszutragen. In der Tat, je mehr die Parlamente selbst die situativen Kontrollmaßstäbe der verfassungsgerichtlichen Prüfung internalisieren, desto leichter können sie sich vom Druck zivilgesellschaftlicher Protestbewegungen entlasten. Die Art und Weise, wie der verfassungsändernde Gesetzgeber im Jahr 2002 das Tierschutzziel in Art. 20a GG einführte, kann als Beispiel für diese Internalisierung dienen. Der Grund für die Aufnahme dieses Staatsziels bestand maßgeblich darin, kollidierendes Verfassungsrecht zu schaffen, um insbesondere die Wissenschaftsfreiheit – aber auch etwa die Religionsfreiheit – einschränken zu können. Vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 14/282, S. 3; bereits früher (1994) auch BT-Drs. 12/6000, S. 70. Dafür hat aber der Gesetzgeber den falschen Weg gewählt und den gesellschaftlichen Konflikt gescheut. s. hierzu Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 274 f. Zur Einschränkung von Grundrechten kennt das GG nicht Staatszielbestimmungen, sondern Gesetzesvorbehalte in den einzelnen Grundrechtsbestimmungen. Die verfassungsändernde Gewalt hätte somit richtigerweise Art. 5 Abs. 3 GG und Art. 4 GG mit Gesetzesvorbehalten zugunsten des Tierschutzes versehen. Dies hätte allerdings erfordert, im Parlament offen über ethische Grenzen von Wissenschaft, Religion und Kunst zu diskutieren – wie z. B. Grenzen der wissenschaftlichen Tierversuche und des islamischen Schächtens. Diese Grenzen hätten dann evtl. konkret ihren Niederschlag im Verfassungstext finden müssen. Der insoweit notwendige Mut zur sozialen Auseinandersetzung hat dem Gesetzgeber gefehlt; stattdessen hat er eine pauschale Staatszielbestimmung in das GG aufgenommen. Einer unbestimmten Tierschutzklausel kann schließlich mehr oder weniger jeder guten Gewissens zustimmen. Damit werden aber die tatsächlich vorhandenen Konflikte mehr versteckt als geklärt. Allgemein kritisch zu der Überlassung parlamentarischer Verantwortung an das Verfassungsgericht Hesse, JZ 1995, 265, 267: „Die politischen Gewalten weichen damit nicht nur ihrer eigenen Verantwortung aus, sondern hier entsteht dann in der Tat die oft berufene Gefahr einer Juridifizierung der Politik und einer Politisierung der rechtsprechenden Gewalt, bei der nach dem berühmten Wort von Guizot die Justiz alles zu verlieren und die Politik nichts zu gewinnen hat.“ 108 Vgl. Cattoni de Oliveira, Direito Constitucional, S. 137. Ebenso Habermas, Faktizität und Geltung, S. 340 ff. 109 Der Vorwurf, dass Smend dadurch eine totalitäre Staatstheorie propagiere, trifft zwar nicht zu. Seine Theorie beinhaltet mehrere demokratische Bezüge und versucht eigentlich Wege aufzuzeigen, wie der parlamentarische Staat vor der Desintegration bewahrt werden könnte.

202 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

nationalen Einheit als einer Wertgemeinschaft lässt sich nämlich in der Richtung von Homogenität und zwar gegen den Multikulturalismus oder gar gegen die „Überfremdung“ durch eine die geglaubte Abstammungsgemeinschaft auflösende Einwanderung instrumentalisieren.110 Im Rahmen der Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates können hingegen vielfältige Lebensformen gleichberechtigt koexistieren. Diese müssen sich nur in einer gemeinsamen liberalen „politischen Kultur überlappen, welche wiederum für Anstöße von Seiten neuer Lebensformen offen ist“.111 Die kommunitarische Annahme der Theorie Smends, die an Traditionen, historisch Gewachsenes und konkrete Wertgemeinschaft anknüpft, steht eigentlich in einem gewissen Widerspruch mit seiner Vorstellung, dass die Verfassungslegitimität einen ständigen Prozess bildet. Gerade in den schnell wechselnden und v. a. pluralistischen Gesellschaften des 21. Jh., in denen oftmals Personengruppen mit sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergründen leben, soll die Annahme eines einheitlichen Wertsystems nicht den Ausgangspunkt der Grundrechtsauslegung bilden. In heterogenen Gesellschaften stellen Grundrechte vielmehr individuelle Rechte dar, die Individuen, die einer politischen Minderheit angehören, vor dem unbeschränkten Zugriff der die staatlichen Entscheidungen inhaltlich bestimmenden Mehrheiten bewahren.112 Eine ernsthafte Gefahr des wertorientierten Verständnisses der Grundrechte besteht in der Tat darin, dass die einzelne grundrechtliche Freiheit im Ergebnis dem Vgl. dazu Friedrich, AöR 112/1987, 1, 14 ff. Immerhin ist eine Anfälligkeit der Theorie für ideologischen Missbrauch festzustellen. So beobachtet Maus, dass in den 1930er-Jahren die deutsche Rechtswissenschaft den fraglichen Entwurf begrüßt hat, dass der Nationalsozialismus im Interesse einer konsistenten Rechtspraxis „ein einheitliches Wertsystem geschaffen“ habe, das der vorherigen gesellschaftlichen Konkurrenz verschiedener Wertsysteme ein Ende setzte. Darüber hinaus waren die an die Justiz des NS-Systems gerichteten Anforderungen – die es ermöglichten, nach Bedarf jede einzelgesetzliche Bestimmung zugunsten „höherer“ Gemeinschaftszwecke auszuhebeln – Ausdruck der Ideologie, dass das deutsche Volk im Nationalsozialismus eine Volksgemeinschaft bilde, in der die alten Klassenspaltungen und Gruppenkonflikte aufgehoben seien. In diesem Zusammenhang fiel den Richtern die gefährliche Rolle des Schützers der Volkswerte und Vernichters der Unwerte zu. Maus, in: Sturz der Götter?, S. 121, 137 f. 110 Zwar prägt die Vorstellung, dass Demokratie ein homogenes Volk voraussetzt, v. a. das Verständnis von Carl Schmitt. Aber auch für Smend setzt Demokratie Homogenität – im Sinne eines homogenen Sachgehalts – voraus. Vgl. Smend, Staatsrechtliche Abhandlung, S. 221. Problematisch insoweit ebenfalls die Aussage des BVerfG in E 89,155 (186) (Maastricht), der zufolge das Demokratieprinzip verlange, dass sich „das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet (…), rechtlichen Ausdruck zu geben“. Hervorhebung durch die Verfasserin. 111 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 659, der ferner betont, dass eine liberale politische Kultur nur den gemeinsamen Nenner eines Verfassungspatriotismus bilde, der gleichzeitig den Sinn für die Vielfalt und die Integrität der verschiedenen koexistierenden Lebensformen einer multikulturellen Gesellschaft schärfe. Eine politische Kultur, in der die Verfassungsgrundsätze Wurzeln schlagen könnten, müsse sich daher nicht auf eine allen Staatsbürgern gemeinsame ethische und kulturelle Herkunft stützen. Ebd., S. 642 f. 112 Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 146.

II. Axiologisches Verfassungsverständnis und funktionaler Pluralismus

203

Zugriff des jeweils herrschenden Wertbewusstseins ausgesetzt werden kann und dadurch mehrfach gerade jenen schützen wird, der ihres Schutzes nicht bedarf, weil er ohnehin mit den herrschenden Auffassungen konform geht, nicht aber mehr den Außenseiter, den Dissidenten, für den sie vorzugsweise relevant ist.113 Dies gilt nicht nur für die Theorien von Smend und Häberle, die eine Einschätzung des Grundrechtsgebrauchs als mehr oder weniger wertvoll ermöglichen und die Freiheitsrechte einem ziemlich pauschalen Bewertungsvorbehalt unterwerfen.114 Trotz der modernisierten Terminologie kann auch die Prinzipientheorie von Alexy die Grundrechte mit inhaltlichen Wertvorstellungen und Maßstäben verbinden. Dadurch, dass diese Theorie die Wahl des einzuschlagenden Anwendungsweges von der Eigenart der auszulegenden Norm abhängig macht, möchte sie zum einen eine Angemessenheitsargumentation bei der Anwendung bestimmter Normen („Regeln“) ausschließen und zum anderen die Einführung von ethischen und pragmatischen Gesichtspunkten bei der Anwendung anderer Normen („Prinzipien“) ermöglichen. Wird eine Norm der Regelebene zugeordnet, dann bedürfe es bei ihrer Anwendung einer Berücksichtigung aller (tatsächlichen und rechtlichen) relevanten Umstände der Situation nicht.115 Dies gelte ferner auch für die definitiven Regeln, die Ergebnisse einer grundrechtlichen Abwägung sind und die – nach dem Kollisionsgesetz – zugeordnete Grundrechtsnormen bilden, unter die der Fall subsumiert werden könne. Wie man wissen kann, ob und inwieweit eine Norm der Regelebene (dann Subsumtion) oder der Prinzipienebene (dann Abwägung) zuzuordnen ist, bleibt freilich unklar. Wird andererseits die Norm der Prinzipienebene zugeordnet, dann ist eine Abwägung von Werten zwingend. Alles, was in casu als „Wert“ auftritt, müsse 113 Davor hat bereits Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534, gewarnt: Die Werttheorie „ermöglicht und rechtfertigt die rechtserhebliche Differenzierung zwischen wertverwirklichendem und wertgefährdendem Freiheitsgebrauch. Die einzelne Freiheit ist damit relativiert, sie ist der Logik der Auf- und Abwertung unterworfen. Sie ist ferner einem ziemlich pauschalen, einerseits auf das zeitige Wertbewusstsein, andererseits auf die Werterfordernisse der staatlichen (Wert-)Gemeinschaft abstellenden Gewährleistungsvorbehalt unterworfen.“ 114 Wenn die Freiheitsbetätigungen wichtigere Gemeinschaftswerte verletzen, sei dies nach Smend „eine Überschreitung, ein Missbrauch des Grundrechts“. Welche Gemeinschaftswerte wichtiger als die Freiheitsbetätigung sind, komme auf eine Bewertungsfrage an, deren Beantwortung „dem sittlichen und kulturellen Werturteil der Zeit“ zugeschoben werde. Smend, VVDStRL 4/1928, S. 44, 52 f. Bei der Hervorhebung der Notwendigkeit von staatlichen Handlungen zur Ausgestaltung der Grundrechte arbeitet auch Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 119 f., mit der Kategorie des Freiheitsmissbrauchs. Sein Ansatz erkennt Freiheit eigentlich nur im Rahmen des jeweiligen Instituts an und verkennt damit die Möglichkeit, dass ausgestaltende Vorschriften durchaus schrankensetzenden Charakter aufweisen können. Diese Theorien betonen sehr die Rolle der Grundrechte zur Konstituierung des Gemeinwesens bzw. zur staatlichen Selbstverwirklichung und berücksichtigen wenig, dass die Grundrechte den Einzelnen auch vor der Gemeinschaft schützen sollen – und historisch v. a. dafür erkämpft wurden. Auf die methodologischen Schwächen dieser Theorien wird im nächsten Abschnitt eingegangen. 115 s. auch die Kritik an dem mit dem Regelbegriff verbundenen Subsumtionsideal bei Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 77: „Dem Regelbegriff der Prinzipientheorie liegt ein begriffsjuristisches Ideal zugrunde, das einerseits mit der Prinzipientheorie überwunden werden soll, andererseits in ihrem Regelbegriff wieder auftaucht.“

204 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

demnach in die Abwägungsprozedur eingestellt werden. Damit können freilich funktionale Imperative, ethische Gesichtspunkte usw. zu Verfassungswerten werden und sich einer erneuten Kritik im Lichte der Grundrechte oder in diskursiven Prozeduren entziehen.116 Auch aufgrund des methodischen Versagens des Gewichtens, Ordnens und Vergleichens von Gemeinschafts- und Individualgütern wohnt der Entfaltung des objektiv-rechtlichen Charakters der Grundrechte und ihrer Unterwerfung unter Wertvorstellungen die Gefahr inne, den auf der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft aufbauenden abwehrrechtlichen Charakter der Grundrechte auszuhöhlen. Wie Müller hervorhebt, bildeten die Grundrechte weder historisch noch aktuell ein geschlossenes Wertsystem, das vom BVerfG nicht belegt werde und aus dem geltenden Verfassungsrecht auch weder materiell-rechtlich noch funktionell-rechtlich belegbar oder haltbar sei. Da die Grundrechtsnormen, für sich genommen, als Ausdruck von Werten nicht ausreichend erfassbar seien, könnten Grundrechtseinschränkungen, die nicht auf einen Gesetzesvorbehalt stützbar sind, unter Berufung auf die Totalität eines verfassungsrechtlichen Wertsystems nicht gerechtfertigt werden. Vielmehr sei der Wertbegriff ein juristisch entbehrlicher, philosophiegeschichtlich belasteter und im Übrigen begrifflich unscharfer Terminus, der zu einer einhergehenden Versuchung zu subjektiv-irrationaler Wertung und Abwägung führe. Unterschiedliche Vorstellungen von Abwägung und notwendig vage und zu ideologischen Unterstellungen verleitende Wert-, Wertsystem- und Wertungskategorien würden weder der normativen Wirkkraft der Verfassungsnormen noch der Unverzichtbarkeit rechtsstaatlich-disziplinierender Elemente in der juristischen Arbeitsmethode gerecht.117

116 Vgl. ferner Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 275 f., 301 f. Die Bestimmung der Anwendungsart durch die Normstruktur (Regel bzw. Prinzip) statt durch eine für alle Normen geltende Prozedur schließe die Möglichkeit aus, Werte ihrerseits noch einmal im Lichte von Prinzipien oder in diskursiven Prozeduren kritisieren zu können. Die Werte müssten als kollektive Bedürfnisinterpretationen kritisiert bleiben. Dies könne aber nur erreicht werden, wenn besondere Arten der Begründung und Anwendung nicht bereits durch eine besondere Normstruktur vorgegeben seien. Wenn man ein Wertemodell in eine Normstrukturtheorie projiziere, bestehe die Gefahr, bereits bei der Bestimmung der Argumentationsstruktur materiale Maßstäbe einzuführen, die selbst Thema einer Angemessenheitsargumentation sein sollten. Eine prozedurale Anwendung von Normen müsse sich solcher implizierten materialen Maßstäbe enthalten. Die Angemessenheit der Anwendung hänge von der Berücksichtigung aller Situationsmerkmale ab und daher dürfe die Methode der Berücksichtigung nicht ihrerseits durch materiale Maßstäbe bestimmt sein. Übereinstimmend Benvindo, On the Limits of Constitutional Adjudication, S. 311 ff., 315 ff. 117 Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 17 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 79 ff., 109 f., Rn. 65 f., 71. Diese Autoren führen weiterhin an, dass die Verfassungsinterpretation ihre Grenze überschreitet, wenn sie eine normativ im Einzelnen nicht greifbare Totalität einer vorausgesetzten Wertordnung an die Stelle der Ermittlung der „sachlichen Reichweite eines Grundrechts“ setzt. Der normative Sachgehalt sei nur für jedes Grundrecht gesondert ermittelbar. Ebd., S. 111, Rn. 72.

III. Methodologische Einwände

205

III. Methodologische Einwände: Rationalitätseinbußen der Rechtsanwendung und Dezisionismus Die Verfassungsrechtsprechung muss den Anforderungen der Normklarheit, Konsistenz, Nachvollziehbarkeit, Überprüfbarkeit und Erwartbarkeit genügen. Es gilt daher nun spezifisch zu fragen, inwieweit die Tendenzen, die sich angesichts der aktuell an die Verfassungsrechtsordnung gestellten Anforderungen mit der Abwägung von Gütern, Werten oder Interessen zu helfen suchen, mit diesen Zielvorstellungen vereinbar sind, d. h., ob sich das Abwägungsverfahren methodisch korrekt, rational kontrollierbar und dogmatisch generalisierbar überprüfen lässt.118 Diese Frage hängt mit dem Problem des Maßstabs eng zusammen, an dem die Grade der Wichtigkeit und Beeinträchtigung bzw. die relativen Gewichte der in die Abwägungsprozedur eingestellten Güter zu messen sind, was zunächst zu behandeln ist (1.). Anschließend wird erörtert, ob und inwieweit das Untermaßverbot dogmatische Vorgaben für die Bestimmung des Mindestmaßes an Schutz oder Förderung leisten kann (2.). Der dritte Abschnitt widmet sich schließlich dem Glauben an so etwas wie eine „neutrale Methode“, die in der Lage wäre, die Rationalität der Wertejudikatur sicherzustellen und die Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Kontrollmöglichkeit zu legitimieren (3.).

1. Der Mangel an rechtlichem Maßstab für die Abwägung Alle Abwägungskonzeptionen unterstellen zwangsläufig, dass die jeweils betroffenen Grundrechts- und Schrankeninteressen kommensurabel und gegeneinander ausgleichsfähig sind.119 Diese Annahme wirft notwendigerweise die Frage danach auf, an welcher dritten Bezugsgröße die Gewichte der Werte zu messen sind, um feststellen zu können, ob eine abgewogene Relation hergestellt wurde. Die Vertreter der Abwägung müssen in diesem Sinne einen Bezugspunkt (ein tertium comparationis) für die Feststellung der Gewichte der jeweiligen Güter und ihrer Verhältnisse zueinander zur Verfügung stellen. Hierbei wird z. T. geltend gemacht, dass das Richtmaß für die Abwägung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei.120 Stern spricht sogar von einer „Zauber118

Zweifelnd hierzu Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 122 f., Rn. 89. Insoweit übereinstimmend Leisner, Der Abwägungsstaat, S. 243 f. s. auch Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 454, 460 ff. 119 So verlange das Gebot der Verhältnismäßigkeit i. e. S. nach dem BVerfG, „dass die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen darf“. BVerfGE 120, 274 (321 f.) (Online-Durchsuchung). s. auch etwa BVerfGE 90, 145 (173) (Cannabis); 113, 348 (382) (Vorbeugende Telekommunikationsüberwachung); st. Rspr. 120 Vgl. etwa BVerfGE 34, 238 (245) (Tonband); 63, 131 (144) (Gegendarstellung); 80, 367 (373, 380) (Tagebuch); 109, 279 (314) (Großer Lauschangriff); Stern, StR III/2, § 84, S. 785,

206 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

formel der Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“.121 Nun hat dieser Grundsatz die Abwägung selbst als einen Teilgrundsatz. Ein Kriterium für etwas muss aber, wie Alexy selbst hervorhebt, etwas anderes als ein Bestandteil von etwas sein.122 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann nicht den Maßstab seiner eigenen dritten Stufe bilden. Vielmehr, gerade wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Abwägung als einen Bestandteil dazugewinnt, verliert er seine Konturen und Orientierungsleistung. Besteht eines der größten Potenziale dieses Grundsatzes in der Ermöglichung einer Zweck-Mittel-Analyse, in welcher Tatsachenfragen im juristischen Diskurs erfasst werden, geht es in der dritten Stufe des Grundsatzes gerade nicht mehr um die Tatsachendimension. Bei der Verhältnismäßigkeit i. e. S. werden eigentlich die unterschiedlichsten Belange, Güter bzw. Interessen gegeneinander abgewogen und bewertet. Sie ist in diesem Sinne ein rein wertmäßiges „Kriterium“. Während also die Geeignetheits- und die Erforderlichkeitsprüfung empirisch orientiert und methodisch kontrollierbar sind, fügt die Abwägung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein reines Wertelement hinzu.123 Sehr häufig beruft man sich auch auf eine grundgesetzlich vorgegebene Wertordnung oder auf das Ganze (bzw. die Einheit, die Totalität) des verfassungsrechtlichen Wertsystems u. ä. als Drittmaß.124 Nun, selbst wenn die Grundrechte auch oder gar als Werte zu verstehen wären, ist aber in dem GG keine Werte- und Güterordnung aufgewiesen. Gelegentlich gibt das GG zwar einige Kriterien für Feststellungen von Vorrangrelationen vor (wie z. B. in Art. 5 Abs. 2 der Vorrang des Schutzes der Jugend und der Ehre gegenüber der freien Meinungsäußerung und Presseberichterstattung).125 Aber dabei bleiben Rechtsprechung und h. M. nicht stehen und verlangen Abwägungen auch dort, wo die Grundrechtsnormen kein vergleichendes Gewicht vorgeben. Die Berufung auf die Wertordnung der Grundrechte oder des Grundge-

814, 835 (m. w. N.). Zu Brasilien s. etwa STF, IF 2915 – 5 v. 03. 02. 2003, 152 (179) (DJ 28. 11. 2003) (Precatórios); HC 82424 v. 17. 09. 2003, 524 (658) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger); Sarmento, A ponderação de interesses na Constituição Federal, S. 96. 121 Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 17. Die Bezeichnung wird zwar mit Skepsis verwendet, aber das Abwägungsdenken wird im Ergebnis befürwortet. 122 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 70. 123 Zur Unterscheidung zwischen der empirischen und der wertmäßigen Seite des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit s. u. G.I.3; Schlink, EuGRZ 1984, 457, 460; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 44 f. 124 BVerfGE 30, 173 (193) (Mephisto); 32, 98 (108) (Gesundbeter); 39, 1 (47) (Schwangerschaftsabbruch I); 49, 24 (56) (Kontaktsperre-Gesetz): Ein Konflikt innerhalb des GG sei „nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems zu lösen“. Vgl. ferner BVerfGE 120, 274 (319) (OnlineDurchsuchung); 121, 317 (356) (Rauchverbot in Gaststätten). s. auch Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 24 (grundgesetzlich vorgegebene Ordnungs- und Wertstruktur); Wendt, AöR 104/1979, 414, 455 f. (Bezugssystems des Grundgesetzes); Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 31 ff. (Wertrangordnung, ganzheitliches Wertsystem). 125 Das Gleiche gilt für die CF. Vgl. z. B. Art. 5, XXII vs. XXIII oder Art. 5, IV, IX vs. V, X.

III. Methodologische Einwände

207

setzes behauptet lediglich einen Maßstab, kann ihn aber nicht aufweisen.126 Deswegen beobachtet auch Müller, dass die Ganzheit einer als Wertsystem gedeuteten Verfassung als solche keinen tragfähigen Ansatzpunkt, keinen Maßstab verfassungsrechtlichen Rangs für das Prinzip der Güterabwägung bietet. Dieses überrolle vielmehr den Wortlaut und die Systematik des Grundrechtsteils und könne keine inhaltlichen Maßstäbe zur Verfügung stellen, die rechtsstaatlichen Anforderungen an Normklarheit und Methodengewissheit genügen.127 Um die jeweils betroffenen Grundrechts- und Schrankeninteressen kommensurabel und gegeneinander ausgleichsfähig zu machen, müsste man eigentlich die Grundrechte und die übrigen verfassungsrechtlich geschützten Güter auf einer Skala anordnen können. Die Unmöglichkeit bzw. Unangemessenheit der Gewinnung einer Kardinal- oder Ordinalskala der Verfassungsnormen belegte aber Schlink schon in den 1970er-Jahren grundlegend.128 In der Tat steht bereits nach den Diskussionen der siebziger bis neunziger Jahre fest, dass zwar dem GG einzelne Wertungen entnommen werden können, aber nicht der Maßstab, dessen die vielen bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e. S. verlangten Bewertungen bedürfen.129 Das Verständnis der Grundrechte als Werte ist somit „nicht nur von rechtlicher Fragwürdigkeit, indem es gerade dort unterscheidet und in eine Pflicht des Verwirklichens von Werten nimmt, wo Freiheit grundsätzlich ohne Unterschied gemeint ist“, sondern ist auch methodisch problematisch; denn die Beurteilung von Grundrechtsgebrauch als mehr oder weniger wertvoll gerät im Ergebnis „zur weder durch Empirie noch durch Interpretationen disziplinierten subjektiven Bewertung“.130 126 Zum Ganzen Schlink, EuGRZ 1984, 457, 461 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 66 f., Rn. 291 ff. 127 Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 110, Rn. 72; Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 18 f., 86. 128 Eine Kardinalskala möge zwar sensibel und aussagekräftig sein. Sie erlaube eine Abwägung in einer vorgegebenen, aber nicht starren, erst zu aktualisierenden, aber nicht beliebig zu relativierenden Wertordnung. Von keinem zu leisten seien jedoch die kardinalen Gewichtungen der Verfassungsgehalte und Verwirklichungsintensität. Weil das Verfassungsrecht schlicht des Maßstabs für eine solche Bewertungsoperation entbehre, überziehe sie sein methodisches Potential. Die Möglichkeit, eine ordinale Ordnung von Verfassungsgehalten zu gewinnen, zeige sich auch als fragwürdig. Könnte man sie aber herstellen, würde sie zu einer Tyrannei der Werte führen. Die Abwägung in einer solchen Wertordnung bedeute notwendigerweise die Durchsetzung einer Verfassungsnorm auf Kosten anderer. Auch die Annahme einer Gleichwertigkeit aller Verfassungswerte erledige die Problematik der Abwägung in der Wertordnung nicht. Hierbei dränge sich die Unterscheidung von mehr oder weniger wertvollem Grundrechtsgebrauch auf, zu deren Beurteilung es auch keinen Maßstab gebe. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 131 – 140. 129 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 454. Zum Mangel an einer Skala für Rang und Gewicht der abzuwägenden Güter vgl. ferner Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 235; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 236, Rn. 175: Die Abwägungsinstanz ist mehr oder weniger auf die willkürgefährdete, zufallsbeeinflusste, subjektive Wertung der Abwägungsbeteiligten (letztlich also des Richters) verwiesen. 130 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 141. In diesem Zusammenhang lässt sich z. B. fragen, wie man aus dem GG „ableiten“ kann, welches die überwiegenden Allgemein-

208 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Den theoretischen Fundierungen der Abwägung gelingt es ebenfalls nicht, das Problem des Fehlens des Maßstabs zu lösen. Smend zufolge – und auch nach Häberle, Alexy u. a. – hängt die Vorrangrelation davon ab, ob das geschützte gesellschaftliche Gut wichtiger ist als die jeweilige Freiheit. Ein weiteres Kriterium für die Bestimmung der Güterwichtigkeit wird nicht gegeben. Damit kommt alles auf eine Bewertungsfrage an, deren Beantwortung schwanken kann und „dem sittlichen und kulturellen Werturteil der Zeit“ zugeschoben wird.131 Im Ergebnis wird die einzelgrundrechtliche Freiheit dem Zugriff der Wertvorstellungen der jeweiligen Richter ausgesetzt und ihre Begrenzung durch die Abwägungsmethode „legitimiert“. Häberle seinerseits beruft sich auf eine Wertrangordnung des GG, weist sie aber nicht auf. In der Tat stehen die einzelnen Verfassungsnormen in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander, und Häberle sieht dies durchaus.132 Er nimmt somit zu der vagen Behauptung und dem kaum operationalisierbaren Ansatz eines Nachspürens „von Fall zu Fall“133 für den institutionellen Gehalt der Grundrechte Zuflucht. Auch diese Theorie eröffnet daher letztlich ein unterstrukturiertes Argumentationsfeld, in dem sich „die subjektive, fallweise Einschätzung von Grundrechtsgebrauch als mehr oder weniger wertvoll durchsetzt“.134 Ähnliches gilt für das Abwägungsgesetz135 von Alexy, denn gerade ein Maßstab zur Bestimmung des Wichtigkeitsgrades der Prinzipien sowie des Verhältnisses interessen, die wichtigen Gemeinschaftsgüter, die hochrangigen Rechtsgüter oder die überragend wichtigen Rechtsgüter sind. So reicht bei einem Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein überwiegendes Allgemeininteresse aus. BVerfGE 65, 1 (44) (Volkszählung). Wenn es aber um eine Rasterfahndung geht, werden hochrangige Rechtsgüter verlangt. Diese seien der Bestand und die Sicherheit des Bundes und eines Landes sowie Leib, Leben und Freiheit einer Person (BVerfGE 115, 320/346 – Rasterfahndung II). Eingriffe in das IT-Grundrecht müssen ihrerseits mit dem Schutz eines überragend wichtigen Rechtsguts verbunden sein. Überragend wichtig seien nach dem Gericht Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt. BVerfGE 120, 274 (328). In BVerfGE 121, 317 (349) (Rauchverbot in Gaststätten) heißt es aber, dass der Schutz der Bevölkerung vor Gesundheitsgefahren durch Passivrauchen auch zu den überragend wichtigen Gemeinschaftsgütern zähle. Hierzu schon BVerfGE 7, 377 (408 ff.) (Apothekenurteil). Nach der BVerfGE 85, 360 (375) (Akademie-Auflösung) gehört die Trägerschaft und Finanzierung der Staatsaufgaben ebenso zu den überragend wichtigen Gemeinschaftsgütern – um nur einige Beispiele zu nennen. 131 Smend, VVDStRL 4/1928, S. 44, 53. 132 So betont er: „Die konkurrierenden verfassungsrechtlichen Rechtsgüter stehen nicht etwa im Verhältnis einer Über- und Unterordnung in dem Sinn zueinander, dass sie gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Sie sind vielmehr einander zugeordnet, indem sie sich gegenseitig bedingen.“ Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 38. Vgl. dazu Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 134 ff. 133 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 102. 134 Schlink, EuGRZ 1984, 457, 463. 135 „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muss die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 146.

III. Methodologische Einwände

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zwischen konkurrierenden Prinzipien ist nicht vorhanden. Auch hier kommt alles auf eine Bewertungsfrage an, deren Beantwortung trotz der Einführung von verschiedenen heuristischen Formeln letztlich dem juristischen Diskurs im gerichtlichen Verfahren zugeschoben wird. In der Tat fügt Alexy ein Kriterium nach dem anderen (strukturelle Normenunterscheidung, Vorrangbedingungen, Kollisionsgesetz, Abwägungsgesetz usw.) ein, um die Rationalität der Abwägung sicherzustellen, und kommt im Ergebnis zur problematischen Sonderfallthese.136 Dieser zufolge habe die gerichtliche (grundrechtliche) Argumentation die normgelöste allgemeine praktische Argumentation als einen notwendigen Bestandteil, was – wie Alexy selbst bemerkt – zu Wertungen und zu Ergebnisunsicherheit führe. Dies begründe darüber hinaus die Erforderlichkeit autoritativen grundrechtlichen Entscheidens und die Vernünftigkeit der Institutionalisierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit.137 Ist die Rationalität der grundrechtlichen Argumentation letztlich durch autoritatives grundrechtliches Entscheiden zu erreichen, dann erweist sich dieses Denken nicht nur als zirkulär, sondern auch als Tor für Dezisionismus – und hier lässt sich sogar eine gewisse Parallele zu Kelsens Interpretationstheorie erkennen. Die Grenzen zwischen normorientierten und normgelösten rechtspolitischen Argumenten lösen sich auf.138 Aufgrund der Unmöglichkeit, überzeugende Gewichtungs- und Vergleichskriterien zu finden, läuft die Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e. S. stets Gefahr, bei allem Bemühen um Rationalität die subjektiven Urteile und Vorurteile des Prüfenden zur Geltung zu bringen. Ihre Ergebnisse sind rechtsmethodisch befriedigend nicht zu bewältigen und nur dezisionistisch zu leisten.139 Die Vertreter der Abwägung sind somit nach wie vor eine Begründung dafür schuldig geblieben, wie die individuelle Freiheit und die Funktionstüchtigkeit der Staatsgewalt oder eine sog. objektive Wertentscheidung kommensurabel gemacht und gegeneinander abgewogen werden können, ohne dass man versteckt den Vorrang des einen oder anderen Rechtsguts schon unterstellt. Der Mangel an überzeugenden Gewichtungskriterien zusammen mit dem tendenziell uferlosen Feld kollidierender Verfassungsrechte machen insofern die Abwägungsentscheidungen in hohem Maße unvorhersehbar und unberechenbar, was wiederum in einem gewissen Gegensatz zur grundrechtlichen Gewährleistung individueller Freiheitsräume steht. In diesem Sinne ist das mit den 136 Der juristische Diskurs sei diesem Ansatz nach ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 144, 152; ders., in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 217, 230 – 233. Zu weiterer Kritik an der Sonderfallthese s. u. G.III. 137 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 521. 138 Kritisch auch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 229 ff.; Vesting, Der Staat 41/2002, 73, 88, der beobachtet, dass die Prinzipientheorie eigentlich die Probleme der Abwägung nur in einer modernisierten Terminologie abbildet, nicht aber löst. 139 Zum Ganzen Schlink, EuGRZ 1984, 457, 461 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 66 f., Rn. 293; Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 460 ff. Nicht zu rechtfertigen ist aber, dass das überprüfende Verfassungsgericht seine subjektiven Urteile über die des überprüften Gesetzgebers setzt. Vgl. dazu unter F.IV.2.

210 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

neuen Grundrechtsfunktionen in Verbindung gebrachte Untermaßverbot auch eine spezifisch verfassungsdogmatische Nachfrage wert.

2. Vom Übermaß- zum Untermaßverbot? Die Bedenken gegen die Beliebigkeit der Grundrechtsinterpretation und gegen die damit verbundenen Rationalitätseinbußen der Rechtsanwendung treten beim Untermaßverbot noch schärfer hervor. In der Tat, wie Denniger hervorhebt, haben die Juristen mühsam genug gelernt, mit dem Übermaßverbot umzugehen, was deswegen möglich war, weil es dem Staat „nur“ aufgibt, bestimmte Handlungen zu unterlassen, die als „unverhältnismäßig“ zu qualifizieren sind. Der Grundsatz hat abwehrenden Charakter; er zieht der staatlichen Aktivität eine Grenze. Ganz anders verhält es sich mit dem Untermaßverbot, welches – trotz des trügerischen Scheins – dem Gesetzgeber nicht einfach eine Grenze zieht, sondern ihn vielmehr zu einem Handeln verpflichten soll. Nicht Unterlassungs-, sondern Handlungsgebote gehen von ihm aus. Was alles sinnvollerweise zum Schutze eines Grundrechtsgutes, präventiv oder repressiv oder auch kombiniert getan werden kann, entzieht sich allerdings richterlicher Erkenntnis.140 Es besteht eben immer eine kaum überschaubare Anzahl von potentiellen Förderungshandlungen bzw. eine Fülle von Möglichkeiten, den Gebrauch eines Grundrechts zu schützen bzw. zu fördern. Auch wegen dieser Fülle von Möglichkeiten sowie wegen der Fülle von Situationen, in denen dem Grundrechtsgebrauch Schutz guttut, gibt es keine Elemente ähnlicher Gestalt wie für die Kontrolle des Staates, der handelt, auch für die des nicht handelnden Staates.141 Wenn der Staat für einen Zweck nichts tut, was, um ihn zu erreichen, geeignet ist, dann tut er für den Zweck eben nichts. Er verletzt, wenn ihm das Handeln für den Zweck durch eine grundrechtliche Schutzpflicht aufgegeben ist, einfach seine Pflicht zum Handeln – und nicht ein der Art und Weise des Handelns geltendes Untermaßverbot.142 Noch problematischer ist die Kennzeichnung einer Schutzmaßnahme als erforderlich. Denn während eine kaum überschaubare Anzahl von Förderungshandlungen in Betracht kommt, verlangt die Schutzpflicht nur, dass der Staat schützend tätig wird, bestimmt aber nicht die Art und Weise, wie dies zu erfolgen hat. Er muss eine von vielen Schutzmaßnahmen ergreifen, aber nicht eine einzige.143 140

Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 567. Der Grundrechtsgebrauch kann vom Staat z. B. durch Eröffnung von Teilhabe, durch Gewährung von Förderung und Leistung, durch Schaffung von Verfahren und Einrichtungen, durch Abwehr von Gefahren der Natur und Technik sowie durch die Verhinderung privater Konflikte geschützt werden. Zum Ganzen Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 23 ff., 68 f., Rn. 88 ff., 297a. 142 Hierzu und zum Folgenden Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 463 f. s. auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 68 f., Rn. 297a. 143 Sollte sich in der Tat einmal die schwer vorstellbare Situation ergeben, dass der Schutz lediglich durch eine einzige Maßnahme bewirkt werden kann, dann sei die Bezeichnung dieser 141

III. Methodologische Einwände

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Notwendig oder nicht notwendig ist beim Übermaßverbot ein Eingriff in ein Grundrecht eines Bürgers im Vergleich mit anderem, milderem Vorgehen, und zwar ceteris paribus – d. h. ohne dass anderen Bürgern zusätzliche Belastungen aufgebürdet oder dass andere Ressourcen aufgewendet werden müssen. Beim Untermaßverbot bleibt die Frage: Womit wäre das Handeln des Staates zu vergleichen? Nicht mit anderem Vorgehen gegenüber einem betroffenen Einzelnen; denn da, wo der Staat nicht handelt, gibt es keinen betroffenen Einzelnen. Existiert doch ein Betroffener, weil der Staat immerhin „ein bisschen“ handelt, lediglich vielleicht nicht „genug“, dann ist das schwerlich mit einem milderen, eher mit einem härteren Mittel zu vergleichen. Beim Übermaßverbot ist die Suche nach einem schonenden Mittel und der Vergleich mit ihm deshalb geboten, weil die Grundrechte als Abwehrrechte fordern, den Einzelnen möglichst zu schonen. Als Schutzpflichten aber fordern die Grundrechte nicht umgekehrt, den Einzelnen möglichst zu belasten. „Sie verlangen Schutz, geben aber nicht vor, ob der Schutz durch Vorgehen gegenüber einem Bürger, dem gegenüber noch nicht vorgegangen wird, durch härteres Vorgehen gegenüber einem Bürger, dem gegenüber milder vorgegangen wird, durch Vorgehen gegenüber anderen Bürgern oder durch Einsatz staatlicher Ressourcen geleistet wird.“ Der Vergleich mit allen diesen Alternativen sprengt bei weitem das Potential der Erforderlichkeitsprüfung. Ihre Stringenz und Struktur lassen sich also dem Untermaßverbot nicht übertragen. Somit bleibt als Maß nur die problematische Verhältnismäßigkeit i. e. S. Das BVerfG verlangt in der Tat unter Berufung auf das Untermaßverbot, dass die Vorkehrungen – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – „für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend“ sein müssten.144 Wie sehr es an verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Bestimmung des Mindestmaßes an Schutz und überhaupt des Prüfungsumfanges fehlt, zeigen die durchaus unterschiedlichen Entscheidungen des BVerfG zur Schutzpflicht. Während das Gericht in seinen Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch die Norm einer intensiven, inhaltlichen Prüfung unterzog und zunächst das Strafrecht verlangte und danach ein Schutzprogramm mit ausführlichen inhaltlichen Vorgaben entwickelte, so gestand es dem Gesetzgeber in den weiteren Entscheidungen einen größeren Gestaltungsspielraum zu145 und führte eigentlich nur eine Evidenz- bzw. Vertretbarkeitskontrolle durch146. Während das Gericht einerseits ganz konkrete Handlungspflichten aus der Maßnahme als erforderlich ohne Gehalt; die erforderliche Schutzmaßnahme sei einfach die einzige Schutzmaßnahme. Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 68 f., Rn. 297a. 144 BVerfGE 88, 203 (254) (Schwangerschaftsabbruch II). 145 BVerfGE 46, 160 (164 f.) (Schleyer); 49, 89 (136 ff. 142 ff.) (Kalkar I); 56, 54 (80 f.) (Fluglärm); 77, 170 (214 f.) (C-Waffen); 79, 174 (202) (Straßenverkehrslärm); 92, 26 (46) (Zweitregister); 121, 317 (356 f.) (Rauchverbot in Gaststätten). 146 BVerfGE 77, 170 (214 f.) (C-Waffen); 79, 174 (202) (Straßenverkehrslärm); 85, 191 (212) (Nachtarbeitsverbot); 92, 26 (46) (Zweitregister). s. auch BVerfGE 56, 54 (80 f.) (Fluglärm). In der Regel überprüft das Gericht nur eingeschränkt, ob die staatlichen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind.

212 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Schutzpflicht herleitete und sogar dem Gesetzgeber vorschrieb, mit welchen rechtlichen Mitteln er die Regelung eines Konflikts verfolgen muss, lehnte es andererseits regelmäßig ab, ein bestimmtes Schutzmittel eben aus der Schutzpflicht abzuleiten. Hier wird besonders deutlich, dass je nach der vom Gericht im Einzelfall zugeteilten „Wertigkeit“ des auf dem Spiele stehenden Grundrechtsgutes verschiedene „Kriterien“ gelten. In der Tat, wie wenig das Untermaßverbot als Kriterium, als ein auch nur ein Minimum an Rechtssicherheit verbürgender Leitfaden taugt, dafür liefert allein das 2. Schwangerschaftsabbruchsurteil samt abweichenden Voten schon den Beweis: In drei zentralen Fragen – nämlich die der „Gebärpflicht“, die der Qualifikation des Abbruches als grundsätzliches Unrecht und die der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit sozialversicherungsrechtlicher Leistungen bei „beratenen Abbrüchen“ – kommen die Richter zu nicht weniger als drei unterschiedlichen Ergebnissen.147 Hierbei sind ferner in methodologischer Hinsicht Bedenken geltend zu machen, wenn die Senatsmehrheit unter dem Titel von „Mindestanforderungen“ und Berufung auf das Untermaßverbot unvermittelt einen weitreichenden, bis ins Detail gehenden Katalog von Anforderungen an die Ausgestaltung des Schutzes durch die Rechtsordnung aufstellt.148 Das, was zum Schutze und zur Förderung eines Grundrechtsgebrauchs spezifisch und zwingend gemacht werden muss, ist zusammenfassend in der Regel auf keine 147 BVerfGE 88, 203 (203 ff., 338 ff., 359 ff.) (Schwangerschaftsabbruch II). s. hierzu Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 569. Vgl. ferner Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 69, Rn. 297a f., die auch die weiteren Kontroversen um das Problem des Schutzes des werdenden Lebens hervorheben. Im Streit um die Frage, ob die Unterhaltungspflicht für ein Kind verfassungsrechtlich zulässig als Schaden begriffen werden darf, hält der Zweite Senat des BVerfG diese Sicht durch das Untermaß für verwehrt (BVerfGE 96, 409/412 f. – Plenarvorlagen), der Erste Senat aber nicht (BVerfGE 96, 375/399 ff. – Kind als Schaden). Im Urteil zum bayerischen Schwangerenhilfegesetz meint die abw. Meinung, es dränge sich auf, dass die Auffassung der Senatsmehrheit das Untermaßverbot verletze, während sich dies der Senatsmehrheit eben nicht aufdrängt (BVerfGE 98, 265/355 f. – Bayerisches Schwangerenhilfegesetz). In der Tat hat das BVerfG außer bei dem emotional und ethisch aufgeladenen Problem des Schutzes des ungeborenen Lebens nie auf eine Verletzung des Untermaßverbots abgestellt. 148 Kritisch dazu Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 541, 551 f.: Es werde „stets sogleich der vereinfachende, der komplexen Problematik unangemessene grobe Keil des Untermaßverbots eingesetzt“; Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 568; Martins, Die Grundrechtskollision, S. 54 f., der auch den Mangel an dogmatischen Konturen und Maßstab des Untermaßverbots betont. Ähnliche Bedenken werfen die Entscheidungen des STF auf, in welcher der komplexe Zusammenhang zwischen Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems und Recht auf Gesundheit als Gegensatz aufgefasst wird, sodass sie im Ergebnis gegeneinander [!] abgewogen werden. Spezifisch die Entscheidung in der STA-AgR 175 statuiert unvermittelt schwerwiegende Begründungslast für den Staat und lässt völlig unklar, woraus verfassungsrechtlich die festgelegten Anforderungen abzuleiten sind. STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70 (71, 76 ff., 102 ff.) (DJ 30. 04. 2010) (Zavesca/Miglustat). Ein Verzicht auf Bereitstellung zugelassener Arzneimittel sei dem Staat nur noch erlaubt, wenn zweifelsfrei feststehe, dass die Bereitstellung die öffentliche Ordnung, Wirtschaft, Gesundheit und Sicherheit gravierend beeinträchtigen würde.

III. Methodologische Einwände

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intersubjektiv stringent nachvollziehbare Weise aus der Grundrechtsnorm selbst und aus dem allgemeinen Schutzgebot des Art. 1 Abs. 1 GG „abzuleiten“. Das Untermaßverbot – wie im Übrigen die Verhältnismäßigkeit i. e. S. überhaupt – ermöglicht letztlich eine weit ins Politische reichende gerichtliche Kontrolle und kann im Ergebnis nur die subjektiven Urteile und Vorurteile des Prüfenden zur Geltung bringen.149

3. Der naive Glaube an die Methode und die Tendenz zum Begründungsdefizit Wie bereits dargelegt wurde, ist es für die Rechtsprechung – damit sie die Funktion der Stabilisierung von Verhaltenserwartungen und der Förderung der prekären Bedingungen einer Sozialintegration erfüllt – notwendig, dass die gefällten Urteile gleichzeitig den Erfordernissen einer konsistenten Entscheidung und einer rationalen Akzeptabilität genügen.150 Andererseits wurde festgestellt, dass unterschiedliche Autoren der Rationalität der Wertejudikatur und der gesteigerten politischen Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit das Wort reden und ihre Entscheidungen durch die „neutrale Methode“ der Abwägung rechtfertigen.151 Insbesondere bei der Rechtsprechung des STF scheint „die Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ tatsächlich als eine Art „Allheilmittel“: die rationale Methode zur Lösung der Prinzipienkonflikte.152 Diese Ansicht trägt ferner die h. M. im Schrifttum mit: Die Interessenabwägung stelle nicht eine Art von verhülltem gerichtlichen Dezisionismus dar; denn ihre Methode orientiere sich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dessen Kriterien mit einer gewissen Objektivität anwendbar seien.153 149

Vgl. auch Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 55: „Was die Grundrechte an Freiheit schützen und was das Bundesverfassungsgericht an grundrechtlicher Freiheit verteidigt, ist beim Verständnis der Grundrechte als Prinzipien keine Frage methodischer Operation. Es ist methodisch nicht berechenbar, erwartbar und kritisierbar.“ 150 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 243 f. 151 s. oben E. und F.III.1. Insbesondere in Zusammenhang mit der Prinzipientheorie von Alexy wurde bereits gezeigt, wie sie die Verwischung zwischen normorientierten und normgelösten rechtspolitischen Argumenten zu rechtfertigen versucht. Exemplarisch auch Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle, S. 251 ff., der das Prinzipienmodell für unvermeidlich und die gesteigerte politische Funktion der Rechtsprechung für legitim hält. 152 So wird häufig bekräftigt, dass die Wertabwägung eine rationale Methode sei bzw. dass die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „eine allgemeine Methode zur Lösung der Prinzipienkonflikte“ darstellten. Vgl. etwa STF, IF 2915 – 5 v. 03. 02. 2003, 152 (179) (DJ 28. 11. 2003); HC 82.424 – 2 v. 17. 09. 2003, 524 (632, 658) (DJ 19. 03. 2004) (Ellwanger); ADI 3324 v. 16. 12. 2004, 140 (178 f.) (DJ 05. 08. 2005) (Universitätswechsel). 153 Sarmento, A ponderação de interesses na Constituição Federal, S. 96. Oft wird auch bemerkt, dass die Abwägung nicht eine absolute Objektivität garantiere. Abwägungen seien aber unvermeidlich, könnten außerdem weitgehend auf rationale Weise durchgeführt werden und den Machtzuwachs für die Verfassungsgerichtsbarkeit legitimieren. Barcellos, in: Barroso, A nova interpretação constitucional, S. 49, 59 ff.; Silva, Direitos fundamentais, S. 146 ff.,

214 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Diese Einstellungen zeigen sich allerdings als ein Glaube an so etwas wie eine „neutrale Methode“ oder ein holistisches Kriterium der Rechtsprechung, das in der Lage wäre, für sich allein die Rationalität der Wertejudikatur zu ermöglichen, jedes Resultat zu rechtfertigen und die Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Kontrollmöglichkeit zu legitimieren. Diese Annahme muss sich jedoch auch einer Problematisierung unterziehen, denn schließlich ist es nicht möglich, irgendeine Praktik zu rationalisieren, indem neue Mythen geschaffen werden. Wie Carvalho Netto154 betont, ist ein Rationalisieren heutzutage nur möglich, wenn der begrenzte Charakter der menschlichen Rationalität an sich in Betracht gezogen wird. Die Wissenschaft kann – werden erst einmal die Beschränkungen der eigenen Rationalität deutlich – nur Wissen in dem Maße verkörpern, wie sie sich selbst als unvollständig und in keiner Weise absolut erfährt und alle ihre Behauptungen einem Begründungszwang aussetzt.155 Stellt man die Abwägungsmethode als ausreichend dar, um die Rationalität der Entscheidung zu ermöglichen, schließt man jedoch die Notwendigkeit aus, dass die Parameter, die verwendet werden, um diese Rationalität zu erreichen, selbst einer Rechtfertigung bedürfen. Nun zeigt sich im hermeneutischen Kontext beim Rückgriff auf vorgefasste heuristische Methoden eine gewisse Geringschätzung für die Existenz eines Hintergrundbildes, das sich aus Vorurteilen und Entwürfen zusammensetzt, die sowohl die Auswahl dieser „Kriterien“156 wie auch ihre Anwendung – die ebenso eine Interpretation erfordert – kennzeichnen. An diesem Punkt ist es von Interesse, auf die von Gadamer entwickelte Sichtweise zurückzukommen.157 Für ihn ist Wissen ganz klar etwas, das durch vorgefasste Urteile und Erfahrungen bedingt ist. Damit widerspricht der Autor einem mächtigen Postulat der Wissenschaften (gültig seit dem wissenschaftlichen und philosophi175 f. Vgl. auch Guerra Filho, in: Leituras complementares de Direito Constitucional, S. 87, 94, 106 ff. 154 Carvalho Netto, Revista Brasileira de Estudos Políticos 88/2003, 81, 105. 155 Die Zurechnung von überzogenen Ansprüchen an die menschliche Rationalität in der Moderne, im Eifer die Mythen zu beseitigen, führte letztendlich zur Bildung des Mythos der Wissenschaft. Jetzt setzt sich also die Aufgabe durch, den eigenen Mythos der modernen Vernunft zu überwinden, sodass die Wissenschaft die vermehrte Komplexität des Wissens akzeptieren und anerkennen muss. Sie muss versuchen, den Risiken entgegenzutreten, die nicht – wie vormals geglaubt wurde – einfach ausgemerzt werden können, ja sogar sie sich einzuverleiben. Carvalho Netto hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass der Positivismus – in seinem Eifer, alle Mythen zu beseitigen, und in seinem aufklärerischen Vorhaben der Erhellung aller Finsternisse mit der festen Absicht, überall Licht werden zu lassen – den größten Mythos aller Mythen schuf, nämlich den der Wissenschaft als absolutes Wissen. Deswegen drängt sich die Notwendigkeit auf, sich stets Klarheit darüber zu verschaffen, dass unsere Rationalität menschlich ist und sie als historisch, begrenzt und datiert erkannt werden muss, sprich: als eine gesellschaftliche Konstruktion, die von bestimmten Traditionen, Praktiken, Lebenserfahrungen, von bestimmten Interessen und Bedürfnissen, die in den meisten Fällen eingebürgert und nur noch Vorannahmen sind, geprägt ist. Carvalho Netto, Revista Brasileira de Estudos Políticos 88/2003, 81, 92. 156 Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 136 ff. 157 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 250 ff.

III. Methodologische Einwände

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schen Positivismus des 19. Jahrhunderts), nämlich dem Glauben an die Neutralität der Methode. Auf diese Weise versuchte Gadamer darzulegen, wie die Geisteswissenschaften durch die lebensweltlichen Prägungen, durch die Vergänglichkeit ihrer Bemühungen und die Kontextverhaftung ihrer Produktionen beeinflusst werden. Die Wissenschaft ist also weitaus weniger ein rigoroses Prozedere zur Errichtung ihrer Gegenstände als vielmehr eine Methode zur Läuterung von gelebten und vom Agenten des Wissens interpretierten Vorurteilen. Das Gegenteil zu behaupten bedeutet, Gefahr zu laufen, eine methodologische Naivität zu akzeptieren. Es lässt sich somit feststellen, dass für Gadamer die Errichtung einer Methode, mittels derer angestrebt wird, alle und jedes Vorurteil zu überwinden, dieselben bestenfalls überlagern kann. Das bedeutet nicht, dass die Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft auf Methode und Dogmatik verzichten sollen.158 Methode ist aber nicht als einfaches Rezept und Dogmatik nicht als schnelle Programme und Routinen zu verstehen.159 Die „automatische“ Anwendung von Formeln oder Schemata kann keine Entscheidungsrationalität garantieren, wohl aber die Forderung nach angemessener und nachvollziehbarer Begründung beeinträchtigen. Rationalität soll vielmehr im Sinne von Offenlegung und Fortentwicklung der Mittel der einzelnen Denkschritte, im Sinne von Transparenz und Kontrollierbarkeit angestrebt werden. Methode und Dogmatik geben insofern nur Argumentationsstrukturen und Unterscheidungen vor, die zum einen Begründungen verlangen und zum anderen – obwohl sie nicht absolut sind – über eine gewisse Orientierungs- bzw. Steuerungsleistung verfügen. Dann müssen sie aber auch erlauben, juristische Aussagen als richtig oder falsch zu erweisen. Gerade dies ermöglichen die Abwägungskonzeptionen kaum. Insbesondere in Zusammenhang mit der Prinzipientheorie von Alexy wurde in diesem Sinne bereits gezeigt: Was auch immer entschieden wird, lässt sich als Optimierung unterschiedlicher Prinzipien im Einzelfall erklären. Diese Theorie gibt der grundrechtlichen Argumentation sehr wenige Strukturen bzw. Unterscheidungen vor, die es erlauben würden, auch bestimmte Ergebnisse auszuschließen. Sie muss nichts ausgrenzen und kann auch das einfangen, was mit anderen Konzeptionen nicht mehr zu beschreiben ist bzw. als Bruch erscheint.160 Somit ist sie mit einer methodisch und dogmatisch strengen und durch diese Strenge kritischen Verfassungsrechtswissenschaft kaum vereinbar. Das Risiko einer methodologischen Naivität und eines Verfassungsgerichtspositivismus geht man ein, wenn man behauptet, dass die Güterabwägung bzw. der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine neutrale Methode sei, die in der Lage wäre, für sich allein die Rationalität der Entscheidungen sicherzustellen. Wenn die Rechtfertigung einer Entscheidung ausschließlich durch den Rückgriff auf eine vorge158

Zu ihrer Wichtigkeit vgl. etwa Schlink, Der Staat 19/1980, 73 ff., 87 ff. s. Schlink, Der Staat 28/1989, 161, 171. 160 Vgl. dazu bereits oben E.III.5.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 75 ff., 81 f., der auch einen wissenschaftstheoretischen Verdacht der Prinzipientheorie hegt. 159

216 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

fertigte und neutral gedachte Methode untermauert wird, befreit man dadurch das Resultat der Rechtsprechung von einer angemessenen Begründung und enthebt den Richter jeglicher Verantwortung, denn schließlich kann seine Entscheidung als nichts anderes angesehen werden als eine reine syllogistische Folge der Verwirklichung der Methode. Die Vorannahmen der Rechtsinterpretation müssen indessen auf eine Weise zur Sprache gebracht werden, dass die komplexen Schritte einer konstruktiven Interpretation sich mit dem verbinden, was Habermas die „Kontrolle der Verfahrensrationalität eines rechtlich institutionalisierten Anwendungsdiskurses“ nennt.161 Dies ist nur durch Abstinenz von intuitiver und Beharren auf diskursiver Begründung möglich. Mit anderen Worten haben wir es hier mit einem ehrgeizigen Versuch zu tun, Risiken dadurch zu beseitigen, dass die Komplexität der Rechtsinterpretation durch die Berufung auf vorab aufgestellte Methoden verringert wird, von denen man sich erhofft, eine gewisse Sicherheit bezüglich der Frage der Rationalität von juristischen Entscheidungen zu erlangen. Dieser Versuch entledigt jedoch nur die Richter der herkulischen Bürde, die sich ihnen darbietenden konkreten Situationen ernst zu nehmen – so wie auch die Gesamtheit der prinzipiell anwendbaren Normen in kohärenter Weise im Lichte des Einzelfalles, d. h. dynamisch und im Hinblick auf die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit, die jede normative Anwendungssituation kennzeichnen, zu rekonstruieren. Das mühselige Geschäft offener und rationaler Normanwendung kann durch die Berufung auf vorgefertigte Formeln nicht ersetzt werden. Man muss daher beim Paradigmenkomplex des demokratischen Rechtsstaates, in dem sich die Rechtsinterpretation im Kontext des Wettstreits zwischen unterschiedlichen paradigmatischen Rechtsverständnissen vollzieht, der Einbürgerung von Gewissheiten solchen Typus besondere Aufmerksamkeit zollen. Schließlich verfügt keine Methode über Instrumente, die neutral genug wären, ihre eigene Bedingung als Menschenwerk zu überwinden, geschweige denn, dass diese im Anwendungsmoment davon absehen könnte, eine wesentliche Sinnesvermittlung durch den Interpreten selbst, ganz im Lichte seiner Vorverständnisse, die auch – so weit wie möglich – eine kritisch-reflexive Problematisierung erfahren sollten, zu leisten.162 Der unspezifische Begriff der Abwägung bietet sich hingegen dafür an, Beliebigkeiten und Begründungsdefizite zu verhüllen, den Entscheidungen den Schein inhaltlicher Legitimität zu verleihen und die Usurpation politischer Kompetenzen durch die Verfassungsgerichtsbarkeit zu legitimieren.163 Da rationale und verbindliche Maßstäbe für die Feststellung einer transitiven Wertordnung fehlen, vollzieht sich die Güterabwägung entweder willkürlich oder unreflektiert nach eingewöhnten Standards. Die Berufung auf eine Wertordnung dient in diesem Sinne nach Böckenförde dazu, Abwägungsentscheidungen mit einem rationalen Schein zu verse161 162 163

Habermas, Faktizität und Geltung, S. 318. Coura, Para uma análise crítica da jurisprudência de valores, S. 121. Vgl. auch Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 32, 99.

IV. Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit

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hen und der wirklichen Begründung zu entheben. Der Rückgriff auf eine Wertordnung und Wertabwägung sei dann praktisch eine „Verhüllungsformel für richterlichen bzw. interpretatorischen Dezisionismus“.164 Ebenso stellt Müller fest, dass die Berufung auf eine vorgeblich objektive Wertordnung gerade der Verdeckung von Begründungsdefiziten der Entscheidungen diene. Die Güterabwägung genüge den rechtsstaatlich gebotenen und tatsächlich erfüllbaren Anforderungen an eine rechtswissenschaftlich-objektiv kontrollierbare Entscheidungsbildung und Begründungsdarstellung im Rahmen der Verfassungskonkretisierung nicht, was Irrationalisierung und Verunsicherung in der verfassungsrechtlichen Methodik herbeiführe.165 Dieser Mangel an Kontrollierbarkeit und Transparenz der Abwägungstechnik ist angesichts der normativen Ansprüche des Rechtsstaatsprinzips zumindest bedenklich – wenn nicht unzulässig. So beobachtet Böckenförde schließlich, dass die Abwägungseuphorie keine objektivierbaren Kriterien hat und neben den verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken eine rechtsstaatswidrige Wucherung darstellt.166

IV. Konstitutionalisierungstendenz und Verschiebung der Gewichte zwischen Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit Die Kompetenzverteilung zwischen demokratischem Gesetzgeber, Verwaltung und Justiz ist immer ein Streit um den Grundsatz der Gewaltenteilung. Dieser hat im Laufe der rechtsstaatlichen Geschichte verschiedene Formen und Lesarten erfahren. Aus einer historischen Perspektive heraus konstatieren in diesem Sinne aufmerksame Kritiker167 eine rechtsstaatlich bedenkliche Verschiebung der Gewichte zwischen Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit, die das Verfassungsgericht mit Aufgaben einer konkurrierenden Gesetzgebung belastet. Dementsprechend ist, wie oben (B.III.2.) dargelegt wurde, ein unbestrittener Wandel in der Konzeptualisierung der Grundrechte festzustellen, der sich in der Verfassungsrechtsprechung widerspiegelt. Nachdem die einzelnen Grundrechte als objektive Wertentscheidungen und die Gesamtheit der Grundrechte als eine objektive Wertordnung interpretiert wurden, beschäftigen sich das Verfassungsgericht und die Grundrechtsdogmatik v. a. mit der „Wechselwirkung“ zwischen den nur noch in ihrem „Wesensgehalt“ unantastbaren Grundrechten und den einfachen Gesetzen; mit den grundrechtlichen Schutz164

Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534. Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 80, 122, 162, Rn. 66, 89, 141. Auch diejenigen, die die Abwägung für unabdingbar halten, erkennen, dass die Verhältnismäßigkeit i. e. S. die Grundlagen für eher kurz geratene Begründungen des BVerfG bietet. Vgl. Stern, StR III/2, § 84, S. 776 (m. w. N.). 166 Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 190. 167 Wie Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 60 ff..; Schlink, EuGRZ 1984, 457 ff., 463; Grimm, Die Zukunft der Verfassung S. 166 ff., 221 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 299 ff.; Denninger, in: Der gebändigte Leviathan, S. 158 ff. 165

218 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

pflichten des Staates; mit der „Ausstrahlung“ der Grundrechte auf alle Rechtsgebiete und der „Drittwirkung“ für die horizontalen Pflichten und Rechte der Privatpersonen gegeneinander; mit den „immanenten Grundrechtsschranken“ usw. Alle diese Themen stehen mit der Entfaltung des Abwägungspragmatismus in engem Zusammenhang und gerade hierbei gewinnt die Problematik der Kompetenzüberschreitung zulasten des Gesetzgebers – und auch der Fachgerichte – besondere Aktualität. Im Folgenden werden somit spezifisch die verfassungstheoretischen und rechtsstaatlichen Einwände, d. h. die expansive Konstitutionalisierungstendenz, die mit der Abwägungspraxis einhergeht und sich eigentlich sowohl im Verhältnis des Verfassungsrechts zur Politik als auch im Verhältnis der Grundrechte zu anderen Rechtsgebieten auswirkt, diskutiert. Zunächst wird die Einebnung der Differenz von Verfassungsrecht und einfachem Recht durch letztlich freischwebende Güterabwägungen erörtert, die zu einer Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraums führen (1.). Anschließend wird spezifisch die rechtsstaatlich bedenkliche Kompetenzverlagerung vom Gesetzgeber zum Verfassungsgericht analysiert (2.).

1. Abbau der Rechtsordnung und Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraums Die theoretischen und methodologischen Schwächen der Abwägungsdogmatik wirken sich auch auf die Bedeutung der Grundrechte für die übrige Rechtsordnung aus. Wie oben dargelegt wurde, impliziert das Konzept der Grundrechte als abwägungsbedürftige Prinzipien bzw. als Optimierungsgebote, dass ihre Realisierung in unterschiedlichen Graden erfolgen kann. Diese Realisierung wird dann letztlich durch Schranken gestaltet, die von den Gerichten im Moment der normativen Anwendung des Rechts durchgesetzt werden können. Ausgeführt wurde bereits ebenfalls, wie in den Güterabwägungen des BVerfG und des STF Kriterien auftauchen, die im Verfassungstext nicht unmittelbar einen Anhaltspunkt finden. Zur Großzügigkeit dieser Gerichte bei der Annahme von Werten und Interessen als Verfassungsgüter kommt der Mangel an verfassungsrechtlichem Rückhalt für die Begründung und Eingrenzung solcher Güter hinzu. Der Preis dieses verfassungstheoretisch-dogmatischen Ansatzes ist aber nicht nur eine Relativierung des Grundrechtsschutzes, sondern auch ein Abbau des einfachen Rechts und eine Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraums. Mit der Ausdehnung der Tragweite des Grundrechtsschutzbereichs, der Vervielfältigung der Grundrechtsfunktionen und der Ausweitung der übrigen Verfassungsgüter geht also auch ein Zuwachs an Vorbehalten gegen das Gesetz einher, durch den ferner das Demokratieprinzip zugunsten einer Expansion der richterrechtlichen Rechtsfortbildung ausgehebelt wird. Somit werden nicht nur die Schranken der Grundrechte, sondern potentiell überhaupt der Inhalt der gesamten einfachen Rechtsordnung erst in verfassungsgerichtlichen Einzelfallabwägungen gleichsam endgültig bestimmt.

IV. Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit

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Der Richter muss nun nicht mehr bei der Abwägung des Gesetzgebers stehen bleiben, sondern selbständig eine Rangbestimmung der auf beiden Seiten – auf der des Grundrechts wie auf der des Gesetzes – betroffenen Rechtsgüter vornehmen.168 Die legitimierende Berufung auf Übereinstimmung mit den objektiven Wertentscheidungen der Verfassung ist also beiden Seiten eröffnet: dem Gesetzgeber gegenüber dem auf seinem (ggf. uneinschränkbaren) Grundrecht bestehenden Bürger und diesem gegenüber dem freiheitsbegrenzenden Gesetzgeber. „Der Übergang von der Herrschaft aufgrund der Legalität einer Maßnahme zur Herrschaft aufgrund richterlich sanktionierter Legitimität“ ebenso wie das weite Aufstoßen des Tors „für allerlei ideologische Aufladung“ sind hier offensichtlich. Die Relativierung der Legalität als Kriterium legitimer Herrschaft zieht daher auch eine strukturelle Rechtsunsicherheit im Sinne einer bloß vorläufigen und bedingten Verbindlichkeit der legalen Ordnung nach sich. Die Rechtsanwendung kann nämlich unter Berufung auf die höherrangigen Verfassungsprinzipien ihre strikte Gesetzesbindung lockern.169 Je mehr durch „Auslegung“ die Tragweite und die Funktionen der Grundrechte ausgedehnt werden, desto mehr wird das im konkreten Fall anzuwendende einfache Recht dem Regime des Verfassungsrechts unterworfen. Die „Eigenständigkeit“ und die Bestimmtheit des einfachen Rechts drohen verloren zu gehen, wenn der konkrete, oft in langer Entwicklung gewachsene Rechtsgehalt von Gesetzen unter Berufung auf nur unbestimmte verfassungsrechtliche Abwägungen überspielt wird.170 Durch die Unübersichtlichkeit aller möglichen Abwägungselemente können Abwägungen praktisch grenzenlos fortgeführt werden. Leicht ersichtlich ist, dass das Verfassungsgericht somit bei jeder Abwägung Gefahr läuft, die Grenze zu den Kompetenzen der von ihm kontrollierten Organe – d. h. des Gesetzgebers einerseits und der Fachgerichte andererseits – zu überschreiten.171

168 Hierzu und zum Folgenden Denninger, in: Der gebändigte Leviathan, S. 158, 162 f. Während die Leitvorstellung vom Verhältnis Grundrecht und Gesetz nach dem liberalen Modell davon ausgegangen sei, dass das Gesetz der Grundrechtsfreiheit „von außen“ Schranken setze, ohne aber unmittelbar auf ihre inhaltliche Ausfüllung durch das Individuum einzuwirken, bedeute die „Wechselwirkungslehre“, dass der Inhalt, die „Bedeutung“ eines Grundrechts den Inhalt und die Reichweite eines Gesetzes direkt und einzelfallbezogen beeinflussen könnten. Vgl. ebd., S. 161. 169 Grimm, JuS 1980, 704, 705. Vor dem Übergang des Rechtsstaates zum Abwägungsstaat, der Gesetzesherrschaft zur Menschenherrschaft warnt auch Leisner, NJW 1997, 636, 638; ders., Der Abwägungsstaat, S. 232 ff., der ferner ausführt, dass die Abwägung die Gesetzesgebundenheit des Richters unterlaufe und zu einer Rechtsentscheidung ohne Normbefehl führe. s. auch Habermas, Faktizität und Geltung, S. 301. 170 Vgl. Hesse, JZ 1995, 265, 268. 171 Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 36 ff., der in Bezug auf die Fachgerichte ferner beobachtet, dass das BVerfG selbst die Rolle einer Superrevisionsinstanz übernommen und sich darüber hinaus auch zur Supertatsacheninstanz entwickelt habe (S. 38 f.). s. dazu auch Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, S. 158 ff., Rn. 283 ff.

220 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Mehrfach hingewiesen wird in diesem Sinne auf die bedenkliche Einebnung der Differenz von Verfassungsrecht und einfachem Recht durch letztlich freischwebende Güterabwägungen.172 In Bezug auf das Privatrecht gilt dies z. B. für den Beschluss zum Besitzrecht des Mieters, in dem das Besitzrecht des Mieters zur eigentumsgeschützten Rechtsposition im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG aufgewertet und gegen das Eigentum des Vermieters im Einzelfall abgewogen wird.173 Anstatt Inhalt und Grenzen des sozialen Mietrechts – wie in Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG vorgesehen – dem Gesetzgeber (und evtl. den Fachgerichten) zu überlassen, erklärt das BVerfG so das ganze Mietrecht zum Gegenstand der verfassungsrechtlichen Überprüfung des Spannungsverhältnisses zwischen zwei Eigentumspositionen. Exemplarisch ist auch die Bürgschaftsentscheidung, in der die Privatautonomie für die Herstellung faktischer Gleichheit funktionalisiert und erneut unter einen individualisierten „Unterlegenheitsvorbehalt“ gestellt wird.174 Das bedeutet nicht, dass man jede Form der Modellierung des Zivilrechts durch Verfassungsrecht zurückweisen sollte. Aber durch diese Nivellierung von verfassungsrechtlichen und einfachrechtlichen Rechtspositionen wird gewiss die Eigenkomplexität und Selbstorganisationsfähigkeit der Institutionen des bürgerlichen Rechts und der Zivilgerichte gestört.175 Der Einwand besteht folglich nicht nur darin, dass die einfache Rechtsordnung in wachsendem Maße „konstitutionalisiert“ wird, sondern insbesondere, dass sie der Einzelfallabwägung ausgeliefert und damit abgebaut wird. Das Verfassungsgericht demontiert rechtsdogmatische Bestände und ersetzt diese – mit den Worten Luhmanns – „durch das flexible bis nichtssagende Paradigma der Interessen- oder 172

Vgl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 57 ff.; Vesting, Der Staat 41/2002, 73, 75 f.; Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 33 ff.; Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 69 f.; Kriele, JA 1984, 629, 631; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 82 f., 96; Hesse, JZ 1995, 265, 267 f. 173 BVerfGE 89, 1 (5 ff.) (Besitzrecht des Mieters). Dabei behauptet das Gericht: „Das Besitzrecht des Mieters (…) ist Eigentum im Sinne von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG“ (LS 1). Die Orientierungsleistung der Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz – ein bedeutender rechtsdogmatischer Bestand des Privatrechts – wird somit deutlich beeinträchtigt. Vgl. auch BVerfG 1 BvR 2285/03 v. 16. 1. 2004, in dem das Gericht entschied, dass eine Kündigung des Vermieters, dem die Besichtigung der heruntergekommenen Wohnung mehrfach vertragswidrig verweigert wurde, nach Art. 14 und Art. 13 GG unwirksam sei. In Bezug auf die Kompetenzüberschreitung zulasten der Fachgerichte s. auch BVerfGE 81, 29 ff. (Ferienwohnungen), mit abw. Meinung, S. 35 ff. 174 BVerfGE 89, 214 (232 ff.) (Bürgschaftsverträge). s. auch E 81, 242 (254 f.) (Handelsvertreter). In diesen Entscheidungen zieht das Gericht das Schutzpflichtenargument heran, um den Einzelnen im Rechtsverkehr vor Überlegenheit gesellschaftlicher Macht zu schützen. s. hierzu auch Medicus, AcP 192/1992, 35, 41 f., 64; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 242 ff., 267; Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 64, 70, der auch gegenüber der Einführung von Schutzpflichten zur Bewältigung zivilrechtlicher Konflikte kritisch ist: „Die Einführung neuer, aus den Grundrechten abgeleiteter Schutzrechte kann der Entfaltung der Eigenrationalität des Zivilrechts keine neue Ordnungsleistung hinzufügen. Umgekehrt kann sie vielmehr dazu führen, deren ordnungsbildende Effekte, insbesondere die Möglichkeit der Bildung stabiler Erwartungen zu blockieren“ (S. 36). 175 Vesting, Der Staat 41/2002, 73, 75. s. auch Medicus, AcP 192/1992, 35, 57 ff.

IV. Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit

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Werteabwägung“.176 Die Erosion z. B. der traditionellen, differenzierten Zivilrechtsdogmatik durch das Modell der Abwägung einander widerstreitender Verfassungsprinzipien im Einzelfall führt also zu einer nicht unbeträchtlichen Rechtsunsicherheit. Der herrschende Abwägungspragmatismus verfehlt somit eine der Hauptfunktionen der Rechtsbildung, namentlich die Stabilisierung von Verhaltenserwartungen, d. h. „auf lange Sicht ein selbststabilisierungsfähiges Verknüpfungsmuster für Rechtsbeziehungen zwischen Individuen“ aufzubauen.177 Der weitgehenden Konstitutionalisierung der Rechtsordnung und ihrer Auslieferung an eine punktuelle, unterstrukturierte Argumentation haben die theoretischen Grundlagen der Abwägung kaum etwas entgegenzusetzen. Die Tendenz zur Einebnung von verfassungsrechtlichen und einfachrechtlichen Rechtspositionen lässt sich so z. B. bei der Theorie von Häberle deutlich beobachten. Indem dieser Autor die institutionelle Freiheitsgarantie auf die konkrete Ausformung der Freiheit in gestalteten Rechts- und Lebensverhältnissen abstellt, sollte dabei zwar ein erheblich weitgehender Spielraum für gesetzliche Ausgestaltungen und Begrenzungen der grundrechtlichen Schutzbereiche eröffnet werden. Nach ihm sind aber auch Grundrechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt möglich, nämlich dann, wenn eine Güterabwägung den Grundrechten den Vorrang gebe. Ein operationalisierbarerer Ansatz wird nicht eingegeben; man müsse einfach „von Fall zu Fall“ dem grundrechtlichen institutionellen Gehalt nachspüren.178 Diese Theorie ermöglicht somit einerseits, dass die einfachgesetzlichen Regelungen an der erhöhten Bestandkraft des Grundrechts teilnehmen; andererseits eröffnet sie aber der Rechtsprechung auch eine unspezifische Kontrollmöglichkeit. Auch der Prinzipientheorie von Alexy und seinen Schülern wohnt eine expansive Konstitutionalisierungstendenz inne.179 Aus ihrem Denken in Kollisionen und Optimierungen ergibt sich nämlich, dass praktisch jede Antwort als Optimierung kollidierender Prinzipien ausgewiesen werden kann. Wird dazu berücksichtigt, dass sich fast jeder Konflikt als Grundrechtskollision darstellen lässt, dann wird deutlich, dass die Verfassung grundsätzlich zu allen Konflikten eine „optimale“ Lösung bereithält. Wenn aber quasi alle gesellschaftlichen Konflikte und Rechtsfragen sich als Grundrechtskollisionen darstellen lassen, dann gibt es für praktisch alle politischen 176

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 539. Ladeur, RabelsZ 64/2000, 60, 77. Vgl. ders., Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 48: „Dem Abwägungsmodell fehlt – entgegen der eigenen Behauptung – gerade eine Vorstellung von der kollektiven Dimension liberaler Grundrechte, nämlich ihrer über den Einzelfall hinausweisenden gesellschaftlichen Ordnungsleistung.“ s. auch Vesting, Der Staat 41/2002, 73, 75. Nach Luhmann besteht in diesem Sinne die Funktion des Rechts genau darin, Erwartungen zeitstabil zu sichern. Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 125 f. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 178 ff., seinerseits schreibt dem Recht zwei Hauptfunktionen zu: die Stabilisierung von Verhaltenserwartungen und die Förderung der prekären Bedingungen einer Sozialintegration. s. o. B.IV.2. 178 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 102. 179 Zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 82 f. Vgl. auch Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 29; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 238 ff. 177

222 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Fragen und Rechtsfragen eine grundrechtlich zu argumentierende Antwort. Sie werden letztlich materiell-rechtlich zu Grundrechtsfragen. Weil die Grundrechte jedoch sowohl gegenüber der Politik (mit Ausnahme der Verfassungspolitik) als auch gegenüber dem einfachen Recht den Vorrang genießen, enthält die Verfassungsgerichtsbarkeit grundsätzlich Zugriff auf jede politische Entscheidung und Rechtsfrage. Die materiell-rechtliche Tendenz zur Konstitutionalisierung spiegelt sich folglich zugleich in der Tendenz zur verfassungsgerichtlichen Juridifizierung. Politik und Fachgerichte werden zu Lieferanten vorläufiger Optimierungen von Grundrechtskollisionen, die freilich der Letztentscheidung des für die Verfassungsauslegung letztlich zuständigen Organs unterliegen. Die Eigenständigkeit der Politik lässt sich mit der Prinzipientheorie im Ergebnis materiell-rechtlich nicht mehr abbilden. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Verfassungsgerichtsbarkeit lösen Grundrechtskollisionen. Ihre Aufgaben unterscheiden sich voneinander strukturell nicht mehr. Zugleich eröffnet auch diese Theorie der Rechtsprechung eine freischwebende Kontrollmöglichkeit und behandelt die normgelöste allgemeine praktische Argumentation als einen notwendigen Bestandteil der grundrechtlichen Argumentation. Die Anerkennung zahlreicher objektiver Wertentscheidungen und unterschiedlicher unstrukturierter Grundrechtsfunktionen verschafft dem Verfassungsgericht ein hohes Maß an zusätzlichem Entscheidungsspielraum, das ihm bei der Konfliktlösung eine hohe Beweglichkeit bis zur Grenze der Beliebigkeit erlaubt. Die Umwandlung der Verfassung zu einer Wertordnung gibt in der Tat den Verfassungsbestimmungen (über die Offenheit der Formulierung hinaus) eine Unschärfe, die es ermöglicht, die positivierten Verfassungsprinzipien um beliebige weitere Gesichtspunkte zu ergänzen. Wie auch Maus beobachtet, ist hierbei das Risiko einer Aushebelung der einzelnen gesetzlichen Bestimmungen und einer Entkopplung zwischen Rechtsprechung und positivem Recht offensichtlich. Der Bereich gesetzlicher Verbote kann durch moralische und pragmatische Gesichtspunkte angereichert und beliebig in die außerrechtlichen Freiheitssphären hinein ausgedehnt werden, sodass sich die Freiheitsräume der Individuen in ein von Fall zu Fall hergestelltes Produkt richterlicher Entscheidungstätigkeit verwandeln können. Der Einsatz von Werten in der Rechtsprechung führt aber nicht nur zu einer Freisetzung der Justiz aus gesetzlichen Bindungen, welche die Kontrolle ihrer Übereinstimmung mit dem Mehrheitswillen garantieren sollen, sondern rüstet sie auch mit höherer Legitimation aus. Indem ihre Entscheidung nur die Gemeinschaftswerte widerspiegelt, wird sie der Kritik weitgehend entzogen. Dem Verfassungsgericht steht es mit einem so gehandhabten Verfassungsbegriff frei, beliebige gesellschaftliche Konflikte als Gegenstände zu behandeln, über die in der „richtig interpretierten“ Verfassung bereits inhaltlich entschieden sei, und den eigenen Dezisionismus unter Berufung auf verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zu verbergen.180 Hervorgehoben wird somit ins180 Vgl. zum Ganzen Maus, in: Sturz der Götter?, S. 121, 128 ff., 142 f. Maus hebt weiterhin hervor, dass die geschriebenen Freiheitsgarantien unter Vorbehalt der ungeschriebenen Eigengesetzlichkeiten ökonomischer und politischer Apparate gestellt werden. Vgl. auch Maus,

IV. Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit

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besondere, dass die Rechtsprechung unter der herrschenden Abwägungsdogmatik die Unterscheidung zwischen Anwendung und Schaffung des Rechts missachten und infolgedessen den Status einer konkurrierenden Gesetzgebung übernehmen kann.

2. Vom Rechtsstaat zum Verfassungsjurisdiktionsstaat? Die häufige Anwendung der Güterabwägungsmethode ist auf einen Wandel des Grundrechtsverständnisses und eine Funktionserweiterung der Justiz zurückzuführen, die sich aus der Entwicklung des liberalen Rechtsstaates zum Sozialstaat ergeben haben. Diese waren wahrscheinlich faktisch unvermeidlich, erheben aber normative Bedenken, insbesondere aufgrund der Belastung des Verfassungsgerichts mit Aufgaben einer konkurrierenden Gesetzgebung.181 Die Konzeptualisierung der Grundrechtsnormen als abwägungsbedürftige Prinzipien, die Argumentation mit immanenten Schranken sowie die Ausbreitung unspezifischer Funktionen machen in diesem Sinne die in der Verfassung stehende Fundamentalentscheidung zu einer pauschalen Ermächtigung an die Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Verfassung erscheint so, als ob sie doch kein System bilden sollte bzw. als ob sie auf die Existenz zahlreicher Kollisionen hin angelegt wäre, ohne selbst Parameter zu deren Lösung bereitzustellen.182 Nicht zu Unrecht wird hierbei vor einem Übergang vom Gesetzgebungsstaat zum Verfassungsjurisdiktionsstaat gewarnt.183 Es wird nämlich eine Annäherung von parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Rechtsbildung beobachtet, in welcher die Erstere von originärer Rechtsetzung zur Konkretisierung herabgestuft und die Letztere von interpretativer Rechtsanwendung zur rechtsschöpferischen Konkretisierung heraufgestuft wird. Dadurch verschwindet allerdings der vordem qualitative Unterschied zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Beide – Gesetzgeber und Verfassungsgericht – betreiben Rechtsbildung und konkurrieren in der Konkretisierung. In diesem Konkurrenzverhältnis hat der Gesetzgeber zwar die Vorhand, das nicht unmittelbar demokratisch legitimierte Verfassungsgericht aber

Rechtstheorie 20/1989, 191, 192 f.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 301; Grimm, JuS 1980, 704, 705. 181 s. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 293; Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 9 ff. 182 Vgl. auch abw. Meinung von Mahrenholz und Böckenförde in BVerfGE 69, 1 (63): „Die Verfassung verliert so die inhaltliche Bestimmtheit, die es möglich macht, sie auf die ihr unterliegenden Sachverhalte wirklich anzuwenden; sie spiegelt nur die Spannungslage wider, ohne selbst eine Entscheidungsnorm zu deren Lösung zu enthalten.“ s. ferner Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 4, 207 ff. 183 Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 25: „Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“. Bereits Forsthoff, in: FS Carl Schmitt, S. 35, 59 f.: „Übergang vom Rechtsstaat zum Justizstaat“.

224 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

den Vorrang.184 Das letzte Wort im politischen Prozess steht daher potentiell stets dem Verfassungsgericht zu. Wie stark das Abwägungsmodell die Grundgefüge einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung verändern kann, wird in der Entwicklung des objektivrechtlichen Grundrechtsverständnisses und seiner Verbindung mit dem Abwägungsgebot besonders deutlich. Hier wird in der Tat die wichtigste Ursache für die Usurpation politischer Kompetenzen durch das Verfassungsgericht gesehen. Die Grundrechte als objektive Prinzipien bieten nämlich mehr Stoff, der gegen den Gesetzgeber gewandt werden kann, als die Grundrechte als subjektive Rechte. Ist der politische Kampf um ein Gesetz verloren, dann eröffnet das objektiv-rechtliche Grundrechtsverständnis eine neue Runde – den rechtlichen Kampf vor dem Verfassungsgericht.185 Im Rahmen des aufgreifenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit lässt sich ferner jede politische Kontroverse des Gesetzgebers – ohne Übertreibung – als rechtliches Problem rekonstruieren.186 Alle gesellschaftlichen Konflikte können somit bis in die kleinsten Details hinein aus der Verfassung und erst vom Verfassungsgericht endgültig entschieden werden. Diese bedenkliche Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Kontrollmöglichkeit trat in den – zwar gewissermaßen singulär gebliebenen, aber auch für die Entfaltung der Schutzpflicht und des Untermaßverbots fundamentalen – Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch anschaulich hervor. Das BVerfG möchte hier in den Grundrechten Handlungsgebote sehen, die den Gesetzgeber nicht nur grundsätzlich anweisen, ein Ziel zu verfolgen, sondern auch, welche Mittel er dabei zu wählen hat. Das bedeutet einen große Durchbruch für die Lehre, dass der Gesetzgeber auch durch ein Unterlassen Grundrechte verletzen und v. a. dass er zum Erlass grundrechtsschützender Gesetze bestimmten Inhalts verurteilt werden kann.187

184

Zum Ganzen Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 24 f.; ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 60 f.; ders., Der Staat 42/2003, 165, 169. Hierzu auch Grimm, JuS 1980, 704, 705: „Das letzte Wort im politischen Prozess spricht auf diese Weise eine Instanz, deren demokratische Legitimation jedenfalls schwächer ist als die des Gesetzgebers“. 185 Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 51. Die Vorstellung des Verfassungsgerichts als ein zusätzliches Forum, vor dem alle gesellschaftlichen und politischen Fragen nochmals behandelt und entschieden werden können, steht übrigens auch in gewissem Gegensatz zur luhmannschen Vorstellung einer Ausdifferenzierung zwischen Rechtssystem und politischem System (S. 57). In diesem Sinne beobachtet auch Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 231, dass durch die Wertabwägung die Grenzen zwischen politischem System und Rechtssystem, an der die Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit selbst hängt, verschwimmen. Das Verhältnis zwischen Recht und Politik kann nicht ein Widerspruch in sich selbst sein: Soll das Recht die Politik kontrollieren, kann es selbst nicht zu Politik werden. s. auch Grimm, JuS 1980, 704, 705. 186 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 464 f.: „Ob ein Gesetz zur Erreichung seines Zwecks geeignet und erforderlich ist, wie stark es den Bürger belasten darf und soll, ob der Zweck die Belastung wert ist, ob die Belastung auf mehrere Schultern verteilt oder vom Staat selbst getragen werden soll – um nichts anderes ringt der Gesetzgeber.“ 187 s. o. C.III.2.; Kriele, JZ 1975, 222, 223 f.

IV. Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit

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So gelangte das BVerfG unter Rückgriff auf seine Wertordnungs-Rechtsprechung und auf die grundrechtliche Schutzpflicht zu einer staatlichen Pflicht zum Strafen. Der Gesetzgeber benötige nun eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht nur dafür, dass er straft, sondern auch dafür, dass er von Strafandrohung absieht.188 Das besonders Prekäre daran war ferner, dass das Gericht dem Gesetzgeber ohne Begründung vorschrieb, dass und in welcher Ausgestaltung eine Strafdrohung als ein geeignetes Mittel zum Schutz des werdenden Lebens zu gelten habe, obwohl die politisch kontroverse Frage gerade war, ob sie tatsächlich ein geeignetes und erforderliches Mittel darstellt.189 Selbst wenn man eine grundrechtliche Pflicht zum Strafen für möglich hielte, müsste also mindestens feststehen, dass das Strafgesetz ein verhältnismäßiges Mittel ist. Und, wenn diese Frage ungeklärt ist, hätte der Gesetzgeber die Einschätzungsprärogative. Die Urteilsbegründung traf hingegen nicht nur eine positive Entscheidung im Gegensatz zur Meinung des Gesetzgebers, sondern machte dies, ohne sich mit dessen entgegengesetzter Ansicht argumentativ auseinanderzusetzen, und kehrte die Argumentationslast geradezu um: „Ein Verzicht auf Strafsanktionen soll dem Gesetzgeber nur noch erlaubt sein, wenn zweifelsfrei feststeht, dass die von ihm bevorzugten milderen Maßnahmen zur Erfüllung der Schutzpflicht ,zumindest‘ ebenso wirksam oder gar wirksamer sind.“190 Den negativen Kompetenzbestimmungen des Abwehrrechts werden positive Regelungsvorgaben hinzugefügt. Entsprechend steht der Staat von zwei Seiten unter grundrechtlichem Rechtfertigungszwang. Die Verringerung des politischen Gestaltungsspielraums ist in diesem Sinne bei Dreieckskonstellationen allein durch die Erweiterung des grundrechtlichen Instrumentariums um eine zusätzliche Grundrechtsfunktion – wie etwa die Schutzpflicht – zur Bewältigung derselben Regelungsaufgabe offensichtlich. Die Gestaltung des Konflikts steht nämlich unter mehreren, nicht näher bestimmten oder in ein Verhältnis gesetzten Grundrechtspostulaten. Die grundrechtliche Schutzpflicht ermöglicht im Ergebnis einen methodisch kaum mehr beherrschbaren Zugriff der Rechtsprechung auf die politische Gestaltung von Drittwirkungskonflikten.191 188 BVerfGE 39, 1 (47) (Schwangerschaftsabbruch I). Kritisch dazu bereits die abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon in BVerfGE 39, 1 (74): „Es ist nicht mehr allein zu prüfen, ob eine Strafvorschrift zu weit in den Rechtsbereich des Bürgers eingreift, sondern auch umgekehrt, ob der Staat zu wenig straft.“ 189 Vgl. Kriele, JZ 1975, 222 f. s. auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 96, Rn. 409: Die Schutzpflicht kann „keine strafrechtlichen Sanktionen gebieten, wenn diese sich wie beim Schwangerschaftsabbruch als dem Schutz des Lebens nicht förderlich erwiesen haben“. 190 Abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon in BVerfGE 39, 1 (78). Auch Kriele, JZ 1975, 222, 223: Das BVerfG erwähnte kaum, dass der Gesetzgeber die Geeignetheit der Indikationenregelung zum Schutz des Lebens ausdrücklich und mit ernst zu nehmenden Argumenten bezweifelt hatte, und setzt sich ohne ein Wort über alle Einwände hinweg. 191 Dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 197: „Greift eine grundrechtlich aufgeladene Schutzpflicht auf die schon unter abwehrrechtlichen Anforderungen stehende inhaltliche Gestaltung des Drittwirkungskonflikts über, so entsteht eine kaum noch auflösbare Gemengelage unterschiedlicher Grundrechtsfunktionen.“

226 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Mit der Einführung des Untermaßverbots wird die zusätzliche Einschränkung des Spielraums des Gesetzgebers – bzw. Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Kontrollmöglichkeit – noch offensichtlicher. Nicht zu Unrecht sind die Bilder hierbei ausdrucksvoll: „vom Elend des Gesetzgebers zwischen Übermaßverbot und Untermaßverbot“192 ; „der Gesetzgeber in der Klemme zwischen Übermaß- und Untermaßverbot“193 ; „der grundrechtliche Himmel über dem Gesetzgeber (…) wird voll“194. Das Untermaßverbot soll in der Tat dem Gesetzgeber – im Unterschied zum Übermaßverbot und seinem abwehrenden Charakter – nicht einfach Grenzen ziehen, sondern ihn zum Handeln verpflichten. Nun, was alles sinnvollerweise zum Schutze oder zur Förderung des Gebrauchs eines Grundrechts, präventiv oder repressiv oder auch kombiniert getan werden kann, entzieht sich, wie bereits dargelegt, richterlicher Erkenntnis und kann grundsätzlich auf keine intersubjektiv stringent nachvollziehbare Weise aus der Grundrechtsnorm selbst und aus dem allgemeinen Schutzgebot des Art. 1 Abs. 1 GG „abgeleitet“ werden.195 An dieser Stelle soll daher ebenfalls problematisiert werden, dass im 2. Schwangerschaftsabbruchurteil unter dem Titel von „Mindestanforderungen“ ein komplettes Normprogramm entwickelt wird – mit detaillierten Vorgaben für das Beratungsverfahren, das Strafrecht, das ärztliche Berufsrecht sowie für das Arbeits-, Versicherungs- und Sozialhilferecht. Diese Vorgaben strapazieren Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG außerordentlich und sind, wie Denninger beobachtet, verhängnisvolle Folgen des Ansatzes, aus der Schutzpflicht konkrete Handlungspflichten für den Staat und wohl gar für die Bürger herzuleiten.196 Dass dies als Inhalt der Verfassung ausgegeben 192

Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561. Hain, DVBl. 1993, 982. Auch Starck, JZ 1993, 816, 817. Der Gesetzgeber kann „von zwei Seiten in die Klemme genommen“ werden: Je weniger die Freiheit eingeschränkt wird (Übermaßverbot), umso mehr gerät der Gesetzgeber in die Gefahr, nicht genug zu schützen (Untermaßverbot); und je mehr er schützt, umso mehr gerät er in Gefahr, die Freiheit übermäßig einzuschränken. 194 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 96, der in diesem Zusammenhang auch auf die dogmatische Unbestimmtheit der meisten Grundrechtsfunktionen hinweist: „Der grundrechtsdogmatische Himmel ist nicht nur voll, sondern auch voll mit Grundrechtsfunktionen dogmatisch weitgehend unbestimmten Inhalts, die in einem weitgehend ungeklärten Verhältnis zueinander stehen.“ 195 Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 567, der ferner bemerkt, dass dies gut so sei. Denn wäre es anders, so wäre der demokratische politische Prozess, an dessen Ende der Gesetzgeber die erforderlichen konkretisierenden Normen zu erzeugen habe, weitgehend überflüssig und sinnlos. Die schwierige Aufgabe, zwischen „Übermaß“ und „Untermaß“ das „richtige“ Maß zu finden, könne nicht das Verfassungsgericht im Wege angeblicher Verfassungsauslegung leisten, sondern sei eigentliche Aufgabe der Sozialpolitik. Hierzu bedürfe es nämlich der Beteiligung der Bürger, der Zivilgesellschaft in Gestalt des politischen Prozesses. Vgl. ebd., S. 569. s. auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 68 f., Rn. 297a; Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 463 ff. 196 Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 568 f. Nachdem das Gericht auf eine umfassende und ums Detail bemühte Weise sein eigenes Modell einer Beratungskonzeption entwickelt habe, falle es ihm nicht schwer, die Arbeit des Gesetzgebers daran zu messen und teilweise zu verwerfen. Insbesondere die „Beratungslösung“ als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund 193

IV. Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit

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wird, verschleiert, was in Wahrheit politische Dezision bildet, die Domäne der Politik bleiben müsste. Nicht nur im rechtswissenschaftlichen Schrifttum, sondern auch in der Öffentlichkeit wurde in diesem Sinne nicht zu Unrecht die Missachtung des Gebots des judicial self-restraint durch das Gericht in der „vom Parlament kunstvoll gelösten Frage des Schwangerschaftsabbruchs“ moniert.197 Das Risiko einer Juridifizierung der politischen Auseinandersetzungen zeigt sich ebenfalls in der grundrechtlichen Ableitung von spezifischen sozialen Leistungsansprüchen, deren Realisierung den Einsatz finanzieller Mittel erfordern. Das BVerfG hat auch hier die Grundrechte als Leistungsrechte interpretiert und ihnen Ansprüche auf staatliche Förderung, auf Zuteilung von Mitteln, Positionen und Chancen entnommen.198 Es hat sich aber im Ergebnis dann doch immer wieder zurückgehalten und den Staat nur zur gleichmäßigen Verteilung der schon vorhandenen Haushaltsmittel verpflichtet. Hingegen hat das STF unvermittelt eine schwerwiegende Begründungslast für den Staat festgesetzt und ihm abverlangt, zusätzliche Haushaltsmittel für die Befriedigung individueller Ansprüche bereitzustellen.199 Die im Zeichen knapper Ressourcen unausweichlichen Prioritätsentmusste dem Prinzipiendenken des Gerichts zum Opfer fallen (S. 563). Kritisch auch Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 541, 551. Problematisch – in ähnlichem Sinne – die abw. Meinung von Mendes in STF, ADI 3510 v. 29. 05. 2008, 134 (607 ff., 621 f.) (DJ 28. 05. 2008) (ES-Zellen). Diskutiert wurde dabei die Verfassungsmäßigkeit des Bundesgesetzes 11105/2005, das die Forschung mit embryonalen Stammzellen erlaubte. Unter Berufung auf das Untermaßverbot und nach einem Vergleich zwischen der Arbeit des brasilianischen Gesetzgebers und der Gesetzgebung von fünf anderen Ländern stellt der Richter Mendes die Notwendigkeit zusätzlicher konkreter Schutzmaßnahmen fest – wie etwa der Schaffung einer Zentralen EthikKommission und der Einführung einer Subsidiaritätsklausel, der zufolge die Forschung nur dann erlaubt sei, wenn der angestrebte Erkenntnisgewinn nicht auf andere geeignete Weise zu erreichen sei. Die abw. Meinung des Richters Menezes Direito statuiert darüber hinaus eine lange Reihe von weiteren konkreten Handlungsgeboten und sogar ein Verbot, die Embryonen in vitro je zu vernichten (S. 286, 304 f.). 197 Gerste, Die Zeit 23, v. 04. 06. 1993, 1. Insoweit übereinstimmend Dederer, in: Menzel, Verfassungsrechtsprechung, S. 250; Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 566 ff.; Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 541, 550 ff. Das Parlament hatte die Fristenregelung von 1992 erst nach einer erschöpfenden diskursiven Vorbereitung in der politischen Öffentlichkeit und nach der gewissenhaften Erörterung aller Argumente in den eigenen Reihen mit klarer Mehrheit verabschiedet. 198 Vgl. etwa BVerfGE 33, 303 (330 ff.) (numerus clausus I); 43, 291 (317 ff.) (numerus clausus II); 59, 1 (21 ff.). 199 STF, STA-AgR 175 v. 17. 03. 2010, 70 (115 f., 138) (DJ 30. 04. 2010) (Zavesca/Miglustat); Pet. 1246 v. 31. 01. 1997 (DJ 13. 02. 1997) (Duchenne-Muskeldystrophie). In der Tat beruht die brasilianische Rechtsprechung hinsichtlich der Bewilligung von Medikamenten auf einer individualistischen Erörterung sozialer Probleme, mit der die Notwendigkeit einer Sozialpolitik ignoriert und ihr Fortschritt inzwischen sogar beeinträchtigt wird. Diese Entwicklung offenbart darüber hinaus einen gewissen „Infantilismus der Justizgläubigkeit“ (vgl. hierzu Maus, in: Sturz der Götter?, S. 121 ff., 129). Es wird nämlich von der Justiz eine Korrektur des eigenen „staatsbürgerlichen“ Verhaltens erwartet. Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit (wie auch nach Umweltschutz) kommen oft weniger im eigenen Wahlverhalten, geschweige denn in der Beteiligung an nichtinstitutionalisierten gesellschaftlichen Willensbildungspro-

228 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

scheidungen über den Einsatz und die Verteilung der verfügbaren staatlichen Finanzmittel werden insofern aus einer Frage politischen Ermessens zu einer Frage der Grundrechtsinterpretation. Entsprechend kann die Zuständigkeit, sie zu treffen, vom Gesetzgeber bzw. von der Regierung auf die Gerichte, letzthin auf das Verfassungsgericht, verlagert werden.200 Bei der ein positives Verhalten des Gesetzgebers gebietenden Leistungs- oder Schutzpflicht liegt ferner das schon oft beobachtete (und ebenso oft kritisierte) Problem eines Übergangs von kassatorischen zu präskriptorischen Entscheidungen besonders nahe. Die kassatorische Kompetenz scheint nämlich dem BVerfG in einigen Entscheidungen nicht mehr zu reichen; es will nicht nur Gesetze kassieren, sondern selbst gestalten und den Gesetzgeber manchmal bis ins Detail spielen. Das Gericht erteilt dann über die Erklärung der Verfassungswidrigkeit hinaus Handlungsanweisungen bzw. umschreibt die Voraussetzung einer verfassungsmäßigen Lösung so eng, dass es dem Gesetzgeber die Möglichkeit eigener Gestaltung nimmt und selbst positiv gestaltet.201 Das Verfassungsgericht kann hingegen nicht anstelle der anderen Gewalten selbst rechtliche Regelungen erlassen bzw. den anderen Gewalten den Inhalt dessen vorschreiben, was sie zu regeln haben. Seine Kontrolle hat sich auf die Nachprüfung der vom Gesetzgeber bzw. von der Regierung getroffenen Entscheidungen zu beschränken und nicht diese durch eine andere – vom ihm für besser gehaltene – zu ersetzen. Was hier insbesondere im Zusammenhang mit der Entwicklung des objektivrechtlichen Grundrechtsverständnisses veranschaulicht wurde, gilt auch mutatis zessen zum Ausdruck, sondern in der Hoffnung auf Zuteilung dieser Güter durch die Rechtsprechung. 200 Bereits Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1536. Vgl. auch Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 239; Hain, DVBl. 1993, 982, 984. Die aktuelle Entwicklung der Leistungs- bzw. Schutzpflicht verkehrt insoweit die herkömmliche Konzeption des Sozialstaatsgebots in ihr Gegenteil: Während aus dem Sozialstaatsgebot früher nur hinsichtlich der Gesetzgebung Dispositionsspielräume gegenüber Freiheitsrechten abgeleitet wurden, wird heute eine beträchtlich größere Dispositionsfreiheit des Richters, aber auch eine engere Bindung des Gesetzgebers selbst aus den grundrechtlichen Schutzpflichten abgeleitet. Hierzu Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 45. 201 Dies gilt nicht nur für den ausführlichen Katalog von „Mindestanforderungen“ an Schwangerschaftsabbrüche. Auch im Bereich des Steuerrechts z. B. hat das BVerfG mehrere detaillierte Vorgaben entwickelt. So bemerkt Böckenförde in seiner abw. Meinung in BVerfGE 93, 121 (149 ff.) (Einheitswerte II) – die wiederum von E 115, 97 (Halbteilungsgrundsatz) einkassiert wurde: das Gericht „etabliert sich gegenüber dem Gesetzgeber als autoritativer Praeceptor“ (S. 152) und die „Vorgaben des Senats sind der Einstieg in eine Verfassungsdogmatik der Besteuerung, die den Gesetzgeber bis hin zu Details wie Bewertungsmethoden anleitet“ (S. 158). Vgl. auch die abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon in BVerfGE 35, 79 (147 ff.) (Hochschulurteil), welche die Herleitung detaillierter organisatorischer Anforderungen für die Selbstverwaltung der Universität aus Art. 5 Abs. 3 GG moniert. Das BVerfG setze sich „unter Überschreitung seiner Funktion an die Stelle des Gesetzgebers“ (S. 149). Allgemein kritisch zu der Überschreitung der kassatorischen Befugnis Hesse, JZ 1995, 265, 267.

IV. Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit

229

mutandis für die Argumentation mit kollidierenden Verfassungsgütern202, ja überhaupt für das ganze Denken in Kollisionen und Abwägungen. Weil das letzte Wort bei der Normenkontrolle dem Verfassungsgericht zusteht, hängt letztendlich von ihm ab, welche Werte in die Verfassungsebene hineinprojiziert oder aus der Verfassung destilliert werden können, sowie wie die unterschiedlichen kollidierenden Güter optimal zu verwirklichen sind. In die Verfassung werden zahllose Spannungsverhältnisse hineinverlegt, die potentiell stets anhand von freischwebenden richterlichen Abwägungen optimal gelöst werden können.203 Mit anderen Worten entscheidet das Verfassungsgericht letztinstanzlich und einzelfallbezogen nicht nur über die Anerkennung der jeweiligen Wertentscheidungen, sondern auch über ihren Rang, ihre Bedeutung und Reichweite. Alle Verfassungsbestimmungen werden zu Abwägungsgesichtspunkten. Auch in der Prinzipientheorie von Alexy ist diese Umkehrung des Verhältnisses von Gesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit leicht ersichtlich. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Verfassungsgerichtsbarkeit lösen Kollisionen zwischen Verfassungsprinzipien, die außerdem darauf angelegt sind, ständig miteinander zu kollidieren. Die Politik wird zum Lieferanten vorläufiger Optimierungen von Kollisionen, die freilich der Letztentscheidung des Verfassungsgerichts unterliegen. Die autoritative Setzung von Präferenzen und Wertungsentscheidungen steht somit dem Verfassungsgericht zu. Werden ferner die grundrechtlichen Abwägungsergebnisse als „zugeordnete Grundrechtsnormen“ gedeutet,204 dann erhalten die richterlichen 202

Auch abgesehen von der Problematik einer möglichen unmittelbaren Geltung der verfassungsimmanenten Schranken hängt schließlich vom Verfassungsgericht die autoritative Anerkennung des Verfassungsrangs eines in einfachen Gesetzen konkretisierten Rechtsguts ab (s. o. F.I.1. und F.I.2.). 203 So beobachtet die abw. Meinung von Mahrenholz und Böckenförde in BVerfGE 69, 1 (58, 63 f.), dass das Modell der immanenten Grundrechtsschranken auch die Grundgefüge einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung verändert. s. auch die abw. Meinung von Klein, Kirchhof und Winter im Stasi-Spion-Beschlusses (BVerfGE 92, 277/341 ff.). Im Wege der Abwägung zwischen unterschiedlichen Gemeinwohlbelangen leitet das Gericht aus dem Grundgesetz unmittelbar ein Verfolgungshindernis für Stasi-Spione ab, die als Bürger und vom Boden der DDR aus Spionage gegen die BRD betrieben hatten (BVerfGE 92, 277/335). Gegen die Ableitung eines allgemeinen Verfolgungshindernisses wandte sich das Sondervotum, das die Annahme der Rolle des Gesetzgebers durch das BVerfG moniert: „Insoweit verfehlt der Beschluss die Grenzen zwischen gestaltender Gesetzgebung und kontrollierender Rechtsprechung. Die Berufung auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dient unseres Erachtens dem Senat nur als begriffliche Hülle für Überlegungen, die mit den gefestigten rechtlichen Maßstäben für die Anwendung dieses Prinzips nicht zu erfassen sind und seine Konturen verschwimmen lassen“ (S. 341). Vgl. auch STF, RE 153531 v. 03. 06. 1997, 388 ff. (DJ 13. 03. 1998) (Farra do Boi), in dem das Gericht im Rahmen einer pauschalen Abwägung von Schutz und Anreiz kulturellen Brauchtums und Schutz von Tieren vor grausamer Behandlung zu einer Pflicht des Gesetzgebers kommt, Stierkämpfe allgemein zu verbieten – ohne ihm Raum für eine mildere Alternative zu lassen. 204 „Als Ergebnis jeder richtigen grundrechtlichen Abwägung lässt sich eine zugeordnete Grundrechtsnorm mit Regelcharakter formulieren, unter die der Fall subsumiert werden kann.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 87.

230 F. Kritik an der Abwägung und dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnis

Entscheidungen (d. h. ihre Präferenzsätze) praktisch Verfassungsrang und binden weiter den Gesetzgeber. Das Verfassungsgericht wird insofern letztlich zu einer ständigen verfassungsgebenden Gewalt. Mit der fallbezogenen Abwägung im Modell der „Konstitutionalisierung der einfachen Rechtsordnung“ kann die „Steuerungsfähigkeit“ des Rechts durch den Staat zwar zunehmen, zugleich aber wird dadurch das Verhältnis von Gesetzgeber und Richter auf den Kopf gestellt.205 Durch diese Vorgehensweise und die zusätzliche Erzeugung von Gütern unterstellt das Gericht alle übrigen politischen Instanzen der von ihm interpretierten Verfassung, während es sich selbst anhand kasuistischer Abwägungen der positiv-verfassungsrechtlichen Bindungen weitgehend entledigt. Das BVerfG erkennt freilich eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers an, lässt jedoch seine Kontrollkompetenz u. a. von der Bedeutung bzw. der Wertigkeit der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter abhängen.206 Aber die Bestimmung des Bedeutungsmaßes, nämlich das Gewicht der jeweils einschlägigen Prinzipien, stellt das Gericht selbst fest. Greift der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf das Abwägungsgebot und auf das Untermaßverbot aus, erlaubt er – wie Schlink zu Recht warnt – dem Verfassungsgericht, das ihn als Maßstab für das Verhalten des Gesetzgebers handhabt, eine umfängliche, weit ins Politische reichende Kontrolle,207 ohne inhaltliche Entscheidungskriterien zur Verfügung zu stellen. Mitzuberücksichtigen sind also die bereits erörterten theoretischen und methodologischen Schwächen der Abwägungsdogmatik, die den Wortlaut und die Systematik des Grundrechtsteils, die Ausgestaltung der Grundrechtsgarantien und die Abstufung der Gesetzesvorbehalte überrollt und im Ergebnis keine inhaltlichen Maßstäbe zur Verfügung stellen kann, die rechtsstaatlichen Anforderungen an Normklarheit, Konsistenz, Überprüfbarkeit und Rechtssicherheit genügen.208 Deswegen identifiziert auch Müller in der Abwägungspraxis eine Tendenz, die Grenze zwischen freier Rechtsschöpfung und normtextgebundener Konkretisierung zu vermischen. Verfassungsverwirklichung darf nicht von der Konkretisierung der Verfassungsnormen und ebenso wenig diese Konkretisierung von der Darstellung einer kontrollierbaren, durchschaubaren und diskutierbaren Methodik gelöst werden. Wie Schlink hervorhebt und oben dargestellt wurde, kann in den Abwägungsprüfungen angesichts ihres Mangels an rationalen und verbindlichen Maßstäben letztlich nur die Subjektivität der Prüfenden zur Geltung kommen. Ihre Ergebnisse sind rechtsmethodisch befriedigend nicht zu bewältigen und nur dezisionistisch zu 205

s. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 44. Vgl. etwa BVerfGE 39, 1 (42) (Schwangerschaftsabbruch I); 46, 160 (164) (Schleyer); 50, 290 (332 f.) (Mitbestimmungsurteil); 76, 1 (51 f.) (Familiennachzug); 88, 203 (254) (Schwangerschaftsabbruch II). 207 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 464. 208 Vgl. hierzu und zum Folgenden Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 110, 123, Rn. 72, 89; Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 18 f., 86. 206

IV. Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit

231

leisten. Nicht zu rechtfertigen ist aber, dass das überprüfende Verfassungsgericht seine subjektiven Urteile über die des überprüften Gesetzgebers stellt; dort, wo nur noch subjektive Urteile getroffen werden können, beginnen im Gegenteil der Bereich und die Legitimität der Politik. Deswegen verzichtet der Autor auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e. S. und verweist die fraglichen Dezisionen über Präferenzen aus dem Bereich des Rechts in den der Politik. Er erkennt, dass eine Gesellschaft ohne Abwägung von Individual- und Gemeinschaftsinteressen, ohne Setzung von Präferenzen, ohne Entscheidung für und gegen bestimmte Werte nicht auskommt. Diese Aufgabe sei aber dem politischen Prozess zu überlassen, der über seine eigenen Verfahren verfüge, Dezisionen zur Entstehung und wieder in Wegfall zu bringen, zu kontrollieren und zu sanktionieren.209 Unter Bedingungen des gesellschaftlichen und kulturellen Pluralismus kann in der Tat nur in der Entfaltung von Diskussion und Prozedere in politischen und gesellschaftlichen Konsensbildungsprozessen überhaupt erst über soziale Normen und Wertvorstellungen befunden werden. Die Delegation dieser Diskussion an die Justiz stellt eigentlich einen Fluchtweg aus der Komplexität einer Gesellschaft dar, in der objektive Werte gerade in Frage stehen.210 Diese Art richterlicher Rechtsfortbildung, die sich zur impliziten Gesetzgebung ausweitet, bringt schließlich die eigene Rationalität der Rechtsprechung in Gefahr, ebenso wie sie die Legitimationsbasis der rechtsprechenden Gewalt überfordert. Allein die demokratische Genese des Rechts kann seine Legitimität sichern, und nicht moralische oder ethische Begründungen durch die Justiz. Die Rechtsprechung ist an Gesetz und Recht gebunden und unter den Bedingungen rechtsstaatlicher Gewaltenteilung stehen gesetzgeberische Kompetenzen den Organen der Rechtsanwendung nicht zur Verfügung. Verfassungsgerichtsbarkeit ist nicht als integraler Bestandteil der Politik, sondern als deren balancierender Widerpart gedacht. Die politische Rationalität des letztlich dezisionistischen Abwägens ist von einer Legitimation getragen, über die das Verfassungsgericht nicht verfügt.211 Die Legitimität des geltenden Rechts, von der jeder Anspruch auf Rationalität der Rechtsprechung abhängt, setzt daher die Bewahrung des Gesetzgebungsprozesses voraus.212 Die Assimilation von Rechtsprinzipien an Werten bzw. Gütern wird der – vom deontologischen Verständnis der Prinzipien eingezogenen – „Brandmauer“ nicht gerecht, die es ermöglicht, die Rechte als „Trümpfe“213 in einem Wettstreit anzusehen, in dem die Demokratie selbst auf dem Spiel steht.

209 Schlink, EuGRZ 1984, 457, 462. s. auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 66 f., Rn. 293; Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 460 ff. 210 Vgl. Maus, in: Sturz der Götter?, S. 121, 123. 211 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 462. 212 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 292. 213 Dworkin, Bürgerrecht ernstgenommen, S. 14, 144 ff.

G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell Die Probleme, die sich die Grundrechtsdogmatik mit der Wert- und Abwägungsorientierung einhandelt, sind, wie gezeigt, grundsätzlicher Art. Doch als Antwort auf die Kritik wird häufig bekräftigt, dass es keine andere akzeptable und realisierbare Möglichkeit gebe.1 Demgegenüber werden im Folgenden verschiedene Alternativen zum Abwägungsmodell dargestellt, mit denen schrittweise deutlich wird, dass das grundrechtliche Instrumentarium auch ohne die Abwägung und ohne Verlust seines deontologischen Geltungssinns zur Lösung von Konflikten nicht defizitär ist. Die erste Serie von Ansätzen bezieht sich spezifisch auf die Grundrechtsdogmatik (I.). Mit einem grundrechtsdogmatischen Ausbau des Abwehrrechts reagieren Böckenförde, Müller, Schlink und Poscher sowohl auf die Kritik des Abwehrrechts als auch auf die Einebnung seiner dogmatischen Strukturen durch das Abwägungselement. Sie sind Befürworter eines abwehrrechtszentrierten Grundrechtsverständnisses und es steht hier, obgleich mit unterschiedlichen Akzenten und z. T. abweichenden Ergebnissen, das dogmatische Element im Vordergrund. Die zweite Reihe von Theorien betrifft allgemeiner die Frage der Rechtsinterpretation (II.). Im Hinblick auf die dem Recht inhärente Unbestimmtheit legen Dworkin und Günther Kohärenztheorien vor und liefern dabei einen breiten Rahmen für die Differenzierung zwischen normorientierter und normgelöster politischer Argumentation sowie für die Erfassung der Spannung zwischen Rechtssicherheit und Richtigkeit innerhalb der richterlichen Praxis. Eine kritische Voranalyse der dargestellten alternativen Ansätze mit Hinweisen auf die Weiterentwicklung der Arbeit schließt das Kapitel ab (III.).

I. Dogmatik der Einzelgrundrechte und Ausbau des Abwehrrechts Als gemeinsamer Nenner dieser ersten Reihe von Ansätzen gilt sowohl ihre abwägungsskeptische Haltung als auch ihre dogmatische Absicht, das Abwehrrecht zu verteidigen bzw. auszubauen. Sie weisen jedoch durchaus unterschiedliche Akzente auf: Während sich Böckenförde und v. a. Müller intensiver mit der Schutzbe1 Vgl. etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 106 ff., 154 ff.; ders., Rechtstheorie 18/ 1987, 405 ff.; Wendt, AöR 104/1979, 414, 455; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 175; Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 85; Barcellos, Ponderação, racionalidade e atividade jurisdicional, S. 68 ff.

I. Dogmatik der Einzelgrundrechte und Ausbau des Abwehrrechts

233

reichsbestimmung beschäftigen, legt Schlink einen Schwerpunkt auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Poscher auf die Lösung von Dreiecksverhältnissen. Bei den unterschiedlichen Vorschlägen wird allerdings auch deutlich, dass die methodischen und dogmatischen Vorzüge des Abwehrrechts auch verfassungs- und demokratietheoretische Vorteile gegenüber dem Abwägungsmodell abbilden: Die Grundrechtsdogmatik soll das Bild eines politisch gestaltenden, in einem grundrechtlichen Rahmen handelnden Gesetzgebers wieder darstellbar machen.

1. Grundrechte als subjektive Freiheitsrechte und Gewährleistungsinhalt einzelner Grundrechte nach Ernst-Wolfgang Böckenförde Im Zusammenhang mit einem Plädoyer für die klassische abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion wendet sich Böckenförde sowohl gegen eine Objektivierung der grundrechtlichen Freiheiten als auch gegen das herrschende Abwägungsmodell, das zu einem Konturenverlust der Grundrechtsdogmatik führe. Im Vordergrund seines Ansatzes stand zunächst das rechtsstaatlich-liberale Anliegen, die liberale Freiheit gegenüber einer wertbezogenen, institutionellen, demokratischen oder auch sozialstaatlichen Umdeutung der Grundrechte zu bewahren. Die „liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche) Grundrechtstheorie“ sieht er dabei durch die Genese des GG und das GG selbst bestätigt, das allerdings der problematischen sozialen Blindheit dieser Theorie für die realen Voraussetzungen der Freiheit mit dem Sozialstaatsprinzip Rechnung getragen habe.2 Der Sozialstaatsauftrag wird also ausdrücklich in seiner verfassungsrechtlichen Verankerung akzeptiert und befürwortet. Er erweise sich „als Rechtstitel, um die grundrechtliche Freiheit des einen nicht nur mit der gleichen rechtlichen Freiheit des anderen, sondern auch mit deren Realisierungsmöglichkeit kompatibel zu halten und ihrer Ausdehnung von daher Maß und Grenze zu setzen.“3 Eine Erweiterung des einzelgrundrechtlichen Freiheitsrechts zu Leistungsansprüchen lasse sich hingegen dem Sozialstaatsauftrag nicht entnehmen und führte vielmehr zu einer bedenklichen Juridifizierung der politischen Auseinandersetzung.4 Der Einwand gegen die Qualifizierung der Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektive Grundsatznormen wird später noch stärker auf das demokratietheoretische Element gestützt. Nach Böckenförde könne die maßgebliche Funktion des vom Volk gewählten Parlaments für die Rechtsbildung festgehalten und der fortschreitende Umbau des Verfassungsgefüges zugunsten eines verfassungsgerichtli2

Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1537 f. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1538. 4 Außer der Abwehr extrem-missbräuchlicher Untätigkeit begründe somit eine leistungsrechtliche Seite der Grundrechte grundsätzlich keine unmittelbar einklagbaren Ansprüche. s. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1536. 3

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

chen Jurisdiktionsstaates ausschließlich dadurch vermieden werden, dass die (gerichtlich einforderbaren) Grundrechte nur als subjektive Freiheitsrechte gegenüber der staatlichen Gewalt und nicht zugleich als objektive Grundsatznormen (Wertentscheidungen) für alle Bereiche des Rechts verstanden würden.5 Hierbei unterscheidet der Autor weiter zwischen konkreter Freiheitsgewähr im unmittelbaren Verhältnis Staat – Bürger und der Rechtsordnung im Übrigen, die zwar das Ergebnis einer Rechtsgestaltung durch den Gesetzgeber sei, aber der Grundrechtsbindung nicht unterliegen solle.6 Damit richtet er sich gerade auch gegen die Anwendung des Abwehrrechts auf privatrechtliche Dreieckskonstellationen.7 Die Grundrechte sollten nämlich nur dort Geltung haben, wo der Staat an den Rechtsbeziehungen unmittelbar beteiligt ist. Wären die einklagbaren Grundrechte auf das unmittelbare Verhältnis Bürger – Staat bezogen und begrenzt, bestimmten sie nur einen Teilbereich der Rechtsordnung und nicht mehr die Rechtsordnung insgesamt, sodass die Rechtsgestaltungsaufgabe des Staates der Politik und politischer Auseinandersetzung vorbehalten bliebe. Dadurch spielte sich dann der „Kampf ums Recht“ primär in der parlamentarischen Auseinandersetzung ab, begleitet von und unter Beteiligung der Öffentlichkeit, nicht primär vor den Schranken des BVerfG. Die Abwägung stelle darüber hinaus nicht mehr ein Problem dar; denn die Verhältnismäßigkeitsprüfung erhielte wieder den festen Bezugspunkt im Gesetzeszweck und ihre dritte Stufe wäre – abgesehen vom Fall des offenbaren Missverhältnisses – kein Ansatzpunkt mehr, um die Regelung als solche in Frage zu stellen.8 5

Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 28; ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 66 f. Vgl. Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 24. 7 Auch Böckenförde verbindet eigentlich mit der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft die Vorstellung einer grundrechtlich nicht zu verantwortenden Ordnung der Gesellschaft. Er sieht nämlich in den Selbstläufigkeiten der Gesellschaft den Ursprung von sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten. Deswegen seien staatliche Interventionen (d. h. sozialer Ausgleich und soziale Leistungen), die die Wechselbezüglichkeit von Staat und Gesellschaft verdeutlichten, notwendig. Die sozialstaatlichen Maßnahmen erschienen dabei zwar als staatliche Eingriffe in die Ordnung der Gesellschaft, die insoweit staatlich geprägt werde. Doch jenseits dieser Eingriffe habe die Gesellschaft ihre eigene, vom Staat unabhängige „Verfassung“. Nicht die bei Böckenförde naturwüchsig gedachte Ordnung der Gesellschaft, die freilich durch das staatliche Eigentums-, Erb- und Vertragsrecht abgesichert werde, sondern der sozialstaatliche Ausgleich der durch diese Ordnung hervorgebrachten sozialen Ungerechtigkeiten müsse sich vor den Grundrechten rechtfertigen. Die Ordnung der Gesellschaft unterliege diesen Rechtfertigungsanforderungen nicht. Sie sei zwar als rechtliche Ordnung gedacht, die aber im Unterschied zu den sozialstaatlichen Interventionen staatlich nicht zu verantworten und grundrechtlich nicht zu rechtfertigen sei. Vgl. Böckenförde, in: Recht, Staat, Freiheit, S. 209, 233 ff. Kritisch Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 147 ff. Auf eine Grundrechtsfreiheit des Privatrechts zielte bereits Forsthoff, in: FS Carl Schmitt, S. 35, 47 f., 54 f., der allerdings auch eine gewisse antisozialstaatliche Position einnahm. 8 Zum Ganzen Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 28 f. (inkl. Fn. 110); ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 66 ff. (inkl. Fn. 140). In diesem Zusammenhang unterscheidet der Autor zwischen einer klassischen Verhältnismäßigkeit und einer Verhältnismäßigkeit als Maßstab der Abwägung. Der feste Bezugspunkt im Gesetzeszweck bzw. in der Gesetzesnorm fehle eben bei der Abwägung zwischen objektivrechtlichen Grundrechtsgehalten und ihrer Wirkungsintensität. Der Ausgleich bzw. die angemessene Zuordnung mehrerer, auch gegen6

I. Dogmatik der Einzelgrundrechte und Ausbau des Abwehrrechts

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Jüngst hat Böckenförde ferner seine Einwände gegen das Abwägungsmodell mit Argumenten erneuert, bei denen das dogmatische Element stärker in den Vordergrund rückt.9 Ausgangspunkt ist hierbei eine Kritik am Begriff des Schutzbereichs, der auf einer liberalistischen abstrakt-umfassenden Freiheitsvorstellung (tun und lassen können, was man will) beruhe. Sei Freiheit im Sinne subjektiver Beliebigkeit geschützt, so sei bei allen Freiheitsrechten schon die Bindung des Verhaltens der Grundrechtsträger an die allgemeine Rechtsordnung nur als ein Eingriff darstellbar und vollziehbar.10 Dieser dogmatische Ansatz verschärfe die Schrankenprobleme und verlange nach einem Arsenal verfassungsimmanenter Schranken und Abwägungen. Die gegenwärtige Grundrechtsdogmatik verliere dadurch ihre Konturen und ignoriere die historisch-genetischen Entwicklungslinien des Verfassungsrechts. Darüber hinaus schlägt er vor, den weit ausgreifenden Schutzbereichsbegriff durch zwei andere zu ersetzen, nämlich Sach- bzw. Lebensbereich und Gewährleistungsinhalt. Die Unterscheidung zwischen beschreibendem und normativem Moment im Grundrechtsbegriff würde nach Böckenförde eine präzisere Bestimmung des Freiheitsgehalts der einzelnen Grundrechte erlauben und somit das Schrankenproblem vom Beliebigkeitseffekt entlasten. Der Sach- und Lebensbereich beziehe sich demzufolge lediglich auf den „gegenständlichen Einzugsbereich des Grundrechts“, d. h. auf die allgemeine Frage, zu welchem Bereich das Grundrecht überhaupt Bezug hat – wie z. B. Familie, Religion, Berufswahl und -ausübung. Der Gewährleistungsinhalt bezeichne seinerseits normativ, was und in welchem Umfang, bezogen auf diesen Einzugsbereich, an Schutz, Freiheit, Teilhabe o. Ä. gewährleistet werde. Der Kernpunkt dieses Ansatzes liegt genau in der Ermittlung des Gewährleistungsinhalts, die eigenständig für jedes Grundrecht durchgeführt werden müsse und nicht abstrakt und einheitlich unter Rückgriff auf Beliebigkeits-Freiheit zu bestimmen sei. Da die einzelnen Grundrechte aus konkreter Unrechtsabwehr oder Erkämpfung bestimmter Rechte entstanden seien, hätten sie von daher ihre Zielrichtung erhalten, und deshalb sei der Gewährleistungsinhalt durch eine historisch-genetische Interpretation11 des Entstehungsvorgangs der einzelnen Grundrechte zu ermitteln. Grundrechte könnten also nicht die „Ausfaltung abstrakter Beliebigkeits-Freiheit“ gewährleisten, sondern müssten entsprechend einem historisch-genetisch geprägten Verständnis entlang

läufiger normativer Prinzipien zu verwirklichen, sei allerdings eher Aufgabe der Gestaltung als (der interpretativen) Anwendung einer Rechtsordnung. Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 20 f. (inkl. Fn. 81). 9 Zum Folgenden Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 174 ff., 185 ff. 10 Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 167. So z. B. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 155, 202 ff., der die rechtliche Freiheit als die rechtliche Erlaubnis, zu tun und zu lassen, was man will, definiert und jede Verbot- und Gebotsnorm als Freiheitseinschränkung sieht. 11 Genetische und historische Elemente bringen Nicht-Normtexte aus der Entstehungsgeschichte bzw. frühere Normtexte aus dem Regelungsbereich in die Entscheidung ein. Vgl. dazu Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 93 ff., 364 ff., Rn. 67d, 360 ff.

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

gesellschaftlicher Konfliktlinien bestimmt werden.12 Böckenförde erkennt13, dass dieser Ansatz das Problem der vom Parlamentarischen Rat gewollten uneinschränkbaren Grundrechte nicht zum Verschwinden bringt. Er bekräftigt aber, dass er doch ermögliche, das Problem sachbezogen und ohne Beschädigung der rechtsstaatlich-gewaltenteiligen Verfassungsstruktur zu behandeln. Der hierbei gegebene Vorzug der historisch-genetischen Interpretation ergibt sich aus seiner Beobachtung, dass dieses Auslegungsmittel mit der Vorstellung der Verfassung als Rahmenordnung14 besonders harmoniere. Die historisch-genetische Interpretation habe genau das Ziel, die Verfassung in ihrer Stoßrichtung präzise zu erfassen und auch zu begrenzen – nicht aber bestehende Festlegungen ausufernd zur Quelle neuer Festlegungen zu machen. Das schließe jedoch nicht aus, den auf diese Weise ermittelten Gewährleistungsinhalt der Grundrechte, wenn deren ursprünglicher Realbereich sich ändere, auch auf den veränderten Realbereich anzuwenden. Durch diesen Ansatz lasse sich die Heranziehung von verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken wesentlich zurückdrängen und somit auch die rechtsstaatswidrige Wucherung der – ohne objektivierbare Kriterien seienden – Abwägungseuphorie zurückschneiden. Die Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt unterlägen demzufolge nur den elementaren Nichtstörungsschranken15, die der Gesetzgeber näher ausformen könne und müsse. Die Grundrechte mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt unterlägen Einschränkungen nur nach Maßgabe der näher festgelegten Qualifizierung. Jene mit einfachem Gesetzesvorbehalt unterlägen ihrerseits den üblichen gesetzlichen Einschränkungsmöglichkeiten, die allerdings die Verhältnismäßigkeit wahren müssten. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz solle dabei gegenüber dem Gesetzgeber wieder nur die Kriterien der Geeignetheit und der Erforderlichkeit des Mittels im Hinblick auf den gemeinwohlverträglichen Gesetzeszweck enthalten – wie er im Polizeirecht entwickelt worden sei.16 Schließlich schütze 12

Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 174 f. In Antwort auf den Einwand, dass die Ersetzung weit ausgreifender Schutzbereiche durch genau bestimmte Gewährleistung nur die Verschiebung des Problems bedeute, weil die Probleme, die bisher bei den Grundrechtseingriffen und deren Rechtfertigung behandelt wurden, nun in die Bestimmung des Gewährleistungsinhalts verlagert würden. Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 185. 14 Die Verfassung als Rahmenordnung enthalte bestimmte grundlegende Verbürgungen sowie normative Regelungen für die Konstituierung, Legitimation, Zielausrichtung und Begrenzung des politischen Prozesses. Sie sei zwar eine normative Vorgabe, aber bewusst nicht als System konzipiert, das keinen Raum für die Rechtsgestaltung durch den Gesetzgeber lasse, und beanspruche deswegen auch nicht, potentiell bereits eine Antwort auf jede neue Frage und Konstellation zu enthalten. Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 186 f. Vgl. auch ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 71 f. 15 s. o. F.I., Fn. 2; Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1, Rn. 70 ff. 16 Das dritte Glied der klassischen Verhältnismäßigkeit bedeute nur, dass der Gesetzeszweck in der individuellen Anwendung (nicht der generellen Regelung) nicht in einem offenbaren Missverhältnis zum erstrebten Zweck stehe. Bei der Überprüfung von Gesetzen finde es folglich keine Anwendung. Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 190 (inkl. Fn. 84). s. auch ders., Der Staat 29/1990, 1, 20, 29 (inkl. Fn. 81, 110). 13

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das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) diejenigen Handlungen, die nicht vom Gewährleistungsinhalt eines speziellen Grundrechts erfasst würden, nach Maßgabe des beigegebenen Schrankenvorbehalts.17

2. Die sachlich-normative Reichweite der einzelnen Grundrechte als Grenzbestimmung und der Beitrag der Normbereichsanalyse von Friedrich Müller Im Zuge der Entfaltung einer umfassenden juristischen Methodik wendet sich auch Friedrich Müller gegen die Relativierung der Gesetzesvorbehalte und die methodisch nicht zu kontrollierende Güterabwägung. Darüber hinaus entwickelt er einen Ansatz zum Ausbau eines abwehrrechtlichen Systems, das auch den Bedenken gegen seine dogmatische Leistungsfähigkeit Rechnung zu tragen versucht. Hierbei sieht der Autor, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allein zur Konkretisierung des Abwehrrechts nicht ausreicht, und setzt sich weiter für eine genaue, normbereichsbezogene Bestimmung des Schutzbereichs und der Gesetzesvorbehalte ein, was zu einer Vermeidung von Grundrechtskollisionen, die zu Güterabwägung zwingen, führen würde. Er versteht die Grundrechte als je selbständige, sachlich geprägte, bestimmte gegenständlich abgrenzbare Normbereiche sichernde Freiheitsverbürgungen. Daher folge schon aus der Rechtsqualität der Grundrechte eine sachlich-normative Begrenzung ihrer Reichweite.18 Demzufolge sei in erster Linie der Geltungsgehalt der grundrechtlichen Gewährleistungen – durch Vermittlung der Strukturanalyse des Normbereichs mit dem grundrechtlichen Normprogramm – zu entwickeln. Vom Geltungsgehalt aus ließen sich die Grenzen der Reichweite der einzelnen Verbürgungen diskutieren, ohne dass Höherwertigkeitspostulate und Pauschalformeln erforderlich seien.19 Die normative Wirkkraft von Grundrechts- und anderen Verfassungsnormen werde demnach mit den theoretisch und methodisch differenzierenden und strukturierenden Gesichtspunkten der Normbereichsanalyse und mit einer zu leistenden wesentlich genaueren Bestimmung der Konkretisierungselemente des praktischen Rechtsgewinnungsvorgangs weit eher und auf 17 Zum Ganzen Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 190 f. Dass Art. 2 Abs. 1 GG ein Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit garantieren solle, sei systematisch korrekt und entspreche den Intentionen, die den Parlamentarischen Rat bei der Debatte um Art. 2 Abs. 1 GG und seiner Formulierung bewegt hätten. Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 188 f. (inkl. Fn. 90 f.). Hierzu auch Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 132 ff. 18 Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 14. Die Grundrechte seien nämlich von der Verfassungsrechtsordnung konstituierte und als Rechte nicht überpositiv substanzialisierbare Gewährleistungen (S. 41). Zum Vorwurf, dass es sich bei Müllers Theorie der sachlichen Reichweite um eine zu enge Tatbestandstheorie handele, s. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 280 ff. Eine Antwort darauf findet sich in Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 161 f., 561, Rn. 141, 556. 19 Zum Ganzen Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 71, 87.

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rechtsstaatsgemäßere Weise erfüllt als mit notwendig vagen Vorstellungen von Wertkategorien und Abwägungen.20 Der Ausgangspunkt von Müllers Normtheorie besteht in der These der Nichtidentität von Rechtsnorm und Normtext.21 Dabei ist die hermeneutische Differenzierung der Normstruktur in Normprogramm und Normbereich zentral. Eine Rechtsnorm stelle mehr als der Normtext (Rechtssatz, Gesetzeswortlaut, amtlicher Wortlaut) dar. Der Normtext sei lediglich das sprachliche Gebilde (die Zeichenkette), das in Gestalt von Paragraphen oder Artikeln die Kodifikationen zusammensetze. Die Rechtsnorm müsse erst durch die Konkretisierung erzeugt werden (Normkonstruktion).22 Deswegen sei der Weg vom Normtext zur Rechtsnorm nicht als bloße 20 Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 81 f., Rn. 66 f. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung biete zwar nach dem aktuellen Stand insgesamt das Bild einer Entwicklung, die mit einer Reihe neuer Ansätze den Weg von einer nur scheinbar genügenden formallogischen Textbehandlung zu einer sach- und fallbezogenen Verfassungskonkretisierung einschlage. Nach diesen Autoren behandele aber das BVerfG nicht in der wertbestimmten Tendenz, sondern in den vielfältigen auf Normbereichsanalysen gestützten Entscheidungen die Grundrechte zutreffend verfassungsmäßig. Verfassungsmäßige Behandlung bedeute, die Grundrechte als durch ihre Normbereiche sachlich abgestützte Verbürgungen und ihre Gesamtheit nicht als fiktives „System“, sondern als material sinnvoll deutbare Zusammenordnung je eigenwertiger und geschichtlich verschieden fundierter Gewährleistungen individueller, politischer und sachlicher Freiheit zu betrachten. Als Beispiele von Entscheidungen, die sich auf Normbereichsanalysen stützen, werden u. a. folgende zitiert (ebd., S. 251, Rn. 237): BVerfGE 73, 118 (154 ff.) (4. Rundfunkentscheidung); 74, 297 (350 ff.) (5. Rundfunkentscheidung). 21 Diese Unterscheidung wird von zahlreichen Autoren in stark variierender Weise getroffen. Die Abweichungen betreffen nicht nur die Terminologie, sondern auch insbesondere die Bedeutung des Rechtsnormbegriffs. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 73, z. B. bezeichnet die Normtexte als „Rechtssätze“ und stellt sie ebenso „Rechtsnormen“ gegenüber. Eine Norm ist nach Kelsen der Sinn eines Willensaktes, dass etwa sein oder geschehen, insbesondere dass sich der andere in bestimmter Weise verhalten soll. Außerdem ist laut Kelsen etwas nur dann eine Norm, wenn es objektiv den Sinn des Sollens hat (objektive Geltung) (S. 4 ff., 7 f.). Alexy seinerseits unterscheidet zwischen Norm und Normsatz und definiert als Norm die Bedeutung eines Normsatzes. Auch hier wird mit „Norm“ bezeichnet (aber ohne das mentalistische Element Willensakt), dass sich ein Mensch in bestimmter Weise verhalten soll. Weiterhin trennt Alexy die Frage nach der Bedeutung der Norm von der Frage nach ihrer Geltung und ihrer Setzung. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 42 f., 47 ff., 50 ff. Er fasst somit den Normbegriff als lediglich semantischen Gegenstand auf. Darüber hinaus, um die rein semantische Bedeutung eines Normsatzes (Norm) zu ermitteln, kommen die Behauptungen der Geltung der Norm oder die Interpretationsbehauptungen nicht in Betracht. Er besteht auf einer klaren und strikten Trennung zwischen dem Begriff der Norm und dem Begriff des bloß normativ Bedeutsamen, zwischen dem, was ein Gesetzgeber als Norm gesetzt hat, und dem, was ein Interpret an Gründen für eine bestimmte Interpretation vorträgt (S. 68). Die Frage nach der Bedeutung einer Norm ist aber wesentlich eine Interpretationsfrage. Nach der hier vertretenen Ansicht ist daher Alexys Unterscheidung nicht beizupflichten. Sie ist in der Theorie von Müller, bei der eine Verknüpfung von Normtheorie und Rechtsanwendungstheorie besteht, nicht vorhanden. Zur Verteidigung der Normtheorie von Alexy und Kritik an Müllers Konstruktion s. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 66 ff. 22 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 502 f., Rn. 467. Dieser Gedanke ist wiederum schon in der Formulierung von Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 239 ff., zu finden (s. o.

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Anwendung objektiver semantischer Regeln zu verstehen. Es gehe vielmehr um einen aktiven Semantisierungsvorgang, bei dem auch die soziale Realität – die empirischen Argumente im Rahmen der grundrechtlichen Begründung – eine zentrale Rolle spiele. Der normative Leitgedanke, der vom Grundrechtsnormtext zumeist nur in allgemeiner Formulierung genannt, aber gleichfalls nicht willkürlich zu unterlegen sei, sei mit einem erst im konkreten Fall zu umschreibenden Normbereich zu vermitteln. Normprogramm und Normbereich konstituierten die abstrakt-generellen Leitsätze, um die Rechtsnorm zu formulieren.23 Der Normbereich sei nach Müller durch den Zusammenhang von Sachbereich und Normprogramm zu ermitteln. Der Sachbereich bezeichne hier den sachlich umschriebenen Sektor menschlicher Wirklichkeit und Wirksamkeit. Er umfasse allerdings eine große und unbestimmte Faktenmenge und werde deshalb normalerweise aus Gründen der Arbeitsökonomie gemäß der Individualität des Sachverhalts zum Fallbereich eingeschränkt. Das Normprogramm ergebe sich seinerseits aus der Interpretation sämtlicher Sprachdaten24, also Textauslegung mit allen methodisch anerkannten Mitteln. Der Normbereich sei dann der Ausschnitt sozialer Wirklichkeit in seiner Grundstruktur, den das Normprogramm aus dem allgemeinen Regelungsbereich der Rechtsnorm auswählend zu bestimmen erlaube. Mit Hilfe des Normprogramms werde also aus dem Sach- bzw. Fallbereich die Teilmenge der für das Ergebnis mit-normativen Tatsachen ausgewählt. Der Normbereich entspreche daher nicht einer Summe von Tatsachen oder den Einzelheiten des Sachverhalts. Es handele sich um die am Normprogramm ausgerichtete und begrenzte Ermittlung der Realdaten25, um die Heraushebung von Strukturelementen in der auswählenden und wertenden Perspektive des Normprogramms aus der sozialen Realität und ihre rechtliche Formung. Der Normbereich gehe, aufgrund seiner auch rechtlichen Formung und seiner Auswahl durch die Perspektive des Normprogramms, über die bloße Faktizität eines Ausschnitts außerrechtlicher Wirklichkeit hinaus. Der Sachverhalt werde seinerseits auch nicht wahllos in den Konkretisierungsvorgang eingehen, sondern in textorientierter und verallgemeinerungsfähiger Form.26 GleichB.III.3.). Vollkommen anders ist hier allerdings, wie diese Normerzeugung bzw. Normkonkretisierung erfolgen soll und welche Anforderungen dabei gestellt werden. 23 Vgl. zum Ganzen Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 41 f., 262, Rn. 14 ff., 256. s. auch Müller, Rechtstheorie 8/1977, 73: „Juristischen Begriffen in Normtexten eignet nicht Bedeutung, Sätzen nicht Sinn nach der Art eines abgeschlossenen Vorgegebenen.“ 24 Sprachdaten sind die primär sprachlich begründeten Interpretationsgesichtspunkte (z. B. die grammatischen, systematischen, historischen sowie die speziellen Auslegungsfiguren der einzelnen Rechtsgebiete). Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 41, Rn. 13. 25 Realdaten sind die empirischen Elemente, die als natürliche oder soziale Fakten primär nichtsprachlich konstituiert sind, die aber sekundär sprachlich vermittelt sein müssen, damit die juristische Praxis und Wissenschaft mit ihnen arbeiten können. Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 41, Rn. 13. 26 Zum Ganzen Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 42, 237, 247 f., 503, Rn. 16, 232, 235a f., 468. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 73, bekräftigt ferner, dass das überkommene realitätsfeindliche Normverständnis es nicht zulasse, den aus dem Sachbereich

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zeitig seien Normtexte, wegen ihres abstrakt-generellen Charakters, notwendigerweise nur entwerfend stilisiert und müssten, sollen sie praktisch wirksam werden, im Einzelfall erst komplex zu Rechtsnormen konkretisiert werden. Eine Rechtsnorm sei der verbindliche Entwurf sachlich geprägter Ordnung und deswegen nicht ein von seinem Geltungsraum abstrakter, gegenüber dem von ihm angezielten Wirklichkeitssegment isolierter Befehl.27 Der Normtext sei, neben dem Fall, das Eingangsdatum des Konkretisierungsvorgangs, und gleichzeitig gewinne der bloße Text erst in der juristischen Argumentation seine Bedeutung.28 Auch Müller geht davon aus, dass kein Grundrecht ohne Grenzen garantiert werden kann. Das besagt aber keineswegs, dass ihm zufolge alle Grundrechtsnormen entweder eine geschriebene Schrankenklausel enthalten oder mit einer ungeschriebenen zu verstehen sind. Vielmehr werden, wie bereits ausgeführt, schon aus der Rechtsqualität jedes Grundrechts Sachgrenzen seiner Verbürgung gezogen. Bei der Grenzbestimmung sachlicher Grundrechtsgarantien handele es sich nicht um ungeschriebene Annexe, sondern um geschriebene Normgehalte, d. h. um die sachlich-normative Reichweite des (vom Wortlaut der Vorschrift formulierten, angedeuteten oder eindeutig vorausgesetzten) Normbereichs.29 Die Grenzbestimmung entspreche somit sachlich der Inhaltsbestimmung: „Grundrechtsbegrenzung in diesem Sinne ist dasselbe wie inhaltliche Bestimmtheit der Freiheitsgarantie einer von der als ,frei‘ garantierten Sache her zu bestimmenden Verbürgung.“30 Dem Autor geht es folglich darum, das „sachspezifisch Geschützte“ herauszuarbeiten, auf das allein der grundrechtliche Normbereich begrenzt sei.31 Bei allen Grundrechten sei demzufolge zu unterscheiden zwischen Verhaltensweisen, die zum grundrechtlichen Normbereich gehörten und solchen, die nur in äußerlichem Zusammenhang mit der Grundrechtsausübung stünden, d. h. solchen, die nur bei Gelegenheit einer Grundrechtsausübung praktisch geworden seien, ohne in den Normbereich des Grundrechts zu fallen.32 So schließe beispielsweise die Kunstfreiheit auch nach Müller den Werk- und den Wirkbereich (Recht des Schaffens und

mittels des Normprogramms herauszuhebenden Normbereich als normatives Element anzuerkennen. 27 In diesem Sinne kritisiert der Autor die veraltete Illusion des Gesetzgebungspositivismus, dass Normtexte bereits die Norm und als solche zudem schlicht „anwendbar“ seien. Müller/ Christensen, Juristische Methodik, S. 249, Rn. 236 (inkl. Fn. 218). 28 Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 41, 262, Rn. 15, 256. Ebenso Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 18, Rn. 45 f. 29 Vgl. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 32. 30 Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 41. 31 „Wo die sachliche Rechtsweite des Normbereichs endet (…), endet das vom Grundrecht sachspezifisch Geschützte, endet sein Geltungsgehalt.“ Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 56. 32 Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 75.

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des Verbreitens) ein.33 Ihr Schutz gehe aber nicht so weit, dass sämtliche bei Gelegenheit des Schaffens und Verbreitens vorgenommenen Handlungen automatisch von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG erfasst würden. Weder der Materialdiebstahl noch das Malen auf der Straßenkreuzung und die aus dem Kontext offenkundig isolierbare Ehrverletzung seien grundrechtsspezifisch geschützte Handlungen34, soweit der Künstler nicht ausnahmsweise für sich in Anspruch nehmen könne, dass für genau diese Modalität eine zwingende künstlerische Notwendigkeit vorliege. Handlungen, die nicht unmittelbar auf das Werk selbst, sondern auf Modalitäten im äußerlichen Zusammenhang mit dessen Erstellung und Verbreitung bezogen seien, fielen somit nicht zwangsläufig in den Schutzbereich der Kunstfreiheit. Für den Wirkbereich heiße dies etwa, dass „nur“ eine grundsätzliche Gegebenheit des Wirkbereichs garantiert werde, nicht jedoch die Möglichkeit jeder beliebigen Verbreitungsart des Kunstwerks. Soweit gewisse gleichwertige und austauschbare Kommunikationsformen zur Verfügung stünden, d. h., solange der Künstler nicht eine zwingende Notwendigkeit einer spezifischen Verbreitungsart geltend machen könne, werde nicht jede von ihnen grundrechtlich gewährleistet.35 Dies führe z. B. dazu, dass im Prinzip keine Bedenken dagegen bestünden, die Werbung für ein als jugendgefährdend eingestuftes Kunstwerk gegenüber Jugendlichen zu verbieten, wohl aber gegen ein allgemeines Verbot, welches die Verbreitung des Kunstwerks praktisch unmöglich machen würde. Das allgemeine Verbot sei als Eingriff in eine strukturell notwendige Modalität an Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zu messen und mangels einer Schrankenregelung verfassungswidrig.36 Das Kriterium für den Schutzumfang im Umfeld eines Grundrechts bleibt damit offen. Handlungen, die nicht unmittelbar Gegenstand der Garantie sind, sondern lediglich in Zusammenhang mit der Grundrechtsausübung stehen, sind nach diesem Ansatz nur dann grundrechtlich geschützt, wenn sie strukturell notwendig – d. h. nicht austauschbar – sind. Hierbei könne die Typizität eines Verhaltens (das Typische, Normale, Konventionelle) Anhaltspunkte liefern, sodass die Differenzierung und Aufgliederung der vom Normbereich umschlossenen Möglichkeiten nach typischen Handlungs- und Gestaltungsformen wertvolle Hinweise gäben. Aber auch das Atypische, das Spontane, Individuelle, das Neue könnten sachspezifisch geschützt sein.37 Entscheidend für das „sachspezifisch Geschützte“ bzw. für die 33 Vgl. Müller, Freiheit der Kunst, S. 97 ff. So auch BVerfGE 30, 173 (189) (Mephisto); 67, 213 (224) (Anachronistischer Zug). 34 Müller, Freiheit der Kunst, S. 100. Vgl. auch ders., Die Positivität der Grundrechte, S. 56 f. 35 Müller, Freiheit der Kunst, S. 102. 36 Müller, Freiheit der Kunst, S. 122 f. Im Unterschied zu Müllers Ansatz schafft allerdings das gegenwärtig herrschende Begrenzungsmodell Einschränkungsmöglichkeiten nicht nur im Hinblick auf den Wirkbereich, sondern auch auf das sachspezifisch Geschützte, und kann damit etwa auch Zugriffe auf den Inhalt der Kunst oder der Wissenschaft erlauben. 37 Das Grundrecht sei nicht einfach von der Faktizität her voreilig zu fixieren. Dies wäre ein Rückgriff auf den Sachbereich und nicht auf den Normbereich. Der Sachbereich möge in

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„strukturelle Notwendigkeit“ bleibe die Herausarbeitung dessen, „worumwillen nach historischer Erfahrung, politischer Überzeugung und rechtlicher Einsicht das Grundrecht gewährleistet worden ist“.38 Die primäre dogmatische Frage sei somit nicht die nach Einschränkungsmöglichkeiten der Grundrechte, sondern „wie weit sein aus der Analyse des Normbereichs aus und ihrer Vermittlung mit dem grundrechtlichen Normprogramm zu entwickelnder Geltungsgehalt reicht“.39 Bei Grundrechtskollision solle es im Ergebnis nicht auf das weniger einschränkbare Grundrecht ankommen, sondern es werde dogmatisch von der Spezialität des Grundrechts ausgegangen, zu dessen Normbereich die fragliche Anknüpfungshandlung gehöre. Methodische Leitlinie für Eingriffsurteile sei somit hauptsächlich die Bestimmung von Eigenart, Funktion und sachlicher Begrenztheit des betreffenden Grundrechts, also von der Reichweite des Geltungsgehalts.40 Die entsprechende Normbereichsanalyse ergebe oft, dass das in Frage gestellte Verhalten deswegen gar nicht vom Grundrechtsschutz umfasst werde, weil es nicht sachspezifisch bzw. strukturell notwendig für die Aktualisierung des Grundrechts sei. Zahlreiche Konstellationen, in denen Freiheiten mit entgegenstehenden Belangen zusammentreffen, stellten somit in Wahrheit bloße Scheinkollisionen dar. Auch vorbehaltlos gewährleistete Freiheiten seien in diesem Sinne durch ihren Normbereich sachlich begrenzt. Darüber hinaus könne die Grundrechtsdogmatik „genügend von der Normbereichsanalyse und der Bereichsdogmatik der einzelnen Grundrechte zu konkretisierende Gesichtspunkte der Begrenzung und der Vermittlung mit anderen Normen der Verfassungsrechtsordnung erarbeiten“. Somit könne das Problem der vorbehaltlosen Grundrechte, die nicht „schrankenlos“ im Sinne von unbegrenzt gelten könnten, durch eine mit Hilfe der Normbereichsanalyse rational zu entwickelnde Bereichsdogmatik der einzelnen Garantien gelöst werden.41 Soweit nach der Tatbestandsabgrenzung die wirklichen Grundrechtskollisionen noch existierten, d. h., soweit Überschneidungen der Normbereiche bei gleichzeitig gegenläufiger Regelung durch die Normprogramme bestehen blieben, komme das

manchen „Sektoren“ konventionell erstarrt sein. Der Normbereich lasse hingegen dank der Verfassungsgarantie die Möglichkeiten des Neuen offen. 38 Zum Ganzen Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 98 f. Typisch im Rahmen der Wissenschaftsfreiheit sei z. B. etwa die freie Wahl des Objekts, der Methode und der Ziele der Forschung. Nicht mehr typisch sei hingegen die freie Wahl der Publikationsform. Verbiete es der Staat einem Wissenschaftler, seine Ergebnisse durch Thesenanschlag an öffentlichen Gebäuden oder mit öffentlich montiertem Lautsprecher zu verbreiten, sei damit eine für Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG „typische“ Kommunikationsform nicht getroffen. Solange nicht praktische Gründe des Einzelfalles belegen, dass allein die verbotene Möglichkeit der Grundrechtsaktualisierung bestanden habe, genüge es, dass gleichwertige, austauschbare Möglichkeiten der Publikation offenbleiben. Hier – ebenso wie in der Kunst – bestehe in der Tat größere Austauschbarkeit bei den Kommunikationstypen als bei den Produktionstypen. Ebd., S. 101. 39 Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 87 40 Zum Ganzen Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 81, 95. 41 Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 108 f., Rn. 70.

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Verfahren praktischer Konkordanz42 zum Zug, das von Wertabwägungen strikt zu unterscheiden sei. Die praktische Konkordanz leiste die über den Einzelfall und seine Individualität hinausreichende Differenzierung verschieden intensiver Schutzzonen innerhalb der grundrechtlichen Reichweite, die Unterscheidung verschiedener Schutzrichtungen, verschiedener Schutzgesichtspunkte, typischer Kollisionslagen zwischen bestimmten systematisch zusammengehörigen oder voneinander selbständigen Grundrechten, Differenzierungen im Anschluss an sachliche Parallelen und Divergenzen in den Normbereichen der am Fall beteiligten Verfassungsnormen und Ähnliches. Bei der praktischen Konkordanz kämen aber nur Verfassungsnormen untereinander und mit Gesetzesvorbehalt garantierte Grundrechte und ihnen zugeordnete, vom Gesetzesvorbehalt formal und materiell gedeckte Vorbehaltsgesetze in Betracht. Eine Vermischung beider Geltungsebenen sei nicht erlaubt. Bei normativem Widerspruch gelte vielmehr immer das Grundrecht und nicht das grundrechtsverkürzende Gesetz, das eigentlich in solchen Fällen ein „Vorbehaltsgesetz ohne Gesetzesvorbehalt“ sei. Die praktische Lösung müsse außerdem jedenfalls über den Einzelfall hinaus normativ-dogmatisch strikt begründbar und generalisierbar sein.43

3. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i. V. m. den verschiedenen Dogmatiken der Einzelgrundrechte nach Bernhard Schlink Schlink zielt darauf ab, zum einen die Grundrechtsdogmatik vom Abwägungspragmatismus zu befreien und zum anderen das Abwehrrecht als grundrechtliche Leitfunktion zu rehabilitieren. Der Autor sieht den Grund für die freiheitstheoretische Kritik des Abwehrrechts in einem missverstandenen negatorischen Freiheitsverständnis und weist auf den rechtstechnisch-konstruktiven Charakter des Eingriffsund Schrankendenkens hin, der eigentlich zu einem Freiheitsbegriff, der die soziale Bedingtheit der Freiheit hervorhebt, nicht in Widerspruch stehe.44 Er kritisiert ferner die dogmatischen Ansätze, die aus den werttheoretischen und institutionellen Grundrechtstheorien entwickelt wurden. Sie liefen im Ergebnis auf eine Abwägungsentscheidung im Einzelfall hinaus, die letztlich nur dezisionistisch zu leisten sei. Dementsprechend fordert Schlink einen grundsätzlichen Verzicht auf die Proportionalitätsprüfung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die entwickeltere dogmatische Struktur des Abwehrrechts biete ohne den Abwägungsenthusiasmus eine größere Leistungsfähigkeit bei der Abgrenzung von Recht und Politik an. In dem Vorbehalt des Gesetzes identifiziert Schlink die wichtige Funktion, die grundrechtlichen Eingriffe an das Erfordernis einer gesetzlichen Legitimation zu 42 43 44

Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 28, 142, Rn. 72, 318. Zum Ganzen Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 49, 53, 89 f. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 467.

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binden. Es gehe aber um eine Bindung der Verwaltung und nicht der Gesetzgebung. Die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte aktualisiere sich erst in der Frage des „Wie“, also in der Frage nach inhaltlichen Anforderungen an die Gesetze. Hinweise für die Antwort gebe der Verfassungstext in den qualifizierten Gesetzesvorbehalten, die bestimmte Zwecke und Mittel ge- oder verbieten und einen ZweckMittel-Zusammenhang verlangten. Darüber hinaus hält es der Autor für konsequent, dass das BVerfG die Gesetzgebungsbindung an die Grundrechte vornehmlich in der Kontrolle der Gesetze auf ihre Verhältnismäßigkeit aktualisiert.45 Die Verhältnismäßigkeitskontrolle eines Gesetzes muss aber nach Schlink nicht unvermeidlich Abwägungen einschließen; sie sei eigentlich Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Zweck und Mittel und der Geeignetheit und Erforderlichkeit des Einsatzes des Mittels für die Erreichung des Zwecks und damit von beträchtlicher Intensität.46 Er stellt darüber hinaus die These auf, dass ein Eingriff in der Regel nicht an einem Missverhältnis zwischen dem Wert der beeinträchtigten Freiheit und dem Rang des öffentlichen Guts scheitere, sondern vielmehr an seiner mangelnden Geeignetheit und Notwendigkeit zur Erreichung des verfolgten Zwecks.47 Die Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit seien empirisch orientiert. Die Wirklichkeit bzw. die Hypothesen und Theorien über die Wirklichkeit erlaubten bei der Geeignetheitsprüfung die Prognose, dass, wenn das Mittel eingesetzt werde, auch der Zweck erreicht werde. Die Wirklichkeit bzw. unsere Hypothesen und Theorien erlaubten ferner bei der Erforderlichkeitsprüfung auch die weitere Prognose, dass, wenn das Mittel nicht eingesetzt werde, auch der Zweck nicht erreicht werde. Soweit ein anderes milderes Mittel bestehe, mit dessen Einsatz der Zweck auch erreicht werde, sei das eingesetzte Mittel nicht erforderlich.48 Aufgestellt und überprüft würden somit Hypothesen über die Wirklichkeit, über den empirischen Zusammenhang zwischen dem Eingriff und dem angestrebten Zustand bzw. zwischen alternativen Maßnahmen und demselben angestrebten Zustand. Daher könne auf die Geeignetheit und Notwendigkeit hin methodisch korrekt, rational kontrollierbar und dogmatisch generalisierbar überprüft werden. Die Verhältnismäßigkeit i. e. S. stelle hingegen ein rein wertmäßiges subjektives Kriterium dar, das Schlink 45

Schlink, EuGRZ 1984, 457, 459. s. auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 63 f., Rn. 272 f. 46 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 462. 47 Diese These ist für die Rspr. des BVerfG in den Bänden 1 bis 35 ausgearbeitet bei Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 17 – 126. Vgl. auch ders., EuGRZ 1984, 457, 460 f. Zur Kritik daran s. Wendt, AöR, 104/1979, 414, 452 ff.; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 172 ff.; Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 13 ff. Die Akzeptanz von oder sogar Forderung nach Abwägungen stehen allerdings auch hierbei in eigentümlichem Verhältnis zum Eingeständnis des Fehlens oder doch der massiven Defizite verfügbarer Abwägungsmaßstäbe. 48 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 453. Zwar könne die Existenz eines milderen, den Bürger weniger belastenden Mittels nicht anders als bewertend festgestellt werden. Für diese Feststellung müsse aber auf die Bewertung der betroffenen Bürger als eine Tatsache abgestellt, nicht aber eine eigene Bewertung getroffen werden (S. 456).

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z. T. aufgeben will. Wegen der Unmöglichkeit, überzeugende Gewichtungs- und Vergleichskriterien zu finden, seien die Wertungs- und Abwägungsoperationen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e. S. methodisch und dogmatisch nicht zu bewältigen und letztlich nur dezisionistisch zu leisten.49 Nicht zu rechtfertigen sei allerdings, dass das überprüfende BVerfG seine subjektiven Urteile über die des überprüften Gesetzgebers setze. Dort, wo nur noch subjektive Urteile getroffen werden könnten, begännen im Gegenteil der Bereich und die Legitimität der Politik.50 Schlink erkennt, dass eine Gesellschaft ohne Abwägung von Individual- und Gemeinschaftsinteressen, ohne Setzung von Präferenzen, ohne Entscheidung für und gegen bestimmte Werte nicht auskomme. Diese Aufgabe sei aber dem politischen Prozess zu überlassen, wo solche Entscheidungen als Dezisionen auftreten, anerkannt und bekämpft werden, legitimiert und revidiert werden können.51 Anderes gelte aber für die Verwaltung und für die die Verwaltung überprüfende Rechtsprechung. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i. e. S. habe im Verwaltungsrecht einen anderen Platz als im Verfassungsrecht. Der Gesetzgeber könne u. U. seine Kompetenz zur Güterabwägung an die Verwaltung weitergeben. Damit gehe freilich auch die Ermächtigung an die Rechtsprechung einher, die jeweiligen Dezisionen – d. h. die Bewertungen und Abwägungen der Verwaltung – zu kontrollieren. Dies impliziere ferner, dass auch die höheren Gerichte ermächtigt seien, die Abwägungen der unteren Gerichte zu überprüfen. Auf diese Weise könne die Verhältnismäßigkeit i. e. S. als rechtlicher Maßstab für das Verhalten und für die Kontrolle von Verwaltung und Rechtsprechung dienen, und daher könne das BVerfG in der Kontrolle von Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen auch deren Bewertungen und Abwägungen überprüfen.52 Die im politischen Prozess getroffenen Entscheidungen seien hingegen „nur“ den Kriterien der Zweck- und Mittellegitimität, der Geeignetheit, der Notwendigkeit und dem Schutz einer den Wesensgehalt ausdrückenden Mindestposition zu unterwerfen, was ein wirkungsvolles Bindungs- und Kontrollinstrumentarium bilde. Blieben aber noch Fragen offen, die nach grundrechtlichen Antworten verlangen, kämen außerdem jenseits des Übermaßverbots auch die Gleichheitsprüfung, das Gebot, das Vertrauen der Bürger in die Rechts- und Gesetzeslage zu schützen, sowie das korrespondierende Verbot rückwirkender Gesetze in Betracht. Wo dieses Instrumenta49

Zum Ganzen Schlink, EuGRZ 1984, 457, 460 ff. Es gilt nochmals anzumerken, dass nach Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 455 f., zwischen Bewertungen und Prognosen zu unterscheiden ist. Prognosen seien Aussagen über die Wirklichkeit in der Zukunft und daher würden sie sich dort als wahr oder falsch erweisen. Bewertungen seien dagegen Entscheidungen, mit denen von zwei Größen die eine der anderen vorgezogen werde. Zur Unterscheidung zwischen der empirischen und der wertmäßigen Seite des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vgl. auch Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 44 f. 50 Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 67, Rn. 293; Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 462. 51 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 211; ders., EuGRZ 1984, 457, 462. 52 Zum Ganzen Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 460 ff.

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rium dennoch nicht greife, da verdiene das politische System, das über seine eigenen Verfahren verfüge, Dezisionen zur Entstehung und wieder in Wegfall zu bringen, zu kontrollieren und zu sanktionieren, freigesetzt zu werden.53 Die Formel, wonach der Staat in die Freiheit des Einzelnen nur dann eingreifen dürfe, wenn der Eingriff zur Erreichung eines legitimen Zweckes geeignet und notwendig sei und wenn dabei die Mindestposition des Einzelnen gewahrt sei, stelle allerdings keinen Obersatz dar, unter den subsumiert werden könnte. Sie konstituiere lediglich ein für verschiedene soziale Bereiche erst zu interpretierendes Modell. In den Auslegungen dieses Modells bildeten sich die verschiedenen Dogmatiken der einzelnen Grundrechte heraus. Die Grundrechte legten in diesem Sinne für ihre verschiedenen Lebensbereiche verschiedene Zweck- und Mittelverbote und -gebote fest. Diese formten zusammen mit den Geeignetheits- und Notwendigkeitskriterien den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterschiedlich aus. Die Dogmatiken der einzelnen Grundrechte entstünden somit zum einen durch die beschreibende und erklärende Aufarbeitung der empirischen Wirklichkeit der verschiedenen grundrechtlich geschützten Lebensbereiche, sodass die Prüfung der Geeignetheit und Notwendigkeit daran anknüpfen könne, und zum anderen durch die Ausdeutung der grundrechts- bzw. lebensbereichsspezifischen Zweck- und Mittelnormierungen. Dabei werde für die verschiedenen sozialen Bereiche deutlich, welche Zwecke dem Staat versagt seien, mit welchen Hypothesen die Wirklichkeit zu erfassen und Geeignetheit und Notwendigkeit zu prüfen seien und welche Mindestposition zu wahren sei. Die Fragen nach der Geeignetheit und Erforderlichkeit seien daher an die unterschiedlichen sozialen Bereiche der Grundrechte anzuknüpfen und bei verschiedenen Grundrechten verschieden zu beantworten.54 Dasselbe gelte für die Frage nach der Mindestposition, die außerdem ebenfalls strikt von einer Abwägung im Sinne eines vergleichenden Gewichtens von Freiheit und Gemeinschaftsgut zu unterscheiden sei. Während die Begriffe des Gewichtens und Abwägens Flexibilität assoziieren ließen, wirke die Vorstellung einer jedenfalls zu wahrenden Mindestposition starr: „Abwägung verlangt die Frage nach dem Vorrang eines Gemeinschaftsguts vor der Freiheit, in die um seinetwillen eingegriffen werden soll; eine jedenfalls zu wahrende Mindestposition ist davon unabhängig, eben auf jeden Fall vor Eingriffen zu schützen“.55 Die Durchsicht der 53 Schlink, EuGRZ 1984, 457, 462; ders., in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 459 f.; ders., Abwägung im Verfassungsrecht, S. 190; 192 ff. 54 Zum Ganzen Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 195, 199 ff.; ders., EuGRZ 1984, 457, 460 f. Wie der Autor beobachtet, sind diese verschiedenen Dogmatiken der einzelnen Grundrechte Bereichsdogmatiken in einem Sinn, der sich mit Müllers Konzeption des Normbereichs treffe, aber nicht decke. Er meint, dass bei Müllers Konzeption nicht recht klar werde, wie ein Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit als Normbereich auszuwählen ist, wie er in die Rechtsverwirklichung oder -findung einzubringen, worauf er zu befragen und wonach er zu strukturieren ist. Die selektive Funktion der unter dem Geeignetheits- und Notwendigkeitskriterium stattfindenden Folgendiskussion schaffe Klarheit (S. 461). 55 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 78.

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bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gebe einige Richtungen an, in denen die verschiedenen Antworten gesucht werden könnten – z. B. die Wahrung der Möglichkeit der Teilnahme an Prozessen freier Kommunikation bei der Meinungsfreiheit, die Sicherung der persönlichen und wirtschaftlichen Existenz für den Bereich des Berufs und der Schutz dessen, was durch persönliche Arbeit und Leistung erworben ist, für den Bereich von Eigentum und Vermögen. Die Frage nach der Mindestposition stelle sich aber nur selten; denn nur in Ausnahmelagen sei der Verhaltensspielraum des Staates so begrenzt, dass er seine Ziele nicht mehr anders als durch intensive Eingriffe erreichen könne.56 Im Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bildet Schlink ferner das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip zu einer Argumentationslastregel konsequent um. Die Grundrechte stellen demnach Argumentationslastregeln dar, d. h. „Regeln, die eine Argumentation anordnen, von deren Erfolg abhängt, was mit den Grundrechten vereinbar ist“. Damit ein Eingriff nicht an den Grundrechten scheitere, müsse die Argumentation gelingen, dass er zur Verfolgung eines legitimen Zwecks geeignet und erforderlich sei und dass er dabei die Mindestposition wahre.57 Die Argumentationslastregel solle daher auf die Verschiedenheit verschiedener Grundrechte eingehen und entsprechend zu einer differenzierten Grundrechtsdogmatik entwickelt werden. Ausgang der durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geleiteten Argumentation sei „entweder das Gelingen oder das Nichtgelingen der den Nachweis versuchenden Argumentation, und von Argumentationslastregel ist darum die Rede, weil das Nichtgelingen der Argumentation zu Lasten von jemandem, zu Lasten hier des Staates geht.“58 Dieser müsse für „das Zweck-Mittel-Verhältnis die richtige Reichweite finden, um der Argumentationslast genügen zu können“. Zweifel an der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen gingen somit zugunsten des Bürgers bzw. zulasten des Staates.59 Programmatisch gibt der Autor schließlich auch Hinweise auf die Leistungsfähigkeit der abwehrrechtlichen Dogmatik bezüglich der Probleme der vorbehaltlosen Grundrechte, der Drittwirkung und der Teilhabe-, Verfahrens- und Organisationsrechte.60 In diesem Sinne seien z. B. die Probleme der vorbehaltlosen Grundrechte ohne Stilisierung der Grundrechte zu Werten und ohne Destillierung von Werten aus sonstigen Grundgesetzbestimmungen lösbar, und zwar durch eine genauere Präzi56

Zum Ganzen Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 193 ff. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 195 f. 58 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 197. Dass dieses Modell nach einer binären Codierung operieren soll, wird an mehreren Stellen deutlich. So sei z. B. die Frage nach der Legitimität des Zwecks eine Frage eines Entweder/Oder, nicht eines Mehr/Weniger. Ein Zweck ist entweder legitim oder er ist es nicht; er ist erlaubt oder unerlaubt. Die Frage, ob der Zweck den Einsatz des Mittels wert ist oder nicht bzw. wie wertvoll das bezweckte Rechtsgut ist, hat in diesem Modell ausdrücklich keinen Platz. Ebd., S. 200, 218. 59 Zur Prognoseproblematik vgl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 208 f. s. auch ders., in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 458. 60 Vgl. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 464 ff. 57

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sierung ihrer spezifischen Gewährleistungen und der Reichweite des Schutzbereichs. Art. 4 Abs. 1 GG sichere beispielsweise Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nicht gegen jeden Eingriff, sondern gegen Verletzungen;61 Art. 4 Abs. 2 GG gewährleiste nicht die unbeschränkte, sondern die ungestörte Religionsausübung; Art. 5 Abs. 3 GG könne als Verbot staatlicher Kunst- und Wissenschaftsdefinitionen verstanden werden usw. Jedenfalls sei der Ausgangspunkt hierbei, dass es das Problem der vorbehaltlosen Grundrechte nicht gebe, sondern nur die verschiedenen und auch verschieden zu lösenden Probleme der verschiedenen vorbehaltlosen Grundrechte.62 Auch bei dem Drittwirkungsproblem versagten die Kategorien des Eingriffs, der Abwehr und der Schranke nicht. Sie könnten sowohl bei dem Ansatz, der den Grundrechtseingriff in der staatlichen Handlung sieht, als auch bei einem Modell, das vom Konflikt zwischen zwei Bürgern ausgeht,63 fruchtbar gemacht werden. Zur Erfassung des Drittwirkungsproblems entwickelt Schlink schließlich das für die Rechtsanwendungsprüfung zusätzliche Kriterium der Symmetrie, das insbesondere bei der Anwendung von Generalklauseln große Bedeutung erlangen kann. Symmetrie heiße, dass zwischen den Konfliktparteien Waffengleichheit als eine Gleichheit mit der Rechtsordnung vereinbarer Waffen vorhanden sei. Bei solchen symmetrischen Konflikten haben die Gerichte nur den Gebrauch von mit der Rechtsordnung unvereinbaren Waffen zu verbieten und im Übrigen die Konflikte zu niemandes Gunsten oder Lasten zu entscheiden (Selbstläufigkeit der Konfliktaustragung).64 Symmetrische Optimierung bedeute hingegen, dass beide Parteien auf eine Verfolgung ihrer mit der Rechtsordnung vereinbaren Zwecke zu verweisen seien, bei der die jeweils andere Konfliktpartei nicht mehr als erforderlich beeinträchtigt werde. Wenn eine Chancen- und Waffengleichheit nicht bestehe, dürfe somit die Rechtsprechung im Prinzip in die Freiheit des „Stärkeren“ eingreifen, um das Symmetrieverhältnis der Lage zu optimieren. Kurz gesagt: Nur der Gesetzgeber dürfe asymmetrische Situationen schaffen; die Richter hätten hingegen in symmetrische Konflikte nicht einzugreifen und in asymmetrischen Konflikten nur symmetrisch zu optimieren.65 61

s. dazu Böckenförde, VVDStRL 28/1970, S. 33, 63 ff. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 464 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 75, Rn. 332. 63 Dieser Lösungsweg sieht nämlich das Verhalten eines Bürgers als Freiheitsbeschränkung und das Gegenverhalten als Eingriffsabwehr. Auch hier lasse sich für die verschiedenen sozialen Bereiche nach dem Zweck fragen, über dessen Verfolgung ein Bürger mit einem anderen in Konflikt geraten ist, und nach Geeignetheit und Erforderlichkeit der zur Verfolgung des Zwecks eingesetzten Mittel und danach, ob in Austragung des Konflikts die Mindestposition des anderen gewahrt wurde. Die Frage nach der Argumentationslast sei allerdings anders zu beurteilen, und zwar unter den Gesichtspunkten der Symmetrie und der symmetrischen Optimierung. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 215. 64 „Der freiheitliche Staat überlässt das Verhältnis der Bürger zueinander weithin seiner sei es harmonischen, sei es konflikthaften Selbstläufigkeit.“ Schlink, EuGRZ 1984, 457, 464. 65 Zum Ganzen Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 215 ff., 188 ff. Dies folgt aus der Überlegung, dass die Grundrechte historisch-idealtypisch einen Zustand voraussetzen, in 62

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4. Die Reflexivität des Abwehrrechts in mehrpoligen Rechtsverhältnissen nach Ralf Poscher Eine Rehabilitation des Abwehrrechts als Grundlage der gesamten Grundrechtsdogmatik nimmt sich Ralf Poscher in seiner Habilitationsschrift „Grundrechte als Abwehrrechte“ ausdrücklich vor. Dabei wendet er sich v. a. gegen den vermehrten Einsatz unterschiedlicher Grundrechtsfunktionen – insbesondere der grundrechtlichen Schutzpflichten – zur Bewältigung mehrpoliger Rechtsverhältnisse66, sei es z. B. im privatrechtlichen Vertragsrecht oder bei der Genehmigung drittbeeinträchtigender privater Vorhaben. Entsprechend geht der Autor von einem Grundrechtsverständnis aus, das auf dem Abwehrrecht als der grundlegenden Grundrechtsfunktion ruht. Sein Modell versteht sich als abwehrrechtszentriert, nicht, weil es keine andere Grundrechtsfunktion anerkennt, sondern weil es die Frage nach dem Erfordernis weiterer allgemeiner Grundrechtsfunktionen subsidiär zu der Frage nach Grenzen des Abwehrrechts formuliert.67 Gleichsam wendet er sich nebenbei auch gegen das grundrechtliche Kollisionsdenken und die damit verbundene Abwägungsdogmatik: Die dogmatischen Strukturen des Abwehrrechts böten „nur dann einen Vorzug gegenüber anderen Grundrechtskonzeptionen, wenn sie nicht zuletzt durch ein Abwägungselement der Tendenz nach eingeebnet werden“.68 dem jeder Bürger die gleichen faktischen Chancen zur Verfolgung und Durchsetzung seiner Interessen hat. Die asymmetrische Gestaltung von Konflikten obliegt nämlich ausschließlich dem Gesetzgeber, den die Gesetzesvorbehalte zu Veränderungen der Konfliktsymmetrie berechtigen. Während also der Gesetzgeber Interessen unterschiedlich gewichten darf, hat der Richter zum interpersonellen Interessenvergleich keine Befugnis und muss nur „Chancengleichheit“ wahren. s. auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 45, Rn. 183. Beispielhaft für eine symmetrische Optimierung sei der Blinkfüer-Beschluss (BVerfGE 25, 256). Dabei zeigte sich das Gericht gegenüber der Gefahr für die soziale und demokratische Verfassungsordnung durch die wirtschaftliche Machtkonzentration besonders sensibel, und versuchte, die Lage symmetrisch zu optimieren: Die verschiedenen Meinungen müssen mit geistigen Waffen konkurrieren und die gleiche Chance geistigen Wirkens haben. Einen derartigen Anlass gab es hingegen im Falle des Lüth-Urteils nicht. 66 Die mehrpoligen Rechtsverhältnisse – auch Dreiecksverhältnisse genannt – werden den bipolaren Verhältnissen (d. h. Staat-Bürger-Verhältnis) gegenübergestellt und bezeichnen die Konstellationen, in denen „der Staat durch den regelnden Eingriff in die Rechte des einen Grundrechtsträgers dessen Verhältnis zu einem anderen Grundrechtsträger gestaltet“ (S. 153). Der Staat regelt somit einen Interessenkonflikt zwischen mindestens zwei Grundrechtsträgern und ist bei dieser Regelung an die Grundrechte gebunden. Da die mehrpoligen Rechtsverhältnisse die Grundrechtsdogmatik auf die Probe stellten und da hier der reflexive Charakter der Grundrechte besonders hervortrete, diene sie der Untersuchung als Referenzproblem. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 3 f., 103 f. 67 „Nur soweit das Abwehrrecht eine Antwort schuldig bleibt, stellt sich überhaupt die Frage nach weiteren allgemeinen Grundrechtsfunktionen.“ Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 97. Der Autor erkennt außerdem andere Funktionen jedenfalls dort an, wo der Verfassungstext sie ausdrücklich vorsieht (wie in Art. 1 Abs. 1 S. 2, Art. 6 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 5 GG). Ebd., S. 72, 96 f. 68 Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 99 f., auch 328 f. Das dogmatische Kapitel des Abwehrrechts werde verspielt, wenn dessen Erstreckung auf mehrpolige Rechts-

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Ansatz- und Schwerpunkte dieses Modells liegen auf der Staatlichkeit allen Rechts und der Staatsgerichtetheit der Freiheitsrechte,69 aus denen die Topoi der Totalität und der Reflexivität des Abwehrrechts entwickelt werden. Vor dem Hintergrund der umfassenden Staatlichkeit des Rechts gebe es kein Rechtsgebiet, das der Grundrechtsbindung entzogen sei. Alle Freiheitsbeschränkungen müssten sich vor den Abwehrrechten rechtfertigen. Daraus ergebe sich ihre Totalität: Jede staatliche Konfliktregelung, welche die grundrechtlichen Freiheiten verkürze, müsse sich vor den Grundrechten als Abwehrrechten rechtfertigen.70 Ob die zu rechtfertigende Regelung dabei dem Privat-, Straf- oder öffentlichen Recht zuzuordnen sei, habe keine grundrechtliche, sondern nur eine rechtstechnische Bedeutung.71 Die Totalität des Abwehrrechts schlage jedoch nicht in die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung um; denn ihr werde die Reflexivität gegenübergestellt. Mit der Reflexivität der Grundrechte ist zunächst nichts weiter gemeint, als dass die Abwehrrechte sich an den regelnden Staat richteten.72 Interessenkonflikte, die in der Gesellschaft aufträten, regelten die Abwehrrechte nicht unmittelbar selbst. Unmittelbar bänden sie vielmehr nur den Staat bei der Regelung von Konflikten, die grundrechtlich geschützte Positionen berühren. Grundrechtlich geregelt sei somit nicht das Verhältnis der Bürger zueinander, sondern die eingriffsrelevante Gestaltung dieses Verhältnisses durch die gesetzgebende, rechtsprechende und vollziehende Gewalt. Mit anderen Worten: Grundrechte als Abwehrrechte regelten das staatliche Verhalten bei der Regelung eines Konflikts bzw. stellten „nur“ Anforderungen an die staatlichen Regelungen von Konflikten. Sie seien Normen über Normen. Deshalb könne es auch keine Grundrechtskollisionen geben. Die Grundrechte der beteiligten Bürger richteten sich nämlich nicht gegeneinander, sondern gleichermaßen gegen den Staat und verliefen somit in ihrer Schutzrichtung kollisionsfrei nebeneinander

verhältnisse letztlich auf eine Abwägung kollidierender Grundrechtspositionen reduziert werde – wie z. B. Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, S. 107 ff., suggeriert. s. auch die Kritik an der Prinzipientheorie Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 75 ff. Eine abwägungsskeptische Haltung sei überhaupt eine Bedingung der Möglichkeit eines zur Prinziptheorie von Alexy alternativen dogmatischen Angebots (S. 100). 69 Ausgehend von ähnlichen Prämissen stellen auch andere Autoren auf einen Eingriff durch die Träger öffentlicher Gewalt ab. Vgl. etwa Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, S. 62 ff., 140 ff.; Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 37; Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 49, 55. 70 Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 3, 100. Auch Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 49 f.: „Alles Recht ist staatliches Recht, alle Verhältnisse zwischen Bürgern sind staatlich geregelte Verhältnisse, alles, was ein Bürger von anderen Bürger verlangen darf oder hinnehmen muss, darf er dank staatlicher Ermächtigung verlangen und muss es dank staatlicher Ermächtigung hinnehmen.“ 71 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 88 f., 150 f., 206 f., 220. s. dazu bereits oben F.II.2. 72 Vgl. hierzu und zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 2, 100 f., 206, 226.

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her.73 Bereits in der Reflexivität der Grundrechte sei ferner der Freiraum der einfachrechtlichen Regelung angelegt: „Die Regelung der Regelung eines sozialen Konflikts ist nicht dessen Regelung, für diese muss jene noch einen Freiraum lassen.“74 Werde die Totalität und die Reflexivität der Grundrechte berücksichtigt, dann werde deutlich, dass Dreiecksverhältnisse über die Figur des normativen Grundrechtseingriffs (und nicht der faktischen privaten Beeinträchtigung) abwehrrechtlich zu erfassen seien.75 Die mehrpoligen Rechtsverhältnisse zeichneten sich gerade dadurch aus, dass Grundrechtsträger nicht mit einem faktischen Verhalten des Staates, sondern dem eines anderen Grundrechtsträgers konfrontiert würden oder gerade dieses im Streit stehe.76 Den Konflikt zwischen zwei gegenläufigen Freiheitsinteressen regle der Staat durch den normativen Grundrechtseingriff, der nach Art. 1 Abs. 3 GG den abwehrrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen unterliege. Dogmatisch bedeute somit die Staatsgerichtetheit der Grundrechte, dass für die grundrechtliche Beurteilung stets jeweils auf den Staat, dessen Handlungen, Zwecke und Handlungsalternativen abzustellen sei – und nicht auf etwa einen zugerechneten privaten „Eingriff“.77 Dies gelte auch für Duldungspflichten, die auf unterschiedlichen Ebenen der Konfliktregelung unterschiedliche Zwecke verfolgen, um einen sozialen Konflikt zu verrechtlichen.78 Maßgeblich für die Beurteilung der Dul73 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 198 ff., 318. Beim mechanistischen Ansatz der Grundrechtskollision werde nämlich von der Kollision der Interessen der Bürger auf eine Kollision ihrer Grundrechte geschlossen, von einer faktischen Kollision auf eine rechtliche, aus der sich zugleich die Lösung des Interessenskonflikts ergeben solle. Das Modell der Grundrechtskollision könne darüber hinaus den Raum für einfach-rechtliche Gestaltung nicht mehr rekonstruieren. 74 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 100. 75 Durch den Erlass abstrakt-genereller oder individuell-konkreter Normen schränkten die drei Gewalten grundrechtliche Freiheiten noch nicht faktisch ein. Sie setzen ihnen nur normative Grenzen. Zur Unterscheidung zwischen faktischen und normativen Eingriffen s. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 164 ff. (m. w. N.). 76 Abgesehen von faktischen Zwangsvollstreckungshandlungen staatlicher Organe hätten in der Tat staatliche Grundrechtseingriffe in Dreiecksverhältnissen immer normativen Charakter. Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 166. 77 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 173 f. 78 Somit führe die abwehrrechtliche Erfassung bzw. die Eingriffsrelevanz von Duldungspflichten nicht zu einer Zurechnung des Verhaltens des durch die Duldungspflicht Begünstigten zum Staat – wie die Theorie von Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, S. 149, 16 f., 100, nahelegt und etwa von Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417 ff., und Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 166 ff., kritisiert wird. Da es sich bei der Duldungspflicht um ein begriffliches Bündel von Unterlassungspflichten (meist allgemeiner Gewalt- und Nötigungsverbote) handle, müssten Eingriffsüberlegungen bei den in den Duldungspflichten gebündelten einzelnen Verhaltenspflichten ansetzen. Sie bedeuteten zumindest eine normative Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit. Das Bündel von allgemeinen Verhaltenspflichten führe aber oft auch dazu, dass eine Grundrechtsposition beeinträchtigt werde, die im Schnittpunkt all dieser Pflichten liege. Vgl. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 169 ff. Exemplarisch in diesem Sinne BVerfGE 90, 27 (33) (Parabolantenne I), in der eine Pflicht des Eigentümers, die Installation einer Satellitenempfangsanlage an der Außenwand der

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dungspflichten seien also ebenfalls nicht die faktischen Handlungen des Begünstigten, sondern das regelnde Verhalten des Staates und die mit ihm verfolgten Regelungszwecke. Der Staat sei nach Poscher darüber hinaus aufgrund seines rechtsstaatlichen Gewaltmonopols dazu verpflichtet, die Interessenkonflikte der Grundrechtsträger untereinander umfassend zu regeln.79 Der Normalfall der staatlichen Regelung eines Konflikts zwischen zwei Bürgern setze in diesem Sinne drei Normierungen voraus: eine, mit der der Staat den Interessenkonflikt normativ entscheide (N1), eine, die die private Rechtsdurchsetzung aus Gründen des Gewaltmonopols ausschließe (N2), und eine, die kompensatorisch die staatliche Durchsetzung der Konfliktentscheidung gewährleiste (N3).80 In der abwehrrechtlichen Dreieckskonstellation liege der an den Grundrechten zu messende Eingriff in der Norm N1. Sei dieser ungerechtfertigt und daher nichtig, könne der Konflikt aber von der Rechtsordnung nicht offengelassen werden. Aus dem staatlichen Gewaltmonopol folge vielmehr die Notwendigkeit zu einer Neuregelung des Konflikts, die ihrerseits nicht gegen die negativen materiellen Vorgaben des Abwehrrechts verstoßen dürfe. Abwehrrecht und Gewaltmonopol spielten daher ineinander: Wenn eine Regelung aufgrund der Geltungsfunktion der Grundrechte nichtig sei, verlange das Gewaltmonopol eine Neuregelung; zugleich aber enthielten die Grundrechte negative Vorgaben für den Inhalt der durch Gewaltmonopol geforderten Regelung.81 Wie sich das Recht auch immer entscheide, sei es zugunsten des einen oder des anderen Grundrechtsträgers, müsse seine Gestaltung des Konflikts auf allen Ebenen den grundrechtlichen Anforderungen genügen. Jede rechtliche Regelung individueller Interessenskonflikte werde in diesem Sinne durch eine Vielfalt komplementärer Eingriffe in die Grundrechte der Betroffenen geordnet, die jeweils die abwehrrechtliche Rechtfertigungsbedürftigkeit auslösen.82 Mietwohnung zu dulden, diskutiert wurde. Der Duldungspflichtige will sich in der Tat regelmäßig nicht dagegen wehren, dass er nicht rauben, zerstören, morden usw. darf. Den Eigentümer oder auch z. B. den von einer Videoüberwachung Betroffenen stört nicht das generelle Verbot der Sachbeschädigung, sondern die konkrete Beeinträchtigung des Eigentums bzw. die konkrete Überwachungsmaßnahme – und dies gilt gleich für private Beeinträchtigung wie für staatlichen Eingriff. Die Schwierigkeit im Privatrecht ist somit nicht anders als bei den Duldungspflichten im öffentlichen Recht. 79 Unter den Bedingungen des staatlichen Gewaltmonopols könne der Staat die Bürger bezüglich einzelner Konflikte nicht auf einen „status naturalis“ verweisen. Er könne die Konfliktlösung nicht der Gewalt des Stärkeren überlassen und sie an die Bürger zurückweisen. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 184. 80 Hierzu und zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 187 ff. 81 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 192. 82 Aus der unmittelbaren Grundrechtsbindung jeder einzelnen Staatsgewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) folge, dass die Abwehrrechte auf jeder Ebene der Eingriffskonkretisierung jeweils eine eigenständige Wirkung entfalten. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 161 f. Der Gesetzgeber sei verpflichtet, den Erlass von Gesetzen zu unterlassen, die ungerechtfertigt in Grundrechte eingreifen. Ob die Gesetze der grundrechtlichen Rechtfertigung unterliegen, entscheide sich nicht nach deren Zuordnung zu einem bestimmten Rechtsgebiet, sondern allein danach, ob mit ihnen ein Grundrechtseingriff verbunden sei. Bei Maßnahmen der Exekutive und

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Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die Staatsgerichtetheit der Grundrechte in der Dogmatik des reflexiven Abwehrrechtsverständnisses stets im Blickfeld der Grundrechtsprüfung bleibt. Sowohl für die Freiheitsrechte als auch für die Gleichheitsrechte sei folglich daran festzuhalten, dass sich die grundrechtlichen Anforderungen nur an den Staat und dessen Organe bei der Regelung der Konflikte zwischen den Grundrechtsträgern richteten. Davon zu unterscheiden seien Interessen und Verhalten der an dem Konflikt beteiligten Grundrechtsträger.83 Für die Freiheitsrechte bedeute dies insbesondere, dass nur die normative Freiheitsbeschränkung durch den Staat kontrolliert werde und dass somit der Bezugspunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung in der staatlichen Regelung des Konflikts und deren Regelungszweck zu suchen sei.84 Da allerdings die rechtliche Regelung eines Interessenskonflikts mit einer Reihe von Grundrechtseingriffen verbunden sei, beziehe sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf die jeweils einzeln zu rechtfertigenden Eingriffe. Dadurch verändere er aber nicht seine Struktur, sondern werde so angewendet, wie er auf jeden Eingriff Anwendung finde. Ebenfalls sei für Art. 19 Abs. 2 GG danach zu fragen, ob der mit der Regelung des Konflikts verbundene normative staatliche Eingriff den absoluten Wesensgehalt eines Grundrechts antaste.85 Nichts anderes gelte schließlich für die Gleichheitsrechte, die nicht das Verhalten der Entscheidungen der Judikative kämen die Grundrechtsbindung von Gesetzgeber und Rechtsanwendungsorganen kumulativ zur Geltung. Vollziehende Gewalt und Rechtsprechung seien damit unmittelbar, d. h. nicht nur durch die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers vermittelt, an die Grundrechte gebunden. Eingehend zur selbständigen Grundrechtsbindung der einzelnen Gewalten vgl. ebd., S. 203 ff., 210 ff., 215 ff. 83 Abzustellen sei z. B. für die grundrechtliche Beurteilung der Generalklauseln des Vertragsrechts nicht auf die Zielvorstellungen der Parteien, sondern auf den allgemeinen staatlichen Zweck – etwa Gewährleistung von Privatautonomie in Bezug auf den Einzelnen und Ermöglichung weitgehender Selbststeuerung in Bezug auf die Gesellschaft. Vgl. dazu und zur Grundrechtsbindung der Vertragsrechtsprechung Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 346 – 352. Aus dem Sozialstaatsgebot folge allerdings darüber hinaus auch eine weitere Zweckvorgabe für das geltende Vertragsrecht als Ganzes: Es sei nämlich auch daran zu messen, ob es strukturell geeignet sei, eine mit dem Sozialstaatsgebot vereinbare Selbststeuerung der Gesellschaft zu verwirklichen (S. 360 ff.). Zur strukturellen Unterlegenheit der Handelsvertreter gegenüber den Unternehmen BVerfGE 81, 242 (256 f., 260) (Handelsvertreter). Ausgehend vom Aspekt der strukturellen Defizite des Vertragsrechts lasse sich ebenfalls die BVerfGE 89, 214(232 ff.) (Bürgschaftsverträge) abwehrrechtlich erfassen. 84 Vgl. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 325 ff. Da der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz relational strukturiert sei, könnten Verhältnismäßigkeitsüberlegungen in Dreieckskonstellationen unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob sie auf das beeinträchtigende faktische Verhalten eines Grundrechtsträgers oder auf die staatliche Regelung des Konflikts abstellen. Weil die Zwecksetzung für Grundrechtsträger verfassungsrechtlich beliebig sei, hätten allerdings verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitserwägungen zu privaten Beeinträchtigungen streng genommen keinen Sinn. Der Grundsatz enthalte nämlich bei Beliebigkeit privater Zwecksetzung keine verfassungsrechtliche Steuerungsfunktion. Zudem könne die Regelung des Interessenkonflikts einen Zweck verfolgen, der sich mit keinen der von den Konfliktparteien verfolgten Interessen decke. Vgl. dazu auch Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 159 f. 85 s. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 335.

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Bürger, sondern die Regelung dieses Verhaltens durch den Staat regelten und dabei nur den Staat zur Gleichbehandlung verpflichteten. Die Reflexivität der staatsgerichteten Gleichheitsrechte besage dann insbesondere, dass diskriminierungsfreie Einräumung von Diskriminierungsmöglichkeiten für nicht gleichheitsgebundene Grundrechtsträger grundsätzlich keinen Gleichheitsverstoß bedeute.86 Die Grundrechte liefern nach diesem Ansatz keine konkrete Lösung gesellschaftlicher Konflikte, sondern dienen nur der Kontrolle gesetzgeberischer und fachgerichtlicher Konfliktregelung.87 Durch sie werden die Gestaltungsmöglichkeiten nur negativ begrenzt, indem etwa unverhältnismäßige, gleichheitswidrige oder gegen die Gesetzesvorbehalte verstoßende Regelungen ausgeschlossen werden. Jenseits der abwehrrechtlich verbotenen Eingriffe sei der Gesetzgeber frei, den Konflikt rechtlich zu gestalten. Er könne sich für jede rechtliche Regelung entscheiden, die die Vorgaben der Abwehrrechte respektieren. Insbesondere, was den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angehe, seien nur wenige Zweck- und Mittelverbote im GG ausdrücklich genannt oder würden dogmatisch entwickelt. Jenseits dieser Vorgabe sei der Gesetzgeber in den Grenzen der Pareto-Optimalität vor dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz frei, einen Dreieckskonflikt zugunsten des einen oder anderen Bürgers zu entscheiden.88 Er müsse keine verfassungsrechtlich prädestinierte Abwägung zwischen den Interessen des einen und des anderen Bürgers vornehmen. Die Zuordnung und Abgrenzung gesellschaftlicher Freiheiten sei und bleibe politisch zu entscheiden und zu verantworten. „Indem die abwehrrechtliche Dogmatik von der Vorstellung befreit, Konflikte zwischen Grundrechtsträgern fänden ihre Lösung in der Abwägung unterschiedlicher Grundrechtspositionen, befreit sie sowohl die politische als auch die einfach-rechtliche Argumentation von einem umfassenden verfassungsrechtlichen Zugriff.“89 Poscher gelingt es, die bisherigen Lösungsversuche, mehrpolige Rechtsverhältnisse abwehrrechtlich zu erschließen, zu einem konsistenten Konzept fortzuentwickeln, ohne dass damit forensisch relevante grundrechtliche Probleme ausgespart werden müssten.90 Zugleich ermöglicht sein Ansatz, die Freiräume des einfachen 86

Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 338 ff., 419. Das einfache Recht könne aber freilich unmittelbar an die Grundrechtsträger gerichtete Diskriminierungsverbote statuieren – wie es z. B. das AGG macht. 87 Hierzu und zum folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 398, 408. 88 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 328 ff. Der Konflikt zwischen etwa Mietern und Vermietern, Käufern und Verkäufern, Rauchern und Nichtrauchern, Autofahrern und Autogegnern werde nicht dadurch gelöst, dass die betroffenen Interessen im Rahmen einer Güterabwägung in einen Ausgleich gebracht würden. 89 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 408. 90 Im Wege einer umfangreichen Analyse der Rechtsprechung betreffend nicht nur das Privatrecht, sondern auch drittbelastende Genehmigungsverfahren, strafrechtliche Dreieckskonstellationen und die staatliche Beeinflussung von Konkurrenzverhältnissen weist Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 227 ff., nach, dass über ein abwehrrechtliches Verständnis der Grundrechte auch solche Konstellationen zufriedenstellend gelöst werden können, für die z. T. andere Funktionen entwickelt wurden. Die große Mehrheit der Drittwirkungsentschei-

II. Rechtssicherheit und Richtigkeit

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Rechts gegenüber den Grundrechten und der Verfassungsgerichtsbarkeit dogmatisch wieder beschreibbar zu machen. Durch die Rückbesinnung auf das Abwehrrecht und die Betonung seiner Reflexivität würden die zunehmende Konstitutionalisierung der Rechtsordnung und die Gefahr eines Verfassungsjurisdiktionsstaates dogmatisch eingedämmt.

II. Rechtssicherheit und Richtigkeit: Zur Rehabilitierung der prinzipienorientierten Rechtsinterpretation Der Blick auf Dworkins liberale politische Philosophie und sein Konzept der Integrität des Rechts sowie auf Günthers Unterscheidung zwischen Begründungsund Anwendungsdiskurs lässt darauf schließen, dass es auch bei Annahme einer prinzipienorientierten Interpretation möglich ist, eine fundierte Antwort auf die Frage der Unbestimmtheit des Rechts innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft zu geben – und zwar ohne die gültigen Rechtsnormen zu entstellen. Angesichts der bewussten strukturellen Unbestimmtheit des Rechts betonen diese Autoren einen Zuwachs an Forderungen hinsichtlich der Stellung des Richters im demokratischen Rechtsstaat. Jede gerichtliche Entscheidung muss auf konstruktive Weise die Prinzipien des geltenden Rechts neu herausarbeiten, um so dem Glauben sowohl an die Rechtmäßigkeit (Rechtssicherheit) als auch an die gefühlsmäßige Verwirklichung der Gerechtigkeit, die sich von der Angemessenheit der Entscheidung hinsichtlich der Besonderheiten des konkreten Falles ableiten lässt, eine Richtung zu geben und zu stärken. Dabei liefern diese Autoren ferner einen breiten institutionellen Rahmen für die Unterscheidung zwischen Recht und Politik.

dungen operiert in diesem Sinne bereits mit abwehrrechtlichen Kategorien (s. o. C.I.2.). Zur abwehrrechtlichen Rekonstruktion der Rechtsprechung zu drittbelastenden Genehmigungsverfahren sowie allgemein zu Grundrechtsschutz durch Verfahren im Einzelnen vgl. ebd., S. 389 ff. Die Pflicht, Gefährdungen durch Dritte zu dulden, lasse sich nämlich – wie staatliche Gefährdungen – als eingriffsgleich behandeln. Bezögen sich die Gefährdungen auf irreversible Grundrechtsbeeinträchtigungen, müsse eine solche Duldungspflicht gerechtfertigt werden; denn im Fall der Gefahrrealisierung käme auch hier jeder Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) zu spät. Zur staatlichen Gefährdung s. BVerfGE 51, 324 (346 ff.) (Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten). Ebenfalls unproblematisch sei die abwehrrechtliche Beachtlichkeit von Verfahrensverstößen. Sie ergebe sich nämlich schon aus dem Gesetzesvorbehalt. Seien die materiellen und formellen Bedingungen der Eingriffsermächtigungen nicht erfüllt, so sei der auf sie gestützte Grundrechtseingriff rechtswidrig und damit als Grundrechtsverletzung zu qualifizieren. Im Bereich eingriffsrelevanter Grundrechtsgefährdungen könne darüber hinaus ein Verfahren, das die Ausschöpfung aller verfügbaren Informationen durch Anhörungs- und Beteiligungsrechte gewährleistet und damit Schadensprognose absichert, das Maß der Gefährdung und damit die Intensität des Eingriffs beeinflussen – und so zu einem milderen Mittel im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes führen.

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

1. Die Integrität als Prinzipienkohärenz und die konstruktive Interpretation von Ronald Dworkin Grundlage Dworkins liberaler politischer Philosophie ist das Grundrecht auf gleiche Rücksicht und Achtung (equal concern and respect). Der Staat „darf nicht die Freiheit aufgrund dessen beschränken, dass die Konzeption vom guten Leben, die ein Bürger einer bestimmten Gruppe hat, vortrefflicher oder hochwertiger ist als eine andere“.91 Damit setzt er sich für eine fundamentale Idee des Liberalismus ein: die Neutralität des Staates gegenüber konkreten Theorien des guten Lebens.92 Der Staat solle auf eine Bewertung der Konzeptionen des Gutes grundsätzlich verzichten und sich darauf beschränken, eine Ordnung für die freie und gleichberechtigte Koexistenz unterschiedlicher Lebensformen zu gewährleisten. Dworkin sieht den Liberalismus durch einen wechselseitigen Verweisungszusammenhang von Freiheit und Gleichheit gekennzeichnet und erblickt weiter den Grund für Rechte auf Grundfreiheiten im Begriff der Gleichheit, genauer: in einer „liberalen Konzeption der Gleichheit“.93 Darüber hinaus lehnt der Autor die Annahme ab, dass der Einzelne ein allgemeines, allumfassendes Recht auf Freiheit habe. Die Individuen hätten kein Recht auf Freiheit als solche, sondern nur Rechte auf bestimmte spezielle Freiheiten – wie das Recht auf persönliche moralische Entscheidungen oder das Recht auf die Freiheiten, die in der Bill of Rights beschrieben sind. Diese konventionellen Rechte gingen nicht auf ein abstrakteres allgemeines Recht auf Freiheit zurück, sondern auf das Recht auf Gleichheit selbst.94 Das Grundprinzip der gleichen Rücksicht und 91 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 439. Ders., in: Konstruktionen praktischer Vernunft, S. 153, 166 ff., hebt ferner nachdrücklich hervor, dass gleiche Achtung und Rücksicht nicht von uns als Individuen, sondern allein vom Staat verlangt werden. „Es wäre eine äußerst illiberale Gesellschaft, die das von ihren Bürgern im Privatleben einforderte“ (S. 167). Er beobachtet weiter, dass die Herausarbeitung dieses Unterschieds eine wesentliche Herausforderung für eine liberale Gesellschaft sei (S. 182). 92 s. Dworkin, A Matter of Principle, S. 191 ff. Die den Liberalismus konstituierende Moral ist für ihm „a theory of equality that requires official neutrality amongst theories of what is valuable in life“ (S. 203). „The (…) theory of equality supposes that political decisions must be, so far as is possible, independent of any particular conception of the good life, or of what gives value to life. Since the citizens of a society differ in their conceptions, the government does not treat them as equals if it prefers one conception to another, either because the officials believe that one is intrinsically superior, or because one is held by the more numerous or more powerful group“ (S. 191). Eingehend zum Neutralitätsgebot Huster, Die ethische Neutralität des Staates. 93 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 439. Er akzeptiert einen vermeintlichen Konflikt oder Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit nicht und vertritt einen auf Gleichheit aufgebauten Liberalismus. Insoweit wird seine Theorie dem egalitären Liberalismus zugeordnet und vom libertären Liberalismus abgegrenzt. 94 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 17, 431 ff. Aus dem Recht auf gleiche Rücksicht und Achtung ergebe sich nicht nur das relative Recht auf Gleichbehandlung bei der Verteilung von Gütern und Chancen, sondern auch das grundlegendere Recht als Gleicher behandelt zu werden, d. h. das Recht, in der politischen Entscheidung darüber, wie die Güter und Chancen zu verteilen sind, auf gleiche Weise berücksichtigt und geachtet zu werden (S. 440). Darüber hinaus schlägt Dworkin vor, dass individuelle Rechte auf bestimmte Freiheiten dann anerkannt werden müssten, wenn sich zeigen lasse, dass das Grundrecht auf eine

II. Rechtssicherheit und Richtigkeit

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Achtung bildet ebenfalls einen Schwerpunkt seiner interpretativen Theorie des Rechts. Dworkin unternimmt den Versuch, die Integrität als ein bestehendes – wenn auch kontrafaktisch – politisches Ideal zu begreifen, dem gefolgt werden soll.95 Das Prinzip der Integrität erfordere die Behandlung des Normenkomplexes als ein kohärentes Prinzipiensystem, welches die gleiche Rücksicht und Achtung eines jeden Einzelnen bei allen Gerichtsentscheidungen verlange. Nach diesem Vorschlag bringe die Unbestimmtheit der Rechtsnormen die Notwendigkeit mit sich, auf Prinzipienargumente zurückzugreifen, die in der positiven Rechtsordnung explizit oder implizit sein könnten. Die juristischen Behauptungen müssten weiter aus denjenigen Prinzipien der Integrität, Fairness, Gerechtigkeit und des prozedural fairen Verfahrens (procedural due process) hervorgehen oder von ihnen abzuleiten sein, welche die beste konstruktive Interpretation der gemeinschaftlichen Rechtspraxis anböten.96 Darüber hinaus widersetzt sich der Autor der Trennung zwischen Moral und Recht (wie sie vom Positivismus auf unabänderliche Weise vorgenommen wurde). Nach ihm bestehe vielmehr eine gegenseitige Überlappung von Recht und Moral.97 Eine Behandlung als Gleicher diese Freiheitsrechte erfordere. Zu einem Gerüst des Arguments, das man vorbringen müsste, um bestimmte Freiheiten (wie die der freien Meinungsäußerung und der freien Wahl sexueller Beziehungen) auf dieser Grundlage zu verteidigen, vgl. ebd., S. 441 ff. 95 Die Integrität beschreibt das Ideal, Entscheidungen über Rechtsnormen in Übereinstimmung mit einer vollständig kohärenten politischen Theorie zu treffen. Dworkin versteht die Integrität als ein Prinzip, das sich an die Politik anpasse und ihr zur Ehre gereiche, selbst wenn die Rechtsstruktur in vielen Fällen die Integrität verletze (da es unmöglich sei, alle Normen in einem einzigen kohärenten System zu vereinigen). Indem die Integrität die Prinzipieninkohärenz im staatlichen Handeln verurteile, wäre sie in einem utopischen Staat nicht notwendig. In der politischen Praxis jedoch sei der Konflikt zwischen Zielsetzungen geläufig, und die Autoritäten handelten nicht immer in Übereinstimmung mit den Prinzipien, sodass die Integrität erlaube, diese Tatsache als Fehler zu werten. Dworkin, Law’s Empire, S. 176 ff., 184 ff., 217. Die politische Gemeinschaft stehe somit unter dem Anspruch, jede einzelne ihrer Entscheidungen im Lichte der von ihr akzeptierten Prinzipien kohärent rechtfertigen zu können und nicht in gleichen Fällen nach verschiedenen Prinzipien zu handeln. Ebd., S. 167 ff. 96 Dworkin, Law’s Empire, S. 164 ff., 177, 217, 225. Die Fairness sei verknüpft mit der Suche nach politischen Vorgehensweisen (Methoden zur Wahl von Vertretern und zur Vermittlung ihrer Entscheidungen gegenüber der Wählerschaft), welche die politische Macht in angemessener Weise verteilen. Die Gerechtigkeit beziehe sich auf das Erfordernis der Verteilung materieller Ressourcen bzw. Möglichkeiten und auf den Schutz bürgerlicher Freiheiten mit der Garantie eines moralisch zu rechtfertigenden Resultats. Das prozedural faire Verfahren stehe in Zusammenhang mit den korrekten Vorgehensweisen zur Beurteilung, ob ein Bürger die über politische Verfahren aufgestellten Gesetze übertreten hat. Die Integrität tritt als Tugend des kohärenten Umgangs mit diesen Prinzipien auf: „Law as integrity asks judges to assume, so far as this is possible, that the law is structured by a coherent set of principles about justice and fairness and procedural due process, and it asks them to enforce these in the fresh cases that come before them, so that each person’s situation is fair and just according to the same standards“ (S. 243). 97 Er argumentiert, dass auch in der Arbeitspraxis der Gerichte diese Unterscheidung nur in unbefriedigendem Maß feststellbar sei. Das Recht besitze einen moralischen Inhalt, der sich

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

Rechtsordnung, die, so wie es der Positivismus vorschlage, nur aus Regeln bestehe, ermögliche dem Recht nicht, seine Rolle der gesellschaftlichen Integration zu erfüllen, denn es zöge sich auf einen einseitigen und unzureichenden Standpunkt zurück. Das Recht ist für Dworkin nicht nur ein Komplex aus Rechten und Pflichten, die aus in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen hervorgegangen sind und Zwang zulassen bzw. fordern (Regeln), sondern auch ein System aus Prinzipien, die jene Entscheidungen rechtfertigen.98 Die offenen und dynamischen Prinzipien seien unverhandelbare Rechtsnormen mit moralischen Inhalten, welche die juristischen Regeln begründen und rechtfertigen, wobei die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien erst in der Analyse des konkreten Falles wirksam werde. Beide Arten von Maßstäben unterschieden sich nämlich in der Art der Leitung, die sie geben.99 Regeln seien in der Form des „Alles-oder-Nichts“ anwendbar: Wenn die Tatsachen, die eine Regel als Bedingungen festsetze, gegeben seien, und die Regel gültig sei, müsse in diesem Fall die Antwort, die sie liefere, akzeptiert werden. Die Prinzipien legten demgegenüber keine rechtlichen Konsequenzen zwingend fest, die automatisch eintreten, wenn die festgesetzten Bedingungen erfüllt seien. Ein Rechtsprinzip gebe vielmehr einen Grund an, der ein Argument in eine bestimmte Richtung sei, der aber nicht eine bestimmte Entscheidung notwendig mache. Darüber hinaus lasse sich ein Konflikt zwischen Regeln nur dadurch lösen, dass entweder eine Ausnahmeklausel eingeführt oder eine der Regeln für ungültig erklärt werde. Wenn sie unvereinbar seien, gebe es keine Möglichkeit, dass eine mit der anderen fortbestehe. Prinzipien hingegen hätten eine Dimension des Gewichts oder der Bedeutung und könnten in der Rechtsordnung fortbestehen, auch wenn sie untereinander in Konkurrenz um den Regulierungsanspruch in einer bestimmten Situation stünden. Diese Differenzierung scheint ähnlich wie die von Alexy zu sein;100 doch Prinzipien beziehen sich hier nicht auf eine Normstruktur, werden nicht zu Optimierungsgeboten und verlieren auch nicht ihren deontologischen Geltungssinn. Vielmehr bezögen sich Prinzipienargumente ausschließlich auf individuelle Rechte, die außerdem, wie im Folgenden dargelegt wird, von gesellschaftlichen Zielen, d. h. nichtindividualisierten politischen Zwecken, strikt zu unterscheiden anlässlich jeder Entscheidung äußere. Diese Moral dringe in das Recht über den Weg der demokratischen Gesetzgebungsverfahren und der Fairnessbedingungen der Kompromissbildung ein. Dies bedeute, dass die Moral sowohl in der politischen Willensbildung des Gesetzgebers wie auch in der politischen Kommunikation der Öffentlichkeit vorhanden sei. s. etwa Dworkin, Law’s Empire, S. 256. 98 Vgl. Dworkin, Law’s Empire, S. 227, 96 ff., 188 f. s. auch zur Idealunterscheidung zwischen Regelgemeinschaft und Prinzipiengemeinschaft ebd., S. 210 ff. 99 Hierzu und zum Folgenden Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 58 ff., 61 ff. 100 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79, selbst weist auf Dworkins Einfluss hin. Demgegenüber hat bereits Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 651, Fn. 64, beobachtet, dass die Identifikation von verfassungsrechtlichen Prinzipien mit Zielsetzungen bzw. Optimierungsgeboten auf einem Unglück in der Rezeptionsgeschichte dieser Begriffe beruhe.

II. Rechtssicherheit und Richtigkeit

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seien. Die Grundrechte werden in Dworkins Theorie nicht zu objektiven Prinzipien, sondern bleiben subjektive Rechte im strikten Sinn. Sie stellten allerdings einerseits deswegen Prinzipien dar, weil sie eine besondere Art von Beschränkung für die Gesetzgebung seien und ihr Gehalt „ungesättigt“101 bleibe. Aus der Tatsache, dass sie einschlägig seien, folge andererseits aber nicht, dass sie das Ergebnis unbedingt positiv determinieren bzw. dass sie die Fallentscheidung positiv bestimmen. Ein Prinzip könne im Kollisionsfall hinter einem anderen „zurücktreten“, ohne dadurch seine Gültigkeit zu verlieren. Prinzipien blieben also unversehrt bestehen, auch wenn sie in einem bestimmten Anwendungsfall nicht den Ausschlag gäben.102 Es sei vor der Rekonstruktion des Falles und des strittigen Rechts an sich die Anwendung eines Prinzips auszuwählen, sodass es in keiner Weise entstellt werde oder seine Existenz zur Debatte stehe, nur weil es unter bestimmten Umständen übergangen wurde. Anders als für Alexy kann aber ein Prinzip für Dworkin nicht teilweise und unter Vervollständigung mittels eines anderen Prinzips angewendet werden. Immer wird ein Prinzip zum Nachteil eines anderen zwecks Lösung des Falles ausgewählt. Das heißt, sie können auf harmonische Weise in einer Rechtsordnung nebeneinander bestehen, auch wenn sie in bestimmten Situationen in Kollision miteinander treten, aber sie haben ebenso wenig wie Regeln eine teleologische Struktur. Das feine Gespür des Richters für die Besonderheiten des ihm vorliegenden konkreten Falles sei fundamental für die Findung (und nicht Erfindung) einer der spezifischen Situation angemessenen Norm. Dworkin leugnet nicht den kreativen Charakter, den Rechtsentscheide haben können, aber er stellt eine fundamentale Unterscheidung zwischen der Gesetzgebung und der Rechtsprechung auf.103 In Bezug auf die Rechtsprechung erfordere die Integrität, dass die Richter frühere Entscheidungen (Gesetzgebung und die Präjudize) im größtmöglichen Maß als ein kohärentes System ansehen und dass sie mit diesem Ziel die Normen so interpretieren, dass implizite Prinzipien zwischen und innerhalb der expliziten Normen herausgestellt werden.104 Der Gesetzgeber solle ebenfalls der Gesamtheit der Gesetze zu Kohärenz verhelfen und müsse dem Gebot der nicht willkürlichen Behandlung folgen, er könne aber Regeln schaffen, die der Zukunft neue Rechte und Pflichten auferlegen, wobei er sich auch auf politische Argumente 101 s. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 159, 258 ff., 266 ff. Die dem Rechtskode selbst eingeschriebenen Grundrechte bleiben sozusagen „ungesättigt“. Sie müssten zum einen von einem politischen Gesetzgeber je nach Umständen interpretiert und ausgestaltet werden. Die prima facie gültigen Normen blieben außerdem „ungesättigt“ hinsichtlich des zukünftigen Interpretationsbedarfs, der aus den besonderen Konstellationen nicht vorhersehbarer Anwendungssituationen entsteht. 102 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 75. 103 Vgl. zum Folgenden Dworkin, Law’s Empire, S. 176 ff., 217 f., 221 ff., 243 f.; ders., Bürgerrechte ernstgenommen, S. 146 ff., 158 ff. 104 Das Prinzip der Integrität „requires our judges, so far as this is possible, to treat our present system of public standards as expressing and respecting a coherent set of principles, and, to that end, to interpret these standards to find implicit standards beneath the explicit ones.“ Dworkin, Law’s Empire, S. 217.

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

bzw. Zielsetzungsargumente (policies) stützen könne, um aufzuzeigen, wie die neue Norm zum Wohl der Gemeinschaft als ganzer beitragen könne.105 Die richterlichen Entscheidungen dürften hingegen nicht auf Argumenten der Zielsetzung beruhen, sondern nur auf Prinzipienargumenten. Ihre Grundlagen müssten also stets im Recht selbst gefunden werden, auch wenn in vielen Fällen die Frage nicht sei, was ausgesagt werde, sondern wie etwas ausgesagt werde (Rechtfertigungszusammenhang).106 In diesem Sinne sei die Integrität eine größere Beschränkung für das Recht als für die Politik. Stehen jedoch individuelle Rechte auf dem Spiel, können sie als Trümpfe gegen ungerechtfertigte Mehrheitsentscheidungen ausgespielt werden.107 In der Regel sei zwar die Verfolgung eines kollektiven Zieles bzw. des Gemeinwohlinteresses eine hinreichende Rechtfertigung selbst für Handlungen, welche die Freiheit beschränken.108 Diese Art von Rechtfertigung reiche allerdings nicht aus, wenn es um die traditionellen bürgerlichen Freiheiten geht. Zur Einschränkung solcher Rechte habe der Staat nach Dworkin normalerweise erst dann einen Grund, wenn er auf einleuchtende Weise der Meinung sei, dass ein konkurrierendes Recht

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Zur Unterscheidung zwischen Zielsetzungs- und Prinzipienargumenten s. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 146 ff. Mit „Zielsetzung“ bezeichnet der Autor insbesondere: „(…) diejenige Art von Maßstab, die ein zu erreichendes Ziel aufstellt, wobei das Ziel im Allgemeinen eine Verbesserung in einem ökonomischen, politischen oder sozialen Aspekt der Gemeinschaft“ (bzw. ein Schutz vor einer ungünstigen Veränderung) sein wird (S. 55). Kollektive Zwecke förderten eine Koordinierung von Kosten und Nutzen in der Gemeinschaft, die das Ziel habe, einen Gesamtnutzen für die Gemeinschaft als ganze zu erzeugen (S. 160). Prinzipienargumente rechtfertigen demgegenüber eine Entscheidung dadurch, „dass sie zeigen, dass die Entscheidung ein bestimmtes Recht eines Individuums oder einer Gruppe achtet oder sichert“ (S. 146). In Kürze: „Prinzipien sind Sätze, die Rechte beschreiben; Zielsetzungen sind Sätze, die Ziele beschreiben“ (S. 158 f.). Darüber hinaus hebt der Autor hervor, dass Entscheidungen der Zielsetzung durch die Operation eines politischen Prozesses getroffen werden müssten, der dazu bestimmt sei, einen genauen Ausdruck der verschiedenen Interessen hervorzubringen, die berücksichtigt werden sollen. Es möge sein, dass das System der repräsentativen Demokratie in dieser Hinsicht nur leidlich arbeite, aber es arbeite „besser als ein System, das nichtgewählte Richter, die weder Postsack noch Lobby noch Interessenverbände haben, über konkurrierende Interessen in ihrer Kammer Kompromisse finden lässt“ (S. 150). Hinsichtlich der produktiven Spannung zwischen rule of law und Demokratie s. ferner Dworkin, A Matter of Principle, S. 18 ff. 106 Vgl. Dworkin, A Matter of Principle, S. 9 ff. Zur Unterscheidung zwischen Findungsund Rechtfertigungszusammenhang vgl. Schlink, Der Staat 19/1980, 73,87 ff. s. auch ders., Abwägung im Verfassungsrecht, S. 48: Der Gesetzgeber erfinde seine Wertungen und drücke dies auch aus, der Richter müsse zumindest vorgeben, sie nur vorzufinden. 107 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 14: „Individuelle Rechte sind politische Trümpfe, die Individuen in der Hand halten. Individuen haben dann Rechte, wenn ein kollektives Ziel aus irgendeinem Grund keine hinreichende Rechtfertigung dafür ist, ihnen das, was sie als Individuen tun oder haben wollen, abzuschlagen, oder wenn es keine hinreichende Rechtfertigung dafür ist, ihnen einen Verlust oder eine Verletzung aufzuerlegen.“ 108 Hierzu und zum Folgenden Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 313 f. Anders gewendet: Für die meisten politischen Freiheitseinschränkungen reichten utilitaristische Gründe aus.

II. Rechtssicherheit und Richtigkeit

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Dritter, d. h. ein Anspruch eines anderen Individuums, wichtiger sei.109 Grundrechte hätten Vorrang vor utilitaristischen Argumenten und könnten einem vermuteten gemeinschaftlichen Gut nicht geopfert werden. Dies folge aus der Anerkennung, dass die Individuen Rechte gegenüber dem Staat haben: „Ein Recht gegenüber dem Staat muss ein Recht sein, etwas selbst dann zu tun, wenn die Mehrheit es für falsch hielte, und selbst dann, wenn es der Mehrheit schlechter ginge, falls es getan würde.“110 Das Konzept des Rechts als Integrität bildet weiterhin im Rahmen der Rechtsprechung eine Opposition zu dem, was Dworkin als konventionalistische und pragmatistische Konzepte111 der Rechtsprechung bezeichnet: „Das Recht als Integrität verneint, dass die Äußerungen des Rechts der Vergangenheit zugewendete Tatsachenberichte des Konventionalismus oder instrumentelle, in die Zukunft blickende Programme des Rechtspragmatismus seien. Es beharrt darauf, dass juristische Behauptungen interpretative Meinungen sind, die aus diesem Grund Elemente verknüpfen, die sich sowohl auf die Vergangenheit wie auch auf die Zukunft beziehen; d. h. sie interpretieren die aktuelle Rechtspraxis als eine politische Erzählung im Entfaltungsprozess. Damit weist das Recht als Integrität die Frage als unnötig zurück, ob Richter das Recht finden oder erfinden, und legt nahe, dass wir die ju-

109 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 318. Vgl. ferner zu den möglichen Gründen, die eine Einschränkung der ursprünglichen Definition eines bestimmten Rechts rechtfertigen könnten, ebd., S. 328 ff. Mitzuberücksichtigen ist hierbei, dass Dworkin kein Grundrecht auf eine abstrakte allgemeine Freiheit anerkennt, sondern nur Rechte auf bestimmte spezielle Freiheiten. 110 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 319. 111 Der Konventionalismus fordere, dass die Richter die Gesetzgebung (und die Präjudizien) studieren sollen, um zu entdecken, welche Entscheidungen von den ermächtigten Institutionen bisher getroffen wurden. Hat einmal ein Richter den Konventionalismus als Leitfaden angenommen, werde er keine Möglichkeit mehr haben, anlässlich von Entscheidungen in spezifischen Fällen die Gesetzgebung als Ganzes zu interpretieren. Der Positivismus nehme Einzelentscheidungen an, die von Regeln abgeleitet werden, deren Gültigkeit auf der Rechtmäßigkeit der Hervorbringung durch die eigenen Institutionen beruhe. Die Prinzipien seien nicht durchlässig. Der Positivismus verstehe das Recht als ein geschlossenes System. Wenn jedoch die Rechtsordnung geschlossen ist, sei sie in logischer Folge auch beschränkt und führe letztlich auch zum richterlichen Dezisionismus (s. auch o. B.III.3.). Der Pragmatismus fordere, dass die Richter auf instrumentelle Weise über die besten Regeln der Zukunft nachdenken. Dieses Tun könne die Interpretation von Gegenständen notwendig machen, die über juristische Stoffe hinausgehen, wie etwa die Sorge eines pragmatisch-utilitaristisch gesonnenen Richters um seine Vorstellung vom Allgemeinwohl. Ein Richter, der den Pragmatismus annehme, werde auch nicht die Rechtspraxis in ihrer Gänze interpretieren. An diesem Punkt kritisiert der Autor auch die Realisten, die den Rechtsentscheid als willkürlich sähen, da sie auch dem Irrtum verfielen, die Rechtsordnung nur als einen Regelkomplex zu begreifen. Die vollständige und unbeschränkte Vereinigung zwischen Politik und Recht (wie von der Realistischen Schule vorgeschlagen) trage in keiner Weise zur Frage der Rechtssicherheit bei. Die Verlagerung der Entscheidung des Richters auf sein subjektives Gewissen sei ebenso beklagenswert und zerstörerisch, wie die These der richterlichen Entscheidungsfreiheit anzunehmen. Vgl. Dworkin, Law’s Empire, S. 114 ff., 151 ff., 226.

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

ristischen Überlegungen nur verstehen können, wenn im Blick behalten wird, dass Richter beides und nichts von beidem betreiben.“112 Dworkin verneint daher die politische Macht des Richters, ohne jedoch seine Arbeit zu einer rein mechanischen Tätigkeit des Subsumierens reduzieren zu wollen. Er führt an, dass auch in schwierigen Fällen nicht die Entscheidungsfreiheit des Richters anzustreben sei, da dieser nicht in der Lage sei, Normen zu erlassen. Solche schwierigen Fälle, die meist durch eine Konkurrenz der Prinzipien gekennzeichnet seien, beinhalteten immer eine richtige Antwort, ohne dass auf einen Ermessensspielraum des Richters zurückgegriffen werden müsse.113 Der juristische Stoff – bestehend aus Regeln und Prinzipien – sei immer in der Lage, eine Entscheidung anzubieten, und der Richter sei verpflichtet, sein Urteil ausschließlich kraft des bestehenden Rechts zu fällen. Er versetze sich nicht in die Rolle des Gesetzgebers und verfasse keine Rechte, sondern verteidige nur auf der Basis von bestehenden Regeln und Prinzipien diese Rechte. Die Richter müssten eine neue Rekonstruktion des gesamten Rechts im Lichte der Besonderheiten jedes konkreten Falles vornehmen und damit den juristischen Stoff weiterinterpretieren. Auf diese Weise bestehe weder völlige Gestaltungsfreiheit noch mechanischer Textzwang.114 Die Erklärungen des Rechts seien dauerhaft konstruktiv, seien interpretative Meinungen, die Elemente verknüpfen, die sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft betreffen. Angesichts der relevanten Gesichtspunkte der Anwendungssituation (möglichst erschöpfend beschrieben) müsse der Richter die bereits über das Recht geschriebenen Kapitel interpretieren und fortfahren (und nicht wieder anfangen), dieses auf die bestmögliche Art auszuarbeiten.115 Hierfür habe sich die Interpretation an zwei Dimensionen anzugleichen: an die des „Passens“ (fit) und die der normativen Rechtfertigung (justification).116 In der Dimension des „Passens“ (bzw. der Kon112

Dworkin, Law’s Empire, S. 225. Übersetzung der Verfasserin. Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 144 ff. Die prinzipienorientierte Rechtsinterpretation versucht insoweit, gerade Opposition zu den Theorien zu bilden, die in eine richterliche Entscheidungsfreiheit oder selbst in einen Ermessensspielraum münden. Seine These der Rechte besagt, „dass richterliche Entscheidungen existierende politische Rechte durchsetzen“. Ebd., S. 153. 114 Dworkin, Law’s Empire, S. 235, 257, erkennt an, dass das Maß, wie stark sich ein Autor durch den Text gebunden fühlt, variieren kann. Der Zwang sei rein subjektiv, aber aus phänomenologischer Sicht wahrhaftig. Aus der Sicht des Interpreten (der inneren Perspektive) sei der gefühlte Zwang so echt, als ob er unumstritten wäre. 115 An dieser Stelle zieht Dworkin eine Parallele zwischen der Rechtsprechung und einem Kettenroman, der von verschiedenen Autoren geschrieben wird. Das Projekt, die beste Interpretation zu finden, stehe in beiden Fällen unter der Anforderung, so fortgesetzt zu werden, als ob es von einem einzigen Autor geschaffen worden wäre. Vgl. Dworkin, Law’s Empire, S. 229 ff., 238 f. 116 Die anvisierte Theorie beschreibt im Idealfall eine Prinzipienmenge, „die alle vorliegenden Bestimmungen des geschriebenen Rechts und Präzedenzfälle miteinander in Einklang bringt.“ Die Rechtfertigung müsse dabei „einleuchtend und treffend sein. Wenn die Rechtfertigung, die er konstruiert, willkürliche Unterscheidungen trifft und Prinzipien entwickelt, die 113

II. Rechtssicherheit und Richtigkeit

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sistenz) werden Interpretationen ausgeschlossen, die sich als unvereinbar mit der Rechtspraxis erweisen. Der Richter müsse dabei versuchen, dem vorgegebenen Rechtsmaterial als einem Ganzen einen Sinn zuzuschreiben, sodass die übernommene Interpretation ein hohes Erklärungspotential aufweise. Sollte diese Interpretation nicht gefunden werden, werde er nach einer solchen suchen müssen, die den größeren Teil des Rechts erfasse, wobei zuzugeben sei, dass diese Interpretation nicht vollständig gelungen sei. Sollte er feststellen, dass keine Einzelinterpretation sich an den Zusammenhang des Textes anpassen lässt, dass aber mehr als eine dazu in der Lage wäre (hard case), müsse er zur zweiten Dimension übergehen. Die Dimension der Rechtfertigung werde vom Richter die Entscheidung fordern, welche der möglichen Lesarten sich besser an das in Entwicklung befindliche Werk anpassen lasse, nachdem alle relevanten Aspekte der Anwendungssituation berücksichtigt worden seien.117 Diese Interpretation sei in die institutionelle Geschichte eingebettet und setze in diesem Sinne Paradigmen voraus. Doch die normative Rechtfertigung verhalte sich gegenüber etablierten Paradigmen nicht bloß apologetisch. Sie greife auf normative Standards zurück, die ebenso Anstoß für legitime Korrekturen abgeben könnten.118 Das Recht als Integrität verlange also, dass eine vorläufige Analyse des „Passens“ durchgeführt werde, durch die bestimmte „mögliche“ Interpretationen ausgeschlossen werden, da sie sich als unvereinbar mit der Rechtspraxis erweisen. Die sog. „schwierigen Fälle“ seien jene, in denen just nach Abschluss dieser Analyse weiterhin zwei oder mehr akzeptable Interpretationen eine Berechtigung haben. Für diese Fälle gibt Dworkin zu, dass es möglich ist, dass unterschiedliche Richter, die sich auf die Idee des Rechts als Integrität stützen, d. h. die beste Entscheidung vom Standpunkt der politischen Moral als ein Ganzes suchen, die Fälle auf unterschiedliche Art beurteilen.119 Immerhin gelangt er zur These der einzig richtigen Entscheidung. Es geht aber darum, dass Dworkin die interne Perspektive der Beteiligten übernimmt und von daher seine (kontrafaktische) These der „einzig richtigen Antwort“ nicht einleuchtend sind, dann kann sie überhaupt nicht als Rechtfertigung gelten.“ Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 203. 117 Beide Arten von Überlegungen – d. h. die über die Bedeutungsermittlung und die über die Rechtfertigung der Rechtsfindung – seien allerdings nicht völlig unabhängig voneinander zu formulieren. In diesem Sinne beobachtet Dworkin, Law’s Empire, S. 231: „So the distinction between two dimensions is less crucial or profound than it might seem. It is a useful analytical device that helps us give structure to any interpreter’s working theory or style.“ 118 Dworkin, Law’s Empire, S. 72: „Paradigms anchor interpretations, but no paradigm is secure from challenge by a new interpretation that accounts for other paradigms better and leaves that one isolated as a mistake.“ Ließe sich eine Praxis überhaupt nicht rechtfertigen, wäre sie daher als Fehler zu verwerfen. s. hierzu auch ders., Bürgerrechte ernstgenommen, S. 203, 206. 119 s. zum Ganzen etwa Dworkin, Law’s Empire, S. 230 ff., 240 ff., 255 ff. In diesem Sinne betont der Autor: Der Richter „must choose between eligible interpretations by asking which shows the community’s structure of institutions and decisions – its public standards as a whole – in a better light from the standpoint of political morality.“ Ebd., S. 256. Hervorhebung durch die Verfasserin.

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

ableitet. Auf diese Weise wird ein Richter in der Beurteilung eines bestimmten Falles eine Partei als Sieger erachten, weil er annimmt, dass tatsächlich die vorgenommene Analyse dazu geführt hat, dass diese eine Antwort angemessener ist und folglich das Recht sie bevorzugt.120 Dworkin weist hierdurch die objektivierende Perspektive, die der Positivismus eingenommen hat, zurück und versetzt sich in die Perspektive der Betroffenen, wobei er feststellt, dass in vielen Fällen – selbst ohne Zweifel hinsichtlich des Sachverhaltes und hinsichtlich des Gesetzestextes – die Frage, wer in diesem Fall Recht habe, bestehen bleibe, da ja die Rechtsordnung nicht nur aus Regeln, sondern auch aus Prinzipien gebildet werde, die um die Lösung des konkreten Falles konkurrieren.121 Der Richter muss also in seiner getroffenen Entscheidung auf die bestmögliche Weise die gesamte Rechtsgeschichte bis zum gegebenen Moment rekonstruieren und sowohl die Rechtsordnung als ein Ganzes betrachten (Kohärenz mit Prinzipien) als auch die Besonderheiten des betreffenden Falles berücksichtigen. Es ist darüber hinaus eine Vorannahme seiner Theorie, dass ein herkulischer Richter sich bemühen muss, in der Rechtsordnung – die in ihrer Gesamtheit betrachtet wird – eine einzig richtige Entscheidung für jeden spezifischen und per definitionem unwiederholbaren Fall zu finden. Der Richter wird damit, in seinem Bestreben, für jeden Fall die bestmögliche Lösung zu finden, die Rechtsgeschichte auf möglichst angemessene Weise fortschreiben. Die Geschichte auf möglichst angemessene Weise weiterzuführen bedeutet hier eine kritische Aneignung dieser institutionellen Geschichte und die Rekonstruktion des geltenden Rechts bis zum Moment der beabsichtigten Entscheidung.122 Der Kunstfigur des Richters Herkules komme es also zu, diese unrühmliche Aufgabe zu übernehmen. Zu deren Erfüllung verfüge er jedoch über unbegrenzte Zeit und der mächtige Richter wappne sich mit übermenschlichem Beiwerk: Er habe nämlich außerordentliche Fertigkeit, Ausbildung, Geduld und Scharfsinn.123 Er habe gleichzeitig ein Richter, ein Philosoph, ein Soziologe usw. zu sein, d. h. Herkules habe die Macht und das Privileg, die Wahrheit zu kennen. Sowohl aufgrund der zweideutigen Beziehung zwischen Recht und Moral als auch wegen der einsamen, monologischen und übermenschlichen Charakterisierung dieses Richters wurde die Theorie Dworkins heftig kritisiert, in Anbetracht der Tatsache, dass sie genau die Vorannahme erschüttern können, von der die Theorie ursprünglich ausgegangen ist: Das Recht als Integrität oder Prinzipienkohärenz. 120 Die Annahme einer einzig richtigen Antwort bedeute nach Dworkin nicht, dass die Normen erschöpfend und unzweideutig seien. Vielmehr sei sie eine komplexe Aussage über die Verantwortlichkeiten der Richter und Bürger. Vgl. etwa Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 180. s. auch Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 181 f.; Alexy, in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 113, 114, der aber von zumindest einer richtigen – und nicht von der einzig richtigen – Antwort spricht. 121 Vgl. Dworkin, Law’s Empire, S. 4 ff., 14. 122 s. etwa Dworkin, Law’s Empire, S. 99 ff.; ders., Bürgerrechte ernstgenommen, S. 203 ff. 123 Dworkin, Law’s Empire, S. 239, 245; ders., Bürgerrechte ernstgenommen, S. 182.

II. Rechtssicherheit und Richtigkeit

265

2. Die Differenzierung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs und das Kohärenzmodell von Klaus Günther Im Rahmen einer Diskurstheorie des Rechts legt Günther, ähnlich wie Dworkin, ein Kohärenzmodell vor, das die sog. Kollisionsprobleme anders betrachtet und auf der Unterscheidung zwischen Gesetzgebung und Rechtsanwendung insistiert. Dieses Modell formuliert er zuerst für die moralische Argumentation, überträgt es aber auf die juristische Argumentation, die übrigens als Sonderfall des moralischen Anwendungsdiskurses begriffen wird. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Unterscheidung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs, welcher sich jeweils auf die Geltung bzw. Angemessenheit von Normen beziehe. Diese fundamentale Unterscheidung impliziere für die jeweiligen Diskurse verschiedene Kriterien zur Erfüllung der Anforderung der Unparteilichkeit, nämlich Berücksichtigung aller Interessen bzw. aller Situationsmerkmale. Die Gültigkeit einer Norm hänge demnach mit der Reziprozität der Interessenberücksichtigung im Begründungsdiskurs zusammen. Sie folge zunächst im Einzelnen aus der Erfüllung der kontrafaktischen idealisierten Bedingungen des von Habermas formulierten Moralprinzips der Universalisierbarkeit von Normen (U-Begründungsprinzip): Jede gültige Norm müsse der Bedingung genügen, „dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können“.124 Die Normgültigkeit hänge aber insofern auch von den idealen Bedingungen ab, dass die Betroffenen alle möglichen Situationen, in denen die Norm anwendbar sei (Anwendungssituationen), mit allen ihren Merkmalen (vollständige Beschreibung) sowie die Entwicklung ihrer Interessen voraussehen könnten. Dazu müssten sie jedoch über unbegrenztes Wissen und über unendliche Zeit verfügen und auch sich selbst gegenüber transparent sein. Aus der offenkundigen Unmöglichkeit, solche Bedingungen zu erfüllen, folge die Notwendigkeit einer Begrenzung des Geltungskriteriums auf die zum gegenwärtigen Zeitpunkt und nach dem aktuellen Stand des Wissens vorhersehbaren Folgen und

124 Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 25. Erwähnenswert ist es, dass Habermas dieses Prinzip im Rahmen seiner Diskursethik formulierte. Ab der in „Faktizität und Geltung“ vorgelegten Diskurstheorie arbeitet er mit einem Diskursprinzip (D), das lautet: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“ Ab diesem Werk stellt das Recht außerdem für Habermas keinen Sonderfall der Moral dar, sodass er auch ein von dem Moralprinzip differenziertes Demokratieprinzip formuliert, das ein Verfahren legitimer Rechtsetzung festlegen soll und das besagt, „dass nur die juridischen Gesetze legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem ihrerseits rechtlich verfassten diskursiven Rechtsetzungsprozess die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können“. Zur Erläuterung der Grundbegriffe dieser Prinzipien s. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 138 f., 141 f.

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

Nebenwirkungen. Daher formuliert Günther eine sog. „schwächere Fassung“125 von (U): „Eine Norm ist gültig, wenn die Folgen und Nebenwirkungen einer allgemeinen Normbefolgung unter gleichbleibenden Umständen für die Interessen eines jeden einzelnen von allen akzeptiert werden können.“126 Die Berücksichtigung verschiedener Anwendungssituationen wird in Begründungsdiskursen künstlich ausgeschlossen. „Gilt eine Norm in der Situation S1, so gilt sie auch in den Situationen S2, S3, … Sn, wenn die jeweiligen Umstände die gleichen bleiben.“127 Da der Geltungsbegriff auf die Reziprozität der Interessenberücksichtigung unter gleichbleibenden Umständen beschränkt werde, brauche die Situationsbeschreibung im Begründungsdiskurs hinsichtlich der variierenden Umstände keineswegs vollständig zu sein.128 Zugleich seien aber gültige Normen im Hinblick auf eine Handlungssituation nur prima facie anwendbar – denn der Begriff der Geltung impliziere nicht mehr die Angemessenheit der Anwendung einer Norm unter allen Umständen.129 Daraus ergebe sich die Notwendigkeit einer Ergänzung des Begründungsdiskurses durch einen Anwendungsdiskurs, bei dem einerseits die gültigen Normen als Prima-facie-Gründe schon vorausgesetzt seien, der sich aber durch Vollständigkeit charakterisieren müsse. Die Fiktion einer selektiven Situationsbeschreibung lasse sich also in Anwendungsdiskursen nicht mehr aufrechterhalten. Ob die Umstände der Anwendungssituation die gleichen wie die bei der Begründung vorausgesetzten sind, wüssten wir erst, nachdem wir alle Merkmale der Situation berücksichtigt, d. h. einen Anwendungsdiskurs durchgeführt hätten. Welche Norm in einer Situation angemessen sei, lasse sich mit anderen Worten erst feststellen, wenn die Diskursteilnehmer alle prima facie anwendbaren Normen auf eine vollständige 125 Die von Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 50, formulierte „starke Fassung“ von (U) besagt: „Eine Norm ist gültig und in jedem Fall angemessen, wenn die Folgen und Nebenwirkungen einer allgemeinen Normbefolgung in jeder besonderen Situation für die Interessen eines jeden einzelnen von allen akzeptiert werden können“. 126 Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 53. Hervorhebung durch die Verfasserin. Durch die Unterscheidung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs werde somit jene unrealistische Annahme nicht mehr nötig, dass wir jede nur denkbare Interessenkollision in jedem nur möglichen Einzelfall vorherzusehen in der Lage sein müssen. s. hierzu Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 168. 127 Zum Ganzen Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 50 ff., 265. Vgl. auch ders., Rechtstheorie 20/1989, 163, 167 f. 128 s. zum Folgenden Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 171 ff.; ders., Der Sinn für Angemessenheit, S. 55, 63, 266. 129 Dass die gültigen Normen nur prima facie anwendbar seien, bedeute aber nicht, dass sie ihre Verbindlichkeit verlieren. Die Teilnehmer eines Anwendungsdiskurses seien verpflichtet, eine prima facie anwendbare Norm als Grund für ein singuläres Urteil zu berücksichtigen. Darüber hinaus trügen sie eine wechselseitige Argumentationslast, kraft derer sie ebenfalls verpflichtet seien, die Einschränkung oder Suspendierung einer gültigen Norm, die auf eine vollständige Situationsbeschreibung anwendbar ist, zu begründen. Günther, Rechtstheorie 20/ 1989, 163, 173. Indem die Teilnehmer eines Anwendungsdiskurses über das gleiche System gültiger Normen verfügen, hätten sie implizit festgelegt, welche Gründe für die Rechtfertigung eines singulären Urteils als gültig vorausgesetzt und deswegen als prima facie anwendbare Norm berücksichtigt werden müssten (S. 175).

II. Rechtssicherheit und Richtigkeit

267

Situationsbeschreibung bezogen haben.130 Der Sinn von Unparteilichkeit im Anwendungsdiskurs betreffe daher genau die Angemessenheit einer Norm in einer Situation in Rücksicht auf alle besonderen Merkmale der Anwendungssituation.131 Aus der Berücksichtigung aller relevanten Umstände der Situation entstünden jedoch im Rahmen des Anwendungsdiskurses externe132 Normkollisionen. Denn die Situationsmerkmale seien nicht per se relevant. Erst im Lichte verschiedener Deutungen zeige sich die Relevanz eines (von den vorausgesetzten gleichbleibenden Umständen) differenten Merkmals, mit dem es auf eine andere Norm bezogen werde, die ebenfalls auf die Situation angewendet werden könne. Das Kollisionsproblem entstehe, wenn die Anwendung der übrigen Normen zu einander ausschließenden Sollensurteilen in dieser Situation führe. Es sei daher ein Problem des Anwendungsdiskurses, der Angemessenheit, und nicht der Geltung von Normen. Dass bestimmte Normen Angemessenheitsargumentation verlangten, zeige sich darüber hinaus erst in Anwendungssituationen und folge nicht, wie Alexy vorschlägt, aus einem strukturellen Unterschied der Normen. Die Forderung, eine Norm unter Berücksichtigung tatsächlicher und rechtlicher Möglichkeiten in einer Situation anzuwenden, gelte aufgrund des Prinzips unparteilicher Anwendung für jede Norm.133 Da die Berücksichtigung von Situationsmerkmalen Kollisionen produziere, müsse eine Logik der Angemessenheitsargumentation zeigen, mit welchen argumentativen Mitteln die entstehenden Kollisionen aufgelöst werden könnten. Dazu schlägt Günther zwei Argumentationsschritte vor, nämlich die vollständige Situationsbeschreibung und die Kohärenz der anwendbaren Normen. Zur vollständigen Situationsbeschreibung sei die Teilnahme von mindestens zwei Parteien am Anwendungsdiskurs von Bedeutung. Der Proponent bringe dann die von ihm als relevant ausgewählten Daten und begründe sie als Anwendungsbedingungen einer Norm. Der Opponent könne daraufhin die folgenden Gegengründe anführen: (1) die Unwahrheit der vom Proponenten gegebenen Situationsbeschreibung; (2) die feh130

Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 175. Beide Diskurse verkörperten in diesem Sinne jeweils einen bestimmten Aspekt der Idee der Unparteilichkeit: „die Forderung, dass die aus einer allgemeinen Normbefolgung voraussichtlich sich ergebenden Folgen und Nebenwirkungen für die Interessen eines jeden einzelnen von allen gemeinsam sollen akzeptiert werden können, operationalisiert den universellreziproken Sinn der Unparteilichkeit, während komplementär dazu die Forderung, in einer einzelnen Anwendungssituation alle Merkmale zu berücksichtigen, den applikativen Sinn operationalisiert. Indem wir beide Aspekte miteinander kombinieren, nähern wir uns dem vollständigen Sinn von Unparteilichkeit gleichsam auf sich verzweigenden Wegen.“ Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 56. 132 Zur Unterscheidung zwischen internen und externen Normkollisionen s. Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 168 ff. Die interne Kollision betreffe überhaupt die Verallgemeinerbarkeit und damit die Gültigkeit der Norm selbst. 133 Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 258 f., 267, 272. Prinzipien sind für Günther eigentlich Ausdruck einer Argumentationsprozedur, die eine unparteiliche Berücksichtigung aller Situationsmerkmale ermögliche. Sie bezögen sich, anders gewendet, auf eine Anwendungsprozedur, die uns zur Berücksichtigung aller Merkmale einer Situation und aller relevanten normativen Gesichtspunkte verpflichte (S. 336). 131

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

lende Übereinstimmung zwischen Norm und Situationsbeschreibung (Bedeutungsvarianten)134 und (3) die fehlende Berücksichtigung solcher Situationsmerkmale, die für die Anwendung anderer Normen relevant seien.135 In diesem Fall, der die Normkollision betreffe, seien daher die vom Opponenten in Anschlag gebrachten übrigen Situationsmerkmale nicht „referenzlos“, sondern für andere Normen relevant.136 Die vollständige Situationsbeschreibung sei somit auf alle anderen anwendbaren Normen und Bedeutungsvarianten zu beziehen. Die folgende Stufe der Angemessenheitsargumentation gilt der Auflösung der Kollisionsprobleme. Als rechtfertigungsbedürftiger Argumentationszug habe sich die Relevanzbehauptung erwiesen. Als Gesichtspunkte, unter denen wir eine Situationsbeschreibung erweitern und vervollständigen, kämen andere Normen oder verschiedene Bedeutungsvarianten einer Norm in Betracht, die jeweils verschiedene Situationsmerkmale als normativ signifikant auszeichneten. Das formale Kriterium für die Angemessenheit sei darüber hinaus die Kohärenz der Norm mit allen anderen in der Situation anwendbaren Normen und Bedeutungsvarianten. Das Kohärenzkriterium lasse sich so formulieren: „Eine Norm Nx ist angemessen anwendbar in der Situation Sx, wenn sie mit allen anderen in Sx anwendbaren Normen Nl vereinbar ist, die zu einer Lebensform Lx gehören und in einem Begründungsdiskurs gerechtfertigt werden können. (Entsprechendes gilt für alle Bedeutungsvarianten)“.137 Diese Vereinbarkeit der Normen werde zwar durch die Annahme einer Ausnahme bzw. durch die Einräumung eines Vorrangs erzeugt, der aber nicht als Ausdruck einer Präferenzentscheidung oder als das Resultat einer Güterabwägung gelte,138 sondern als Ergebnis der besten Theorie aller anwendbaren Prinzipien. Diese Theorie müsse die Bedeutung dieser Prinzipien umfassend explizieren, sodass die Vorrangrelation nicht als die im Hinblick auf alle Möglichkeiten optimale Verwirklichung konkurrierender Ziele erscheine, sondern als die unter Berücksichtigung aller Umstände optimale Ausschöpfung des normativen Sinnes beider Prinzipien.139 Die Vereinbarkeit sei danach zu bemessen, welche Norm sich im Verhältnis zu allen anderen in einer Situation anwendbaren Normen am besten rechtfertigen lasse.

134 Die Bedeutung einer Norm oder das, was mit den „gleichbleibenden Umständen“ gemeint ist, liege auch nicht fest. Welche Bedeutungen relevant seien, wüssten wir wiederum erst in der Situation. Eine unparteiliche Normanwendung bedeute daher in diesem Fall, dass die Norm unter Ausschöpfung aller Bedeutungsmöglichkeiten, die sich bei einer vollständigen Situationsbeschreibung gewinnen lassen, anzuwenden sei. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 295. 135 Vgl. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 288 ff. 136 Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 298. 137 Zum Ganzen Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 303 ff. 138 Günther sieht ebenfalls die Assimilation von Prinzipien an Werten oder Gütern als problematisch an und akzeptiert die Preisgebung der Unterscheidung zwischen normativen und evaluativen Sätzen nicht. 139 Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 179.

II. Rechtssicherheit und Richtigkeit

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Zum Aufbau einer solchen Rechtfertigung benötigten wir wiederum eine implizite Theorie, die einen internen Rechtfertigungszusammenhang zwischen den ansonsten ungeordneten gültigen Normen herstelle. Vor diese konstruktive Aufgabe seien wir in jeder einzelnen Situation immer wieder von neuem gestellt. Die konstruktiv anzustrebende Kohärenz müsse fallbezogen hergestellt werden, was allerdings nicht ausschließe, dass es „Paradigmen“ oder Schemata gebe, die festlegen, welche Merkmale in einer Situation hinsichtlich der gültigen Prinzipien normativ relevant seien.140 Diese Paradigmen formierten Hintergrundkontexte, in denen die gemeinsamen gültigen Prinzipien in eine transitive Ordnung gebracht worden seien und mit generalisierten Situationsbeschreibungen dergestalt verknüpft seien, dass eine angemessene Anwendung möglich bleibe. Damit sich die Paradigmen aber nicht auf Dauer verfestigen könnten, müssten sie stets im Hinblick auf zwei Aspekte der Idee der Unparteilichkeit kritisierbar bleiben: Die Gültigkeit einzelner Normen, wenn sie im Lichte veränderter Interessenlagen der Reziprozität der Interessenberücksichtigung nicht mehr entsprächen, und die kohärente Beziehung zwischen den einzelnen Normen, wenn sich die ihr zugrunde gelegte generalisierte Situationsbeschreibung nicht mehr mit einer vollständigen Situationsbeschreibung vereinbaren lasse.141 Das dargelegte Kohärenzmodell bezieht Günther dann auf die juristische Argumentation. Zeitknappheit, Unvollständigkeit des Wissens und doppelte Kontingenz142 zwischen den Aktoren sind für ihn Bedingungen, die zur Institutionalisierung eines Rechtssystems führen. Der Begründungsdiskurs werde dabei an das institutionalisierte Verfahren der Setzung von Rechtsnormen (Gesetzgebung) angeknüpft, während die Anwendung von Normen in Prozeduren institutionalisiert werde, die die Berücksichtigung aller besonderen Merkmale einer Situation ermöglichen.143 An140

Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 307. Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 182 f. Obwohl die Idee eines kohärenten Systems aller gültigen Normen, das für jede Anwendungssituation genau eine richtige Antwort zulässt, niemals faktisch erreicht werden könne, arbeiteten wir an seiner Herstellung in jeder Anwendungssituation, deren vollständige Beschreibung die Matrix der potentiell kollidierenden Normen verändere. Auf diese Weise seien wir ferner von der Geschichte abhängig, da sie uns erst die unvorhersehbaren Situationen erzeuge, die uns zu einer jeweils anderen Interpretation der Menge aller gültigen Normen zwinge. 142 „Alter muss vorhersehen können, dass Ego die gemeinsam geteilte Menge gültiger Normen und Prinzipien auch faktisch befolgen wird. Anderenfalls wäre es Alter nicht zumutbar, sich durch gültige und angemessene Normen in seinem Handeln rational motivieren zu lassen.“ Die faktische Befolgung einer Norm lasse sich aber nur dann erwarten, wenn irgendwann und irgendwo entschieden worden sei, dass diese Norm positiv gelte, wenn ein singuläres Urteil darüber gefällt werden könne, in welcher Situation die geltende Norm durch welchen Adressaten in welcher Weise anzuwenden sei, und wann das Motiv zur faktischen Befolgung des singulären Urteils empirisch bewirkt werden könne. Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 183 f. Vgl. auch ders., Der Sinn für Angemessenheit, S. 314 ff. 143 Vgl. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 337. Um Erwartungssicherheit unter Bedingungen knapper Zeit und unvollständigen Wissens zu ermöglichen, könnten allerdings bestimmte Normen künstlich auf einem konventionellen Niveau gehalten werden mit der 141

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

ders als moralische Normen und Urteile beanspruchten positiv geltende Rechtsnormen und rechtskräftige Urteile zwar nicht, dass sie von jedem Einzelnen nur aus rationalen Motiven faktisch befolgt würden. Die institutionalisierten Verfahren der Normsetzung und -anwendung dürften aber eine rational motivierte Anerkennung und Befolgung, d. h. eine moralische Argumentation über die Gültigkeit und Angemessenheit von Normen auch nicht ausschließen.144 Aus diesem Grund fasst Günther die juristische Argumentation als Sonderfall des moralischen Anwendungsdiskurses auf. Für Anwendungsdiskurse werde in diesem Sinne ex definitione die Gültigkeit von Normen vorausgesetzt.145 Insofern könne sowohl von der juristischen Argumentation als Diskurs als auch von einer vernünftigen Begründung im Rahmen der geltenden Rechtsordnung gesprochen werden. Die Regeln und Formen einer externen Rechtfertigung146 – wie etwa die dogmatische Argumentation, die canones der Auslegung und die Präjudizienverwendung – werden allerdings nach Günthers Ansatz in einen pragmatischen Kontext eingebettet, durch den sie zugleich als eine Selektionsregel hinsichtlich einer vollständig beschriebenen Situation charakterisiert seien.147 Sie erhielten also ihren Sinn von der Aufgabe der kohärenten Rechtfertigung einer Normanwendung angesichts einer vollständig beschriebenen Situation.148 So ließen sich z. B. die canones der Auslegung als Regel verstehen, welche die Berücksichtigung von Prinzipien bei der Festsetzung einer Bedeutung vorschrieben. Die Rolle der Präjudizien als Argument für eine prinzipiengeleitete Argumentation bei der Normanwendung habe bereits Konsequenz, dass eine Suspendierung von Angemessenheitsargumentationen gerechtfertigt werden könne. Nachdem sich die konventionelle Fusion von Geltung und Angemessenheit aufgelöst habe, lasse sich aber die Ausblendung von Angemessenheitsargumentation nur noch dadurch rechtfertigen, dass man sie dem Gesetzgeber überantworte. Wenn eine bestimmte Institution wie der Gesetzgeber über die Angemessenheit der Normen im Voraus entschieden habe, dürften also bei der Anwendung solcher Normen Situationskontexte unberücksichtigt bleiben. Ebd., S. 336 f. 144 Zum Ganzen Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 184. Dies sei nur dann nicht der Fall, „wenn jeder einzelne aufgrund einer moralischen Argumentation zu dem Ergebnis kommen könnte, dass es gute Gründe für die Anerkennung der Gültigkeit und Angemessenheit einer Norm gibt.“ 145 Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 188. Der Autor kritisiert insoweit die von Alexy vorgeschlagene Sonderfallthese: Bei der juristischen Argumentation handele es sich nicht um eine Einschränkung des allgemeinen praktischen Diskurses, weil es gar nicht um die Gültigkeit von Normen oder normativen Sätzen gehe. Vgl. ebd., S. 186 ff. 146 s. dazu Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 283 ff. 147 Hierzu und zum Folgenden Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 188 f. 148 Das Prinzip, bei der Norminterpretation alle Situationsmerkmale zu berücksichtigen, impliziere allerdings keine Theorie der situationsabhängigen Bedeutungskonstitution. Es werde lediglich verlangt, dass der Diskurs über die Festsetzung einer Wortgebrauchsregel alle externen Kollisionen mit anderen prima facie anwendbaren Normen in einer kohärenten Interpretation berücksichtigen müsse. Die Berücksichtigung anderer Normen sei eigentlich immer schon in unsere Interpretation eingegangen („Vorverständnis“). Die Selektivität der Interpretation sei allerdings rechtfertigungsbedürftig und nach Günther in Anwendungsdiskursen auch rechtfertigungsfähig. Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 177.

III. Kritische Analyse und Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung

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Dworkin dargelegt. Ob indes verschiedene Fälle hinsichtlich solcher Merkmale vergleichbar seien, welche die Anwendung eines gemeinsamen Prinzips erlauben, lasse sich nur durch eine vollständige Situationsbeschreibung begründen, die eine Berücksichtigung aller prima facie anwendbaren Normen ermögliche. Da schließlich juristische Anwendungsdiskurse Entscheidungen unter Bedingungen knapper Zeit und unvollständigen Wissens produzieren müssten, trügen v. a. die Sätze der Dogmatik eine „Entlastungsfunktion“. An ihnen lasse sich der Paradigmencharakter kohärenter Interpretationen mit Bezug auf generalisierte Situationsbeschreibungen verdeutlichen.

III. Kritische Analyse und Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung Alle dargestellten alternativen Ansätze konzipieren die Rechte als deontologisch und schließen somit eine graduelle Normenanwendung aus. Im Allgemeinen bieten sie auch mehrere Anknüpfungspunkte für die Herausarbeitung der Trennung von Recht und Politik. In diesem Sinne sollen die dogmatische Entfaltung und die methodischen Vorzüge des Abwehrrechts in den Modellen von Böckenförde, Müller, Schlink und Poscher den Ausgangspunkt nicht nur seiner verfassungstheoretischen Rehabilitierung und eines konsistenten Umgangs mit den Freiheitsrechten bilden, sondern auch seiner demokratietheoretischen Auszeichnung gegenüber dem Abwägungsmodell, in dem sich die Freiräume des Gesetzgebers gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht mehr beschreiben lassen. Dworkins Theorie zeigt ebenfalls, dass Verfassungsrechtsprechung anders als Politik nicht danach fragt, was für das Gemeinwohl gut ist, sondern Rechte ernst nimmt und die Integrität des Rechts dadurch wahrt, dass sie für das Individuum auch gegen die Mehrheit entscheiden kann. Auch in Günthers Theorie besteht der Anwendungsdiskurs gerade nicht aus einem Gewichten und Abwägen, sondern aus der Suche nach der Norm, die von den vielen gültigen, prima facie anwendbaren Normen tatsächlich dem konkreten Fall angemessen ist. Dass die dargestellten Modelle hinsichtlich gewisser Aspekte konvergieren und fruchtbare Ansatzpunkte bieten, bedeutet aber nicht, dass man allen Konstruktionen folgen möchte. Sie sind auch nicht alle miteinander in Einklang zu bringen. Im Folgenden sollen sie daher kurz auf ihre Chancen und Risiken im Hinblick auf das zu entwickelnde Modell untersucht werden. In ihrer Stoßrichtung ist der grundlegenden Kritik von Böckenförde an der Abwägungslehre durchaus beizupflichten. Gewisse Aspekte seines Vorschlags fordern aber eine kritische Auseinandersetzung. Indem der Autor zunächst einen Bereich der Rechtsordnung, nämlich die privatrechtliche Ordnung, nicht den grundrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen unterstellt, trifft sich sein Ansatz mit dem Vorschlag von Vertretern eines funktional-pluralistischen Grundrechtsverständnisses, die sich gegen die Anwendung des Abwehrrechts auf privatrechtliche Dreieckskonstellationen richten. Bestimmte staatliche Freiheitsbeschränkungen werden demnach

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

praktisch nicht als staatlich wahrgenommen und müssen sich nicht vor den Abwehrrechten rechtfertigen – als ob es eine staatsfreie rechtliche Ordnung der Gesellschaft gäbe. Damit wird aber nur die staatliche Vermitteltheit des Privatrechts ausgeblendet und die Verantwortung des Staates dafür maskiert.149 Die Betrachtung des Privatrechts als generelle Grenze der Grundrechte ist eine pauschale Grenzbestimmung, die zu einer Grundrechtsgeltung nach Maßgabe der Gesetze führen kann und die angesichts der Staatlichkeit allen Rechts und der staatlichen Bindung an die Grundrechte nicht zu rechtfertigen ist. Nach der hier vertretenen Ansicht müssen sich daher alle rechtlichen Freiheitsbeschränkungen unabhängig von ihrer Zuordnung zum öffentlichen Recht oder Privatrecht am Maßstab des Abwehrrechts messen lassen. Es besteht keine rechtliche Ordnung der Gesellschaft, die nicht staatlich zu verantworten ist und nicht der allgemeinen grundrechtlichen Bindung unterliegt. Die Untersuchung schließt sich damit den Befürwortern einer abwehrrechtlichen Erfassung von Dreiecksverhältnissen an. Im Einzelnen wird sie hierbei an die Überlegungen von Poscher anknüpfen und entsprechend die Staatsgerichtetheit der Grundrechte stets im Blickfeld der Grundrechtsprüfung behalten: Die grundrechtlichen Anforderungen richten sich nur an den Staat und dessen Organe bei der Regelung der Konflikte zwischen den Grundrechtsträgern (sog. Reflexivität). Festzuhalten wird ebenfalls sein, dass die dogmatischen Strukturen des Abwehrrechts auch hier nicht durch ein Abwägungselement eingeebnet werden dürfen. Stärker als in Poschers Ansatz soll allerdings versucht werden, die Tätigkeit des Richters und die des Gesetzgebers auch beim Vorliegen von Generalklauseln zu unterscheiden.150 Aus der Unbestimmtheit des Rechts, d. h. aus der offenkundigen Unmöglichkeit, jede Anwendungssituation im Begründungsdiskurs hinsichtlich aller variierenden Umstände vollständig zu beschreiben, folgt nicht, dass der Anwendungsdiskurs wieder in einen Begründungsdiskurs – oder wie bei Alexy in die allgemeine praktische Argumentation – münden muss (s. o. G.II.2). Vielmehr gilt es auch beim Vorliegen von Generalklauseln, nach den Grenzen und Möglichkeiten der Rechtsprechung gegenüber der Gesetzgebung zu suchen. Im Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz werden an diesem Punkt insbesondere Schlinks Symmetriegedanke und Günthers Differen149

Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 149 f. Diese Defizite werden nur z. T. dadurch aufgefangen, dass anstelle des Abwehrrechts andere Formen grundrechtlicher Bindung unterstellt werden. Denn noch immer wird ein Bereich der staatlichen Rechtsordnung nicht den allgemeinen grundrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen unterstellt, sondern besonderen, andersartigen und schwächeren. Exemplarisch in diesem Sinne Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 182 ff. Damit reproduziert sich in gewissem Sinne die alte Vorstellung einer staatlichen Sphäre, die höheren, und einer nun abwehrrechtsfreien Sphäre, die niedrigeren grundrechtlichen Anforderungen genügen muss. Grundrechtlich zerfällt aber die Rechtsordnung nicht in einen öffentlichen und einen privaten Teil. Vielmehr gehen die Grundrechte der allein durch die Rechtsordnung produzierten Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht voraus. s. auch die bereits oben (B.IV.1.) ausgeführte Diskussion um die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft. 150 Zur Annäherung zwischen Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Rahmen der Generalklauseln Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 331 f.

III. Kritische Analyse und Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung

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zierung zwischen Normanwendungs- und Normenbegründungsdiskursen als Abgrenzungskriterien dienen. In Anlehnung an die Vorschläge von Böckenförde, Müller, Schlink u. a.151 soll ferner der zu entwickelnde Ansatz von einer differenzierten Bereichsdogmatik und insbesondere auch von einer sorgfältigen Schutzbereichsbestimmung der einzelnen Grundrechte ausgehen. Die genannten Autoren wenden sich in diesem Sinne zutreffend gegen die Wandlung der verschiedenen Grundrechte in ein pauschales allgemeines Freiheitsrecht und gegen die Tendenz zur Entdifferenzierung ihrer verschiedenen Gewährleistungen. Sie beharren überdies zu Recht darauf, dass die geschriebenen Maßstäbe der Verfassung – insbesondere die speziellen und differenzierten Gesetzesvorbehalte – ernster genommen werden müssen.152 Abweichungen bestehen allerdings nicht nur begrifflich, sondern auch darin, wie diese Bereichsdogmatiken zu entwickeln sind. So sei z. B. der grundrechtliche Gewährleistungsinhalt nach Böckenförde insbesondere durch eine historisch-genetische Interpretation des Entstehungsvorgangs der einzelnen Grundrechte zu ermitteln. Zutreffend daran ist, dass die meisten Grundrechte Reaktionen auf konkrete Erfahrungen der Repression und der Verletzung menschlicher Würde darstellen,153 und dass die historischen und genetischen Gesichtspunkte evtl. Hinweise für die Normkonkretisierung liefern bzw. bestimmte Lesarten widerlegen154 können. Doch 151 Neuerlich hat sich z. B. auch Hoffmann-Riem, Der Staat 43/2004, 203, 215 ff., 226 ff.; ders., in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 ff., für eine genauere Bestimmung des Schutzbereichs ausgesprochen. Er verwendet dabei, wie Böckenförde, den Begriff Gewährleistungsgehalt, der für die „abstrakte Klärung der grundrechtsspezifischen Reichweite“ der Grundrechte stehe (S. 72). „Am Gewährleistungsgehalt einer Grundrechtsnorm werden die thematische Einschlägigkeit eines Grundrechts festgemacht und sein Schutzgut und seine Reichweite ermittelt“ (S. 56). Im Unterschied zu Böckenförde zielt er aber auch auf eine Stärkung der objektiven Grundrechtsgehalte ab und gibt den Gesetzesvorbehalt für einige Bereiche auf. Für eine sorgfältige Präzisierung des Schutzbereichs zuletzt auch Volkmann, JZ 2005, 261, 265 ff.; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 231; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 169 ff. Vgl. ferner Ossenbühl, in: Abwägung im Recht, S. 25, 41, der bekräftigt, dass die Aufgabe des BVerfG darin bestehe, den Schutzgehalt der Grundrechte zu konkretisieren, Grenzen der Schutzbereiche der einzelnen Grundrechte zu ziehen sowie allgemeine Maßstäbe und Orientierungen für ihre Anwendung zu entwickeln. Würde in diese Aufgabe mehr Energie gesteckt, dürfte sich die Notwendigkeit von Abwägungen erheblich verringern. 152 Insofern ist es nicht unproblematisch, wenn selbst Böckenförde die Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt den Nichtstörungsschranken unterwirft. Dies kann ebenfalls ein sehr breites und unbestimmtes Arsenal möglicher Grundrechtseinschränkungen eröffnen und trägt dem liberalen Anspruch der Grundrechte nicht ausreichend Rechnung. Wie weiter unten (H.I.) behandelt wird, sollen die Grundrechte nicht unter einem pauschalen Vorbehalt von Großformeln wie Friedlichkeit, (Straf-)Rechtswidrigkeit, Missbrauch, Nichtstörung, Allgemeinverträglichkeit, neminem laedere, Sozialschädlichkeit etc. stehen. Kritisch zu einer Übertragung der Nichtstörungsschranken bereits Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 14 ff. 153 „In den meisten Grundrechtsartikeln schwingt das Echo eines erlittenen Unrechts mit, das gleichsam Wort für Wort negiert wird.“ Habermas, Faktizität und Geltung, S. 469. 154 Zur falsifikationischen Rekonstruktion des genetischen Elements Schlink, Der Staat 19/ 1980, 73, 92 ff., 101 ff. Zur Heranziehung der genetischen Argumentation zur Widerlegung von

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

jede Inklusion generiert auch eine Exklusion (Luhmann). Wird allein dem genetischen Element die ausschlaggebende Bedeutung für die Interpretation eingeräumt, dann ruft dieser Ansatz – jenseits der Überbewertung der historisch-genetischen Methode – auch das Risiko einer Versteinerung der normativen Gehalte der Grundrechte und einer äußerst konservativen Verfassungsauslegung hervor. Die starke historische Akzentuierung des Gewährleistungsinhalts der Grundrechte ist in der Tat nur begrenzt tragfähig; sie kann nämlich der Dynamik der Generierung des Neuen nur in Grenzen gerecht werden.155 Rechtstexte befinden sich stets in einem Prozess, in dem Interpretationen und Dekonstruktionen einander ablösen – mit offenem, immer wieder neuem, immer nur vorläufigem Ausgang.156 Der fundamentale Gedanke Müllers, nach dem aus der Rechtsqualität der Grundrechte eine sachlich-normative Begrenzung ihrer Reichweite folgt, und seine entsprechende strukturierende Methodik sowie der Ansatz, den Schutz der Spezialfreiheiten auf das „Sachspezifische“ zu begrenzen, verdienen hingegen Zustimmung und werden weiter verfolgt. Von der Suche nach pauschalen Vorbehalten gilt es in diesem Sinne Abschied zu nehmen, vielmehr ist der Blick zunächst darauf zu richten, welche Reichweite jede einzelne Grundrechtsgarantie für sich selbst besitzt. So bietet die strukturierende Methodik Müllers zwar einen aufschlussreichen Anhaltspunkt für die Entfaltung eines abwehrrechtlichen Systems von Schutzbereichen und Gesetzesvorbehalten, doch kommt hier dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz keine maßgebliche Bedeutung zu. Da allerdings dieser Grundsatz in der Erschließung der sozialen Wirklichkeit Klarheit schaffen kann, eine selektive Funktion der Folgendiskussion erfüllt und dem Abwehrrecht die spezifische Leistungsfähigkeit vermittelt hat, mit der es heute verknüpft wird, soll er eine zentralere Rolle in dem zu entwickelnden Ansatz einnehmen. An diesem Punkt wird sich die Lesarten, welche die Parteien vorgeschlagen haben, BVerfGE 106, 62 (123 ff., 132) (Altenpflegegesetz). 155 Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 79. Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 186 ff., selbst sieht das Risiko eines Verlustes an Offenheit und Flexibilität der Grundrechte und eröffnet daher die allgemeine Möglichkeit, den durch die historisch-genetische Interpretation ermittelten Gewährleistungsinhalt auch auf einen veränderten Realbereich anzuwenden. 156 Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 54, der ferner betont, dass die Autoren des Textes selbst wissen, dass ihre ursprüngliche Absicht immer nur von relativer Bedeutung ist. Sie „wissen zwar, was sie beabsichtigen, aber sie wissen auch, dass sie ihrer ursprünglichen Absicht nur die beschränkte Maßgeblichkeit geben können, die der Text transportiert.“ Vgl. auch Vesting, Der Staat 41/2002, 73, 79 f., 81: „Und so wie die Zukunft immer dem Leser gehört, verliert auch der Verfassungsgeber die Kontrolle über die Bedeutung von Grundrechtsnormen, sobald er diese einmal schriftlich publiziert hat. Grundrechtsnormen werden damit der Wiederverwendbarkeit in der laufenden Kommunikation zugänglich. Es lassen sich jetzt Texte über Normen, Texte über die Interpretation dieser ihrerseits Normen interpretierenden Texte sowie weitere Texte anfertigen (…). Damit wachsen die Textmengen und mit ihnen die Vielfalt der Interpretationen“. s. hierzu auch Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 340. Allgemein kritisch gegenüber der Vorstellung eines substantiellen gesetzgeberischen Willens Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 94, 369 f., Rn. 67d, 361d.

III. Kritische Analyse und Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung

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Untersuchung insbesondere an den Überlegungen von Schlink orientieren und die unterschiedlichen Bedeutungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Kontrolle des Gesetzgebers einerseits und für die der Rechtsanwendungsorgane andererseits hervorheben. Herauszuarbeiten wird ebenfalls seine Ansicht sein, dass die Prüfung dieses Grundsatzes (wie auch die der Mindestposition) auf die unterschiedlichen sozialen Bereiche der Grundrechte zu beziehen ist und somit an die aufgearbeitete empirische Wirklichkeit der verschiedenen grundrechtlich geschützten Lebensbereiche anknüpfen soll. Die Spannung zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit innerhalb der richterlichen Praxis sowie die Notwendigkeit einer kontextsensitiven Rechtsanwendung bilden darüber hinaus einen Dreh- und Angelpunkt auch der Ansätze von Müller, Dworkin und Günther.157 Die Norm beschränkt sich nicht auf den Text und kann nicht von der Realität, auf die sie angewendet werden sollte, völlig abgekoppelt werden. In diesem Sinne spricht Müller vom Normbereich als dem Ausschnitt sozialer Wirklichkeit in seiner Grundstruktur, den das Normprogramm aus dem allgemeinen Regelungsbereich der Rechtsnorm auswählend zu bestimmen erlaubt. Der Sachbzw. Fallgehalt wird laut ihm in textorientierter und verallgemeinerungsfähiger Weise in den Konkretisierungsvorgang eingehen. Nach Günther sind die Situationsmerkmale ebenfalls nicht „referenzlos“, sondern hinsichtlich der Deutung der gültigen Normen relevant. Der Vorschlag von Dworkin und Günther überträgt in diesem Zusammenhang die Rationalitätsunterstellungen der richterlichen Entscheidungspraxis auf die Ebene einer rationalen Rekonstruktion des geltenden Rechts anhand der relevanten Gesichtspunkte der Anwendungssituation. Von den Richtern wird die herkulische Bürde gefordert, die sich ihnen darbietenden konkreten Situationen ernst zu nehmen – so wie auch die Gesamtheit der prinzipiell anwendbaren Normen in kohärenter Weise im Lichte des Einzelfalles, d. h. dynamisch und im Hinblick auf die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit, die jede normative Anwendungssituation kennzeichnen, zu rekonstruieren. Obwohl die Theorien von Dworkin und Günther wenige dogmatische Vorgaben für die Grundrechtsanwendung anbieten und in mancher Hinsicht kritikwürdig sind, liefern sie aufschlussreiche Anhaltspunkte für die Differenzierung zwischen normorientierten und normgelösten politischen Argumenten sowie ein Prinzipienverständnis, das sich auch im Sinne des Abwehrrechts verstehen lässt.158 Mit der 157

Bei der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts eines Grundrechts spricht auch Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 56, dem „normativ gefilterten Realbereich“ eine besondere Bedeutung zu. 158 So sind die individuellen Rechte für Dworkin ernst zu nehmende Trümpfe, die sich ausschließlich an den Staat richten und gegen eine ungerechtfertigte Politik ausgespielt werden können. Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 14, 158 ff.; ders., in: Konstruktionen praktischer Vernunft, S. 153, 166 ff. Sie enthalten daher ein gewisses „Schwellengewicht“ gegenüber der Verfolgung politischer Ziele, das dogmatisch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen kann. s. hierzu Huster, Rechte und Ziele, S. 94 ff. und passim. Folgen die individuellen Rechte aus dem Ideal der gleichen Rücksicht und Achtung, dann dürfen sie ferner nur durch konkurrierende Rechte anderer eingeschränkt werden. Der Grund für die Frei-

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

Unterscheidung zwischen Zielsetzungs- und Prinzipienargumenten bzw. zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs zeigen diese Autoren, dass die Anerkennung der inhärenten Unbestimmtheit und der prinzipiellen Dimension des Rechts159 nicht zu einer Entdifferenzierung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung führen muss. Zu Recht moniert Dworkin in diesem Zusammenhang das positivistische Rechtsanwendungsmodell und besteht auch zu Recht auf der spezifisch rechtlichen Qualität juristischer Auseinandersetzung selbst in schwierigen Fällen.160 Beide Autoren betonen dann die Wichtigkeit einer umfassenden Berücksichtigung des Einzelfalles, ohne aber die Anforderung der Rechtssicherheit und damit die Funktion des Rechts, Erwartungen zu stabilisieren, aus den Augen zu verlieren. Dies sind zwar allgemeine und sehr abstrakte Überlegungen, deren Ertrag für das Verfassungsrecht aber zunächst in der Einsicht besteht, dass die Spannung zwischen Richtigkeit und Rechtssicherheit in der Grundrechtsdogmatik gesteuert werden muss – und zwar ohne den Gedanken der Neutralität des Staates und den entsprechenden liberalen Anspruch der Grundrechte preiszugeben.161 Aus dem Versuch, Aspekte dieser Theorien verfassungsrechtsdogmatisch fruchtbar zu machen, folgt aber nicht, dass man sich alle ihre Annahmen zu eigen machen möchte. Die Kritik an der idealen Rechtstheorie von Dworkin, die die bestmögliche richterliche Interpretation der Rechte und Pflichten, der institutionellen Geschichte und der politischen Struktur ermöglichen soll, geht zunächst insbesondere davon aus, dass sie einen einzelnen Autor hat (nämlich den Richter). Nach Habermas widerspricht dieser monologische Ansatz gerade der Idee des Rechts als Integrität. Denn der Gesichtspunkt der Integrität, unter dem der Richter das geltende Recht rekonstruiert, ist Ausdruck eines rechtsstaatlichen Konzepts, das die Rechtsprechung – wie heitseinschränkung soll demnach ein grundlegenderes subjektives Recht und nicht ein Verweis auf allgemeinen Nutzen sein. Darüber hinaus liefert aber die Theorie kaum weitere konkrete Vorgaben für die Handhabung der Dreiecksverhältnisse. 159 Auch bei aller Ablehnung einer Charakterisierung der Grundrechte als abwägungsbedürftige Prinzipien darf in der Tat nicht übersehen werden, dass die Interpretation der Grundrechte als subjektive Rechte ohne prinzipielle Überlegungen nicht auskommt. Wie Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 44 f., zutreffend beobachtet, sind für die Fragen, wie weit der Schutz eines Grundrechts reicht und wie ein Eingriff gerechtfertigt werden kann, durchaus prinzipielle Überlegungen anzustellen. 160 Richter, Anwälte oder sonstige Rechtsanwender betreiben Recht nicht nur bis zu dem Punkt, an dem der Fall schwierig wird, und treffen dann moralische oder politische Entscheidungen. Sie wechseln nicht mitten im Fall von der Rolle des Rechtsanwenders zur Rolle des Moralphilosophen oder des Politikers. Poscher, in: FS Schnapp, S. 797, 812. Vielmehr besteht die Kontroverse in einem schwierigen Fall ausschließlich darin, was das Recht für den Einzelfall besagt. 161 In der Struktur des Abwehrrechts wird versucht zu zeigen, an welche dogmatischen Elemente mit der Annahme von Offenheit und Flexibilität herangegangen wird und an welche nicht. Simultan soll dabei ebenso das Instrumentarium vorgestellt werden, das die Möglichkeit, Veränderungen der Wirklichkeit einzubringen, zugleich gezielt eröffnet und gezielt begrenzt. Hierzu und zur methodischen Problematik der Frage von Wandel und Beharrung bereits Schlink, Der Staat 19/1980, 73, 82 f.

III. Kritische Analyse und Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung

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auch der politische Gesetzgeber – dem Gründungsakt der Verfassung und der Praxis der am Verfassungsprozess beteiligten Bürger bloß entlehnt. Das Paradigma des demokratischen Rechtsstaates muss daher die ursprüngliche Idee der Selbstverfassung einer Gemeinschaft aus freien und gleichen Rechtsteilhabern wieder sichtbar machen; die Verfassung soll auf diese Weise als ehrgeiziges Projekt der Verwirklichung von Recht gesehen werden, innerhalb dessen allen betroffenen Akteuren (und nicht nur dem Richter) die Möglichkeit geboten werden muss, ihren Beitrag zum Verständnis, wie der normative Gehalt des demokratischen Rechtsstaates effektiv im Rahmen der gegebenen gesellschaftlichen Richtungen und Strukturen ausgenutzt werden kann, leisten zu können.162 Dworkins Vorschlag schätzt hingegen den Richter als eine Figur mit einer besonderen Intelligenz, um gesellschaftlich bereits eingebürgerte Prinzipien als Recht zu erklären, und als Übersetzer des Gerechten in der sozialen Praxis. Hierbei entsteht aber das Risiko eines Übergangs von „law’s empire“ zu „judge’s empire“.163 Die spezifische Ausbildung der Richterpersönlichkeit soll nicht als eine Voraussetzung für nachvollziehbare und angemessene Entscheidungen angesehen werden. Selbstverständlich ist Herkules nur ein Ideal, anhand dessen die realen Richter ihre Reflexionen und Entscheidungen einschätzen sollen.164 Doch auch als kontrafaktische Anforderung scheint die Annahme eines Herkules überflüssig zu sein. Lässt eine Entscheidung eine bestimmte relevante Praxis außer Acht, dann ist sie aufgrund der Integritätsanforderung kritisierbar – und nicht aufgrund des Mangels an übermenschlichen Fähigkeiten des Richters. Wie Günther selbst beobachtet, nähert sich sein Ansatz dem Vorschlag Dworkins beträchtlich an.165 Beide möchten die Forderungen nach Rechtssicherheit und nach rationaler Akzeptabilität dadurch erfüllen, dass die einzelnen Entscheidungen aus dem kohärenten Zusammenhang des rational rekonstruierten geltenden Rechts begründet werden. Nach Günthers Modell wird jedoch das Prinzip der Kohärenz als eine Argumentationsregel für Anwendungsdiskurse rekonstruiert. Die Teilnehmer eines Anwendungsdiskurses sind verpflichtet, eine prima facie anwendbare Norm als (Nicht-)Grund für ein singuläres Urteil zu begründen. Das Kohärenzprinzip kann daher nicht von einem Einzelnen angewendet werden, sodass sich die Idealfigur eines Herkules weitgehend als überflüssig erweist. Die Fruchtbarkeit der Überle162 Vgl. zum Ganzen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 272, 477. Die Kritik an Dworkins solipsistischer Theorie müsse darüber hinaus in Gestalt einer Theorie der juristischen Argumentation auch die Verfahrensprinzipien begründen, auf die die Bürde der bisher an Herkules gerichteten idealen Anforderungen übergehe (S. 272). Zur Wichtigkeit eines Verfahrens, in welchem zwei Parteien mit gegenläufiger Perspektive um das Ergebnis ringen, um den Übergang vom Text zur Bedeutung zu bewältigen, s. auch Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 345, Rn. 351 f: Man müsse die Rationalität der Entscheidung „aus der Einsamkeit des Richterzimmers in die Öffentlichkeit des Verfahrens versetzen“. Vgl. ferner zur Wichtigkeit des institutionellen Wechselspiels Schlink, International Journal of Constitutional Law 1.4/ 2003, 610, 619. 163 Maus, Rechtstheorie 20/1989, 191, 195. 164 Vgl. dazu Dworkin, in: Konstruktionen praktischer Vernunft, S. 153, 160. 165 Vgl. Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 190.

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

gungen von Günther im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle erfordert aber eine differenzierte Betrachtung. Obwohl es in Anwendungsdiskursen nicht um die Gültigkeit von Normen geht, ist daran festzuhalten, dass auch in den Normenkontrollverfahren die Gültigkeit der Verfassungsnormen ex definitione vorausgesetzt wird. Doch die Anforderung der Unparteilichkeit im Anwendungsdiskurs, die sich auf die Angemessenheit einer Norm in einer Situation in Rücksicht auf alle besonderen Merkmale der Anwendungssituation bezieht, kann das Verfassungsgericht dabei nur begrenzt erfüllen. Vielmehr muss es – ohne die Existenz eines konkreten Rechtsschutzbedürfnisses – die Norm in einer von einem konkreten Sachverhalt entfernten Weise in Form einer Prognose „aller“ denkbaren Konstellationen durchprüfen, um eine Entscheidung fällen zu können, obwohl es offensichtlich unmöglich ist, eine solche Prognose vollständig aufzustellen. Es hat unter den Bedingungen der Zeitknappheit und Unvollständigkeit des Wissens zu entscheiden und kann nicht alle möglichen Situationen, in denen die Norm anwendbar wäre, mit allen ihren Merkmalen (vollständige Beschreibung) vorhersehen.166 Immerhin macht Günthers Ansatz nochmals deutlich, dass nur das geltende Recht die gültigen normativen Gründe für die Rechtsanwendung liefern kann. Dies mag als Gemeinplatz erscheinen; doch eine Tendenz zum Überspielen des positiven Verfassungsrechts kann nicht nur in den Theorien von Häberle und Alexy, sondern auch in manchen Entscheidungen festgestellt werden – beispielsweise durch die Entdifferenzierung der verschiedenen Freiheitsrechte und ihrer Schrankenregelungen.167 Hinsichtlich der Theorien von Dworkin und Günther bedarf schließlich auch das Verhältnis von Recht und Moral einer Erörterung. Wenn Dworkin von Prinzipienargumenten spricht, hat er zwar in den meisten Fällen ohnehin Rechtsgrundsätze (wie etwa den Gleichheitssatz) im Auge. Seine Theorie suggeriert aber eine gewisse Subordinierung des Rechts unter die Moral und legt nahe, dass moralische Ge166 Dies sind übrigens genau die Gründe, die zur Formulierung einer „schwächeren Fassung“ des U-Begründungsprinzips und zur Unterscheidung und gegenseitigen Ergänzung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs führen. 167 Der Ansatz ermöglicht ferner grundsätzliche Fragen bezüglich der Bindungswirkung der Normenkontrollentscheidungen konsequent zu beurteilen. Da diese Entscheidungen unter den Bedingungen der Zeitknappheit und Unvollständigkeit des Wissens getroffen werden, lässt sich z. B. rechtfertigen, dass eine ihrem Wortlaut nach unveränderte Norm, deren Verfassungsmäßigkeit vom BVerfG bestätigt wurde, erneut vorgelegt werden kann, wenn die erneute Vorlage auf tatsächlichen oder rechtlichen Änderungen basiert, die sich seit der ersten Normprüfungsentscheidung ergeben haben. Vgl. dazu Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, S. 266 f., Rn. 481; BVerfGE 39, 169 (181 f.) (Hinterbliebenenrente); 78, 38 (48) (Gemeinsamer Familienname); 84, 348 (358) (Zweifamilienhaus). Zur Frage, ob eine verworfene Norm vom Gesetzgeber erneut aufgegriffen werden kann, s. zustimmend Schlaich/ Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, S. 268 f., Rn. 483 f.; BVerfGE 77, 84 (103 f.) (Arbeitnehmerüberlassung); 96, 260 (263) (Normwiederholung); 102, 127 (141 f.) (Lohnersatzleistungen); ablehnend BVerfGE 69, 112 (115); 1, 14 (37) (Südweststaat). Vor dem Hintergrund des Ansatzes Günthers lässt sich ebenfalls die Einführung einer abstrakten Normenkontrolle zur Erklärung der Verfassungsmäßigkeit in die brasilianische Verfassungsordnung problematisieren. Vgl. diesbezüglich und kritisch Benvindo, On the Limits of Constitutional Adjudication, S. 98 ff.; Oliveira, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 38 f., 45 f.

III. Kritische Analyse und Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung

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sichtspunkte, auch wenn sie in Gesetzestexten keinen Anhaltspunkt finden, dem Rechtsbegriff immanent sind und die richterliche Entscheidungsarbeit steuern sollen. Günther seinerseits hält die von Dworkin hergestellte Brücke zwischen moralischen Argumenten und Entscheidungen über Rechtsnormen sowie seine Argumentation, dass der Richter implizierte Normen entdeckt, deswegen für konsequent, weil Rechte im Kern moralischer Natur, also positivierender Veränderung unzugänglich seien.168 Hier gilt es daher die Sonderfallthese zu problematisieren, und zwar nicht nur den Ansatz von Dworkin, sondern auch die von Alexy vorgeschlagene juristische Argumentation als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses und die von Günther präzisierte juristische Argumentation als Sonderfall des moralischen Anwendungsdiskurses. Kernaussage der Sonderfallthese ist, dass Recht und Moral in der Rechtsprechung nicht getrennt werden können. Die moralischen Prinzipien haben aber im Vergleich zu Rechtsnormen erheblich größere Unbestimmtheit und eine Auszeichnungsfähigkeit fehlt ihnen. Die Moral, die zum letzten Maßstab für die Richtigkeit der Interpretation169 erhoben würde und die daher die Interpretation des Richters leiten sollte, wäre aber Produkt seiner eigenen Interpretation. Das Gericht könnte dann seine eigenen moralischen Gesichtspunkte als Rechtsnormen behandeln. Wie Maus hervorhebt, kann ferner die Einbeziehung der Moral in das Recht die Rechtsprechung gegen die Kritik immunisieren, die dem Anspruch nach zugänglich gemacht werden sollte. Die Justiz hätte stets einen Rechtsbegriff auf ihrer Seite, der durch ihre eigenen moralischen Erwägungen erweitert werden könnte. Sie könnte weiterhin ein moralisch angereichertes „höheres“ Recht gegenüber den lediglich mit einfachem Recht befassten übrigen Staatsgewalten verwalten.170 Der Rechtsprechung fällt aber eine Moralverwaltung nicht zu. Die Behandlung der juristischen Argumentation als einen Sonderfall der moralischen Argumentation läuft in diesem Sinne letztlich darauf hinaus, ein Hehl aus dem zu machen, was man doch eigentlich vermeiden wollte: den richterlichen Dezisionismus. Auch deswegen tragen die Thesen des juristischen Diskurses als Sonderfall des moralischen Diskurses dem komplexen Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgebung nicht ausreichend Rechnung. Die demokratischen Geneseverfahren und nicht moralische Begründungen durch die Justiz bilden die wesentliche Legitimationsquelle des Rechts. Die Theorien von Dworkin und Günther verlangen zwar ein deontologisches Verständnis juristischer Geltungsansprüche; sie halten jedoch, wie auch Alexy, die Moralisierung des Rechts für das entscheidende Moment der Überwindung des Positivismus. In der Tat handelt es sich aber um einen Rückfall in die vom Positivismus überwundenen Positionen.171 In diesem Sinne warnt Habermas davor, dass die in der einen oder anderen Version vertretene Sonderfallthese eine 168

Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 350 f. Die beste Interpretation könne letztlich nur „from the standpoint of political morality“ aus unternommen werden. s. Dworkin, Law’s Empire, S. 256. 170 Maus, in: Sturz der Götter?, S. 121, 124. Vgl. auch dies., Rechtstheorie 20/1989, 191, 195. 171 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 262, Rn. 255. 169

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G. Alternative Ansätze gegenüber dem Abwägungsmodell

irreführende, weil von Konnotationen des Naturrechts noch nicht gänzlich befreite Subordinierung des Rechts unter die Moral suggeriert.172 Nicht, dass Rechte und Moral gemeinsame Konzepte nicht teilen würden. Einem Verständnis ihrer Beziehung, das die Trennungsthese in Frage stellt, soll allerdings nicht gefolgt werden. Greift das Recht auf moralische Grundsätze oder auch auf politische Zielsetzungen zu, werden sie dabei notwendigerweise in den Rechtskode übersetzt und mit einem anderen Geltungsmodus ausgestattet. Wenn Konzepte wie Gleichheit, Freiheit und Würde in das Recht eingebracht werden, sind sie nämlich zu spezifisch rechtlichen Konzeptionen ausgeformt, die die spezifisch rechtlichen Traditionen, Argumentationsformen und institutionellen Rahmenbedingungen des Rechts berücksichtigen.173 Gleiches gilt für moralische Gründe, die über das demokratische Verfahren der Gesetzgebung ins Recht eingehen. Eine mögliche Überlappung der Inhalte ändert nichts an jener Differenzierung, die auf dem postkonventionellen Begründungsniveau und unter Bedingungen des modernen Weltanschauungspluralismus unwiderruflich eingetreten ist.174 Juristische Diskurse bilden also keine speziellen Fälle von moralischen Argumentationen, sondern sind rechtlich institutionalisiert und von Haus aus auf das demokratisch gesetzte Recht und auf die Reflexionsarbeit der Rechtsdogmatik bezogen.

172

Habermas, Faktizität und Geltung, S. 286. Poscher, in: FS Schnapp, S. 797, 803, 806. 174 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 253. Vgl. ferner Kirste, in: Anuário dos Cursos de Pós-Graduação em Direito, S. 111, 134 ff. 173

H. Grundzüge einer zum Abwägungsdenken alternativen Grundrechtsdogmatik Dass die Grundrechte gemäß Wortlaut, Genese und Tradition grundsätzlich als Schutz der Freiheitssphäre des Einzelnen vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen, d. h. als Abwehrrechte ausgestaltet sind, ist kaum zu bestreiten.1 Trotzdem sind sie nicht auf atomistische und entfremdete Individuen bezogen, die sich possessiv gegeneinander versteifen. Als Elemente der Rechtsordnung setzen sie vielmehr Subjekte voraus, die sich in ihren reziprok aufeinander bezogenen Rechten und Pflichten als freie und gleiche Bürger anerkennen. Ein liberales Grundrechtsverständnis muss sich in diesem Sinne keinesfalls der Einsicht verweigern, dass Freiheit nur in gesellschaftlichen Zusammenhängen und dank staatlicher Vorkehrungen besteht und dass der individuellen Freiheit Grenzen gesetzt werden müssen. Es stellt aber auf der Rechtfertigungsebene gewisse Anforderungen, die nach dem hier zu entwickelnden Ansatz einen deontologischen Charakter haben und ein Gebot der staatlichen Neutralität gegenüber widerstreitenden Konzeptionen der richtigen Lebensweise zur Geltung bringen (I.). Ausgehend von diesen Prämissen und von der bisher gewonnenen Erkenntnis, dass das Abwehrrecht leistungsfähiger sein kann, als der Ruf nach objektiv-rechtlichen Gehalten erkennen lässt, wird im Folgenden grundsätzlich auf die Strukturen des Abwehrrechts zurückgegriffen. Die Aufgabe besteht somit nicht darin, eine neue abwehrrechtliche Dogmatik zu erzeugen, sondern vielmehr die bereits vorhandenen abwehrrechtlichen Elemente ernst zu nehmen und so zu entfalten, dass dem Trend ihrer Entdifferenzierung durch das Abwägungselement entgegengewirkt werden kann. Soweit in Bezug auf die herrschende Dogmatik keine Abweichung bzw. Neuakzentuierung besteht, werden die Kategorien nur erwähnt bzw. kurz behandelt, sodass sich die Darlegung auf die Fortentwicklung konzentriert. Hierbei wird auch versucht, die Spannung zwischen Wandel und Beharrung bzw. zwischen Richtigkeit und Rechtssicherheit innerhalb der Abwehrrechtsdogmatik zu thematisieren und damit Elemente aufzuzeigen, welche die Möglichkeit, Anpassungen an die Wirklichkeit einzubringen, zugleich gezielt eröffnen und gezielt begrenzen.

1 Vgl. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 465. s. auch ders., Osaka University Law Review 1992, 41, 53 f.; Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1537; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte. Auch für das BVerfG sind die Grundrechte „ohne Zweifel (…) in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“. BVerfGE 7, 198 (204) (Lüth). s. ferner BVerfGE 61, 82 (100 f.) (Sasbach).

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

Das darzustellende Lösungskonzept geht weiter insbesondere davon aus, dass die sachlich-normative Verschiedenheit der Einzelgrundrechte die Bildung materialallgemeiner Grundrechtsbegrenzungsmodelle nicht zulässt.2 Die verfassungsrechtlich garantierten Schutzbereiche sind zu verschieden, ihre formelle Ausgestaltung durch das GG zu differenziert, als dass in einem solchen allgemeinen Begrenzungsansatz rechtsstaatlich und normativ eine genügend gestützte Lösung zu finden wäre. Entsprechend stellt der hier vorgeschlagene Entwurf kein abgeschlossenes System dar und löst auch nicht spezifische Probleme der Dogmatik der Einzelgrundrechte. Er verzichtet gerade darauf, Pauschalformeln oder Obersätze anzugeben, unter denen angeblich subsumiert werden könnte.3 Stattdessen bietet er eine Grundlage, um die Anwendung und die Dogmatik der Einzelgrundrechte zu erörtern, zeigt, wonach zu fragen ist, und besteht dabei darauf, dass im Einzelnen diskutiert werden soll, welche fragmentarischen positiven Freiheitsvorstellungen und grundrechtsspezifischen Vorgaben gelten können, wo die Grenzen der einzelnen Schutzbereiche verlaufen, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz jeweils auszuformen ist, usw. Der Ansatz liefert damit Anhaltspunkte einer sich an die positive Normierung4 bindenden Grundrechtsdogmatik, die für jede Freiheitsgarantie gesondert auszuarbeiten ist, sodass die Aufarbeitung jedes Grundrechts in Auslegung, Konkretisierung und Dogmatik zwar strukturiert, aber keineswegs erübrigt wird. Erhebt aber das hier vorgeschlagene Verfahren bewusst nicht den Anspruch, ein durchgängiges Rezept für alle Problembehandlungen anzubieten, so erhofft es doch, der Tendenz zur Einebnung aller dogmatischen Strukturen und Unterscheidungen durch die Einzelfallabwägung entgegenzutreten und eine größere Orientierungsleistung als das Abwägungsmodell zu bieten. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass das besondere Augenmerk des gesamten Ansatzes auf die Notwendigkeit einer differenzierten Dogmatik der einzelnen Grundrechte gerichtet sein wird. Die Differenzierungen reichen von der Herausarbeitung der verschiedenen Schutzbereiche (II.), d. h. Sachbereiche und Normprogramme, über die Abstufung der Gesetzesvorbehalte (III.1.) und die Ausformung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (III.2.) bis hin zur Bestimmung des Wesensgehalts (III.3.). Im Rahmen der Entfaltung des Ansatzes wird auch zu zeigen sein, dass ein 2 Bereits Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 3. Vgl. auch Schlink, EuGRZ 1984, 457, 460 f. 3 Im Grunde genommen wendet sich die Untersuchung gerade gegen solche ehrgeizigen Versuche, die eigentlich dazu beitragen, die Vorannahmen des Richters bei dem Rechtsinterpretationsvorgang zu verdecken. 4 Die hier skizzierte Alternative soll der Anwendung einer geltenden Verfassung dienen und nicht zur Überformung des geltenden Verfassungsrechts durch eine überpositive Verfassungstheorie führen. Das Bewusstsein, dass die Verfassungsauslegung ohne Rückgriff auf verfassungstheoretische Annahmen nicht auskommt (s. o. B.), steht der Entwicklung einer grundgesetzgemäßen Grundrechtsdogmatik keineswegs entgegen. Der entwickelte Entwurf ist insoweit auf den Grundrechtskatalog des GG zugeschnitten. Zahlreiche Aspekte dieses Ansatzes können allerdings z. B. auch im brasilianischen Verfassungsrecht Anwendung finden. Einzelne Überlegungen zu einer Übertragbarkeit müssen aber hier ausgeklammert bleiben.

I. Grundrechtsverständnis, Neutralitätsgebot, Freiheitsvorstellungen

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liberaler Ansatz der Verfassungsinterpretation, dem zufolge die Verfassung dem staatlichen Handeln – auch den staatlichen Regelungen von Dreiecksverhältnissen (IV.1.) – in Form individueller Rechte Grenzen setzt, hinsichtlich einer Verpflichtung auf die Realisierung politischer Zielsetzungen aber Zurückhaltung übt (IV.2.), nach wie vor seine Berechtigung besitzt.

I. Liberales und deontologisches Grundrechtsverständnis, Neutralitätsgebot und positive Freiheitsvorstellungen Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch eine Pluralisierung der Weltanschauungen und Lebensformen aus. Der demokratische Verfassungsstaat reagiert auf diesen ethischen Pluralismus, indem Fragen von Weltanschauung, Religion und Lebensführung in die individuellen Freiheiten entlassen werden, während sich der Staat auf die Regelung des gerechten Zusammenlebens beschränkt.5 Staatliche Begrenzungen der grundrechtlichen Freiheit können dabei nicht darauf beruhen, dass eine weltanschauliche Auffassung intrinsisch falsch und eine bestimmte Lebensführung per se verfehlt sei; vielmehr sind sie nur zulässig, um das freie und gleichberechtigte Zusammenleben der unterschiedlichen Überzeugungen und Lebensformen zu ermöglichen.6 Die verfassungsstaatlichen Ordnungen, die subjektive Freiheitsrechte garantieren, enthalten somit zugleich eine Unterscheidung: Einerseits gibt es Normen, die dem Schutz und der friedlichen Koexistenz der verschiedenen Lebensweisen dienen und die daher für alle Bürger verbindlich sein müssen; und auf der anderen Seite stehen die Vorstellungen der Bürger, wie die Freiheit, die die Rahmenordnung des Rechten gewährleisten, zu nutzen ist. Dem entspricht eine wesentliche Grundlage des politischen Liberalismus: die Differenzierung zwischen dem Rechten und dem Guten sowie der Gedanke eines relativen Vorrangs des

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Unter den Bedingungen eines nachmetaphysischen Weltverständnisses und angesichts des Faktums des Pluralismus kann in der Tat das jederzeit abänderbare Zwangsrecht seine sozialintegrative Kraft nur dadurch bewahren, dass es im Ganzen aus einem demokratischen Verfahren hervorgeht, das jedem gleiche subjektive Freiheiten gewährleistet (s. o. B.IV.2.). 6 Hierzu und zum Folgenden Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 10 f., 105 ff. Grundlegend zur Unzulässigkeit der Berufung auf externe Präferenzen, d. h. auf Vorstellungen davon, wie andere Menschen ihr Leben führen sollen, um Grundrechtseinschränkungen zu rechtfertigen, Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 381 ff., 443 ff. Auch im klassischen liberalen Grundsatz von Mill, Über die Freiheit, S. 16 f., kommt diese Überlegung anschaulich zum Ausdruck: „Man kann einen Menschen nicht rechtmäßig zwingen, etwas zu tun oder zu lassen, weil dies besser für ihn wäre, weil es ihn glücklicher machen, weil er nach Meinung anderer klug oder sogar richtig handeln würde. Dies sind wohl gute Gründe, ihm Vorhaltungen zu machen, mit ihm zu rechten, ihn zu überreden oder mit ihm zu unterhandeln, aber keinesfalls um ihn zu zwingen oder ihn mit Unannehmlichkeiten zu bedrohen, wenn er anders handelt. Um das zu rechtfertigen, müsste das Verhalten, wovon man ihn abbringen will, darauf berechnet sein, anderen Schaden zu bringen.“

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

Rechten vor dem Guten.7 Eine Konsequenz dieser Überlegung ist genau die Gewährleistung individueller Rechte in der Verfassungsordnung, die „Trümpfe“ des Einzelnen gegenüber Erwägungen des gesellschaftlichen Gesamtnutzens und kollektiven Zumutungen darstellen. Ein individueller Anspruch auf gleiche Freiheit setzt in diesem Sinne voraus, dass das Ob und Wie des Grundrechtsschutzes nicht davon abhängen darf, ob die Freiheitsausübung als solche von der jeweiligen Mehrheit geschätzt oder missbilligt wird.8 Indem die Grundrechte auch den Gesetzgeber binden, besteht in der Tat eine ihrer primären Funktionen gerade darin, ein „Schwellengewicht“ zugunsten des Einzelnen zu bilden, der von den Mehrheitsentscheidungen nachteilig betroffen sein kann. Sie sind aber nur dann als Instrumente der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Politik geeignet, wenn sie Grenzen für die Verfolgung politischer Zwecke darstellen und nicht selbst als zu optimierende Zwecke oder Güter begriffen werden. Der liberale Anspruch der Grundrechte und die Unterscheidung zwischen dem Rechten und dem Guten implizieren in diesem Sinne auch die weitere, bereits erläuterte Differenzierung zwischen deontologischer und axiologischer Ebene und ihrer Argumentationslogiken. Während Rechtsnormen einen deontologischen Sollensanspruch erheben, sind die Werte in teleologischer Weise auf ihre mehr oder weniger weitgehende Verwirklichung bezogen.9 Die Grundrechte sind als Rechtsnormen nach dem Modell verpflichtender Handlungsnormen geformt – und nicht nach dem Modell attraktiver Güter. Sie beanspruchen allgemeine Verbindlichkeit und nicht nur eine spezielle Vorzugswürdigkeit ad hoc.10 Die dogmatischen Elemente des Abwehrrechts haben daher einen deontologischen Geltungssinn und sollen nach einer binären Codierung operieren. Ein Ver7

Vgl. etwa Rawls, in: Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, S. 153 ff.; Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 10 f., 105 ff.; ders., Rechte und Ziele, S. 94 ff. s. ferner o. F.II.1. Auch Dworkins Differenzierung zwischen Zielsetzungs- und Prinzipienargumenten (s. o. G.II.1.) ist auf diese Grundunterscheidung zurückzuführen. Sie beruht auf der normativen Überlegung, dass das Rechte – die Gerechtigkeitsprinzipien – vor dem Guten – der Verwirklichung von Zwecken – in einem bestimmten Sinne vorrangig ist. Die Zweckverwirklichung muss sich nämlich im Rahmen der Gerechtigkeitsnormen halten. In den Worten von Rawls (ebd., S. 153): „die Gerechtigkeit zieht die Grenze, das Gute setzt das Ziel“. 8 Vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 650, 652. s. auch Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 319, 439. Vgl. ferner Schlink, Der Staat 19/1980, 73, 85 f., in Auseinandersetzung mit konsensualistischen Ansätzen: „Soll der liberale Anspruch der Grundrechte nicht preisgegeben werden und sollen jenseits eines von Grundwerten getragenen Grundkonsenses nicht die Feinderklärungen beginnen, dann muss es bei den Grundrechten auch um die Freiheit und den Schutz von Positionen gehen, die gerade nicht durch Konsens getragen und gedeckt, die vielleicht sogar gegen Konsens gerichtet sind“. 9 Vgl. o. F.II.1.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 311 ff. 10 Die Umwandlung von grundrechtlichen Anforderungen zu Zielverwirklichungsgeboten verändert hingegen das Verhältnis von politischer Gestaltung und verfassungsgerichtlicher Kontrolle auf problematische Weise und wird zugleich jener „Brandmauer“ nicht gerecht, die mit einem deontologischen Verständnis der Rechtsnormen in den juristischen Diskurs eingezogen wird. s. dazu o. F.II.3. und F.IV.2.

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halten ist entweder von einem Spezialgrundrecht geschützt oder es ist es nicht; ein Zweck ist entweder legitim oder er ist es nicht; ein Mittel ist entweder verhältnismäßig oder es ist es nicht; die weiteren Rechtfertigungsanforderungen sind entweder erfüllt oder sie sind es nicht usw. Dass diese Elemente für einen Anwendungsdiskurs geöffnet und nicht einfach als Obersätze, unter die subsumiert werden könnte, zu verstehen sind, ändert nichts an der Argumentationslogik. Die Anerkennung der prinzipiellen Dimension des Rechts darf nicht zu einer Entdifferenzierung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung führen. Der Code einer wahrheitsanalogen Unterscheidung von „richtigen“ und „falschen“ Geboten bzw. von Gesolltem und Nichtgesolltem und die entsprechende Unbedingtheit des deontologischen Geltungsanspruchs der Normen bleibt davon unberührt.11 Es handelt sich immer um Fragen eines Entweder/Oder, nicht eines Mehr/Weniger. Aus der Tatsache, dass die Abwehrrechte meistens die Regelungen von Konflikten nicht positiv determinieren,12 folgt also nicht, dass sie entstellt werden können. Eine Rechtsnorm findet nicht zu 80 oder 50 Prozent Anwendung. Sie kann nie „teilweise“ angewendet werden, sondern stets zur Gänze, unter Strafe der Zurückweisung der Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Gesetzgebung. Von einer graduellen Normenanwendung im Sinne eines Optimierungsgebots, die den Schritt aus einer Angemessenheitsargumentation in den Begründungsdiskurs impliziert, gilt es daher Abschied zu nehmen. Die Fragen, ob der Grundrechtsgebrauch mehr oder weniger wertvoll ist, ob der Zweck den Einsatz des Mittels wert ist oder nicht bzw. wie wertvoll das bezweckte Rechtsgut ist, haben in dem hier eingeschlagenen Weg keinen Platz. Das Recht tritt seinen Adressaten mit einem Geltungsanspruch gegenüber, der eine Gewichtung von Rechten nach dem Modell der Abwägung von vorrangigen oder nachgeordneten Rechtsgütern ausschließt. In Kürze: Die abwehrrechtlichen Anforderungen können nicht optimiert werden; sie sind entweder beachtet oder verletzt worden – tertium non datur. Indem die Verfassungen gleiche Freiheit garantieren und die Fragen der Lebensgestaltung grundsätzlich der individuellen Selbstbestimmung der Bürger überlassen, enthalten sie weiter ein Gebot der staatlichen Neutralität gegenüber widerstreitenden Konzeptionen der richtigen Lebensweise.13 Der prinzipielle Vor11 s. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 368 f. Wenn hingegen die vom Gericht zur Rechtfertigung eines Urteils herangezogenen Normen als Werte begriffen werden, ist das Urteil selbst ein Werturteil, das gar nicht mehr auf die Alternative bezogen ist, ob die gefällte Entscheidung richtig oder falsch ist. Vgl. dazu auch Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 455. 12 Was die Abwehrrechte gewährleisten, ist, wie im Folgenden behandelt wird, nicht die negative Freiheit, sondern „nur“ der Schutz vor nicht gerechtfertigten Eingriffen. Sie stellen nach Poscher (G.I.4.) „nur“ Anforderungen an die staatlichen Regelungen von Konflikten dar bzw. sind nach Dworkin (G.II.1.) individuelle Trümpfe, die gegen eine ungerechtfertigte Politik ausgespielt werden können. 13 Zur Begründung des Neutralitätsgebots aus dem Grundrecht auf gleiche Rücksicht und Achtung Dworkin, A Matter of Principle, S. 191 ff. (s. o. G.II.1.). Zur Begründung durch eine Verbindung zwischen dem liberalen Legitimitätsprinzip, dem politischen Skeptizismus und der

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rang des Rechten vor dem Guten prägt in diesem Sinne die demokratischen Verfassungsstaaten ebenfalls dadurch, dass sie sich nicht mehr mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung identifizieren, sondern tendenziell die politische Ordnung von ethischen Überzeugungen und religiös-weltanschaulichen Wahrheitsansprüchen entkoppeln. Fragen der Lebensführung werden dabei, wie bereits ausgeführt, in die individuelle Freiheit entlassen, und die verfassungsrechtlich positivierten Freiheitsrechte gewährleisten dem Einzelnen das Recht, in solchen Fragen seinen eigenen Entscheidungen zu folgen und sein Leben nach den eigenen Wertüberzeugungen zu führen. Der Staat seinerseits soll sich gegenüber den unterschiedlichen individuellen Präferenzen neutral verhalten und darf seine Maßnahmen nicht unter Hinweis auf partikulare ethische Überzeugungen bzw. deren intrinsische Bewertung rechtfertigen.14 Hervorzuheben ist allerdings, dass dieses Gebot nur die Neutralität der Begründung, nicht aber die der Auswirkungen, d. h. der mittelbaren und unbeabsichtigten Wirkungen, staatlichen Handelns auf die verschiedenen Konzeptionen des Guten verlangt.15 Staatliche Maßnahmen, die nicht von einer inGleichheitsforderung Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 85 ff., 633 f. Staatliche Maßnahmen müssten gegenüber jedermann prinzipiell rechtfertigungsfähig sein. Unter Bedingungen des Pluralismus der modernen Gesellschaften sei es aber nicht mehr möglich, eine bestimmte umfassende Konzeption des Guten als Grundlage einer derartigen Rechtfertigung überzeugend darzustellen. Wolle der Staat den grundlegenden Anspruch seiner Bürger auf gleiche Achtung respektieren, müsse er für sein Handeln auf partikulare religiös-weltanschauliche und ethische Begründungen verzichten. 14 Es versteht sich, dass staatliche Neutralität von vornherein nur eine selektive Neutralität ist. Aus dem Neutralitätsgebot ergibt sich nicht nur, dass sich der Staat gegenüber unterschiedlichen Vorstellungen des Guten neutral verhalten muss, sondern auch, dass gegenüber den Grundsätzen des Rechten gerade keine neutrale Haltung des Staates zulässig ist. Denn jeder Einzelne besitzt zwar die Freiheit, seine Konzeption des Guten zu verfolgen; aber diese Freiheit findet ihre Grenze, wenn sie die gleiche Freiheit des Anderen berührt. Die Konzeptionen des Guten müssen daher mit den Grundprinzipien einer liberalen Ordnung mindestens insofern vereinbar sein, dass ihre Anhänger diese Prinzipien in ihrem Verhalten achten können. Vgl. dazu Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 113 ff., 121 ff. s. auch Rawls, in: Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, S. 153, 164, 166 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 642 f., 659. Es kann zwar bisweilen umstritten sein, wo die Grenze zwischen dem Guten und dem Rechten verläuft oder was die Prinzipien des Rechten im konkreten Fall verlangen. Dies rechtfertigt aber nicht, die Unterscheidung preiszugeben. Man kann zwar der Meinung sein, dass sich diese Differenzierung letztlich nicht durchhalten lässt; dann muss aber mindestens eine andere Unterscheidung vorgeschlagen werden, die die Selektivität der staatlichen Neutralitätspflicht im Verfassungsrecht erklärt. Ein alternatives Erklärungsmodell ist allerdings – soweit ersichtlich – nicht vorhanden. 15 Vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 98 ff., 641 ff. Ein umfassendes Ideal der Wirkungsneutralität ist weder realisierbar noch normativ attraktiv. Nahezu jede Rechtsnorm wirkt sich in irgendeiner Weise auf die verschiedenen Lebensformen unterschiedlich aus. Insbesondere die mittelbaren Auswirkungen des staatlichen Handelns sind oft kaum vorhersehbar. Wollte man vorherzusehen versuchen, welche Folgen die verschiedenen denkbaren Ausgestaltungen des politischen Systems, der kulturellen Institutionen oder der Wirtschaftsordnung für die unterschiedlichen ethischen Lebensformen letztlich mit sich bringen, müsste man in Spekulationen verfallen, die bei weitem das Steuerungspotential des Verfassungsrechts sprengen. Dazu kommt, dass die Bürger und sozialen Gruppen selbst dafür verantwortlich sind,

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trinsischen Bewertung abhängen, sondern auf politisch-funktionale Gründe zurückgehen, berühren daher die Neutralitätsforderung nicht. Mit anderen Worten: Entscheidend ist nicht, ob sich eine Maßnahme auf die unterschiedlichen Lebensformen und Überzeugungen unterschiedlich auswirkt, sondern aus welchen Gründen dies geschieht. Wird nun diese Einsicht grundrechtsdogmatisch reformuliert, bringt sie für die Dogmatik des Abwehrrechts zunächst zwei grundlegende Folgerungen mit sich.16 Auf einer ersten Ebene beeinflusst die Forderung nach ethischer Neutralität des Staates die Bestimmung der Schutzbereiche der Grundrechte. Sie schlägt sich namentlich in der Ablehnung einer umfassenden sittlichen Interpretation des Schutzbereichs nieder. Die Abwehrrechte schützen hinsichtlich ihrer spezifischen Sachbereiche und Normprogramme eine prima facie negative Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will. Sie enthalten keine generelle Vorgabe für den richtigen Freiheitsgebrauch bzw. für eine Bewertung von bestimmten Verhaltensweisen als intrinsisch falsch oder unwürdig.17 Mit dieser Vorstellung ist die mit der Werttheorie der Grundrechte häufig verbundene Tendenz zu einer inhaltlichen Definition des „richtigen“, „wertvollen“ oder „guten“ Freiheitsgebrauchs nicht vereinbar.18 Ein präformiertes Grundrechtsverständnis kann in der Tat zu einer Inpflichtnahme des Einzelnen und seiner Freiheit aufgrund ethischer Wertungen führen und sowohl die Gesetzesvorbehalte als auch den liberalen Anspruch der Grundrechte unterlaufen. Vorstellungen zum sittlichen Gebrauch einer Freiheit können so außerdem auf der Ebene der Verfassung zementiert und der gesellschaftlichen Selbstorganisation und dem politischen Prozess entzogen werden. Die Neutralitätsforderung lässt es daher nicht zu, dass der Schutzbereich der Freiheitsrechte unter Berufung auf partikulare ethische Erwägungen interpretatorisch verkürzt wird. Vielmehr sind die Begriffe, die den grundrechtlichen Schutzbereich umschreiben, „nach neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten zu interpretieren“.19 Diese Anforderung garantiert, dass der Freiheitsschutz nicht ihre Lebensform unter Einhaltung der Grundsätze des Rechten zu gestalten. Die Erhaltung und Entwicklung bestimmter Lebensformen bleibt grundsätzlich dem gesellschaftlichen Wettbewerb der ethischen Überzeugungen überlassen. So auch Rawls, in: Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, S. 153, 164 ff., der von Zielneutralität spricht und nachdrücklich betont, dass diese nicht mit Neutralität im Hinblick auf Auswirkungen oder Einflüsse verwechselt werden darf. 16 s. zum Folgenden Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 106 ff., 653 ff. 17 Davon zu unterscheiden ist sowohl die Problematik der Spuren positiver Freiheitsvorstellungen in der konkreten Ausgestaltung einzelner Grundrechte als auch die Frage, welchen Bereich des menschlichen Handelns jedes Spezialgrundrecht schützt. Insoweit ist eine Bestimmung unausweichlich. 18 Kritisch zu der Neigung zu einer Grundrechtsgebrauchsbewertung in der früheren Rspr. des BVerfG bereits Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 17 ff. Ablehnend gegenüber einer umfassenden Anbindung des Abwehrrechts an positive Freiheitsvorstellungen durch ein sittliches Verständnis der einzelnen Schutzbereiche auch etwa Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 47 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 126 (m. w. N.). 19 BVerfGE 24, 236 (247 f.) (Aktion Rumpelkammer).

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a priori auf einen bestimmten, „richtigen“ Freiheitsgebrauch verengt wird, sondern dass die Grundrechte zwar tatbestandlich und sachlich umgrenzte, innerhalb dieses Bereichs aber unbestimmte und in diesem Sinne negative Freiheit vor ungerechtfertigten Eingriffen schützen. Ist das Gebot der neutralen Interpretation des Schutzbereichs inzwischen weitgehend anerkannt, wird eine weitere grundlegende Folgerung nicht immer mit der gleichen Deutlichkeit formuliert: Auch die gesetzliche Beschränkung grundrechtlich geschützter Positionen darf nicht auf partikulare ethische Überzeugungen gegründet werden.20 Aus dem Neutralitätsgebot folgt somit ebenso eine Begrenzung hinsichtlich der Rechtfertigungsanforderungen, d. h. hinsichtlich der Gründe, die Grundrechtseingriffe rechtfertigen können. Sie dürfen nämlich nicht auf Gesichtspunkten einer intrinsischen Bewertung des Freiheitsgebrauchs beruhen.21 Obwohl dieser Gedanke an sich kein etabliertes Element der abwehrrechtlichen Dogmatik ist, lässt er sich problemlos in die Prüfung der Zwecklegitimität im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes thematisieren und wird eigentlich in der Sache bereits vielfach herangezogen.22 Insbesondere konvergiert er mit dem allgemeinen Zweckverbot, dem zufolge der Eingriff nicht Selbstzweck sein darf. Zum Ausdruck kommt hier genau die Vorstellung einer in ihren Lebensgestaltungsentscheidungen freien Person, auf die der Staat nicht paternalistisch zugreifen darf, nur weil er ein Verhalten für verbotswürdig erachtet.23 Auch aus diesem Grund stehen die Grundrechte nicht unter einem pauschalen Vorbehalt von Großformeln wie Friedlichkeit, (Straf-)Rechtswidrigkeit, Missbrauch, Allgemeinverträglichkeit, neminem laedere, Sozialschädlichkeit o. Ä. Solche pauschalen Vorbehalte werden dem Charakter des Abwehrrechts als Trümpfe nicht gerecht. Kein Eingriff in Grundrechte darf auf der Annahme basieren, dass eine bestimmte Lebensform oder Weltanschauung intrinsisch besser oder schlechter sei als eine andere. Eine solche Beschränkung wäre ungerechtfertigt, weil sie einen unzulässigen Zweck verfolgt und insofern auf falschen Gründen beruht. Hierzu ist noch anzumerken, dass diese Forderung – wie alle Elemente des Abwehrrechts – nicht als Aspekt oder Ergebnis einer Abwägung zu verstehen ist. Vielmehr hat auch sie einen binär codierten Verpflichtungscharakter: 20

Grundrechtseingriffe müssen ebenso „auf neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten beruhen“. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 653, im Anschluss an BVerfGE 24, 236 (247 f.) (Aktion Rumpelkammer). 21 Die allgemeine These, dass die Funktion individueller Rechte darin besteht, nicht-neutrale Freiheitsbeschränkungen abzuwehren, entwickelt Dworkin, A Matter of Principle, S. 196 ff. Zur Unzulässigkeit der Berufung auf externe Präferenzen, um Grundrechtseinschränkungen zu rechtfertigen, s. ferner ders., Bürgerrechte ernstgenommen, S. 381 ff., 443 ff.; Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 109 ff. 22 Vgl. etwa die Ausführungen des BVerfG zur Normierung des Ehe- und Familienrechts sowie zum Eheverbot in BVerfGE 10, 59 (85) (Elterliche Gewalt) bzw. 36, 146 (163) (Eheverbot der Geschlechtsgemeinschaft). 23 s. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 129; Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 450.

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Die Begründung ist entweder neutral oder sie ist es nicht; ihre Neutralität kann nicht optimiert werden.24 Unerheblich ist insoweit die Intensität des Eingriffs.25 Die Neutralitätsforderung ist als Gebot der Begründungsneutralität einer relativierenden Abwägung mit anderen Rechtsgütern nicht zugänglich. Staatliche Parteinahmen zugunsten bestimmter Vorstellungen des Guten sind schlechthin unzulässig. Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass das negative Freiheitsverständnis für das Abwehrrecht konstitutiv ist. Es ist eine Bedingung der Möglichkeit der individuellen Selbstbestimmung und der gesellschaftlichen Selbstorganisation. Denn die negative Freiheit, die durch die Grundrechte prinzipiell geschützt wird, ist nicht die „wahre“ Freiheit, sondern nur eine politische Konstruktion, mit deren Hilfe der individuellen Autonomie und gerade dadurch der positiven Freiheit (d. h. der Aktualisierung grundrechtlicher Gehalte durch den Einzelnen) die größtmögliche Entfaltung ermöglicht wird.26 Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich das Abwehrrecht auf einen negativen Freiheitsbegriff reduzieren lässt. Im dogmatischen System des Abwehrrechts hat die negative Freiheit zwar eine strukturbildende Bedeutung; sie ist aber, wie bereits oben gezeigt wurde, nur ein dogmatischer Begriff.27 Sie wird nämlich durch die dogmatischen Elemente des Schutzbereichs und des Eingriffs geformt und hat die fundamentale Funktion, das Abwehrrecht für alle staatlichen Maßnahmen zu aktivieren, die den jeweiligen Freiheitsgegenstand beeinträchtigen. Der negative Freiheitsbegriff sorgt daher als rechtstechnisches Element insbesondere dafür, dass alle Eingriffe den abwehrrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen unterstellt werden. Er ist jedoch nur ein Ausschnitt dieses Systems. Das Abwehrrecht garantiert nicht die negative Freiheit selbst, sondern „nur“ den Schutz vor nicht gerechtfertigten Eingriffen. Es zielt mit anderen Worten auf Freiheit vor nicht gerechtfertigten staatlichen Beschränkungen. Das, was die Grundrechte an effektiver Freiheit garantieren, geht erst aus der Rechtsordnung insgesamt hervor, wobei die Grundrechte zugleich den Regelungsprozess steuern, in 24 Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 660, der freilich das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Gebot der Begründungsneutralität als zwei eigenständige SchrankenSchranken behandelt. 25 So kommt es beispielsweise bei der einseitigen Anbringung des Schulkreuzes nicht auf die Eingriffsintensität an; denn es handelt sich um einen nicht-neutralen Eingriff. Der Gesetzgeber kann zwar die Ansicht geltend machen, die Erziehungsberechtigten bei der weltanschaulichen Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen. Diese Begründung passt aber nicht damit zusammen, dass von dieser Unterstützung nur die Erziehungsberechtigten profitieren, die eine christliche Erziehung anstreben. Vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 179 ff., 237, 248 f. und passim (speziell im Hinblick auf BVerfGE 93, 1). 26 Die negative Freiheit wird in diesem Sinne nicht primär um ihrer selbst willen angestrebt, sondern insbesondere als Bedingung dafür, die Art von Leben führen zu können, die der jeweiligen Person sinnvoll erscheint. Vgl. dazu Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 82. Auch in diesem Sinne ist der politische Liberalismus eine „Konzeption der Politik und nicht des ganzen Lebens“. Rawls, in: Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, S. 153, 155. Vgl. ferner BVerfGE 60, 253 (268) (Anwaltsverschulden): „Denn Freiheit meint vor allem die Möglichkeit, das eigene Leben nach eigenen Entwürfen zu gestalten.“ 27 s. o. B.IV.1.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 121 ff.

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dem sich die rechtlich geregelte Freiheit konstituiert.28 Das Abwehrrecht baut auf einem negativen Freiheitsbegriff auf, steht aber in einer komplexen Beziehung zu verschiedenen Freiheitsverständnissen. In seiner dogmatischen Struktur werden in diesem Sinne auch positive, reale und politische Freiheitsvorstellungen eingebunden, die es dogmatisch teils durch inhaltliche Vorgaben, teils durch verfahrensrechtliche Anforderungen miteinander verknüpft. Besondere Bedeutung erlangt in diesem Zusammenhang v. a. die Frage nach positiven Freiheitsvorstellungen, d. h. nach einer inhaltlichen Bewertung des Freiheitsgegenstandes in der Dogmatik der Einzelgrundrechte. Dass die Grundrechte nicht über eine sittlich motivierte Definition des Schutzbereichs mit einem positiven Freiheitsbegriff verknüpft sind, bedeutet in der Tat nicht, dass Vorstellungen positiver Freiheit für das Abwehrrecht keine Relevanz haben. Vielmehr sind Elemente positiver Freiheitsvorstellungen im Verfassungstext selbst angelegt oder haben sich in der Rechtsprechung und Lehre angelagert. Sie sind jedoch nicht in der geschlossenen und umfassenden Form, die ein präformiertes Grundrechtsverständnis nahelegt, mit dem Abwehrrecht verbunden, wohl aber fragmentarisch durch die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Grundrechte.29 Ihre Spuren sind nämlich auf den verschiedenen Ebenen der abwehrrechtlichen Dogmatik verteilt. Dies betrifft schon die Ebene der Schutzbereiche, die ausdifferenziert und unterschiedlich ausgeformt sind. Die besonders genannten Freiheitsgegenstände werden hervorgehoben, weil sie in bestimmter Hinsicht mit einer besonderen positiven Evaluation verbunden sind. Bestimmte Verhaltensweisen werden also nicht einfach durch ein allgemeines Freiheitsrecht (die allgemeine Handlungsfreiheit), sondern durch ein besonderes Grundrecht mit besonderen Rechtfertigungsanforderungen unter einen besonders ausgestalteten Schutz gestellt. Auch bei der Ausformung der Schutzbereiche zeigen sich Splitter eines positiven Freiheitsverständnisses. So deutet z. B. Art. 8 GG auf eine im weiteren Sinne kommunikative und diskursive Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit, die mit einem argumentativen, nicht auf Gewalt setzenden Gebrauch verknüpft wird. Ähnliches gilt für die Vereinigungsfreiheit hinsichtlich Art. 9 Abs. 2 GG. Elemente positiver Freiheitsvorstellungen fließen darüber hinaus auch in die Erfordernisse für die Eröffnung des Schutzbereichs einzelner Grundrechte ein. So scheidet beispielsweise ein Eingriff in die Glaubensund Gewissensfreiheit aus, wenn dem Betroffenen ein rechtmäßiges Alternativverhalten zur Verfügung steht.30 Ebenso wird für die Eröffnung des Schutzbereichs des 28 Die Abwehrrechte enthalten dafür ein System von Vorkehrungen, das bestimmte Eingriffe ausschließt, die für bestimmte Freiheitsbereiche besonders bedrohlich erscheinen, und garantieren allgemein, dass Freiheitsräume nicht unverhältnismäßig oder diskriminiert verteilt werden. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 100 f. 29 Hierzu und zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 127 ff. s. o. B.IV.1. 30 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 130, Rn. 530. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit schützt nicht jeden beliebigen Gewissensbezug, sondern ihr liegt ein positives Verständnis einer mit sich und ihren Überzeugungen in Übereinstimmung lebenden, integren, konsistenten

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Art. 12 GG die grundsätzliche Erlaubtheit des Verhaltens verlangt.31 Anhaltspunkte für eine ganze Reihe positiver Freiheitsvorstellungen lassen sich ferner den unterschiedlichen Rechtfertigungsanforderungen entnehmen – insbesondere den qualifizierten Gesetzesvorbehalten sowie allgemein den mit den Einzelgrundrechten verbundenen Zweck- und Mittelvorgaben. Fordert Art. 5 Abs. 2 GG für die Beschränkung der Meinungsfreiheit grundsätzlich ein allgemeines Gesetz – im Sinne eines meinungsneutralen Gesetzes –, so stützt diese Bestimmung die positive Vorstellung eines argumentativ verstandenen Meinungskampfes, die in der Rechtsprechung des BVerfG große Bedeutung erlangt hat.32 Ähnliches gilt z. B. für den Gedanken, dass Art. 12 GG keine Freiheit vor Konkurrenz garantiert.33 Hier können positive Vorstellungen über eine den Grundrechten entsprechende Wirtschaftsordnung identifiziert werden. Die Abwehrrechte enthalten damit noch keine Wirtschaftsordnung, doch der Konkurrenz als ein Element einer wie auch immer zu gestaltenden Wirtschaftsordnung wird ein besonderer Platz eingeräumt. Die Elemente positiver Freiheitsvorstellungen, die sich mit einem bestimmten Grundrecht verbinden, dogmatisch zu verorten und in Beziehung zueinander zu setzen, ist Aufgabe einer spezialgrundrechtlichen Dogmatik. Bereits aus den wenigen Beispielen wird aber deutlich, dass Spuren positiver Freiheitsvorstellungen nicht nur im Text des GG angelegt sind, sondern sich auch in der Rechtsprechung angelagert haben. Die Grundrechte als Abwehrrechte wurden jedenfalls nicht ohne Anknüpfung an positive Freiheitsvorstellungen gedacht und dogmatisch konstruiert. Der Bezug zum positiven Freiheitsbegriff bleibt aber fragmentarisch, was einerseits eine gewisse inhaltliche Orientierung des Abwehrrechts und andererseits die erforderliche Offenheit der positiven Ausgestaltung einer Freiheit durch den politi-

Personalität zugrunde. Dementsprechend kann ein integritätswahrendes Alternativverhalten zur Verfügung gestellt werden. 31 Das, was zum Beruf gemacht werden kann, ist nicht durch eine bestimmte Sittlichkeitsvorstellung positiv bestimmt, wohl aber durch das, was die Gesellschaft im politischen Prozess allen Bürgern entzogen hat. Der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG erstreckt sich demnach nur auf berufsspezifische Handlungen. Nicht an der Berufsfreiheit zu messen sind hingegen Rechtsnormen, die generell und ohne besonderen Berufsbezug den Rahmen der beruflichen Bestätigung festlegen. Vgl. hierzu Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 251; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 203, 206, Rn. 810, 823; BVerfGE 7, 377 (397) (Apothekenurteil); 81, 70 (85) (Mietwagen). 32 Möchte das BVerfG die Qualität des Grundrechtsgebrauchs oder den rechten Gebrauch grundrechtlicher Freiheit positiv bestimmen, ist dies mit dem Neutralitätsgebot und der erforderlichen Offenheit der positiven Ausgestaltung einer Freiheit durch den politischen Prozess nicht vereinbar. Anders ist der Fall, wenn das Gericht statuiert, dass sich die staatliche Regelung des Meinungskampfes auch an dem Zweck orientieren muss, einen geistigen, vielfältigen, offenen und von meinungsfremden Einflüssen möglichst freien Prozess zu wahren. Diese Zweckvorgabe ist mit dem liberalen Anspruch der Grundrechte durchaus vereinbar und harmoniert mit Art. 5 Abs. 2 GG. 33 BVerfGE 34, 252 (256); 55, 261 (269). s. ferner das daraus in der Literatur entwickelte Zweckverbot des Konkurrenzschutzes, Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 211, Rn. 848.

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schen Prozess garantiert.34 Es versteht sich außerdem, dass die positiven Freiheitselemente den Anwendungsdiskurs nicht entbehrlich machen35 und dass diejenigen, die sich in der Rechtsprechung und Lehre angelagert haben, Kritik und Änderungen unterzogen werden können. Die in den Dogmatiken der Einzelgrundrechte angelagerten inhaltlichen Freiheitsvorstellungen sind in diesem Sinne auch Ergebnisse von Paradigmen, d. h. von Hintergrundkontexten, in denen die gemeinsamen gültigen Prinzipien mit generalisierten Situationsbeschreibungen verknüpft worden sind, und bleiben insoweit im Hinblick auf die Idee der Unparteilichkeit kritisierbar.36

II. Sorgfältige Schutzbereichsbestimmung der Spezialgrundrechte Dass sich das GG nicht auf die Gewährleistung eines allgemeinen Freiheitsrechts beschränkt, sondern die Freiheitsgegenstände der Spezialgrundrechte ausdifferenziert und die Grundrechte mit sehr verschiedenen Schrankenregelungen versehen hat, kann der Verfassungsinterpretation nicht gleichgültig sein.37 Vor dem Hinter34 Zum Ganzen Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 126 ff. Die Elemente positiver Freiheitsvorstellungen, die im Verfassungstext positiviert oder in der Dogmatik einzelner Grundrechte entwickelt worden sind, bilden daher keine Wertordnung, die in hierarchischer Weise ein geschlossenes Wertsystem bereithält. Vielmehr sind sie geradezu das Gegenteil davon: „Sie sind punktuell, nicht systematisch, nicht hierarchisch und nicht unmittelbar konfliktentscheidend.“ 35 Dies kann am Beispiel der BVerfGE 61, 1 (8 f.) (NPD Europas) illustriert werden. Nach st. Rspr. des BVerfG unterfallen unrichtige Zitate sowie erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen dem sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht. Ist eine Äußerung aber durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt, fällt sie in den Schutzbereich des Grundrechts. Das gilt auch dann, wenn sich diese Elemente, wie häufig, mit Elementen einer Tatsachenbehauptung verbinden oder vermischen. So durften die Zivilgerichte einen Eingriff in die Wahlkampfäußerung – „Die CSU ist die NPD von Europa“ – nicht einfach als unwahre Tatsachenbehauptung von einer Rechtfertigung ausschließen. Sie mussten erkennen, dass Meinungsäußerungen, auch wenn sie die Form einer Tatsachenbehauptung annehmen, inhaltlich eine Meinung zum Ausdruck bringen können, die wohl den Schutz des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG genießt. 36 s. o. G.II.2. sowie die Bemerkungen von Dworkin (G.II.1.) über die konstruktive Interpretation: Die Suche nach der bestmöglichen Interpretation bedeutet auch eine kritische Aneignung dieser institutionellen Rechtsgeschichte, bei der auch die Anerkennung von Fehlentscheidungen möglich bleibt. 37 Dies sieht auch das BVerfG durchaus. Die Einzelgrundrechte heben sich nach ihm von Art. 2 Abs. 1 GG als Schutznormen für bestimmte Lebensbereiche ab, „die nach den geschichtlichen Erfahrungen dem Zugriff der öffentlichen Gewalt besonders ausgesetzt sind“. Sie sind „durch besondere Grundrechtsbestimmungen geschützt; bei ihnen hat die Verfassung durch abgestufte Gesetzesvorbehalte abgegrenzt, in welchem Umfang in den jeweiligen Grundrechtsbereich eingegriffen werden kann.“ BVerfGE 6, 32 (37) (Elfes). Auch in der Herausarbeitung dieser Unterscheidung zeigt sich nach Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 77, Rn. 62, die rationalisierende, den Konkretisierungsvorgang in überschaubare Schritte zerlegende Entscheidungsfunktion der Verfassungsrechtsprechung.

II. Sorgfältige Schutzbereichsbestimmung der Spezialgrundrechte

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grund der Existenz eines Auffanggrundrechts, das keinen Lebensbereich ihrer Träger unthematisiert lässt, besteht in der Tat die dogmatische Funktion des Schutzbereichs gerade auch darin, über die Zuordnung zu einem speziellen Grundrecht mit jeweils speziellen Rechtfertigungsanforderungen zu entscheiden.38 Der Schutzbereich determiniert nur noch die Art, nicht mehr das Ob der Grundrechtsbindung. Darüber hinaus sind die speziellen Grundrechte im Unterschied zum allgemeinen Freiheitsrecht bewusste, punktuelle Setzungen des Verfassungsgebers und bestimmte, sachgeprägte Garantien. Ihnen kommt von vornherein ein sachgeprägter und sachlich begrenzter Schutzbereich zu, der im Lauf der Rechtstradition gestaltet wird. Dazu kommt, dass das GG – wie jede geschriebene Verfassung – den Anspruch erhebt, einen einheitlichen Rechtstext zu bilden. Bei der Auslegung und Anwendung dieses Rechtstextes sollen entsprechend Spannungslagen nicht zur Regel gemacht werden. Wird davon ausgegangen, dass die Grundrechte nicht darauf angelegt sind, ständig miteinander zu kollidieren, ist eine sorgfältige Herangehensweise bei der Tatbestandsauslegung konsequent. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Grundrecht vorbehaltlos gewährleistet ist.39 Der Schwierigkeit, solche Grundrechte mit pragmatischen Anforderungen kompatibel zu halten, sollte nicht durch ein Überspielen des positiven Verfassungsrechts, indem vorbehaltlose Freiheitsrechte mit Vorbehalten versehen werden, sondern durch interpretatorische Anstrengung begegnet werden. Denn auch vorbehaltlose Freiheitsrechte sind erst durch die Verfassung als Rechte begründet und durch ihre Schutzbereiche sachlich begrenzt. Eine rationale Behandlung der Verfassung fordert in diesem Sinne, die Grundrechte als durch ihre Schutzbereiche sachlich abgestützte Verbürgungen und ihre Gesamtheit nicht als fiktives und widerspruchsvolles „System“, sondern als material sinnvoll deutbare Zusammenordnung je eigenwertiger und geschichtlich verschieden fundierter Gewährleistungen individueller, politischer und sachlicher Freiheit zu betrachten.40 In Anlehnung an die Ansätze von Böckenförde, Müller, Schlink u. a.41 wird im Folgenden von einer präziseren Bestimmung der Reichweite der Schutzbereiche der Einzelgrundrechte ausgegangen. Die Vorschläge dieser Autoren führen weg von einer undifferenzierten Annahme eines umfassenden Freiheitsschutzes durch alle Grundrechte und hin zu einer sorgfältigen Ermittlung der Schutzbereiche im Hinblick auf ihre Schutzrichtung. Die Grundrechtsdogmatik soll damit zunächst durch

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Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 163. So auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 150 f. 39 Vgl. etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 73, 75, Rn. 320, 332; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 229. 40 s. Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 82, Rn. 66. 41 Für eine sorgfältige Präzisierung des Schutzbereichs zuletzt auch Hoffmann-Riem, Der Staat 43/2004, 203, 215 ff., 226 ff.; ders., in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53 ff.; Volkmann, JZ 2005, 261, 265 ff.; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 231; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 169 ff.

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

eine methodisch gesicherte Herausarbeitung des spezifischen Schutzbereichs der einzelnen Grundrechte konturiert werden.

1. Schutzbereichsbestimmung durch den Zusammenhang von Sachbereich und Normprogramm: Zwischen Richtigkeit und Rechtssicherheit Die Ausgangspunkte, dass der Schutzbereich spezieller Grundrechte gegenständlich begrenzt ist und dass die Grundrechtsprüfung stets mit der Bestimmung des grundrechtlichen Maßstabes zu beginnen hat, müssen zu der Einsicht führen, dass die sachlich-normative Reichweite der Garantien nur für jedes einzelne Grundrecht gesondert ermittelt werden kann. Am Anfang der Erarbeitung der Dogmatik der Einzelgrundrechte steht somit die sorgfältige Bestimmung des Schutzbereichs eines jeden einzelnen Grundrechts. Die Spezialgrundrechte sind, wie bereits ausgeführt, sachlich geprägte und sachlich begrenzte Garantien bestimmter Sachzusammenhänge und schützen entsprechend spezifische Freiheiten des Bürgers gegen spezifische staatliche Eingriffe. Auf der Schutzbereichsebene soll daher näher definiert werden, in welchem Umfang der Sach- oder Lebensbereich, dem das Grundrecht gilt, unter verfassungsrechtlichen Schutz gestellt wird bzw. welchen spezifischen Schutz hinsichtlich ihres Sachbereichs die jeweilige Norm dem Grundrechtsträger gewährt. Dagegen geht es – um einen naheliegenden Einwand vorwegzunehmen – nicht darum, einem unkritisch weiten Schutzbereich einen anderen ebenfalls unkritischen, aber engeren Schutzbereich entgegenzusetzen, sondern um die reflexive Herausarbeitung des Umfangs des Schutzbereichs der Einzelgrundrechte, und zwar unter Berücksichtigung der jeweiligen Grundrechtsnormen einschließlich ihrer verschiedenen Lebensbereiche, ihrer Schranken wie auch der grundgesetzlichen Systematik und des Neutralitätsgebots. In der Tat spricht keine Vermutung dafür, die Schutzbereiche a priori und allgemein weit oder eng zu ziehen.42 Vielmehr müssen sie mit der juristischen Methodik für jedes einzelne Grundrecht von dessen Normprogramm und Sachbereich her herausgearbeitet werden. Die hier vertretene Auffassung geht somit eigentlich von einem Allgemeingut aus, nämlich sich den Grundrechten ebenso wie anderen Rechtsnormen mittels Interpretation zu nähern. Doch so sehr diese interpretatorische Annäherung sich von selbst versteht und so sehr es sich um einen Gemeinplatz handelt, so sehr ist dieser Gemeinplatz aber in der gegenwärtigen Grundrechtsdogmatik durch Abwägungs- und Kollisionsdenken überspült worden. Ausgangspunkt für die Herausarbeitung der Reichweite des grundrechtlichen Schutzbereichs soll darüber hinaus nach dem darzustellenden Lösungskonzept die 42

Vgl. Hoffmann-Riem, Der Staat 43/2004, 203, 229; Volkmann, JZ 2005, 261, 267; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 229; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 56, Rn. 230: „Die Schutzbereiche jedes einzelnen Grundrechts müssen mit den normalen juristischen Auslegungsmitteln von dessen Text, Geschichte, Genese und systematischer Stellung her einfach richtig bestimmt werden.“

II. Sorgfältige Schutzbereichsbestimmung der Spezialgrundrechte

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Feststellung der Nichtidentität von Rechtsnorm und Normtext und insbesondere die von Müller eingeführte Unterscheidung zwischen Normprogramm und Sachbereich sein.43 Die verschiedenen Grundrechte gelten in diesem Sinne verschiedenen Lebensbzw. Sachbereichen, die mal eng und mal weit ausgreifen.44 Der grundrechtliche Lebens- oder Sachbereich ist der Ausschnitt der Wirklichkeit, an den die Grundrechtsnorm anknüpft, und konstituiert, so wie das Normprogramm, die Normativität. In der Tat steht das Recht insgesamt im Rahmen der Rechtsarbeit in einem komplexen Wechselspiel zur Welt: Es bezieht sich mit seinen Texten auf die geregelten Tatsachen und konstituiert sich zugleich als Rechtsnorm partiell durch sie.45 Da die Grundrechtsnorm nicht ein gegenüber dem von ihr angezielten Wirklichkeitssegment isolierter Befehl ist, muss der Schutzbereich auch unter Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit, die die Grundrechtsnorm als Schutzgegenstand herausschneidet, ermittelt werden. Dies wird durch die besondere Offenheit der Grundrechtsbestimmungen noch akuter, sodass sich die Möglichkeit ihrer Konkretisierung nicht nur auf eine Auslegung ihrer sprachlichen Fassung und deren systematischer, genetischer, historischer und teleologischer Aspekte, sondern regelmäßig auch auf die Sachhaltigkeit ihrer Schutzbereiche stützt.46 Der Sach- bzw. Lebensbereich bezeichnet allerdings nur den gegenständlichen Einzugsbereich, auf den sich das Spezialgrundrecht bezieht. Die Berührung dieses Bereichs führt dazu, dass ein Grundrecht im konkreten Fall überhaupt thematisch einschlägig ist. Mit der Erfassung des betroffenen Sachbereichs alleine ist es jedoch nicht getan. Sie ist lediglich der Einstieg in die Bestimmung des Schutzbereichs. Der grundrechtliche Schutzbereich ist daher nicht einfach wahllos aus den sachlichen Gegebenheiten eines Ausschnitts sozialer Wirklichkeit gebildet, der irgendwie von der fraglichen Norm betroffen sein kann. Vielmehr schließt er ebenfalls eine konkretere Herausarbeitung der vom Grundrecht prinzipiell gewährleisteten Befugnisse ein. Die Grundrechte schaffen die praktische Möglichkeit von Freiheit in 43 Anzumerken ist, dass hier vom herkömmlichen Verständnis des Schutzbereichs ausgegangen wird, der durch den Zusammenhang von Sachbereich und Normprogramm zu ermitteln ist und sich insoweit mit Müllers Konzeption des Normbereichs trifft. Während der Sachbereich den sachlich umschriebenen Sektor sozialer Wirklichkeit bezeichnet (etwa die Kunst, die Wissenschaft, den Glauben), ist der Normbereich nach Müller der Ausschnitt aus dem Sachbereich, dem Grundrechtsschutz zuteilwird. Der Begriff des Normbereichs ist allerdings bei der strukturierenden Methodik rechtsnormtheoretisch und nicht dogmatisch formuliert. 44 Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 49, Rn. 195. 45 Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 81, Rn. 66. Die Rechtsnorm bildet, wie bereits dargelegt (G.I.2.), einen verbindlichen Entwurf, der durch den Normtext sprachlich vorbereitet wird, zugleich aber nicht ein gegenüber dem von ihr angezielten Wirklichkeitssegment isolierter Befehl ist. Ebd., S. 249, Rn. 236. 46 s. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 42 – freilich mit Bezug auf den Begriff „Normbereich“. Auch nach Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 55, werden die Grundrechte angesichts ihrer mageren Normtexte erst dadurch praktikabel, dass sie in normativer Filtrierung einen spezifischen Ausschnitt der Lebenswirklichkeit in Bezug nehmen, d. h. einen Teil der politischen, kulturellen, ökonomischen, ökologischen, sozialen u. ä. Realität. Ähnl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 18, 27, Rn. 46, 69.

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einem Ausschnitt der Wirklichkeit, der seinerseits auch rechtlich gestaltet ist, sodass es nicht um Realität schlechthin, sondern um einen normativ ausgewählten und strukturierten Ausschnitt von Realität bzw. um die normative Filterung des Bezugs auf die Wirklichkeit geht.47 Auf der Schutzbereichsebene soll entsprechend nicht bloß eine Einordnung des Sachverhalts in den jeweiligen Sachbereich erfolgen, sondern überdies bereits präzisiert werden, welchen Schutz das Grundrecht hinsichtlich des betroffenen Sachbereichs im Einzelnen garantiert, oder, anders ausgedrückt, welche Handlungen des Grundrechtsträgers prinzipiell geschützt werden bzw. gegen welche Maßnahmen des Staates Schutz prinzipiell gewährt wird. Erwähnenswert ist hier, dass bereits in der gegenwärtigen Rechtsprechung des BVerfG der von der Norm geordneten Wirklichkeit wesentliche Bedeutung für die Interpretation beigemessen wird48 und dass dabei Differenzierungen auf Schutzbereichsebene alles andere als unbekannt sind. Die Unterscheidung zwischen Sach- und Schutzbereich kommt in diesem Sinne im viel zitierten Beschluss zum „Sprayer von Zürich“ exemplarisch zum Ausdruck.49 Dabei legt das BVerfG fest, dass die Graffiti zwar als Kunst einzuordnen seien (Sachbereich) und dass Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG vor Einwirkung der öffentlichen Gewalt auf Inhalte, Methoden und Tendenzen künstlerischer Tätigkeit schütze. Die Reichweite der Kunstfreiheit erstrecke „sich aber von vornherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung“. Die Kunstfreiheit gewähre also keine Befugnis, auf fremdes Eigentum zuzugreifen (Schutzbereich). Auch in zahlreichen anderen Entscheidungen findet sich eindeutig der Gedanke, dass die Frage, ob das Grundrecht in der konkreten Situation Schutz vermittelt, auch bei Berührung seines Sachbereichs gesondert zu beantworten ist. So sei zwar die Werbung für den Glauben von Art. 4 GG geschützt, nicht aber jedes Mittel, das im Zusammenhang mit der Werbung eingesetzt werde, wie die Ausnutzung einer Zwangslage50 oder eines Abhängigkeitsverhältnisses51. Die Meinungsfreiheit decke die politische Einflussnahme mit geistigen Mitteln (inkl. Boykottaufrufe), nicht aber 47 Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 55 f. Dies gilt übrigens für jede Rechtsnorm: „Recht wirkt in der Realität und wird durch die Realität beeinflusst.“ Klarzustellen ist es allerdings, dass es auch nicht so ist, „als stünden ,Recht‘ und ,Wirklichkeit‘ entweder unableitbar nebeneinander oder als könnten sie konturlos ineinander fließen. Fakten provozieren zwar Normen, beeinflussen sie, tragen sie mit; aber sie bleiben von dem, was wir ,Normen‘ nennen, unterschieden und unterscheidbar.“ Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 560, Rn. 554. 48 „So spielen in der Rechtsprechung des Gerichts sorgfältige und tief eindringende Sachverhaltsanalysen eine entscheidende Rolle: politischen, wirtschaftlichen, technischen und sozialen Zusammenhängen wird erhebliches Gewicht beigemessen.“ Hesse, JZ 1995, 265, 266. 49 BVerfG, NJW 1984, 1293, 1294 (Sprayer von Zürich). Der Schweizer Beschwerdeführer hatte in Zürich zahlreiche öffentliche und private Bauwerke mit künstlerisch gestalteten Figuren besprüht und war deswegen von einem Schweizer Gericht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Das Auslieferungsersuchen erklärte das OLG Schleswig für zulässig und die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg. 50 BVerfGE 12, 1 (4 f.) (Glaubensabwerbung). 51 BVerwGE 15, 134 (136).

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den wirtschaftlichen Druck des Zeitungskonzerns gegen den von ihm wirtschaftlich abhängigen Einzelhändler.52 Rein kommerzielle Veranstaltungen seien vom Schutz der Versammlungsfreiheit ausgenommen.53 Die Kunstfreiheit schütze auch den Wirkbereich, sie gewährleiste aber nicht unbedingt die wirtschaftliche Verwertung eines Kunstwerks.54 Nicht immer klar bleibt aber in diesem Zusammenhang, wie der Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit in die Rechtsverwirklichung einzubringen, worauf er zu befragen und wonach er zu strukturieren ist. Die Frage, ob ein Eingriff in einen Schutzbereich vorliegt, bedarf in der Tat auch differenzierter normativer Maßstäbe. Diese werden nach dem hier vertretenen Ansatz durch das Normprogramm geliefert, das im Rahmen einer normtextorientierten und methodisch gelenkten Rechtsarbeit ermöglicht, Strukturelemente aus der sozialen Wirklichkeit auszuwählen und rechtlich auszuformen. Die Spezialgrundrechte nehmen in sich punktuelle Regelungen über einen spezifischen Freiheitsbereich auf und treffen so auch eine Vorauswahl, welche Umstände in der konkreten Entscheidung fallrelevant sind.55 Das Kriterium für die Unterscheidung der relevanten von den irrelevanten Situationsmerkmalen ist also das Normprogramm, das für die Berücksichtigung bestimmter Situationsmerkmale Anknüpfungspunkte bietet, für die von anderen jedoch nicht. Die Fragen, denen sich der Schutzbereich erschließt, sind dann die Fragen nach den 52

BVerfGE 25, 256 (264 ff.) (Blinkfüer). BVerfG, NJW 2001, 2459 (2460 f.) (Loveparade). 54 BVerfG, NJW 2002, 3458, 3460 (Chick Corea). Vgl. auch BVerfG, NJW 2006, 596, 597. Zur Religionsfreiheit s. BVerwGE 90, 112 (118). Auf die Tendenz zur spezifischen Bestimmung der Schutzbereiche der Spezialgrundrechte deuten auch andere jüngere Entscheidungen des Gerichts hin. Vgl. etwa BVerfGE 103, 44 (59 f.) (Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal II); 104, 92 (104) (Sitzblockaden III); 104, 337 (345 f.) (Schächten); 105, 252 (265 ff.) (Glykol); 105, 279 (293 ff.) (Osho); 106, 275 (298 ff.) (Arzneimittelfestbeträge). Bezüglich der Einzelfälle und deren Ergebnisse lassen sich freilich unterschiedliche Positionen vertreten und eine Würdigung sollte eigentlich aufgrund ihrer Verschiedenheiten auch differenziert ausfallen. Fragwürdig ist so z. B. hinsichtlich BVerfGE 105, 279 (294) und BVerfG, NJW 2002, 3458, 3459 sowohl die getroffene Unterscheidung zwischen nichteingreifenden sachlichen Informationen und verfälschenden, diskriminierenden und diffamierenden Darstellungen als auch die anscheinende Annahme, dass eine gegen das Neutralitätsgebot verstoßende Äußerung rechtfertigungsfähig sein kann, sowie auch die gewisse Auflösung von herkömmlichen Kategorien der Grundrechtsprüfung. Für einen „engen Gewährleistungsgehalt“, kritisch aber gegenüber der Glykol- und der Osho-Entscheidung Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 85 ff., dem zufolge die Argumentation des Gerichts dazu dient, den Gesetzesvorbehalt entbehrlich zu machen (S. 90). Ähnl. Volkmann, JZ 2005, 261, 267, 269. Vgl. ferner die kritische Übersicht über weitere Fälle, in denen das BVerfG bereits die Einschlägigkeit des Schutzbereichs verneinte, bei Kahl, Der Staat 43/2004, 167, 170 ff. Im Vordergrund steht hier aber nicht das konkrete Ergebnis bestimmter Einzelfallanwendungen, sondern die Unterscheidung zwischen Sach- und Schutzbereich sowie die grundsätzliche dogmatische Richtung als solche, der zufolge die präzise Bestimmung des Schutzbereichs am Anfang der Grundrechtsprüfung steht. 55 Dass diese Einsicht einen Anwendungsdiskurs nicht entbehrlich macht, wird im Folgenden näher ausgeführt. s. dazu auch den Ansatz von Günther (G.II.2.) und, um ein Beispiel zu nennen, die Anmerkung in der Fn. 35 über die BVerfGE 61, 1 (8 f.) (NPD Europas). 53

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relevanten Situationsdeutungen, und über diesen Fragen ist die soziale Wirklichkeit in die Rechtsverwirklichung einzubringen.56 Das Normprogramm ergibt sich, wie bereits gezeigt (s. o. G.I.2.), aus der Interpretation sämtlicher Sprachdaten, d. h. Textauslegung mit allen methodisch anerkannten Mitteln, und steuert als verbindlicher Maßstab die Auswahl der empirischen Gegebenheiten aus dem Sachbereich. Als Handwerkzeug für diese Arbeit an der Bedeutung des Normtextes dienen insbesondere die herkömmlichen Interpretationselemente, nämlich die grammatischen, historischen, genetischen, systematischen und (eingeschränkt) teleologischen Interpretationsgesichtspunkte.57 Die grundrechtlichen Normtexte haben keine von allen Kontexten abstrahierbare Bedeutung, und so wie die Sachbereichselemente erschließen auch die methodischen Hilfsgesichtspunkte Kontexte, die es erlauben, die Bedeutung des jeweiligen Normtextes herauszustellen. Gleichwohl haben die Normtexte bzw. die Wortlaute unter Bedingungen einer rechtsstaatlichen Demokratie eine herausgehobene Funktion in der Konstruktion des Normprogrammes. Sie sind die vorrangigen Bezugspunkte der Interpretation und der Ausgangspunkt der Falllösung. Sie markieren bereits Indizien für die (Un-)Vertretbarkeit späterer Entscheidungen und bilden so die Grenzen des Spielraums zulässiger Interpretation. Dementsprechend steht das grammatische Element am Anfang der methodischen Operationen und hat Signal- und Begrenzungsfunktion in Rechtsfindungs- und Rechtfertigungsprozessen.58 Es umschreibt den Plausibilitätsraum einer normtextorientierten Interpretation. Obwohl Norm und Normtext nicht identisch sind und der Normtext nur indikativ wirkt, sind also Entscheidungen, die die Wortlautgrenzen überspielen, rechtsstaatlich schlechterdings 56 Vgl. die Bemerkungen von Schlink, Der Staat 19/1980, 73, 103, über die Einbringung der Folgediskussion in die Rechtsverwirklichung. Auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der die soziale Wirklichkeit unter Folgenaspekten erschließt, wird bald eingegangen. 57 s. ferner zu zusätzlichen Auslegungsfiguren bzw. Konkretisierungselementen – wie z. B. das dogmatische Element – Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 396 ff., Rn. 377 ff. Nach ihnen sei Dogmatik „das Reservoir der sich zur Zeit durchsetzenden juristischen Bedeutungsfestsetzungen und Referenzfixierungen; also der Positionen zur Bedeutung und zur Art des Wirklichkeitsbezugs des geltenden Rechts“ (S. 417, Rn. 406). Sie stelle ein unverzichtbares und regelmäßig normtextbezogenes Element dar und könne neben anderen Konkretisierungsfaktoren die Vorgänge des Rechtsverwirklichens steuern. Neben den methodologischen Elementen i. e. S. (grammatische, historische, genetische, systematische und teleologische Auslegung sowie einzelne Prinzipien der Verfassungsinterpretation) werden allerdings dabei nicht nur dogmatische Elemente, sondern auch Normbereichselemente, TheorieElemente, lösungstechnische Elemente und verfassungs- bzw. rechtspolitische Elemente behandelt. Die Autoren untersuchen außerdem die Frage der Rangfolge der Konkretisierungselemente (S. 482 ff., Rn. 429 ff.) und räumen insbesondere den grammatischen und systematischen Elementen den Vorrang ein (S. 492, Rn. 445). Zu dem Begriff und der Funktion der Dogmatik s. auch Volkmann, JZ 2005, 261, 262. Zur Rolle der Präjudizien Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 243 ff., 269 ff. 58 s. Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 216 ff., 294 ff., Rn. 204 ff., 304 ff. Der Wortlaut habe „nur in den seltenen Fällen echter Subsumtion Bestimmungsfunktion, in aller Regel dagegen in positiver Richtung Indizwirkung, in negativer eine Grenzwirkung. Der Wortlaut bildet (…) die Grenze des Spielraums zulässiger Konkretisierung“ (S. 303, Rn. 312).

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unzulässig. Dem Wortlaut kommt, anders ausgedrückt, eine falsifizierende Funktion zu.59 Die grammatische Auslegung allein kann allerdings in aller Regel den Übergang vom Text zur Bedeutung nicht bewältigen. Vielmehr muss dieser am ganzen Arsenal der möglichen Argumente überprüft werden, wobei dann notwendig auf andere Elemente übergegriffen wird, hauptsächlich auf den Wortlaut von Vorläufern der zu konkretisierenden Norm (historische Auslegung), auf den Wortlaut der Gesetzgebungsmaterialien (genetische Auslegung), auf den – zu begründenden – „Sinn und Zweck“ der Norm (teleologische Auslegung) sowie insbesondere auf andere, mit der für den Fall in Aussicht genommenen Vorschrift in Zusammenhang zu bringende Normtexte und ihre Bedeutungsvarianten (systematische Auslegung). Vor dem Hintergrund der Entwicklung der Spezialgrundrechte als Reaktion auf bestimmte historisch bestehende Gefährdungslagen wird in der Tat ihr Charakter als punktuelle Gewährleistungen besonders deutlich. Darüber hinaus können die genetischen und historischen Elemente wichtige Hilfsgesichtspunkte für die Arbeit an der Bedeutung des Normtextes liefern. Hier muss aber die Illusion einer einheitlichen Bezugsgröße der historischen bzw. genetischen Auslegung aufgegeben und die in den Materialien zu findenden Äußerungen als diskursives Netz in den Zusammenhang einer Semantik kompetitiven Handelns eingeordnet werden.60 In diesem Sinne sind die genetische Interpretation vom Begriff des Willens abzulösen und die als Anknüpfungspunkt für ein Argument herangezogene Äußerung in den Gesamtzusammenhang der Materialien und in die Struktur des Verfassungsgebungsverfahrens einzuordnen. Bei der historischen Auslegung wird ihrerseits die Verbindung eines geltenden Normtextes mit einem früheren Normtext in der Regel über die Darstellung von Kontinuität oder Diskontinuität hergestellt. In der Kontinuitätserzählung hat der Verfassungsgeber den alten Normtext unverändert übernommen und damit möglicherweise auch früher vertretene Inhalte. In der Diskontinuitätsversion hat er hingegen den Text nicht übernommen oder ihn geändert und damit mindestens z. T. alte Lesarten unvertretbar gemacht. Hinsichtlich des teleologischen Arguments gilt es zunächst klarzustellen, dass es kein selbständiges Element der Interpretation ist. Der Gesichtspunkt von „Sinn und Zweck“ ist keine Methode, sondern bereits ein Ergebnis. Andererseits bildet er wohl eine unterscheidbare Fragestellung bei der Arbeit mit grammatischen, historischen, genetischen, systematischen und anderen Elementen der Interpretation.61 Ist der Zweck im Einzelnen begründet, kann mit ihm gearbeitet werden, sodass auch das teleologische Argument zusätzliche Hilfsgesichtspunkte bieten kann. Oft kann der Schutzbereich eines Grundrechts nicht in isoliertem Blick, sondern nur in systematischer Zusammenschau mit anderen Grundrechtsnormen und sons59

Vgl. dazu Schlink, Der Staat 19/1980, 73, 100 f. Hierzu und zum Folgenden Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 365 f., 373 f., Rn. 361 ff., 361 f. 61 s. Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 377 f., Rn. 364. 60

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tigen Verfassungsbestimmungen definiert werden.62 Neben den Elementen, die als Kriterien einer Falsifikation rekonstruiert werden können,63 gibt es entsprechend auch das systematische Element, das in den der Aufstellung juristischer Theorien geltenden Anforderungen an Konsistenz und Ausdruckskonstanz wiederzuerkennen ist und bei dem Gesichtspunkte anderen Normen des geltenden Rechts entstammen. Während sich die anderen methodischen Interpretationselemente mit Dworkins Dimension des Passens treffen und regelmäßig nur gewisse Interpretationen ausschließen (falsifizierende Funktion), konvergiert das systematische Element mit der Dimension der normativen Rechtfertigung und fordert die Behandlung des Normenkomplexes als ein kohärentes Prinzipiensystem. Das, was die Systematik der Verfassungsauslegung verlangt, ist in diesem Sinne nicht nur, dass eine allgemeine Aussage, die zu einem Normtext des Grundgesetzes entwickelt wird, nicht an einem Normtext der Verfassung scheitert, sondern dass sie mit der Menge der allgemeinen Aussagen und Bedeutungsvarianten, die den anderen Normtexten der Verfassung gelten, widerspruchsfrei und unter gleichbleibender Begrifflichkeit zusammenstimmt.64 Die Annahme einer differenzierten Bereichsdogmatik der je einzelnen und selbständigen Garantien hindert daher nicht daran, sie systematisch zu interpretieren, wo sich das systematische Element als ergiebig erweist, und auch nicht die Versuche, die Zusammenhänge verfassungsrechtlicher Normen zu klären. Dies lässt sich am Beispiel der Diskussion über die Frage verdeutlichen, ob ein Schutz durch die Berufsfreiheit die formale Erlaubtheit der betroffenen Tätigkeiten voraussetzt. Nach dem Kriterium der Erlaubtheit darf eine Tätigkeit jenseits der in Frage stehenden Maßnahme nicht bereits von der übrigen Rechtsordnung verboten sein, um den

62 Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 56, Rn. 233. Zu unterscheiden sei freilich zwischen der Rechtfertigung eines Eingriffs in einen Schutzbereich durch Kollision mit anderen Grundrechten oder sonstigen Verfassungsgütern und dem Umfang eines Schutzbereichs in systematischer Zusammenschau mit anderen Grundrechten und sonstigen Verfassungsbestimmungen. Im Gegensatz zur punktuell auftretenden Eingriffsrechtfertigung durch Kollision stehe der Umfang des Schutzbereichs generell fest (S. 56 f., Rn. 235). 63 Der Grundansatz der hier zugrunde gelegten Methodik ist, wie Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 509, Rn. 479, beobachten, in gewisser Weise dem Falsifikationsmodell der kritisch-rationalistischen Wissenschaftslehre verwandt. Die Entscheidungsnormhypothesen sind in diesem Sinne Schritt für Schritt auf ihre Brauchbarkeit bzw. Unbrauchbarkeit an den Konkretisierungselementen zu überprüfen, welche insoweit als Instanz der Falsifikation begriffen werden. s. Müller, Rechtstheorie 8/1977, 73, 82. Die strukturierende Methodik geht aber nicht von einer Allgemeinen Wissenschaftstheorie, sondern von einer geltenden Verfassungsrechtsordnung aus. Zur falsifikatorischen Rekonstruktion der grammatischen und genetischen Elemente sowie der Folgediskussion Schlink, Der Staat 19/1980, 73, 92 ff. Zur Heranziehung der genetischen Argumentation zur Widerlegung von Lesarten, welche die Parteien vorgeschlagen haben, BVerfGE 106, 62 (123 ff., 132) (Altenpflegegesetz). 64 Vgl. Schlink, Der Staat 19/1980, 73, 92. Darauf, dass „Kohärenz“ mehr als das Prinzip der Widerspruchsfreiheit umfasst, weist auch Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, hin.

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Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG zu genießen.65 Eine überzeugende Erklärung dieses Kriteriums findet sich nämlich im Zusammenhang des Art. 12 Abs. 1 GG mit den anderen Grundrechten. Das Kriterium des Verbotenseins bezieht sich demnach auf die in Frage stehende Handlung als solche und noch nicht darauf, dass diese Handlung gerade beruflich vorgenommen wird. Die Erlaubtheit einer Handlung als solche richtet sich allerdings bereits im Vorfeld nach den anderen einschlägigen Grundrechten. Erst im Anschluss an diese Analyse bemisst sich dann nach Art. 12 GG, ob eine spezifische, d. h. berufliche Bündelung dieser Handlung verboten werden darf.66 Die Herausarbeitungen der Schutzbereiche und allgemeiner der Dogmatiken der Einzelgrundrechte stellen insoweit auch einen internen Rechtfertigungszusammenhang zwischen den ansonsten ungeordneten gültigen Grundrechtsnormen her. Sie sind – so wie die dabei angelagerten inhaltlichen Freiheitsvorstellungen – auch Ergebnisse von Paradigmen, d. h. von Hintergrundkontexten, in denen die gemeinsamen gültigen Prinzipien mit generalisierten Situationsbeschreibungen verknüpft werden, und bleiben von daher im Hinblick auf die Idee der Unparteilichkeit kritisierbar. Dementsprechend setzt die Bestimmung des Schutzbereichs zugleich eine Rekonstruktion des geltenden Rechts im Hinblick auf die Besonderheiten der normativen Anwendungssituation (d. h. Sachbereich bzw. Fallbereich) voraus. Damit gewinnt die berühmte Engischs Metapher vom „Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt“ eine neue Aktualität, denn nach der hier vertretenen Auffassung wandern und verändern sich Normen und Sachverhalte selbst im Vorgang der Rechtsarbeit.67 Rechtstexte sind in der Tat, wie bereits erwähnt, stets in einem Prozess, in dem Interpretationen und Dekonstruktionen einander ablösen – mit offenem, immer wieder neuem, immer nur vorläufigem Ausgang.68 Der grundrechtliche Schutzbereich ist weder eine Vorgegebenheit noch 65

BVerfGE 7, 377 (397) (Apothekenurteil); 81, 70 (85) (Mietwagen); 97, 228 (253 f.) (Kurzberichterstattung). 66 s. Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 203, Rn. 810; im Anschluss daran Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 197 f. 67 Vgl. Schlink, Rechtstheorie 7/1976, 94, 98. So heben auch Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 120, Rn. 86, hervor, dass Normprogramm und Normbereich „in demselben Vorgang der Bildung von Normhypothesen in Richtung auf den konkreten Fall gedeutet und dabei nicht selten modifiziert, klargestellt, fortentwickelt“ werden. 68 Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 54. Zeichen (wie etwa ein grundrechtlicher Normtext oder gar der Verfassungstext) verweisen immer auf andere Zeichen, ohne dass eine „endgültige“ Bedeutung des Zeichens, die als solche nicht interpretierbar bliebe, ausgemacht werden kann. Ein Durchgriff auf einen stabilen wahren Willen des Verfassungsgebers oder auch einen stabilen Sinn und Zweck einer Verfassungsbestimmung hinter den beständigen „Übergang“ von Zeichen zu Zeichen ist demnach nicht möglich. Die Bedeutung der Zeichen wird ferner auch und gerade im Hinblick auf die Zeitdimension, die „Zeit der Zeichen“, provisorisch. Auch aus diesem Grund besteht beispielsweise die Systemtheorie Luhmanns darauf, dass sich die Operation (z. B. Anwendung des Gesetzes auf den Fall) in zeitlichen Rückgriffen und Vorgriffen vollzieht. Die Operationen bestehen aus (selektiven) Erinnerungen und (selektiven) Antizipationen und erfolgen immer innerhalb eines dynami-

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ein ahistorisches, abstraktes oder absolutes Konstrukt. Vielmehr vollzieht sich die Konkretisierung jedes einzelnen Grundrechts ständig in der rechtsfortbildenden Verfassungsinterpretation. Doch auch bei Annahme eines dynamischen Verständnisses der Verfassung, die so zugleich als Projekt69 gesehen wird, darf die Anforderung der Rechtssicherheit und damit die Funktion des Rechts, Erwartungen zu stabilisieren, nicht aus den Augen verloren werden. Die juristische Argumentation kann nicht neuen Rechten und Pflichten Geltung verschaffen, sondern ist geltungsabhängig. Die Einsicht des Dynamismus ändert daher nichts an der Anforderung, dass sich die Entscheidungen am Normprogramm zu bewähren haben: Sie müssen unverändert auf Rechtsnormen und diese auf positiv geltende Normtexte zurückführbar sein. Dazu kommt, dass die Grundrechtsinterpretation auch auf Erfahrungen der früheren Grundrechtsanwendung aufbaut, die in der Grundrechtsdogmatik und verfassungsrechtlichen Präjudizien sedimentiert sind.70 Mögen „Lücken“ bei der Rückkopplung (Zurechnung und Rückführung) zwischen Entscheidung und positiver Grundrechtsnorm aufgrund der strukturellen Unbestimmtheit des Rechts bzw. der unvermeidbaren Kontingenz der Norminhalte bestehen, tritt hier also auch die dank seiner Abstraktheit ermöglichte Ergänzung des Norminhalts durch Dogmatik und beständige Rechtsanwendung hinzu.71 Dies ermöglicht eine relativ stabile Bestimmung der Reichweite des Schutzbereichs, der zwar in gewisser Hinsicht für den Wandel offenbleibt, aber nicht für alle Interessen schen Netzwerks von Relationen. Sie sind also in einen sequentiell aufgebauten Verweisungszusammenhang eingebettet, der in sich selbst zurückführt (Zirkularität). „Operation ist daher einerseits immer mehr, als im Moment realisiert werden kann, sie bezahlt aber dieses ,Mehr‘ mit dem Zwang zur Selektion dessen, was rekursiv in Betracht gezogen wird, und dies in einer Weise, die sich von Moment zu Moment verschiebt.“ Das zu lösende Problem liegt folglich in diesem Zusammenhang darin, wie unter der Bedingung, dass kein Gebrauch eines Zeichens in zwei Situationen derselbe ist, Wiederholung eingerichtet werden kann. Für das Rechtssystem besteht das Problem also darin, wie normative Erwartungen unter diesen Bedingungen im Fluss der Zeit stabilisiert werden können. Vgl. zum Ganzen Vesting, Der Staat 41/ 2002, 73, 79 f. s. ferner Dworkin, Law’s Empire, S. 225 ff. 69 Der Vorrang der Verfassung vor den einfachen Gesetzen gehört zur Systematik des demokratischen Rechtsstaats. Er bedeutet aber nur eine relative Fixierung des Gehalts der Verfassungsnormen. Jede Verfassung ist „ein Projekt, das nur im Modus einer fortgesetzten, auf allen Ebenen der Rechtsetzung kontinuierlich vorangetriebenen Verfassungsinterpretation Bestand haben kann.“ Habermas, Faktizität und Geltung, S. 163. Die als Projekt verstandene Verfassung wird so als die Einrichtung eines falliblen Lernprozesses gesehen, durch den eine Gesellschaft ihre Unfähigkeit zur Selbstbestimmung schrittweise überwindet (ebd., S. 535 f.). Auch nach Hoffmann-Riem, Der Staat 43/2004, 203, 212, sind Grundrechte „im Prozess der Auslegung und Anwendung als ,lernendes Recht‘ zu verstehen“. 70 Nach Hoffmann-Riem, Der Staat 43/2004, 203, 207, ziele Auslegung angesichts der grundsätzlichen Kontingenz von Normgehalten darauf, auf möglichst rationale Weise in der Gemeinschaft der Grundrechtsinterpreten anerkannte oder anerkennungsfähige Ergebnisse zu gewinnen. Vertretbar in diesem Sinne seien keineswegs beliebige Ergebnisse, sondern nur solche, die insbesondere dadurch begründet werden, dass sie auf der vorangegangen Interpretation, also der Tradition, aufbauen und diese gegebenenfalls mit anerkannten methodischen und inhaltlichen Argumentationsfiguren fortentwickeln. 71 Vgl. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 155.

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gleichermaßen durchlässig und Gegenstand punktueller Abwägung ist. Denn sowohl die Grenzen des Normprogramms als auch die institutionelle Rechtsgeschichte müssen ernst genommen werden, sodass nicht in gleichen Fällen nach verschiedenen Prinzipien gehandelt wird. Das Prinzip, bei der Norminterpretation die relevanten Situationsmerkmale zu berücksichtigen, impliziert schließlich keineswegs eine Theorie der situationsabhängigen Bedeutungskonstitution.72 Es wird nur verlangt, dass der Diskurs über die Festsetzung einer Wortgebrauchsregel mögliche Spannungen mit anderen prima facie anwendbaren Normen in einer kohärenten Interpretation berücksichtigen muss. Die Berücksichtigung anderer Normen ist eigentlich immer schon in unsere Interpretation eingegangen („Vorverständnis“). Die Selektivität der Interpretation ist allerdings rechtfertigungsbedürftig und in der Rechtsarbeit auch rechtfertigungsfähig. Insbesondere das prinzipielle Herausarbeiten des spezifischen Schutzbereichs der einzelnen Grundrechte ist Aufgabe einer spezialgrundrechtlichen Dogmatik und bedarf mehr Raum, als dies im Rahmen dieser Arbeit zu leisten ist. Erwähnenswert ist allerdings, dass für eine Vielzahl der Grundrechtsnormen vielfache Anhaltspunkte für eine solche Herausarbeitung bereits existieren. Am weitesten vorangetrieben wurde ein derartiges Konzept von Müller, insbesondere durch sein Modell des sachspezifisch Geschützten.73 Dabei handelt es sich, wie dargelegt (G.I.2.), um eine relative Ausklammerung von für das jeweilige Grundrecht unspezifischen und austauschbaren Handlungsmodalitäten, die im Prinzip nur im äußerlichen Zusammenhang oder bei Gelegenheit der grundrechtlich geschützten Betätigung erfolgen. Das Kriterium für den Schutzumfang im Umfeld eines Grundrechts bleibt demnach offen und hängt von einem Anwendungsdiskurs ab, wobei hier der Grundrechtsträger für sich in Anspruch nehmen können muss, dass für genau die in Frage stehende Modalität der Grundrechtsaktualisierung eine zwingende Notwendigkeit vorliegt, d. h., dass die jeweilige Handlung, die im Prinzip nicht unmittelbar Gegenstand der Garantie ist, doch strukturell notwendig ist.74 Darüber hinaus bestehen auch mehrere, konkretere Ansätze, die sich insbesondere auf die spezifischen Schutzbereiche der vorbehaltlosen Grundrechte beziehen.75 So 72

Hierzu und zum Folgenden Günther, Rechtstheorie 20/1989, 163, 177. Müller, Die Positivität der Grundrechte; ders., Freiheit der Kunst. 74 So schütze beispielsweise Art. 8 Abs. 1 GG nicht unbedingt die freie Entscheidung über den Versammlungsort – solange gleichwertige und austauschbare Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Ein Verweis aus einem gewählten, aber einsturzgefährdeten Versammlungsraum wäre daher im Prinzip kein Problem der Versammlungsfreiheit. Dies gelte aber nicht, wenn z. B. eine Politikgruppe gerade ein einsturzgefährdetes Haus auf seine Denkmalwürdigkeit hin untersuchen möchte und sich deshalb in diesem Haus versammelt. Der Versammlungsort ist hier aus inhaltlichen Gründen untrennbar mit der Versammlung verknüpft. s. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 231 f. 75 Neuerlich zu den verschiedenen vorbehaltlosen Grundrechten Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 241 ff., der die Mehrheit der vorbehaltlosen Grundrechte als Kommunikationsfreiheiten auffasst und zwischen Kommunikationsfreiheiten als Inhaltsfreiheiten und als Ausübungsfreiheiten unterscheidet. Die Freiheiten des Art. 4 Abs. 1 GG und des Art. 5 Abs. 3 73

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sei z. B. der Gewährleistungsinhalt des Art. 4 Abs. 1 GG nicht eine Handlungsfreiheit gemäß dem Gewissen, sondern die Unverletzlichkeit des Gewissens: Erst „das Gewissengebot, die Gewissensüberzeugung, lösen den grundrechtlichen Abwehranspruch aus“.76 Dies wird im Schrifttum und gelegentlich wohl auch in der Rechtsprechung genau dahingehend präzisiert, dass das Verhalten für den religiösen oder weltanschaulichen Auftrag notwendig sein und in entsprechendem organisatorischem und sachlichem Zusammenhang damit stehen muss, und dass es nicht ausreicht, wenn das Handeln nur im äußeren Zusammenhang mit religiösem und weltanschaulichem Handeln oder nur bei dessen Gelegenheit erfolgt.77 Vielfach GG werden demnach als Inhaltsfreiheiten und diejenigen des Art. 6 Abs. 1 GG (Ehe und Familie), des Art. 8 Abs. 1 GG (Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen), des Art. 9 Abs. 1, 3 (Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit), des Art. 12 Abs. 1 GG (Berufswahlfreiheit) und des Art. 17 GG (Petitionsfreiheit) als Ausübungsfreiheiten eingeordnet. Hinsichtlich der Inhaltsfreiheiten sei ferner zunächst die religiöse, wissenschaftliche oder künstlerische Botschaft geschützt, sodass der Staat eine solche inhaltliche Aussage weder bewerten noch aufgrund ihres Inhalts verbieten oder nachteilige Rechtsfolgen daran knüpfen dürfe. Die Modalitäten der Inhaltserstellung und der Inhaltsverbreitung seien demgegenüber nur dann geschützt, wenn sie einen zwingenden Bezug zur inhaltlichen Aussage haben. Die Ausübungsfreiheiten schützten ihrerseits bestimmte Formen des Zusammenkommens (beispielsweise als Ehe und Familie oder als Versammlung bzw. Vereinigung und Koalition). Geschützt seien hierbei die Zusammenkunft an sich in ihrer Entstehung, Bestand und ggf. in ihrer Auflösung sowie die zusammenkunftsspezifische Betätigung. Vgl. auch allgemeiner, zu den verschiedenen Grundrechten Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 212 ff., der u. a. eine grundsätzliche Herausnahme der Grundrechte des Art. 2 Abs. 2 und Art. 14 GG aus dem Gewährleistungsbereich aller Handlungsgrundrechte vertritt. 76 s. Böckenförde, VVDStRL 28/1970, S. 33, 64; ders., Der Staat 42/2003, 165, 180. Art. 4 GG ist historisch als Abwehrrecht gegen unmittelbare Glaubens- und Gewissenszwänge entstanden und schützt über das forum internum (d. h. das Haben eines Glaubens oder Gewissens) hinaus auch das Recht, Glauben und Religion ausüben zu dürfen und der eigenen Gewissensüberzeugung gemäß leben und handeln zu können. Etwas anderes ist aber die Erstreckung dieses Grundrechts auf alle glaubens- und überzeugungsgetragenen Handlungen – also sein Verständnis als Handlungsfreiheit gemäß dem eigenen Gewissen. So BVerfGE 32, 98 (106) (Gesundbeter); 41, 29 (49) (Simultanschule); 108, 282 (297) (Kopftuch): Zu der Glaubensfreiheit gehöre „auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“. Kritisch auch Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 62 f. s. ferner Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 125, Rn. 512: Es besteht „die Gefahr, dass der Schutzbereich konturenlos wird“. 77 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 125 f., Rn. 514 ff. So ist die Werbung für den Glauben von Art. 4 geschützt, nicht aber jedes Mittel, das im Zusammenhang mit der Werbung eingesetzt wird, wie die Ausnutzung einer Zwangslage (BVerfGE 12, 1/4 f. – Glaubensabwerbung) oder eines Abhängigkeitsverhältnisses (BVerwGE 15, 134/136); der Übertritt zu einer anderen Glaubensgemeinschaft ist zwar geschützt, nicht aber jedes Verhalten bei Gelegenheit dieses Übertritts (BVerfGE 17, 302/305); religiöse Veranstaltungen sind zwar geschützt, nicht aber der Verkauf von Speisen und Getränken an die Teilnehmer (BVerfGE 19, 129/133 – Umsatzsteuer) oder die Erbringung anderer entgeltlicher Leistungen, die üblicherweise auch unabhängig von der Mitgliedschaft in der religiösen Vereinigung erbracht werden (BVerwGE 105, 313/321). s. ferner BVerwGE 90, 112 (118), der zufolge eine wirtschaftliche Betätigung nicht durch religiöse Verbrämung zu religiöser Betätigung wird.

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hervorgehoben wird ebenfalls, dass Art. 5 Abs. 3 GG nicht als umfassende Handlungsfreiheit der Künstler oder Wissenschaftler zu interpretieren ist. Wird dem Künstler oder Wissenschaftler vorgeschrieben, was er zu arbeiten hat, wie stilistisch bzw. methodisch vorzugehen ist und so fort, ist es mit der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit zu Ende.78 Davon zu unterscheiden ist aber die Frage, welchen Bereich des menschlichen Handelns das jeweilige Spezialgrundrecht schützt. Insoweit ist eine Bestimmung unausweichlich. Darüber hinaus wird beispielsweise vertreten, dass sich die Gewährleistung der Kunstfreiheit bzw. der Wissenschaftsfreiheit darauf konzentrieren soll, auch sonst erlaubtes Verhalten dann zu schützen, wenn es Kunst oder Wissenschaft herstellt und darbietet.79 Diese Freiheiten bezögen sich mit anderen Worten auf die spezifisch künstlerische bzw. wissenschaftliche Betätigung erlaubten Verhaltens – ähnlich wie bei der Berufsfreiheit. Dies sei nicht etwa eine überflüssige zusätzliche Erlaubnis des ohnehin schon Erlaubten. Denn Kunst80 und Wissenschaft81 könnten mit ihrem avantgardistischen und kritischen Anspruch von einer Anstößigkeit und Provokation sein, die spezifischen Schutzes bedürfe.

78 Vgl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 202 (m. w. N.); ders., EuGRZ 1984, 457, 465. s. ferner Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 142: Dem Abwehrrechtsanwender sei definitiv versagt, den verfassungsrechtlichen Wissenschafts- oder Kunstbegriff in einem material-qualitativen Sinne inhaltlich zu determinieren, d. h. verfassungsrelevant zwischen guter und schlechter Wissenschaft oder Kunst zu differenzieren. 79 Hierzu und zum Folgenden Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 152 f., 154 f., Rn. 616 ff., 624 ff. 80 Insbesondere hinsichtlich der Kunstfreiheit wird der Schutz hierbei durch die Mannigfaltigkeit des Aussagegehalts der Kunst verstärkt. Denn im Zusammenhang mit dem offenen Kunstbegriff bedeute Kunstfreiheit, „dass der rechtlichen Würdigung von mehreren möglichen Interpretationen eines Kunstwerks diejenige zu Grunde zu legen ist, in der das Kunstwerk fremde Rechte nicht beeinträchtigt.“ Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 153, Rn. 617 f. (m. w. N.). Vgl. BVerfGE 67, 213 (230) (Anachronistischer Zug); 81, 298 (307) (Nationalhymne). In ähnlicher Richtung – aber in Bezug auf die Meinungsfreiheit – hat das Gericht auch festgelegt: „Bei Äußerungen, die mehrere Deutungen zulassen, dürfen sie [die Gerichte] sich nicht für den zur Verurteilung führenden Sinn entscheiden, ohne zuvor die Alternativen mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen zu haben“. BVerfGE 94, 1 (9) (DGHS). s. auch BVerfG, NJW 1999, 204 (Oktoberfest-Flugblatt); BVerfGE 102, 347 (367 ff.) (Schockwerbung I). 81 Vgl. auch Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 184: Forschungsfreiheit umfasse etwa die Freiheit der Fragestellung und die Freiheit der Wahl der Methode. So könnten wissenschaftliche Fragestellungen wehtun, gegen political correctness verstoßen und angenommenen Wertkonsens erschüttern; aber sie sollten frei sein und keinen verfassungsimmanenten Schranken unterliegen. Hingegen erstrecke sich ihr Schutz nicht etwa auf die eigenmächtige Inanspruchnahme von Gegenständen und Rechtsgütern, die für die Durchführung der Forschungsvorhaben notwendig sind. s. ferner Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 65, der skeptisch gegenüber einem Verständnis der Forschungsfreiheit als umfassende Freiheit auch der Herbeiführung von Wirkungen durch Forschung und insbesondere der Verwertung der Forschungsergebnisse steht. Es müsse gefragt werden, ob der Forscher zwar nach Art. 5 Abs. 3 GG alle Freiheit des Forschens, aber nicht des Bewirkens nachteiliger Folgen für Dritte hat.

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2. Auffanggrundrecht: Subsidiärer Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit Die Grundrechte lassen unter der Prämisse des mit der allgemeinen Handlungsfreiheit gewährleisteten Auffanggrundrechts keinen Lebensbereich ihrer Träger unthematisiert. Freiheitsbetätigungen, die nicht durch ein Spezialgrundrecht geschützt sind, fallen daher weder in Schutzlosigkeit, noch stehen sie gesetzgeberischer Beliebigkeit offen; vielmehr kann hier auf die allgemeine Handlungsfreiheit zurückgegriffen werden.82 Bei Handlungen, die nicht in den Schutzbereich eines speziellen Freiheitsrechts fallen, verbleibt mit anderen Worten der subsidiäre Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG sowie auch des Art. 3 Abs. 1 GG, die unsinnigem und willkürlichem Staatshandeln hinreichend Einhalt gebieten. Das mit der Elfes83-Doktrin verbundene Verständnis der Freiheitsrechte, das eine Rechtfertigung für jegliche Einschränkung menschlichen Verhaltens verlangt, bleibt somit nach dem hier vertretenen Ansatz aufrechterhalten. Das Auffanggrundrecht schirmt die individuelle Freiheit allgemein gegen Beliebigkeitszugriffe ab, sodass der Staat weiterhin jede Beschränkung menschlicher Freiheit begründen muss. Mit der Anerkennung von Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeiner Handlungsfreiheit ist in der Tat nicht nur eine umfassende staatliche Rechtfertigungslast, sondern auch schon ein umfassender Prima-facie-Schutz des Grundrechtsträgers garantiert. Die weiteren Diskussionen auf der Schutzbereichsebene beziehen sich „nur“ noch auf einen darüber hinausgehenden Schutz durch die Einschlägigkeit eines der verschiedenen Spezialgrundrechte.84 Der Schutzbereich determiniert nur die Art, nicht mehr das Ob der Grundrechtsbindung. Ist der Thesenanschlag durch die Wissenschaftsfreiheit nicht geschützt (weil gleichwertige, austauschbare Möglichkeiten der Publikation offenbleiben – s. o. G.I.2.), verbleibt der subsidiäre Schutz des Art. 2 82

Bereits Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 188 f., (G.I.1) weist darauf hin, wenn er eine differenzierte Betrachtung des grundrechtlichen Gewährleistungsumfangs vertritt. So auch Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 238; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 146 ff. Zweifelnd an der Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 GG im Falle von Schutzbereichsausgrenzungen Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 66 ff., 73. Kritisch zum Ausschluss der Auffangfunktion von Art. 2 Abs. 1 GG statt vieler Kahl, Der Staat 43/2004, 167, 185 ff. (m. w. N.). Dass Art. 2 Abs. 1 GG ein Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit garantieren soll, entspricht in der Tat auch den Motivationen, die den Parlamentarischen Rat bei der Debatte um Art. 2 Abs. 1 GG und seiner Formulierung bewegt haben. Zur Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung s. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 132 ff.; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 148 f.; Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 188 f. (inkl. Fn. 90 f.). 83 BVerfGE 6, 32 (34 ff.) (Elfes). s. auch etwa BVerfGE 54, 143 (144) (Taubenfütterungsverbot); 80, 137 (152 ff.) (Reiten im Walde); 90, 145 (171) (Cannabis); 96, 10 (21) (Räumliche Aufenthaltsbeschränkung). 84 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 147 f. Unter der Prämisse eines Auffanggrundrechts bestehe, wie bereits ausgeführt, die dogmatische Funktion des Schutzbereichs darin, über die Zuordnung zu einem speziellen Grundrecht mit jeweils speziellen Rechtfertigungsanforderungen zu entscheiden. Vgl. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 163.

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Abs. 1 GG. Die grundlose Untersagung des Malens auf der Straßenkreuzung ist weiterhin als bloße Willkür vor Art. 2 Abs. 1 GG nicht zu rechtfertigen.85 Die Beispiele könnten fortgeführt werden. Sie machen jedoch bereits deutlich, dass die Argumentationslastverteilung im Ergebnis zulasten des Staates aufrechterhalten bleibt. Auch eine genauere Präzisierung des Schutzbereichs führt daher nicht zu einem Verlust an Grundrechtsschutz in den Fällen, in denen „lediglich“ Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht eingreift. Auf Grundrechtsschutz und auf die staatliche Begründungspflicht bei Freiheitsbeschränkungen muss daher nicht verzichtet werden.

3. Zu den Einwänden gegen eine präzise Schutzbereichsbestimmung: Verkürzung des Grundrechtsschutzes, Verschiebung des Problems und Irrationalität Bevor auf die weiteren Elemente des Abwehrrechts eingegangen wird, scheint es sinnvoll zu sein, einige naheliegende Einwände zu diskutieren, die gegen den Vorschlag einer sorgfältigen Bestimmung des Schutzbereichs vorgebracht werden: der erste betrifft die Gefahr einer Verkürzung des Grundrechtsschutzes (aa), der zweite postuliert eine bloße Verschiebung der Problematik statt ihrer Auflösung (bb) und der dritte bezieht sich auf eine angebliche Irrationalität einer engeren Schutzbereichsauslegung (cc).86 Um unnötige Missverständnisse zu vermeiden, gilt es aber nochmals darauf hinzuweisen, dass es hier nicht um eine a priori und allgemein enge Tatbestandsabgrenzung geht, sondern um die sorgfältige und gesonderte Herausarbeitung des Schutzbereichs jedes einzelnen Grundrechts. Gegenüber einer abstrakten Beliebigkeits-Freiheit hinsichtlich sämtlicher Grundrechte, welche ihre Verschiedenheiten entdifferenziert und sie in ein pauschales allgemeines Freiheitsrecht 85 Sollte aber die Untersagung des Malens auf der Kreuzung z. B. unter Bezug auf den vom Künstler gewählten Stil vorgenommen werden, dann greift Art. 5 Abs. 3 GG ein. 86 Vgl. etwa Kahl, Der Staat 43/2004, 167, 184 ff.; Silva, Direitos fundamentais, S. 95 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 293 ff. Die Kritiker tendieren aber dazu, ein Plädoyer für ein weites Schutzbereichsverständnis zu entfalten, welches die Verschiedenheiten verschiedener Grundrechte und die Problematik vorbehaltloser Grundrechte weitgehend ignoriert und immer wieder zu freischwebenden, situativen Güterabwägungen führt. So stellv. Kahl, Der Staat 43/ 2004, 167, 192: „Abstrakt-genereller Interpretations-Dezisionismus auf der Schutzbereichsebene ist das noch größere Übel als konkret-individueller Abwägungs-Dezisionismus auf der Rechtfertigungsebene.“ Diese Hochpreisung überrascht hierbei insbesondere angesichts der zugleich erhobenen Forderung nach Bestimmtheit und Rechtssicherheit (ebd., S. 194 f.) sowie nach Rationalität und Transparenz (ebd., S. 189 ff.). Dass überhaupt ein weitreichender konkreter Grundrechtsschutz oder eine erhöhte Rationalität des grundrechtlichen Argumentierens mit Einzelfallabwägungen erreicht werden soll, leuchtet ferner nach den oben dargelegten problematischen Aspekten der Abwägungsdogmatik nicht ein. Auseinandersetzungen mit den hier behandelten oder auch anderen Einwänden finden sich ferner bei Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, 185 ff.; Hoffmann-Riem, Der Staat 43/2004, 203, 205 ff.; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 231 ff.; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 138 ff.

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wandelt, wird allerdings doch von einer genaueren und insoweit – aber auch nur insoweit – engeren Schutzbereichsbestimmung ausgegangen. (aa) Gegen eine präzisere Bestimmung des Schutzbereichs wird zunächst eingewendet, dass sie zu einer Verkürzung der Wirkkraft der Grundrechte führen würde: Eine weite Auslegung des Schutzbereichs würde einen weitergehenden grundrechtlichen Schutz ermöglichen. Wird aber dieser Annahme gefolgt, haben wir zum einen die tendenzielle Einebnung der Verschiedenheiten verschiedener Grundrechte und zum anderen im Ergebnis einen Dauerkonflikt, der ein ständiges Bedürfnis nach Abwägung und Einschränkung nach sich zieht. Indem das gegenwärtig herrschende Modell einen weiten Schutzbereich annimmt, ohne zugleich alle eingeschlossenen Verhaltensweisen auch definitiv für zulässig zu halten, setzt die weite Tatbestandsinterpretation zwangsläufig voraus, dass eine entsprechende Schranke als Rechtfertigungsgrund besteht. Ist diese nicht vorhanden, muss mittels Einzelfallabwägungen mit ungeschriebenen und der Tendenz nach uferlosen Einschränkungen gearbeitet werden. Mit der Annahme eines weiten Schutzbereichs – insbesondere bei den vorbehaltlosen Freiheitsrechten – werden daher tendenziell zahlreiche Begrenzungsnotwendigkeiten und damit auch die Rechtfertigung von Begrenzungen geschaffen. Die Ausweitung der speziellen grundrechtlichen Schutzbereiche zu umfassenden Handlungsfreiheiten hat tatsächlich in der Praxis zu einer immer großzügigeren Konstruktion von Kollisionslagen geführt (s. o. F.I.). Mit einer solchen Ausweitung steigt notwendigerweise das Bedürfnis nach Schranken, wie sie kollidierendes Verfassungsrecht auch für die explizit geschützten Modalitäten bereitstellt. Auch hier sind Eingriffe dann mehr oder weniger leicht zu rechtfertigen, was insgesamt zu einem undifferenzierten und der Tendenz nach schwächeren Grundrechtsschutz führt. Die auf den ersten Blick freiheitssichernde Wirkung einer weiteren Schutzbereichsauslegung verkehrt sich also in ihr Gegenteil, wenn die differenzierte Schutzintensität, die das GG mit seiner Schrankensystematik für verschiedene Verhaltensweisen bietet, auf einem eher niedrigeren Niveau eingeebnet wird.87 Die Annahme ungeschriebener Schranken ermöglicht in diesem Sinne einen staatlichen Zugriff auch auf das sachspezifisch Geschützte und macht alles von einer Einzelfallabwägung abhängig. Damit ist der Staat sogar in der Lage, z. B. Kunst oder die wissenschaftliche Fragestellung zu bewerten, weil sämtliche Grundrechte nun vollends unter dem unbestimmten Vorbehalt kollidierender Verfassungsgüter stehen. Eine genauere Präzisierung der grundrechtlichen Schutzbereiche vermeidet hingegen, dass die nach der Verfassung nur auf einzelne spezifische Modalitäten 87 Zum Ganzen Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 237, 264. Die Grundrechte werden – mit den Worten von Böckenförde und Mahrenholz in der abw. Meinung, BVerfGE 69, 1 (63) – zu Abwägungsgesichtspunkten. s. auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 153, 155, 168; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 55 f., 152, Rn. 228 ff., 616; Hoffmann-Riem, Der Staat 43/2004, 203, 229; ders., in: Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 62 ff.: Mit der Ausdehnung von Schutzbereichen korreliert eine Ausweitung der Beschränkungsmöglichkeiten.

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bezogenen Spezialfreiheiten zu umfassenden Handlungsfreiheiten ausgedehnt werden, sodass auch die Gesetzesvorbehalte sowie die Vorbehaltlosigkeit mancher Grundrechte ernst genommen werden können. Es gilt außerdem nochmals hervorzuheben, dass es hier nicht darum geht, einem unkritisch weiten Schutzbereich einen anderen auch unkritischen, aber engeren Schutzbereich entgegenzusetzen, sondern um die reflexive Herausarbeitung des Umfangs des Schutzbereichs der einzelnen Grundrechte, und zwar unter Berücksichtigung der jeweiligen Grundrechtsnormen einschließlich ihrer verschiedenen Lebensbereiche, ihrer Schranken sowie der grundgesetzlichen Systematik und des Neutralitätsgebots. Hinzu kommt, dass auch bei einer sorgfältigen Schutzbereichsbestimmung auf Grundrechtsschutz und auf die staatliche Begründungspflicht bei Freiheitseinschränkungen nicht verzichtet werden muss. Bei Handlungen, die nicht durch ein spezifisches Grundrecht geschützt sind, verbleibt der subsidiäre Schutz des Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.88 Jede Einschränkung menschlicher Freiheit ist nach wie vor vom Staat zu begründen. Mit einem weiten Tatbestandsansatz ist daher – jedenfalls bei Existenz der allgemeinen Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht – keine Verstärkung des Grundrechtsschutzes verbunden. (bb) Dem hier dargestellten Ansatz lässt sich ferner vorwerfen, dass er nur eine Verschiebung des Problems statt seiner Auflösung bedeutet: Was heute unter der dritten Stufe der triadischen Struktur – Rechtfertigung des Eingriffs – kontrolliert wird, würde nun in der ersten Stufe geprüft. Die Abarbeitung der Kollisionsprobleme könnte aber auf der Rechtfertigungsebene flexibler und gehaltvoller vorgenommen werden. Gegen diesen Einwand ist zunächst anzuführen, dass die Reichweite des Schutzbereichs nach der hier skizzierten Alternative nicht bloß kollisions- bzw. fallabhängig zu bestimmen ist. Es geht also nicht darum, jedes angeblich kollidierende Verfassungsrecht als Schutzbereichsbegrenzung zu sehen. Vielmehr handelt es sich um eine normgebundene Dogmatik, die zur Bestimmung der Reichweite eines Grundrechts bei diesem Grundrecht ansetzt. Nicht eine konstruierte Kollisionslage, sondern das Grundrecht selbst wird als Ausgangspunkt der Überlegungen genommen. Zwar liegt der Grund für die Bestimmung der sachlich-normativen Grenzen des spezifischen Schutzbereichs zumeist darin, Spannungslagen mit Rechten Dritter oder anderen Verfassungsnormen zu vermeiden. Wäre eine Spannungslage nicht zu befürchten, gäbe es kein praktisches Bedürfnis nach jedem Nachdenken über Definitionen und Abgrenzungen. Das bedeutet aber nicht, dass das „kollidierende Interesse“ selbst das Mittel zur Herausarbeitung des Schutzbereichs ist.89 Was 88 Die von Kahl, Der Staat 43/2004, 167, 185 ff., hingewiesene Gefahr von Schutzlücken besteht folglich nicht. Ebenso nicht deutlich wird es, worin die von ihm (S. 188) befürchtete „Überstrapazierung“ des Art. 2 Abs. 1 GG bestehen soll. 89 So aber – im Bezug auf Müllers Theorie – Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 112, 284 f. Vgl. dagegen die Analyse der Kontroverse zwischen den Theorien Müllers und Alexys bei Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 232 f.; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 158 ff. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 56 f., selbst hat schon früher diese

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grundrechtlich geschützt ist, bestimmt sich nicht aus einer Abwägung mit gegenläufigen Belangen, sondern allein aus dem Sachbereich und Normprogramm des betroffenen Grundrechts, d. h. aus den Gründen, warum er – mit den Worten Müllers – „nach historischer Erfahrung, politischer Überzeugung und rechtlicher Einsicht“ gewährleistet worden ist.90 Dabei handelt es sich ferner nicht um die Rücknahme einer eigentlich bestehenden grundrechtlichen Reichweite, sondern überhaupt um die Bestimmung der sachlich-normativen Reichweite. Vorgeschlagen wird mit anderen Worten nicht die Verkürzung des ursprünglich bestehenden Normgehalts, sondern überhaupt das Herausarbeiten des Inhalts der positiven Norm.91 Gehaltvoll argumentieren ist hierbei nicht nur möglich, sondern gefordert. Die Tatsache, dass die Bereichsdogmatiken relativ stabil wirken und nicht für alle Interessen gleichermaßen durchlässig und Gegenstand punktueller Abwägungen sind, scheint schließlich nicht einen Schwachpunkt des Ansatzes zu bilden, sondern eher der Funktion des Rechts der Erwartungsstabilisierung Rechnung zu tragen. (cc) Gegen eine präzisere Bestimmung der Grundrechtsgewährleistung ist schließlich von Irrationalität der Auslegung die Rede. Es wird nämlich vorgebracht, dass gerade die bei dem Einsatz einer Grundrechtsschranke verfassungsrechtlich gebotene Argumentation zu einem rationalen Umgang mit Grundrechtsbeschränkungen beitrage: Werde zunächst eine weite Auslegung des Tatbestands angenommen, dann müssten Gründe und Gegengründe für eine Grundrechtseinschränkung umfassend offengelegt werden und dazu könne auf jeden Einzelfall angemessen eingegangen werden.92 Ein solcher Ansatz muss sich allerdings zunächst am Verfassungstext messen lassen, und dort gibt es sowohl die Differenzierung zwischen allgemeiner Handlungsfreiheit und Spezialgrundrechten als auch die vorbehaltlosen Grundrechte, die dazu geführt haben, dass man sich beim gegenwärtigen Begrenzungsmodell über die normativen Vorgaben der Verfassung hinwegsetzen und mittels Differenzierung hervorgehoben: Wo eine Scheinkollision von Grundrecht und Gesetzesvorschrift dazu veranlasse, die Grenze des Geltungsgehalts zu bestimmen, geschehe das nicht kraft der Gesetzesnorm. So habe z. B. § 242 StGB im Falle eines Diebstahls des Kunstmaterials dazu angeregt, die sachlich-normative Grenze des grundrechtlichen Geltungsgehalts des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG an dieser Stelle der Rechtsordnung zu verdeutlichen; nicht aber habe er das Grundrecht der Kunstfreiheit eingeschränkt. Der Diebstahl des Materials stehe von vornherein nur in Zusammenhang mit einer grundrechtsspezifisch geschützten Handlung, sei selbst aber keine solche. Es sei zwar einleuchtend, dass die Erarbeitung grundrechtlicher Geltungsgehalte ihren Ansatzpunkt in aller Regel an möglichen Konfliktpunkten mit der Rechtsordnung finde. Damit sei jedoch nicht schon irgendeine dogmatische Festlegung verbunden. 90 Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 99. 91 Dies ist übrigens ein gravierender Fehler von Alexys Kritik an der müllerschen Theorie. Während es Müller gerade darum geht, die sachlich-normative Reichweite der einzelnen Grundrechte mit Hilfe seines Ansatzes zu bestimmen, setzt Alexy einfach die Reichweite von vornherein in ihrer denkbar weitesten Form fest und ist so in der Lage, Müllers Ansatz als eine nachträgliche Einschränkung zu behandeln. Vgl. dazu Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 158 f. 92 Vgl. etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 295 ff.; Kahl, Der Staat 43/2004, 167, 189 ff.

II. Sorgfältige Schutzbereichsbestimmung der Spezialgrundrechte

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Abwägung mit ungeschriebenen und der Tendenz nach grenzenlosen Einschränkungen arbeiten musste. Es hat sich in der Tat mehrfach gezeigt, dass die Erweiterung des Schutzbereichs vielmehr dazu geführt hat, dass immer neue Rechtfertigungsgründe gefunden und ausgedehnt wurden und dass letztlich fast sämtliches Entscheidende in die Einzelfallabwägung verlagert wurde. Werden quasi alle Grundrechtsschwierigkeiten anhand unspezifisch und kasuistisch abwägender Argumentationen gelöst, gelangen wir zum „Nullpunkt der Dogmatik“93 und ihrer Steuerungsfunktion. Der Abwägungspragmatismus überrollt daher zum einen den Wortlaut und die Systematik des Grundrechtsteils und kann zum anderen weder inhaltliche Maßstäbe noch dogmatische Vorgaben zur Verfügung stellen, die den rechtsstaatlichen Anforderungen an Normklarheit und fallübergreifende Erwartungsstabilisierung genügen. Wird andererseits auf der Ebene des Schutzbereichs argumentiert, handelt es sich um Interpretation eines Normtextes, sodass die Argumentation an dieser Stelle durch die juristische Methodik gelenkt werden soll.94 Bei einer solchen Vorgehensweise sind dann die Überlegungen zum gebotenen Maß an Schutz offenzulegen und der Kritik auszusetzen. Differenzierungen auf Schutzbereichsebene sind in der Tat bereits in der gegenwärtigen Grundrechtsdogmatik alles andere als unbekannt und eigentlich unvermeidlich: Jede Begriffsdefinition beinhaltet notwendig schon eine Abgrenzung.95 Selbstverständlich können Schwierigkeiten hierbei auftauchen. 93 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 81. s. o. E.III.5. und F.III. Ähnl. Volkmann, JZ 2005, 261, 267. 94 s. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 238. Zur Kontingenz von Normgehalt und ihrer Bedeutung für die grundrechtliche Auslegung s. Hoffmann-Riem, Der Staat 43/2004, 203, 207. Vgl. ferner Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 241, Rn. 565: „Gewiss enthalten die Entscheidungen der Verfassungsgerichtsbarkeit ein Moment schöpferischer Gestaltung. Aber alle Interpretation trägt schöpferischen Charakter (…). Sie bleibt auch dann Interpretation, wenn sie der Antwort auf Fragen des Verfassungsrechts dient und wenn sie Normen von der Weite und Offenheit zum Gegenstand hat, wie sie dem Verfassungsrecht eigentümlich sind. Die Konkretisierung solcher Normen mag größere Schwierigkeit bereiten als die von detaillierenden Vorschriften; doch ändert dies nichts daran, dass es sich in beiden Fällen um strukturell gleichartige Vorgänge handelt.“ 95 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 132, 138. s. auch Müller/ Christensen, Juristische Methodik, S. 416, Rn. 404: „Jedes Konkretisieren bedeutet in dem Maß, in welchem inhaltliche Aussagen bestimmbar werden, zugleich Ausgrenzung und Abgrenzung.“ Ist z. B. die neue Rspr. des BVerfG zum Versammlungsbegriff, der zufolge ein gemeinsamer Zweck in gemeinsamer und öffentlicher Meinungsbildung liegen muss (s. BVerfGE 104, 92/104 – Sitzblockaden III; 104, BVerfG, NJW 2001, 2459/2460 f. – Loveparade), streitig und fragwürdig, besteht hingegen Einigkeit darüber, dass nicht jedes Zusammenkommen mehrerer Personen ausreicht, sondern eine innere Verbindung durch gemeinsame Zweckverfolgung erforderlich ist. Der Versammlungsbegriff wird also mindestens von der bloßen Ansammlung unterschieden. s. dazu statt vieler Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 173 f., Rn. 689 ff. Auf jedem Fall erscheint es einem rechtsstaatlichen und dogmatischen Verständnis eher zu entsprechen, die abstrakte Frage zu diskutieren, ob eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG auf eine gemeinsame und öffentliche Meinungsbildung abzielen muss und ggf. welche Voraussetzung eine der Meinungsbildung dienende Versammlung zu erfüllen hat, als

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

Meinungsverschiedenheiten über die Lokalisierung der Grenze sachlicher Gewährleistung sind aber weit besser rational diskutierbar als solche über die Formulierung pauschaler, nur von Fall zu Fall konkretisierbarer Abwägungsvorbehalte.96 Indem sich der Nicht-Schutz nicht einfach als Ergebnis einer Abwägung im Einzelfall erweist, setzt er sich in diesem Sinne kritischen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit tendenziell in erhöhtem Maße aus. Gerade wenn man die verschiedenen inhaltlichen Bedeutungen der einzelnen Grundrechtsgewährleistungen herausarbeitet und auf ihre Aussagekraft hin überprüft, werden die Gründe für oder gegen einen spezifischen Grundrechtsschutz sichtbar. Es geht folglich nicht um die pauschale Behauptung, dieses oder jenes Verhalten genieße nicht den Schutz eines bestimmten Grundrechts. Die Entscheidung muss vielmehr aus der Norm, ihrem Sachbereich und Normprogramm, ihrer institutionellen Geschichte und dem Gesamtsystem Verfassung heraus begründet werden. Diese Vorgehensweise ist letztlich nichts anderes als methodisch gelenkte Rechtsauslegung, also die tägliche Arbeit des Juristen. Der Grundrechtsanwender muss dabei zeigen können, dass er sich an den zuvor gefundenen Parametern97 orientiert und nicht einfach einen für den Einzelfall individuellen Entscheidungsmaßstab erfunden hat. Dass auch der mit einer auf Schutzbereichsebene differenzierenden Herangehensweise verbundene Prozess der Grundrechtsinterpretation nicht ohne Wertung auskommt, ist unumstritten. Aber dies rechtfertigt es nicht, eine skeptische Haltung einzunehmen und auf eine durch Rechtsauslegung vermittelte Rückkopplung an die positiven Normen zu verzichten.98 Vielmehr muss man sich verstärkt darum bemühen, die bei jeder Auslegung erforderlichen Wertungen durch den Anwendungsdiskurs und eine leistungsstarke Dogmatik nach Möglichkeit in den Griff zu bekommen. Für den Bürger bildet ein entscheidender Vorteil dieses Ansatzes die Nachvollziehbarkeit und erhöhte Klarheit darüber, welches Verhalten in den Schutzbereich der verschiedenen Freiheitsrechte fällt oder nicht, und somit, ob der Staat dieses Verhalten – je nach positivierter Vorbehaltsschranke – verwehren darf oder nicht.99 Auf Einzelfallabwägungen mit ungewissem Ausgang muss sich der Bürger nicht einlassen.100 mittels unbefriedigender Kriterien abzuwägen, ob im Einzelfall das Allgemeininteresse ein Individualinteresse überwiegt, zumal beim nächsten Mal alles ganz anders sein kann. 96 Vgl. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 31. 97 Es kann kaum genug betont werden, dass die Tatsache, dass diese Parameter auch interpretiert werden und für einen Anwendungsdiskurs geöffnet sind, nichts an den Anforderungen an den Rechtsanwender ändert: Er ist und bleibt verpflichtet, sein Urteil ausschließlich kraft des bestehenden Rechts zu fällen. Vgl. in diesem Sinne die Bemerkungen über die konstruktive Interpretation von Dworkin (s. o. G.II.1.). 98 Vgl. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 166: Das „Kind mit dem Bade auszuschütten“. s. auch Volkmann, JZ 2005, 261, 266 f. 99 s. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 238. So, um ein Beispiel zu nennen, kann der Bürger wissen, dass, solange kein verfassungsmäßiges einschränkendes Gesetz besteht, Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG alle seine Meinungsäußerungen schützt, egal ob sie als begründet oder grundlos, emotional oder rational, wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden.

III. Grundrechtsbindung der Gewalten und Rechtfertigungsanforderungen

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III. Grundrechtsbindung im Gefüge der Gewalten und Rechtfertigungsanforderungen Der Schutzbereich des betreffenden Grundrechts bleibt der entscheidende Bezugspunkt für die Frage, ob ein Gesetz als eingreifendes anzusehen ist oder nicht, und erst wenn ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts vorliegt, muss geprüft werden, ob ein solcher Eingriff durch einen entsprechenden Gesetzesvorbehalt gerechtfertigt werden kann. Die differenzierte Erarbeitung der Dogmatik der Einzelgrundrechte hat daher ihren Ausgangspunkt an der Schutzbereichsbestimmung. Doch die Unterscheidungen gehen weit darüber hinaus und betreffen auch insbesondere die Abstufung der Gesetzesvorbehalte (1.) sowie die Ausformung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (2.). Die Grundrechte legen in diesem Sinne für ihre verschiedenen Lebensbereiche verschiedene Zweck- und Mittelvorgaben fest, die zusammen mit dem Geeignetheits- und Notwendigkeitskriterium den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterschiedlich ausformen. Stärker als bislang ist ebenso zu betonen, dass dieser Grundsatz für die Kontrolle des Gesetzgebers einerseits und für die der Rechtsanwendungsorgane andererseits unterschiedliche Bedeutungen hat. Auch die Herausarbeitung der Wesensgehaltsgarantien soll schließlich auf die Verschiedenheiten verschiedener Grundrechte eingehen und innerhalb der differenzierten Grundrechtsdogmatiken entwickelt werden (3.).

1. Grundrechtseingriff und positivrechtliche Ausgestaltung der Gesetzesvorbehalte Als Eingriffe im Sinne von Art. 1 Abs. 3 GG kommen nach der hier vertretenen Konzeption nur staatliche101 Verhalten in Betracht, die negativ auf einen grundrechtlich geschützten Lebensbereich Zugriff nehmen. Sie zeichnen sich mit anderen Worten dadurch aus, dass sie zum einen von einem Verhalten der öffentlichen Gewalt ausgehen und sich zum anderen als Hindernis für die Verwirklichung eines grundDies gilt aber nicht im gleichen Maße für die bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung. Vgl. BVerfGE 54, 208 (LS 2, 219) (Böll); 61, 1 (8 f.) (NPD Europas); 85, 1 (14 f.) (Bayer-Aktionäre); 90, 1 (15) (Jugendgefährdende Schriften); 90, 241 (247) (Auschwitzlüge). 100 Ähnliches gilt übrigens für den Grundrechtsadressaten: Werden die Vorbehaltsschranken immer mehr zu reinen Abwägungsgesichtspunkten umfunktioniert, ist eine abstrakte Steuerungswirkung kaum zu erlangen. Wenn alles von einer Einzelfallabwägung abhängt, kann der Grundrechtsadressat nicht wissen, nach welchen Kriterien er sein Handeln ausrichten soll. s. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 152 f. 101 Selbstverständlich kann auch das Verhalten anderer Grundrechtsträger die grundrechtlich geschützten Lebensbereiche negativ beeinflussen. Es wird hier aber nicht als Eingriff, sondern als faktische Beeinträchtigung wahrgenommen; denn die Grundrechtsträger sind zumindest durch Art. 1 Abs. 3 GG nicht an die Grundrechte gebunden. Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 164. Zur abwehrrechtlichen Erfassung der Dreieckskonstellationen s. u. H.IV.1.

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

rechtlich geschützten Freiheitsgegenstandes erweisen. Ein Grundrechtseingriff liegt daher sowohl dann vor, wenn dem Einzelnen ein grundrechtlich geschütztes Verhalten vom Staat verboten wird, als auch, wenn es einer staatlichen Sanktion als Anknüpfungspunkt dient.102 Greift der Staat so oder so in Grundrechtspositionen der Bürger ein, wird sein Verhalten vor den Grundrechten rechtfertigungsbedürftig. An jeden Eingriff in den Schutzbereich werden die abwehrrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen gestellt. Denn, was das Abwehrrecht garantiert, ist genau die Freiheit vor dem nicht gerechtfertigten staatlichen Eingriff. Entsprechend bildet die dritte Stufe des traditionellen grundrechtlichen Prüfungsschemas die Rechtfertigungsebene, die als dogmatische Funktion die Aufstellung bestimmter Begründungserfordernisse hat, deren Nichterfüllung zur Verfassungswidrigkeit des Grundrechtseingriffs führt (Argumentationslast). Die verschiedenen Freiheitsrechte stellen allerdings v. a. durch ihre differenzierten Schrankenregelungen, d. h. durch die abstufende Ausgestaltung des Gesetzesvorbehalts, verschiedene Rechtfertigungserfordernisse auf. Verpflichten die Abwehrrechte also allgemein, nicht gerechtfertigte Eingriffe zu unterlassen, fällt dennoch die Art der Rechtfertigung für die Grundrechte mit einfachem, qualifiziertem und ohne Gesetzesvorbehalt verschieden aus.103 Der Gesetzesvorbehalt erlaubt, wie ausgeführt, dem Gesetzgeber, Eingriffe in den Schutzbereich vorzunehmen, und verlangt gleichzeitig für den Eingriff der Verwaltung eine gesetzliche Ermächtigung. Er lässt so der gesetzgeberischen Sozialgestaltung Raum und fordert zugleich, indem er die Rechtfertigung von Eingriffen an ein Parlamentsgesetz knüpft, die demokratische Legitimation von Grundrechtsbeschränkungen ein. Über den Gesetzesvorbehalt binden daher die Abwehrrechte die rechtliche Ausgestaltung der Freiheit an den institutionalisierten politischen Prozess, den sie voraussetzen und zugleich über den Inhalt ihrer Garantien schützen. Dadurch tragen sie der Wichtigkeit der demokratischen Genese des geltenden Rechts und dem internen Zusammenhang zwischen Grundrechten und Demokratie besonders Rechnung.104 Der Gesetzesvorbehalt, der diese Kopplung der Freiheitsausgestaltung an den mit der höchsten demokratischen Legitimation versehenen politischen Prozess herstellt, bildet insoweit ein wesentliches Element des Abwehrrechts.

102

Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 58 f., Rn. 246. Vgl. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 156 f., 367: Weisen die verschiedenen Freiheitsrechte hinsichtlich des Schutzbereichs und der Eingriffkonzeption noch die gleichen Strukturen auf, so hat die Rechtfertigung besonders abhängig von der Ausgestaltung des Gesetzesvorbehalts unterschiedlich auszufallen. 104 „Die Abwehrrechte binden die rechtliche Ausgestaltung der Freiheit über den Gesetzesvorbehalt an den institutionalisierten politischen Prozess des Gesetzgebungsverfahrens und schaffen über den Inhalt ihrer Gewährleistungen gleichzeitig die Voraussetzungen für einen freien Prozess der informellen öffentlichen Meinungsbildung, der die institutionalisierten Abläufe begleitet.“ Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 142. Vgl. dazu auch oben B.IV.1. 103

III. Grundrechtsbindung der Gewalten und Rechtfertigungsanforderungen

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Bei aller Abkehr von einem nur-formalen Verfassungsdenken ist daher keine normative Rechtfertigung dafür ersichtlich, die Figur des Gesetzesvorbehalts nicht weiter auch als formalisierte Voraussetzung für die Legitimität von Grundrechtseinschränkungen anzusehen. Solange die Grundrechtsanwendung mit dem geltenden Recht kohärent sein, die Bedingung der Rechtssicherheit achten und nicht zu einer Entdifferenzierung zwischen Anwendungs- und Begründungsdiskurs führen soll, sind vielmehr die positivrechtliche Gestalt der Verfassung und mit ihr das gestaffelte System der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte ein stets festzuhaltender Ansatzpunkt der Grundrechtsdogmatik. Eine systematische Verfassungsauslegung, wie auch eine Auslegung unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Verfassung, darf in diesem Sinne nicht dazu führen, dass unabhängig von der normativen Grundlage argumentiert wird. Sie darf, anders gesagt, nicht dazu dienen, die „Positivität der Verfassung“ zu überspielen, sondern soll sich aufgrund des Verfassungstextes herausbilden.105 Die Grundrechtsdogmatik muss entsprechend die speziellen und differenzierten Vorbehalte, d. h. die positivrechtlichen Gegebenheiten des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins einfacher bzw. qualifizierter Gesetzesvorbehalte oder auch Regelungsvorbehalte, voll berücksichtigen. Nur die Grundrechte mit einfachem Gesetzesvorbehalt unterliegen folglich nach der hier vertretenen Ansicht den üblichen gesetzlichen Einschränkungsmöglichkeiten und lassen so zunächst jedes förmliche Gesetz zur Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs ausreichen. Über diese formale und prozedurale Anforderung hinaus stellen die Grundrechte mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt auch inhaltliche Anforderungen an das förmliche Gesetz. Sie fordern, dass das Gesetz an bestimmte Situationen anknüpft, bestimmten Zwecken dient oder bestimmte Mittel verwendet,106 und unterliegen daher Einschränkungen nur nach Maßgabe dieser näher festgelegten Qualifizierung. Dieser Unterschied spiegelt sich auch, wie noch zu zeigen sein wird, in der Ausformung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wider; denn der Gesetzgeber hat logischerweise größeren Spielraum bei der Zweck- und Mittelwahl, wenn er auf der Grundlage eines einfachen Vorbehalts eingreift, und geringere Freiheit, wenn ihm ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt bestimmte Ziele oder Mittel vorgibt oder versagt.107 Am geringsten ist allerdings die Freiheit des Gesetzgebers bei den Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt. Da die Verfassung hier keine Eingriffe durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes vorsieht, geht seine Vollmacht grundsätzlich nicht weiter, als die 105 Kritisch gegenüber der Verwendungsweise des Ausdrucks „Einheit der Verfassung“ Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 401 f., Rn. 387 f.: Sie sei ein Beispiel für einen irrationalen Holismus der Rechtsarbeit und dürfe „nicht länger dazu dienen, die Grenze zwischen normorientierten und normgelöst rechtspolitischen Argumenten zu verwischen“. Der Gesetzespositivismus dürfe „nicht durch Preisgabe der Positivität des Rechts ,überwunden‘ werden“ (S. 302, Rn. 311). 106 Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 60, Rn. 255. Vgl. auch Schlink, EuGRZ 1984, 457, 459; Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 21 f. 107 Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 448.

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

Grenzen der grundrechtlichen Schutzbereiche nachzuziehen.108 Dass die vorbehaltlosen Grundrechte im Prinzip keiner Einschränkungsmöglichkeit unterliegen, bedeutet jedoch nach dem hier zugrunde gelegten Grundrechtsverständnis zunächst: Weder durch Gesetz noch aufgrund Gesetzes darf grundrechtlich spezifisch geschütztes Verhalten von diesem Schutz ganz oder z. T. ausgenommen werden.109 Durch eine sorgfältige Schutzbereichsbestimmung wirft das positivrechtlich verbindliche und nicht überspielbare Fehlen eines Vorbehalts beträchtlich weniger Schwierigkeiten auf. Wie Müller (s. o. G.I.2.) bereits beobachtet hat, würden sich dadurch nicht wenige bisher als Kollisionen behandelte Falltypen als Scheinkollisionen herausstellen. Bleiben aber nach der dogmatischen Tatbestandsabgrenzung noch Spannungslagen bestehen, dann existiert nur ein einziger positivrechtlicher Anhaltspunkt für tatsächliche Verkürzungen ihres Geltungsgehalts: Zur Rechtfertigung eines Eingriffs in vorbehaltlose Grundrechte taugen allein die durch das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 3 als unantastbar und unveränderbar ausgewiesenen Verfassungsprinzipien, d. h. die Menschenwürde mit den Menschenwürdegehalten auch der anderen Grundrechte und die Grundsätze des Art. 20, wobei das vorbehaltlose Grundrecht seinerseits in dem Ausmaß, in dem es mit seinem Menschenwürdegehalt am Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG teilnimmt, gewahrt bleiben muss.110 Das Fehlen von Vorbehalten wird somit nicht durch allgemeine metapositive oder überpositive Erwägungen ersetzt; denn die Ewigkeitsgarantien heben sich bereits in ihrem Wortlaut noch einmal von den vorbehaltlosen Freiheiten ab. Keine Rechtspflicht darf gegen die Menschenwürde verstoßen.111 Dabei ist ferner zu beachten, dass eine pauschal angenommene „Kollision“ nicht ausreicht, vom Normbefehl der vorbehaltlosen Grundrechte abzuweichen. Vielmehr ist eine Begründung geboten, dass die Ewigkeitsgarantie unter den gegebenen Umständen einen Eingriff in das Grundrecht erzwingt. Der Entscheidung vorausgehen muss also zwangsläufig ein genauer Nachweis der Unausweichlichkeit der Spannungslage, die nur dann vorliegt, wenn angesichts der Anwendungssituation von der Verfassung zwei konkrete gegensätzliche Verhaltensanweisungen zu entnehmen sind. In Anbetracht der regelmäßigen Möglichkeit, ohne Grundrechtseingriff die Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG zu achten, dürften solche Fälle eher seltene Ausnahmen bilden. Der Grundrechtseingriff bedarf außerdem auch hier einer gesetzlichen Grundlage. Denn die Aktualisierung 108

Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 60, Rn. 259. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 55: „Das Grundrecht ist schrankenlos gewährt; das bedeutet nicht, sein Geltungsgehalt sei unbegrenzt.“ Die Möglichkeit sachfremder, zweckfremder oder gar hemmungsloser Grundrechtsaktualisierung sei vielmehr wegen der Sachbegrenzung der Freiheitsgarantien nicht zu befürchten. Ebd., S. 93. 110 Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 76, Rn. 334 f. 111 In dieser Richtung gingen z. B. die BVerfGE 75, 369 (Strauß-Karikatur) und die BVerfGE 119, 1 (Esra). Maßgeblich war hier genau die inhaltliche Thematisierung des Menschenwürdegehalts des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Ob eine Menschenwürdeverletzung in diesen Fällen tatsächlich vorlag, ist zwar nicht unbestreitbar, kann aber hier dahinstehen. 109

III. Grundrechtsbindung der Gewalten und Rechtfertigungsanforderungen

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dieser Schranken ist nicht dem Richter zu überlassen, sondern braucht – wie jeder staatliche Eingriff – ein förmliches Gesetz. Ist der Eingriff durch ein Gesetz gedeckt, das seinerseits auf einem Gesetzesvorbehalt oder ausnahmsweise auf Art. 79 Abs. 3 GG beruht, dann stellt sich weiter die Frage nach den Schranken-Schranken. Damit der Eingriff nicht an den Grundrechten scheitert, muss sich also das verkürzende Gesetz nicht nur im normativen Rahmen des Gesetzesvorbehalts bewegen, sondern darf auch, wie dargelegt (D.III.2.), nicht gegen sonstiges Verfassungsrecht wie Art. 3, Art. 19 Abs. 1 und 2 GG oder gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen. Das Gleiche gilt für die Rechtsanwendung, die sich auf ein Gesetz stützen und zugleich die Schranken der Einschränkbarkeit beachten muss. Hervorzuheben ist allerdings, dass die dem beschränkenden Staat gesetzten Schranken die Regelungsmöglichkeiten begrenzen, aber dem Staat grundsätzlich keine bestimmten Regelungen vorschreiben. Durch die Grundrechte werden vielmehr die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers und auch der Rechtsanwendung nur negativ begrenzt, indem insbesondere unverhältnismäßige oder gleichheitswidrige Regelungen ausgeschlossen werden.

2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechtsbindung des Gesetzgebers und der Rechtsanwendungsorgane Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat sich als bedeutsamste Schranke staatlicher Grundrechtsbeschränkungen etabliert. Auch nach der hier skizzierten Alternative kommt ihm eine maßgebliche Rolle innerhalb der Begründungserfordernisse zu. Gegenüber der herrschenden Lehre ist allerdings stärker als bislang eine differenzierte Betrachtung dieses Grundsatzes zu betonen: Er ist zum einen bei den verschiedenen Grundrechten unterschiedlich auszuformen und hat zum anderen für die Kontrolle des Gesetzgebers einerseits und für die der Rechtsanwendungsorgane andererseits unterschiedliche Bedeutungen. Vom Gesetzgeber fordert er nämlich nach der hier vertretenen Ansicht allein, dass die verfassungsrechtlichen Zweck- und Mittelvorgaben beachtet werden und dass das Eingriffsmittel für den Zweck geeignet und erforderlich ist. Demgegenüber verlangt er von den Rechtsanwendungsorganen auch die Bindung an das Gesetz und ferner, dass die Grundrechtsbeschränkung nicht gänzlich außer Verhältnis zu dem erstrebten Zweck steht. An erster Stelle muss allerdings sowohl bei der Kontrolle des schrankenziehenden Gesetzgebers als auch der schrankenkonkretisierenden Rechtsanwendungsorgane ermittelt werden, welche Mittel und Zwecke verfassungsrechtlich verwehrt oder geboten sind. Für die verschiedenen Lebensbereiche der Einzelgrundrechte gelten verschiedene Zweck- und Mittelvorgaben.112 Manche Grundrechte verbieten dem Staat einzelne Zwecke und manche verpflichten ihn hingegen zur Verfolgung bestimmter Zwecke. 112 Vgl. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 459 f., 466; ders., Abwägung im Verfassungsrecht, S. 200.

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

Sie steuern damit die Gestaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und legen fest, dass mit bestimmten Argumenten die Argumentationslast nicht erfüllt wird. Über die allgemeinen Zweck- und Mittelvorgaben hinaus113 steht daher der eingreifende Staat unter inhaltlichen, bei verschiedenen Grundrechten durchaus unterschiedlichen Anforderungen der Verfolgung legitimer Zwecke und des Einsatzes geeigneter und notwendiger Mittel. Indem das Übermaßverbot bei der Einschränkung von einigen Grundrechten auf engere Grenzen als bei der von anderen Grundrechten trifft, ist es entsprechend unterschiedlich auszuformen. Eine ganze Reihe von Zweck- und Mittelverboten und -geboten lassen sich in diesem Sinne den qualifizierten Gesetzesvorbehalten entnehmen.114 Neben den textlichen Vorgaben liefern auch die Rechtsprechung und die Literatur, wie bereits gezeigt (H.I.1.), mehrere Beispiele von interpretatorisch entwickelten Zweckvorgaben. So statuiert das BVerfG z. B., dass sich die staatliche Regelung des Meinungskampfes auch an dem Zweck orientieren muss, einen geistigen, vielfältigen, offenen und von meinungsfremden Einflüssen möglichst freien Prozess zu wahren.115 Ähnliches gilt für den Gedanken, dass Art. 12 GG keine Freiheit vor Konkurrenz garantiert: Wie auch immer die Wirtschaftsordnung gestaltet wird, wird der Konkurrenz dabei ein besonderer Platz eingeräumt.116 Die Herausarbeitung der Zweck- und Mittelvorgaben, die sich mit einem bestimmten Grundrecht verbinden – sei es, dass sie im Verfassungstext selbst angelegt sind, sei es, dass sie interpretatorisch entwickelt wurden –, ist Aufgabe einer spezialgrundrechtlichen Dogmatik. Bereits aus den wenigen angeführten Beispielen wird jedoch deutlich, dass eine Vielzahl verschiedener materieller Vorgaben in der Dogmatik der Einzelgrundrechte schon existiert.117 Diese verfassungsrechtlichen Ge- und Verbote einzelner Zwecke und einzelner Mittel 113

So darf kein Zweck um den Preis der Menschenwürde erkauft werden. Weitere Vorgaben folgen auch z. B. aus Art. 3 Abs. 3 GG und aus dem Neutralitätsgebot (s. o. H.I.). 114 Beispielsweise ist der Eingriff, der ein Kind von seiner Familie trennt, nur dann legitim, wenn er zur Vermeidung der Verwahrlosung des Kindes notwendig ist (Art. 6 Abs. 3 GG). Der Staat darf durch die von den allgemeinen unterschiedenen besonderen gesetzlichen Bestimmungen die Meinungsfreiheit zum Schutz der Jugend und der Ehre beschränken, nicht aber darüber hinaus auf Inhalt und Wert von Meinungen abstellen und Schranken etwa zum Zwecke der Propaganda ziehen (Art. 5 Abs. 2 GG). Beschränkungen des Post- und Fernmeldegeheimnisses unter Ausschluss des Rechtswegs sind nur zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes bzw. der Sicherung des Bundes oder eines Landes zulässig (Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG). Hierzu und zum Bezug von Zweck- und Mittelvorgaben bei den Grundrechten mit qualifizierten Gesetzesvorbehalten vgl. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 459 f. 115 s. BVerfGE 7, 198 (207 f.) (Lüth); 25, 256 (265) (Blinkfüer); 62, 230 (247) (Boykottaufruf); 61, 1 (9) (NPD Europas). Dass eine freie öffentliche Diskussion auch Äußerungsspielräume voraussetzt und verlangt, kommt auch in BVerfGE 54, 129 (137 f.) (Kunstkritik) zum Ausdruck. Wie auch immer der Staat den öffentlichen Diskussionsprozess regelt, muss er mindestens auch das Ziel verfolgen, den Kampf der Meinung geistig, offen und vielfältig zu halten. Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 284. 116 BVerfGE 34, 252 (256); 55, 261 (269). s. ferner das daraus in der Literatur entwickelte Zweckverbot des Konkurrenzschutzes, Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 211, Rn. 848. 117 s. dazu auch Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 129 f.

III. Grundrechtsbindung der Gewalten und Rechtfertigungsanforderungen

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gelten für alle grundrechtseinschränkenden Normen und Maßnahmen. Darüber hinaus stellt sich aber bereits die Frage nach der Legitimität des Zwecks und des Mittels beim Gesetzgeber einerseits und bei Verwaltung und Rechtsprechung andererseits unterschiedlich. Dass der Zweck und das Mittel legitim sein müssen, begrenzt in der Tat den Gesetzgeber wesentlich weniger als Verwaltung und Rechtsprechung.118 Dem Gesetzgeber ist nur durch die Verfassung die Verfolgung einiger Zwecke und der Einsatz einiger Mittel verwehrt oder aufgegeben. Darüber hinaus aber ist er prinzipiell frei, welche Zwecke er verfolgen und welche Mittel er dabei einsetzen will. Der Verwaltung sind demgegenüber die zu verfolgenden Zwecke schon durch die gesetzlich festgelegten Aufgaben vorgegeben und die Rechtsprechung ist noch enger dazu verpflichtet, für einen bestimmten Fall aus dem vorgegebenen Recht die Lösung zu finden. Ähnliches gilt für das Mittel: Während der Gesetzgeber die Mittel, mit denen er seine Ziele erreichen will, selbst schafft und dabei nur durch die Verfassung beschränkt ist, bedürfen die Rechtsanwendungsorgane, wenn sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe eingreifen wollen, einer gesetzlichen Ermächtigung. Aus dem Gesagten gehen ferner unterschiedliche Begründungslasten hervor; bei Verwaltung und Rechtsprechung muss die Rechtmäßigkeit begründet werden, beim Gesetzgeber kann sie hingegen vermutet werden, soweit nicht aus der Verfassung die Rechtswidrigkeit begründet werden kann. Jenseits der im GG ausdrücklich enthaltenen und der in der einzelgrundrechtlichen Dogmatik entwickelten Zweck- und Mittelverbote ist der Gesetzgeber in den Grenzen der Pareto-Optimalität vor dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz119 eigentlich frei, die gesellschaftlichen Interessenkonflikte zu entscheiden. Hier ist daher noch ein weiterer Bedeutungsunterschied angesprochen: Das Übermaßverbot soll gegenüber dem Gesetzgeber seine ursprüngliche Form wieder erhalten und somit ausschließlich einen rechtmäßigen Zweck und ein zur Erreichung des Zwecks rechtmäßiges, geeignetes und erforderliches Mittel verlangen.120 Die Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit sind empirisch orientiert und operieren nach einer binären Codierung. Aufgestellt und überprüft werden Hypothesen über die Wirklichkeit, über den empirischen Zusammenhang zwischen dem Eingriff und dem angestrebten Zustand bzw. zwischen alternativen Maßnahmen und demselben angestrebten Zustand.121 Die unter diesen Elementen stattfindende Folgendiskussion 118

Vgl. hierzu und zum Folgenden Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 450 f. s. dazu Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 178 ff. Eine Verteilungslage sei nur dann Pareto-optimal, wenn keiner bessergestellt werden könne, ohne dass ein anderer schlechtergestellt werde. Wird dies in Kategorien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes übersetzt, dann konvergiert das Pareto-Kriterium genau mit der Erforderlichkeitsprüfung. 120 Vgl. bereits G.I.3.; Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 461 f.; ders., Abwägung im Verfassungsrecht, S. 192 ff. Auf den dabei auch hervorgehobenen Schutz einer Mindestposition wird im Folgenden eingegangen. 121 Schlink, EuGRZ 1984, 457, 460. Vgl. auch ders., in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 453 ff., der ferner beobachtet, dass die Geeignetheitsprüfung nur einer Prognose – und keiner Be119

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

ermöglicht daher, die soziale Wirklichkeit unter Folgenaspekten zu erschließen, und schafft durch ihre selektive Funktion Klarheit.122 Auf die Geeignetheit und Notwendigkeit hin kann rational kontrollierbar und dogmatisch generalisierbar überprüft werden. Sie operationalisieren die abwehrrechtliche Verpflichtung des Staates zur Schonung seiner Bürger bei der Erreichung seiner rechtmäßigen Zwecke und erfüllen so die Funktionen der Freiheitsschonung und der Zweckbindung staatlichen Handelns. Im Gegensatz dazu stellt die Verhältnismäßigkeit i. e. S. ein rein subjektives, wertmäßiges Kriterium dar, durch das der empirische Zusammenhang zwischen Mittel und Zweck zugunsten einer Bewertung aufgegeben wird, sodass die Funktion der Zweckrationalität verloren zu gehen droht. Wie mehrfach gezeigt wurde, können hierbei die unterschiedlichsten Belange, Güter bzw. Interessen auf die Verfassungsrechtsebene projiziert und ohne normative Maßstäbe gegeneinander abgewogen und bewertet werden. Die Verhältnismäßigkeit i. e. S. ermöglicht keine Selektion von Argumenten und kann damit aus dem Verfassungsgericht ein zusätzliches Forum machen, vor dem alle gesellschaftlichen und politischen Fragen nochmals behandelt werden können – und zwar und auch anhand von Zielsetzungsargumenten. Sie impliziert insoweit den Schritt aus einer Angemessenheitsargumentation in den Begründungsdiskurs und führt zu einer Entdifferenzierung politischer und rechtlicher Diskurse. Die Aufgabe des Gesetzgebers besteht somit nach dem vorgeschlagenen Verfahren nicht darin, eine angeblich verfassungsrechtlich prädestinierte Abwägung zwischen konfligierenden Interessen vorzunehmen. Vielmehr ist er auch zur politischen Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung aufgerufen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gibt keine konkrete Lösung politisch zu gestaltender Konflikte, sodass dem Gesetzgeber in der Regel eine ganze Palette von verfassungskonformen Regelungsmöglichkeiten zur Verfügung steht, mit denen er politisch zu verantwortete Ziele verfolgt.123 Der Einwand gegen ein Modell des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, das auf die Güterabwägung grundsätzlich verzichtet, geht allerdings weniger dahin, dass es eine übermäßige Bindung des Gesetzgebers zur Folge hätte, sondern vielmehr, dass es zu viel Entscheidungsspielräume lassen und damit zu einer grundrechtlichen Unterwertung – und die Erforderlichkeitsanalyse keiner Bewertung seitens des Staates bedürfe, weil auf die Bewertung des Bürgers als eine Tatsache abzustellen sei (S. 456 ff.). 122 „Der Grundsatz verlangt die Fragen erstens nach den Folgen der Durchführung des staatlichen Eingriffs, zweitens nach den Folgen seiner Unterlassung und drittens nach den Folgen, die ein alternatives staatliches Handeln sowohl für den Bürger, der seine Freiheit geschont sehen will, als auch für den Staat, der sein mit dem Eingriff verfolgtes Ziel erreicht wissen will, haben würde. Er bewertet den staatlichen Eingriff negativ, zu dem es eine Alternative gibt, mit der das Ziel des Staates ebenso gut erreicht und die Freiheit des Bürgers besser geschont wird.“ Schlink, Der Staat 19/1980, 73, 104. s. auch ders., EuGRZ 1984, 457, 460. 123 Vgl. hierzu und zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 229 f.

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steuerung der Gesetzgebung führen würde. Doch, abgesehen von anderen Kontrollinstrumentarien – wie etwa die Wesensgehaltsgarantie, die Gleichheitsprüfung und das Gebot des Vertrauensschutzes –, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Erforderlichkeitsprüfung nichts Geringes leistet, sondern eine weitgehende Verpflichtung des Staates zur Schonung der Freiheit bei der Erreichung seiner Zwecke herbeiführt. Dazu kommt – und dies sollte stärker als bisher berücksichtigt und entfaltet werden –, dass die materiellen Mittel- und Zweckvorgaben keineswegs so anspruchslos gedacht werden sollen, dass die Grundrechte beliebigen Einschränkungen offen stehen würden.124 Die Unterschätzung der Mittel- und Zweckvorgaben scheint in diesem Sinne vielmehr ein Symptom der Tendenz zur Entdifferenzierung der Schrankenregelungen und überhaupt der dogmatischen Strukturen der Abwehrrechte zu sein.125 Im Unterschied zu dem Verweis auf kasuistische Einzelfallabwägungen zielt außerdem die interpretatorische Entfaltung verfassungsrechtlicher Zweckvorgaben i. V. m. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf abstrakt-generelle Vorgaben und liefert damit abstraktere inhaltliche Maßstäbe zur Entscheidung von Einzelfällen. Auch sie kann durch ihre Abstraktion die Funktion der Erwartungsstabilisierung fördern und sich damit als Schutz des Gesetzgebers und des Einzelnen vor opportunistischen Einzelfallabwägungen auswirken. Anders als für den Gesetzgeber stellt sich aber die Situation für die Rechtsanwendungsorgane dar. Hierbei wehren die Grundrechte sowohl das ohne gesetzliche Grundlage als auch das unverhältnismäßige oder gleichheitswidrige staatliche Handeln ab. Die Grundrechtsbindung der rechtsanwendenden Gewalten weist insoweit eine komplexere Struktur auf als diejenige der Legislative, denn hier kommt die Bindung von Gesetzgeber und vollziehender bzw. rechtsprechender Gewalt kumulativ zur Geltung. Die Bindung der rechtsanwendenden Organe über den Vorrang und den Vorbehalt des grundrechtskonformen Gesetzes allein stellt in der Tat noch nicht die Wahrung der Grundrechte im Rahmen der Rechtsanwendung sicher.126 Vielmehr wird die Grundrechtskonformität der Konkretisierung gesetzlicher Vorschriften durch die in Art. 1 Abs. 3 GG vorgesehene unmittelbare und selbständige Grundrechtsbindung der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalten gewähr-

124 Dass die Zweckvorgaben auch beim BVerfG nicht so anspruchslos gedacht werden, hebt Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 330, hervor. Vgl. ferner den Versuch von Grabitz, AöR 98/1973, 568, 600 ff., eine Zwecksetzungstypologie in der Rspr. des BVerfG nachzuvollziehen. 125 Es wurde außerdem mehrfach dargelegt, wie im herrschenden Abwägungsmodell so gut wie jeglicher staatliche Belang auf die Verfassungsrechtsebene projiziert und den Freiheitsrechten entgegengesetzt werden kann (s. o. F.I. und F.II.). 126 Grundrechtskonforme Gesetze müssen nicht so gefasst sein, dass sie für jeden Einzelfall ihrer Konkretisierung bereits durch die Enge ihrer Tatbestände eine Grundrechtsverletzung ausschließen. In einem solchen Modell wären Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe nicht denkbar. s. zum Ganzen Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 161 f., 210, 215 ff., 279. Die Unmöglichkeit eines solchen Modells hat bereits Kelsen (s. o. B.III.3.) dargestellt.

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leistet.127 Die Rechtsanwendungsorgane müssen daher zu Eingriffen nicht nur durch grundrechtskonformes formelles Gesetz ermächtigt sein, sondern auch den weiteren Rechtfertigungsanforderungen genügen, wobei diesen wiederum auch hier eine andere Bedeutung als innerhalb der Gesetzgebungskontrolle zukommt. Die an das Gesetz gebundenen Rechtsanwendungsorgane sind in diesem Sinne, wie bereits angesprochen, nicht nur negativ an die verfassungsrechtlichen Zweckvorgaben, sondern auch dem Gesetzeszweck positiv verpflichtet. In diesem Zusammenhang wird dann noch einmal deutlich, wie sich die Gestaltungskompetenzen des Gesetzgebers und die Konkretisierungskompetenzen der Rechtsanwender maßgeblich voneinander unterscheiden. Die Orientierungsleistung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist nicht zuletzt auch eine Funktion der Zweckbindung staatlichen Handelns.128 Trifft das Übermaßverbot wie im Bereich der Gesetzgebung nur auf einige negative und noch weniger positive Zweckvorgaben und eine weitgehende Zwecksetzungskompetenz, eröffnen sich weite Gestaltungsspielräume für Konfliktlösungen. Trifft es hingegen wie im Falle der Rechtsanwendung auf die zusätzlichen positiven gesetzlichen Zweckvorgaben, so grenzt es die verhältnismäßigen Alternativen relativ eng ein. Die Anwendungsbedingungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes weichen somit hinsichtlich der verschieden ausgeprägten Zweckbindung wesentlich voneinander ab. Je unbestimmter die Vorschriften und allgemeiner die gesetzgeberischen Zwecke gefasst sind, desto größer scheinen aber die Entscheidungsspielräume der Richter zu werden. Dies gewinnt v. a. dort an Aktualität, wo der Gesetzgeber Generalklauseln verwendet. Der Gesetzgeber kann in der Tat u. U. seine Kompetenz zur Bewertung und Abwägung an die rechtsanwendenden Organe weitergeben.129 Delegiert er diese Kompetenz an die Verwaltung, dann geht damit auch die Ermächtigung an die Rechtsprechung zur Kontrolle der Bewertungen und Abwägungen der Verwaltung einher. Dies impliziert ferner, dass auch die höheren Gerichte ermächtigt sind, solche Abwägungen der unteren Gerichte zu überprüfen, und schließlich, dass das BVerfG in der Kontrolle von Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen auch deren Bewertungen und Abwägungen überprüfen kann.130 Auf diese Weise und unter diesen 127

Entsprechend unterscheidet auch das BVerfG zwischen Grundrechtskonformität der Gesetze (Verfassungsmäßigkeit der abstrakten Norm) und Grundrechtskonformität der Anwendung grundrechtskonformer Gesetze (Verfassungsmäßigkeit der Anwendung der Norm auf den konkreten Einzelfall). Vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, S. 161, Rn. 289; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 279, beide m. w. N. 128 Zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 331. 129 Nach der Wesentlichkeitslehre muss der Gesetzgeber freilich die wesentlichen Entscheidungen über die Voraussetzungen, Umstände und Folgen von Eingriffen selbst treffen und kann sie nicht an die Verwaltung delegieren. s. dazu etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 62, Rn. 264 ff.; BVerfGE 49, 89 (126 f.) (Kalkar I); 57, 295 (320 ff.) (3. Rundfunkentscheidung); 88, 103 (116) (Streikeinsatz von Beamten); 101, 1 (33 f.) (Hennenhaltungsverordnung). 130 s. dazu o. G.I.3.; Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 460 f. Spiele die Verhältnismäßigkeit i. e. S. im Verwaltungsrecht doch eine Rolle, dann trete Objektivität hierbei nicht durch verlässliche Maßstäbe, aber in gewissem Umfang durch Verfahren und Instanzen ein,

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Bedingungen kann daher die Verhältnismäßigkeit i. e. S. weiterhin als rechtlicher Maßstab für das Verhalten und für die Kontrolle von Verwaltung und Rechtsprechung dienen. Aber auch wenn der Gesetzgeber regulatives Recht einsetzt, darf die Justiz die Gründe, die ihr mit „Recht und Gesetz“ vorgegeben sind, nur mobilisieren, um im Einzelfall zu kohärenten Entscheidungen zu gelangen. Die richterlichen Entscheidungen müssen stets im Lichte des Rechts gerechtfertigt werden können, sodass auch hier auf der Unterscheidung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung insistiert werden darf. In diesem Sinne dürfen sich die richterlichen Entscheidungen auch innerhalb sehr weiter gesetzlicher Zwecksetzungen nicht auf eine politisch selbstgewählte Zielvorstellung stützen.131 Den Richtern ist vielmehr der Zweck ihres Handelns vorgegeben. Im Anwendungsdiskurs sind also die gültigen normativen Gründe schon vorausgesetzt und die Rechtsanwendung soll nicht eine Art allgemeinen praktischen Diskurses bilden, in dem alle praktischen Argumente zu rechtlichen Argumenten werden können. Zielsetzungen und Wertorientierungen bleiben der Politik vorbehalten und dürfen nicht erst im Rahmen der Rechtsanwendung zur Rechtsnorm erhoben werden. Sobald sich die vom Einzelfall ausgehende Verfassungsrechtsprechung auf die Anwendung als gültig vorausgesetzter Normen beschränkt, kann die Differenzierung zwischen Normanwendungs- und Normenbegründungsdiskursen ein argumentationslogisches Abgrenzungskriterium von Aufgaben der Justiz und der Gesetzgebung bieten.132 Auch die Lösung der sog. Kollisionsfälle bedarf daher keiner Entscheidung darüber, in welchem Maße konkurrierende Werte erfüllt oder beeinträchtigt werden, sondern unter den prima facie anwendbaren Normen diejenige zu finden (und nicht zu erfinden), die am besten zu der institutionellen Rechtsgeschichte und gleichzeitig zu der unter allen relevanten Gesichtspunkten möglichst erschöpfend beschriebenen Anwendungssituation passt.133 indem die Bewertungen und Abwägungen noch mal und noch mal nachvollzogen, überprüft und abgeglichen und schließlich durch eine letzte Instanz aufeinander abgestimmt werden. 131 Nur die Dichte des Normtextes ist bei Generalklauseln unvollständig, nicht die Rechtsnormen selbst. s. dazu und zur Grenzfunktion des Wortlauts auch bei Generalklauseln Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 305 ff., Rn. 314 ff. 132 Vgl. dazu Habermas, Faktizität und Geltung, S. 318 ff. Obwohl Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 331, im Rahmen der Generalklauseln eine Annäherung der Rolle des Richters an die des Gesetzgebers annimmt, sieht er dieses argumentationslogische Abgrenzungskriterium durchaus: So habe sich z. B. die Anwendung der Formvorschriften für Mieterhöhungsverlangen nach § 4 MHG an dem gesetzlichen Mieterschutzzweck zu orientieren. Der Zivilrichter könne anders als der Gesetzgeber die Anforderungen nicht durch andere Zwecke (wie etwa eine wohnungspolitisch erwünschte Stabilisierung des Mietniveaus) rechtfertigen. 133 Nach Habermas, Faktizität und Geltung, S. 317, verhalten sich die ausschlaggebenden und die zurücktretenden Normen zueinander nicht wie konkurrierende Werte, die in jeweils verschiedenem Maße erfüllt werden, sondern wie angemessene und unangemessene Normen. Angemessenheit bezieht sich hier auf das aus einer gültigen Norm abgeleitete singuläre Urteil, durch das die zugrunde liegende Norm erst „gesättigt“ wird. Zur abwehrrechtlichen Erfassung Dreieckskonflikte s. u. H.IV.1.

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Aus der unmittelbaren Grundrechtsbindung der einzelnen Gewalten und insbesondere aus dem Gleichheitssatz ergeben sich darüber hinaus bei der Konkretisierung besonders auslegungsbedürftigen einfachen Rechts noch zwei weitere Vorgaben für die rechtsanwendenden Staatsorgane: die Wahrung der Symmetrie zum einen und der Integrität bzw. der Kohärenz zum anderen. Während der Gesetzgeber Interessen unterschiedlich gewichten darf, hat der Richter „Chancengleichheit“ zu wahren. Die Asymmetrierung von Konflikten obliegt daher ausschließlich dem Gesetzgeber, den die Gesetzesvorbehalte zu Veränderungen der Konfliktsymmetrie berechtigen und damit Raum für die Sozialgestaltung lassen. Liegt aber eine asymmetrische Gestaltung der Situation durch den Gesetzgeber nicht vor, muss sich die Rechtsprechung am Gesichtspunkt der Symmetrie orientieren. Entsprechend ist die Wahrnehmung von Auslegungsspielräumen der Sicherung und Herstellung faktischer Symmetrie zwischen den Grundrechtsträgern verpflichtet.134 Die unterschiedliche Bedeutung des Gleichheitssatzes – sowie auch des Grundsatzes der Rechtssicherheit – für die Gesetzgebung und für die Rechtsanwendung spiegelt sich ferner in der besonderen Rolle der Präjudizien für die Rechtsprechung wider. In der Tat entspricht das, was Dworkin Integrität nennt, weitgehend einer Art besonderer Ausprägung des Gleichheitssatzes für die Rechtsprechung.135 Ähnlich wie die Integrität ist der Gleichheitssatz eine größere Beschränkung für das Recht als für die Politik. Der Gesetzgeber kann Ungleichbehandlungen schaffen und sich dabei sowohl auf Prinzipienargumente als auch auf politische Argumente stützen, um aufzuzeigen, wie die Ungleichbehandlungen zum Wohle der Allgemeinheit beitragen können.136 Die Grundlagen der richterlichen Entscheidung müssen hingegen stets im Recht selbst gefunden werden. Das Prinzip der Integrität fordert von den Richtern die Behandlung der Rechtsordnung als ein kohärentes Prinzipiensystem, welches die gleiche Rücksicht und Achtung eines jeden Einzelnen bei jeder Entscheidung verlangt – und nicht als eine Gemengelage einzelner Entscheidungen, die sie für opportunistische Einzelfallabwägungen frei lässt. Die Rechtsprechung steht daher unter dem Anspruch, jede einzelne ihrer Entscheidungen im Lichte der gültigen Rechtsnormen rechtfertigen zu können und nicht in gleichen Fällen unterschiedlich zu handeln. 134 s. dazu o. G.I.3.; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 215 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 45, Rn. 183. Dies folgt aus der Überlegung, dass die Grundrechte historischidealtypisch einen Zustand voraussetzen, in dem jeder Bürger die gleichen faktischen Chancen zur Verfolgung und Durchsetzung seiner Interessen hat. Zwar muss keine Rechtsordnung auf asymmetrische Regelungen verzichten; aber nur der Gesetzgeber darf eine Situation asymmetrisch gestalten. 135 Vgl. dazu Schlink, International Journal of Constitutional Law 1.4/2003, 610, 615; Dworkin, ebd., 651, 660. s. auch Dworkins Bemerkungen über die Gravitationskraft von Präzedenzfällen, die sich nur auf die Reichweite der Prinzipienargumente beschränkt. Demgegenüber müsse eine Regierung, die ein kollektives Ziel in einer bestimmten Situation fördere, nicht unbedingt in einer parallelen Situation dasselbe Ziel oder auf dieselbe Weise fördern. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 194 ff. und passim. 136 s. o. G.II.1.; Dworkin, Law’s Empire, S. 176 ff., 217 f., 221 ff., 243 f.; ders., Bürgerrechte ernstgenommen, S. 146 ff., 158 ff.

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Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass generalklauselartige Normtexte höhere Anforderungen an die Bildung der Rechtsnorm durch die fallentscheidende Instanz stellen. Damit ist freilich nicht gesagt, dass die Rechtsanwendungsorgane hier keine Bewertung vornehmen, sondern dass sie zu solchen Bewertungen verschiedener Vorgaben verpflichtet sind und demnach kritisiert werden können. Kaum zu leugnen ist auch, dass die Grenzen der verfassungsrechtlichen Kontrolle durch die Abwägung freischwebend werden. Ein umfassender verfassungsrechtlicher Zugriff auf die fachgerichtliche Konfliktregelung kann allerdings die einfach-rechtliche dogmatische Systembildung beeinträchtigen. Aus diesen Gründen scheint es schließlich sinnvoll zu sein, die bundesverfassungsgerichtliche Überprüfung hier auf eine Stimmigkeitskontrolle137 zu begrenzen. In diesem Sinne werden die fachgerichtlichen Entscheidungen bereits nach der gegenwärtigen Rechtsprechung des BVerfG nur dann aufgehoben, wenn sie „auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Grundrechte beruhen“.138

3. Weitere Kontrollinstrumentarien: Bemerkungen zur Wesensgehaltsgarantie Bereits aus dem Dargelegten geht hervor, dass das Abwehrrecht trotz des grundsätzlichen Verzichtes auf die Proportionalitätsprüfung ein umfassendes und keineswegs zu unterschätzendes Bindungs- und Kontrollinstrumentarium zur Verfügung stellt. Dazu kommt, dass neben der Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage und den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes noch weitere Begründungserfordernisse auf der Rechtfertigungsebene gelten, nämlich die der Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG), des Verbots des einschränkenden Einzelfall- und Einzelpersonengesetzes (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG), des Zitiergebots (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) und des rechtsstaatlichen Gebots, Gesetze in Tatbestand und Rechtsfolge klar und bestimmt zu fassen (Bestimmtheitsgrundsatz).139 Die grund137 Angesichts ihrer methodischen Schwächen wird in diesem Sinne die Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e. S. bereits von etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 67, Rn. 294, auf eine Stimmigkeitskontrolle beschränkt. 138 BVerfGE 30, 173 (188) (Mephisto). s. auch BVerfGE 18, 85 (93) (Spezifisches Verfassungsrecht); 42, 143 (148) (Deutschland-Magazin); 89, 1 (10) (Besitzrecht des Mieters); 115, 166 (199) (Kommunikationsverbindungsdaten). Vgl. ferner Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 331 f.; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, S. 158 f., Rn. 284, und die abw. Meinung von Grimm, Dieterich und Kühling in BVerfGE 81, 29 (35 ff.) (Ferienwohnungen). Dazu kommt, dass das BVerfG nach § 95 Abs. 2 BVerfGG die Entscheidung des Fachgerichts nicht durch eine eigene ersetzt. Es hebt sie stattdessen nur auf und verweist die Sache an das Fachgericht zurück. 139 s. dazu etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 69 ff., Rn. 298 ff.; Lerche, in: HStR V, § 122, S. 791 ff., Rn. 25 ff.; Stern, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 27 ff. Zum Problem der Generalklauseln und des Bestimmtheitsgebots s. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 324, 333 f.: „Der Gesetzesvorbehalt reagiert auf den Entscheidungszwang der Gerichte mit der allgemein unter Gesetzesvorbehalts- und Bestimmtheitserfordernissen anerkannten Mög-

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rechtliche Kontrolle ist außerdem mit den Schranken-Schranken noch nicht zu Ende. Ist das Potential der abwehrrechtlichen Elemente im Prinzip ausgereizt, bedeutet dies also nicht, dass weitere Fragen grundrechtlich nicht gestellt und beantwortet werden können. In diesem Sinne bildet auch der Gleichheitssatz ein durchaus wirkungsvolles weiteres Bindungs- und Kontrollinstrumentarium.140 Er erlaubt nämlich, nach der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung noch bleibende Fragen zu beantworten, und erhöht selbst die Steuerungsfähigkeit des Abwehrrechts. Das Zusammenspiel der Freiheitsrechte mit dem Gleichheitssatz verwehrt so dem Staat ungleiche Eingriffe sowie ungleiche Zuteilungen etwa von Leistungsansprüchen und Verfahrenspositionen.141 Ob die Gleichheitsprüfung tatsächlich – wie im Lichte der sog. neuen Formel – wieder in eine Abwägung142 münden muss oder ob sie sich strukturell in der Form des Abwehrrechts143 denken lässt bzw. ob sie als Argumentationslastregel144 die Gleichheitsprobleme bewältigen kann, mag hier dahinstehen. Festzulichkeit generalklauselartiger Kodifikationen.“ Soweit ein Sachbereich sich mit Spezialregelungen nicht – oder noch nicht – angemessen erschließen lässt, genügen also Generalklauseln dem Gesetzesvorbehalt und dem Bestimmtheitsgebot. 140 Zum Folgenden Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 459 f. (m. Rspr.-Nachw.). 141 Schlink, EuGRZ 1984, 457, 465. Fördere der Staat die Wirtschaft und verfüge dabei nur über knappe Mittel, dann müssten diese gleichmäßig unter möglichst milderem Eingriff in die Positionen der Wettbewerber verteilt werden. Der Autor zeigt ferner, dass unter diesen Gesichtspunkten auch die Probleme der Studienplatzvergabe, der Rundfunkorganisation und mindestens teilweise der Hochschulorganisation aufgeschlüsselt werden können. Die Gerichte könnten zwar dem Staat in der Regel nicht abverlangen, zusätzliche Haushaltsressourcen für die Befriedigung der Ansprüche bereitzustellen, wohl aber ihn zur gleichmäßigen Verteilung des Vorhandenen verpflichten. In diesem Sinne habe das BVerfG zu Recht das Problem des numerus clausus als Problem der Verfahren behandelt, mit denen die Knappheit verwaltet und die Freiheit verteilt werde. Vgl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 212. 142 Die sog. „neue Formel“ des BVerfG verlangt nicht nur, „wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln“ (BVerfGE 98, 365/385), sondern darüber hinaus das Vorhandensein eines Unterschieds von solcher Art und solchem Gewicht, dass er die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnte (BVerfGE 55, 72/88; 107, 205/214). 143 So Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 157 f. (m. w. N.). Die Ungleichbehandlung wird nämlich als Eingriff in das Recht auf Gleichbehandlung verstanden. „Wenn ein Verhalten in das Recht auf Gleichbehandlung eingreift und kein zureichender Grund vorliegt, dann soll das Verhalten unterlassen werden.“ Die absoluten Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG lassen sich hierbei sogar mit den Schranken-Schranken analogisieren: Sie legten fest, welche Unterschiede nie ein zureichender Grund für Ungleichbehandlung sind, und schlössen damit die inkriminierten Merkmale kategorisch für die Begründung von Ungleichbehandlungen aus (Zweckverbot). Ähnl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 202 f. Auch ders., in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 459, beobachtet, dass sich die Verhältnismäßigkeitserwägungen im Rahmen der Gleichheitsprüfung auf die klassischen Elemente beschränken können. 144 Bereits Podlech, Gleichheitssatz, S. 77, zufolge ist eine Gleichbehandlung geboten, solange es keinen ausreichenden Grund für eine Ungleichbehandlung gibt. Dem Ansatz der Begründungslast folgt grundsätzlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 370 ff. Besagt die Gleichheit, dass „in den jeweils relevanten Hinsichten Gleiches gleich und Ungleiches ungleich

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halten ist allerdings, dass sie grundrechtliche Antworten auf Fragen erlaubt, die nach der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung noch offenbleiben. Ähnliches gilt für das Gebot, das Vertrauen der Bürger in die Rechts- und Gesetzeslage zu schützen, und für das korrespondierende Verbot rückwirkender Gesetze: Sie ermöglichen rechtsstaatliche Antworten jenseits der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Behandlung aller dieser weiteren Kontrollinstrumentarien würde zwar den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen, aufgrund der Kontroverse um die Relation zwischen der Wesensgehaltsgarantie und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist aber passend an dieser Stelle darauf einzugehen. Nach den Vertretern eines relativen Verständnisses des Art. 19 Abs. 2 GG145 werden Grundrechte in ihrem Wesensgehalt allein und gerade dadurch angetastet, dass unverhältnismäßig in sie eingegriffen wird. Nur das Abwägen und Gewichten der im Einzelfall stehenden gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen ermögliche die Feststellung, ob der Wesensgehalt angetastet wurde oder nicht. Somit reduziere sich die Wesensgehaltsgarantie letztlich auf das fragwürdige Kriterium der Verhältnismäßigkeit i. e. S.: Der Wesensgehalt sei das, was nach einer Abwägung übrigbleibe. Es liegt aber auf der Hand, dass staatliches Handeln mit dieser relativen Deutung auch in dem als schrankenresistent gedachten Kern der Grundrechte beschränkend wirken kann. Auch hier zeigt sich eigentlich die Tendenz, die normativen Vorgaben und die dogmatische Struktur des Abwehrrechts durch ein Abwägungselement einzuebnen. Möchte man demgegenüber die Wesensgehaltsgarantie nicht in der Verhältnismäßigkeit i. e. S. aufgehen lassen, dann kann diese Garantie im Unterschied zum rational-teleologisch strukturierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als absolute Grenze beschrieben werden.146 Art. 19 Abs. 2 GG fragt in der Tat nicht danach, welches Ziel der Eingriff fördert und ob seine Intensität in angemessener Relation zu diesem Ziel steht, sondern statuiert eine absolute Schranken-Schranke. Er vermittelt grundrechtliche Mindestpositionen, die schon dem Wortlaut der Verfassung nach „in behandelt werden soll“, muss dann eben begründet werden, welche Hinsichten relevant sind. Auch Habermas, Faktizität und Geltung, S. 503, formuliert eine griffige Direktive zu den Kriterien für die jeweils notwendigen faktischen Voraussetzungen rechtlicher Gleichheit und damit zur Bemessung, ob sich eine Regelung als formalrechtliche Diskriminierung oder als sozialstaatlicher Paternalismus auswirkt. Nach ihm erweist sich ein Rechtsprogramm „als diskriminierend, wenn es gegen die freiheitseinschränkenden Nebenfolgen faktischer Ungleichheit, als paternalistisch, wenn es gegen die freiheitseinschränkenden Nebenfolgen der staatlichen Kompensation dieser Ungleichheiten unempfindlich ist“. Zur Wichtigkeit, dass die Betroffenen selbst die jeweiligen Hinsichten artikulieren, unter denen Unterschiede zwischen konkreten Erfahrungen und Lebenslagen für eine chancengleiche Nutzung subjektiver Handlungsfreiheiten relevant sind, vgl. ebd., S. 499 f., 513 f. 145 s. o. D.III.2.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 269, 272; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 148 f., Rn. 332; Dürig, in: Gesammelte Schriften, S. 127, 156 f. 146 Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 334 f.; Stern, StR III/2, § 85, S. 865 ff.; Raue, AöR 131/2006, 79, 93 ff.; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 225 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19, S. 462, Rn. 9; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 69 f., Rn. 300. Wohl auch BVerfGE 7, 377 (411) (Apothekenurteil); 34, 238 (245) (Tonband); 80, 367 (373) (Tagebuch).

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keinem Fall“ angetastet werden dürfen. Sie gelten daher als „feste“ Grenze und sind dem Gesetzgeber schlechterdings unverfügbar – gleichgültig, ob die Mindestposition auf den individuellen Grundrechtsträger oder deren Allgemeinheit bezogen wird.147 Die Wesensgehaltsgarantie zieht also nach dem hier entwickelten Ansatz eine weitere materielle Grenze, die im Rahmen der Schrankensystematik die Funktion einer – absolut zu verstehenden – letzten materiellen Rückzugslinie zukommt. Darüber hinaus müssen allerdings die grundrechtlichen Wesensgehalte – so wie die Schutzbereiche – bei jedem Einzelgrundrecht gesondert herausgearbeitet werden. Sie sind ebenfalls durch Auslegung, aus den Grundrechtsnormprogrammen und den unterschiedlichen Lebensbereichen heraus, zu ermitteln und bilden dabei den festen Kern dessen, „worumwillen nach historischer Erfahrung, politischer Überzeugung und rechtlicher Einsicht das Grundrecht gewährleistet worden ist“148. Doch obwohl die grundrechtlichen Mindestpositionen nicht von den Beschränkungen her zu bestimmen und nicht das Ergebnis einer Abwägung kollidierender Belange sind, lassen sie sich abstrakt kaum feststellen. Vielmehr wird auch hier die Einsicht aktuell, nach der die Rechtsnorm einen verbindlichen Entwurf darstellt, der durch den Normtext sprachlich vorbereitet wird, zugleich aber nicht ein gegenüber dem von ihr angezielten Wirklichkeitssegment isolierter Befehl ist.149 Immerhin liefert die Rechtsprechung des BVerfG mehrere Anhaltspunkte für die Bestimmung des Wesensgehalts verschiedener Grundrechte. In diesem Sinne hat das Gericht die Mindestposition des Schutzes der Privatheit unter dem Stichwort „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ in beispielhafter Weise entfaltet und in jüngeren Entscheidungen angesichts der rapiden Entwicklung von technischen Überwachungsmitteln besonders fruchtbar gemacht.150 Auch für die Fragen nach dem Wesensgehalt anderer Grundrechte gibt die Verfassungsrechtsprechung weitere Vorgaben, in denen die verschiedenen Antworten gesucht werden könnten – z. B. die Wahrung der Möglichkeit der Teilnahme an Prozessen freier Kommunikation bei der Meinungsfreiheit, die Sicherung der persönlichen und wirtschaftlichen Existenz für den Bereich des 147

BVerfGE 2, 266 (285) (Notaufnahme); Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 70, Rn. 301 ff. s. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 98 f. 149 s. o. G.I.2.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 249, Rn. 236. 150 Zwar wurde die Intimsphäre bereits in der älteren Rspr. als der Wesensgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gesehen. Sie blieb aber durchaus unbestimmt. Vgl. BVerfGE 6, 32 (41) (Elfes); 27, 1 (6 f.) (Mikrozensus); 27, 344 (351) (Ehescheidungsakten); 32, 373 (379) (Ärztliche Schweigepflicht); 34, 238 (245) (Tonband); 80, 367 (373 f.) (Tagebuch); Pieroth/ Schlink, Grundrechte, S. 88, Rn. 376; Poscher, JZ 2009, 269, 271. Neuerlich hat das Gericht allerdings auch festgelegt, dass zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung die Möglichkeit gehöre, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art ohne die Angst zum Ausdruck zu bringen, dass staatliche Stellen dies überwachen. Staatliche Überwachungsmaßnahmen haben folglich diesen unantastbaren Kernbereich zu wahren, sodass die Kenntnisnahme von Inhalten aus dem Kernbereich so weit wie möglich zu vermeiden und v. a. in keinerlei Weise zu verwenden sind. Vgl. BVerfGE 109, 279 (313 ff.) (Großer Lauschangriff); 113, 348 (391 f.) (Vorbeugende Telekommunikationsüberwachung); 120, 274 (335 ff.) (Online-Durchsuchung). s. o. C.IV. 148

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Berufs und der Schutz dessen, was durch persönliche Arbeit und Leistung erworben ist, für den Bereich von Eigentum und Vermögen.151 Eine darüber hinausgehende Präzisierung der jeweiligen Wesensgehalte musste allerdings bisher auch noch nicht erfolgen. Denn nur in Ausnahmesituationen ist der Verhaltensspielraum des Staates so reduziert, dass er seine Ziele nicht mehr anders als durch sehr intensive Eingriffe erreichen kann. Die Frage nach dem absoluten Wesensgehalt wird in diesem Sinne erst dann akut, wenn gesellschaftliche und politische Verteilungskämpfe so hart werden, dass Positionen, die als äußerste und letzte grundrechtliche Residuen empfunden werden, gefährdet sind und vor den Gerichten eingefordert werden. Erst in solchen Zusammenhängen kann die Frage nach grundrechtlichen Mindestpositionen im Verbund von Rechtsprechung und -lehre tatsächlich beantwortet werden.152 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach dem hier vorgeschlagenen Entwurf auch die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) unumgänglich bleibt. Diese Norm, die aus rechtsstaatlichen Gründen des positiven Rechts einen höheren Rang hat und sich bereits in ihrem Wortlaut noch einmal auch von den vorbehaltlosen Freiheiten abhebt, stellt also ebenfalls eine absolute Grenze dar. Möglicherweise aus diesem Grund wird gelegentlich behauptet, dass der Wesensgehalt eines Grundrechts mit seinem Menschenwürdegehalt identisch sei. Demgegenüber gilt jedoch anzumerken, dass nicht alle Grundrechte unbedingt im Zusammenhang mit der Menschenwürde stehen.153 Wo aber ein Grundrecht einen Menschenwürdegehalt aufweist, dürfte er häufig mit dem Wesensgehalt dieses Grundrechts übereinstimmen. Dass der Wesensgehalt und der Menschenwürdegehalt eines Grundrechts evtl. miteinander konvergieren können, dass aber beide nicht unbedingt gleichzusetzen sind, sieht auch das BVerfG.154 Jedenfalls darf schlechterdings kein Ziel um den Preis der Menschenwürde erkauft werden.

151 Vgl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 76 ff., 90 ff., 117 ff., 193 ff. – mit zahlreichen Nachweisen aus der älteren Rspr. 152 Zum Ganzen Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 445, 453; ders., Abwägung im Verfassungsrecht, S. 194 f. 153 Hierzu und zum Folgenden Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 70 f., Rn. 306, die auch bekräftigen, dass gegen diese Gleichstellung ebenso die Überlegung spricht, dass dann Art. 19 Abs. 2 GG funktionslos wäre. Seine Schutzwirkung wäre nämlich in Art. 79 Abs. 3 GG vollständig enthalten. 154 „Eine Antastung des Wesensgehalts im Sinne von Art. 19 Abs. 2 GG kann zwar im Einzelfall zugleich den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Menschenwürdegehalt eines Grundrechts beeinträchtigen. Der Wesensgehalt ist aber nicht mit dem Menschenwürdegehalt eines Grundrechts gleichzusetzen. Eine mögliche Kongruenz im Einzelfall ändert nichts daran, dass Maßstab für eine verfassungsändernde Grundrechtseinschränkung allein der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Menschenwürdegehalt eines Grundrechts ist.“ BVerfGE 109, 279 (311) (Großer Lauschangriff).

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IV. Dreiecksverhältnisse, Abwehrrecht und Leistungspflicht Obwohl Abwehrrechte und Schutzpflichten – wie die Leistungspflichten i. w. S.155 – in zwei verschiedene Richtungen wirken und zwei gedanklich selbständige Grundrechtsfunktionen sind,156 überschneiden sie sich in Drittwirkungskonstellationen. Da hier der grundrechtlich geschützte Lebensbereich eines Bürgers sowohl durch den staatlichen Eingriff als auch durch die faktische private Beeinträchtigung betroffen ist, können grundrechtliche Dreieckskonflikte sowohl abwehrrechtlich als auch unter dem Aspekt der Schutzpflicht thematisiert werden.157 Eingehend behandelt wurden allerdings sowohl die rechtsstaatlichen Überlegungen, die emphatisch gegen die undurchsichtige Kumulation der beiden Grundrechtsfunktionen zur Bewältigung derselben Regelungsaufgabe sprechen, als auch die grundrechtstheoretischen, grundrechtsdogmatischen und positivrechtlichen Erwägungen, die für eine abwehrrechtliche Erschließung der Drittwirkungskonstellationen sprechen.158 Im Anschluss insbesondere an Poschers Überlegungen steht daher die inhaltliche Gestaltung von Dreiecksverhältnissen auch nach der hier vertretenen Konzeption allein unter den abwehrrechtlichen Anforderungen und soll weiter nicht in unspezifische Wertabwägungen münden (1.). Die Suche nach einer konstruktiven Entfaltung des Abwehrrechts, die auch die Erfassung von Dreiecksverhältnissen ermöglicht, bedeutet allerdings nicht, dass die Existenz anderer Grundrechtsfunktionen generell geleugnet wird, sondern dass sie nicht ohne Weiteres zu dogmatischen Verkürzungen des Abwehrrechts führen sollen. Darüber hinaus wird auch zu 155 Zum Leistungsaspekt der Schutzpflicht s. o. B.III.1; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 74 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 395 ff.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 224, 293 ff. 156 Wie bereits oben (B.III.1.) dargelegt wurde, zielt das Leistungsrecht auf die positive Unterstützung der Freiheit der Grundrechtsträger durch staatliches Handeln ab und begründet folglich Handlungspflichten, während das Abwehrrecht die Freiheit des Einzelnen vor ungerechtfertigten Eingriffen des Staates bewahrt und damit auf Unterlassen des eingreifenden Handelns gerichtet ist. 157 In mehrpoligen Rechtsverhältnissen lässt sich nämlich sowohl danach fragen, ob der normative Eingriff des Staates den abwehrrechtlichen Anforderungen genügt, als auch danach, ob der Staat in Bezug auf seine grundrechtliche Verpflichtung zum Schutz vor faktischen Beeinträchtigungen durch Dritte das Erforderliche getan hat. s. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 382. 158 Vgl. insbesondere B.IV.1.; F.II.2; F.III.2. und F.IV.2. Auch in der Rspr. des BVerfG waren objektive Grundrechtsfunktionen im Allgemeinen nicht als Verdrängung, sondern als Verstärkung des Abwehrrechts gedacht. s. etwa BVerfGE 7, 198 (205) (Lüth); 50, 290 (337) (Mitbestimmung); 66, 116 (135) (Springer/Wallraff). s. ferner Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 95, 97 und passim; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 150, Rn. 11: Alle weiteren Funktionen können die Hauptfunktion – d. h. die Abwehrfunktion – nicht „modifizieren, verdrängen oder ersetzen“. Weitere Grundrechtsfunktionen neben dem Abwehrrecht in Dreieckskonstellationen einzufordern, stärkt aber das Abwehrrecht nicht, sondern ruft seine Schwächung hervor (F.II.2).

IV. Dreiecksverhältnisse, Abwehrrecht und Leistungspflicht

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zeigen sein, dass die Kontrollinstrumentarien weiterer Grundrechtsfunktionen, so es sie denn gibt, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu respektieren haben (2.).

1. Abwehrrechtliche Erfassung der Dreiecksverhältnisse Dreiecksverhältnisse bezeichnen die Konstellationen, in denen der Staat den Konflikt zwischen mindestens zwei Grundrechtsträgern regelt – wie es in Drittwirkungsfällen typischerweise wahrgenommen wird.159 Die einzelnen Positionen werden dabei als individuelle Grundrechtspositionen wahrgenommen und entsprechend ist der Staat bei der Konfliktregelung an die jeweiligen Grundrechte gebunden. Verpflichtet der Staat den einen Bürger, sich gegenüber einem anderen Bürger in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten, liegt hier ein normativer Grundrechtseingriff vor, der nach der hier vorgetragenen Sicht den abwehrrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen unterliegt. Ein Rückgriff auf grundrechtliche Schutzpflichten zur Lösung von Drittwirkungskonflikten ist daher nicht nur entbehrlich, sondern verursacht auch Unklarheit und ermöglicht im Ergebnis einen methodisch kaum mehr beherrschbaren Zugriff der Rechtsprechung auf die politische Gestaltung von Dreiecksverhältnissen. Um die Grundrechte in Dreieckskonstellationen zur Geltung zu bringen, bedarf es insoweit nicht ihrer Deutung als objektive Prinzipien o. Ä., sondern zunächst nur der Einsicht, dass der Staat auch bei der Gestaltung der rechtlichen Beziehungen der Privaten immer wieder in die persönlichen Freiheiten eingreift und sich dabei an den Grundrechten messen lassen muss.160 Alle rechtlichen Verhältnisse zwischen Bürgern sind staatlich geregelte Verhältnisse – Staatlichkeit allen Rechts. Diese Totalität der Grundrechte schlägt aber nicht in die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung um; denn ihr steht die Staatsgerichtetheit der Abwehrrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) und die Tatsache gegenüber, dass sie „nur“ Vorgaben für die Regelungen von Konflikten enthalten (G.I.4.). Grundrechte sind ausschließlich auf den regulierenden Staat bezogene Normen. Entsprechend regeln sie nicht unmittelbar den Interessenkonflikt der Grundrechtsträger, sondern stellen bloß Anforderungen an die staatliche Regelung des Konflikts. Sie verlangen vom Staat in der Regel nicht, dass er jeden Eingriff unterlässt, sondern nur, dass Grundrechtseingriffe gerechtfertigt werden. Dem Staat 159

Allerdings werden auch Dreieckskonstellationen, die nicht dem Privatrecht zugeordnet werden, schon häufig als solche thematisiert – wie insbesondere die drittbelastenden öffentlichrechtlichen Genehmigungsverfahren, aber auch einige Fallkonstellationen im Strafrecht und in Konkurrenzverhältnissen. Eine mittelbare Einflussnahme der Grundrechte auf die rechtlichen Beziehungen der Privaten kommt also nicht nur bei Privatrecht vor. s. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 103 ff. 160 Vgl. Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 49, 55. s. auch ders., EuGRZ 1984, 457, 464: Es bestehen zwar Unterschiede im Vergleich zum klassischen Konflikt zwischen Bürger und Staat, aber die Kategorien des Eingriffs, der Abwehr und der Schranke, die Fragen nach der Legitimität des Zwecks und nach der Geeignetheit und Notwendigkeit der zur Zweckverfolgung eingesetzten Mittel greifen auch hier.

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

steht daher auch in Dreiecksverhältnissen regelmäßig frei, zu wessen Gunsten oder Lasten er den Konflikt entscheidet; denn das Abwehrrecht begrenzt, wie erläutert, die Gestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Gewalten nur negativ, indem insbesondere unverhältnismäßige oder gleichheitswidrige Regelungen ausgeschlossen werden. Aufzuzeigen ist aber noch, wie die einzelnen abwehrrechtlichen Kategorien in diesem Zusammenhang zu operationalisieren sind. Hinsichtlich des Schutzbereichs ergeben sich in Dreieckskonstellationen keine Besonderheiten. Beide Grundrechtsträger können zwar für ihren betroffenen Lebensbereich auf Grundrechtspositionen verweisen. Aber nur das Verhalten bzw. die Interessen der Grundrechtsträger, nicht ihre Grundrechte, stoßen aufeinander.161 Anzumerken ist allerdings, dass der Konflikt hier mindestens zwei grundrechtlich prinzipiell geschützte Lebensbereiche umspannt. So erfasste z. B. der dem LüthUrteil zugrunde liegende Sachverhalt zwei Ausschnitte der Lebenswirklichkeit, die sich jeweils Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG zuordnen lassen. Der Staat musste dabei die konfligierenden Interessen regeln und dazu mindestens das Interesse eines Grundrechtsträgers beschränken. Indem der Bundesgerichtshof der Klage der Verleiher Harlans stattgegeben hatte, war der Konflikt so geregelt worden, dass sich für Lüth die Pflicht ergab, den Boykottaufruf in Zukunft zu unterlassen. Da jedoch der Boykottaufruf eine Form der Meinungsäußerung ist, prüfte das BVerfG die Pflicht zunächst als Eingriff in Lüths Recht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Nicht anders stellt sich übrigens die Situation in Verfahren dar, die sich auf drittbelastende Genehmigungen beziehen. Der Staat und insbesondere die Genehmigungsbehörde regelt den Konflikt zweier Bürger und beschränkt dadurch zumindest das Interesse eines Grundrechtsträgers.162 Bezüglich des Eingriffsbegriffs besteht allerdings die Besonderheit, dass Dreiecksverhältnisse über die Figur des normativen – und nicht faktischen – Grundrechtseingriffs abwehrrechtlich zu erfassen sind. Damit die grundrechtliche Prüfung ihren staatlichen Bezugspunkt nicht verliert, nimmt dieses Element also nur die staatlichen Freiheitsverkürzungen wahr, die notwendig mit der Regelung des umstrittenen privaten Verhaltens verbunden sind.163 Jede mit der Regelung des Kon161 Zur Kollisionsfreiheit der Abwehrrechte s. o. G.I.4.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 198 ff., 318. Insoweit gilt es von der geläufigen Vorstellung der Grundrechtskollisionen, der zufolge sich die rechtliche Lösung des Interessenskonfliktes durch den Aufeinanderprall der beiden Grundrechte ergibt, Abschied zu nehmen. Sie beruht auf einem verkürzten, mechanistischen und verräumlichten Grundrechtsdenken. 162 s. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 211 ff., 320 f. 163 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 319 ff. Dies gelte auch für den Bereich des Vertragsrechts. Verstoße das Gesetz, das den Richter aufgrund eines Rechtsgeschäfts zum Grundrechtseingriff verpflichte, gegen das GG oder sei die richterliche Entscheidung selbst grundrechtswidrig, so folge letztlich aus der Geltungsfunktion der Grundrechte die Unwirksamkeit auch der im gesetzlichen Rahmen der Privatautonomie begründeten Pflicht. Die Abwehrrechte stellten somit gerade nicht auf die privatautonomen Handlungen der Grundrechtsträger ab, sondern knüpften ausschließlich an den staatlichen Rahmen an, der die Privatautonomie ermögliche, in den sie eingelassen sei. s. dazu ebd., S. 222, 344 ff.

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fliktes verknüpfte Verhaltenspflicht ist darauf zu untersuchen, wen sie in welchen Grundrechten normativ beschränkt. Die faktischen Beeinträchtigungen durch andere Grundrechtsträger geraten hingegen nicht in den Blick des staatsgerichteten Abwehrrechts. Auf die Regelung privaten Handelns, nicht auf eine Zurechnung dieses Handelns zum Staat, kommt es an. Ähnlich wie bei der Handhabung des Eingriffsbegriffs ist die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in mehrpoligen Rechtsverhältnissen weniger ein Problem seiner inhaltlichen Anforderungen als eines des Bezugspunkts seiner einzelnen Elemente, die auf den zuvor festgestellten staatlichen Eingriff bezogen werden müssen. Maßgeblich für die Verhältnismäßigkeitsüberlegungen sind damit das regelnde Verhalten des Staates und die mit ihm verfolgten Regelungszwecke.164 Dogmatisch bedeutet die Staatsgerichtetheit der Grundrechte eben, dass auf den normativen staatlichen Grundrechtseingriff und dessen Zweck und Handlungsalternativen abgestellt wird. Die Übertragbarkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf private Beeinträchtigungen hätte in der Tat kaum Steuerungskraft und wäre im Übrigen auch verfassungsrechtlich problematisch. Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dürfen Beschränkungen, die der Staat den Grundrechtsträgern auferlegt, nicht ohne rechtfertigenden Zweck stattfinden. Für privates Handeln kann das nicht ohne weiteres angenommen werden. Zum einem wäre eine umfassende Erforschung der privaten Motive nur schwerlich mit dem Autonomieprinzip und dem Gebot der staatlichen Neutralität vereinbar.165 Die Grundrechte überlassen es ihrem Träger, zu entscheiden, „wozu“ er die Freiheit ausübt. Zum anderen kann der Grundsatz aufgrund der verfassungsrechtlichen Beliebigkeit privater Zwecksetzung kaum eine Orientierung leisten. Der Bürger kann nämlich im Einzelfall immer einen Zweck benennen, zu dem seine Beeinträchtigung eines anderen verhältnismäßig war.166 Ist mit der Regelung des Konfliktes der Bezugspunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung richtig ermittelt, so ergeben sich hinsichtlich ihrer Anwendung in Dreiecksverhältnissen keine Besonderheiten. Insbesondere besteht die Aufgabe des Gesetzgebers auch hierbei nicht bloß darin, eine angeblich verfassungsrechtlich 164

Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 173 f., 325 ff. Bereits Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 318, 337 f., hat darauf hingewiesen, dass sich das Recht nur auf das äußere Verhältnis einer Person gegen eine andere beziehe und daher nur die Legalität, nicht aber die Moralität des Verhaltens der Bürger verlangen kann. s. ferner Habermas, Faktizität und Geltung, S. 136 ff., der zwar die Aspekte der Legalität nicht als Einschränkung der Moral versteht, sondern von einem Ergänzungsverhältnis von Moral und Recht ausgeht (S. 145 ff.). Auch hier heißt es aber, dass das Recht nur „normenkonformes Verhalten bei Freistellung der Motive und Einstellungen“ ihrer Adressaten erzwinge (S. 148). 166 s. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 326, der ferner zutreffend beobachtet, dass die Regelung des Interessenkonflikts einen Zweck verfolgen könne, der sich mit keinem der von den Konfliktparteien verfolgten Interessen decke. s. auch Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 159 f.: Selbst wo dem Handelnden, etwa im Prozess, eine Begründungslast auferlegt werde, könne er, da der Handlungszweck nicht von vornherein erkennbar sein müsse, den von ihm erstrebten Erfolg nachträglich relativ frei bestimmen. 165

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

prädestinierte Abwägung zwischen konfligierenden Interessen vorzunehmen. Jenseits der im GG ausdrücklich enthaltenen und der in der einzelgrundrechtlichen Dogmatik entwickelten Zweck- und Mittelverbote ist der Gesetzgeber in den Grenzen der Pareto-Optimalität vor dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vielmehr frei, den Konflikt zugunsten des einen oder anderen Bürgers zu entscheiden. Die Abgrenzung gesellschaftlicher Freiheit bleibt daher grundsätzlich politisch zu entscheiden und zu verantworten. Was hingegen die Rechtsanwendung angeht, kann, wie dargelegt, die Verhältnismäßigkeit i. e. S. u. U. weiterhin als rechtlicher Maßstab für das Verhalten und für die Kontrolle von Verwaltung und Rechtsprechung dienen. Doch selbst unter diesen Bedingungen sind die Rechtsanwendungsorgane dem Gesetzeszweck positiv verpflichtet und haben die „Chancengleichheit“ zwischen den Grundrechtsträgern sowie die Kohärenz ihrer Entscheidungen zu wahren (H.III.2.). Aus dem bisher Gesagten ist also zum einen festzuhalten, dass die Staatsgerichtetheit der Grundrechte auch in Dreiecksverhältnissen nicht aus dem Blickfeld der Grundrechtsprüfung geraten soll, und zudem, dass die dogmatischen Strukturen des Abwehrrechts nicht durch ein Abwägungselement eingeebnet werden dürfen. Wie der Maßstab der Verhältnismäßigkeit auf jeden Eingriff Anwendung findet, so bezieht er sich auch hierbei auf den jeweils einzeln zu rechtfertigenden Grundrechtseingriff und seinen Regelungszweck. Das Gleiche gilt für die Wesensgehaltsgarantie: Der Bezugspunkt ihrer Anforderungen ist nicht die faktische Beeinträchtigung durch den anderen beteiligten Grundrechtsträger, sondern es sind die mit der Konfliktregelung verbundenen staatlichen Eingriffe. So wie jeder staatliche Eingriff den Wesensgehalt eines Grundrechts nicht antasten darf, so stellt diese Garantie auch für die mit der Regelung von Dreiecksverhältnissen verbundenen normativen Grundrechtseingriffe eine absolute Grenze dar. Diese Mindestposition, die häufig mit dem Menschenwürdegehalt übereinstimmt, ist somit auch in Drittwirkungskonstellationen nicht abwägungsfähig.167 Gibt eine Regelung einem Bürger beispielsweise die Duldung ehrkränkender Äußerungen auf, so darf diese Duldungspflicht weder den Wesens- noch den Menschenwürdegehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts antasten.168 167 So hat das BVerfG hinsichtlich der Menschenwürde wiederholt ausgeführt, dass sie mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig ist und dass sie auch privater Freiheitsentfaltung eine absolute Grenze setzt. Vgl. BVerfGE 34, 238 (245) (Tonband), in der das Gericht auch den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Wesensgehalt betont. S. auch BVerfGE 75, 369 (380) (Strauß-Karikatur); 93, 266 (293) (,Soldaten sind Mörder‘); 107, 275 (284) (Schockwerbung II). 168 In diese Richtung gingen z. B. die bereits erwähnten BVerfGE 75, 369 (Strauß-Karikatur) und BVerfGE 119, 1 (Esra). Maßgeblich war hier genau die inhaltliche Thematisierung des Menschenwürdegehalts des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Ob eine Menschenwürdeverletzung in diesen Fällen tatsächlich vorlag, ist zwar nicht unbestreitbar, kann aber hier dahinstehen. Hängen die Ergebnisse dieser konkreten Fälle von der Herausarbeitung des Wesens- und des Menschenwürdegehalts ab und sind daher nur bedingt bestimmbar, hätte z. B. die Entscheidung zum „Rock-Comical Maria-Syndrom“ (BVerwG, NJW 1999, 304 f. – Theater-Beschluss) unter Berücksichtigung des hier entwickelten Ansatzes – mangels einer Verletzung von Individualpositionen – anders ausfallen sollen. Ebenfalls käme eine Abwägung

IV. Dreiecksverhältnisse, Abwehrrecht und Leistungspflicht

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2. Verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wahrnehmung von Leistungspflichten Die Annahme eines abwehrrechtszentrierten Grundrechtsverständnisses bedeutet nicht, wie bereits ausgeführt, dass andere Grundrechtsfunktionen nicht anerkannt werden. Handlungsaufträge werden jedenfalls dort angenommen, wo der Verfassungstext sie ausdrücklich vorsieht – wie z. B. die Schutzaufträge in Art. 1 Abs. 1 S. 2, Art. 6 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 5 GG. Das Gleiche gilt für den Anspruch auf Einrichtung eines qualifizierten Verfahrens. Grundrechtliche Ansprüche auf den Erlass bestimmter Verfahrensregelungen sind auf ein positives staatliches Verhalten und nicht auf eine Unterlassung gerichtet. Dementsprechend sind sie als Leistungsansprüche einzuordnen, die durch die Verfahrensgrundrechte ausdrücklich statuiert sind.169 Bei einzelnen Garantien hat daher die Leistungsdimension durchaus ihre Berechtigung. Eine grundrechtliche Leistungs- oder Schutzpflicht könnte außerdem auch dort eine eigenständige Funktion entfalten, wo der Tatbestand des Abwehrrechts etwa mangels Eingriffs nicht einschlägig ist. Es ist allerdings nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit, eine eigene Antwort auf die Frage zu formulieren, aus welchen weiteren einzelnen Grundrechten und unter welchen Bedingungen welche Art von staatlicher Leistungspflicht abgeleitet werden kann und soll.170 Soweit der Ehrgeiz der Untersuchung reicht, liegt die Aufgabe hinsichtlich leistungsrechtlicher Gehalte, so es sie denn gibt, vielmehr nur im Aufzeigen, dass die verfassungsrechtliche Kontrolle auch in diesem Bereich nicht in eine freischwebende Abwägung, die zu einer Entdifferenzierung von Recht und Politik führt, münden muss. Schon aufgrund der positivrechtlichen Normierung von Leistungspflichten, aber auch wegen der wachsenden Bedeutung fördernder Sozialmaßnahmen für die Effektuierung gleicher realer Freiheit, kann zwar auch in diesem Bereich nicht auf jede verfassungsgerichtliche Kontrolle verzichtet werden. Doch die Anerkennung von zwischen der Kunstfreiheit und den „Verfassungsgütern“ der Bundesflagge (BVerfGE 81, 278/ 293) oder der Nationalhymne (BVerfGE 81, 298/308) gar nicht in Betracht. 169 Trotzdem kann die Existenz und Ausgestaltung eines Verfahrens auch für die abwehrrechtliche Beurteilung eines Grundrechtseingriffs von großer Bedeutung sein. Grundrechtseingriffe können sich nämlich als unverhältnismäßig erweisen, wenn sie ohne Verfahren nicht geeignet sind, das angestrebte Ziel zu erreichen, oder wenn der Einsatz eines Verfahrens eine mildere Belastung der Betroffenen herbeiführt. Zur Verfahrensrelevanz für das Abwehrrecht s. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 392 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 120 ff. Vgl. ferner z. B. BVerfGE 65, 1 (58 ff.) (Volkszählung); 120, 274 (331 f.) (Online-Durchsuchung). Auch die Gleichheitsrechte können darüber hinaus die Einrichtung von Verfahren verlangen, um etwa eine chancengleiche Verteilung von Leistungen zu gewährleisten. s. BVerfGE 33, 303 (339) (numerus clausus I). 170 Zur Kritik an der Hypertrophie der Schutzpflicht und Verdrängung des Abwehrrechts durch ihre Entfaltung s. o. F.II.2. Zu Einwänden gegen ein grundrechtliches Verständnis einer durch die Subjektivierung des staatlichen Gewaltmonopols entwickelten Schutzpflicht vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 192 ff. Zum Zusammenwirken von Abwehrrecht und Gewaltmonopol s. o. G.I.4.

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

Leistungsrechten darf nicht zum Vehikel werden, um spezifisch gesetzgeberische Funktionen in der Gestaltung der Sozialordnung auf das Verfassungsgericht zu verlagern oder auch um das Verfassungsgericht in die Rolle einer politischen Schiedsinstanz für die Auswahl zwischen konkurrierenden Gesetzgebungsprojekten zu drängen.171 Die Erarbeitung von weiteren Kontrollinstrumentarien jenseits des Gleichheitssatzes172 soll daher weder auf Kosten des Abwehrrechts noch der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers gehen. Ausgangspunkte jeglicher Überlegung zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Leistungspflichten müssen die Einsichten sein, dass eine vollendete Leistungserbringung unmöglich ist und dass die Entscheidung über die Prioritäten zum Bereich der Politik gehört.173 Leistungsrechte enthalten einen Impuls zum progressus in infinitum und sind notwendigerweise auf eine dem Staat verfügbare Verteilungsmasse angewiesen. „Luft und Wasser können immer noch sauberer, innere und äußere Sicherheit immer noch sicherer, die Gesellschaft kann immer noch wohlhabender und die kulturelle Struktur immer noch reichhaltiger sein.“174 Zusätzlicher Schutz, stärkere Förderung und bessere Ausgestaltung sind also stets denkbar. Angesichts begrenzter Haushaltsressourcen und möglicher Kollisionen zwischen solchen Gütern ist es unvermeidlich, Prioritäten zu setzen, und die Entscheidungen über diese Prioritäten gehören in einer Demokratie zum politischen Prozess und dem einfachen Gesetzgeber. Hinzu kommt, dass die Verfassung grundsätzlich keine näheren Angaben dazu macht, wie, mit welchen Mitteln und in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind. Das konkrete Maß und überhaupt die Art und Weise der Zielerfüllung sind – und dies wird allerseits anerkannt – grundrechtlich in der Regel nicht vorgegeben. Gibt es eine verfassungswidrige Unterlassung, existiert entsprechend regelmäßig eine Vielzahl verfassungsmäßiger Alternativen. Die 171 Gerade die Einnahme einer solchen Rolle wird in der abw. Meinung von Rupp-v. Brünneck und Simon in BVerfGE 39,1 (72) scharf moniert. Vgl. auch Kriele, JZ 1975, 222, 224. 172 Der Gleichheitssatz kann, wie erwähnt (H.III.3), auch hierbei ein durchaus wirkungsvolles Bindungs- und Kontrollinstrumentarium bilden. Die Gerichte können zwar dem Staat in der Regel nicht abfordern, zusätzliche Haushaltsressourcen für die Befriedigung der Ansprüche bereitzustellen, wohl aber ihn zur gleichmäßigen Verteilung des Vorhandenen verpflichten. Vgl. dazu Schlink, EuGRZ 1984, 457, 465. 173 So auch Isensee, in: HStR V, § 111, S. 216, Rn. 132; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 80; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 239; Hain, DVBl. 1993, 982, 984. Zu Recht bezeichnet es das BVerfG als „eine höchst komplexe Frage (…), wie eine positive staatliche Schutz- und Handlungspflicht (…) durch aktive gesetzgeberische Maßnahmen zu verwirklichen ist. Je nach der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse, der konkreten Zielsetzungen und ihrer Priorität sowie der Eignung der denkbaren Mittel und Wege sind verschiedene Lösungen möglich. Die Entscheidung, die häufig Kompromisse erfordert, gehört nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem demokratischen Prinzip in die Verantwortung des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers und kann vom Bundesverfassungsgericht in der Regel nur begrenzt nachgeprüft werden“ – problematisch ist hingegen die Ergänzung – „sofern nicht Rechtsgüter von höchster Bedeutung auf dem Spiele stehen“. BVerfGE 56, 54 (81) (Fluglärm). 174 Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 648.

IV. Dreiecksverhältnisse, Abwehrrecht und Leistungspflicht

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Grundrechte als positive Handlungspflichten bestimmen grundsätzlich nicht die Rechtsfolge verfassungswidriger Nichterfüllung einer Leistungspflicht.175 Infolgedessen gehen aus den Freiheitsrechten von vornherein nur begrenzte Verpflichtungen hervor, Freiheitsvoraussetzungen zu gewährleisten. In der Literatur wird deshalb häufig vertreten, dass das jeweilige Grundrecht nur nicht leerlaufen oder „notleidend“ werden dürfe. Der gerichtliche Ausspruch sei auf die Feststellung der staatlichen Handlungspflicht und auf die Gewährleistung eines Minimums zu beschränken.176 Im Übrigen sei die Art und Weise der Pflichterfüllung dem Gesetzgeber zu überlassen. Freilich ist die Aussage, dass ein Mindestmaß an Leistung gewährleistet werden muss, viel zu abstrakt und besitzt kaum Steuerungskraft (F.III.2.). Der Grundrechtsdogmatik stellt sich insoweit hier die Aufgabe, konkretere Vorgaben für die Rechtsanwendung zu entwickeln. Diese Vorgaben müssen aber ebenfalls auf die Verschiedenheit verschiedener Handlungsaufträge eingehen und sind für jede einzelne Leistungsgarantie von deren Normprogramm und Sachbereich her gesondert herauszuarbeiten.177 Für die dogmatische Behandlung der Leistungsrechte können daher im Rahmen dieser Arbeit nur skizzenhafte Überlegungen entwickelt werden. Hat der Staat eine Leistungspflicht, muss er sie auch erfüllen. Da eine Rechtspflicht nicht „mindestens“ erfüllt werden kann (binäre Codierung), folgt bereits aus der Annahme einer Leistungspflicht das Gebot einer effektiven Pflichterfüllung. Das Effektivitätsgebot fordert allerdings lediglich eine Leistung, die als solche wirksam ist,178 und muss insoweit strikt vom Untermaßverbot unterschieden werden.179 Auch in der Rechtsprechung des BVerfG ist das Postulat der Effektivität allgemein geläufig. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Art. 19 Abs. 4 GG wurde es exemplarisch entfaltet: Der von der Norm geforderte Rechtsweg muss einen effektiven Rechtsschutz garantieren.180 Darüber hinaus hat das Gericht auch in Bezug auf 175

Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 238. Exemplarisch Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 238 f. Vgl. auch Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 84 ff.; Isensee, in: HStR V, § 111, S. 232 f., Rn. 165, die von „Mindeststandard“ sprechen. 177 Ein Beispiel dafür findet sich in BVerfGE 75, 40 (62 ff.) (Privatschulfinanzierung I), in der sich das Gericht nicht einfach einer leistungsrechtlichen Umdeutung der Grundrechte global zuwandte. Anstelle allgemeiner grundrechtstheoretischer Aussagen ging es vielmehr von einer bereichsdogmatisch spezifischen Analyse der Privatschulfreiheit und der konkreten Ausübungsmöglichkeit dieses Freiheitsrechts aus. s. hierzu Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 121 ff. 178 Dies ergibt sich aus den angeführten Gesichtspunkten, dass vollendete Leistungserbringung unmöglich ist, dass die Entscheidungen über die Prioritäten zum Bereich der Politik gehören und dass die Grundrechte kaum Anhaltspunkte für die Art und Weise der geschuldeten Erfüllung aufweisen. 179 Nach dem Untermaßverbot muss das legislative Handeln nicht nur effektiv sein, sondern auch Mindestanforderungen bzw. einen Mindeststandard nicht unterschreiten (s. o. D.V.2.). 180 Vgl. BVerfGE 15, 275 (282) (Rechtsweg); 35, 263 (274) (Behördliches Beschwerderecht); 60, 253 (266) (Anwaltsverschulden); 101, 106 (123) (Akteneinsichtsrecht). Aus 176

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

Schutzpflichten mehrfach festgestellt, dass ein effektiver bzw. wirksamer Schutz des jeweiligen Rechtsguts verlangt sei, und dabei einige Parameter für die Effektivitätskontrolle entwickelt. Berücksichtigt werden in diesem Sinne die Art und Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung bzw. -gefährdung, die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, die Existenz und Wirkung vorhandener Regelungen181 sowie die Möglichkeit des Bürgers, sich selbst zu helfen182. Die Justiziabilität des staatlichen Handelns ist somit im Wesentlichen auf empirische Gesichtspunkte eingeschränkt. Ausnahmen dieser begrenzten Kontrollierbarkeit bestehen nur dann, wenn die Verfassung nicht nur hinsichtlich des „Ob“ sondern auch hinsichtlich des „Wie“ konkrete Vorgaben macht,183 wenn nur eine einzige Vorkehrung effektiv ist, oder wenn das Nicht-Ergreifen einer bestimmten Maßnahme zu einer Menschenwürdeverletzung führt.184 Ist die Leistungspflicht hingegen unbestimmt, muss das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber die Freiheit lassen, die Mittel unter dem Gesichtspunkt der Effektivität zu wählen. Zu einem Übergang von kassatorischen zu präskriptorischen Entscheidungen darf es daher nicht kommen. Das Verfassungsgericht behält vielmehr seine Rolle einer Kontrollinstanz und stellt lediglich fest, ob eine Leistungspflicht im Sinne des Effektivitätsgebots verletzt wurde, und nicht, wie sie zu erfüllen wäre. Im Zweifel gilt außerdem die Vermutung zugunsten der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, sodass das Gericht nur eine Vertretbarkeitskontrolle durchführen soll. In diesem Sinne hat das BVerfG mehrfach festgelegt: Verletzt sei eine Schutzpflicht nur dann, wenn die öffentliche Gewalt gänzlich untätig geblieben sei oder wenn offensichtlich sei, dass die getroffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien, das Schutzziel zu erreichen.185 Eine Vorkehrung ist somit nur Art. 101, 103 und 104 GG ergeben sich noch weitere Vorgaben für die Verfahrensregelungen. Zur Petitionsfreiheit des Art. 17 GG s. ferner BVerfGE 2, 225 (230) (Petitionsbescheid). 181 s. etwa BVerfGE 46, 160 (164) (Schleyer); 49, 89 (142) (Kalkar I); 56, 54 (78) (Fluglärm). Auf eine „Wertigkeit“ des auf dem Spiele stehenden Grundrechtsgutes soll es allerdings nach der hier vertretenen Ansicht nicht ankommen. So aber z. B. BVerfGE 39, 1 (42) (Schwangerschaftsabbruch I); 46, 160 (164) (Schleyer); 76, 1 (51 f.) (Familiennachzug); 88, 203 (254) (Schwangerschaftsabbruch II). 182 Isensee, in: HStR V, § 111, S. 220, Rn. 142. Zum Vorrang der Selbsthilfe vor der Staatshilfe im Hinblick auf das medizinische Existenzminimum vgl. Neumann, NZS 2006, 393, 394. 183 Exemplarisch in diesem Sinne ist der Art. 208 der brasilianischen Verfassung, der den Staat eindeutig verpflichtet, allgemeinen Zugang zur kostenlosen Grundbildung zu garantieren (Abs. 1), und ferner festlegt, dass der Zugang zur kostenlosen Grundbildung ein subjektives Recht ist (§ 1o). 184 Vgl. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 84 ff.; Kriele, JZ 1975, 222, 223; BVerfGE 46, 160 (164 f.) (Schleyer); 77, 170 (215) (C-Waffen); 96, 56 (64) (Vaterschaftsauskunft). 185 BVerfGE 77, 170 (214 f.) (C-Waffen); 79, 174 (202) (Straßenverkehrslärm); 92, 26 (46) (Zweitregister). Ähnl. BVerfGE 56, 54 (80 f.) (Fluglärm): „evident“. Zum Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Regelung von Art. 19 Abs. 4 GG s. BVerfGE 101, 106 (123) (Akteneinsichtsrecht). Hinsichtlich der Leistungsrechte i. e. S. zeigt das BVerfG – im Unterschied zu der neuen Rspr. des STF – noch größere Zurückhaltung. Es hat zwar auch hier unter

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dann unvertretbar, wenn sie dem Zweck nicht dienlich ist oder auch im Fall, dass ein effektiveres Mittel besteht, das keinen anderen Grundrechtsträger belastet und auch nicht mehr von den Haushaltsressourcen erfordert.186 Ähnlich wie bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung steht also auch hier die Einschätzungsprärogative dem Gesetzgeber zu. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Wirksamkeit der Vorkehrung von einer Einschätzung zukünftiger Entwicklung abhängt. Der Legislative gehören die Prärogativen bei der Erfassung der relevanten Tatsachen und bei der Prognose, wie eine bestimmte Entscheidung die Realität beeinflussen wird.187 Auch dies entspricht übrigens im Wesentlichen der Praxis des BVerfG; denn bereits nach ständiger Rechtsprechung wird ein Gesetz in der Regel nur dann als verfassungswidrig erklärt, wenn dessen Voraussicht durch den Gesetzgeber auf einer offensichtlich fehlerhaften Prognose basiert.188 Die ergriffene Maßnahme muss jedoch mindestens der Findung eines effektiven Mittels dienlich sein.189

Rückgriff auf seine Wertordnungs-Rechtsprechung Grundrechte als Leistungsrechte ausgelegt und ihnen Ansprüche auf staatliche Förderung, auf Zuteilung von Mitteln, Positionen und Chancen entnommen. BVerfGE 33, 303 (330 ff.) (numerus clausus I); 43, 291 (317 ff.) (numerus clausus II); 59, 1 (21 ff.). Es hat sich aber im Ergebnis dann doch immer wieder zurückgehalten und dem Staat nie abverlangt, zusätzliche Haushaltsmittel für die Befriedigung der Ansprüche bereitzustellen, sondern ihn nur zur gleichmäßigen Verteilung des Vorhandenen verpflichtet – also genau das, was der Gleichheitssatz ohnehin fordert. Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 49. 186 So spricht Michael, JuS 2001, 148, 151, von Effektivität statt Erforderlichkeit: Während die Erforderlichkeitsprüfung nach milderen, gleich effektiven Alternativen frage, sei bei der Effektivitätskontrolle nach effektiveren, gleich milden Mitteln zu suchen. 187 Vgl. Hain, DVBl. 1993, 982, 984. Ähnl. Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 541, 555 f.: „Nuancen größerer Wahrscheinlichkeit könnten einen Anspruch des BVerfG nicht rechtfertigen, ,richtiger‘ zu entscheiden als das Parlament.“ s. auch ders., JZ 1995, 265, 272: Eine volle Nachprüfung „würde auf nichts Anderes hinauslaufen als die Ersetzung der einen unsicheren Prognose des Gesetzgebers durch die andere unsichere Prognose des BVerfG (…)“. Kritisch dazu aber Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 41 f., der einen „Einschätzungsspielraum“ des Staates überhaupt (inkl. des Gesetzgebers) nur in engen Grenzen anerkennt. Nach ihm ist der „Einschätzungsspielraum“ unter Ungewissheitsbedingungen primär bei der Gesellschaft und den Grundrechtsträgern selbst zu situieren. Wie aber die gesellschaftlichen Einschätzungen überhaupt zu identifizieren sind und maßgeblich werden, bleibt indes weitgehend unklar. Auch nach der hier zugrunde gelegten Konzeption reproduziert sich legitimes Recht in Form eines rechtsstaatlich regulierten Machtkreislaufs, der sich aus den Kommunikationen einer politischen Öffentlichkeit speist (s. o. B.IV.2.). Dann leuchtet es nicht ein, dass der Streit darüber, ob die Abwägung eher eine Leistung des Richters oder des Gesetzgebers ist, müßig sei (ebd., S. 33). Die grundlegende Quelle der Legitimität des positiven Rechts liegt vielmehr im demokratischen Rechtsetzungsprozess. 188 Vgl. BVerfGE 39, 210 (230) (Mühlenstrukturgesetz); 50, 290 (332 f.) (Mitbestimmung); 77, 84 (106 ff.) (Arbeitnehmerüberlassung); 77, 170 (214 f.) (C-Waffen). Dazu auch Degenhart, Staatsrecht I, S. 162; Stern, StR III/2, § 84, S. 777 f.; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 52 f. 189 Vgl. dazu aber in Bezug auf die Geeignetheitsprüfung des experimentierenden Gesetzes Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 208.

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H. Grundzüge einer alternativen Grundrechtsdogmatik

Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wahrnehmung grundrechtlicher Leistungspflichten muss sich darüber hinaus nach dem hier skizzierten Ansatz nicht nur auf die politische Entscheidung selbst erstrecken, sondern insbesondere auch auf das Verfahren der Ergebnisfindung. Da sich Legitimationsprobleme nicht einfach auf die Ineffizienz staatlicher Steuerungsleistungen reduzieren lassen,190 muss das Verfassungsgericht die Inhalte strittiger Normen in erster Linie im Zusammenhang mit den Verfahrensbedingungen des demokratischen Gesetzgebungsverfahrens bzw. legitimer Rechtsetzung und v. a. mit dem Entscheidungsfindungsprozess überprüfen. Der Gesetzgeber hat nämlich im Rahmen des demokratischen Verfahrens unter nachvollziehbarer Berücksichtigung aller Aspekte eine taugliche Lösung zu wählen. Er muss die entscheidungserheblichen Tatsachen sorgfältig ermitteln und darauf aufbauend vertretbare Einschätzungen treffen.191 Entsprechend soll der Schwerpunkt der verfassungsgerichtlichen Überprüfung primär auf dem Prozess der Entscheidungsfindung und nur sekundär auf dem Inhalt der Entscheidung selbst und seiner Vertretbarkeit liegen. Freilich bleibt die Justiziabilität des staatlichen Handelns begrenzt. Insbesondere was das Effektivitätsgebot betrifft, kann es zwar verhindern, dass der Staat keine, ungeeignete oder gar kontraproduktive Maßnahmen ergreift. Bestimmungen über Art und Umfang der zu ergreifenden Maßnahme lassen sich ihm aber grundsätzlich nicht entnehmen. Vielmehr steht dem Gesetzgeber die Wahl der Mittel zu, mit denen er seinen einzelnen Leistungspflichten nachkommen möchte. Die Vorreiterrolle bei der Entwicklung neuer Rechtspositionen kommt somit zwangsläufig dem politischen Prozess und dem einfachen Gesetzgeber zu. Und dies ist gut so. Wäre es anders, so wäre der demokratische politische Prozess, an dessen Ende der Gesetzgeber die notwendigen konkretisierenden Normen zu erzeugen hat, weitgehend überflüssig und sinnlos.192 Demokratie setzt nämlich voraus, dass die vom Volk gewählten Entscheidungsträger auch effektiv Entscheidungen treffen können, die nicht vollständig verfassungsrechtlich bestimmt sind. Die Entscheidungen über die positive Gestaltung der Sozialordnung, die übrigens häufig Kompromisse voraussetzen, stehen nach dem demokratischen Prinzip und dem Grundsatz der Gewaltenteilung dem vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgeber zu. Demgegenüber bestünde der Preis voller inhaltlicher Nachprüfung der Sozialmaßnahmen für die Effektuierung gleicher realer Freiheit gewiss in einer Umbildung des demokratischen Staates zu einem Jurisdiktionsstaat.193 190

s. dazu Habermas, Faktizität und Geltung, S. 517 f. BVerfGE 88, 203 (254) (Schwangerschaftsabbruch II). Vgl. auch BVerfGE 125, 175 (225) (Hartz IV): Der Gesetzgeber habe „alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren“ zu bemessen. s. ferner Dietlein, ZG 1995, 131, 140 f.; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 83. 192 Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561, 567. Vgl. auch Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 80. 193 Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 541, 558 f. Möchte man trotzdem die Funktion der Grundrechte als „soziales Reformprogramm“ (Hoffmann-Riem, in: Haben wir wirklich Recht?, 191

IV. Dreiecksverhältnisse, Abwehrrecht und Leistungspflicht

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Die Realisierung sozialer und ökonomischer Kollektivgüter ist unbestrittenerweise legitimer Gegenstand politischer Bemühungen und staatlichen Handelns. Nicht zu erkennen ist aber, was gewonnen wird, wenn sämtliche Zwecke, die ein Gemeinwesen verfolgen kann und die in irgendeinem Sinne mit dem Freiheitsgebrauch zusammenhängen, in sehr unklarer Weise als Problem der Grundrechte formuliert werden.194 Der Verfolgung derartiger Güter entsprechen meistens Finalprogramme, die dogmatisch kaum in den Griff zu bekommen sind. Überlässt die Grundrechtsdogmatik dem demokratischen Gesetzgeber die Entscheidungen über politische Prioritäten und staatliche Präferenzen, dann leugnet sie die Veränderung der Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit keineswegs, sondern sie sieht die Veränderungen in den politischen Entscheidungen sich sehr wohl niederschlagen.195 Der Ausbau von staatlichen Leistungen, die Gewährung von Leistungsrechten, die Einrichtung von Verfahren, die Gestaltung von Organisationen und die Sicherung von Verfahrenspositionen wurden ohnehin immer politisch erstritten. Rechtsprechung und Rechtswissenschaft haben also das Netz staatlicher Leistungen, Organisationen und Verfahren nicht geschaffen. Sie haben seinen Ausbau nur registrieren, konturieren und ggf. korrigieren können.

S. 53, 56) stärker betonen, muss zugleich angenommen werden, dass die Funktion der Leistungspflicht als richterliche Kontrollnorm an Umfang und Dichte hinter der Handlungsnorm zurückbleibt. Dies wird gerade von Isensee, in: HStR V, § 111, S. 232, Rn. 162, dem scharfsinnigen Analytiker der Schutzpflicht, so gesehen: „Die Schutzpflicht ist einerseits Handlungsnorm für die politisch und administrativ gestaltenden Staatsorgane der Legislative und der Exekutive, andererseits Kontrollnorm der richterlichen Gewalt. Doch die Kontrollnorm bleibt an Umfang und Dichte hinter der Handlungsnorm zurück. Der praktische Interpretationsprimat liegt im System der demokratischen Gewaltenteilung bei der Legislative.“ Vgl. auch Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 541, 557 ff.; Denninger, in: Festschrift Mahrenholz, S. 561, 567 f.: „Die Schwelle der Handlungspflicht mag durchaus über der Minimalmarke der nicht völligen Unzulänglichkeit bzw. gänzlichen Ungeeignetheit liegen; das bedeutet aber noch keineswegs, dass sich die richterliche Kontrollbefugnis auch über diese Marke hinaus erstreckt“ (S. 568). Allgemein zur Disjunktion von Handlungs- und Kontrollmaßstab Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 186 ff. (m. w. N.). Hinsichtlich der Leistungspflicht sei damit der Gesetzgeber zu mehr verpflichtet als zu dem, was das Verfassungsgericht kontrollieren könne. Eine Kongruenz zwischen materieller Norm und verfassungsgerichtlicher Kontrollnorm bestehe nicht. Kritisch dazu aber Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 27, der nicht zu Unrecht auf Art. 1 Abs. 3 und Art. 93 Abs. 1 GG hinweist. 194 Vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 647 f. 195 Hierzu und zum Folgenden Schlink, EuGRZ 1984, 457, 465.

J. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung I. Zusammenfassung Die Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ist immer ein Streit um den Gewaltenteilungsgrundsatz. Dieser sowie auch die Grundrechte haben im Laufe der rechtsstaatlichen Geschichte verschiedene Formen und Lesarten erfahren. Im liberalen Modell galten die Grundrechte in diesem Sinne grundsätzlich nur als staatsbezogene subjektive Abwehrrechte und verlangten lediglich ein Nichthandeln vom Staat, sodass die Aktualisierungskompetenz beim Einzelnen und bei einer entpolitisierten, staatlichen Eingriffen entzogenen Wirtschaftsgesellschaft lag. Aufgaben und Ziele des Staates blieben in diesem Zusammenhang allein der Politik überlassen. Das klassische Gewaltenteilungsschema war darüber hinaus auf die strikte Gesetzesbindung von Justiz und Verwaltung zurückzuführen, wobei diese Bindung den ausschließlichen Sinn hatte, die Rechtsanwendungsorgane dem Willen des gesetzgebenden Volkes zu unterwerfen. Unter der Voraussetzung eines Gesetzespositivismus bzw. „Gesetzeskults“ sollte die Interpretationsmacht des Richters so begrenzt wie möglich sein (B.II.). Durch die Entwicklung des liberalen Rechtsstaates zum Sozialstaat und die Materialisierung des bürgerlichen Formalrechts sind allerdings ein Wandel des Grundrechtsverständnisses und ein Machtzuwachs für die Justiz festzustellen. In einem Kontext, in dem der Staat dazu übergeht, auch für die Wohlfahrt der Bürger Vorsorge zu treffen, wird die traditionelle Abwehrfunktion für mindestens ergänzungsbedürftig erachtet. Daraus ergibt sich die „Entdeckung“ der sog. Drittwirkung und des objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalts, aus dem in der Folge eine breite Palette von weiteren Funktionen hergeleitet wurde. Mit der Funktionserweiterung der Grundrechte geht aber auch ein Zuwachs an Vorbehalten gegen das Gesetz einher, durch den ferner das Demokratieprinzip zugunsten einer Ausweitung der richterrechtlichen Rechtsfortbildung ausgehebelt wird. Hierbei nimmt zwar eine positive Anerkennung der Unbestimmtheit des Rechts – wie in Kelsens Interpretationstheorie besonders anschaulich wird – und der prinzipiellen Dimension des Rechts ihren Anfang, die Materialisierung des Rechts führt aber auch zu einer Lockerung der Gesetzesbindung der Verwaltung und Justiz, welche das Normengefüge des klassischen Rechtsstaates auf Kosten der Autonomie der Bürger aus dem Gleichgewicht zu bringen droht (B.III.). Angesichts der Konkurrenz verschiedener Grundrechtstheorien und der Reflexivität des paradigmatischen Rechtsverständnisses muss eine abwehrrechtszentrierte Dogmatik – auch wenn sie weder die Existenz anderer Grundrechtsfunktionen ge-

I. Zusammenfassung

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nerell leugnet, noch sozialstaatliche Ziele anzweifelt – den freiheits- und staatstheoretischen Fragen nachgehen, die durch die Kritik aufgeworfen wurden. Zwar ist die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft für staatsgerichtete Grundrechte konstitutiv. Mit dieser rechtstechnischen Ausgestaltung verbinden sich aber keine gesellschaftstheoretischen Festlegungen – weder in Richtung einer antidemokratischen Gesellschaftsfreiheit des Staates noch in Richtung einer liberalistischen Staatsfreiheit der Gesellschaft.1 Ein adäquates Grundrechtsverständnis soll vielmehr die tiefgreifende Interdependenz zwischen Staat und Gesellschaft ernst nehmen und sich von der Vorstellung einer staatsfreien rechtlichen Ordnung der Gesellschaft befreien. Das Abwehrrecht lässt sich ferner nicht auf die negative Freiheit reduzieren. Diese hat zwar eine strukturbildende Bedeutung, ist aber nur ein Ausschnitt des Eingriffs- und Rechtfertigungsschemas. Ihre dogmatische Funktion ist nämlich, den staatlichen Eingriff in den grundrechtlichen Schutzbereich unter Rechtfertigungszwang zu stellen. Dabei ist das Abwehrrecht jedoch auf verschiedene Freiheitsvorstellungen bezogen, die es dogmatisch teils durch inhaltliche Vorgaben, teils durch verfahrensrechtliche Anforderungen miteinander verknüpft. Es stellt einen Rahmen dar, in dem sich verschiedene Freiheitsbegriffe politisch bewähren müssen, und trägt so dem gesellschaftlichen Pluralismus und dem komplementären Verhältnis von Grundrechten und Demokratie besonders Rechnung (B.IV.1.). Unter Bedingungen zunehmender Pluralisierung der Weltanschauungen und Lebensformen hängt in der Tat die Legitimität des geltenden Rechts letztlich davon ab, dass es aus der diskursiven Meinungs- und Willensbildung gleichberechtigter Bürger hervorgeht. Im Geltungsmodus des Rechts verschränkt sich somit die Faktizität der staatlichen Rechtsdurchsetzung (Androhung und Sanktion) mit der Legitimität eines dem Anspruch nach rationalen, weil freiheitsverbürgenden und demokratischen Verfahrens der Rechtsetzung. Diese dem Recht immanente Spannung zwischen Faktizität und Geltung reflektiert sich ebenfalls innerhalb der richterlichen Praxis, allerdings als Spannung zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit (Konsistenz mit dem geltenden Recht) und dem Anspruch, rational akzeptable Entscheidungen zu fällen (Folge von ihrer Angemessenheit für den konkreten Fall). In Anbetracht der Vagheit der Normtexte und der Dynamik des Schutzbereichs soll daher die richterliche Entscheidungspraxis im Rahmen einer rationalen Rekonstruktion des Rechts im Lichte der relevanten Gesichtspunkte des Sachbereichs begriffen werden (B.IV.2.). Die Entscheidungspraxis des BVerfG – und auch des STF (C.V.) – hat sich gewiss mit der Rechtsunbestimmtheit auseinandergesetzt und das positivistische geschlossene Regelmodell überwunden. Inwieweit die Gleichstellung der Orientierung an Prinzipien mit dem Abwägungsmodell ein adäquates Verständnis der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit erlaubt, lässt sich jedoch in Frage stellen. Das BVerfG eröffnet die Rechtsprechung, in der es in der Gesamtheit der Grundrechte eine 1

Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 144, 417.

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J. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung

Wertordnung sehen und diese mit dem Abwägungsgebot verknüpfen möchte, mit dem Lüth-Urteil, das zugleich das Paradigma der Drittwirkungsrechtsprechung ist. Allerdings gewichtet das Gericht weder hier noch in der großen Mehrheit der nachfolgenden Judikate die Grundrechte selbst und hat auch nie eine Wertrangordnung der Grundrechte festgelegt. Dazu kommt, dass das BVerfG trotz des Rückgriffs auf das Wertdenken sowohl im Lüth-Urteil als auch in weiteren Drittwirkungsfällen wohl die Existenz subjektiver Rechte annimmt. Es hält nämlich an der Staatsgerichtetheit der Grundrechte fest, lehnt zugleich eine Grundrechtsneutralität des Privatrechts ab und operiert in der Regel mit abwehrrechtlichen Kategorien. Die sog. mittelbare Drittwirkung der Grundrechte ist daher nicht als eine vom Abwehrrecht – oder evtl. von der Schutzpflicht – verschiedene, selbständige Grundrechtsfunktion zu verstehen. In Bezug auf die Rechtsprechung des BVerfG bezeichnet sie vielmehr den über die unmittelbare staatliche Grundrechtsbindung vermittelten Einfluss der Grundrechte auf die rechtliche Regelung der Beziehungen der Privaten und verdeutlicht insbesondere die unmittelbare Grundrechtsbindung der rechtsprechenden Gewalt im Bereich des Privatrechts (C.I.). In der Entscheidung zur Dienstpflichtverweigerung schien das Wertdenken weiter aus der Verlegenheit des dogmatischen Umgangs mit den vorbehaltlosen Grundrechten herauszuführen. Dabei entwickelte das Gericht die noch heute nahezu allgemein anerkannte Schrankenformel, nach welcher Eingriffe in vorbehaltlose Grundrechte aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts je nach Einzelfallabwägung gerechtfertigt werden können. In der Folge bestätigte das BVerfG diesen Ansatz immer wieder, wendete ihn auf verschiedene Grundrechte an und erkannte zahlreiche mit dem Grundrecht abzuwägende Gemeinwohlbelange an. Eine präzise Eingrenzung der Positionen, die als kollidierender Verfassungswert herangezogen werden können, ist jedoch bislang in der Judikatur des BVerfG nicht zu finden. Trotz der Großzügigkeit des Gerichts bei der Annahme von Interessen als Verfassungsgüter kann aber auch hier festgestellt werden, dass die Überlegungen zu kollidierendem Verfassungsrecht und Abwägung oft nicht entscheidungserheblich sind, wie beispielsweise im 2. Kriegsdienstverweigerungsurteil gezeigt wurde. In einigen jüngeren Entscheidungen ist außerdem eine leichte Verschiebung der Akzentsetzung zu beobachten: Ausgangspunkt für die Ermittlung des Grundrechtsschutzes sei demnach nicht kollidierendes Verfassungsrecht, sondern eine sorgfältige Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs (C.II.). Mögen die Weichen für die Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten schon früher bestanden haben, so fing die Karriere dieser Figur doch erst recht mit der 1. Entscheidung zur Fristenlösung an. Im 2. Schwangerschaftsabbruchurteil griff das BVerfG ferner erstmals die dogmatische Figur des Untermaßverbots auf. Ausschlaggebend für die Lösung beider Urteile und der dabei auftretenden Kollision zwischen Schutzpflicht und Abwehrrecht war das Abwägungsdenken. Das Ergebnis dieser Urteile, dem zufolge der Gesetzgeber zum Erlass grundrechtsschützender Gesetze bestimmten Inhalts verurteilt werden kann, bedeutete einen großen Durchbruch für die Grundrechtsdogmatik. Doch abgesehen von der Konstellation

I. Zusammenfassung

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des Schwangerschaftsabbruchs lehnt das BVerfG regelmäßig ab, ein bestimmtes Schutzmittel aus der Schutzpflicht abzuleiten, und hat außer bei diesem emotional aufgeladenen Problem nie auf eine Verletzung des Untermaßverbots abgestellt. Vielmehr räumt es dem Staat normalerweise einen weiteren Gestaltungsspielraum ein, führt nur eine Evidenz- bzw. Vertretbarkeitskontrolle durch und überprüft eingeschränkt, ob die staatlichen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind. In der Tat konnte das BVerfG bislang der Schutzpflicht nur sehr wenig Konturen verleihen. Praktische Bedeutung hatte sie außerdem zunächst nur für das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit erlangt. Neuerlich lässt sich jedoch die Neigung feststellen, die Schutzfunktion in Beziehung mit anderen Grundrechten anzuerkennen und auf privatrechtliche Konstellationen anzuwenden. Allerdings bleibt das Abwehrrecht nach wie vor auch in der Drittwirkungsrechtsprechung die ganz dominante Grundrechtsfunktion (C.III.). Die Durchsicht der Grundrechtsrechtsprechung macht deutlich, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein zentrales Element der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle darstellt. Dabei lässt sich aber ebenso feststellen, dass unter dem Stichwort der Verhältnismäßigkeit i. e. S. oft auch Prüfungen anderer Stufen der Rechtfertigungsstruktur zu finden sind, wie es schließlich in der Entscheidung zur Online-Durchsuchung (C.IV.) exemplarisch gezeigt wurde. Auch die Heranziehung der Schutzpflicht erweist sich in dieser wie auch in anderen jüngeren Entscheidungen als ambivalent: Einerseits wird allgemein auf eine Schutzfunktion abgestellt, andererseits werden aber nur abwehrrechtliche Prüfungsmaßstäbe angewendet. Das Argumentieren mit Schutzpflicht bleibt insofern rhetorisch, wenn das BVerfG sie nur zur Bestätigung der ohnehin vorhandenen Zwecklegitimität oder als ein pauschales Argument in der „Gesamtabwägung“ benutzt. Nicht, dass die Schutzpflicht oder die Abwägung nicht der Dreh- und Angelpunkt mehrerer Entscheidungen wären. Aber insgesamt lässt sich beobachten, dass das BVerfG mehr davon geredet als daran überprüft hat. Im Ergebnis gilt es somit festzuhalten, dass die These2 noch aktuell bleibt, der zufolge ein Eingriff in der Regel nicht an einem Missverhältnis zwischen dem Wert der beeinträchtigten Freiheit und dem Rang des öffentlichen Guts scheitert, sondern vielmehr an seiner mangelnden Zwecklegitimität, Geeignetheit und Notwendigkeit zur Förderung des öffentlichen Guts sowie an der Nichtwahrung der Mindestposition. Die Herausarbeitung vieler dieser Aspekte unter der freischwebenden Abwägung scheint allerdings der bequemere und den Entscheidungsspielraum weiter öffnende Weg zu sein. Die Rechtsgeschichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wurzelt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Rechtsprechung zum Polizeirecht, wobei er damals nur einen rechtmäßigen Zweck und ein zur Erreichung des Zwecks geeignetes und erforderliches Mittel verlangte. Seit den 1950er-Jahren entfaltet er jedoch v. a. durch Impulse der Verfassungsrechtsprechung entscheidende Bedeutung für die Frage der Grundrechtsschranke, wobei er dann einen neuen Bestandteil 2

Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 17 – 126; ders., EuGRZ 1984, 457, 461.

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J. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung

– das Abwägungsgebot – gewinnt (D.I.). Inzwischen bildet dieser Grundsatz ein zentrales Element der Abwehrrechtsdogmatik, die auch als „triadische Struktur“ bezeichnet wird; denn sie schließt eine Analyse des Schutzbereichs, des Eingriffs und seiner Rechtfertigung ein. Bei der Anwendung eines Grundrechts wird demzufolge zuerst sein Schutzbereich herausgearbeitet, der allerdings in der Regel weit ausgelegt wird. Danach wird festgestellt, ob ein staatliches Handeln einen Eingriff in diesen Schutzbereich darstellt. Wird ein Eingriff bejaht, ist seine mögliche Rechtfertigung zu ermitteln, also ob und inwieweit dieser Eingriff entweder in der Verfassung selbst vorgesehen oder von ihr durch einen Gesetzesvorbehalt zugelassen ist und ob die Bedingungen dieser Zulassung erfüllt sind. Bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt haben Rechtsprechung und Lehre ferner die erwähnte Formel der verfassungsimmanenten Schranken entwickelt. Schließlich findet dann eine Prüfung der Schrankenzulässigkeit statt, wobei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – hier auch Übermaßverbot genannt – als wichtigste „Schranken-Schranke“ gilt (D.III.). Beim Übermaßverbot geht es um eine Analyse der Rechtmäßigkeit von und der Relation zwischen Mittel und Zweck staatlichen Handelns. Es fordert von der eingreifenden Staatsgewalt, dass sie in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise einen legitimen Zweck verfolgt. Das Geeignetheitskriterium setzt dabei voraus, dass das Mittel den Zweck fördert. Die Erforderlichkeit verlangt ihrerseits den Einsatz des geeigneten und mildesten Eingriffs, d. h., dass der Zweck nicht durch ein gleich wirksames, aber weniger beeinträchtigendes Mittel erreichbar sein darf. Besonders problematisch ist allerdings das dritte Element des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, das u. a. als Verhältnismäßigkeit i. e. S. bezeichnet wird. Sie verlangt nämlich, dass der Eingriff und das verfolgte Ziel in einer angemessenen, d. h. in recht gewichteter und wohl abgewogener Relation zueinander stehen müssen. Je schwerwiegender die Bedeutung des Eingriffs für den Einzelnen ist, desto gewichtiger müssen auch seine rechtfertigenden Gründe sein. Um dieses angemessene Verhältnis herzustellen, greifen Rechtsprechung und h. L. auf das Wert- und Abwägungsdenken zurück (D.IV.). Aus den Grundrechten werden Schutzpflichten hergeleitet, und das BVerfG tendiert dazu, gelegentlich auch hier den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzuwenden. Die Schutzpflichten wären dann verhältnismäßig zu erfüllen. Dafür spricht die dogmatische Figur des Untermaßverbots, das die untermäßige Wahrnehmung von grundrechtlichen Schutzpflichten verbieten soll. Vieles bezüglich der Schutzpflicht – wie z. B. ihre Herleitung, ihr Anwendungsbereich und Umfang – bleibt noch umstritten, so auch, ob sich das Untermaßverbot tatsächlich zu einem Korrelat des Übermaßverbots entfalten lässt und ob es überhaupt dogmatische Vorgaben zur näheren Bestimmung des Mindestmaßes an Schutz leisten kann. Während einige Autoren versuchen, ähnliche argumentative Strukturen für das Untermaßverbot zu entwickeln, wie sie für das Übermaßverbot bereits bestehen, lehnen andere Autoren aus verschiedenen Perspektiven die eigenständige dogmatische Bedeutung dieser Figur überhaupt ab. Allgemein anerkannt ist allerdings, dass dem Gesetzgeber bei der

I. Zusammenfassung

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Pflichterfüllung ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zusteht (D.V.). Die Abwägungslehre, die das Gewichten von Werten, Gütern o. Ä. fordert, steht bekanntlich in Zusammenhang mit der Werttheorie der Grundrechte, die wiederum ihren Ausgangspunkt in der Integrationslehre Rudolf Smends hat. So wie der Staat als beständiger Integrationsprozess zu einer Kultur- und Wertgemeinschaft und die Verfassung als Lebensordnung dieses Integrationsvorgangs erschienen, so stellten auch die Grundrechte für Smend maßgeblich konstituierende Faktoren dieses Vorgangs dar. Sie legten grundlegende Gemeinschaftswerte fest, normierten ein national geprägtes „Wert- oder Güter-, ein Kultursystem“, in dem sich die Einzelnen sachlich als ein Volk und zu einem Volk von nationaler Eigenart integrieren sollten und von dem die positive Staats- und Rechtsordnung ihre Legitimation erhielt. Entsprechend lehnt er es ab, den Grundrechten lediglich eine negative, staatsbeschränkende Funktion beizumessen und sieht sie auch als einen Beitrag zum Prozess der staatlichen Selbstverwirklichung und zur erlebnishaften Eingliederung in den Staat. Darüber hinaus solle die Anwendung der Grundrechte aus ihrem geistigen Gesamtzusammenhang, d. h. aus ihrem zugrunde liegenden Wertsystem, erfolgen und könne eine Abwägung zwischen den jeweils zu schützenden Werten erfordern. Die Grundrechtsgewährleistung hänge damit letztlich davon ab, ob die jeweilige Freiheit wichtiger sei als das geschützte gesellschaftliche Gut – wobei zugegeben wird, dass derartige Abwägungsverhältnisse schwanken können. Das Deutungsschema des Abwehrrechts erhält folglich mit Smends Überlegungen Konkurrenz durch das Deutungsschema der Grundrechte als Wertsystem, das jedoch dogmatisch nicht mehr als punktuell ausformuliert wird (E.I.). Ausgehend von einer Kritik an der „negativen“ und „individualistischen“ Freiheitsvorstellung des Abwehrrechts zielt auch das institutionelle Grundrechtsverständnis Peter Häberles auf eine Bestimmung der Bedeutung der Grundrechte als Werte im Wertsystem der Verfassung und darüber hinaus auf die Ermittlung von immanenten Grundrechtsgrenzen mittels einer Güterabwägung. Sein Ansatz soll dem Staat die Einrichtung und Ausgestaltung grundrechtlicher Institute und damit „wirkliche“, „reale“ Freiheit ermöglichen. Die Grundrechte verkörperten für ihn nicht nur subjektive Rechte, sondern hätten auch eine institutionelle Seite, aufgrund deren sie „freiheitlich geordnete und ausgestaltete Lebensbereiche“ gewährleisteten. Sie stünden mit anderen Verfassungsrechtsgütern in einem Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit und verwirklichten sich in ausgestaltenden und begrenzenden Regelungen institutioneller Art, die somit keinen Eingriff, sondern Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Freiheit darstellten. Die Totalität Häberles Abwägungskonzepts wird dabei von seinem Immanenzverständnis getragen, dem zufolge sämtliche Grundrechte unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze stünden. Allgemeine Gesetze definiert er als diejenigen, die allgemein gültige Rechtsgüter schützen, die sich „gegenüber dem betreffenden Grundrecht als gleich- oder höherrangig“ erweisen. Maßgeblich für die Bestimmung dieser Rangordnung seien dann die Abwägung der verschiedenen Verfassungsgüter und die Betrachtung des

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J. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung

Ganzen der Verfassung. Zugleich sei eine fallabhängig fortschreitende Judikatur wichtig, welche den – kaum operationalisierbaren – Ansatz eines Nachspürens von Fall zu Fall für den institutionellen Gehalt der Grundrechte treibe (E.II.). Auf eine Rationalisierung und Ausarbeitung der Werttheorie der Grundrechte und des institutionellen Grundrechtsverständnisses zielt ferner die Prinzipientheorie von Alexy und seinen Schülern ab. Bei dieser Theorie handelt es sich um eine besonders einflussreiche und radikale Deutung, welche die Probleme der Abwägung in einer modernisierten Terminologie abbildet und eine bestimmte rechtstheoretische und methodische Einsicht auf die Grundrechte projiziert. In diesem Sinne konzipiert Alexy einen Strukturunterschied zwischen Prinzipien und Regeln und definiert die Prinzipien als Optimierungsgebote, die dadurch charakterisiert seien, dass sie in unterschiedlichen Graden erfüllt werden könnten, wobei das gebotene Maß ihrer Erfüllung von den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten abhänge. Darüber hinaus seien die Prinzipienkollisionen – wie die Wertekollisionen – durch die Feststellung einer bedingten Vorrangrelation zu lösen, die nach dem Kollisionsgesetz einer Regel entspreche, welche ihrerseits den Grundrechtsbestimmungen zuzuordnen sei. Von dem Abwägungsgesetz3 erhofft er sich weiter, eine gewisse Sicherheit bezüglich der Frage der Rationalität des Abwägungsergebnisses zu erlangen. Da aber dieses Gesetz keinen materialen Maßstab zur Bestimmung des Wichtigkeitsgrades gebe, hänge die Rationalität juristischen Begründens – und daher auch der Abwägung – letztlich von der rationalen Begründbarkeit allgemeiner moralischer Urteile ab (Sonderfallthese). Die Prinzipientheorie von Alexy erweist sich als eine deutungsmächtige Theorie, in der sich die Abwägungsrechtsprechung umfassend darstellen lässt. Hierin liegt ihre Anziehungskraft, aber auch eines ihrer Probleme: Was auch immer entschieden wird, lässt sich als Optimierung unterschiedlicher Prinzipien im Einzelfall erklären. Diese Theorie löst somit tendenziell alle anderen dogmatischen Strukturen auf und gibt der grundrechtlichen Argumentation sehr wenige Unterscheidungen vor, die es erlauben würden, auch bestimmte Ergebnisse auszuschließen. Gerade die normstrukturelle Unterscheidung von Regeln und Prinzipien sowie ihre Verbindung mit zwei Anwendungsweisen (Subsumtion oder Abwägung) sind rechtstheoretisch und methodisch nicht haltbar (E.III.). Bei dem herrschenden Kollisionsdenken werden die Grundrechte zunehmend als abwägungsbedürftige Prinzipien begriffen. Dies kommt zunächst im traditionellen Begrenzungsansatz, dem zufolge die Einschränkungen vorbehaltloser Grundrechte durch kollidierende Verfassungsgüter gerechtfertigt werden können, exemplarisch zum Ausdruck. Fraglich ist hierbei jedoch, wie viele Rechtsgüter sich unschwer als Verfassungswert stilisieren lassen und damit, wie viele Kollisionen erzeugt werden können. Denn eine Spannungslage kann künstlich erzeugt werden und ist jedenfalls selbst Ergebnis einer Interpretation oder manchmal auch eines Verzichts auf Inter3 „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, umso größer muss die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 146.

I. Zusammenfassung

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pretation. Das aktuelle Begrenzungsmodell neigt in der Tat dazu, von einem sehr breiten Schutzbereich auszugehen, auf den Nachweis konkret gegenläufiger Pflichten zu verzichten und stattdessen eine pauschale Spannungslage zur Abweichung des Grundrechtsnormbefehls genügen zu lassen. Dabei werden die Grundrechte unter den Vorbehalt tendenziell uferloser kollidierender Verfassungsgüter gestellt; denn zur Großzügigkeit des BVerfG – und auch des STF – bei der Annahme von Werten als Verfassungsgüter kommt noch der Mangel an verfassungsrechtlichem Rückhalt für die Begründung und Eingrenzung solcher Güter hinzu. In ihrer Weite und Unbestimmtheit führen die verfassungsimmanenten Schranken dazu, dass nahezu jeder gewünschte Eingriff in ein Grundrecht auf kollidierendes Verfassungsrecht gestützt werden kann, sodass die Grundrechte zu bloßen „Abwägungsgesichtspunkten“ degradiert werden. An die Stelle des verfassungsrechtlichen Eingriffsverbots und des Gesetzesvorbehalts treten dann der unbestimmte Vorbehalt kollidierenden Verfassungsrechts und das richterliche Abwägungsgebot. Insoweit ruft dieses Begrenzungsmodell auch eine Entdifferenzierung der verschiedenen Schrankenregelungen und damit eine methodisch unvermittelte und rechtsstaatlich unbegründbare Schrankenbestimmung hervor (F.I.). Im Schrifttum richtet sich die Kritik an der Abwägung oft unmittelbar gegen ihre rechtsstaatlich bedenklichen Folgen, ohne aber deutlich zu machen, dass die Prämisse einer Angleichung von Rechtsnormen an objektive Prinzipien, Werte o. Ä. das primäre Problem sein kann. Die Rechtsnormen sind Gebote, deren deontologische Geltung eine Obligation ausdrückt. Sie haben binären Code als Geltungsanspruch und absolute Verbindlichkeit. Deshalb beziehen sie sich auf obligatorische Handlungen. Die Werte ihrerseits sind Optimierungsgebote, die vorrangig sein können. Sie beziehen sich auf teleologische Handlungen und besitzen einen relativen Code bzw. eine relative Verbindlichkeit. Obwohl Rechtsnormen auch gültig sind, wenn sie nicht mit moralischen, sondern mit pragmatischen oder ethisch-politischen Gründen gerechtfertigt werden, domestiziert das durch ein Rechtssystem definierte Recht gleichsam die Zielsetzungen und Wertorientierungen des Gesetzgebers durch den strikten Vorrang normativer Gesichtspunkte, die bei der Rechtsprechung gegenüber teleologischem Gehalt stets vorherrschen sollen.4 Indem die Grundrechte als abzuwägende Interessen verstanden werden, geht aber ihr deontologischer Geltungssinn verloren und funktionalistische Argumente können auf Kosten normativer Argumente die Oberhand gewinnen. Eine Norm soll nicht mit dem im Lichte unserer Wünsche Erreichbaren verwechselt werden. Die Grundrechte sind Rechtsnormen und nicht lediglich attraktive Güter. Sie beanspruchen allgemeine Verbindlichkeit und nicht nur eine spezielle Vorzugswürdigkeit. Sie haben, wie übrigens alle Normen, deontologische und nicht, wie Werte, teleologische Struktur (F.II.1.). Als Weiterentfaltung des Wertdenkens dehnt ferner die Entwicklung unspezifischer grundrechtlicher Funktionen den Handlungsspielraum des Staates in den abwehrrechtlich geschützten Bereichen aus. Sie führt zu einer bedenklichen Erzeugung 4

Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 193, 311 f.

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J. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung

von Kollisionen nicht nur zwischen unterschiedlichen Grundrechten, sondern auch zwischen unterschiedlichen Grundrechtsfunktionen dogmatisch weitgehend unbestimmten Inhalts, die in einem weitgehend ungeklärten Verhältnis zueinander stehen und wiederum weitere Abwägungen hervorrufen. Sehr problematisch ist außerdem die Tendenz zur Verkürzung des Anwendungsbereichs des Abwehrrechts durch die Entfaltung anderer Funktionen (v. a. der Schutzpflicht), was angesichts der Grundrechtsbindung und der Staatlichkeit allen Rechts kaum zu rechtfertigen ist und zu einer Asymmetrie der grundrechtlichen Erfassung des Konflikts führen kann. Die Verdrängung des Abwehrrechts ist weiter besonders deswegen prekär, weil die Funktionen, die dem Abwehrrecht an die Seite gestellt werden, über sehr einfache Strukturen verfügen, sodass im Ergebnis allgemeine Zuflucht zum Konzept der Einzelfallabwägung genommen wird. Aufgrund ihrer Unbestimmtheit degradieren auch die neuen Funktionen die Freiheitsrechte zu bloßen „Abwägungsgesichtspunkten“ und eröffnen dem Verfassungsgericht eine sehr breite und unstrukturierte Kontrollmöglichkeit; denn es kann nun nicht nur Unterlassungs-, sondern auch bestimmte Handlungsgebote festlegen (F.II.2.). Indem sich das Verfassungsgericht von der Idee einer Realisierung verfassungsrechtlich vorgegebener materialer Werte leiten lässt, steht ihm ferner Spielraum zur Verfügung, um die Rolle eines Wächters der gesellschaftlichen Werte einzunehmen: eine kulturalistische Annahme, die dem gesellschaftlichen Pluralismus nicht gerecht wird und den Schutz von Minderheiten beeinträchtigen kann. In posttraditionellen Gesellschaften darf die Verfassung in der Tat nicht als eine Wertordnung verstanden werden, die der Gesellschaft a priori eine bestimmte Lebensform überstülpt. Vielmehr muss es den gesellschaftlichen Kräften und evtl. dem politischen Prozess überlassen bleiben, Gesinnungspostulate zu statuieren. Unter Berufung auf Wertentscheidungen kann das Verfassungsgericht außerdem die Rolle eines Ideologiekritikers des Gesetzgebers einnehmen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass die Judikative beim Gewichten von Werten mindestens demselben Ideologieverdacht wie der Gesetzgeber ausgesetzt ist und für sich keinen neutralen Ort außerhalb des politischen Prozesses beanspruchen kann, in dem übrigens viel mehr als nur ethische Fragen berücksichtigt werden. Obwohl die Demokratie eine offensive Verfassungsrechtsprechung im Sinne des Schutzes der Freiheitsrechte und des demokratischen Gesetzgebungsprozesses fordert, darf und braucht doch die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht ein republikanischer Wächter vorgeblicher ethisch-politischer Werte zu sein, die in der Gesellschaft für einheitlich oder mehrheitsfähig gehalten werden (F.II.3.). Fraglich ist ferner, an welcher dritten Bezugsgröße (tertium comparationis) die Gewichte der Werte zu messen sind, um feststellen zu können, ob eine verhältnismäßige Relation hergestellt wurde. Die Vertreter der Abwägung sind nämlich eine Begründung dafür schuldig geblieben, wie die jeweiligen betroffenen Grundrechtsund Schrankeninteressen kommensurabel gemacht und gegeneinander abgewogen werden können, ohne dass versteckt der Vorrang des einen oder anderen Rechtsguts schon unterstellt wird. Die Berufung auf eine grundgesetzliche Wertordnung o. Ä.

I. Zusammenfassung

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behauptet lediglich einen Maßstab, kann ihn aber nicht aufweisen. Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann nicht den Bezugspunkt seiner eigenen dritten Stufe bilden. Vielmehr, gerade wenn dieser Grundsatz die Abwägung als einen Bestandteil dazugewinnt, verliert er seine Konturen und Orientierungsleistung. Den theoretischen Fundierungen der Abwägung gelingt es ebenfalls nicht, das Problem des Fehlens eines Maßstabs zu lösen. Das Abwägungsverfahren verfügt im Ergebnis über keinen tragfähigen Ansatzpunkt, an dem die Grade der Wichtigkeit und Beeinträchtigung der betroffenen Güter zu messen sind. Aufgrund der Unmöglichkeit, überzeugende Gewichtungs- und Vergleichskriterien zu finden, läuft die Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e. S. stets Gefahr, bei allem Bemühen um Rationalität die subjektiven Urteile und Vorurteile des Prüfenden zur Geltung zu bringen.5 Sie ist rechtsmethodisch nicht zu bewältigen und nur dezisionistisch zu leisten (F.III.1.). Nichts anderes gilt für das umstrittene Untermaßverbot, das nicht über Elemente ähnlicher Gestalt wie die des Übermaßverbots verfügt und als Maß letztlich nur die Verhältnismäßigkeit i. e. S. hat. Das, was zum Schutze und zur Förderung eines Grundrechtsgebrauchs spezifisch und zwingend gemacht werden muss, ist grundsätzlich auf keine intersubjektiv stringent nachvollziehbare Weise aus der Grundrechtsnorm selbst oder aus dem allgemeinen Schutzgebot des Art. 1 Abs. 1 GG „abzugeleiten“. Das Untermaßverbot – wie im Übrigen die Verhältnismäßigkeit i. e. S. – ermöglicht letztlich eine weit ins Politische reichende gerichtliche Kontrolle und stellt ein Einfallstor für subjektive Wertungen, Rechtsunsicherheit und für intuitive und irrationale Grundrechtsprüfung dar (F.III.2.). Wird die Abwägung als die neutrale Methode oder das holistische Kriterium der Rechtsprechung dargestellt, das in der Lage wäre, die Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Kontrollmöglichkeit zu legitimieren und die Rationalität der Wertejudikatur zu ermöglichen, dann wird die Notwendigkeit ausgeschlossen, dass die Parameter, die verwendet werden, um diese Rationalität zu erreichen, selbst einer Rechtfertigung bedürfen. Methodologische Naivität, Begründungsdefizite und Verfassungsgerichtspositivismus sind die Risiken, die dadurch eingegangen werden. Wenn die Rechtfertigung einer Entscheidung ausschließlich durch den Rückgriff auf eine vorgefertigte, heuristische und neutral gedachte Methode untermauert wird, befreit man das Resultat der Rechtsprechung von einer nachvollziehbaren Begründung und enthebt den Richter jeglicher Verantwortung, denn schließlich kann seine Entscheidung als nichts anderes angesehen werden als eine rein syllogistische Folge der Verwirklichung der Methode. Hingegen sind Methode und Dogmatik nicht als einfaches Rezept und schnelle Programme zu verstehen. Vielmehr geben sie nur Argumentationsstrukturen und Unterscheidungen vor, die zum einen nicht absolut sind und Begründungen verlangen und zum anderen über eine gewisse Orientierungsleistung verfügen. Dann müssen sie aber auch erlauben, dass sich juristische Aussagen als richtig oder falsch erweisen. Gerade dies leisten die Abwägungskonzeptionen nicht und sind daher mit einer methodisch und dogmatisch strengen 5

Vgl. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 461 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 66 f., Rn. 293.

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J. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung

und durch diese Strenge kritischen Verfassungsrechtswissenschaft nicht vereinbar (F.III.3.). Die theoretischen und methodologischen Schwächen der Abwägungsdogmatik rufen schließlich auch eine problematische Konstitutionalisierungstendenz hervor, die sich sowohl im Verhältnis der Grundrechte zu anderen Rechtsgebieten als auch im Verhältnis des Verfassungsrechts zur Politik auswirkt. Der unspezifische Begriff der Abwägung zusammen mit der Anerkennung zahlreicher Wertentscheidungen und unstrukturierter Grundrechtsfunktionen verschafft dem Verfassungsgericht ein hohes Maß an zusätzlichem Entscheidungsspielraum, das ihm bei der Konfliktlösung eine hohe Beweglichkeit bis zur Grenze der Beliebigkeit erlaubt. Der Preis dieses Modells ist allerdings nicht nur eine Relativierung des Grundrechtsschutzes, sondern auch ein Abbau des einfachen Rechts. Mit der Ausdehnung der Tragweite des Schutzbereichs, der Vervielfältigung der Grundrechtsfunktionen und der Ausweitung der übrigen Verfassungsgüter geht in der Tat auch ein Zuwachs an Vorbehalten gegen das Gesetz einher. Mehrfach hingewiesen wird in diesem Sinne auf die bedenkliche Einebnung der Differenz von Verfassungsrecht und einfachem Recht, bei der das Verfassungsgericht unter Berufung auf die höherrangigen Verfassungsprinzipien ihre strikte Gesetzesbindung lockern, rechtsdogmatische Bestände demontieren und diese durch das flexible Paradigma der Einzelfallabwägung ersetzen kann. Der herrschende Abwägungspragmatismus verfehlt insoweit eine der Hauptfunktionen des Rechts, namentlich die Stabilisierung von Verhaltenserwartungen (F.IV.1.). In diesem Zusammenhang wird ferner zu Recht vor einem Übergang vom Gesetzgebungsstaat zum Verfassungsjurisdiktionsstaat gewarnt. Denn im Abwägungsmodell lassen sich die Aufgaben des Gesetzgebers und der Verfassungsgerichtsbarkeit strukturell nicht mehr voneinander unterscheiden: Beide konkurrieren in der Optimierung von Kollisionen, wobei der Gesetzgeber in diesem Konkurrenzverhältnis zwar die Vorhand hat, das nicht unmittelbar demokratisch legitimierte Verfassungsgericht aber den Vorrang. Das Verfassungsgericht entscheidet letztinstanzlich und einzelfallbezogen, welche Werte in die Verfassungsebene hineinprojiziert oder aus der Verfassung destilliert werden können und wie die unterschiedlichen kollidierenden Güter optimal zu verwirklichen sind. Werden aus den Grundrechten noch Handlungsgebote hergeleitet, die den Gesetzgeber nicht nur grundsätzlich anweisen, ein Ziel zu verfolgen, sondern auch, welche Mittel er dabei zu wählen hat, liegt die Usurpation politischer Kompetenzen durch das Verfassungsgericht noch näher. Die Entfaltung des objektiv-rechtlichen Grundrechtsverständnisses, der Schutzpflicht und des Untermaßverbots ermöglicht in diesem Sinne einen methodisch kaum mehr beherrschbaren Zugriff der Rechtsprechung auf die politische Gestaltung von Konflikten. Durch die fallbezogene Abwägung im Modell der Konstitutionalisierung der einfachen Rechtsordnung wird somit das Verhältnis von Gesetzgeber und Richter im Ergebnis auf den Kopf gestellt (F.IV.2.).

I. Zusammenfassung

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Gegen diese bedenkliche Juridifizierung der politischen Auseinandersetzung wendet sich u. a. Böckenförde mit einem Plädoyer für das Abwehrrecht, dem zufolge die Grundrechte nur als subjektive Freiheitsrechte im unmittelbaren Verhältnis Staat/ Bürger und nicht zugleich als objektive Grundsatznormen für alle Bereiche des Rechts verstanden werden sollten. Damit richtet er sich aber gerade auch gegen die Anwendung des Abwehrrechts auf privatrechtliche Dreieckskonstellationen. Der Autor schlägt ferner vor, den traditionellen Schutzbereichsbegriff, der auf einer liberalistischen, abstrakt-umfassenden Freiheitsvorstellung beruhe und die Schrankenprobleme verschärfe, durch zwei andere zu ersetzen, nämlich Sach- bzw. Lebensbereich und Gewährleistungsinhalt. Der Kernpunkt dieses Ansatzes liegt genau im Gewährleistungsinhalt, der eigenständig für jedes Grundrecht insbesondere durch eine historisch-genetische Interpretation ihres Entstehungsvorgangs zu ermitteln sei (G.I.1.). In ähnlicher Weise geht Müller von einer genauen, normbereichsbezogenen Bestimmung des Schutzbereichs und der Gesetzesvorbehalte aus. Entscheidend ist aber hier die Differenzierung der Normstruktur in Normbereich und Normprogramm. Der Normbereich sei durch den Zusammenhang von Sach- bzw. Fallbereich und Normprogramm zu ermitteln. Er stelle den Ausschnitt sozialer Wirklichkeit in seiner Grundstruktur dar, den das Normprogramm aus dem allgemeinen Regelungsbereich der Rechtsnorm auswählend zu bestimmen erlaube. Müller versteht die Grundrechte als je selbständige, sachlich geprägte, bestimmte gegenständlich abgrenzbare Normbereiche sichernde Freiheitsverbürgungen. Daher folge schon aus der Rechtsqualität der Grundrechte eine sachlich-normative Begrenzung ihrer Reichweite. Die Grenzbestimmung entspreche sachlich der Inhaltsbestimmung. Darüber hinaus geht es dem Autor auch darum, das „sachspezifisch Geschützte“ herauszuarbeiten, auf das allein der grundrechtliche Normbereich begrenzt sei. Der Normbereich erfasse demnach die strukturell notwendigen bzw. nicht austauschbaren Modalitäten der Grundrechtsaktualisierung, nicht aber die Verhaltensweisen, die nur bei Gelegenheit der Grundrechtsausübung praktisch geworden seien. Viele bisher als Kollisionen behandelten Falltypen würden sich durch die Normbereichsanalyse und die Herausarbeitung des sachspezifisch Geschützten als Scheinkollisionen herausstellen (G.I.2.). Auch Schlink setzt sich für eine differenzierte Dogmatik der einzelnen Grundrechte ein. Schwerpunkt hierbei ist allerdings die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die an die aufgearbeitete empirische Wirklichkeit der verschiedenen grundrechtlich geschützten Lebensbereiche anzuknüpfen sei. Die Grundrechte legten in diesem Sinne für ihre verschiedenen Lebensbereiche verschiedene Zweck- und Mittelverbote und -gebote fest, die zusammen mit den Geeignetheitsund Notwendigkeitskriterien den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterschiedlich ausformten. Dieser Grundsatz wird somit nicht einfach als ein Obersatz begriffen, sondern als ein für verschiedene soziale Bereiche erst zu interpretierendes Modell. In den Auslegungen dieses Modells, das einer Argumentationslastregel entspreche, entstünden die verschiedenen Bereichsdogmatiken. Gegenüber dem Gesetzgeber

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J. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung

möchte der Autor ferner auf die Abwägungsprüfung verzichten, sodass das Übermaßverbot hier nur die Kriterien der Zweck- und Mittellegitimität, der Geeignetheit, der Notwendigkeit und des Schutzes einer Mindestposition umfassen solle. Während auf die empirisch orientierten Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit hin methodisch korrekt und dogmatisch generalisierbar überprüft werden könne, seien die Abwägungsoperationen der Verhältnismäßigkeit i. e. S. wegen fehlender rationaler Maßstäbe letztlich nur dezisionistisch zu leisten. Die differenzierte dogmatische Struktur des Abwehrrechts biete ohne den Abwägungsenthusiasmus eine größere Leistungsfähigkeit bei der Abgrenzung von Recht und Politik an (G.I.3.). Eine Rehabilitation der Grundrechte als Abwehrrechte nimmt sich auch Poscher vor und wendet sich dabei v. a. gegen den vermehrten Einsatz unterschiedlicher Grundrechtsfunktionen zur Bewältigung mehrpoliger Rechtsverhältnisse. Ansatzund Schwerpunkte dieses Modells sind die Topoi der Totalität und Reflexivität des Abwehrrechts. Angesichts der Staatlichkeit allen Rechts müsse sich jede staatliche Konfliktregelung, welche die grundrechtliche Freiheit verkürzt, vor den Abwehrrechten rechtfertigen – und zwar unabhängig von ihrer Zuordnung zum Privat-, Strafoder öffentlichen Recht (Totalität). Andererseits seien aber die Grundrechte ausschließlich auf den regelnden Staat bezogene Normen. Sie regelten die Interessenkonflikte in der Gesellschaft nicht unmittelbar, sondern stellten nur Anforderungen an die staatlichen Regelungen durch Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung (Reflexivität). Dogmatisch bedeute die Staatsgerichtetheit der Grundrechte eben, dass sich die grundrechtlichen Anforderungen nur an die staatliche Regelung des Konflikts und deren Regelungszweck richteten. Die Grundrechte lieferten dabei keine konkrete Lösung gesellschaftlicher Konflikte, sondern begrenzten die Gestaltungsmöglichkeiten nur negativ, indem etwa unverhältnismäßige oder gleichheitswidrige Regelungen ausgeschlossen werden. Durch die Rückbesinnung auf das Abwehrrecht und die Betonung seiner Reflexivität werde die zunehmende Konstitutionalisierung der Rechtsordnung und die Gefahr eines Verfassungsjurisdiktionsstaates dogmatisch aufgefangen und eingedämmt (G.I.4.). Dworkin seinerseits setzt sich ausgehend vom Grundrecht auf gleiche Rücksicht und Achtung für eine fundamentale Idee des Liberalismus ein: die Neutralität des Staates gegenüber konkreten Theorien des guten Lebens. Er vertritt jedoch einen auf Gleichheit aufgebauten Liberalismus. Die Individuen hätten kein allumfassendes Recht auf Freiheit, sondern nur Rechte auf die speziellen Freiheiten, die der Gleichheitsgrundsatz verlange. Diese Rechte stellten dabei Prinzipien bzw. Trümpfe dar, die gegen ungerechtfertigte Mehrheitsentscheidungen ausgespielt werden könnten. Die Prinzipien bezögen sich daher ausschließlich auf subjektive Rechte und seien von kollektiven Zwecken strikt zu unterscheiden. Sie gäben aber nur Gründe an, die Argumente in bestimmte Richtungen seien, die aber nicht eine bestimmte Entscheidung notwendig machten. Dworkin lehnt eine politische Macht des Richters ab, ohne jedoch seine Arbeit zu einer rein mechanischen Tätigkeit des Subsumierens reduzieren zu wollen. Während der Gesetzgeber auch aufgrund von Zielsetzungsargumenten neue Rechte und Pflichten schaffen könne, dürfe die richterliche Ent-

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scheidung nur auf Prinzipienargumenten beruhen. Der Richter schaffe keine Rechte, sondern verteidige nur auf der Basis der geltenden Regeln und Prinzipien diese Rechte. Hierbei erfordere das Integritätsprinzip die Behandlung des Normenkomplexes als ein kohärentes Prinzipiensystem, welches die gleiche Rücksicht und Achtung eines jeden Einzelnen bei allen Gerichtsentscheidungen verlange. Ein herkulischer Richter müsse in seiner Entscheidung auf die bestmögliche Weise die gesamte Rechtsgeschichte rekonstruieren und sowohl die Rechtsordnung als ein Ganzes als auch die Besonderheiten des spezifischen und unwiederholbaren Falles berücksichtigen und so die Rechtsgeschichte auf möglichst angemessene Weise fortschreiben (G.II.1.). Im Rahmen einer Diskurstheorie des Rechts legt auch Günther ein Kohärenzmodell vor. Dieses Modell formuliert er zuerst für die moralische Argumentation, überträgt es aber auf die juristische Argumentation, die ein Sonderfall des moralischen Anwendungsdiskurses sei. Ausgangspunkt hier ist die Unterscheidung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs, welcher sich jeweils auf die Geltung bzw. Angemessenheit von Normen beziehe und die ferner verschiedene Kriterien zur Erfüllung der Anforderung der Unparteilichkeit impliziere, nämlich Berücksichtigung aller Interessen bzw. aller relevanten Situationsmerkmale. Da wir auch aufgrund der Zeitknappheit und Unvollständigkeit des Wissens nicht in der Lage seien, alle nur denkbaren Interessenkollisionen in jedem nur möglichen Einzelfall vorherzusehen, brauche die Situationsbeschreibung im Begründungsdiskurs hinsichtlich der variierenden Umstände nicht vollständig zu sein. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit seiner Ergänzung durch einen Anwendungsdiskurs, bei dem einerseits die gültigen Normen als Prima-facie-Gründe schon vorausgesetzt seien, der sich aber durch die Vollständigkeit der Situationsbeschreibung charakterisieren müsse. Aus der Berücksichtigung aller relevanten Umstände der Situation entstünden jedoch Normkollisionen; denn die Situationsmerkmale seien erst hinsichtlich der Deutung der gültigen Normen relevant. Zur Lösung solcher Kollisionen müsste dann die Kohärenz der Norm mit allen anderen in der Situation anwendbaren Normen und Bedeutungsvarianten beachtet werden, sodass die Entscheidung als Ergebnis der besten Theorie aller anwendbaren Prinzipien gelte. Hierbei könnten Paradigmen und mit ihnen die dogmatische Argumentation, die canones der Auslegung und die Präjudizienverwendung behilflich sein. Zugleich müssten aber auch die Paradigmen im Hinblick auf die Idee der Unparteilichkeit kritisierbar bleiben (G.II.2.). Auch wenn man nicht allen Konstruktionen der dargelegten Modelle folgen möchte (G.III.), bieten sie für den Aufbau einer zum Abwägungsdenken alternativen Grundrechtsdogmatik mehrere fruchtbare Ansatzpunkte und zeigen, dass das grundrechtliche Instrumentarium und insbesondere das Abwehrrecht auch ohne die Abwägung und ohne Verlust seines deontologischen Geltungssinns zur Lösung von Konflikten nicht defizitär ist. Als Antwort auf das Modell der Einzelfallabwägung wurde darüber hinaus eine Rückbesinnung auf eine deontologische, liberale und sich an Auslegung und dogmatischem Denken orientierende Betrachtungsweise der Grundrechte vorgeschlagen. Das angenommene liberale Grundrechtsverständnis

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J. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung

verweigert sich allerdings keinesfalls der Einsicht, dass die individuelle Freiheit Grenzen unterliegen muss. Es stellt aber auf der Rechtfertigungsebene gewisse Anforderungen, die einen deontologischen Charakter haben und ein Gebot der staatlichen Neutralität gegenüber widerstreitenden Konzeptionen der richtigen Lebensweise zur Geltung bringen. Der demokratische Verfassungsstaat reagiert in diesem Sinne auf den gesellschaftlichen Pluralismus, indem Fragen von Weltanschauung und Lebensführung in die individuellen Freiheiten entlassen werden, während sich der Staat auf die Regelung des gerechten Zusammenlebens beschränkt. Die Grundrechte stellen dabei „Trümpfe“ des Einzelnen gegenüber Erwägungen des gesellschaftlichen Gesamtnutzens und kollektiven Zumutungen dar. Sie sind aber nur dann als Instrumente der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Politik geeignet, wenn sie Grenzen für die Verfolgung politischer Zwecke darstellen und nicht selbst als zu optimierende Zwecke verstanden werden.6 Entsprechend sollen die dogmatischen Elemente des Abwehrrechts nach einer binären Codierung operieren. Sie sind entweder beachtet oder verletzt worden. Indem die Grundrechte gleiche Freiheit gewährleisten, enthalten sie weiter einen Neutralitätsgedanken, der allerdings nicht auf die Wirkungen, sondern nur auf die Begründungen staatlichen Handelns zu beziehen ist. Der Staat soll sich gegenüber den unterschiedlichen individuellen Präferenzen neutral verhalten und darf seine Maßnahmen nicht unter Hinweis auf partikulare ethische Überzeugungen rechtfertigen. Dogmatisch schlägt sich diese liberale Forderung zum einen in der Ablehnung einer umfassenden sittlichen Interpretation des Schutzbereichs und zum anderen im Schutz vor nicht-neutralen Eingriffen – insbesondere im Verbot des Eingriffs als Selbstzweck – nieder. Dass die Grundrechte nicht über eine intrinsische Bewertung des Freiheitsgebrauchs mit einem positiven Freiheitsbegriff verknüpft sind, bedeutet aber nicht, dass Vorstellungen positiver Freiheit für das Abwehrrecht keine Relevanz haben. Vielmehr sind sie fragmentarisch auf den verschiedenen Ebenen der abwehrrechtlichen Dogmatik verteilt und zwar sowohl auf der Ebene der ausdifferenzierten und verschieden ausgeformten Schutzbereiche als auch über die einzelnen und ebenfalls verschieden ausgestalteten Rechtfertigungsanforderungen (H.I.). Der vorgeschlagene Ansatz fasst dementsprechend die Grundrechte als verschiedene, sachgeprägte Garantien auf und geht von der Notwendigkeit einer differenzierten Dogmatik der Einzelgrundrechte aus. Im Unterschied zum allgemeinen Freiheitsrecht haben in der Tat die Spezialgrundrechte von vornherein einen sachlich begrenzten Schutzbereich, der für jedes Grundrecht von dessen Normprogramm und Lebensbereich her zu ermitteln ist und im Lauf der Rechtstradition gestaltet wird. Während sich der Sach- bzw. Lebensbereich nur auf den gegenständlichen Einzugsbereich des Grundrechts bezieht, schließt der Schutzbereich auch eine konkretere Herausarbeitung der prinzipiell gewährleisteten Befugnisse ein. Diese normative Filterung des Bezugs auf die Wirklichkeit wird durch das mit den Ausle6

Vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 650.

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gungsmitteln zu erarbeitende Normprogramm erreicht, das im Rahmen einer methodisch gelenkten Rechtsarbeit ermöglicht, Elemente aus der sozialen Realität auszuwählen und rechtlich auszuformen. Hierbei bildet die grammatische Auslegung die Grenze des Spielraums zulässiger Interpretation. Sie allein kann aber in aller Regel den Übergang vom Text zur Bedeutung nicht bewältigen, sodass auch auf andere Elemente übergegriffen wird, insbesondere auf den Wortlaut von Vorläufern der zu konkretisierenden Norm (historisch), auf den Wortlaut der Gesetzgebungsmaterialien (genetisch), auf den – zu begründenden – „Sinn und Zweck“ der Norm (teleologisch) sowie auf andere, mit der für den Fall in Aussicht genommenen Vorschrift in Zusammenhang zu bringende Normtexte und ihre Bedeutungsvarianten (systematisch). Während allerdings den ersten Auslegungsmitteln regelmäßig nur eine falsifizierende Funktion zukommt, fordert das systematische Element die Behandlung des Normenkomplexes als ein kohärentes Prinzipiensystem. Die Herausarbeitung der Schutzbereiche stellt insoweit auch einen internen Rechtfertigungszusammenhang zwischen den ansonsten ungeordneten Grundrechtsnormen her und bleibt damit im Hinblick auf die Idee der Unparteilichkeit kritisierbar. Die Konkretisierung jedes Grundrechts vollzieht sich ständig in der rechtsfortbildenden Interpretation, baut aber zugleich auf Erfahrungen der früheren Grundrechtsanwendung auf, die in der Dogmatik und Präjudizien sedimentiert sind (H.II.1.). Bei Handlungen, die nicht in den Schutzbereich eines speziellen Freiheitsgrundrechts fallen, ist subsidiär auf den Auffangschutz der allgemeinen Handlungsfreiheit zurückzugreifen, sodass der Staat weiterhin jede Beschränkung menschlicher Freiheit begründen muss (H.II.2.). Eine präzise Schutzbereichsbestimmung führt darüber hinaus weder zu einer Verkürzung des Grundrechtsschutzes noch zu einer Irrationalität der Auslegung. Sie bedeutet außerdem nicht einfach eine Verschiebung des Problems von der Rechtfertigungsebene auf die Schutzbereichsebene, sondern entspricht einer normgebundenen Dogmatik, die durch die juristische Methodik gelenkt werden soll (H.II.3.). Von jedem Eingriff in einen Schutzbereich verlangen die Abwehrrechte eine Rechtfertigung, die allerdings besonders abhängig von der Ausgestaltung des Gesetzesvorbehalts unterschiedlich ausfällt. Verpflichten die Abwehrrechte also allgemein, nicht gerechtfertigte Eingriffe zu unterlassen, fällt die Art der Rechtfertigung für die Grundrechte mit einfachem, qualifiziertem und ohne Gesetzesvorbehalt verschieden aus. Nur die Grundrechte mit einfachem Gesetzesvorbehalt unterliegen demnach den üblichen gesetzlichen Einschränkungsmöglichkeiten und lassen so zunächst jedes förmliche Gesetz zur Rechtfertigung eines Eingriffs ausreichen. Über diese formale und prozedurale Anforderung hinaus stellen die Grundrechte mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt auch inhaltliche Anforderungen an das Gesetz und unterliegen Einschränkungen nur nach Maßgabe dieser näher festgelegten Qualifizierung. Zur Rechtfertigung eines Eingriffs in vorbehaltlose Grundrechte taugen ihrerseits allein die durch das GG in Art. 79 Abs. 3 als unantastbar und unveränderbar ausgewiesenen Verfassungsprinzipien, wobei die jeweilige Ewigkeitsgarantie einen Eingriff in das Grundrecht erzwingen muss, sodass eine pauschal angenommene

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Spannungslage nicht ausreicht, vom Normbefehl der vorbehaltlosen Grundrechte abzuweichen (H.III.1.). Innerhalb der weiteren Begründungserfordernisse kommt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine maßgebliche Rolle zu. Es gilt allerdings stärker als bislang eine differenzierte Betrachtung dieses Grundsatzes zu betonen: Er ist zum einen bei den verschiedenen Grundrechten unterschiedlich auszuformen und hat zum anderen für die Kontrolle des Gesetzgebers und für die der Rechtsanwendungsorgane unterschiedliche Bedeutungen. Die Grundrechte legen für ihre jeweiligen Lebensbereiche verschiedene Zweck- und Mittelvorgaben fest, die zusammen mit dem Geeignetheits- und Notwendigkeitskriterium das Übermaßverbot unterschiedlich ausformen. Sie statuieren nämlich durch ihre materiellen Vorgaben, dass mit bestimmten Argumenten die Argumentationslast nicht erfüllt wird. Jenseits der im GG ausdrücklich enthaltenen und der in der einzelgrundrechtlichen Dogmatik entwickelten Zweck- und Mittelvorgaben ist der Gesetzgeber in den Grenzen der Pareto-Optimalität vor dem Übermaßverbot aber frei, die gesellschaftlichen Interessenkonflikte zu entscheiden. Dementsprechend soll es hier seine ursprüngliche Form wieder erhalten und nur die Prüfung der Rechtmäßigkeit von Zweck und Mittel und die binär codierten Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit umfassen. Hingegen fordert es von den Rechtsanwendungsorganen auch die Bindung an das Gesetz und ferner, dass die Beschränkung nicht gänzlich außer Verhältnis zu dem erstrebten Zweck steht. Vollziehende und rechtsprechende Gewalt müssen in der Tat zu Eingriffen nicht nur durch formelles Gesetz ermächtigt sein, sondern auch den weiteren Rechtfertigungsanforderungen genügen, und sind dabei sowohl den verfassungsrechtlichen Vorgaben als auch dem Gesetzeszweck verpflichtet. Gibt jedoch der Gesetzgeber seine Kompetenz zur Abwägung an die Verwaltung weiter, kann die Verhältnismäßigkeit i. e. S. noch als rechtlicher Maßstab für die Kontrolle von Verwaltung und Rechtsprechung dienen. Doch auch innerhalb sehr weiter gesetzlicher Zwecksetzungen dürfen sich die richterlichen Entscheidungen nicht auf eine politisch selbstgewählte Zielvorstellung stützen und sollen sich dazu an der Wahrung der Symmetrie und der Integrität orientieren. Die Rechtsprechung steht unter dem Anspruch, jede einzelne ihrer Entscheidungen im Lichte der gültigen Rechtsnormen rechtfertigen zu können und nicht in gleichen Fällen unterschiedlich zu handeln (H.III.2.). Trotz des grundsätzlichen Verzichtes auf die Proportionalitätsprüfung stellt das Abwehrrecht durch die Schrankenregelungen und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein umfassendes Kontrollinstrumentarium zur Verfügung. Ist außerdem das Potential dieses Grundsatzes ausgereizt, erlauben noch die weiteren SchrankenSchranken, der Gleichheitssatz und das Vertrauensschutzgebot, zusätzliche Fragen grundrechtlich zu stellen und zu beantworten. Hervorzuheben ist hierbei freilich, dass die Wesensgehaltsgarantie – wie die Menschenwürde – nicht in der Verhältnismäßigkeit i. e. S. aufgehen soll, sondern als absolute Grenze zu verstehen ist. Sie vermittelt grundrechtliche Mindestpositionen, die schon dem Verfassungstext nach „in keinem Fall“ angetastet werden dürfen. Auch die Wesensgehalte sind für jedes

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Grundrecht von dessen Normprogramm und Sachbereich her zu ermitteln und bilden den festen Kern dessen, „worumwillen nach historischer Erfahrung, politischer Überzeugung und rechtlicher Einsicht das Grundrecht gewährleistet worden ist“7. Doch obwohl die Mindestpositionen nicht das Ergebnis einer Abwägung sind, lassen sie sich abstrakt kaum feststellen. Vielmehr wird die Frage nach dem absoluten Wesensgehalt in der Regel erst dann akut, wenn gesellschaftliche Verteilungskämpfe so hart werden, dass Positionen, die als äußerste und letzte grundrechtliche Residuen empfunden werden, gefährdet sind (H.III.3.). Nach dem entwickelten Ansatz steht die inhaltliche Gestaltung von Dreiecksverhältnissen allein unter den abwehrrechtlichen Anforderungen und soll ebenfalls nicht in unspezifische Abwägungen münden. Verpflichtet der Staat den einen Bürger, sich gegenüber einem anderen Bürger in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten, liegt hier ein normativer Grundrechtseingriff vor, der den abwehrrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen unterliegt. Solche Konflikte umspannen zwar mindestens zwei grundrechtlich prinzipiell geschützte Lebensbereiche; aber nur das Verhalten bzw. die Interessen der Grundrechtsträger, nicht ihre Grundrechte, stoßen aufeinander. Das Abwehrrecht regelt in der Tat nicht unmittelbar den Interessenkonflikt der Grundrechtsträger, sondern stellt nur Anforderungen an die staatliche Regelung des Konflikts. Dreiecksverhältnisse sind darüber hinaus über die Figur des normativen – und nicht faktischen – Eingriffs abwehrrechtlich zu erfassen, und entsprechend ist das regelnde Verhalten des Staates und die mit ihm verfolgten Regelungszwecke maßgeblich für die Verhältnismäßigkeitsüberlegungen. Die Staatsgerichtetheit der Grundrechte bedeutet dogmatisch genau, dass auf den staatlichen Eingriff und dessen Zweck und Handlungsalternativen abgestellt wird. Das Gleiche gilt für die Wesensgehaltsgarantie: So wie jeder Eingriff den Wesensgehalt eines Grundrechts nicht antasten darf, so stellt diese Garantie auch für die mit der Regelung von Dreiecksverhältnissen verbundenen Eingriffe eine absolute Grenze dar (H.IV.1.). Die Annahme eines abwehrrechtszentrierten Grundrechtsverständnisses bedeutet nicht, dass die Existenz anderer Grundrechtsfunktionen generell geleugnet wird. Das Kontrollinstrumentarium weiterer Funktionen, so es sie denn gibt, hat aber die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu respektieren, und darf nicht zu einer Entdifferenzierung von Recht und Politik führen. Zwar müssen die Vorgaben für die Rechtsanwendung auch hier auf die Verschiedenheit verschiedener Handlungsaufträge eingehen und für jede einzelne Garantie gesondert herausgearbeitet werden, allgemein gilt aber Folgendes festzuhalten: Ausgangspunkt jeglicher Überlegung zur Kontrolle von Leistungspflichten muss die Einsicht sein, dass eine vollendete Leistungserbringung unmöglich ist, dass die Grundrechte kaum Anhaltspunkte für das konkrete Maß der Zielerfüllung aufweisen und dass die Prioritätensetzung bei der Mittelaufteilung unter Knappheitsbedingungen zum Bereich der Politik gehört. Hat der Staat jedoch eine Leistungspflicht, muss er sie auch erfüllen. Da eine Rechts7

Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 98 f.

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pflicht nicht „mindestens“ erfüllt werden kann, folgt bereits aus der Annahme einer Leistungspflicht das Gebot einer effektiven Pflichterfüllung. Das Effektivitätsgebot fordert allerdings lediglich eine Leistung, die als solche wirksam ist. Es kann zwar verhindern, dass der Staat keine, ungeeignete oder gar kontraproduktive Maßnahmen ergreift; solange das Grundrecht aber keine näheren Bestimmungen über Art und Umfang der Zielerfüllung enthält, steht dem Gesetzgeber die Wahl der Mittel frei, mit denen er seiner Pflicht nachkommen möchte. Die verfassungsgerichtliche Nachprüfung beschränkt sich hier ferner auf eine Vertretbarkeitskontrolle und hat als Schwerpunkt v. a. den Entscheidungsfindungsprozess. Der Gesetzgeber hat im Rahmen des demokratischen Verfahrens unter nachvollziehbarer Berücksichtigung aller Aspekte eine vertretbare Lösung zu wählen. Jenseits der Reichweite der Nachprüfung auf Verfahrensmängel und offenkundige inhaltliche Fehler liegt die Letztentscheidung und Letztverantwortung beim Gesetzgeber, dem in einer Demokratie und unter der Bedingung des Gewaltenteilungsgrundsatzes die positive Gestaltung der Sozialordnung zusteht (H.IV.2.).

II. Schlussbetrachtung Auch wenn das Verfassungsgericht eine privilegierte Position bei Interpretation, Wandel und Fortbildung des Verfassungsrechts hat, ist es doch kein Organ zur Fortsetzung der Politik. Das Verhältnis zwischen Recht und Politik darf nicht ein Widerspruch in sich selbst sein: Soll das Recht die Politik kontrollieren, kann es nicht selbst zu Politik werden. Die Ausweitung der Zuständigkeit der Justiz kann zwar – in einem demokratischen System der checks and balances – ein wichtiges Gegengewicht zur parallelen Erweiterung der legislativen und exekutiven Gewalt des modernen Staates herstellen. Das Auftreten eines „dritten Riesen“ bringt jedoch auch Risiken der Verkehrung mit sich. Die Invasion der Politik durch das Recht und der eigene Größenwahn der rechtsprechenden Gewalt können zum staatlichen Paternalismus, zum passiven Genuss von Rechten, zur Privatisierung der Freiheitsrechte und zur Beeinträchtigung der eigenen Legitimationsbasis der Rechtsprechung führen. Daraus entsteht allerdings die Gefahr, dass sich eine Art juristische Aristokratie bildet und dass dem Richter Themen zur Entscheidung unterbreitet werden, die besser im Freiraum der Zivilgesellschaft debattiert und entschieden werden sollten. Die Rechtsprechung stellt zwar in den heutigen Demokratien eine strategische Institution dar und kann einen wichtigen Raum der Einforderung und der Debatte verkörpern; gewisse Errungenschaften werden jedoch nicht durch die simple Tatsache zu erreichen sein, dass sie vor Gericht gebracht werden, denn ihr Ort liegt in der Öffentlichkeit und ihrem ausgeübten Druck, und nicht in der paternalistischen Gängelung der „Weisen“. Die schwierige Aufgabe der Präferenzensetzung, die rechtsmethodisch nicht befriedigend zu erfüllen und zu kontrollieren ist, kann in diesem Sinne nicht das Verfassungsgericht im Wege angeblicher Verfassungsauslegung leisten, sondern ist

II. Schlussbetrachtung

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eigentliche Aufgabe einer Sozialpolitik. Hierzu bedarf es nämlich der Beteiligung der Bürger, der Zivilgesellschaft in Gestalt des politischen Prozesses. Demgegenüber stellen das Abwägungsmodell und die ins Uferlose greifenden objektiven Grundrechtsfunktionen das politische System tendenziell unter beliebige verfassungsgerichtliche Abwägungskuratel. Sie ermöglichen praktisch eine freie Entscheidungssetzung einer gleichberechtigt neben das Parlament tretenden Gewalt und verändern damit das Grundgefüge einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung grundlegend. Grundrechte sind zwar notwendige, aber keine – von sich allein – hinreichenden Bedingungen für eine prinzipiell befriedigende Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese hängt auch von der Entwicklung einer Sozialpolitik und nicht zuletzt auch von der Selbstorganisation der Gesellschaft ab. Die Grundrechte sollen dabei gleiche individuelle Freiheit sichern, nicht aber als Projektionsfläche partikulärer Gerechtigkeitsvorstellungen dienen, die es eigentlich politisch zu erkämpfen gilt.8 Immerhin ist eine Rückkehr des „klassischen“ Grundrechtsverständnisses oder des Rechtsformalismus9 weder nötig noch möglich. Die liberale Lesart des klassischen Gewaltenteilungsschemas kann gewiss als nützlicher Anhaltspunkt – auch für kritische Analysen der Entscheidungspraxis von verschiedenen Verfassungsgerichten – dienen. Das Bewusstsein des Unterschieds zwischen den Prinzipien des Rechtsstaates und ihren paradigmatischen Lesarten ermöglicht aber, die Wichtigkeit der Gewaltenteilung im liberalen Rechtsstaat hervorzuheben, ohne die Wiederherstellung dieses Modells oder dessen zugrunde liegenden Grundrechtsverständnisses zu beanspruchen. Die Prinzipien des Rechtsstaates dürfen nicht mit einer ihrer kontextgebundenen historischen Lesarten verwechselt werden. Die in der Vergangenheit als erfolgreich angenommene Lösung stellt in den veränderten historischen Umständen keine Antwort dar. Auch wenn die Verfassung nicht als eine konkrete Gesamtrechtsordnung verstanden werden soll, die der Gesellschaft a priori eine bestimmte Lebensform überstülpt, zeigen die im Sozialstaat entstandenen Probleme die Notwendigkeit einer Neuinterpretation der rechtsstaatlichen Prinzipien im Lichte eines neuen historischen Kontexts, in dem auch die Abgrenzung und Koordinierung der Freiheitsansprüche Privater gegeneinander und die Disziplinierung wirtschaftlicher und sozialer Gewalt erforderlich sind.10 8 Vgl. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 267 f.; Schlink, Osaka University Law Review 1992, 41, 56 f. 9 So aber Maus, in: Sturz der Götter?, S. 121 ff.; ansatzweise auch Böckenförde, Der Staat 29/1990, 1, 28; ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 66 ff. Kritisch dazu bereits Grimm, JuS 1980, 704 ff., 708 f., der zutreffend auf den internen Zusammenhang zwischen Grundrechten und Demokratie hinweist. s. o. B.IV.2. Aus diesem Zusammenhang folgt aber keineswegs, dass – neben den Abwehrrechten und den vorgesehenen Leistungspflichten – auch umfassende und unbestimmte objektive Grundrechtsfunktionen Gelingensvoraussetzungen für Demokratie wären. 10 Das liberale Rechtsparadigma besagt nur, wie „die Prinzipien des Rechtsstaates unter hypothetisch angenommenen Bedingungen einer liberalen Wirtschaftsgesellschaft verwirklicht werden könnten“. Dieses Modell fällt mit gesellschaftstheoretischen Annahmen der klassischen

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J. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung

Nicht aber die konsequente staatsgerichtete Anwendung der Grundrechte auf gesellschaftliche Konflikte – inkl. Dreiecksverhältnisse – führt zu einer Entdifferenzierung politischer und rechtlicher Diskurse, sondern die Einebnung ihrer dogmatischen Strukturen durch das Abwägungselement. Das entwickelte Lösungskonzept versucht daher die abwehrrechtlichen Elemente ernst zu nehmen und sie so zu entfalten, dass der Trend ihrer Entdifferenzierung durch die Abwägung umgekehrt werden kann. In der Tat erlaubt die abwehrrechtliche Dogmatik gerade über die differenzierten Elemente des Schutzbereichs, des Eingriffs und der Rechtfertigungsanforderungen verfassungsrechtlich auszuweisen, wie argumentiert werden muss, um einen Grundrechtsverstoß zu begründen, und ermöglicht dadurch, den verfassungsrechtlichen Diskurs gegenüber dem politischen zu unterscheiden.11 Die Abwehrrechte begrenzen in diesem Sinne nach der hier vertretenen Konzeption die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers nur negativ. Sie regeln nicht unmittelbar die gesellschaftlichen Interessenkonflikte, sondern steuern durch inhaltliche und prozedurale Bedingungen den Regelungsprozess und garantieren allgemein, dass Freiheitsräume nicht unverhältnismäßig oder diskriminierend verteilt werden. Ähnliches gilt für die Leistungspflichten, die als begrenzte, definitive Verpflichtungen und nicht als Optimierungsgebote zu verstehen sind. Die Aufgabe des Gesetzgebers besteht somit nach dem hier entwickelten Ansatz nicht bloß darin, eine angeblich verfassungsrechtlich prädestinierte Abwägung zwischen konfligierenden Interessen vorzunehmen. Er ist nicht darauf beschränkt, eine durch die Grundrechte verfassungsrechtlich umfassend präformierte gesellschaftliche Ordnung einfach nachzuzeichnen.12 Vielmehr ist er zur politischen Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung aufgerufen. Insbesondere gibt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz keine konkrete Lösung politisch zu gestaltender Konflikte vor, sodass dem Gesetzgeber in der Regel eine ganze Palette von verfassungskonformen Regelungsmöglichkeiten zur Verfügung steht, mit denen er politisch zu verantwortende Ziele verfolgt. Die gesellschaftlichen Konflikte werden mit anderen Worten nicht durch die Werte, Gewichte oder eine Optimierung von Grundrechtspositionen und öffentlichen Gütern entschieden, sondern durch die Legislative politisch gestaltet, die sich dabei für jede rechtliche Regelung entPolitischen Ökonomie, die bereits durch die Marxsche Kritik erschüttert worden sind und auf die postindustriellen Gesellschaften des westlichen Typs nicht zutreffen. Vgl. zum Ganzen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 305, 320. 11 Die abwehrrechtliche Dogmatik trägt damit der spezifischen Aufgabe der Verfassungsdogmatik, einen verfassungsrechtlichen Diskurs zu ermöglichen, der sich vom allgemein politischen abhebt, Rechnung. Indem das dogmatische System Argumentationen zwingt, sich im Rahmen einer Struktur darzustellen, und damit Argumentationen selektiert, denen die Darlegung gelingt, etabliert es nämlich einen juristischen Diskurs, der sich von anderen Diskursen differenziert. s. dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 8, 407 f. 12 s. hierzu und zum Folgenden Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 329, 398, 408.

II. Schlussbetrachtung

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scheiden kann, die die Vorgaben der Abwehrrechte respektieren. Die grundrechtliche Dogmatik markiert in diesem Sinne ohne das Abwägungselement nun einen „Rahmen“, in dem sich verschiedene Freiheitsvorstellungen über die Ausgestaltung positiver und die Verteilung realer Freiheit politisch bewähren müssen. Wird hingegen die Aufgabe des Verfassungsgerichts so verstanden, dass es Interessen optimal zu verwirklichen hat, dann bildet die Verfassung nicht mehr eine Rahmenordnung, sondern enthält schon das ganze Material, das zu einer Harmonisierung der verschiedenen Interessen untereinander führt. Alles Gesetzesrecht wäre konkretisiertes Verfassungsrecht und die Unterscheidung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung verschwämme. Eine konstruktive und kontextsensitive Interpretation des geltenden Rechts durch das Verfassungsgericht muss innerhalb der Logik der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung verfahren können, ohne dass die Justiz auf gesetzgeberische Kompetenzen übergreift. Dies gilt auch für die weitgehenden Kompetenzen des BVerfG und ebenfalls dann, wenn der Gesetzgeber regulatives Recht einsetzt. Die Justiz darf die Gründe, die ihr mit „Recht und Gesetz“ vorgegeben sind, nur mobilisieren, um im Einzelfall zu kohärenten Entscheidungen zu gelangen. In einem Kontext zunehmender Komplexität, in dem sich die Gesellschaft durch eine Vielfalt der – oft im Wettbewerb stehenden – Lebensentwürfe und Weltanschauungen auszeichnet, muss die Herausforderung, über das Recht einen Prozess gesellschaftlicher Integration zu bewirken und die Legitimität der bestehenden Rechtsordnung zu bewahren, nicht nur hinsichtlich der Setzung und Begründung von positiven Normen berücksichtigt werden, sondern auch bezüglich der Anwendungsebene, indem Grenzen gezogen werden. Sobald aber sich die vom Einzelfall ausgehende Grundrechtsrechtsprechung auf die Anwendung als gültig vorausgesetzter Verfassungsnormen und damit auf die Sicherung subjektiver Rechte beschränkt, kann die Differenzierung zwischen Normanwendungs- und Normenbegründungsdiskursen auch beim Vorliegen generalklauselartiger Normtexte ein argumentationslogisches Abgrenzungskriterium von Aufgaben der Justiz und der Gesetzgebung bieten. Auch im Allgemeinen besteht ferner die Funktion des Verfassungsgerichts hinsichtlich der Grundrechte darin, jenes System der subjektiven Rechte zu hüten, welches die private und öffentliche Autonomie der Bürger ermöglicht. Dafür kann es sich bei der Normenkontrolle wohl auf seine kassatorische Kompetenz beschränken. Durch die Berufung auf pauschale Formeln und vorgefasste, holistische Methoden kann weder die Komplexität der Rechtsinterpretation verringert noch die Rationalität der Rechtsprechung sichergestellt werden. Immerhin besteht kein Anlass für Resignation. Das Verlangen nach juristischer Objektivität lässt sich zwar nicht im Sinne eines Idealbegriffs erheben, wohl aber als Verlangen nach Klarheit, nach diskutierbarer, nachvollziehbarer und erwartbarer Rationalität der Rechtsarbeit. Die hier vorgeschlagene Herausarbeitung der Dogmatik der Einzelgrundrechte soll in diesem Sinne, durch ihre Abstraktion vom Einzelfall, auch die reflektierende Leistung der rechtswissenschaftlichen Arbeit in Richtung einer fallübergreifenden Erwartungsstabilisierung und damit nicht zuletzt die Unparteilichkeit der Grund-

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J. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung

rechtsanwendung fördern.13 In Anbetracht der methodischen Großzügigkeit des situativen Abwägungsmodells gilt es in diesem Sinne, gerade die methoden- und dogmenkritische Rolle der Verfassungsrechtswissenschaft verstärkt hervorzuheben. Gegenüber der Tendenz zu einem unproduktiven Verfassungsgerichtspositivismus14 erhofft daher die vorliegende Untersuchung schließlich, auch die wichtigen Aufgaben der Verfassungsrechtswissenschaft – nicht überzeugenden Konstruktionen die Gefolgschaft zu verweigern, über die Rechtsprechung hinaus zu denken und neue Impulse für die Praxis zu liefern – ein Stück näherzubringen.

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Auf Einzelfallabwägungen mit ungewissem Ausgang muss sich weder der Bürger noch der Gesetzgeber einlassen. So hebt Böckenförde, Der Staat 42/2003, 165, hervor, dass die Ergebnisse im Einzelfall oftmals angemessen sein können. „Wenn sie aber nicht mehr nach anerkannten Grundsätzen und Argumentationsformen gewonnen werden, erhalten sie statt Verlässlichkeit ein Moment des Zufälligen, geformt nicht zuletzt von zwar ernstgemeinter, aber dennoch subjektiv bleibender Abwägung und Intuition.“ 14 Vgl. dazu Schlink, Der Staat 28/1989, 161, 163, 168 ff. Solange die Verfassungsrechtswissenschaft „dem BVerfG die methoden- und dogmenstrenge Kritik schuldig bleibt“, macht der herrschende Bundesverfassungsgerichtspositivismus nicht nur die Verfassungsrechtswissenschaft, sondern auch das BVerfG selbst ärmer (S. 169). Vgl. auch Vesting, Der Staat 41/2002, 73: „Abwägungspragmatismus“.

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Register Personennamen wurden nur in das Register aufgenommen, soweit sie im Text erwähnt und behandelt werden. Abwägung 15 f., 58 ff., 62 f., 65, 75, 88, 92, 94, 116 ff., 132 ff., 150, 153 ff., 159, 161, 163 ff., 175, 177, 180, 189, 197, 205 ff., 213 ff., 218 ff., 229 ff., 244 f., 254, 311, 320, 322 f., 325, 327, 334, 346 ff., 351, 361 f. – Maßstab für die 134 f., 164 f., 205 ff., 350 f. Abwägungsgesetz 135, 164 f., 208 f. Abwehrrecht 27 f., 32 f., 45 ff., 68 ff., 121 ff., 144, 151 f., 193, 195 ff., 232 ff., 250 ff., 281, 289 ff., 314, 331 ff., 343, 346, 353 ff., 362 Alexy, Robert siehe Prinzipientheorie von Alexy Angemessenheit 170 f., 266 ff., 323 (Fn. 133) Auffanggrundrecht siehe Handlungsfreiheit, allgemeine Auslegung – genetische und historische 167, 235 f., 273 f., 299, 357 – grammatische 167, 298 f., 357 – systematische 299 f., 357 – teleologische 299, 357 – siehe auch Interpretation Ausstrahlungswirkung 32 f., 68 Berufsfreiheit 64 f., 69, 78, 291, 300 f. Bestimmtheitsgrundsatz 95, 325 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 24, 44, 180, 216 f., 233 ff., 271 ff., 353 Diskurs – Anwendungs- 266 ff., 272, 277 f., 292, 323, 355 – Begründungs- 265 f., 272, 355

– juristischer 165 ff., 172, 269 ff., 279 f., 362 Dogmatik 168 f., 215, 271, 298 (Fn. 57) Dreiecksverhältnisse 88, 142, 193, 225, 234, 249 (Fn. 66), 251 ff., 271 f., 330 ff., 359 Drittwirkung 32 f., 45 (Fn. 85), 62 f., 66 ff., 86 f., 138, 195, 248, 330 f., 344 (siehe auch Dreiecksverhältnisse) Duldungspflicht 196, 251 f. Dürig, Günter 32 f., 67, 151 (Fn. 32), 173 (Fn. 2) Dworkin, Ronald 190 ff., 256 ff., 275 ff., 300, 324, 354 f.

Effektivitätsgebot 140 f., 337 ff., 360 Eingriff 26 f., 48 f.,122 f., 193, 288 f., 313 f., 356 – normativer 251, 332 f., 359 Eingriffs- und Schrankendenken 27, 46 (Fn. 87), 49 f., 151, 182 (Fn. 40), 243 Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers 88, 130 f., 139, 225, 230, 339 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 58 ff. – Apotheken 64 f. – Besitzrecht des Mieters 220 – Blinkfüer 66 (Fn. 35), 249 (Fn. 65) – Bundesflagge 183 – Bürgschaftsverträge 69 (Fn. 49), 220 – Dienstpflichtverweigerung 71 f., 74 f., 174, 176 f., 180 f., 334 – Eidesverweigerung aus Glaubensgründen 183 – Genehmigungsverfahren, atomrechtliches 86 ff. – Glykol 78 – Handelsvertreter 69, 87, 253 (Fn. 83)

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Register

– Kriegsdienstverweigerung II 72 ff., 75, 180 f. – Lebach 160 f. – Lüth 61 ff., 150, 332, 344 – Mephisto 75 f. – Nationalhymne 183 – Online-Durchsuchung 89 ff. – Osho 78 (Fn. 88), 297 (Fn. 54) – Schwangerschaftsabbruch I und II 79 ff., 193 f., 199, 211 f., 224 ff., 344 f. – Sprayer von Zürich 296 Entscheidungen des Supremo Tribunal Federal 102 ff., 104 ff., 175, 181, 190 f. (Fn. 70), 212 (Fn. 148), 213, 227 (Fn. 196, 199) Entscheidungsspielraums, Erweitung des richterlichen 36 ff., 197, 218 ff. (siehe auch Jurisdiktionsstaat) Erforderlichkeit 118, 130 ff., 206, 211, 244, 246, 319 f., 358 Faktizität und Geltung 52 f., 343 – Rechtsanwendung 56 f., 275 f. – Rechtsetzung 53 f. Freiheitsbegriff – negativer 48 f., 51, 151 f., 287, 289 f., 343 – normgeprägter 51 (Fn. 103) – politischer 50 – positiver 49 f., 152, 287, 290 ff. – realer 31, 50, 152 – rechtlicher 25 f., 30 f., 33 f., 51, 122, 152, 165, 283, 289 f. Freiheitsrecht, allgemeines siehe Handlungsfreiheit, allgemeine Gadamer, Hans-Georg 44 (Fn. 80), 56, 214 f. Geeignetheit 118, 129 f., 206, 244, 246, 319 f., 358 Generalklauseln 248, 322 ff. Gesetzesvorbehalt 50, 124, 185 f., 243 f., 314 f., 357 (siehe auch vorbehaltlose Grundrechte) Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers 88, 225, 254, 336, 340 f., 362 f. Gewaltmonopol des Staates 252 Glaubens- und Gewissensfreiheit 248, 290, 304 Gleichheitssatz 55, 120, 253 f., 256, 324, 326

Grundrechte – als Optimierungsgebote 118, 145, 157, 165, 171 f., 181, 189, 221 f., 338 – als Werte, Wertentscheidung, Wertordnung 32 ff., 58, 62 f., 66 ff., 80, 133, 137, 144, 149 ff., 153, 162 f., 186 f., 189, 198 ff., 206 f., 217, 344, 347 – Staatsgerichtetheit der 68, 250 ff., 331, 333 – und Privatrecht 31 ff., 46, 62, 66 ff., 87, 138, 195 f., 220, 234, 271 f., 334 – siehe auch Abwehrrecht, Grundrechtsverständnis, Leistungsrechte, Schutzpflicht Grundrechtseingriff siehe Eingriff Grundrechtsfunktionen 27, 32 ff., 36, 45, 58, 69 f., 86 f., 192 f., 195 ff., 225, 330, 335, 342, 350, 359 Grundrechtstheorien 22, 24, 33 f., 44 f., 168 f. Grundrechtsverständnis – axiologisches 162 f., 186 ff., 284, 349 – bürgerlich-liberales 26 ff., 233 – deontologisches 162 f., 187 ff., 284 f., 349 – funktional pluralistisches 34 ff., 45, 195 ff., 271 f. – institutionelles 33, 144, 151 ff., 221, 347 – liberales 256, 281, 283 ff., 355 f. – objektiv-rechtliches 32 ff., 36, 58, 62, 68 f., 80, 86, 133, 137, 145, 186 f., 200, 204, 224, 233 f., 342, 361 – präformiertes 287, 290 Günther, Klaus 170, 204 (Fn. 116), 265 ff., 275 ff., 355 Güterabwägung siehe Abwägung Häberle, Peter 144, 151 ff., 181 (Fn. 40), 203, 208, 221, 347 Habermas, Jürgen 23 f., 38, 52 ff., 187 ff., 265 (Fn. 124), 276 f. Handlungsfreiheit, allgemeine 237, 290, 292 f., 306 f. Integrationslehre siehe Smend, Rudolf Integrität 257, 259 ff., 324, 355 Interpretation 28 f., 39 f., 41 ff., 56 f., 167, 216, 261 ff., 270, 298, 301 ff., 312

Register Jurisdiktionsstaat 223 ff., 234, 255, 352 (siehe auch Konstitutionalisierung der Rechtsordnung) Kelsen, Hans 40 ff. Kohärenz 264, 268 f., 277, 300, 324 kollidierendes Verfassungsrecht 70 ff., 75 ff., 125 f., 155, 174 ff., 182 ff., 191, 229, 308, 344, 348 f. Kollisionen 158 f., 175 ff., 221 f., 229, 242, 267 f., 348 f., 355 – Grundrechtskollisionen 75, 84, 88, 192 ff., 250 f., 350 Kongruenzthese 142 Konkordanz, praktische 133, 243 Konstitutionalisierung der Rechtsordnung 219 ff., 230, 250, 331, 352 Kriegsdienstverweigerungsrecht 71 ff., 75, 176 f., 180 f. Kunstfreiheit 75 f., 183, 240 f., 296 f., 305 Lebens- bzw. Sachbereich 122, 235, 239, 246, 295 f., 301, 332, 356 Leistungsrechte, Leistungspflichten 34 f., 227 f., 233, 335 ff., 359 f. – in Brasilien 30 (Fn. 30), 35, 112 ff., 227 – siehe auch Effektivitätsgebot Luhmann, Niklas 52 (Fn. 108), 192, 220 f., 301 (Fn. 68) Meinungsfreiheit 62 f., 66 (Fn. 35), 107 ff., 149 f., 175, 291, 292 (Fn. 35), 318 Menschenwürdegarantie 137, 159 (Fn. 67), 316, 329, 334 Mindestanforderungen siehe Untermaßverbot Mindestposition 96, 246 f., 328 f. (siehe auch Wesensgehaltsgarantie) Müller, Friedrich 204, 217, 237 ff., 274 f., 295, 303, 310, 353 Neutralitätsgebot 256, 283, 285 ff., 356 Nichtstörungsschranken 173 (Fn. 2), 236, 273 (Fn. 152) Normbereich 238 ff., 275, 295 (Fn. 43) Normenkontrolle 37 (Fn. 55), 278 – in Brasilien 97 ff., 101

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Normprogramm 239, 297 ff., 357 Notwendigkeit siehe Erforderlichkeit Paradigma 23 – Rechtsparadigmen 17 f., 22 ff., 42, 44, 263, 269, 301, 361 Pareto-Optimalität 319 Pluralismus, gesellschaftlicher 52 f., 200 ff., 231, 283, 286 Poscher, Ralf 48, 170, 249 ff., 272, 354 Positivismus 29, 38, 214 (Fn. 155), 257 f., 261 (Fn. 11), 279 Präjudiz 162, 168, 259, 270, 302, 324 Prinzipientheorie von Alexy 118, 145 f., 156 ff., 181, 190 f., 203, 208 f., 215, 221 f., 229 f., 279, 348 – in Brasilien 103, 106, 108 f., 114 Rahmenordnung, Verfassung als 236, 363 Rechtfertigung von Eingriffen 119, 123 ff., 127, 186, 288, 291, 314 ff., 317 ff., 325, 357 f. Rechtsstaat – demokratischer 46 ff., 52 ff., 202, 277, 298 – liberaler 24 ff., 30, 342, 361 Schlink, Bernhard 96, 207, 230, 243 ff., 273, 275, 353 f. Schutzbereich 78, 122, 175, 235, 273 f., 287, 290, 293 ff., 307 ff., 316, 332, 346, 353, 356 f. Schutzpflicht 69 f., 79 ff., 85 ff., 95, 119 f., 136 ff., 193 ff., 210 f., 225 f., 330, 344 f., 346 (siehe auch Untermaßverbot) Smend, Rudolf 144, 146 ff., 201 ff., 208, 347 Sonderfallthese 165 ff., 209, 270, 279 f. Sozialstaat 30 ff., 43, 342, 361 Sozialstaatsgebot 69 (Fn. 48), 178, 228 (Fn. 200), 233, 253 (Fn. 83), Staatlichkeit allen Rechts 46, 48 (Fn. 94), 250, 272, 331 Stabilisierung von Verhaltenserwartungen 43, 52 f., 221, 302, 310 Subsumtion 28 f., 171, 203 Symmetrie 196 f., 248, 324 Trümpfe 192, 260, 284, 356

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Register

Übermaßverbot siehe Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Unbestimmtheit des Rechts 40 f., 43, 57, 171 (Fn. 121), 272 Untermaßverbot 79, 82 ff., 88 f., 119 f., 140 ff., 197, 210 ff., 226, 344 f., 346, 351 Unterscheidung von Normen und Werten 162 f., 187 ff., 284 f., 349 Unterscheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht 26 (Fn. 12), 31 (Fn. 36), 46, 196, 272 Unterscheidung von Prinzipien und Zielsetzungen (policies) 189 ff., 260, 284 (Fn. 7) Unterscheidung von Rechtsnorm und Normtext 172, 238 ff., 295, 298 Unterscheidung von Regeln und Prinzipien 156 ff., 170 ff., 203, 258 f. Unterscheidung von Staat und Gesellschaft 25 f., 31, 47 f., 204, 234 (Fn. 7), 343 Verhältnismäßigkeit i. e. S. siehe Abwägung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 27, 58 ff., 64 f., 73, 75, 91, 102 f., 105 f., 116 ff., 127 ff., 142 f., 165, 205 f., 210, 224, 234,

236, 243 ff. 253 f., 274 f., 288, 315, 317 ff., 333 f., 345 f., 351, 353 f., 358, 362 – als Argumentationslastregel 247, 318 Versammlungsfreiheit 290, 297, 303 (Fn. 74), 311 (Fn. 95) Verteilungsprinzip, rechtsstaatliches 26 f., 49 (Fn. 97), 247 Vertrauensschutzgebot 245 Vertretbarkeitskontrolle 88, 139, 338 f. Vorbehalt des Gesetzes siehe Gesetzesvorbehalt vorbehaltlose Grundrechte 70, 75 ff., 124 f., 173 ff., 236, 242, 247 f., 293, 303 ff., 315 f. Wechselwirkungslehre 62, 64 (Fn. 25), 133, 219 (Fn. 168) Werttheorie der Grundrechte 33, 144, 148 ff.,162 f., 165, 287, 347 Wesensgehaltsgarantie 96, 127 f., 327 ff., 334, 358 f. Wissenschaftsfreiheit 242 (Fn. 38), 305 Zweck- und Mittelvorgaben 129, 244, 246, 254, 291, 315, 317 ff., 353, 358