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German Pages 105 Year 2015
Schriften zum Europäischen Recht Band 171
Herausforderungen an die Kompetenzordnung der EU Symposium zum 80. Geburtstag von Volkmar Götz
Herausgegeben von Reinhard Hendler, Martin Ibler und José Martínez
Duncker & Humblot · Berlin
HENDLER/IBLER/MARTÍNEZ
Herausforderungen an die Kompetenzordnung der EU
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann
Band 171
Herausforderungen an die Kompetenzordnung der EU Symposium zum 80. Geburtstag von Volkmar Götz
Herausgegeben von Reinhard Hendler, Martin Ibler und José Martínez
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-14769-4 (Print) ISBN 978-3-428-54769-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84769-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Am 28. November 2014 feierte Prof. Dr. Volkmar Götz seinen 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass veranstalteten seine Schüler am 16. Januar 2015 ein Symposium in Göttingen zum Thema „Herausforderungen an die Kompetenzordnung der EU“, dessen Beiträge in diesem Band versammelt sind. Volkmar Götz gehört zu den Europarechtlern der ersten Stunde. Mit dem Beginn seiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent bei Günther Jaenicke an der Universität Frankfurt wendet er sich diesem, damals noch jungen Rechtsgebiet zu, das er seitdem mit bedeutenden Schriften mitgeprägt hat. Dabei war ihm das System der Kompetenzverteilung zwischen der EWG und den Mitgliedstaaten von Anbeginn ein besonderes Anliegen. In seiner Habilitationsschrift zum Recht der Wirtschaftssubventionen beginnt Volkmar Götz die Untersuchung des europäischen Subventionsrechts mit einem Kapitel zu den Beihilfen als Gegenstand gemeinschaftspolitischer Kompetenzen. Dieses Interesse spiegelt sich seit seiner Berufung an die Universität Göttingen im Jahre 1967 in zahlreichen Beiträgen und einem Tagungsband wider. Rechtsfragen zur Kompetenzordnung haben in den letzten Jahren nicht an Aktualität verloren: Die fortschreitende Integration mitgliedstaatlicher Politiken steht einer zunehmenden verfassungsrechtlich begründeten Skepsis zur Weite der Kompetenzübertragung gegenüber. Diese Herausforderungen, denen sich die Kompetenzordnung der EU gegenübersieht, stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Beiträge. Unser Dank gilt der Landwirtschaftlichen Rentenbank für die finanzielle Förderung des Symposiums und der Veröffentlichung. Den Herausgebern der Schriftenreihe sowie dem Geschäftsführer des Verlags, Herrn Dr. Florian R. Simon, danken wir für die Unterstützung der Veröffentlichung. Reinhard Hendler
Martin Ibler
José Martínez
Inhaltsverzeichnis Martin Ibler Begrüßung der Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Frank Schorkopf Die Politizität der europäischen Kompetenzordnung als Rechtsproblem . . . . . .
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Markus Ludwigs Der Ultra-vires-Vorbehalt des BVerfG – Judikative Kompetenzanmaßung oder legitimes Korrektiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Martin Böse Selbständige Ermächtigungsgrundlage oder Brücke zur Annexkompetenz? – Art. 325 Abs. 4 AEUV im System der strafrechtlichen Kompetenzen der Union
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Oliver Koch Kompetenzfragen in der Entscheidungspraxis der EU Institutionen . . . . . . . . . .
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José Martínez Die Renationalisierung von Kompetenzen der EU – die grüne Gentechnik als primärrechtlicher Sündenfall oder Befreiungsschlag? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Volkmar Götz Bemerkungen zur Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Reinhard Hendler Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Begrüßung der Teilnehmer Martin Ibler* Guten Tag meine Damen und Herren, vielen Dank dafür, dass Sie von überall aus der Bundesrepublik nach Göttingen gekommen sind. Ich stelle fest, dass einige sogar die Autorenkonferenz des Beck-Verlags zu dessen größten Grundgesetzkommentar auslassen, die heute in München stattfindet. Der Anlass ist aber auch wichtig und erfreulich genug. Wir feiern hier zu Ehren von Volkmar Götz, der am 28. November letzten Jahres 80 Jahre alt geworden ist, ein wissenschaftliches Kolloquium. Ihnen brauche ich den Jubilar nicht vorzustellen. Die meisten von Ihnen hat er in einem wichtigen Lebensabschnitt begleitet, sei es während Ihrer Promotion, Ihrer Assistentenzeit, Ihrer Habilitation oder als Ihr Kollege an seiner Universität Göttingen. Bei mir war dies vor allem die Assistentenzeit von 1992 bis 1997. Rückblickend kann ich sagen, dass mich diese Zeit, vor allem aber Herr Götz, wesentlich geprägt hat; vielen von Ihnen wird es ähnlich gehen. Nur zu Beginn hatte mich überrascht, wieviel Freiraum er seinen Habilitanden und Doktoranden am Lehrstuhl gelassen hat. Binnen Kurzem aber war klar – er prägte durch sein Vorbild. Was hat uns Volkmar Götz vorgelebt: Rechtswissenschaft ist kein Selbstzweck, sondern soll praktisch verwertbares Wissen schaffen. Praxisbezug und Praxistauglichkeit seiner Forschung standen und stehen ihm bis heute im Vordergrund. Dies und die Freude am öffentlichen Recht waren und sind bei ihm stets spürbar, und beides hat er seinen Studenten, Doktoranden und Habilitanden mit auf den Weg gegeben. Viele von uns haben das in seinen Seminaren erlebt, die nicht nur in Göttingen und Umgebung, sondern auch in Straßburg, Luxemburg, Bologna, Udine und, mehrmals, in Valencia stattfanden. Die wissenschaftliche Zusammenarbeit, die damals begonnen hat, besteht fort; die Früchte der von Herrn Götz in Göttingen ausgebrachten Saat ernte ich bis heute in Konstanz, und die Partnerschaft mit Valencia ist mittlerweile auf Bogotá ausgedehnt. Übrigens habe ich vorgestern in einer Email an unsere spanische Kollegin Margarita Soler aus Valencia unsere heutige Tagung erwähnt und sofort die Antwort erhalten: „Dale por favor un fuerte abrazo de mi parte al profesor y dile que lo recordamos siempre con mucho cariño. – Umarme den Professor fest von mir und sage ihm, dass wir uns immer mit großer Zuneigung an ihn erinnern.“ Diese Zuneigung erstreckt sich genauso auf Frau * Professor Dr. Dr. h.c. Martin Ibler ist Inhaber eines Lehrstuhls für öffentliches Recht mit Schwerpunkt Verwaltungsrecht an der Universität Konstanz.
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Martin Ibler
Götz, deren Gastfreundschaft mit Einladungen der Seminare ins Haus Götz allen in bester Erinnerung ist. Es ging Herrn Götz also nicht nur um nationales Recht und Europarecht, sondern ebenso um Rechtsvergleichung. Dabei ist er – und das gilt nicht nur für die Seminarteilnehmer sondern ebenso für Kollegen – wegen der Klarheit und Genauigkeit seines Denkens, für die Geschwindigkeit seiner Auffassung und für die Kompaktheit und Effektivität seiner Argumente bewundert worden. Seine Emeritierung mit 68 kam deshalb viel zu früh. Immerhin: Als wir ihm vor zehn Jahren seine Festschrift zum 70. Geburtstag überreichten, wussten wir, dass wir noch viele wichtige Anregungen von ihm erwarten konnten. Und so ist es gekommen: Seine Publikationsliste seit 2005 enthält spannende Beiträge u. a. zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, zum Vertrauensschutz bei der Rückforderung gemeinschaftswidriger Beihilfen und zur Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten. Diese Aufsätze zeigen zugleich, dass die Hinwendung des Jubilars zum Europarecht, die im Laufe seines Arbeitslebens immer stärker hervorgetreten ist, weiterhin einen Schwerpunkt seines Interesses bildet. Auch die Vorträge der heutigen Tagung, sie gehen auf seine Themenwünsche zurück, belegen dies. Wir dürfen also auf seine Wortbeiträge dazu gespannt sein. Das alles heißt aber nicht, dass er seine anderen Arbeitsschwerpunkte aus dem Blick verloren hat. Davon zeugen seine Beiträge der letzten zehn Jahre zur Gemeinsamen Agrarpolitik, zur Inneren Sicherheit und zur öffentlichen Ordnung. Sein Polizeirechtslehrbuch, im letzten Jahrzehnt zweimal neu aufgelegt, zuletzt in der 15. Auflage von 2013, setzt weiterhin Maßstäbe. Nicht vergessen werden dürfen seine vielen Buchbesprechungen zum Polizeirecht: Bis heute ist eine Buchbesprechung durch Volkmar Götz für den Autor des Werkes ein Ritterschlag. Mit den heutigen Vorträgen konzentrieren wir uns auf die Vorliebe des Jubilars für das Europarecht, das unser Recht seit Jahrzehnten immer stärker durchwebt und prägt. Die Kompetenzordnung, um die es heute gehen soll, ist dafür eine maßgebliche Schaltstelle. Ich glaube, es ist nicht zu viel versprochen, wenn ich Ihnen einen gewinnbringenden Tag voraussage: Die Referenten sind in der Wolle gefärbte Europarechtler. Wie stets in den Seminaren des Jubilars sind es aber nicht nur die Wissenschaft und die Referenten, die die Güte der Veranstaltung ausmachen. Lassen Sie mich diese Gelegenheit wahrnehmen und schon in der Begrüßung dankbar darauf hinweisen, dass Herr Martínez und sein Team vom Institut für Landwirtschaftsrecht unser heutiges Zusammensein professionell vorbereitet haben. Vor allem aber tragen zum Glanz einer Veranstaltung die Teilnehmer bei. In unserem Fall ist dies ein besonderer Kreis. Wenn wir in die Runde schauen, finden wir viele vertraute, aber oft lang nicht mehr gesehene Köpfe. Dies weckt viele Erinnerungen. Unsere Tagung wird also nicht nur den Geist, sondern auch die Seele bereichern. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen anregenden Tag!
Die Politizität der europäischen Kompetenzordnung als Rechtsproblem Frank Schorkopf *
I. Anfang der 1970er Jahre schlägt die Europäische Kommission dem Rat eine Verordnung und drei Richtlinien auf dem Gebiet der Agrarpolitik vor. Es handelt sich um Rechtsetzungsvorschläge, mit denen der „revidierte Mansholt-Plan“ ins Werk gesetzt werden soll. Dabei geht es um das agrarpolitische Konzept von Sicco Mansholt, dem für Landwirtschaft zuständigen Mitglied und Vizepräsidenten der Kommission.1 Das Memorandum sieht vor, durch wirtschaftliche und soziale Maßnahmen die Agrarstruktur in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu verändern. Die landwirtschaftlichen Betriebe sollen wettbewerbsfähiger werden und weniger auf Subventionen angewiesen sein.2 Der Verordnungs- und die Richtlinienvorschläge sind der normative Rest jenes ursprünglichen, bereits 1968 vorgelegten MansholtPlanes, der erhebliche Struktureingriffe in den Agrarsektor der Mitgliedstaaten vorsah, entsprechende politische Auseinandersetzungen hervorgerufen hatte und deshalb zwischenzeitlich vom Ministerrat deutlich „entschärft“ worden war. Die Rechtsetzungsvorschläge der Kommission und das Dossier der Agrarstrukturreformen führen in der 1971 neu gegründeten Zeitschrift für das gesamte Recht der Landwirtschaft, der Agrarmärkte und des ländlichen Raumes (Agrarrecht) zu einer seltenen, direkten Auseinandersetzung zwischen zwei Autoren. Im zweiten Heft des ersten Jahrgangs nimmt Volkmar Götz die skizzierten Vorgänge zum Anlass, die Frage zu diskutieren, ob die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft außerhalb des Marktordnungsrechts weitere agrarpolitische Kompetenzen hat. Götz vertritt die Ansicht, dass die EWG-Organe in den klassischen Bereichen des Agrarrechts, d. h. etwa * Prof. Dr. Frank Schorkopf ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht an der Universität Göttingen. 1 COM(68) 1000, Teil A und B mit Anhängen v. 18. 12. 1968. Sicco Mansholt (1908 – 1995), Landwirt, niederld. Politiker, Minister, Mitglied der EWG-Kommission, Vizepräsident, Präsident; ausführlich zur Person Johan van Merriënboer, Mansholt: A Biography, Brüssel, 2011. 2 Vgl. Markus F. Hofreiter, Origins and development of the Common Agricultural Policy, in: Gehler (Hrsg.), Vom gemeinsamen Markt zur europäischen Unionsbildung 50 Jahre Römische Verträge 1957 – 2007 From Common Market to European Union Building. 50 Years of the Rome Treaties 1957 – 2007, Wien 2009, S. 333 (347).
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Frank Schorkopf
für das Bodenrecht, den Agrarkredit, die Betriebsgröße oder die Unternehmensform nach den Intentionen und dem Inhalt des EWG-Vertrages keine nennenswerten Kompetenzen haben.3 Wenige Monate später erscheint in der „Agrarrecht“ eine Entgegnung von ClausDieter Ehlermann, damals leitender Beamter der Europäischen Kommission, später Generaldirektor des Juristischen Dienstes.4 Mit dem Beitrag werden zunächst die mittlerweile in Kraft getretenen drei Richtlinien5 gewürdigt, die den Mitgliedstaaten erstmals verbindlich agrarstrukturpolitische Aktionen vorschreiben und den Anfang einer umfassenden Agrarstrukturpolitik der Wirtschaftsgemeinschaft bilden. Sodann geht der Autor auf Götz’ Kompetenzthese ein. Sie sei nicht nur mit der Gemeinschaftspraxis unvereinbar, sondern widerspreche Wortlaut, Systematik und Finalität des EWG-Vertrages. Das entscheidende Argument Ehlermanns lautet, dass die agrarpolitischen Ziele nicht erreicht werden könnten, wenn die in Rede stehende Kompetenznorm (Art. 43 Abs. 2 EWGV) auf gemeinsame Marktordnungen und einige Durchführungsmaßahmen beschränkt wäre.6 Bei diesen Zielen handelt es sich um die Produktivität der Landwirtschaft und die Gewährleistung einer angemessenen Lebenshaltung der landwirtschaftlichen Bevölkerung (Art. 39 Abs. 1 Buchst. a und b EWGV). Dieses weit zurückliegende Dossier der Gemeinsamen Agrarpolitik aus den Zeiten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist bis in die Gegenwart aktuell, wenn wir es als Idealbild für Standpunkte, Argumente und Vorverständnisse zu einem der zentralen juristischen Integrationsthemen betrachten: Der Zuordnung politischer Gestaltungsmacht zwischen den für ihre Ausübung in Betracht kommenden Wirkungseinheiten.7 Mit anderen Worten, der Debatte um die Kompetenzverteilung zwischen einerseits Mitgliedstaaten und andererseits Europäischer Gemeinschaft sowie Europäischer Union. 3 Volkmar Götz, Supranationale und staatliche Kompetenzen auf dem Gebiet der Agrarpolitik, Agrarrecht 1 (1971), S. 33 – 38. 4 Claus-Dieter Ehlermann, Kompetenzen der EWG im Bereich der Agrarstrukturpolitik, Agrarrecht 2 (1972), S. 261 – 266. Zur Person Ehlermanns (*1931) siehe die Würdigung aus Anlass der Festschrift in: von Bogdandy/Mavroidis/Mény (eds.), European Integration and International Coordination, The Hague 2002, Introduction, S. V ff. 5 Richtlinie 72/159/EWG des Rates vom 17. 4. 1972 über die Modernisierung der landwirtschaftlichen Betriebe, ABl. Nr. L 96/1; Richtlinie 72/160/EWG des Rates vom 17. 4. 1972 zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit und der Verwendung der landwirtschaftlich genutzten Fläche für Zwecke der Strukturverbesserung, ABl. Nr. L 96/ 9; Richtlinie 72/161/EWG des Rates vom 17. 4. 1972 über die sozio-ökonomische Information und die berufliche Qualifikation der in der Landwirtschaft tätigen Personen, ABl. Nr. L 96/15. 6 Claus-Dieter Ehlermann, Kompetenzen der EWG im Bereich der Agrarstrukturpolitik, Agrarrecht 2 (1972), S. 261 (264); die Durchführungsmaßnahmen hätten auf Art. 41, 42 EWGV gestützt werden können. 7 Vgl. Michael Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaates in rechtsvergleichender Sicht, Berlin 1977, S. 128; Florian Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung, Berlin 2005, S. 436.
Die Politizität der europäischen Kompetenzordnung als Rechtsproblem
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Die Beiträge von Götz und Ehlermann knüpfen exemplarisch an das bis heute ungelöste Problem an, wie Kompetenzen der Europäischen Union zu verstehen sind, wozu sie berechtigen und ob sie effektiv begrenzt werden können. Die beiden Aufsätze enthalten bereits das methodische und argumentative Rüstzeug, mit dem die Kompetenzdebatte im Wesentlichen bis heute bestritten wird.8 Was die Europarechtswissenschaft der heutigen, dritten Generation zu dieser Debatte beitragen kann, begrenzt sich nicht auf das aktualisierte Fortdenken und Einordnen einer mittlerweile 40 Jahre fortgeschrittenen europäischen Integration in die angestammten Kategorien. Sie kann sich bemühen, das Grundproblem von einer anderen Blickrichtung aus zu betrachten. Die europäische Kompetenzordnung – so die These – ist im Grundsatz politischer Natur, auch wenn sie in Rechtssprache gefasst ist und normative Verbindlichkeit erweckt. Sie erfüllt nur sehr eingeschränkt die Funktion, den politischen Machtkampf zu transsubstantiieren, damit er als Streit um die Kompetenz auf juridischem Wege ausgetragen werden kann.9 Dieser politische Status der Kompetenzordnung ist ein völkerrechtliches Erbe der europäischen Integration. Mit dem Begriff der „Politizität“ ist der Grad an Politisierbarkeit der Kompetenz bezeichnet, der in seiner zeitlichen und räumlichen Dimension wandelbar ist. Die europäische Integration der Gegenwart wird nur gelingen können, wenn die Kompetenzordnung im verfassungsrechtlichen Sinn als Politikgrenze verstanden wird. Das Rechtsproblem liegt in der geeigneten institutionellen Einhegung einer notwendig zu vermindernden Politizität der Kompetenzordnung. Diese notwendige Verrechtlichung des Kompetenzbegriffs ist bislang nicht gelungen.
8 Aus der Debatte sind etwa zu nennen Stephen Weatherill, Competence Creep and Competence Control, Yearbook of European Law 2010, Oxford 2004, S. 1 – 55; Koen Lenaerts, L’encadrement par le droit de l’Union européenne des compétences des États membres, in: Gérard (ed.), Chemins d’Europe, mélanges en l’honneur de Jean-Paul Jacqué, Paris 2010, S. 421 – 442 Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der Europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 577 – 640; die Beiträge in Europäische Kommission (Hrsg.), Europe 2004. Le Grand Débat, Tagungsbericht Action Jean Monnet v. 15./16. 10. 2001, Brüssel; Götz/ Martinez (Hrsg.), Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, Baden-Baden 2002; Hans D. Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Euro päischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 174 – 199; Ingolf Pernice, Kompetenzordnung und Handlungsbefugnisse der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Umwelt- und Technikrechts, Die Verwaltung 22 (1989), S. 1 – 54; Jean-Victor Louis, La re partition des competences entre les Communautés Européennes et leurs etats membres en mati ère de relations extérieures, Revue belge de droit international, 1983, S. 355 – 376; Vlad Constantinesco, Compétences et pouvoirs dans les Communautés Européennes, Paris 1974; Manfred Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR nF 20 (1971), S. 1 – 64. 9 Vgl. zu dieser Funktion von Kompetenzen Josef Isensee, Die bundesstaatliche Kompetenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl., Heidelberg 2008, § 133 Rn. 4.
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II. Klassisch staatsrechtlich geprägtes Kompetenzdenken beruht auf dem Vorverständnis, dass politische Gestaltungsmacht Trägern hoheitlicher Gewalt zugeordnet werden kann. In der Regel handelt es sich bei den Trägern hoheitlicher Gewalt um Bundes- und Gliedstaaten, zuweilen aber auch um zwischenstaatliche Einrichtungen und Private. Diese verfassungsrechtlich bewirkte Zuordnung ist für die Subjekte unverfügbar, weil mit der Kompetenzzuordnung zugleich entsprechende Legitimation für deren Ausübung gestiftet wird. Wer als Hoheitsträger eine Kompetenz ausübt, muss diesen Schritt grundsätzlich nicht rechtfertigen. Er muss sich lediglich als Inhaber des Kompetenztitels ausweisen. Der Verfassungsgeber delegiert durch eine Kompetenzverteilung zugleich die Legitimation zum Freiheitseingriff.10 Diese prinzipiell statisch gedachte Kompetenzverteilung hat eine zweite Dimension im Verhältnis zur Gesellschaft. In modernen Verfassungsstaaten westlicher Prägung, in denen die Souveränität beim Volk liegt, wird mit der Kompetenzordnung auch die Grenzlinie zwischen privatautonom handelndem Bürger und hoheitlichen Freiheitseingriffen – nach älterer Diktion die Trennlinie zwischen Staat und Gesellschaft – definiert. Kompetenzwidriges Handeln ist deshalb nicht allein ein organisationstechnisches Problem, welche Ebene hoheitlicher Gewalt rechtmäßig handeln darf. Kompetenzwidriges Handeln ist auch ein Freiheitsproblem. Die europäische Integration stand mit diesem staatsrechtlichen Vorverständnis zunächst nicht in Konflikt. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl hatte einen begrenzten Anwendungsbereich in einem Sachgebiet, das Anfang der 1950er Jahre als zwischen den sechs Gründerstaaten regelungsbedürftig gesehen wurde. Die Europäische Atomgemeinschaft fällt schon dem Namen nach ebenfalls in diese Kategorie eng begrenzter Anwendungsbereiche. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hingegen hatte einen wesentlich umfassenderen Anwendungsbereich und war bereits mit umfangreichen materiellen Zielen ausgestattet worden – die agrarpolitischen sind eingangs erwähnt worden. Die Willensbildung ihrer Organe folgte jedoch nicht mehr dem rigiden supranationalen Ansatz der Montanunion, mit ihrer weitgehenden Entscheidungsautonomie der Hohen Behörde. Die Willensbildung war von den Mitgliedstaaten gezielt zugunsten des Ministerrates verändert worden. Es ist wichtig, die Kompetenzordnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in enger Verzahnung mit der Willensbildung und dem Entscheidungsmodus der Organe zu sehen.11 Diese stärkere Stellung des Ministerrates, also politisch betrachtet der mitgliedstaatlichen Regierungen, war zwar durch die Ausstattung der 10 Ausführlicher zu dieser Legitimationsfunktion von Kompetenzen Martin Nettesheim, Kompetenzdenken als Legitimationsdenken, Juristenzeitung 69 (2014), S. 585 ff. 11 Dazu bereits Pierre Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht, in: Grewe/Rupp/Schneider (Hrsg.), Europäische Gerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit – Festschrift für Hans Kutscher, 1981, S. 319 (328 f.); in neuerer Zeit lenken die Aufmerksamkeit auf die Organstrukturen Armin von Bogdandy/Jürgen Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441 (458).
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Kommission mit dem exklusiven Vorschlagsrecht „supranational“ flankiert worden. Im Ergebnis konnten die Mitgliedstaaten durch die zunächst noch rechtlich verpflichtende, später dann faktisch geltende Einstimmigkeit im Ministerrat jedes Gemeinschaftshandeln verhindern.12 Es gab demnach im Ergebnis kein Gemeinschaftshandeln gegen den im Ministerrat artikulierten politischen Willen der Mitgliedstaaten.
III. Das dynamische Kompetenzverständnis, das heute als Problem der europäischen Integration empfunden wird, war aber auch im ersten Jahrzehnt der Gemeinschaften bereits angelegt. Die Europäischen Gemeinschaften hatten und die Europäische Union hat heute eine auf Finalität ausgerichtete Tiefenstruktur, die auch Ehlermann in seiner Entgegnung auf Götz’ Kompetenzkritik als Rechtfertigung für das Gemeinschaftshandeln anführte. Was ist damit gemeint? Die Europäische Union errichtet einen Binnenmarkt und eine Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 3 Abs. 3 EUV). Die Union erlässt die erforderlichen Bestimmungen, um diesen Binnenmarkt zu verwirklichen und dessen Funktionieren zu gewährleisten (Art. 26 Abs. 1 AEUV); auch die notwendigen Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten können zu diesem Ziel erlassen werden (Art. 114 AEUV).13 Soweit eine Maßnahme der Union also der Zielerreichung dient, kann sie von den Organen ergriffen werden. Die Zweckmäßigkeit der geplanten Maßnahme ist dabei von den Organen selbst zu beurteilen. Die mögliche Kompetenzkontrolle durch den Europäischen Gerichtshof hängt von dessen Selbstverständnis14 und der mitgliedstaatlichen Bereitschaft ab, entsprechende Kompetenzklagen zu erheben. Der zweite Ansatzpunkt ist die berühmte, für manche berüchtigte, Flexibilitätsklausel (Art. 352 AEUV). Die Entstehungsgeschichte der Römischen Verträge bezeugt, dass unter den Mitgliedstaaten ein Konsens bestand, aufgrund der starken Normativität der vorbehaltslosen Grundfreiheiten ein flexibles Handlungselement zu schaffen, um in einer Krise mittels staatlicher Gegenmaßnahmen handeln zu können. 12 Die Kompetenzdebatte verlagerte sich auch deshalb in Deutschland in die Staatsorganisation hinein, denn es waren die Länder, nicht Bundesregierung und Bundestag, deren kritische Beiträge die Kompetenzdebatte mehr und mehr bestimmten und dann trugen, ausführlich dazu Frank Schorkopf, in: Bonner Kommentar, Heidelberg, Art. 23 GG Rn. 2 ff. (August 2011). 13 Dieter Grimm, Europa: Ja – aber welches?, Merkur, Nr. 787, Dezember 2014, S. 1045 (1049). Dass die finale Kompetenzstruktur der Europäischen Union im Vergleich zu „bereichsspezifischen Kompetenzen“ ein Problem sein könnte, wird allerdings bestritten von Claus-Dieter Classen, Zur offenen Finalität der europäischen Integration, in: Hatje/MüllerGraff, Enzyklopädie des Europarechts, Bd. 1, Baden-Baden 2014, § 37 Rn. 65. 14 Die Kritik zur Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshof im Zusammenhang mit der Kompetenzordnung zusammenfassend Hans Hugo Klein, Integration und Verfassung, AöR 139 (2014), S. 165 (176 ff.).
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Dieser Zusammenhang ist besonders unter dem Aspekt der wirtschafts- und sozialpolitischen Krisen in den Mitgliedstaaten thematisiert worden. Der heutige Art. 352 AEUV sollte deshalb gemeinschaftliche Finanzierungsmechanismen ermöglichen, wenn Wirtschafts- und Finanzkrisen zu bewältigen gewesen wären.15 Die Flexibilitätsklausel war in der Integrationspraxis aus Kompetenzperspektive unproblematisch, solange sie nur ausnahmsweise im Einzelfall gebraucht wurde – wie erwähnt, hatte jeder Mitgliedstaat ein Veto im Ministerrat. Die ursprüngliche Erwartung, der Artikel werde zurückhaltend angewendet, änderte sich Anfang der 1970er Jahre. Auf der Pariser Gipfelkonferenz vom Oktober 1972 beschlossen die Staats- und Regierungschefs die extensive Anwendung der Flexibilitätsklausel, um Aufgaben zu bewältigen, die zuvor in Aktionsprogrammen beschlossen worden waren. Ausdrücklich genannt als neue Aufgabengebiete wurden die Regionalpolitik, die Sozialpolitik, die Industrie- Wissenschafts- und Technologiepolitik, die Umweltpolitik, die Energiepolitik und die Außenpolitik.16 Die Mitgliedstaaten widmeten also eine dem Wortlaut nach passende Kompetenznorm um. Entscheidend für die These dieses Beitrages ist, dass dieser Beschluss von der Kommission dahingehend verstanden wurde, dass von der Gemeinschaft nunmehr Maßnahmen in wesentlichen politischen Gestaltungsbereichen ergriffen werden konnten, die andernfalls nicht möglich gewesen wären und für die andere Kooperationsformen hätten gefunden werden müssen.17 Die Inanspruchnahme der Flexibilitätsklausel unterlag gleichwohl weiterhin der Einstimmigkeit im Rat. Ein Wendepunkt in der Kompetenzdebatte, der zunächst wenig sichtbar wurde, war die mittelbare Neuverhandlung des Mehrheitsentscheids im Rat durch die Einheitliche Europäische Akte von 1986. Sie erweiterte die Anwendungsfälle, in denen der Rat mit qualifizierter Mehrheit abstimmen konnte. Das Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 markiert den Zeitpunkt, in dem der Rat sich zwar weiterhin um Konsens bemühte, nun aber nicht mehr unter der Möglichkeit des Vetos, sondern unter dem Druck des Mehrheitsentscheids.18 Mit der faktischen Einstimmigkeit entfiel prinzipiell eine der bis dahin prägenden Funktionsbedingungen der europäischen Kompetenzordnung – das mitgliedstaatliche Veto. 15
Hauke Delfs, Komplementäre Integration, Tübingen 2015, S. 106 f., 271 – 275. Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der erweiterten Europäischen Gemeinschaften in Paris am 19. und 20. 10. 1972, EA 27 (1972), D 502 (508), Ziff. 15. Die Erklärung führte zu einer verstärkten Aktivität auf Grundlage des Art. 235 EWGV aF, vgl. Ulrich Everling, Die allgemeine Ermächtigung der Europäischen Gemeinschaft zur Zielverwirklichung nach Art. 235 EWG-Vertrag, in: Europarecht, Sonderheft, 1976, S. 2 (22). 17 Christopher Audland, Commission of the European Communities, Secretariat-General, Note for the attention of M. Ehlermann, Brussels, 20 March 1980, Anhang (Speaking Note), HAEU, Fond Emile Noél, Dossier N8 673, zitiert nach Hauke Delfs, Komplementäre Integration, Tübingen 2015, S. 155 Anm. 493. 18 Joseph Weiler, The Constitution of Europe, Cambridge 1999, S. 71 f. Zur Frage, ob der Luxemburger Kompromiss nach 1987 noch wirksam war, Luuk van Middelaar, The Passage to Europe, London 2013, S. 77 – 80. 16
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IV. Die Mitgliedstaaten fügten 1999 dem Vertrag von Nizza eine Erklärung bei, in der sie ihren Willen bekundeten, den mit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza begonnenen „Reformprozess“ weiterzuführen. Der Unionsvertrag von Maastricht hatte das Subsidiaritätsprinzip und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in die Kompetenzdebatte eingeführt, womit das Europarecht auf zunehmende Kritik an Zentralisierung und Unitarisierung antwortete. Die Mitgliedstaaten wollten nun der Frage nachgehen, wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten hergestellt und danach aufrechterhalten werden könne.19 Das Zwischenergebnis war die berühmte Erklärung der Staats- und Regierungschefs von Laeken.20 Sie definierte in Sachen Kompetenz drei Fragen: die transparentere Aufteilung der Zuständigkeiten, zweitens eine Neuordnung der Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten und drittens Gewährleistungen gegen eine schleichende Ausuferung der Zuständigkeiten der Union oder ein Vordringen in die Bereiche der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Antworten auf diese Fragen sind im Verfassungsvertrag enthalten, den ein Konvent zwischen Februar 2002 und Juli 2003 ausarbeitete, den eine Regierungskonferenz mit geringfügigen Änderungen übernahm und der von den Mitgliedstaaten im Oktober 2004 unterschrieben wurde. Diese Entwicklungen sind auch im Rückblick interessant. Obgleich der Verfassungsvertrag wegen der negativen Referenden in Frankreich und den Niederladen nicht in Kraft trat, sind dessen Kompetenzregelungen schlussendlich geltendes Primärrecht geworden. Deshalb lohnt es sich auch weiterhin, einen Blick in die rechtswissenschaftlichen Würdigungen des Verfassungsvertrages zu werfen, die vor nunmehr einer Dekade erschienen sind. In seinem Aufsatz zu einem entsprechenden Sammelband kommt Götz zu einem nüchternen Votum, dem ein skeptischer Grundton zu entnehmen ist: Das deutsche Modell eines „Trennungsföderalismus“ habe im Konvent keinen Widerhall gefunden, was auch einen Kompetenzkatalog scheitern ließ. Ein Kompetenzkatalog hätte, so die Konventsmehrheit, einer flexiblen und dynamischen Kompetenzordnung entgegengestanden. Durch den Vertrag sei zudem die Kompetenzausstattung der Union nicht unbeträchtlich erweitert und in keinem Punkte zurückgenommen worden. Der Kategorisierung von Kompetenzen wird dogmatische Folgenlosigkeit bescheinigt. So habe der Verfassungsvertrag die Linie aller bisherigen Revisionsverträge seit der Einheitlichen Europäische Akte aus dem Jahr 1986 fortgesetzt und die
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23. Erklärung zum Vertrag von Nizza vom 26. 2. 2001, Zukunft der Europäischen Union, ABl. EU 2001 Nr. C 80/85 f. 20 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes vom 14./15. 12. 2001, SN 300/1/01 REV 1, S. 21 f.
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Unionszuständigkeiten vertieft, ohne das Petitium der Erklärung von Laeken im Ergebnis einzulösen.21 Der Vertrag von Lissabon hat nahezu ohne Änderung die Kompetenzkonzeption des Verfassungsvertrages übernommen. Eine erste Wahlperiode unter Geltung des neuen Primärrechts ist vollständig durchlaufen worden. Die rechtswissenschaftliche Kompetenzdebatte seitdem hat sich auf die konkreteren Themen der Subsidiaritätskontrolle und seit Neuerem auch auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlagert. Im Zusammenhang mit der Akzeptanzkrise der europäischen Integration wird mittlerweile teilweise auch eine Kompetenzrückübertragung gefordert. Während die „Subsidiarität“ spätestens seit dem Unionvertrag von Maastricht ein basso continuo der europäischen Integration ist, der mit (über)großen Hoffnungen und Erwartungen im Hinblick auf die Kompetenzdebatte verbunden wird,22 ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwar seit langem auch im Europarecht verankert, in der Kompetenzdebatte jedoch ein relativ neuer Beitrag.23 Anders als die Subsidiarität ist der kompetenzbezogene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Art. 5 Abs. 4 EUV trotz zeitgleicher Aufnahme in das Europarecht durch den Unionsvertrag von Maastricht kaum beachtet worden. Das hat möglicherweise seinen Grund darin, dass die Aussage des Art. 5 Abs. 4 EUV dogmatisch wie praktisch kaum anschlussfähig ist: Die Kompetenzausübung der Union muss verhältnismäßig sein; der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist jedoch entwicklungsgeschichtlich ein Instrument des Grundrechtsschutzes und nicht des Organisationsrechts. Die Möglichkeiten dieses Ansatzes sind zugleich auch seine Schwäche, die manchen Beobachter mit traditionellem Standpunkt in seiner Grundskepsis bestätigen mag. Hängt die rechtmäßige Inanspruchnahme einer Unionskompetenz davon ab, ob diese angemessen ist, werden die übertragene Autonomie der Union und die originäre Souveränität der Mitgliedstaaten in ein Abwägungsverhältnis „von Rechtsgütern“ gesetzt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dann nicht mehr per se kompetenzbegrenzend, sondern kompetenzbezogen. Im Ergebnis bewegt sich die Prüfung dann doch im vertrauten Freiheitskontext. Denn es geht um die mitgliedstaatlichen Gestaltungsansprüche in einer föderalen Ordnung. Mit dieser Akzentverschiebung bekommt die Kompetenzdebatte jedoch einen anderen Grundton. Es geht nicht 21 Volkmar Götz, Kompetenzverteilung und Kompetenzkontrolle in der Europäischen Union, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, BadenBaden 2004, S. 43 (56). 22 Zuletzt etwa Christian Calliess, Subsidiaritätskontrolle durch Bundestag, Bundesrat und Landesparlamente, Zeitschrift für Gesetzgebung 2014, S. 563 – 584; Christian Bickenbach, Das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 EUV und seine Kontrolle, Europarecht 48 (2013), S. 523 – 548; Philipp Kiiver, 2012; Paul Craig, Subsidiarity. A Political and Legal Analysis, Journal of Common Market Studies 50 (2012), S. 72 – 88. 23 Johannes Saurer, Der kompetenzrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Recht der Europäischen Union, Juristenzeitung 69 (2014), S. 281 – 286 m.w.N.; Michael Goldhammer, Passepartout oder Fremdkörper? Kritik und Rekonstruktion kompetenzbezogener Verhältnismäßigkeit am Beispiel des Unionsorganisationsrechts, Manuskript 2014.
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mehr um abstrakt-generelle Kompetenzabgrenzung mit der zumindest noch formal geltenden Grundregel der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EUV). Die Europäische Union muss für ihr Handeln eine Kompetenz zwingend angeben und kann nicht eine politische Allzuständigkeit ins Feld führen. Es ginge nunmehr darum, Kompetenzen den Wirkungseinheiten im Einzelfall nach dem Kriterium einer Zweck-Mittel-Relation zuzuweisen. Unionshandeln würde dann zu einem Eingriff in die politischen Gestaltungsansprüche der Mitgliedstaaten, der gerechtfertigt wäre, wenn der verfolgte Zweck mit den eingesetzten Mitteln in einem angemessenen Verhältnis stünde. Bei dieser Abwägung stünden der Europäischen Union in diesem Fall die 28 Mitgliedstaaten zur Gesamthand gegenüber – in Anbetracht der erheblichen wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftspolitischen Heterogenität der Mitgliedstaaten entsteht geradezu ein Automatismus hin zu einer verhältnismäßigen Unionskompetenz.
V. Wenn diese Konzeption einer kompetenzbezogenen Verhältnismäßigkeit auf den ersten Blick noch fremd wirkt und nicht im entscheidenden Maß überzeugen kann, so könnte sich das nach einem zweiten Blick ändern. Denn funktioniert die Unionspraxis nicht bereits nach diesem Modell? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich exemplarisch an einer der neueren Wendungen der Unionspraxis im Zusammenhang mit der Europäischen Bankenunion entwickeln.24 Die Europäische Bankenunion ist das Schlagwort für ein großes Gesamtprojekt, das im Juni 2012 aus Anlass der Staateninsolvenz Zyperns begonnen und zum Jahresbeginn 2015 als weitgehend abgeschlossen gelten darf. Es besteht aus drei Säulen: einer Bankenaufsicht (Single Supervisory Mechanism – SSM),25 einem Instrument zur Bankenabwicklung (Single Resolution Mechanism – SRM)26 und gemeinsamen 24 Ein weiteres Anwendungsbeispiel ist die Debatte um die Rechtmäßigkeit der Anleihekäufe durch die Europäische Zentralbank im Rahmen des Securities Market Programm (SMP) und der bislang nur angekündigten Outright Monetary Transaction (OMT), bei der es im Kern um die Kompetenzen der unabhängigen Europäischen Zentralbank geht, zu den gerichtlichen Auseinandersetzungen siehe BVerfGE 134, 366 ff. – OMT-Vorlage und EuGH, Rs. C-62/14, Urteil vom 16. 6. 2015 – Gauweiler (OMT), vom rechtswissenschaftlichen Standpunkt Alexander Thiele, Das Mandat der EZB und die Krise des Euro, Tübingen 2013. 25 Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15. 10. 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank, ABl. EU 2013 Nr. L 287/63; die Verordnung wird durch Rechtsakte der EZB ergänzt, siehe http://www.ecb.europa.eu/ecb/legal/ssm/framework/html/index. de.html. 26 Der Abwicklungsmechanismus wird von drei Rechtsakten geregelt: Richtlinie 2014/59/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 5. 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der
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Regeln für die Einlagensicherung bei Kreditinstituten mit Sitz in der Europäischen Union.27 Die erste Säule der Bankenaufsicht beruht auf Art. 127 Abs. 6 AEUV. Diese Kompetenznorm ermächtigt den Rat, mit einstimmigem Beschluss und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Zentralbank (EZB) „besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute und sonstige Finanzinstitute mit Ausnahme von Versicherungsunternehmen“ zu übertragen. Es handelt sich um eine echte Kompetenzübertragung von den Mitgliedstaaten auf die Union kraft Sekundärrechts. Ist die Aufsicht über Banken eine besondere Aufgabe oder nicht doch eher eine allgemeine Aufgabe im Ordnungsrahmen des Binnenmarktes?28 Der Rat hat sich einstimmig entschieden, dass es sich um eine „besondere Aufgabe“ handelt, und hat die Bankenaufsicht eingerichtet. Wer konnte und wollte in der Staatsschuldenkrise einen administrativ sinnvollen Regulierungsschritt mit dem Argument der fehlenden Kompetenz der Europäischen Union verhindern? Selbst unter einem Maßstab kompetenzbezogener Verhältnismäßigkeit dürfte die Prüfung der Angemessenheit zugunsten der Union ausfallen und Kompetenzkritiker sich das vorwurfsvoll gemeinte Etikett eines Positivisten einhandeln. Deutschland hatte bereits 2011 im Zusammenhang mit der Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) darauf bestanden, dass das Primärrecht geändert und eine Rechtsgrundlage, mit anderen Worten, eine Kompetenz für diesen institutionellen Schritt geschaffen werde. Dem Vernehmen nach ist Art. 136 Abs. 3 AEUV ausschließlich auf deutschen Wunsch beschlossen worden. Die anderen Mitgliedstaaten hätten den ESM auch ohne diese, wegen der notwendigen Ratifikationen politisch unsichere Vertragsanpassung eingerichtet. In der Gesetzesbegründung des Deutschen Bundestages klingt das an, wenn es dort heißt, die Vertragsänderung sei beschlossen worden, „um für die Einrichtung des dauerhaften EuropäiVerordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. EU 2014 Nr. L 173/190. Verordnung (EU) Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 7. 2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. EU 2014 Nr. L 225/1. Intergouvernmental Agreement zwischen 26 EU-Mitgliedstaaten (Großbritannien und Schweden beteiligen sich nicht), siehe Rat der Europäischen Union Dok. Nr. 8457/1 vom 14. 5. 2014. 27 Richtlinie 2014/49/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 4. 2014 über Einlagensicherungssysteme Text von Bedeutung für den EWR, ABl. EU 2014, Nr. L 173/149. Näher zur Ausgestaltung der Bankenunion und den nachfolgend erwähnten Kompetenzfragen Frank Schorkopf, Finanz- und Haushaltsaufsicht in der europäischen Währungsunion. Zu Grundproblemen supranationaler Integration, in: Jahrbuch der Juristischen Gesellschaft Bremen 2014, Bremen 2014, S. 43 – 65. 28 Kritisch zur Tragfähigkeit des Artikels als Kompetenzgrundlage Jörn Axel Kämmerer, Bahn frei der Bankenunion, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2013, S. 830 (832 ff.).
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schen Stabilitätsmechanismus (ESM) Rechtssicherheit – gerade auch in Deutschland – zu schaffen.“ Das Kompetenzmotiv muss dabei nicht die entscheidende Rolle gehabt haben, ließ Deutschland mit der Vertragsänderung zugleich die Konditionalität der Finanzhilfen und damit die mitgliedstaatliche Eigenverantwortlichkeit festschreiben.29 Besonders bemerkenswert ist, dass der Bundestag im Juni 2013 zu diesem Dossier ein Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG beschloss. Das Gesetz ermächtigte die Bundesregierung, der Verordnung des Rates über die Bankenaufsicht zuzustimmen.30 Sekundärrecht nach Maßgabe nationaler ad hoc-Ermächtigung? Das Gesetz des Bundestages ist eine Folge des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts und der neuen Rechtsfigur der Integrationsverantwortung. Sie verpflichtet alle Verfassungsorgane, die europäischen Akte fortlaufend zu begleiten und den gesetzgeberischen Willen zu aktualisieren.31 Die verfassungsrechtliche Kritik an diesem Verhalten des Bundestags setzt daran an, dass mit der Ratifikation des Art. 127 Abs. 6 AEUV alle darauf später einmal gegründeten Sekundärrechtsakte in den nationalen Willen mit aufgenommen werden.32 Zudem gehört Art. 127 Abs. 6 AEUV nicht zu den in den Begleitgesetzen zu Art 23 GG benannten Fällen, in denen durch vereinfachte Verfahren Kompetenzen übertragen werden. Der Bundestag, so wirkt es, wollte sicher gehen, dass keine Zweifel über die Kompetenzmäßigkeit der Verordnung bleiben und sich möglicherweise auch selbst von späteren Vorwürfen entlasten. Eine andere Lesart, die auch kumulativ zu der genannten Entlastung hinzutreten kann, ist die politische Legitimation der Bankenaufsicht durch den Bundestag – so wie 1972 die Staats- und Regierungschefs die Entfesselung der Flexibilitätsklausel beschlossen, legitimiert nun das nationale Parlament diesen Schritt – jedenfalls für die Bundesrepublik Deutschland.
VI. Das Argument gegen eine kompetenzielle Beliebigkeit in der europäischen Integration, dieser Eindruck mag nach den bisherigen Überlegungen entstanden sein, ist 29
Siehe die Begründung des deutschen Ratifikationsgesetzes, BT-Drucks 17/9047, S. 4. BT-Drucks 17/13470, 17/13829, Beschluss vom 13. 6. 2013, Plen. Prot. 17/246, 31402 (31416 B). 31 BVerfGE 123, 267, (351 ff., Rn. 256 ff.) – Lissabon (2009); vgl. auch Frank Schorkopf, Die Europäische Union im Lot – Karlsruhes Rechtsspruch zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2009, 718 (723). Die Rechtsfigur ist bereits im Zusammenhang mit der deutschen Mitwirkung in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit entwickelt worden, vgl. BVerfGE 104, 151 (208) – NATO-Strategiekonzept (2001); 108, 34 (43) – AWACS/Türkei, eA-Verfahren (2003); 121, 135 (153 f.) – AWACS/Türkei, Hauptsache (2008). 32 So vor allem Franz C. Mayer/Daniel Kollmeyer, Sinnlose Gesetzgebung? Die Europäische Bankenunion im Bundestag, Deutsches Verwaltungsblatt 2013, S. 1158 (1160 ff.). 30
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die Funktion der Kompetenzordnung als Legitimationsquelle politischer Herrschaft. Dieter Grimm verweist zu Recht darauf, dass politische Entscheidungen in den Mitgliedstaaten und in der Europäischen Union in unterschiedlichen Modi getroffen werden. Dem politischen Entscheidungsmodus der parlamentarischen Demokratien der Mitgliedstaaten, stellt er – ohne die beeindruckende institutionelle Entwicklung des Europäischen Parlaments außen vor zu lassen – den unpolitischen Modus der Europäischen Union entgegen.33 Darin scheint ein Widerspruch zu der These zu stecken, die europäische Kompetenzordnung sei politisiert und unterscheide sich dadurch kategorial vom staatsrechtlichen Kompetenzdenken. Das ist aber nur scheinbar der Fall. Denn auf europäischer Ebene ist als erster Schritt die Kompetenzzuordnung für sich politisch verhandelbar. Es folgt die Kompetenzausübung, d. h. etwa die Rechtsetzung, die aber im Grunde nur noch die Verschriftlichung des politischen Willens ist, dass die Europäische Union einen bestimmten Gegenstand regelt. Die Zielbezogenheit der europäischen Kompetenzordnung begründet deren Politizität. Eine exekutivisch konsentierte Sachnotwendigkeit begründet eine europäische Wahrnehmungsbefugnis, die die demokratische Tiefendimension einer Kompetenzordnung unbeachtet lässt. Diese Kritik ist bei Götz schon in dem Aufsatz zur Agrarstrukturpolitik zu finden. Sie ist gleichwohl vorsichtiger und in anderen Worten formuliert.34 Seine Kompetenzkritik, die immerhin zur einer Gegenstellungnahme „aus Brüssel“ Anlass gab, ist nämlich nicht allein auf den Wortlaut des Vertrages und dessen Systematik gestützt – rechtspositivistische Methodenargumente, die es ohnehin schwer haben. Götz verweist darauf, dass das agrarpolitische Programm der Kommission tief in andere Schichten „unserer Rechtsordnung“, besonders in das Recht der Bodennutzung hineinführe. Die deutsche Rechtsordnung kenne jedoch keine verbindliche Planung landwirtschaftlicher Bodennutzung und mit dem Hinweis auf die Parallele des Bauplanungsrechts lenkt Götz die Aufmerksamkeit auf den Träger der Planungshoheit: die Gemeinden. Die von der Kommission beanspruchte Planungskompetenz drehe den Verantwortungszusammenhang um, indem nunmehr die Bodennutzungsplanung „ganz oben“ liegen solle. Letztlich mit einem Subsidiaritätsargument beansprucht Götz die Verantwortung und Kompetenz für die Mitgliedstaaten – damit ist die Legitimationsfunktion der Kompetenz angesprochen. Denn gerade das knappe Gut „Boden“ ist ein Gegenstand, der die identitären Strukturen der Mitgliedstaaten bestimmen kann. Erinnert sei etwa an die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone und die Rolle der Landwirtschaft in Frankreich. Die Debatte über die Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Union wird heute getragen von der regierungsamtlichen Initiative in den 33 Dieter Grimm, Europa – Ja, aber welches?, Merkur, Nr. 787, Dezember 2014, S. 1045 (1057). Zu Art. 352 AEUV siehe BVerfGE 123, 267 (394 ff., Rn. 325 ff.; 436, Rn. 417) – Lissabon (2009). 34 Volkmar Götz, Supranationale und staatliche Kompetenzen auf dem Gebiet der Agrarpolitik, Agrarrecht 1 (1971), S. 33 (37).
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Niederlanden, deren Regierung 2013 einen Bericht vorlegte,35 und der im Dezember 2014 abgeschlossenen, umfassenden Kompetenzanalyse der britischen Regierung.36 Beide Initiativen nehmen einen ähnlichen Blickwinkel wie die skizzierte Kritik ein. Sie fragen danach, was von den Mitgliedstaaten in ihrem jeweiligen politischen Modus geregelt werden sollte. Die Frageperspektive ist jedoch induktiv, d. h. es werden konkrete Sachfragen und ihre europäische Regelung bewertet, aus denen die Schlussfolgerung einer verbesserungswürdigen abstrakten Kompetenzverteilung – codiert unter dem Stichwort „Subsidiarität“ – gezogen wird.
VII. Sofern der Leser die analytische Beschreibung teilt, ist schließlich zu fragen, welchen Lösungsansatz es für das Kompetenzproblem in der europäischen Integration gibt. Dass über die Analyse eines „Kompetenzproblems“ der Europäischen Union Dissens besteht, zeigt etwa Mayers Hinweis auf die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen europäischer Integration. In der „postnationalen Konstellation“ könne es eine klassische Kompetenzabgrenzung nicht mehr geben, weil keine hierarchisch gegliederte Hoheitsgewalt bestünde.37 Dieses Argument beruht auf einer die rechtswissenschaftliche Diskussion seit einiger Zeit bestimmenden Makrothese: dem Rechtspluralismus. In einem politischen Raum, wie der Bundesrepublik Deutschland, existieren mindestens zwei voneinander formal getrennte Rechtsetzungszentren, die für ihr Recht jeweils gleichzeitig einen autonomen Geltungsgrund annehmen.38 Mit dem Begriff des Rechtspluralismus stellt sich die rechtswissenschaftliche Debatte in die Tradition, die auf Eugen Ehrlich und seine Entdeckung des lebenden Rechts zurückreicht,39 die die Rechtswissenschaft unter das Etikett der Freirechtsschule gefasst hat. Der Rechtspluralismus wird heute als vielversprechender, dritter Weg zwischen Monis35
Testing European legislation for subsidiarity and proportionality – Dutch list of points for action (Orig. niederld.) v. 21. 6. 2013, zugänglich unter http://www.government.nl/docu ments-and-publications/notes/2013/06/21/testing-european-legislation-for-subsidiarity-and-pro portionality-dutch-list-of-points-for-action.html. Dazu Michael Emerson, The Dutch wish-list for a lighter regulatory touch from the EU, Centre for European Policy Studies, 2013. 36 Review of the Balance of Competences between the United Kingdom and the European Union, zugänglich unter https://www.gov.uk/review-of-the-balance-of-competences. Dazu Michael Emerson, Proportionality needed in the subsidiarity debate in the EU – Appraisal of the British and Dutch initiatives, Centre for European Policy Studies, 2014. 37 Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der Europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 577 (606). 38 Zu den folgenden Gedanken siehe Frank Schorkopf, Rezension von Mattias Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht, Tübingen 2011, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 266 (2014), S. 102 – 109. 39 Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, München 1913 (1. Aufl.).
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mus und Dualismus gesehen. Er bietet eine Rechtsordnungen versöhnende Konzeption an, weil mehrere Rechtsordnungen prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander existieren können und nur für den Einzelfall, für den Kollisionsfall, entsprechende Regeln formuliert werden müssen.40 Im Grunde ist die theoretische Botschaft der rechtspluralistischen Grundannahme überschaubar. Denn eine Rechtsordnung nimmt unter den Bedingungen des Rechtspluralismus lediglich ihren Exklusivitätsanspruch zurück. Ein Staat akzeptiert etwa, dass auf seinem Territorium andere Rechtsordnungen gelten, die möglicherweise zeitgleich auf einen Sachverhalt angewendet werden. Zugleich treten die gesellschaftspolitischen Parallelen dieser Konzeption zu Tage, die nicht auf Exklusion und auf dem Wahrheitsanspruch eines Subjekts besteht, sondern auf Vermittlung im konkreten Einzelfall zwischen Gleichen. Unter den Gegenwartsbedingungen der Entgrenzung gesellschaftlicher Aktivität und der bewussten Internationalisierung ruhen auf dem Rechtspluralismus, der wiederum in Varianten konkretisiert wird, große Hoffnungen. Der Rechtspluralismus verspricht, nicht nur zu einer faktischen Koexistenz konkurrierender Regelungsansprüche, sondern zu deren normativer Integration zu gelangen. Unter den Bedingungen moderner Verfassungsstaatlichkeit sind aber auch kritische Fragen an das Konzept zu richten: Woher kommt das auf dem Territorium eines demokratischen Rechtsstaates konkurrierende Recht? Wer hat es unter welchen Bedingungen gesetzt? Wird das konkurrierende Recht nach denselben Maßstäben legitimiert, wie sie aus dem Konstitutionalismus heraus entstanden und im Verfassungsstaat westlicher Prägung selbstverständlich sind? Die Antworten für die europäische Integration – vom Standpunkt eines Mitgliedstaates – lauten: Das konkurrierende Recht kommt von der Europäischen Union, die dazu von den Mitgliedstaaten nach deren verfassungsrechtlichen Regeln ermächtigt worden ist. Das ist nun aber beinahe ein zirkuläres Argument, weil Rechtspluralität keine Tatsache, sondern „Pluralität“ ein normatives Konzept ist. Das politische Gemeinwesen, das deutsche Volk in dem völkerrechtlich anerkannten Territorium mit Namen Bundesrepublik Deutschland, delegiert mit anderen europäischen Gemeinwesen Hoheitsgewalt auf ein anderes Subjekt. Es tut dies nicht durch die Delegation eines Generalhandlungsmandats, sondern durch Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen für bestimmte Aufgaben. Damit sind zielbezogene, von den EU-Organen autonom ausgelegte Kompetenzen, also die Finalität nicht zu vereinbaren. Das in der Überschrift genannte Rechtsproblem besteht also darin, dass die politischen Grundfragen der Machtverteilung in Europa geklärt werden müssen, um die Kompetenzordnung zu verrechtlichen.41 Wir sollten die Kompetenzdebatte als Finalitätsdebatte führen. Wir sollten uns nach Zielen, Aufgaben und Sinn der europäi40
Lars Viellechner, Responsiver Rechtspluralismus, Der Staat 2012, S. 559 – 580. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Gutachten 2/13 wieder die Diktion des europäischen Verfassungsrechts aufgenommen, siehe EuGH, Gutachten 2/13 vom 18. 12. 2014, Rn. 156 – 164; zur Kategorie des gegenseitigen Vertrauens, ebd., Rn. 168. 41
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schen Integration fragen. Wir sollten hinterfragen, ob in allen Sachbereichen die zielbezogenen Kompetenznormen der Europäischen Union noch erforderlich sind. Dann werden wir quasi nebenbei auch Antworten für einen trennschärferen Maßstab bei der Subsidiaritätsprüfung finden. In einem letzten Schritt müssen die Bürger in den Mitgliedstaaten eine solche politische Ordnung wollen. Sie müssen sich auf die Normativität einer verrechtlichten Kompetenzordnung verlassen können. Sie müssen ihrer „Regierung“ und „Europa“ vertrauen können, dass die Kompetenzen unverfügbar sind. Wollen sie das nicht oder können sie nicht vertrauen, ist die Politizität der Kompetenzordnung hinzunehmen. Die Kompetenzdebatte ist deshalb ein wichtiger Gradmesser für den Stand der europäischen Integration.
Der Ultra-vires-Vorbehalt des BVerfG – Judikative Kompetenzanmaßung oder legitimes Korrektiv? Markus Ludwigs*
I. Einführung 1. Problemstellung Die Kompetenzordnung der Europäischen Union ist bereits seit langem Gegenstand der Kritik in der Europarechtswissenschaft. Auch Volkmar Götz hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das System der begrenzten Einzelermächtigung in Theorie und Praxis aufgeweicht wird.1 Ursächlich hierfür ist vor allem die zentripetale Tendenz der Kompetenzverteilung.2 Diese wird durch zielorientierte, vielfach nicht gegenständlich umgrenzte Rechtsetzungsbefugnisse der EU geprägt. Paradigmatisch hierfür steht die Binnenmarktkompetenz des Art. 114 AEUV, der es an praktisch wirksamen rechtsdogmatischen Halteseilen fehlt.3 Hinzu kommt, dass der Gerichtshof sein Mandat zur Sicherung der Kompetenzordnung bislang nur zurückhaltend wahrgenommen hat. Im Gegenteil ist wiederholt * Prof. Dr. Markus Ludwigs ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Eine leicht gekürzte Fassung des Beitrags ist bereits erschienen in NVwZ 2015, 537 – 543. 1 Volkmar Götz, Die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten nach dem Europäischen Rat von Laeken, in: ders./Martínez Soria (Hrsg.), Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, Baden-Baden 2002, S. 83 (99); siehe auch ders., Kompetenzverteilung und Kompetenzkontrolle in der EU, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, Baden-Baden 2004, S. 43 (46 ff., 56); ferner Wolfgang Durner/Christian Hillgruber, Review of the Balance of Competences, in: ZG 2014, 105 (111 ff.); Hans Hugo Klein, Integration und Verfassung, AöR 139 (2014), 165 (186). 2 Volkmar Götz (Fn. 1), in: ders./Martínez Soria (Fn. 1), S. 86 ff.; Wolfgang Durner/ Christian Hillgruber, ZG 2014, 105 (112 ff.); Hans-Jürgen Papier, Das Subsidiaritätsprinzip – Bremse des europäischen Zentralismus?, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), Staat im Wort – Festschrift für Josef Isensee, Heidelberg 2007, S. 691 (697); Hans Hugo Klein (Fn. 1), S. 185. 3 Volkmar Götz (Fn. 1), in: ders./Martínez Soria (Fn. 1), S. 99; ders., Rechtsangleichungskompetenz der EG – „Tabakwerbeverbot“, JZ 2001, 34 (36); näher Markus Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag, Baden-Baden 2004, insb. S. 184 ff.
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der Vorwurf erhoben worden, der EuGH habe Kompetenzverletzungen anderer Organe gebilligt oder seine eigenen Befugnisse überschritten.4 Die Liste der vermeintlichen „Sündenfälle“ ist lang und reicht von der Judikatur zur unmittelbaren Richtlinienwirkung5 über die extensive Auslegung der Binnenmarktkompetenz u. a. im zweiten Tabakwerbeurteil6 bis hin zur „Entdeckung“ eines Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung in der Rechtssache Mangold7. Aktuell diskutierte Beispiele möglicher Kompetenzüberschreitungen der EU bilden etwa die Verordnung zur Stärkung der Bankenaufsicht in der EU8 oder die Kommissionsvorschläge für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht9 und zur Frauenquote in Unternehmen10. Fragt man nach Sicherungsmechanismen zugunsten der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“, fällt der Blick unweigerlich auf den Ultra-vires-Vorbehalt des BVerfG.11 Hiermit soll Kompetenzüberschreitungen der Unionsorgane dadurch Ein4 Darauf hinweisend auch Armin Hatje, „Ausbrechende Rechtsakte“ in der europäischen Gerichtsverfassung, in: Mehde/Ramsauer/Seckelmann (Hrsg.), Staat, Verwaltung, Information – Festschrift für Hans Peter Bull zum 75. Geburtstag, Berlin 2011, S. 137 (137 f.) m.w.N. 5 Für die zwischen BFH und BVerfG ausgetragene Kontroverse vgl. BVerfGE 75, 223 – Kloppenburg-Beschluss, mit Zusammenfassung der BFH-Sicht eines Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 und Art. 24 Abs. 1 GG auf S. 226 – 231. 6 EuGH, 12. 12. 2006 – Rs. C-380/03 – Slg. 2006, I-11573 Rn. 36 ff., 92 ff.; kritisch Markus Ludwigs, Case C-380/03, Federal Republic of Germany v. European Parliament and Council of the European Union (Tobacco Advertising II), Judgment of the Court (Grand Chamber) of 12 December 2006, CMLR 44 (2007), S. 1159 (1166 ff.). 7 EuGH, 22. 11. 2005 – Rs. C-144/04 – Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. – Mangold; bestätigt durch EuGH, 19. 01. 2010 – Rs. C-555/07 – Slg. 2010, I-365 Rn. 21 – Kücükdeveci; pointierte Kritik bei Lüder Gerken/Volker Rieble/Günther H. Roth/Torsten Stein/Rudolf Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt, München 2009, S. 17 ff., 37 ff., 41 ff.; siehe auch Roman Herzog/Lüder Gerken, „Stoppt den Europäischen Gerichtshof“, FAZ v. 8. 9. 2008, S. 8. 8 Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15. 10. 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank, ABl.EU 2013, Nr. L 287/63; ablehnend zur Abstützung auf Art. 127 Abs. 6 AEUV: Jörn Axel Kämmerer, Bahn frei der Bankenunion? Die neuen Aufsichtsbefugnisse der EZB im Lichte der EU-Kompetenzordnung, NVwZ 2013, 830 (832 ff.), der auch keinen anderen Kompetenztitel für einschlägig hält. 9 KOM(2011) 635 endg.; kritisch zur Wahl von Art. 114 AEUV als Kompetenzgrundlage z. B.: Oliver Remien, Allgemeine parallele Zivilrechtskompetenz der EU?, in: Witzleb/Ellger/ Mankowski/Merkt/ders. (Hrsg.), Festschrift für Dieter Martiny zum 70. Geburtstag, Tübingen 2014, S. 987 (990 ff., 999 ff.); weitergehend auch gegen eine Abstützung auf Art. 352 AEUV: Markus Ludwigs, Verwirklichung des Binnenmarktes durch ein „Gemeinsames Europäisches Kaufrecht“? – Das optionale Modell im Kreuzfeuer der Kompetenzkritik, EuZW 2012, 608 (609 ff.). 10 COM(2012) 614 final; kritisch zur Heranziehung von Art. 157 Abs. 3 AEUV als Rechtsgrundlage: Patricia Sarah Stöbener/Annika Böhm, Kompetenzen ohne Grenzen – Der Vorschlag der EU-Kommission zur Frauenquote für Aufsichtsräte, EuZW 2013, 371 (372 ff.) m.w.N., die auch keine andere tragfähige Rechtsgrundlage erkennen. 11 Monographisch Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, München 2000, S. 67 ff.; zur Rezeption durch die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaa-
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halt geboten werden, dass den entsprechenden Maßnahmen eine Wirkung innerhalb der nationalen Rechtsordnung abgesprochen wird. Nach ersten Andeutungen im Kloppenburg-Beschluss von 198712 wurde der Kompetenzvorbehalt in den Urteilen zum Maastricht- und zum Lissabon-Vertrag sowie im Honeywell-Beschluss sukzessive konkretisiert.13 Seine Aktivierung erschien gleichwohl derart realitätsfern, dass dem BVerfG bereits die Rolle des Hundes, der bellt, aber nicht beißt, zugewiesen wurde.14 2. Angedrohte Aktivierung im OMT-Vorlagebeschluss Diese „Beißhemmung“ scheint das Gericht im Zuge der erstmaligen EuGH-Vorlage vom 14. Januar 2014 zum OMT (Outright Monetary Transactions)-Beschluss der Europäischen Zentralbank über den theoretisch unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen notleidender Euroländer auf dem Sekundärmarkt abgelegt zu haben. Der Zweite Senat betont hier explizit, dass der Beschluss im Falle eines Verstoßes gegen das geld- und währungspolitische Mandat der EZB bzw. gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung als Ultra-vires-Akt zu qualifizieren sei. Die untätigen deutschen Verfassungsorgane wären in diesem Fall ihrer Integrationsverantwortung nicht gerecht geworden.15 Die Resonanz auf den Vorlagebeschluss könnte nicht unterschiedlicher ausfallen. Handelt es sich – wie der frühere Verfassungsrichter U. Di Fabio meint – um ein Beispiel für die Offenheit gegenüber Europa im Rahmen des verfassungsrechtlichen Mandats?16 Oder hat der Zweite Senat in dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts zu sichern, seinerseits die Grenzen richterlicher Kompetenz überschritten, wie es das Sondervotum der Richterin G. Lübbe-Wolff nahelegt?17 Um diese Fragen zu beantworten, werden im Folgenden drei Schritte unternommen. Zunächst erfolgt eine gedrängte Darstellung des Ultra-vires-Vorbehalts in seiner Ausprägung durch das BVerfG (II.). Diese Judikatur wird sodann in einem zweiten: BVerfGE 134, 366 Rn. 30 – OMT; zur erstmaligen Aktivierung des Ultra-vires-Vorbehalts durch das tschechische Verfassungsgericht im Fall Holoubec siehe Attila Vincze, Das tschechische Verfassungsgericht stoppt den EuGH – zum Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts Pl. ÚS 5/12 vom 14. 2. 2012, EuR 2013, 194 (198 ff.). 12 Instruktiv hierzu Volkmar Götz, Das Maastricht-Urteil des BVerfG, JZ 1993, 1081 (1083 f.). 13 Für einen Überblick zur Ultra-vires-Rechtsprechung des BVerfG: Karsten Schneider, Der Ultra-vires-Maßstab im Außenverfassungsrecht, AöR 139 (2014), 196 (201 ff.). 14 J.H.H. Weiler, The ,Lisbon Urteil‘ and the Fast Food Culture, European Journal of International Law 20 (2009), 505 (505); siehe auch Christian Hillgruber, Ohne rechtes Maß? Eine Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach 60 Jahren, JZ 2011, 861 (870 mit Fn. 100) zurückhaltender Rudolf Streinz, in: Altmeppen/Fitz/Honsell (Hrsg.), Festschrift für Günther H. Roth zum 70. Geburtstag, München 2011, S. 823 (830). 15 BVerfGE 134, 366 Rn. 33, 36 f. – OMT. 16 Udo Di Fabio, Karlsruhe Makes a Referral, German Law Journal 15 (2014), 107 (109). 17 Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 134, 366 (419 Rn. 105) – OMT.
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ten Schritt einer allgemeinen Kritik daraufhin unterzogen, ob es sich beim Ultravires-Vorbehalt um ein legitimes Korrektiv oder eine judikative Kompetenzanmaßung handelt (III.). Darauf aufbauend ist schließlich drittens eine kritische Würdigung des OMT-Vorlagebeschlusses vom 14. Januar 2014 vorzunehmen, in die auch die Schlussanträge des Generalanwalts P. Cruz Villalón vom 14. Januar 2015 einzubeziehen sind (IV.).
II. Der Ultra-vires-Vorbehalt „in a nutshell“ 1. Etablierung im Maastricht- und im Lissabon-Urteil Die dogmatische Grundlegung der Ultra-vires-Doktrin erfolgte im MaastrichtUrteil von 1993. Das BVerfG betonte hier, dass EG-Rechtsakte, die keine Grundlage in einer vertraglichen Einzelermächtigung finden, nicht vom Rechtsanwendungsbefehl im nationalen Zustimmungsgesetz gedeckt seien.18 Derartige „ausbrechende Rechtsakte“ entfalteten im deutschen Hoheitsgebiet keine Rechtswirkungen und könnten vom BVerfG insoweit für unanwendbar erklärt werden.19 Diese noch eher vagen Ausführungen sind durch das Lissabon-Urteil aus dem Jahr 2009 in fünffacher Hinsicht präzisiert worden20: Das BVerfG distanziert sich hier erstens vom Begriff des „ausbrechenden Rechtsaktes“ und spricht nunmehr explizit von einer „Ultra-vires-Kontrolle“.21 Zweitens erweitert das Gericht seine Kontrolle über die eigentliche Kompetenzabgrenzung hinaus auch auf das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzausübungsschranke.22 Drittens nehmen die Karlsruher Richter das Kontrollmonopol zur Feststellung eines Ultra-vires-Handelns der EU für sich in Anspruch. Die Fachgerichte werden auf eine konkrete Normenkontrolle analog Art. 100 Abs. 1 GG verwiesen.23 Viertens beschränkt das BVerfG seine Prüfungskompetenz auf Fälle, in denen Rechtsschutz auf Unionsebene nicht zu erlangen 18
BVerfGE 89, 155 (190) – Maastricht. BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht, mit Verweis auf BVerfGE 58, 1 (30 f.) – Eurocontrol I; 75, 223 (235, 242) – Kloppenburg. 20 Vgl. bereits Markus Ludwigs, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, 1. Aufl., Köln 2011, Kap. 21 Rn. 4 m.w.N. 21 BVerfGE 123, 267 (353 f.) – Lissabon; zur hierin liegenden Rückführung auf die im Völkerrecht anerkannte Figur des Handelns ohne Kompetenz Frank Schorkopf, Die Europäische Union im Lot, EuZW 2009, 718 (721) m.w.N. 22 BVerfGE 123, 267 (353 f.) – Lissabon. 23 Kritisch Klaus Ferdinand Gärditz/Christian Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, 872 (873 f.); Andreas Funke, Virtuelle verfassungsgerichtliche Kontrolle von EU-Rechtsakten – der Schlussstein?, ZG 2011, 166 (177); zustimmend dagegen Christian Calliess, Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union: Über das Ziel hinausgeschossen …, ZEuS 2009, 559 (566 f.); Matthias Ruffert, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, DVBl. 2009, 1197 (1206). 19
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ist.24 Gefordert ist mithin eine vorherige Befassung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 Abs. 3 AEUV. Schließlich beschränkt das Gericht fünftens seine Prüfungskompetenz explizit auf Fälle von „ersichtlichen Grenzüberschreitungen“.25 2. Ausdifferenzierung des Prüfungsmaßstabs im Honeywell-Beschluss Dieser letztgenannte Maßstab der „ersichtlichen Grenzüberschreitung“ bildet gleichsam das Herzstück der Ultra-vires-Doktrin. Im Lichte des Lissabon-Urteils lag zunächst eine Deutung nahe, wonach hiermit klare und offensichtliche Kompetenzüberschreitungen adressiert werden sollten.26 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, weshalb Teile des Schrifttums im Vorfeld der Honeywell-Entscheidung vom 6. Juli 2010 prognostizierten, das Verfassungsgericht werde den vom EuGH im Mangold-Urteil „entdeckten“ Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung für in Deutschland unanwendbar erklären.27 Der Zweite Senat ist dieser Einschätzung jedoch nicht gefolgt.28 Stattdessen verengten die Richter kurzerhand den Prüfungsmaßstab, indem sie das Kriterium der „ersichtlichen Grenzüberschreitung“ weiter ausdifferenzierten. Ein nunmehr geforderter hinreichend qualifizierter Kompetenzverstoß soll danach nur dann anzunehmen sein, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind29 : Zum einen muss das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt „offensichtlich“ sein. Zum anderen muss der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen den Mitgliedstaaten und der EU „zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führ[en]“. Letzteres wurde vom Gericht mit Blick auf den allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung verneint.30
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BVerfGE 123, 267 (353 f.) – Lissabon. Ibidem. 26 Vgl. insoweit auch das Sondervotum Landau, BVerfGE 126, 268 (318 ff., 322) – Honeywell. 27 Lüder Gerken/Volker Rieble/Günther H. Roth/Torsten Stein/Rudolf Streinz (Fn. 7), S. 41 ff.; siehe auch Jens M. Schubert, Europarechtswidrigkeit von § 622 Abs. 2 S. 2 BGB – Anmerkung zum EuGH-Urteil vom 19. 01. 2010 (Az: C-555/07, abgedruckt in EuZW 2010, 177), EuZW 2010, 180 (183). 28 BVerfGE 126, 286 (300 ff.) – Honeywell; kritisch Hans-Peter Folz, Quis custodiet – Die ultra vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht nach Honeywell, EuZA 2011, 308 (313 ff.). 29 BVerfGE 126, 286 [LS Nr. 1.a) und 304 f.] – Honeywell, dort auch die Zitate in den beiden nachfolgenden Sätzen; siehe ferner BVerfGE 134, 366 Rn. 37 – OMT. 30 BVerfGE 126, 286 (309 ff.) – Honeywell. 25
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3. Prozedurale Verschiebungen durch den OMT-Vorlagebeschluss Den derart ausdifferenzierten Ultra-vires-Vorbehalt hat das BVerfG seit der Honeywell-Entscheidung wiederholt bestätigt.31 Ein Beispiel hierfür bildet auch der OMT-Vorlagebeschluss vom 14. Januar 2014. Dort hält der Zweite Senat zumindest verbal an den Kriterien der Offensichtlichkeit und Strukturwirksamkeit fest.32 Das Evidenzkriterium wird vom Gericht allerdings nicht konsequent angewandt und dadurch in seiner Bedeutung nivelliert. Hierauf wird noch (unter IV.) näher einzugehen sein. An dieser Stelle genügt der Hinweis auf zwei prozedurale Verschiebungen, die mit dem OMT-Vorlagebeschluss verbunden sind und allgemeine Bedeutung haben.33 Zum einen hat der Zweite Senat angenommen, dass bei hinreichend qualifizierten Kompetenzüberschreitungen der EU nicht nur positive Akte deutscher Verfassungsorgane, sondern auch deren bloße Untätigkeit gerügt werden können.34 Zum anderen wurde klargestellt, dass Ultra-vires-Akte der EU unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 GG mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar sind. Dabei soll es auch nicht darauf ankommen, ob zugleich eine Verletzung der Identitätsgarantie aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG nachgewiesen wird.35 In übergreifender Perspektive folgt hieraus, dass das BVerfG dem Ultra-vires-Vorbehalt eine eigenständige Bedeutung neben dem im Lissabon-Urteil36 geschärften Identitätsvorbehalt beimisst.37 Es muss mit anderen Worten nicht jede Kompetenzüberschreitung zugleich einen Verstoß gegen die Identitätsgarantie beinhalten, damit der Ultra-vires-Vorbehalt aktiviert wird. 4. Zwischenfazit Der Ultra-vires-Vorbehalt stellt einen ausdifferenzierten Sicherungsmechanismus gegenüber Kompetenzüberschreitungen der Unionsgewalt dar. Er knüpft dogmatisch an das Zustimmungsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG an und wurde vom BVerfG seit dem Maastricht-Urteil als eigenständiger Vorbehalt entwickelt. Die Kompetenzkontrolle erfasst neben der Zuständigkeitsverteilung auch das Subsidiaritätsprinzip 31
BVerfGE 129, 78 (100) – Cassina; BVerfGE 133, 277 Rn. 91 – Antiterrordateigesetz. BVerfGE 134, 366 Rn. 37 – OMT. 33 Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 134, 366 (419 Rn. 119 f., 121 ff.) – OMT; Jörg Ukrow, Von Luxemburg lernen heißt Integrationsgrenzen bestimmen, ZEuS 2014, 119 (126 ff.). 34 BVerfGE 134, 366 Rn. 33, 53, siehe auch (für den Organstreit) Rn. 54 – OMT. 35 BVerfGE 134, 366 Rn. 37, 51 ff. – OMT. 36 BVerfGE 123, 267 (353 f.) – Lissabon; zur Entwicklung: Peter M. Huber, Verfassungsstaat und Finanzkrise, Baden-Baden 2014, S. 16 ff. 37 Vgl. auch Jan Hendrik Klement, Der Euro und seine Demokratie, ZG 2014, 169 (188); näher zur Diskussion um das Verhältnis von Ultra-vires-Vorbehalt, Identitätsvorbehalt und Grundrechtsvorbehalt: Hans-Georg Dederer, Die Grenzen des Vorrangs des Unionsrechts – Zur Vereinheitlichung von Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitäskontrolle, JZ 2014, 313 (315 ff.) m.w.N. 32
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als Kompetenzausübungsschranke und kann alleine vom BVerfG, nach vorheriger Befassung des EuGH, ausgeübt werden. Ihre prozessuale Durchsetzung wird durch die Hebelfunktion des Art. 38 Abs. 1 GG und die Möglichkeit der Rüge auch einer bloßen Untätigkeit der Verfassungsorgane effektuiert.
III. Kritik der BVerfG-Judikatur im Allgemeinen Sind damit die Grundstrukturen des Kompetenzvorbehalts skizziert, gilt es im Folgenden, die grundsätzliche Tragfähigkeit der verfassungsgerichtlichen Judikatur zu hinterfragen. Dabei sollen zwei zentrale Einwände in den Fokus gerückt werden: Die zweifelhafte dogmatische Grundlage des Ultra-vires-Vorbehalts und die systemfremde Etablierung einer actio popularis zu seiner Durchsetzung. 1. Fragwürdige dogmatische Grundlage Mit Blick auf die dogmatische Grundlage ist dem BVerfG zunächst darin zuzustimmen, dass sich die Öffnung der deutschen Rechtsordnung zugunsten des Unionsrechts nur gegenüber kompetenzgemäßem Handeln vollzieht.38 Nehmen die EU-Organe eine Zuständigkeit in Anspruch, für die sich in den Verträgen keine Ermächtigungsgrundlage findet, wird das Handeln nicht vom Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes i.S. des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG erfasst. Insoweit ist der im Maastricht-Urteil zugrunde gelegten39, auf Vorarbeiten des Berichterstatters P.Kirchhof40 zurückgehenden Brückentheorie zuzustimmen. Das von den Unionsorganen erlassene Recht tritt bildlich gesprochen über die „Brücke“ des Zustimmungsgesetzes in die nationale Rechtsordnung ein. Zu betonen ist aber, dass mit dieser Feststellung noch nichts darüber gesagt ist, wem die Rolle des „Brückenwärters“ zukommt.41 Insoweit ist zunächst festzuhalten, dass die inhaltliche Kontrolle der Kompetenzwidrigkeit europäischer Rechtsakte dem BVerfG jedenfalls an keiner Stelle explizit zugewiesen wird. Auch vermag es nicht zu überzeugen, wenn das Gericht die Prüfungskompetenz als eine Art Annex zu den materiell-rechtlichen Rangordnungsfragen betrachtet.42 Dabei bliebe unbeachtet, dass mit dem Zustimmungsgesetz zu den europäischen Verträgen die 38
Eingehend Alexander Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, Tübingen 2014, S. 262 f. m.w.N. 39 BVerfGE 89, 155 (188, 190) – Maastricht. 40 Grundlegend Paul Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, Heidelberg 1992, § 183 Rn. 63 ff. 41 Darauf mit Recht hinweisend auch Alexander Proelß (Fn. 38), S. 265; a.A. z. B. Dieter Grimm, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/2, Heidelberg 2009, § 168 Rn. 41. 42 Explizit Peter M. Huber, in: Merten/Papier (Fn. 41), § 172 Rn. 71; siehe auch Armin Hatje (Fn. 4), in: Mehde/Ramsauer/Seckelmann (Fn. 4), S. 144.
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letztverbindliche Kontrollbefugnis über die Gültigkeit von Unionsrechtsakten auf den Gerichtshof der EU übertragen wurde.43 Den Beleg hierfür liefert eine Zusammenschau von Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV und Art. 344 AEUV. Dem Gerichtshof der EU wird dort zum einen die Aufgabe der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ zugewiesen. Zum anderen verpflichten sich die Mitgliedstaaten explizit dazu, „Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als hierin vorgesehen zu regeln“. Für die Kontrolle der Kompetenzgemäßheit des Handelns der Unionsorgane sehen die Verträge mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUVauch einen wirksamen Rechtsbehelf vor. Daneben ist grundsätzlich kein Raum für eine parallele Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG. Eine Ausnahme erscheint nur insoweit denkbar, wie sich eine verfassungsgerichtliche Reservezuständigkeit aus Art. 23 GG selbst ableiten lässt.44 Den einzigen Anknüpfungspunkt hierfür bieten die in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Verfassungsidentität gesetzten Grenzen des Integrationsprogramms.45 Die deutsche Verfassung statuiert einen souveränitätswahrenden Kontrollvorbehalt mit anderen Worten nur insoweit, wie die „unverfügbare“ verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist. Die Konsequenz hieraus ist freilich, dass dem Ultra-vires-Vorbehalt neben dem Identitätsvorbehalt keine eigenständige Bedeutung zukommen kann. Die Kompetenzkontrolle geht vielmehr vollständig in der Identitätskontrolle auf. Folgerichtig sind Kompetenzüberschreitungen der EU entgegen der Judikatur des BVerfG46 auch nur dann „strukturwirksam“, wenn sie sich auf Sachbereiche beziehen, die zur verfassungsrechtlichen Identität i.S. des Art. 79 Abs. 3 GG zählen. Allein ein solches enges Verständnis entspricht dem positiv-rechtlichen Befund des Grundgeset43 Ebenso Brun-Otto Bryde, Transnationale Rechtsstaatlichkeit, in: Hohmann-Dennhardt/ Masuch/Villiger (Hrsg.), Grundrechte und Solidarität: Durchsetzung und Verfahren – Festschrift für Renate Jaeger, Kehl am Rhein 2011, S. 65 (69 ff.); Ulrich Everling, Europas Zukunft unter der Kontrolle der nationalen Verfassungsgerichte, EuR 2010, 91 (100 ff.); Franz C. Mayer/ Maja Walter, Die Europarechtsfreundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss, JURA 2011, 532 (539 f.); Alexander Proelß (Fn. 38), S. 265 f.; Matthias Wendel, Kompetenzrechtliche Grenzgänge – Karlsruhes Ultra-vires-Vorlage an den EuGH, ZaöRV 74 (2014), 615 (618). 44 In diese Richtung Günther Hirsch, Der EuGH im Spannungsverhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, NJW 2000, 1817 (1819); Alexander Proelß (Fn. 38), S. 266 ff.; Stefanie Schmahl, Grundrechtrechtsschutz im Dreieck von EU, EMRK und nationalem Verfassungsrecht, EuR 2008/Beiheft 1, S. 7 (34) 45 Soweit eine Erweiterung der „Tabuzone“ des Art. 79 Abs. 3 GG unter Rekurs auf die (integrationssteuernde) Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG diskutiert wird, steht dem der Umkehrschluss aus der defensiv ausgerichteten Bestandssicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG entgegen (vgl. insoweit Matthias Herdegen, Europarecht, 16. Aufl., München 2014, § 10 Rn. 21; näher Claus Dieter Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl., München 2010, Art. 23 Abs. 1 Rn. 49 m.w.N.); zur Begrenzung der Identitätskontrolle auf Art. 79 Abs. 3 GG deutlich BVerfGE 135, 317 Rn. 125 – ESM II. 46 BVerfGE 134, 366 Rn. 37, 51 ff. – OMT; siehe auch schon BVerfGE 126, 286 (307) – Honeywell.
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zes und gewährleistet durch die Anknüpfung an die Ewigkeitsgarantie eine – bei aller Auslegungsbedürftigkeit – hinreichende Klarheit der anzuwendenden Kriterien.47 Schließlich hätte die Rückführung des Ultra-vires-Vorbehalts auf den Identitätsvorbehalt auch eine schärfere Konturierung der prozessualen Durchsetzung zur Folge. 2. Etablierung einer systemfremden actio popularis Dies leitet über zum zweiten Kritikpunkt an der verfassungsgerichtlichen Judikatur: Der systemfremden Etablierung einer actio popularis. Im Ausgangspunkt ist insoweit an die im OMT-Vorlagebeschluss anerkannte Hebelwirkung des Wahlrechts als grundrechtsgleichem Recht zu erinnern. Danach eröffnet Art. 38 Abs. 1 GG den Weg zum BVerfG, ohne dass zugleich eine Verletzung der Verfassungsidentität nachgewiesen werden müsste.48 Im Übrigen wird auch keine Kopplung der Ultravires-Rüge an die Verletzung materieller Grundrechte gefordert. Vor diesem Hintergrund liegt die Einschätzung nahe, dass es dem Zweiten Senat zumindest auch um die Mobilisierung des Einzelnen zur Gewährleistung der verfassungsgerichtlichen Prüfungskompetenz geht. Der Preis hierfür ist die Etablierung einer systemfremden actio popularis.49 Wie im Sondervotum des Richters M. Gerhardt pointiert hervorgehoben wird, hat der Zweite Senat „die Tür zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geöffnet, den das Grundgesetz nicht kennt.“50 Irgendeiner der fast 65 Millionen Wahlberechtigten wird immer dazu bereit sein, Verfassungsbeschwerde gegen bedeutsame Integrationsschritte einzulegen.51 Den Beleg hierfür liefert nicht zuletzt die Zahl von mehr als 40.000 Beschwerdeführern im Verfahren gegen den ESM und 47
Zur Problematik der Unbestimmtheit der Kontrollvorbehalte: Rainer Wahl, Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten. Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), 587 (600). 48 BVerfGE 134, 366 Rn. 44 ff., 53 – OMT; deutlich: Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 134, 366 (419 Rn. 120) – OMT; siehe auch BVerfGE 135, 317 Rn. 125 – ESM II: „Einen ,Anspruch auf Demokratie‘ vermittelt Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG jenseits von Ultra-viresKonstellationen (…) nur insoweit, als durch einen Vorgang demokratische Grundsätze berührt werden, die Art. 79 Abs. 3 GG auch dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzieht (…)“ (Hervorhebung durch den Verf.). 49 Ebenso Werner Heun, Eine verfassungswidrige Verfassungsgerichtsentscheidung – der Vorlagebeschluss des BVerfG vom 14. 1. 2014, JZ 2014, 331 (332); Franz C. Mayer, Rebels without a cause? Zur OMT-Vorlage des Bundesverfassungsgerichts, EuR 2014, 473 (502 ff.); Martin Nettesheim, Kompetenzdenken als Legitimationsdenken, JZ 2014, 585 (588); Matthias Ruffert, Europarecht: Vorlagebeschluss des BVerfG zum OMT-Programm, JuS 2014, 373 (374); Jörg Ukrow (Fn. 33), ZEuS 2014, 119 (127 f.); Matthias Wendel (Fn. 43), ZaöRV 74 (2014), 615 (633 ff.); eingehend Klaus F. Gärditz, Beyond Symbolism: Towards a Constitutional Actio Popularis in EU Affairs? A Commentary on the OMT Decision of the Federal Constitutional Court, German Law Journal 15 (2014), 183 (190 ff.); a.A. Peter M. Huber (Fn. 36), S. 42 ff., 46 ff.; differenzierend Henner Gött, Die ultra vires-Rüge nach dem OMTVorlagebeschluss des Bundesverfassungsgerichts, EuR 2014, 514 (534 ff.). 50 Sondervotum Gerhardt, BVerfGE 134, 430 Rn. 138 – OMT. 51 Jan Henrik Klement, Der Euro und seine Demokratie, ZG 2014, 169 (176).
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den Fiskalpakt. Die „Macht der Bürger“ ist aber, wie im Schrifttum pointiert formuliert wurde, die „Macht des Gerichts“.52 Bei der hier vorgeschlagenen Rückführung des Ultra-vires-Vorbehalts auf die Identitätsgarantie würde diese Kritik zumindest entschärft werden. Denn beim Identitätsvorbehalt ist eine Berufung auf Art. 38 Abs. 1 GG nur denkbar, wenn der Beschwerdeführer substantiiert darlegt, dass aufgrund einer mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbaren Entäußerung von Kompetenzen die Entleerung seines Wahlrechts droht.53 Für ein solches materielles Verständnis des Art. 38 Abs. 1 GG spricht, dass der letztlich in der Würde des Menschen wurzelnde Anspruch auf Demokratie hinfällig wäre, wenn das Parlament Kernbestandteile politischer Selbstbestimmung aufgeben und dem Bürger dauerhaft seine demokratischen Einflussmöglichkeiten entziehen würde.54 Dieses anzuerkennende materielle „Recht auf Demokratie“ droht sich aber durch die Ausweitung im Rahmen der Ultra-vires-Rüge in eine actio popularis zu verwandeln.55 Eine Konsequenz, die mit der Rückführung des Ultra-vires-Vorbehalts auf den Identitätsvorbehalt verhindert werden würde. 3. Zwischenfazit Die Ultra-vires-Doktrin des BVerfG ist durchgreifender Kritik ausgesetzt. Das Gericht unterscheidet nicht hinreichend zwischen der materiellen Frage nach einer Kompetenzüberschreitung der Unionsgewalt einerseits und der prozeduralen Frage nach der gerichtlichen Prüfungszuständigkeit andererseits.56 Dadurch wird ausgeblendet, dass die Rolle des „Brückenwärters“ im Grundsatz dem EuGH und nicht dem BVerfG zugewiesen ist. Eine Ausnahme gilt allein für Verletzungen der Identitätsgarantie aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG. Der Ultravires-Vorbehalt sollte vor diesem Hintergrund konsequent auf den Identitätsvorbe52
Jan Henrik Klement (Fn. 51), ZG 2014, 169 (176 f.). BVerfGE 129, 124 (167 ff.) – EFSF; BVerfGE 132, 195 (234 ff.) – ESM I; BVerfGE 135, 317 Rn. 122 – ESM II; grundlegend zur Subjektivierung von Art. 38 GG: BVerfGE 89, 155 (171 f.) – Maastricht; zur Rügemöglichkeit einer Fraktion im Organstreitverfahren vgl. BVerfGE 123, 267 (338 f.) – Lissabon. 54 Überzeugend BVerfGE 123, 267 (341); BVerfGE 129, 124 (169) – EFSF; zustimmend Dieter Grimm, Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union. Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), 475 (481); Wolfgang Kahl, Bewältigung der Staatsschuldenkrise unter Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts – ein Lehrstück zur horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung, DVBl. 2013, 197 (207); kritisch dagegen Christoph Schöneberger, Die Europäische Union zwischen »Demokratiedefizit« und Bundesstaatsverbot. Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), 535 (539 ff.); Daniel Thym, Europäische Integration im Schatten souveräner Staatlichkeit. Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsge richts, Der Staat 48 (2009), 559 (579); differenzierend Eckhard Pache, Das Ende der europäischen Integration?, EuGRZ 2009, 285 (296). 55 Pointiert Klaus F. Gärditz (Fn. 49), German Law Journal 15 (2014), 183 (190 ff., 192). 56 Instruktiv hierzu insb. Heiko Sauer, Jurisdiktionskonflikte im Mehrebenensystem, Heidelberg 2008, S. 165 ff.; siehe auch Alexander Proelß (Fn. 38), S. 265 f. 53
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halt zurückgeführt werden. Dies gilt umso mehr, als der vom BVerfG in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verortete Ultra-vires-Schutz des Einzelnen eine interpretatorische Überladung des Wahlrechts bedingt. Den Bürgerinnen und Bürgern wird eine prokuratorische Rechtsstellung zur Absicherung der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz eingeräumt; das Recht auf Demokratie mutiert zur systemfremden actio popularis.
IV. Kritik des OMT-Vorlagebeschlusses im Besonderen 1. Ultra-vires-Argumentation Nach dieser allgemeinen Kritik ist der Blick nunmehr im Speziellen auf den OMTVorlagebeschluss zu richten. Dabei zeigt sich, dass die Ultra-vires-Argumentation des BVerfG selbst dann nicht überzeugen kann, wenn man von einer eigenständigen Bedeutung des Kompetenzvorbehalts ausgeht.57 Aus der Vielzahl diskutierter Kritikpunkte, die von der zweifelhaften, durch Generalanwalt P. Cruz Villalón freilich bejahten58 Zulässigkeit der diktatartigen Vorlagefrage59 bis hin zum vagen Rechtsfolgeausspruch60 reicht, soll vorliegend der zentrale Einwand herausgegriffen werden: 57 Dezidierte Ablehnung bei Werner Heun (Fn. 49), JZ 2014, 331 ff.; kritisch auch Jürgen Bast, Don’t Act Beyond Your Powers: The Perils and Pitfalls of the German Constitutional Court’s Ultra Vires Review, German Law Journal 15 (2014), 167 (173 ff.); Claus Dieter Classen, Alle Macht den Richtern?, jM 2014, 345 (346 ff.); Franz C. Mayer (Fn. 49) EuR 2014, 473 (476 ff., 499 ff.); Alexander Thiele, Die EZB als fiskal- und wirtschaftspolitischer Akteur?, EuZW 2014, 694 (697 ff.); Jörg Ukrow (Fn. 33), ZEuS 2014, 119 (131 ff.); Matthias Wendel, (Fn. 43), ZaöRV 74 (2014), 615 (627 ff., 647 ff.); zustimmend dagegen Udo Di Fabio (Fn.16), German Law Journal 15 (2014), 107 ff.; Sebastian Müller-Franken, Anmerkung zu einer Entscheidung des BVerfG, Beschluss vom 14. 01. 2014 (2 BvR 2728/13; NVwZ 2014, 501) – Zur Unionsrechtskonformität des OMT-Beschlusses, NVwZ 2014, 514 f.; siehe auch Peter M. Huber (Fn. 36), S. 42 ff., 68 ff.; ferner Dietrich Murswiek, ECB, ECJ, Democracy, and the Federal Constitutional Court: Notes on the Federal Constitutional Court’s Referral Order from 14 January 2014, German Law Journal 15 (2014), 147 (156 ff., 164 f.); differenzierend Walter Frenz, Anmerkung zu einem Beschluss des BVerfG vom 14. 01. 2014 (2 BvE 13/13; DVBl 2014, 445), DVBl. 2014, 451 (451 f.); Henner Gött (Fn. 49), EuR 2014, 514 (522 ff., 534 ff.); Roland Ismer/Dominika Wiesner, Die OMT-Vorlage des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 2015, 81 (86 f., 87 ff.); Jan Henrik Klement (Fn. 51), ZG 2014, 169 (173 ff., 187 ff.); Matthias Ruffert (Fn. 49), JuS 2014, 373 (374 f.). 58 GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 14. 01. 2015, Rs. C-62/14, Rn. 70 ff. – Gauweiler u. a. 59 Franz C. Mayer (Fn. 49), EuR 2014, 473 (482 ff.); Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 134, 419 Rn. 115 – OMT; ausführlich zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens: Matthias Wendel (Fn. 43), ZaöRV 74 (2014), 615 (647 ff.); zur Unzulässigkeit einer Individualnichtigkeitsklage gegen den OMT-Beschluss mangels unmittelbarer Betroffenheit: EuG, Beschl. v. 10. 12. 2013, Rs. T-492/12, EuZW 2014, 156 Rn. 32 ff.– von Storch u. a./EZB. 60 Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 134, 419 Rn. 121 ff. – OMT; aus der Lit.: Matthias Wendel (Fn. 43), ZaöRV 74 (2014), 615 (638 ff.); vgl. zudem bereits Christoph Herrmann, Die Bewältigung der Euro-Staatsschulden-Krise an den Grenzen des deutschen und europäischen
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Die Handhabung des Kriteriums der evidenten Kompetenzüberschreitung als Baustein des Prüfungsmaßstabs der „ersichtlichen Grenzüberschreitung“.61 Zu erinnern ist insoweit daran, dass der Zweite Senat als mögliche Anknüpfungspunkte hierfür die Überschreitung des geld- und währungspolitischen Mandats der EZB sowie den Verstoß gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV angeführt hat.62 Bereits im Ausgangspunkt muss aber fragwürdig erscheinen, wie eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung angenommen werden kann, wenn gewichtige Stimmen im Schrifttum zur Gegenansicht gelangen.63 Gerade dies ist vorliegend der Fall. In den Rechts-64 und Wirtschaftswissenschaften65 wird nicht nur vereinzelt die Ansicht vertreten, dass der OMT-Beschluss66 weder das Mandat der EZB überschreitet noch zu einer monetären Haushaltsfinanzierung führt. Auch Generalanwalt P. Cruz
Währungsverfassungsrechts, EuZW 2012, 805 (810); siehe aber auch Wolfgang Kahl (Fn. 54), DVBl. 2013, 197 (199). 61 Ebenfalls kritisch Dieter Classen (Fn. 57), jM 2014, 345 (346 f.); Werner Heun (Fn. 49), JZ 2014, 331 (332); Mayer (Fn. 49), EuR 2014, 473 (504); Matthias Wendel (Fn. 43), ZaöRV 74 (2014), 615 (631 ff.). 62 BVerfGE 134, 366 Rn. 33, 36 – OMT; siehe auch schon oben unter I.2. 63 Franz C. Mayer (Fn. 49), EuR 2014, 473 (504); ferner Sondervotum Gerhardt, BVerfGE 134, 430 Rn. 149 – OMT; Jan Henrik Klement (Fn. 51), ZG 2014, 169 (193); a.A. aber Peter M. Huber (Fn. 36), S. 71, unter Rekurs auf die drohende Manipulationsanfälligkeit; dieser Hinweis vermag indes jedenfalls dann nicht zu überzeugen, wenn sich – wie beim OMTBeschluss – gewichtige Stimmen nach wissenschaftlich fundierter Auseinandersetzung gegen das Vorliegen einer Kompetenzüberschreitung aussprechen. 64 Im Vorfeld des OMT-Vorlagebeschlusses: Christoph Herrmann (Fn. 60), EuZW 2012, 805 (809 ff.); Alexander Thiele, Das Mandat der EZB und die Krise des Euro, Tübingen 2013, S. 57 ff.; a.A. Hans-Walter Forkel, Euro-Rettung, Demokratie und Rechtsstaat, ZRP 2012, 240 (241 f.); siehe auch Martin Seidel, Der Ankauf nicht markt- und börsengängiger Staatsanleihen, namentlich Griechenlands, durch die Europäische Zentralbank und durch nationale Zentralbanken – rechtlich nur fragwürdig oder Rechtsverstoß?, EuZW 2010, 521 (521). 65 Vgl. etwa die differenzierten Stellungnahmen von Adalbert Winkler, EZB-Krisenpolitik: OMT-Programm, Vollzuteilungspolitik und Lender of Last Resort, Wirtschaftsdienst 93 (2013), 678 (685); Adalbert Winkler, OMT-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Pro&Contra, Wirtschaftsdienst 94 (2014), 154 (155) sowie von Jürgen Matthes/ Markus Demary, Überschreitet die EZB mit ihren Staatsanleihekäufen ihr Mandat?, Wirtschaftsdienst 93 (2013), 607 (614 f.); a.A. Clemens Fuest, EZB in der Grauzone zwischen Geld- und Fiskalpolitik, in: Konrad/Fuest/Uhlig/Fratzscher/Sinn: Bundesverfassungsgericht und Krisenpolitik der EZB – Stellungnahmen der Ökonomen, Wirtschaftsdienst 93 (2013), S. 431-454, 440 (442); Kai A. Konrad, Haftungsrisiken und Fehlanreize aus ESM und OMT-Programm, in: Konrad/Fuest/Uhlig/Fratzscher/Sinn: Bundesverfassungsgericht und Krisenpolitik der EZB – Stellungnahmen der Ökonomen, Wirtschaftsdienst 93 (2013), S. 431-454, 431 (439); HansWerner Sinn, Verantwortung der Staaten und Notenbanken in der Eurokrise, in: ifo Institut (Hrsg.), ifo Schnelldienst, Sonderausgabe 12. 06. 2013, rev. Fassung 11/2013, S. 3 (9 ff., 13). 66 Vgl. die Pressemitteilung der EZB v. 06. 09. 2012 – Technical features of Outright Monetary Transactions.
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Villalón ist nach eingehender Prüfung zu diesem Befund – wenngleich mit gewissen Einschränkungen67 – gelangt.68 In der Sache lassen sich hierfür gute Gründe anführen69 : So spricht gegen die Einordnung des von der EZB konsequent geldpolitisch begründeten OMT-Beschlusses als offensichtlich unzulässige Maßnahme der Wirtschaftspolitik bereits, dass die Zentralbank in Art. 18.1 der ESZB/EZB-Satzung explizit zu Offenmarktgeschäften ermächtigt wird. Hiervon wird auch der Ankauf von Staatsanleihen erfasst, wenngleich es sich, wie Generalanwalt P. Cruz Villalón betont, bei der Ankündigung des OMT-Programms um eine „unkonventionelle Maßnahme“ handelt.70 Hinzu kommt, dass Wirtschafts- und Währungspolitik keine hermetisch abgeriegelten Welten darstellen, die sich nach einem „Entweder-Oder-Schema“ abgrenzen lassen würden.71 Der Annahme eines offensichtlichen Verstoßes gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung steht zudem entgegen, dass Art. 123 Abs. 1 AEUV ausdrücklich nur den „unmittelbare[n] Erwerb von Schuldtiteln“ der Mitgliedstaaten untersagt. Soll das Wort „unmittelbar“ einen Sinn behalten, darf die Anerkennung eines Umgehungsverbots nicht zur Folge haben, dass der „mittelbare“ Erwerb von
67 Zum einen weist der Generalanwalt im Hinblick auf die Überschreitung des geld- und währungspolitischen Mandats darauf hin, dass die Grenze zur Wirtschaftspolitik nicht überschritten ist, solange sich die EZB während der gesamten Durchführung jedes unmittelbaren Eingreifens in die Finanzhilfeprogramme enthält, an die das OMT-Programm anknüpft und soweit die EZB ihrer Begründungspflicht sowie den sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden Erfordernissen in strikter Weise nachkommt (GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 14. 01. 2015, Rs. C-62/14, Rn. 92 ff., 158, 202 f. – Gauweiler u. a.). Zum anderen betont Cruz Villalón (a.a.O., Rn. 204 ff., 254, 262), dass das OMT-Programm um Art. 123 Abs. 1 AEUV zu entsprechen, „gegebenenfalls in der Weise durchzuführen ist, dass für die betreffenden Staatsanleihen die Bildung eines Marktpreises ermöglicht wird [Rn. 254]“. 68 GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 14. 01. 2015, Rs. C-62/14, Rn. 92 ff., 204 ff. – Gauweiler u. a.; weitgehend zustimmend Franz C. Mayer, Die EZB vor Gericht – nächste Runde, EuZW 2015, 121 f. 69 Siehe für eine eingehende Analyse insb. Alexander Thiele (Fn. 64), S. 57 ff.; ders., Friendly or Unfriendly Act? The „Historic“ Referral of the Constitutional Court to the ECJ Regarding the ECB’s OMT Program, German Law Journal 15 (2014), 241 (255 ff., 264); dezidiert Werner Heun (Fn. 49), JZ 2014, 331 (333 ff.). 70 GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 14. 01. 2015, Rs. C-62/14, Rn. 100, 113 f., 120, 224 – Gauweiler u. a.; aus der Lit.: Christoph Herrmann (Fn.60), EuZW 2012, 805 (810); Alexander Thiele (Fn. 64), S. 59 f.; Matthias Wendel (Fn. 43), ZaöRV 74 (2014), 615 (655). 71 Deutlich GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 14. 01. 2015, Rs. C-62/14, Rn. 100, 113 f., 120 – Gauweiler u. a.; aus dem Schrifttum: Christoph Herrmann (Fn. 60), EuZW 2012, 805 (810); Alexander Thiele (Fn. 64), S. 59 f.; siehe auch Sondervotum Gerhardt, BVerfGE 134, 430 Rn. 149 – OMT; Jörg Ukrow (Fn. 33), ZEuS 2014, 119 (126 ff.); ferner Franz C. Mayer (Fn. 49), EuR 2014, 473 (477 f.).
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Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt gänzlich ausgeschlossen wird.72 Zu fragen ist vielmehr, ob durch das Verhalten der EZB die spezifische Sanktionswirkung des durch Art. 123 Abs. 1 AEUV geschützten Primärmarktes aufgehoben wird. Dies ist beim OMT-Beschluss jedenfalls nicht offenkundig der Fall.73 Im Lichte dieser Einwände überrascht es auch nicht, dass der Zweite Senat nur durch einen fragwürdigen Kunstgriff zur Annahme einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung gelangt ist.74 Die Richter beschränken sich nämlich auf die Feststellung, dass ein mandatswidriges Handeln der EZB ebenso wie ein Verstoß gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung darstellen würde.75 Die eigentlichen Fragen bleiben damit aber unbeantwortet76: Sie müssten lauten, ob der OMT-Beschluss offenkundig als verbotene Maßnahme der Wirtschaftspolitik zu qualifizieren ist und ob hiermit offensichtlich eine monetäre Haushaltsfinanzierung entgegen Art. 123 Abs. 1 AEUV betrieben wird. Beides ist aus den genannten Gründen zu verneinen. Indem das BVerfG den Bezugspunkt der Offensichtlichkeitsprüfung verschiebt, nivelliert es letztlich die Bedeutung des Evidenzkriteriums und verschärft damit die Kompetenzkontrolle sogar noch. Einer konsequenten und vorhersehbaren Anwendung des selbst formulierten Prüfungsmaßstabs entspricht dies ebensowenig wie der vom Gericht propagierten77 europarechtsfreundlichen Ausübung des Ultra-vires-Vorbehalts. Im Übrigen relativiert der Zweite Senat seine These von einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung dadurch, dass eine unionsrechtskonforme Auslegung des OMT-Beschlusses für möglich gehalten wird. Voraussetzung hierfür sei der Ausschluss eines Schuldenschnitts, die höhenmäßige Begrenzung der Anleiheankäufe im Vorhinein sowie die weitgehende Vermeidung von Eingriffen in die Marktpreislogik.78 Wie aber, so ist mit Recht gefragt worden,79 soll eine Handlung, deren angeb-
72 Alexander Thiele (Fn. 64), S. 45, 65 f.; ebenso Werner Heun (Fn. 49), JZ 2014, 331 (335); Jan Henrik Klement (Fn. 51), ZG 2014, 169 (191); Franz C. Mayer (Fn. 49) EuR 2014, 473 (487). 73 Alexander Thiele (Fn. 64), S. 73 ff. mit Umgehungsbeispielen (Abgabe einer unbegrenzten Ankaufgarantie zum Emissionspreis bzw. Errichtung eines staatlichen Marktakteurs mit „Banklizenz“). 74 Franz C. Mayer (Fn. 49), EuR 2014, 473 (504); Matthias Wendel (Fn. 43), ZaöRV 74 (2014), 615 (631 ff.). 75 BVerfGE 134, 366 Rn. 33, 36 f. – OMT. 76 Darauf mit Recht hinweisend Franz C. Mayer (Fn. 49), EuR 2014, 473 (504). 77 BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon; BVerfGE 126, 286 (303) – Honeywell; BVerfGE 134, 366 Rn. 24 – OMT. 78 BVerfGE 134, 366 Rn. 99 f. – OMT; kritisch Werner Heun (Fn. 49), JZ 2014, 331 (336); siehe jetzt auch GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 14. 01. 2015, Rs. C-62/14, Rn. 181 ff. – Gauweiler u. a. 79 Kritisch Matthias Kumm, Rebel Without a Good Cause: Karlsruhe’s Misguided Attempt to Draw the CJEU into a Game of “Chicken” and What the CJEU Might do About It, German Law Journal 15 (2014), 204 (209 ff.).
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lich kompetenzüberschreitendes Potential im Wege einer Konformitätsauslegung gezähmt werden kann, zugleich eine offensichtliche Verletzung darstellen? Wie man es dreht und wendet: Die Ultra-vires-Argumentation des BVerfG vermag nicht zu überzeugen. 2. Rückführbarkeit auf den Identitätsvorbehalt? Zu klären bleibt freilich noch, ob der OMT-Beschluss Anlass für eine Aktivierung des Identitätsvorbehalts aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG gibt.80 Die Ausführungen des Zweiten Senats hierzu erschöpfen sich bislang in Andeutungen. Immerhin wird betont, dass eine Identitätsverletzung in Betracht kommt, wenn durch den OMT-Beschluss ein Mechanismus ausgelöst würde, der „auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen Dritter mit schwerkalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (…), so dass (…) der (…) Bundestag nicht ,Herr seiner Beschlüsse‘ bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben könnte“.81 Im Schrifttum ist dazu zwar angemerkt worden, dass die Argumentation „fast zu fernliegend [erscheint], um sie ernsthaft zu diskutieren“.82 Bedenkt man aber die jüngste Ankündigung der EZB vom 22. Januar 2015 über ein neben das OMT-Programm tretendes – am 9. März 2015 gestartetes – Quantitative Easing-Programm zum Ankauf von Anleihen in einem Gesamtvolumen von 1,14 Billionen Euro bis Ende September 2016 (60 Mrd. Euro monatlich), dann werden die Dimensionen deutlich, in denen Europas Währungshüter denken.83 Die Gefahr für das parlamentarische Budgetrecht als zentralem Element der demokratischen Willensbildung84 resultiert aus dem Umstand, dass die Bundesbank derzeit rund 18 % des gezeichneten Kapitals und über 25 % des eingezahlten Kapitals
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Matthias Wendel (Fn. 43), ZaöRV 74 (2014), 615 (632) m.w.N. BVerfGE 134, 366 Rn. 102 – OMT. 82 Franz C. Mayer (Fn. 49) EuR 2014, 473 (497). 83 Pressemitteilung der EZB v. 22. 01. 2015 – „EZB kündigt erweitertes Programm zum Ankauf von Vermögenswerten an“, wo es zudem heißt, dass „20 % der zusätzlichen Ankäufe von Vermögenswerten dem Prinzip der Risikoteilung [unterliegen]“; im Kontrast hierzu bildet die Risikoteilung beim OMT-Programm „a fundamental component“ (Draghi, Introductory statement to the press conference [with Q&A] v. 22. 01. 2015); im Vorfeld keine durchgreifenden Einwände gegen das QE-Programm erhebend: Franz C. Mayer (Fn. 49), EuR 2014, 473 (486 ff.); siehe jüngst auch ders. (Fn. 68), EuZW 2015, 121 (122). 84 Vgl. insoweit BVerfGE 129, 124 (177) – EFSF; BVerfGE 132, 195 (239) – ESM I; BVerfGE 135, 317 Rn. 161 – ESM II; deutlich bereits BVerfGE 123, 267 (359, 361 f.) – Lissabon, wo die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand zu den besonders sensiblen Bereichen der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates gezählt werden. 81
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der EZB hält.85 Würde die EZB nun tatsächlich unbegrenzt Staatsanleihen von Krisenländern erwerben, bestünde im Falle einer Zahlungsunfähigkeit dieser Staaten das Risiko, dass der Bundesbank aus ihrer Beteiligung Verluste zugewiesen werden, die letztlich durch den Staatshaushalt aufzufangen wären.86 Dem steht im Übrigen auch nicht entgegen, dass sich in der Satzung des Eurosystems keine abschließende Regelung über den Verlustausgleich findet.87 Eine Haftungsübernahme durch die Mitgliedstaaten bzw. ihre Zentralbanken wird hierdurch nämlich nicht a priori ausgeschlossen. Zu bedenken ist vielmehr, dass die europäischen Verträge in Art. 13 EUV und Art. 127 ff. AEUV die Existenz einer handlungsfähigen Europäischen Zentralbank voraussetzen. Im Lichte des Loyalitätsgebots aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgt hieraus, dass dann, wenn die Funktionsfähigkeit der EZB nicht mehr gewährleistet ist, die Möglichkeit der Verlustzuweisung an die nationalen Zentralbanken bestehen muss.88 Für eine derartige Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der EZB kann es freilich nicht ausreichen, wenn es zu einem bloßen Ansehensverlust der Zentralbank kommt. Maßgeblich ist vielmehr, ob das Vertrauen in den Euro mit Blick auf aufgelaufene Verluste in der EZB-Bilanz nur noch durch ein Nachschießen von Kapital sichergestellt werden könnte.89 Da der Bund gemäß Art. 88 GG seinerseits zur Errichtung und Unterhaltung einer funktionsfähigen Bundesbank verpflichtet ist, trifft ihn bei nicht beherrschbaren Verlustzuweisungen die Pflicht zum Ausgleich durch den Staatshaushalt. Das einzige Instrument, um diesem Mechanismus Grenzen zu setzen und den Blankoscheck der EZB für Verluste aus der Geldpolitik zu „sperren“, besteht eben im Identitätsvorbehalt. Seine Aktivierung ist im Lichte der ständigen verfassungsgerichtlichen Judikatur angezeigt, wenn die Haushaltsautonomie des Bundestags für
85 Vgl. insoweit die Übersicht zur Kapitalzeichnung auf der Homepage der EZB (Stand: 01. 01. 2015); abrufbar unter: https://www.ecb.europa.eu/ecb/orga/capital/html/index.de.html (letzter Abruf: 15. 03. 2015); zur Frage, worauf im Haftungsfall abzustellen wäre: Ralph Hirdina, Die Haftung des Steuerzahlers für etwaige Verluste der EZB auf dem rechtlichen Prüfstand, in: Seitz/Rottmann (Hrsg.): OTH im Dialog, Weidener Diskussionspapiere, Nr. 45, Weiden November 2014, S. 12 f. 86 Siehe zu dieser Logik die konzise Darstellung bei Christian Hillgruber, Die verfassungsprozessuale Dimension des Outright Monetary Transactions (OMT)-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, JA 2014, 635 (637). 87 A.A. aber wohl Christoph Herrmann (Fn. 60), EuZW 2012, 805 (811); zur (nicht-abschließenden) Verlustregelung in Art. 33.2. ESZB/EZB-Satzung, die einen Ausgleich des Fehlbetrags über den allgemeinen Reservefonds bzw. die monetären Einkünfte des Geschäftsjahres vorsieht: Julian Langner, in: Siekmann (Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Währungsunion, Tübingen 2013, Art. 33 ESZB/EZB-Satzung Rn. 7 ff. 88 In diese Richtung auch Ralph Hirdina (Fn. 85), S. 12; für die Bundesbank: Helmut Siekmann, Die Verwendung des Gewinns der Europäischen Zentralbank und der Bundesbank, ILF Working Paper Series No. 38, No. 02/2005, S. 5. 89 Ralph Hirdina (Fn. 85), S. 12.
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einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde, sondern praktisch vollständig leerliefe.90 Damit kommt es entscheidend darauf an, ob der OMT-Beschluss der EZB eine derart massive Beeinträchtigung des parlamentarischen Budgetrechts zur Folge hat. Die Antwort hierauf hängt davon ab, welchen Grad der Gefährdung man für maßgeblich erachtet.91 Genügt die konkrete Ankündigung einer bestimmten Politik oder lässt sich eine Identitätsverletzung erst feststellen, wenn die Haushaltsautonomie des Bundestags durch die Ankauftätigkeiten der EZB bereits irreversibel beeinträchtigt ist? Geht man von einer irreversiblen Beeinträchtigung aus, droht die Identitätsgarantie indes weitgehend funktionslos zu werden. Eine Verletzung des parlamentarischen Budgetrechts könnte zwar ex post festgestellt, nicht aber ex ante verhindert werden. Vorzugswürdig erscheint es daher, die Aktivierung des Identitätsvorbehalts daran zu knüpfen, dass vom jederzeit möglichen Vollzug einer EZB-Maßnahme irreversible Folgen für das Budgetrecht des Bundestags ausgehen können. Mit Blick auf den OMT-Beschluss hat der Zweite Senat insoweit betont, dass das höhenmäßig unbegrenzte Ankaufprogramm hinreichend bestimmt ist und nach EZB-Angaben nur noch einer kurzfristig möglichen Konkretisierung bedarf.92 Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, dass zumindest die explizite Unbegrenztheit des Gesamtvolumens der Anleihekäufe die Haushaltsautonomie des Parlaments in einer gegen Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG verstoßenden Weise gefährdet.93 Parallel hierzu liegt eine Beeinträchtigung des mit der verfassungsrechtlichen Identitätsgarantie korrespondierenden unionsrechtlichen Gebots auf Achtung der nationalen Identität vor. Dafür spricht die in Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV adressierte autonome Definition der nationalen Identität durch jeden Mitgliedstaat.94 Zu bedauern ist es allerdings, dass 90
BVerfGE 129, 124 (183) – EFSF; BVerfGE 132, 195 (242) – ESM I; BVerfGE 135, 317 Rn. 161, 174, 184 – ESM II. 91 Eingehend jüngst Martin Nettesheim, Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung in der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Haratsch (Hrsg.), Verfassung und Krise, 2014, unter 2.d) (im Erscheinen). 92 BVerfGE 134, 366 Rn. 35 – OMT. 93 Dabei kann es auch nicht darauf ankommen, ob das Handeln der EZB im Übrigen kompetenzkonform ist oder nicht [siehe insoweit Martin Nettesheim, in: Haratsch (Fn. 91) unter 2.d) bb)]; undeutlich BVerfGE 134, 366 Rn. 27 ff., 102 f. – OMT; vgl. aber auch BVerfGE 132, 195 (220, 276) – ESM I, wo gerade das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung durch die EZB als „wesentliches Element zur unionsrechtlichen Absicherung der verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG“ qualifiziert wird. 94 Zur hierin liegenden Zurücknahme des unbedingten Vorrangsanspruchs des Unionsrechts vgl. Matthias Wendel (Fn. 43), ZaöRV 74 (2014), 615 (645) m.w.N.; ähnlich Franz C. Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Berlin 2009, S. 559 (588 f.); Armin von Bogdandy/Stephan Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), 701 (725 ff.); siehe auch EuGH, Rs. C-208/09, Slg. 2010, I-13693 Rn. 83, 92 – Sayn-Wittgenstein.
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das BVerfG von einer Vorlagefrage hierzu abgesehen und sogar zu erkennen gegeben hat, den Identitätsvorbehalt gegebenenfalls ohne eine erneute Vorlage zu aktivieren.95 Damit würde dem EuGH die Gelegenheit genommen, zu prüfen, ob das OMT-Programm in einer die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten wahrenden Weise ausgelegt und angewandt werden kann. Zwar trifft es zu, wenn der Zweite Senat darauf hinweist, dass der unionsrechtliche Identitätsschutz im Gegensatz zur absoluten Grenze der Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 GG einer Abwägung offen steht.96 Dies ändert aber nichts daran, dass in einem von wechselseitiger Loyalität und Dialog geprägten Kooperationsverhältnis der EuGH97 die Gelegenheit zur Entschärfung eines Konflikts erhalten muss, bevor das BVerfG seine souveränitätswahrende Letztentscheidungsbefugnis im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Identitätsgarantie aktiviert. Hierfür spricht nicht zuletzt auch der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Einen Anknüpfungspunkt für eine identitätswahrende Auslegung bieten die Schlussanträge des Generalanwalts P. Cruz Villalón vom 14. Januar 2015. Dort wird auf das Vorbringen der EZB verwiesen, wonach ihre Interventionen intern durchaus quantitativen Beschränkungen unterliegen, die zur Vermeidung von Spekulationen aber nicht nach außen kommuniziert werden.98 Ein gangbarer Weg der identitätswahrenden Auslegung könnte nun darin bestehen, zum einen die EZB-interne Kalkulation quantitativer Beschränkungen für verpflichtend zu erklären. Zum anderen müsste als Obergrenze für das Gesamtvolumen des OMT-Programms die Wahrung des Budgetrechts der nationalen Parlamente anerkannt werden. Auch wenn eine ziffernmäßige Fixierung insoweit schwer fällt, so steht doch fest, dass es eine Obergrenze gibt, bei deren Überschreitung es zu einer identitätsgefährenden Beeinträchtigung des parlamentarischen Budgetrechts käme.99 3. Zwischenfazit Die Ultra-vires-Argumentation des BVerfG im OMT-Vorlagebeschluss kann selbst dann nicht überzeugen, wenn man von einer eigenständigen Bedeutung des 95 BVerfGE 134, 366 Rn. 103 – OMT; kritisch Christian Calliess, Staatsrecht III, München 2014, S. 333; Hans-Georg Dederer (Fn. 37), JZ 2014, 313 (320); Franz C. Mayer (Fn. 49), EuR 2014, 473 (496). 96 BVerfGE 134, 366 Rn. 29 – OMT; Peter M. Huber (Fn. 36), S. 33 f. 97 Dies betonend GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 14. 01. 2015, Rs. C-62/14, Rn. 30 ff., 48, 65, 69 – Gauweiler u. a., wo in Form einer „Vorüberlegung“ auf den auch für die Gerichte geltenden Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit hingewiesen und daran anknüpfend für eine Beantwortung der Vorlagefrage plädiert wird. 98 GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 14. 01. 2015, Rs. C-62/14, Rn. 191 – Gauweiler u. a. 99 Vgl. auch Wolfgang Kahl (Fn. 54), DVBl. 2013, 197 (201), der in übergreifender Perspektive mit Blick auf die von Deutschland bislang übernommenen Haftungszusagen annimmt, dass „etwa eine (fiktive) Haftung in Höhe von 10 Bundeshaushalten jedenfalls verfassungswidrig [wäre], weil sie die Haushaltsautonomie des Bundestags materiell als nudum ius zurückließe“ (Hervorhebung i.O.).
Der Ultra-vires-Vorbehalt des BVerfG
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Kompetenzvorbehalts ausgeht. Kritikwürdig ist vor allem die inkonsequente und wenig vorhersehbare Anwendung des Prüfungsmaßstabs. Dessen ungeachtet hätte die explizite Unbegrenztheit der Anleihekäufe und die hieraus resultierende Gefährdung des parlamentarischen Budgetrechts Anlass zur Aktivierung des verfassungsrechtlichen Identitätsvorbehalts gegeben. Im Hinblick auf die parallele Beeinträchtigung des unionsrechtlichen Gebots auf Achtung der nationalen Identität müsste der Zweite Senat daher eine erneute Vorlage erwägen, sollte der EuGH die Kompetenzmäßigkeit des OMT-Beschlusses einschränkungslos bestätigen. Damit würde dem Gerichtshof die Gelegenheit gegeben, zu prüfen, ob das OMT-Programm in einer die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten wahrenden Weise ausgelegt und angewandt werden kann.
V. Resümee Der Ultra-vires-Vorbehalt des BVerfG stellt nur insoweit ein legitimes Korrektiv gegenüber Kompetenzüberschreitungen der EU dar, wie er an die Verletzung des unantastbaren Kernbestands des Grundgesetzes gekoppelt wird. Durch eine derartige Rückführung auf den Identitätsvorbehalt aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG könnte zugleich der drohenden Verwandlung des Wahlrechts in eine systemfremde actio popularis begegnet werden. Der Blick auf den OMT-Vorlagebeschluss hat im Übrigen gezeigt, dass mit einer Konzentration auf den Identitätsvorbehalt nicht notwendig eine vollständige Preisgabe der Kontrollzuständigkeit des BVerfG verbunden ist. Vielmehr bietet sich die Gelegenheit, die anzuwendenden Kriterien weiter zu konturieren. Ein Vorgehen, das sowohl die Vorhersehbarkeit der bisweilen sprunghaften Judikatur des BVerfG erhöhen als auch das viel beschworene Kooperationsverhältnis zum EuGH stärken dürfte.
Selbständige Ermächtigungsgrundlage oder Brücke zur Annexkompetenz? – Art. 325 Abs. 4 AEUV im System der strafrechtlichen Kompetenzen der Union Martin Böse*
I. Einleitung Nach dem im Sommer vergangenen Jahres veröffentlichten Bericht der Kommission zur Betrugsbekämpfung entstand der Europäischen Union allein aufgrund der im Jahr 2013 berichteten Unregelmäßigkeiten ein Gesamtschaden von mehr als 2,1 Milliarden Euro; etwa 300 Millionen davon gingen auf erwiesene oder mutmaßliche betrügerische Praktiken zurück.1 Dass diese Zahlen sich auf konstant hohem Niveau bewegen, wird u. a. auf die Defizite und Unterschiede in den Strafvorschriften der Mitgliedstaaten zurückgeführt (z. B. bei der Verjährung).2 Das in den neunziger Jahren ausgearbeitete Übereinkommen zum Schutz der finanziellen Interessen der EG3 und seine Zusatzprotokolle4 hatten zwar insoweit einen strafrechtlichen Mindeststandard geschaffen, dieser hatte sich aber in den Augen der Kommission als unzureichend erwiesen. Der Vertrag von Lissabon bot nunmehr die Möglichkeit, die
* Prof. Dr. Martin Böse ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht sowie Internationales und Europäisches Strafrecht an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn. 1 Schutz der finanziellen Interessen und Betrugsbekämpfung – Jahresbericht 2013, KOM (2014) 474 endg., S. 8, 10. 2 Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union durch strafrechtliche Vorschriften und verwaltungsrechtliche Untersuchungen – Gesamtkonzept zum Schutz von Steuergeldern, KOM (2011) 293 endg., S. 8. 3 Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 26. 07. 1995, ABl. C 316 vom 27. 11. 1995, S. 49. 4 Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 27. 09. 1996, ABl. C 313 vom 23. 10. 1996, S. 1; Zweites Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 19. 06. 1997, ABl. C 221 vom 19. 07. 1997, S. 12.
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völkerrechtlichen Übereinkommen durch eine Richtlinie fortzuentwickeln, und die Kommission legte im Sommer 2012 einen entsprechenden Vorschlag vor.5 Als Rechtsgrundlage für den Erlass einer solchen Richtlinie zog die Kommission Art. 325 Abs. 4 AEUV heran, der den Unionsgesetzgeber ermächtigt, Maßnahmen zur Bekämpfung von Betrügereien gegen die finanziellen Interessen der Union zu ergreifen.6 Im Gesetzgebungsverfahren nahmen der Rat und das Europäische Parlament demgegenüber den Standpunkt ein, dass die Richtlinie auf der Grundlage der Harmonisierungskompetenz im Rahmen der strafrechtlichen Zusammenarbeit (Art. 83 Abs. 2 AEUV) zu erlassen sei.7 Dieser Beitrag geht der Frage nach, welche der beiden Ermächtigungsgrundlagen heranzuziehen ist. Diese Frage hat keineswegs nur akademische Bedeutung, wie der britische Rückzug aus der strafrechtlichen Zusammenarbeit zeigt: Das Vereinigte Königreich hat sich nicht nur die Möglichkeit vorbehalten, sich von Fall zu Fall Maßnahmen im Rahmen der strafrechtlichen Zusammenarbeit (hier: Art. 83 AEUV) anzuschließen (oder auch nicht)8, sondern darüber hinaus auch aus den bereits bestehenden Rechtsakten (hier: den Übereinkommen zur Betrugsbekämpfung) „auszusteigen“9. Da sich das Vereinigte Königreich in Bezug auf die genannten Übereinkommen kürzlich für ein „opt-out“ entschieden hat10 und in Bezug auf eine entsprechende Richtlinie ein „opt-in“ kaum zu erwarten sein dürfte, hätte ein Rückgriff auf Art. 83 AEUV zur Folge, dass der unionsrechtliche Mindeststandard zur Betrugsbekämpfung für das Vereinigte Königreich keine Geltung beanspruchen könnte. Demgegenüber unterfiele eine auf der Grundlage von Art. 325 Abs. 4 AEUV erlassene Richtlinie nicht diesen Vorbehalten und wäre damit auch für das Vereinigte Königreich verbindlich. Um die praktische Bedeutung der Wahl der Rechtsgrundlage vor Augen zu führen,
5 Vorschlag für Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug, KOM (2012) 363 endg. 6 Ebd., S. 7 f. An dieser Auffassung hat die Kommission im Gesetzgebungsverfahren festgehalten, siehe Rats-Dok. 6964/14, S. 2. 7 Siehe die allgemeine Ausrichtung des Rates, Rats-Dok. 10729/13, S. 3, sowie die vom Parlament in der ersten Lesung angenommenen Änderungen, Rats-Dok. 9024/14, S. 3; zur Begründung siehe das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 22. 10. 2012, RatsDok. 15309/12, sowie die Stellungnahme des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments vom 27. 11. 2012, RR\1024576DE.doc PE 524.832v02 – 00. 8 Protokoll (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Fassung des Vertrags von Lissabon, ABl. C 326 vom 26. 10. 2012, S. 295; siehe auch die entsprechenden Regelungen im Protokoll (Nr. 22) über die Position Dänemarks, ABl. C 326 vom 26. 10. 2012, S. 299; vgl. insoweit bereits das Gutachten des Juristischen Dienstes, ebd., S. 7 f. 9 Art. 10 Abs. 4 Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen, ABl. C 326 vom 26. 10. 2012, S. 322. 10 Siehe die Zusammenstellung der für das Vereinigte Königreich außer Kraft getretenen Rechtsakte: ABl. C 430 vom 01. 12. 2014, S. 17.
Art. 325 Abs. 4 AEUV im System der strafrechtlichen Kompetenzen
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mag dies vorerst genügen; auf weitere Konsequenzen wird zurückzukommen sein (siehe unten II.). Um die Frage nach der „richtigen“ Ermächtigungsgrundlage zu beantworten, wird zunächst die Entwicklung der Unionskompetenzen im Strafrecht bis zum Reformvertrag von Lissabon nachgezeichnet (II.). Auf dieser Grundlage wird in einem zweiten Schritt untersucht, ob die strafrechtliche Annexkompetenz (Art. 83 Abs. 2 AEUV) noch Raum für eine Heranziehung des Art. 325 Abs. 4 AEUV als Ermächtigung zur Ausgestaltung eines unionalen Betrugsstrafrechts lässt (III.). Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob ein kürzlich ergangenes Urteil des EuGH, in dem sich dieser zu dem Verhältnis der polizeilichen Zusammenarbeit in Strafsachen zu den Unionspolitiken (in diesem Fall der Verkehrspolitik) geäußert hat, Rückschlüsse für die hier untersuchte Fragestellung zulässt (IV.).
II. Die Entwicklung der Kompetenzen der Union zur Strafrechtsangleichung Die Ausübung von Strafgewalt wurde seit den Anfängen des Integrationsprozesses als Kernbereich staatlicher Souveränität angesehen. Dementsprechend waren in den Gründungsverträgen zur EGKS und zur EWG keinerlei Kompetenzen auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts vorgesehen. Die strafrechtliche Zusammenarbeit fand vielmehr auf völkerrechtlicher Grundlage statt und wurde erst mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam in den primärrechtlichen Rahmen der Union überführt (Art. K bzw. Art. 29, 31 EUVa.F.), dabei aber als dritte (intergouvernementale) Säule der Union strikt von dem supranationalen Gemeinschaftsrecht (erste Säule) unterschieden. Andererseits war jedoch bereits in den Gründungsverträgen eine Ermächtigung zum Erlass von Bußgeldvorschriften enthalten, deren Anwendung und Vollzug der Kommission oblag (vgl. Art. 103 Abs. 2 lit. a AEUV). Die hinter dieser Ermächtigung stehende Erwägung, dass die effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts darauf angewiesen ist, dass auf Verstöße mit Sanktionen reagiert werden kann, hat der EuGH später mit der Entscheidung „Griechischer Mais“11 auf das Strafrecht übertragen, die zum Ausgangspunkt für die Entwicklung eines europäischen Strafrechts werden sollte.12 Ungeachtet dieser Entwicklung in der Rechtsprechung hielten die Mitgliedstaaten an der Auffassung fest, dass sich die vertraglichen Ermächtigungen nicht auf das Strafrecht i. e.S. (d. h. Kriminalstrafrecht) erstrecken. Die Strafbewehrung gemein11
EuGH, Rs. 68/88, „Griechischer Mais“, Slg. 1989, I-2965 Rn. 22 ff. Siehe insbesondere das Corpus Juris zum Schutz der finanziellen Interessen der EG: Mireille Delmas-Marty / John Vervaele (Hrsg.), The Implementation of the Corpus Juris in the Member States / La mise en oeuvre du Corpus Juris dans les États Membres, 4 Bde. Antwerpen: Intersentia, 2000/2001; Barbara Huber (Hrsg.), Das Corpus Juris als Grundlage eines Europäischen Strafrechts Europäisches Kolloquium Trier, 4. – 6. März 1999, Freiburg, 2000. 12
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schaftsrechtlicher Verhaltensnormen wurde daher durch Rahmenbeschlüsse gewährleistet, die im Rahmen der neu geschaffenen dritten Säule der Union, der intergouvernementalen Zusammenarbeit (Art. 29, 31 EUVa.F.), erlassen wurden.13 Diese Gesetzgebungspraxis wurde vom EuGH aufgebrochen, indem er den Rahmenbeschluss zum Umweltstrafrecht14 mit der Begründung für nichtig erklärte, dass die Gemeinschaft im Rahmen der Umweltpolitik auch über eine strafrechtliche Annexkompetenz verfügt.15 Mit dem Vertrag von Lissabon werden diese unterschiedlichen Entwicklungslinien zusammengeführt und für die Strafrechtsangleichung eine einheitliche vertragliche Grundlage geschaffen: Die Ermächtigung nach Art. 83 Abs. 1 AEUV überführt die bisher in der dritten Säule enthaltene Grundlage der Strafrechtsangleichung (Art. 31 Abs. 1 lit. e EUV a.F.) in den supranationalen Rahmen, und Art. 83 Abs. 2 AEUV schafft eine ausdrückliche Grundlage für die vom EuGH entwickelte gemeinschaftsrechtliche Annexkompetenz. Die Überführung der dritten Säule in die supranationalen Rahmen mit den entsprechenden Handlungsformen (Richtlinie, Art. 288 Abs. 3 AEUV) und Durchsetzungsmechanismen (Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 AEUV) lässt sich durchaus als Ausweitung der bestehenden Kompetenzen begreifen. Gleichwohl sind einige Elemente der intergouvernementalen Zusammenarbeit in abgeschwächter Form erhalten geblieben: Die Durchbrechung des Initiativmonopols der Kommission durch das Initiativrecht der Mitgliedstaaten (Art. 34 Abs. 2 S. 2 EUV a.F.) wurde durch ein entsprechendes Recht eines Quorums von derzeit sieben Mitgliedstaaten (Art. 76 lit. b AEUV) ersetzt16, und das Einstimmigkeitsprinzip im Rat wurde durch den Notbremsemechanismus (Art. 83 Abs. 3 AEUV) modifiziert. Nach diesem Mechanismus kann ein Mitgliedstaat, der durch den zu erlassenden Rechtsakt grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berührt sieht, den Europäischen Rat befassen, um eine einvernehmliche Lösung herbeizuführen (Art. 83 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV). Gelingt dies nicht, ist das Gesetzgebungsverfahren gescheitert; es kann allerdings im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit fortgeführt werden (Art. 83 Abs. 3 Un-
13 Siehe etwa die Richtlinie 2002/90/EG vom 28. 11. 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt, ABl. L 328 vom 05. 12. 2002, S. 17 und Rahmenbeschluss 2002/946/JI vom 28. 11. 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt, ABl. L 328 vom 05. 12. 2002, S. 1. 14 Rahmenbeschluss 2003/80/JI vom 27. 01. 2003 über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht, ABl. L 29 vom 05. 02. 2003, S. 55. 15 EuGH, Rs. C-176/03, Umweltstrafrecht, Slg. 2005, I-7879 Rn. 40 ff., 55; siehe auch Rs. C-440/05, Meeresverschmutzung, Slg. 2007, I-9097 Rn. 54 ff., 74. 16 Siehe auch das geringere Quorum von Stellungnahmen nationaler Parlamente im Rahmen der Subsidiaritätskontrolle nach Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 1 S. 2 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.
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terabs. 2 AEUV). Das vormals bestehende Vetorecht eines jeden Mitgliedstaates wird damit im Ergebnis nur geringfügig modifiziert.17 Dieses Vermächtnis der intergouvernementalen Zusammenarbeit prägt nicht nur Art. 83 Abs. 1 AEUV, sondern auch die strafrechtliche Annexkompetenz nach Art. 83 Abs. 2 AEUV. Mit Blick auf die letztere stellt sich das mit der Notbremse eingeräumte Vetorecht jedes Mitgliedstaates als eine neue, bislang für die Annexkompetenz nicht bestehende Einschränkung dar. Ähnliches gilt für die Beschränkung der Strafrechtsangleichung auf die Handlungsform der Richtlinie, die im Primärrecht nicht vorgesehen war, allerdings einer zuvor bereits durch die Rechtsprechung gezogenen Grenze entspricht.18 Mit Art. 83 AEUV werden die Kompetenzen der Union zur Strafrechtsangleichung also einerseits gestärkt (Abs. 1), andererseits aber auch mit Blick auf die Annexkompetenz klaren primärrechtlichen Grenzen unterworfen (Abs. 2). Damit lässt sich bereits ein erstes Zwischenergebnis festhalten: Aus der ratio dieser Beschränkungen und der mit dem Lissabonner Reformvertrag geschaffenen Neuordnung der strafrechtlichen Zuständigkeiten folgt, dass eine Strafrechtsangleichung auf der Grundlage anderer vertraglicher Ermächtigungen grundsätzlich ausscheidet.19 Mit einem solchen Rückgriff auf die jeweils einschlägige Sachkompetenz könnten die in Art. 83 Abs. 2 AEUV vorgesehene Beschränkung auf die Handlungsform der Richtlinie und der Notbremsemechanismus nämlich ohne Weiteres unterlaufen werden. Dementsprechend wurde die im vergangenen Jahr erlassene Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation auf Art. 83 Abs. 2 AEUV gestützt20, während die entsprechende Verordnung mit Vorschriften über Verwaltungssanktionen allein auf der Grundlage der für den Schutz des Kapitalmarktes sachlich einschlägigen Binnenmarktkompetenz (Art. 114 AEUV) erlassen wurde21. 17
Siehe dazu näher Martin Böse, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Strafrecht mit polizeilicher Zusammenarbeit (EnzEuR Bd. 9), Baden-Baden 2013, § 4 Rn. 22 m.w.N. 18 Vgl. EuGH, Rs. C-440/05, Meeresverschmutzung, Slg. 2007, I-9097 Rn. 70. Danach fallen Bestimmungen zu Art und Maß der Sanktion nicht unter die strafrechtliche Annexkompetenz. Eine Verordnung mit unmittelbar anwendbaren Straftatbeständen müsste hingegen notwendigerweise auch Art und Maß der zu verhängenden Strafe regeln. 19 Fabian Dorra, Strafrechtliche Legislativkompetenzen der Europäischen Union, BadenBaden 2013, S. 267 (287 f.); Martin Heger, „Perspektiven des Europäischen Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon“ in: ZIS 2009, 406(415); Hans-Holger Herrnfeld, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. Baden-Baden 2012, Art. 76 AEUV Rn 4; Frank Meyer, Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, Baden-Baden 2012, S. 418; Helmut Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Aufl. Baden-Baden 2013, § 9 Rn. 51; Joachim Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union (München, Stand 54. Ergänzungslieferung 09/2014), Art. 83 Rn 75. 20 Richtlinie 2014/57/EU vom 16. 04. 2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie), ABl. L 173 vom 12. 06. 2014, S. 179; siehe insoweit auch den KOM (2011) 654 endg., S. 5. 21 Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 05. 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung), ABl. L 173 vom 12. 06. 2014, S. 1.
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Diese Überlegungen lassen sich grundsätzlich auch auf Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung nach Art. 325 Abs. 4 AEUV übertragen: Wäre der Unionsgesetzgeber nach dieser Vorschrift ermächtigt, im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (ohne „Notbremse“) in einer Verordnung unmittelbar anwendbare Strafvorschriften zu erlassen,22 so würde damit die mit Art. 83 Abs. 2 AEUV intendierte Einhegung der strafrechtlichen Annexkompetenz konterkariert. 23 Ein Rückgriff auf Art. 325 Abs. 4 AEUV scheidet daher grundsätzlich aus, es sei denn, es bestehen besondere Gründe, mit denen die von Art. 83 AEUV ausgehende Sperrwirkung überwunden werden kann. Ob derartige Gründe bestehen, soll nunmehr untersucht werden.
III. Originäre Strafrechtskompetenzen zur Betrugsbekämpfung? Ungeachtet des grundsätzlichen Vorrangs der strafrechtlichen Annexkompetenz gegenüber der allgemeinen, sachlich einschlägigen Ermächtigung geht die überwiegende Auffassung im Schrifttum davon aus, dass Art. 325 Abs. 4 AEUV eine eigenständige, von Art. 83 Abs. 2 AEUV unabhängige Ermächtigung zur Strafrechtsharmonisierung darstellt.24 Diese Ansicht wird im Wesentlichen auf fünf Argumente gestützt: den Vorrang der spezielleren Ermächtigung (1.), den Wegfall des Vorbehalts zugunsten der nationalen Strafrechtsordnung (2.), den Wortlaut des Art. 325 Abs. 4 AEUV (3.), den Zusammenhang mit der Errichtung einer Europäischen Staatsan22 Siehe insoweit Bernd Hecker, in: Sieber/Satzger/von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. Baden-Baden 2014, § 10 Rn. 26; Helmut Satzger (Fn. 19), § 8 Rn. 24, § 9 Rn. 51; siehe dagegen Johann Schoo, in: Schwarze (Fn. 19), Art. 325 AEUV Rn. 25. 23 Siehe das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates (Fn. 7), S. 5, 6 f. 24 Kai Ambos, Internationales Strafrecht, 4. Aufl. 2014, § 9 Rn. 8; Bernd Hecker (Fn. 22), § 10 Rn. 25 f.; Siegfried Magiera, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 19), Art. 325 AEUV Rn. 77; Anette Grünewald, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union durch das Strafrecht, JR 2015, 245, 250 f.; Frank Meyer (Fn. 19), S. 421; ders., in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl., Baden-Baden 2015, Art. 83 Rn. 52; Christoph Safferling, Internationales Strafrecht: Strafanwendungsrecht – Völkerstrafrecht – Europäisches Strafrecht, Heidelberg 2011, § 10 Rn. 41; Helmut Satzger (Fn. 19), § 8 Rn. 24 f., § 9 Rn. 51; Johann Schoo, in: Schwarze (Fn. 19), Art. 325 AEUV Rn. 15; Rosaria Sicurella, Some Reflections on the Need for a General Theory of the Competence of the European Union in Criminal Law, in: Klip (Hrsg.), Substantive Criminal Law of the European Union, Antwerpen 2011, S. 233, 236; Joachim Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 19), Art. 83 AEUV Rn. 75; Bettina Weißer, Strafgesetzgebung durch die Europäische Union: Nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht?, GA 2014, 433, 440; einschränkend Martin Heger (Fn. 19), ZIS 8/2009, 406, 416 (nur bei Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft); a.A. Canan Aksungur, Europäische Strafrechtsetzungskompetenzen, Baden-Baden 2014, S. 396 ff., 434; Martin Böse, in: ders. (Fn. 17), § 4 Rn. 24; Fabian Dorra (Fn. 19), S. 269; Christian Schröder, in: ders./Hellmann (Hrsg.), Festschrift für Hans Achenbach, 2011, S. 491, 496 f.; Mark A. Zöller, Neue unionsrechtliche Strafgesetzgebungskompetenzen nach dem Vertrag von Lissabon, in: Baumeister/Roth/Ruthig (Hrsg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz – Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke zum 70. Geburtstag, Berlin 2011, S. 579, 584 f.
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waltschaft (4.) und schließlich die besondere Bedeutung der Betrugsbekämpfung als Nukleus einer supranationalen Europäischen Strafrechtsordnung (5.). 1. Vorrang der spezielleren Ermächtigung Auf den ersten Blick spricht viel dafür, die vertragliche Ermächtigung zu Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung (Art. 325 Abs. 4 AEUV) als speziellere Vorschrift anzusehen, welche die allgemeine strafrechtliche Annexkompetenz nach Art. 83 Abs. 2 AEUV verdrängt.25 Die Annahme von Spezialität erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als zirkulär, denn Spezialität kann nur unter der Voraussetzung angenommen werden, dass die Ermächtigung nach Art. 325 Abs. 4 AEUVauch den Erlass strafrechtlicher Bestimmungen umfasst, was erst zu begründen wäre. Dass Art. 325 Abs. 4 AEUV eine spezielle Ermächtigung für Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung darstellt, ist insoweit nicht ausreichend, denn insoweit könnte Spezialität in gleicher Weise für jeden anderen Politikbereich (Umwelt, Binnenmarkt etc.) begründet werden, und ein solchermaßen weitreichender Vorrang „spezieller“ Ermächtigungen ließe die in Art. 83 Abs. 2 AEUV enthaltenen primärrechtlichen Grenzen der Annexkompetenz leerlaufen. Die besonderen Voraussetzungen und Grenzen der Strafrechtsangleichung sprechen vielmehr dafür, Art. 83 AEUV als gegenüber der jeweiligen Unionspolitik vorrangige Spezialnorm anzusehen.26 So wird die Union zwar im Rahmen der Einwanderungspolitik allgemein zur Bekämpfung des Menschenhandels ermächtigt (Art. 79 Abs. 2 lit. d AEUV), eine Harmonisierung der einschlägigen Strafvorschriften kann aber nur auf die insoweit speziellere Harmonisierungskompetenz (Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV: „Menschenhandel“) gestützt werden.27 Auf den Vorrang der spezielleren Ermächtigung kann die Anwendung des Art. 325 Abs. 4 AEUV daher nicht gestützt werden. 2. Wegfall des Vorbehalts zugunsten des nationalen Strafrechts Soweit Art. 325 Abs. 4 AEUV als selbständige Ermächtigungsgrundlage angesehen wird, wird dies vor allem auf eine mit dem Vertrag von Lissabon vollzogene Änderung des Art. 325 Abs. 4 AEUV gestützt. Im Unterschied zur aktuellen Fassung 25 Anette Grünewald (Fn. 24), JR 2015, 245, 251; Siegfried Magiera, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim (Fn. 19), Art. 325 AEUV Rn. 77; Joachim Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 19), Art. 83 Rn 81; Bettina Weißer (Fn. 24), GA 2014, 433, 443; Frank Zimmermann, Die Auslegung künftiger EU-Strafrechtskompetenzen nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Jura 2009, 844, 846. 26 Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates (Fn. 7), S. 6; siehe allgemein Fabian Dorra, siehe Fn. 19, S. 267; Joachim Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 19), Art. 83 Rn. 75. 27 Martin Heger (Fn. 19), ZIS 2009, 406, 416; siehe insoweit auch die aufgrund von Art. 83 Abs. 1 AEUV erlassene Richtlinie 2011/36/EU vom 5. 4. 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer, ABl. L 101 vom 15. 4. 2011, S. 1; a.A. Christoph Safferling (Fn. 24), § 10 Rn. 45 f.; Helmut Satzger (Fn. 19), § 8 Rn. 26.
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unterlag die Ermächtigung zu Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung vor dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages folgendem Vorbehalt: „Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleiben von diesen Maßnahmen unberührt.“ Die Streichung dieses Satzes (Art. 280 Abs. 4 S. 2 EGV a.F.) wird als Beleg dafür angesehen, dass Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung nunmehr auch das Strafrecht „berühren“ können, d. h. den Erlass strafrechtlicher Rechtsakte einschließen.28 Der Wegfall dieser Klausel lässt sich aber auch damit erklären, dass mit der ausdrücklichen (und abschließenden) Normierung einer strafrechtlichen Annexkompetenz kein Bedürfnis mehr für einen solchen Vorbehalt bestand.29 Dessen Fortbestand hätte vielmehr dahingehend missverstanden werden können, dass er auch eine Inanspruchnahme der strafrechtlichen Annexkompetenz (Art. 83 Abs. 2 AEUV) ausschließt, soweit diese an Art. 325 Abs. 4 AEUV anknüpft.30 Auch die Vorarbeiten im Konvent deuten eher auf ein solches Verständnis hin: So wurde im Abschlussbericht der entsprechenden Arbeitsgruppe die Strafrechtsangleichung zum Schutz der finanziellen Interessen der Union der Annexkompetenz zugeordnet31 und am Ende der Beratungen im Konvent festgestellt, dass die Streichung des Vorbehalts in Art. 280 Abs. 4 S. 2 EGVa.F. „im Zusammenhang mit den Bestimmungen betreffend den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ erfolgt sei32.33 Mit der Streichung des Vorbehalts wird also einerseits nachvollzogen, dass nach dem Vertrag von Lissabon auch im Bereich der Betrugsbekämpfung eine strafrechtliche Annexkom-
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Kai Ambos (Fn. 24), § 9 Rn. 8; Anette Grünewald (Fn. 24), JR 2015, 245, 250; Christoph Safferling (Fn. 24), § 10 Rn. 41; Johann Schoo, in: Schwarze (Fn. 19), Art. 325 AEUV Rn. 15; Frank Zimmermann (Fn. 25), Jura 2009, 844, 846; siehe auch den allgemeinen Hinweis auf die Änderung des Art. 325 AEUV im Vorschlag der Kommission, KOM (2013) 363 endg., S. 8. 29 Siehe auch Matthias Krüger, Unmittelbare EU-Strafkompetenzen aus Sicht des deutschen Strafrechts, HRRS 2012, 311, 316, wonach der Vorbehalt ohnehin nur deklaratorischer Natur war. 30 Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates (Fn. 7), S. 4; Canan Aksungur (Fn. 24), S. 425 f.; Fabian Dorra (Fn. 19), S. 270; Christian. Schröder, in: FS Achenbach (Fn. 24), 491, 496 f; Zöller, in: FS Schenke (Fn. 24), 579, 584 f; Jonas Sturies, Ermächtigt der Vertrag von Lissabon wirklich zum Erlass supranationaler Wirtschaftsstrafgesetze?, HRRS 2012, 273, 282. 31 Siehe den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe X „Freiheit, Sicherheit und Recht“, CONV 426/02, S. 10. 32 Vgl. die Zusammenfassung der Änderungsvorschläge zum Entwurf, CONV 821/03, S. 161; siehe auch zur entsprechenden Position der Bundesregierung („redaktionelle Anpassung“): BT-Drucks. 16/7683, S. 5. 33 Siehe auch die Stellungnahme des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments (Fn. 7), S. 38. Eine eingehende Analyse der Vorarbeiten findet sich bei Samuli Miettinen, Implied ancillary criminal law competence after Lisbon, EuCLR 2013, 194, 199 ff.
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petenz geschaffen wird, zugleich aber auch anerkannt, dass diese Kompetenz den allgemeinen Grenzen des Art. 83 Abs. 2 AEUV unterliegt.34 3. Wortlaut der Ermächtigung („Bekämpfung“) Dass Art. 325 Abs. 4 AEUV auch zu Maßnahmen zur Strafrechtsangleichung ermächtigt, wird ferner damit begründet, dass diese Vorschrift ihrem Wortlaut nach nicht nur die (verwaltungsrechtliche) „Verhütung“, sondern auch die (strafrechtliche) „Bekämpfung von Betrügereien“ umfasst.35 So verweist die Kommission darauf, dass mit dem Begriff „Betrug“ eine Straftat bezeichnet wird und „abschreckende“ Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung (Art. 325 Abs. 1 AEUV) ebenfalls seit jeher, insbesondere seit dem Urteil des EuGH in der Rechtssache „Griechischer Mais“ (siehe oben unter II.), eine strafrechtliche Dimension aufweisen.36 Nun ist ohne Weiteres einzuräumen, dass mit dem Begriff „Bekämpfung“ die Verfolgung von Straftaten bezeichnet werden kann (wie z. B. in Art. 83 Abs. 1 AEUV: Bekämpfung besonders schwerer Kriminalität). Dieses Verständnis ist jedoch keineswegs zwingend.37 Nach einer Reihe von vertraglichen Ermächtigungen „bekämpft“ die Union nicht nur Kriminalität, sondern auch die soziale Ausgrenzung (Art. 9, 151 Abs. 1, 153 Abs. 1 lit. j AEUV), die Diskriminierung (Art. 11, 19 AEUV), Krankheiten (Art. 168 Abs. 2 S. 2, Abs. 5 AEUV), den Klimawandel und Umweltbeeinträchtigungen (Art. 191 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 AEUV) und die Armut (Art. 208 Abs. 1 Uabs. 2 AEUV). Gerade in Art. 325 Abs. 4 AEUV erscheint eine Gleichsetzung mit strafrechtlicher Verfolgung zudem alles andere als naheliegend, denn die Begriffe „Bekämpfung“, „Betrügereien“ und „abschreckend“ waren bereits in Art. 280 EGV a.F. enthalten, also der Ermächtigung, die dem oben erwähnten Strafrechtsvorbehalt unterlag. Der Umstand, dass in Art. 86 Abs. 1 AEUVausdrücklich von „Straftaten“ zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union die Rede ist, deutet vielmehr im Umkehrschluss darauf hin, dass die in Art. 325 AEUV verwendeten Begriffe nicht unbedingt einen strafrechtlichen Gehalt aufweisen.38 Selbst wenn man unter „Bekämpfung“ die Verfolgung und Ahndung von Zuwiderhandlungen verstehen wollte, könnte (und müsste) Art. 325 Abs. 4 AEUV dahingehend ausgelegt werden, dass er lediglich die Harmonisierung verwaltungsrechtlicher Sanktionen (z. B. Geldbußen), nicht aber von Kriminalstrafen ermöglicht. Auch insoweit kann auf das Beispiel des Kapitalmarktstrafrechts verwiesen werden, wo die Straf34 Siehe auch den Hinweis auf den Wegfall des identischen Vorbehalts in Art. 33 AEUV (Zusammenarbeit im Zollwesen): Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates (Fn. 7), S. 5; Canan Aksungur (Fn. 24), S. 426 f. 35 Bernd Hecker (Fn. 22), § 10 Rn. 25. 36 KOM (2012) 363 endg., S. 8. 37 Mark A. Zöller (Fn. 24), 579, 584, unter Verweis auf Verwaltungsmaßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus nach Art. 75 AEUV; siehe auch zu Art. 79 AEUV: Matthias Krüger (Fn. 29), HRRS 2012, 311, 313. 38 Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates (Fn. 7), S. 7.
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rechtsangleichung in der Marktmissbrauchsrichtlinie, die Festlegung sonstiger (verwaltungsrechtlicher) Sanktionen in der Marktmissbrauchsverordnung erfolgt ist.39 4. Der Zusammenhang mit der Europäischen Staatsanwaltschaft Wie bereits erwähnt, ermächtigt Art. 325 Abs. 4 AEUV im Unterschied zu Art. 83 AEUV auch zum Erlass einer Verordnung, also ggf. auch unmittelbar anwendbarer, supranationaler Strafvorschriften. Aus diesem Grund wird der Rückgriff auf Art. 325 Abs. 4 AEUV mit Blick auf die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft für notwendig gehalten, um deren Ermittlungen auf eine einheitliche materiell-rechtliche Grundlage zu stellen.40 Das mit der Schaffung einer supranationalen Strafverfolgungsbehörde verfolgte Ziel, innerhalb der Union eine einheitliche Verfolgung von Betrug zum Nachteil der Union zu gewährleisten, sei in einem in 28 Strafrechtsordnungen zersplitterten Rechtsraum nicht zu erreichen.41 Diese Notwendigkeit wird von den Unionsorganen, die zur Zeit über eine Richtlinie verhandeln, indes offensichtlich nicht gesehen: Ein Blick auf den derzeitigen Stand der Verhandlungen zum Verordnungsentwurf der Kommission zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft ergibt vielmehr, dass selbst ein einheitliches Verfahrensrecht (insbesondere zu strafprozessualen Ermittlungseingriffen) nicht für notwendig gehalten, sondern ein Verweis auf das Recht des jeweiligen Mitgliedstaates als ausreichend angesehen wird.42 Da die Europäische Staatsanwaltschaft Anklage vor den nationalen Gerichten erhebt und diese die Strafe auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts verhängen (Art. 86 Abs. 2 S. 2 AEUV), besteht für ein unmittelbar anwendbares Unionsstrafrecht auch kein zwingendes Bedürfnis.43 Die Anwendung des Art. 325 Abs. 4 AEUV lässt sich daher auch nicht mittelbar aus dem Zusammenhang mit Art. 86 AEUVableiten. Könnte die Europäische Staatsanwaltschaft ihre Aufgaben nur auf der Grundlage eines unmittelbar anwendbaren 39 Siehe Art. 3 ff. der Marktmissbrauchsrichtlinie (Fn. 20), Art. 30 der Marktmissbrauchsverordnung (Fn. 21). 40 Martin Heger (Fn. 19), ZIS 2009, 406, 416; Christoph Safferling (Fn. 24), § 10 Rn. 41; Bettina Weißer (Fn. 24), GA 2014, 433, 443. Zum Teil wird aus diesem Grund Art. 86 AEUV als Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines Unionsstrafrechts herangezogen, siehe Matthias Krüger (Fn. 29), HRRS 2012, 311, 317; Katalin Ligeti, Approximation of substantive criminal law and the establishment of the European Public Prosecutor’s Office, in: Galli/ Weyenbergh (Hrsg.), Approximation of substantive criminal law in the EU, Brüssel 2013, S. 73, 81; Klaus Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht Besonderer Teil, 3. Aufl., München 2011, Rn. 34. Dagegen – mit Blick auf die Harmonisierungskompetenz nach Art. 83 AEUV – zu Recht Canan Aksungur (Fn. 24), S. 429 f.; Fabian Dorra (Fn. 19), S. 283 ff.; Rosaria Sicurella, in: Klip (Fn. 24), S. 233, 239 f.; Joachim Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 19), Art. 86 Rn. 48 f. 41 Bettina Weißer (Fn. 24), GA 2014, 433, 443. 42 Siehe Rats-Dok. 16993/14 vom 18. 12. 2014, S. 31 ff. (Art. 26 – 26b); siehe insoweit auch den Entwurf der Kommission, KOM (2013) 534 endg., S. 28 ff. (Art. 26). 43 Jonas Sturies (Fn. 30), HRRS 2012, 273, 278; Mark A. Zöller (Fn. 24), 579, 585.
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supranationalen Strafrechts wahrnehmen, so wäre die in Art. 86 Abs. 4 AEUV vorgesehene Zuständigkeitsausdehnung auf schwere, grenzüberschreitende Kriminalität von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn insoweit ist eine Ermächtigung zum Erlass unmittelbar anwendbarer unionaler Straftatbestände nicht ersichtlich.44 Dass mit Art. 86 AEUVeine eigenständige Ermächtigung zur Errichtung einer supranationalen Strafverfolgungsbehörde geschaffen wurde, die einen effektiven Schutz der finanziellen Interessen der Union gewährleisten soll, spricht vielmehr dafür, dass auch für die materiell-rechtlichen Grundlagen eines solchen Schutzes die Vorschriften über die strafrechtliche Zusammenarbeit Anwendung finden.45 5. Betrugsbekämpfung als Schutz eigener unionaler Interessen Ungeachtet der vorstehenden Argumente wird die vertragliche Ermächtigung zu Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung (Art. 325 Abs. 4 AEUV) im deutschen Schrifttum überwiegend als speziellere Vorschrift angesehen, welche die allgemeine strafrechtliche Annexkompetenz nach Art. 83 Abs. 2 AEUV verdrängt.46 Die Besonderheit des Art. 325 Abs. 4 AEUV wird darin gesehen, dass die Angleichung des Betrugsstrafrechts nicht der Durchsetzung einer Unionspolitik, sondern dem Schutz eigener unionaler Interessen diene, d. h. originärer Rechtsgüter der Union bzw. ihrer (finanziellen) Existenzgrundlage.47 In diese Richtung argumentiert auch die Kommission, indem sie die Betrugsbekämpfung als „solidarisches Anliegen auf EUEbene“ und die besondere Bedeutung des Titels II (Finanzvorschriften) hervorhebt.48 Für diese Auslegung spricht zunächst der Wortlaut des Art. 83 Abs. 2 AEUV, der auf die „wirksame Durchsetzung der Politik der Union“ abstellt. Begrenzt man den Anwendungsbereich der Annexkompetenz auf die Unionspolitiken i.S.d. dritten Teils des AEUV (Art. 26 – 197 AEUV)49, so entfiele der oben genannte Widerspruch, denn die in Art. 83 Abs. 2 AEUV normierten Grenzen blieben weitgehend (nämlich für die Unionspolitiken) erhalten, könnten allerdings für Art. 325 Abs. 4 AEUV keine Geltung beanspruchen.50 Gleiches müsste dann etwa auch für den strafrechtlichen Schutz vor Diskriminierungen (Art. 19 AEUV) gelten, der ebenfalls nicht Teil einer internen Unionspolitik ist.51 44
Fabian Dorra (Fn. 19), S. 283. Dies gilt nicht, sofern man insoweit Art. 86 AEUV als geeignete Ermächtigungsgrundlage ansieht, siehe insoweit Fn. 40. 45 Stellungnahme des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments (Fn. 7), S. 38. 46 Siehe oben Fn. 25. 47 Anette Grünewald (Fn. 24), JR 2015, 245, 250; Frank Meyer, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje (Fn. 24), Art. 83 AEUV Rn. 52; Christoph Safferling (Fn. 24), § 10 Rn. 41; Bettina Weißer (Fn. 24), GA 2014, 433, 443. 48 KOM (2012) 363 endg., S. 7 f. 49 Frank Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 24), Art. 83 AEUV Rn. 52. 50 Frank Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 24), Art. 83 AEUV Rn. 52. 51 Frank Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 24), Art. 83 AEUV Rn. 53.
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Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob der Zuordnung von Ermächtigungsgrundlagen zu einer bestimmten internen Politik eine so weitreichende Bedeutung zukommt. Wollte man Ermächtigungen außerhalb des dritten Teils des AEUV als autonome Grundlage zur Strafrechtsangleichung ansehen, so müsste man dies konsequenterweise auch für die Flexibilitätsklausel in Art. 352 AEUV annehmen, die (wie Art. 325 Abs. 4 AEUV) auch den Erlass von Verordnungen umfasst – eine Konsequenz, die auch von denjenigen Autoren abgelehnt wird, die Art. 325 Abs. 4 AEUV als selbständige Ermächtigungsgrundlage zur Strafrechtsangleichung ansehen.52 Der strafrechtliche acquis in den genannten Bereichen (die Übereinkommen zur Betrugsbekämpfung53 und der Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit54) war bislang unbestrittener Bestandteil der strafrechtlichen Zusammenarbeit im Rahmen der dritten Säule, und es stellt sich die Frage, warum diesen Bereichen nunmehr eine Sonderrolle bei der Strafrechtsangleichung zukommen sollte, indem man insoweit weitergehende Möglichkeiten zur Strafgesetzgebung eröffnet. Die Unterscheidung zwischen dem Schutz eigener Rechtsgüter und der Durchsetzung von Unionspolitiken vermag eine solche Begründung nicht zu leisten.55 Rechtsgüter werden durch einen Wertungsakt des Gesetzgebers konstituiert, mit dem ein bestimmtes Interesse als schutzwürdiges Gut anerkannt wird56, und im Unionsrecht erfolgt dies in der Regel im Rahmen der Unionspolitiken. Der Unionsgesetzgeber erlässt insoweit auch und gerade Vorschriften, die eigene Rechtsgüter der Union betreffen, beispielsweise in Bezug auf den Euro als gemeinsame Währung (Art. 133 AEUV). Da das Gros der Betrugsschäden auf der Ausgabenseite der Union entsteht57, ist auch und gerade beim Schutz der finanziellen Interessen zu berücksichtigen, dass angesichts der mit der jeweiligen Fördermaßnahme verfolgten politischen Ziele ein 52 Frank Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 24), Art. 83 AEUV Rn. 53; Helmut Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., München 2012, Art. 83 Rn. 25; Joachim Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 19), Art. 83 Rn. 75; a.A. Christoph Safferling (Fn. 24), § 10 Rn. 71. 53 Siehe oben Fn. 3 und 4. 54 Rahmenbeschluss 2008/913/JI vom 28. 11. 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ABl. L 328 vom 6. 12. 2008, S. 55. 55 Siehe das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates (Fn. 7), S. 4, der auf das im Rahmen der Politik der Betrugsbekämpfung erlassene Sekundärrecht verweist; siehe auch EuGH, Rs. 68/88, „Griechischer Mais“, Slg. 1989, I-2965 Rn. 22 ff.: Dort wird nicht auf den Schutz der finanziellen Interessen (Erhebung bzw. Hinterziehung von Agrarabschöpfungen), sondern auf die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts abgestellt; eingehend zu den schutzwürdigen Interessen Stefan Gröblinghoff, Die Verpflichtung des deutschen Gesetzgebers zum Schutz der Interessen der Europäischen Gemeinschaften, Heidelberg 1996, S. 38 ff. 56 Knut Amelung, Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie – Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, Baden-Baden 2003, S. 155, 157 ff. 57 Siehe den Betrugsbekämpfungsbericht der Kommission (Fn. 1), S. 11.
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unlösbarer Zusammenhang mit den Unionspolitiken besteht, in denen die Voraussetzungen für Subventions- und Förderprogramme festgelegt werden (u. a. gemeinsame Agrarpolitik, Regionalpolitik).58 Dies zeigt, dass die Grenze zwischen dem Schutz von Unionsinteressen bzw. -rechtsgütern einerseits und der Durchsetzung von Unionsrecht andererseits fließend ist; sie scheidet daher als Grundlage für eine Abgrenzung von selbständigen Kompetenzen und Annexkompetenzen im Strafrecht aus.59 6. Zwischenfazit Art. 325 Abs. 4 AEUV scheidet damit als selbständige Ermächtigungsgrundlage für Maßnahmen zur Strafrechtsangleichung aus. Die strafrechtliche Annexkompetenz nach Art. 83 Abs. 2 AEUV ist insoweit abschließend. Dass auch im Rahmen der Betrugsbekämpfung ein sachliches Bedürfnis für eine Anwendung der Sonderregelungen nach Art. 83 Abs. 2 und 3 AEUV besteht, zeigt sich nicht zuletzt in dem Vorschlag, den Notbremsenmechanismus analog auf Art. 325 Abs. 4 AEUV anzuwenden60. Mit diesem Zugeständnis wird der Vorrang der Annexkompetenz in der Sache weitgehend anerkannt.61
IV. Das Urteil des EuGH zur Richtlinie über den Informationaustausch zur Verfolgung von Straßenverkehrsdelikten Abschließend soll noch auf die Frage eingegangen werden, wie sich eine solche Sperrwirkung der strafrechtlichen Annexkompetenz mit einem kürzlich ergangenen Urteil des EuGH vereinbaren lässt, in dem dieser sich zu dem Verhältnis von sachgebietsbezogenen Kompetenzen (Verkehrspolitik, Art. 91 AEUV) zur polizeilichen 58 Siehe Art. 39 f. (Agrarpolitik), 162 (Europäischer Sozialfonds), 174 ff. (Strukturpolitik) AEUV; siehe zum Politischen als „Wesenselement“ der Subventionierung“: Volkmar Götz, Bekämpfung der Subventionserschleichung, Köln 1974, S. 6 f. 59 Canan Aksungur (Fn. 24), S. 431. 60 Kai Ambos (Fn. 24), § 11 Rn. 10; Anette Grünewald (Fn. 24), JR 2015, 245, 250; Martin Heger (Fn. 19), ZIS 2009, 406, 416; Helmut Satzger (Fn. 19), § 9 Rn. 52 ff; ablehnend Bernd Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Aufl., Berlin 2012, § 4 Rn. 82; Frank Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 24), Art. 83 AEUV Rn. 52; Christoph Safferling (Fn. 24), § 10 Rn. 67 f.; Rosaria Sicurella, in: Klip (Fn. 24), S. 233, 238. 61 Die analoge Anwendung des Art. 83 Abs. 3 AEUV wird allerdings auf den Erlass von Richtlinien beschränkt, da nur diese die Mitgliedstaaten zu Änderungen ihres Strafrechts verpflichteten, während Verordnungen das nationale Strafrecht unberührt ließen (Satzger, a.a.O., Rn. 53 f.). Diese Unterscheidung verkennt indes, dass Verordnungen aufgrund ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit und ihres Vorrangs gegenüber dem innerstaatlichen Recht sogar noch stärker auf die nationale Strafrechtsordnung einwirken als Richtlinien (man denke nur an die Einführung einer objektiven Verantwortlichkeit, die keinen Schuldnachweis erfordert), siehe insoweit die berechtigte Kritik von Fabian Dorra (Fn. 19), S. 289; Jonas Sturies (Fn. 30), HRRS 2012, 273, 279.
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Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 87 – 89 AEUV) geäußert hat. Gegenstand des Verfahrens war die im Jahr 2011 auf der Grundlage des Art. 87 Abs. 2 AEUV erlassene Richtlinie zum Austausch von Informationen zur Verfolgung von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr.62 Ziel der Richtlinie war es, die Sicherheit des Straßenverkehrs zu verbessern, indem die grenzüberschreitende Verfolgung von Verkehrsdelikten durch einen schnelleren Informationsaustausch in Straf- und Bußgeldverfahren (insbesondere den automatisierten Abruf von Halterdaten) erleichtert wird (Art. 1). Die Kommission hatte bereits im Gesetzgebungsverfahren die Ansicht vertreten, dass die Richtlinie im Rahmen der Verkehrspolitik nach Art. 91 Abs. 1 lit. c AEUV hätte erlassen werden müssen, und mit dieser Begründung Nichtigkeitsklage gegen die Richtlinie erhoben.63 Der EuGH gab der Klage im Mai vergangenen Jahres statt und erklärte die Richtlinie für nichtig.64 Ausgangspunkt der Urteilsbegründung ist die ständige Rechtsprechung, wonach die Wahl der Rechtsgrundlage nach den überwiegenden bzw. hauptsächlichen Zielen und Inhalten des Rechtsaktes zu erfolgen hat (sog. SchwerpunktFormel).65 Da Ziel und Inhalt der Richtlinie darauf gerichtet seien, die Sicherheit des Straßenverkehrs zu verbessern, die Richtlinie mithin dem in Art. 91 Abs. 1 lit. c AEUV genannten Ziel diene, hielt der EuGH diese Ermächtigung für einschlägig.66 Demgegenüber betreffe Art. 87 Abs. 2 AEUV die Verhütung und Aufdeckung von Straftaten durch die Polizei und andere spezialisierte Strafverfolgungsbehörden.67 Der EuGH greift damit das Vorbringen der Kommission auf, wonach die in der Richtlinie genannten Zuwiderhandlungen nicht in allen Mitgliedstaaten mit Strafe, sondern zum Teil nur mit Geldbuße bedroht seien.68 Dass diese Begründung alles andere als überzeugend ist, hat bereits der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen eingehend dargelegt.69 So zeigt bereits der Blick auf den acquis der strafrechtlichen Zusammenarbeit, insbesondere den Rahmenbe-
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Richtlinie 2011/82/EU vom 25. 10. 2011 zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Austauschs von Informationen über die Straßenverkehrssicherheit gefährdende Verkehrsdelikte, ABl. L 288 vom 5. 11. 2011, S. 1. 63 Siehe die Erklärung der Kommission zur Richtlinie 2011/82/EU, ABl. L 288 vom 5. 11. 2011, S. 15; siehe auch den auf Art. 71 Abs. 1 lit. c EGV a.F. gestützten Richtlinienvorschlag der Kommission, KOM (2008) 151 endg. 64 EuGH (Große Kammer), Urteil vom 6. 5. 2014, Rs. C- 43/12, Kommission / Parlament und Rat, NJW 2014, 2173. 65 EuGH, ebd., Rn. 29 f.; siehe aus der Rechtsprechung EuGH, Rs. C-155/91, Abfallrichtlinie, Slg. 1993, I-939 Rn. 19 f.; EuGH, Rs. C- 411/06, Abfallverbringungsverordnung, Slg. 2009, I-7585 Rn. 45 f. 66 EuGH, ebd., Rn. 32 ff., 44. 67 EuGH, ebd., Rn. 47, 49. 68 Siehe die Wiedergabe des Kommissionsvortrags in: EuGH, ebd., Rn. 17 f. 69 Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 10. 9. 2013, in: EuGH, Rs. C-43/12, Rn. 19 ff.
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schluss zur grenzüberschreitenden Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen70, dass es auf die Ausgestaltung der Zuwiderhandlung als Straftatbestand oder als Ordnungswidrigkeit nicht ankommen kann.71 Der entscheidende Schwachpunkt in der Argumentation liegt jedoch darin, dass der EuGH in der Verbesserung der Sicherheit des Straßenverkehrs einerseits und der grenzüberschreitenden Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten andererseits unterschiedliche Zielsetzungen sieht und damit den engen Zusammenhang zwischen beiden Aspekten ignoriert: Regelungen zur Verbesserung des Informationsaustauschs erleichtern die grenzüberschreitende Strafverfolgung (Art. 87 AEUV) und verbessern dadurch – soweit es um Verkehrsdelikte geht – die Sicherheit des Straßenverkehrs (Art. 91 AEUV). Dies gilt u. a. für die bereits erwähnte Regelung zur grenzüberschreitenden Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen, die in den meisten Fällen die Ahndung von Verkehrsverstößen betreffen.72 Da die Richtlinie unmittelbar auf die Erleichterung der grenzüberschreitenden Verfolgung bestimmter Zuwiderhandlungen abzielt und erst dadurch mittelbar die Sicherheit des Straßenverkehrs verbessert, war es nur folgerichtig, Art. 87 Abs. 2 AEUV als einschlägige Ermächtigungsgrundlage heranzuziehen.73 Der EuGH hat anders entschieden, und es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die These von der Sperrwirkung des Art. 83 Abs. 2 AEUV ergeben. So ist das Urteil des EuGH im Schrifttum bereits als eine Bestätigung dafür aufgenommen worden, dass Vorschriften zur strafrechtlichen Zusammenarbeit auch außerhalb der Art. 82 – 89 AEUVerlassen werden können, mithin auch Art. 325 Abs. 4 AEUV als autonome Ermächtigung herangezogen werden kann.74 Eine solche Schlussfolgerung wäre jedoch voreilig. Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass der Richtlinienentwurf der Kommission unzweifelhaft das Kriminalstrafrecht betrifft. Der in Bezug auf die Verkehrsdaten-Richtlinie erhobene Einwand, diese betreffe auch die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten, greift daher nicht. Bedeutsamer ist jedoch ein zweiter Unterschied: Art. 87 AEUV enthält keine Regelung über das Verhältnis zu anderen Ermächtigungsgrundlagen außerhalb 70
Rahmenbeschluss 2005/214/JI vom 24. 2. 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. 2005 L 76 vom 21. 3. 2005, S. 16. 71 Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 10. 9. 2013, in: EuGH, Rs. C-43/12, Rn. 59 ff., mit weiteren Rechtsakten, deren Anwendungsbereich auch Ordnungswidrigkeiten bzw. Geldbußen umfasst. 72 Siehe insoweit Christian Johnson/Stefanie Loroch, Die EU-weite Anerkennung und Vollstreckung von Geldsanktionen – eine erste Bestandsaufnahme, DAR 2013, 253, 254. 73 Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 10. 9. 2013, in: EuGH, Rs. C-43/12, Rn. 33 f. 74 Frank Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 24), Art. 83 AEUV Rn. 52; siehe auch Samuli Miettinen (Fn. 33), EuCLR 2013, 194, 206 ff., mit Hinweis auf das – allerdings nicht unmittelbar für die strafrechtliche Zusammenarbeit einschlägige – Urteil des EuGH vom 6. 9. 2012, Rs. C-490/10, Parlament/Rat (zum Verhältnis von Art. 194 AEUV und Art. 337 AEUV).
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der strafrechtlichen Zusammenarbeit, während Art. 83 Abs. 2 AEUV mit der Normierung einer Annexkompetenz deutlich zum Ausdruck bringt, dass strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung des Unionsrechts nicht im Rahmen der jeweiligen Unionspolitik, sondern grundsätzlich nur nach Art. 83 Abs. 2 AEUV erlassen werden.75 Man stelle sich eine Richtlinie zur Harmonisierung des Verkehrsstrafrechts vor, die auf eine Verbesserung der Sicherheit des Straßenverkehrs abzielt. Vordergründig ließe sich die Argumentation des EuGH zur Verkehrsdaten-Richtlinie nahezu unverändert auf einen solchen Rechtsakt übertragen. Die Anwendung der Schwerpunkt-Formel liefe jedoch darauf hinaus, den Grundlagen der jeweiligen Unionspolitik jeweils Vorrang gegenüber der Annexkompetenz einzuräumen und letztere damit praktisch leerlaufen zu lassen. Eine solche Auslegung wäre mit dem Sinn und Zweck des Art. 83 Abs. 2 AEUV schlechterdings nicht vereinbar.76
V. Fazit und Ausblick Das Ergebnis steht damit fest: Die Richtlinie zur Angleichung des Betrugsstrafrechts kann nicht auf Art. 325 Abs. 4 AEUV gestützt werden, sondern nur auf die strafrechtliche Annexkompetenz (Art. 83 Abs. 2 AEUV). Wenngleich die strafrechtliche Zusammenarbeit nunmehr integraler Bestandteil des supranationalen Unionsrechts ist, haben die Mitgliedstaaten die Strafrechtsangleichung besonderen Voraussetzungen und Grenzen unterworfen. Diese dürfen mit dem Hinweis auf den – unzweifelhaft legitimen – Schutz der finanziellen Interessen der Union nicht überspielt werden. Dies gilt auch für die Sonderregelungen für Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich, soweit sich diese gegen eine Teilnahme an der strafrechtlichen Zusammenarbeit entschieden haben.77 Der Sonderstatus dieser beiden Mitgliedstaaten sollte daher nicht zu einem vorschnellen Rückgriff auf Art. 325 Abs. 4 AEUV verleiten, um eine unionsweite Geltung des zu erlassenden Rechtsaktes zu gewährleisten.78 Das britische „opt-out“ und die erfolgreiche Nichtigkeitsklage gegen die Verkehrsdaten-Richtlinie dürften die Kommission allerdings veranlassen, die Wahl der Ermächtigungsgrundlage auch in diesem Fall vom EuGH überprüfen zu 75 Vgl. auch Frank Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 24), Art. 83 AEUV Rn. 52. 76 Siehe auch Generalanwalt Yves Bot, Schlussanträge vom 10. 9. 2013, Rs. C-43/12, Rn. 22. Die deutsche Übersetzung geht missverständlich davon aus, dass ein entsprechender Rechtsakt nicht Art. 83 Abs. 2 AEUV unterliegen würde; siehe dagegen die französische Fassung (Verfahrenssprache): „Ainsi, une réglementation de l’Union qui aurait pour objet d’établir des règles minimales relatives à la définition des infractions pénales et des sanctions en matière de circulation routière aurait bien pour objectif d’améliorer la sécurité routière, mais relèverait pourtant de l’article 83, paragraphe 2, TFUE.“ Ebenso Joachim Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 19), Art. 83 Rn. 75. 77 Siehe insoweit die in Fn. 8 und 9 zitierten Regelungen. 78 Siehe auch Generalanwalt Yves Bot, Schlussanträge vom 10. 9. 2013, Rs. C-43/12, Rn. 14.
Art. 325 Abs. 4 AEUV im System der strafrechtlichen Kompetenzen
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lassen. Die vor dem Vertrag von Lissabon zwischen Rat und Kommission geführte, martialisch als „Kampf der Säulen“ apostrophierte Auseinandersetzung um die Wahl der Rechtsgrundlage ist also – entgegen mancher Erwartung79 – durch die Neuordnung der Kompetenzen nicht beendet worden, sondern hat sich nur auf ein anderes Terrain verlagert.
79 Jean Pradel/Geert Corstens/Gert Vermeulen, Droit pénal européen, 3. Aufl. 2009, S. 755 f.
Kompetenzfragen in der Entscheidungspraxis der EU Institutionen Oliver Koch* Fragen der Kompetenzabgrenzung gehören – vor allem in Deutschland – zu den Dauerbrennern der europapolitischen Debatte. Volkmar Götz hat hier in zahlreichen Veröffentlichungen über Jahre hinweg Impulse gesetzt. Seine Beiträge zeichnen sich insbesondere durch eine genaue Analyse der Anwendungspraxis aus – so hat er als einer der ersten den engen Zusammenhang zwischen der Kompetenzfrage und der Frage der Mehrheitsentscheidungen herausgearbeitet1. Auch der vorliegende Beitrag widmet sich der Anwendungspraxis und untersucht anhand einiger Fallbeispiele aus den Bereichen Energie, Wettbewerb und Außenhandel, inwieweit sich formale Kompetenzordnung und tatsächliche Kompetenzausübung decken. Dabei sollen insbesondere auch Tendenzen zur Renationalisierung von Unionskompetenzen beleuchtet werden.
I. Kompetenzregeln in der EU: Schutz von Mitgliedstaaten und Union Kompetenzfragen spielen traditionell in föderal gegliederten Staaten eine große Rolle; letztlich stellen sich Fragen der Kompetenzabgrenzung in der integrierten globalen Wirtschaft des 21. Jahrhunderts aber in jeder modernen Demokratie. Kompetenzregeln sollen zum einen in klarer und vorhersehbarer Weise festlegen, wer befugt ist, staatliche Entscheidungsgewalt wahrzunehmen und dadurch lähmende Konflikte um die Machtausübung im Einzelfall zu verhindern. Im System der Gewaltenteilung übernehmen sie auch eine wichtige Schutzfunktion und stellen sicher, dass Kompe* Der Autor arbeitet als stellvertretender Referatsleiter in der Generaldirektion Energie der Europäischen Kommission. Der Beitrag gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder und bindet in keiner Weise die Europäische Kommission. Der Autor dankt Frau Dr. Sylvia Baule für wertvolle Hinweise zur Praxis der Kompetenzausübung im Bereich der Außenkompetenzen der Union. 1 Volkmar Götz, Mehrheitsbeschlüsse des Rates der Europäischen Union, in: Due/Lutter/ Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. 1, Baden-Baden 1995, S. 339 ff.; siehe auch Volkmar Götz, in: ders./Martínez Soria (Hrsg.), Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, Baden-Baden 2002, S. 83 ff.; Volkmar Götz, Kompetenzverteilung und Kompetenzkontrolle in der Europäischen Union, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, Baden-Baden 2004, S. 43 ff.
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tenzen nicht nach politischer Stimmungslage und Opportunität, sondern nach vorher demokratisch vereinbarten Regeln zugewiesen und ausgeübt werden. Dabei steht in der wissenschaftlichen Debatte traditionell der Schutz der Mitgliedstaaten vor ungerechtfertigten Eingriffen auf europäischer Ebene im Mittelpunkt. Ein effizientes Kompetenzsystem solle die ”ungehemmte Regelungsfreude der Gemeinschaftsbürokratie” begrenzen – so hat es der Jubilar einmal treffend formuliert und so den Tenor der Kompetenzdebatte auf den Punkt gebracht2. Tatsächlich darf es nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung eine „Kompetenz-Kompetenz“ nicht geben. Allerdings sollen Kompetenzregeln durchaus auch das Handeln der Union schützen. Die Union der 28 kann gemeinsame Politik – etwa in den Bereichen ausschließlicher Kompetenz – nur dann wirksam gestalten, wenn die gemeinsamen Maßnahmen nicht von Eingriffen divergierender Mitgliedstaaten konterkariert werden. Nicht nur Gemeinschaftsbürokratie, auch nationale Regierungen müssen sich also an die Spielregeln des Kompetenzrahmens halten. Gerade dieser Aspekt soll im Folgenden anhand einiger Beispiele veranschaulicht werden. Wie in allen Mitgliedstaaten spielen Kompetenzregeln daneben nicht nur im Rahmen der vertikalen Gewaltenteilung, sondern auch auf horizontaler Ebene eine wichtige Rolle, also etwa bei der Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen an Parlament, Rat oder Kommission3. Kompetenzfragen können selbst innerhalb der Institutionen höchst umstritten sein4 – was nicht verwundert, da Kompetenzfragen letztlich stets Machtfragen sind. 1. Wechselnde Perspektive der Kompetenzdebatte Der Fokus der europarechtlichen Kompetenzdebatte hat sich über die Jahrzehnte gewandelt. In der Frühphase nach Gründung der Gemeinschaft ging es zunächst vor allem darum, dem EU Recht gegenüber nationalem Recht überhaupt Geltung zu verschaffen. Erst nachdem der EuGH in den sechziger Jahren das Gemeinschaftsrecht für unmittelbar anwendbar erklärt und ihm sogar Vorrang vor nationalem Recht zugesprochen hatte, wurde die Kompetenzabgrenzungsfrage vermehrt diskutiert. Mit dem all-
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Volkmar Götz, in: ders./Martínez Soria (Fn. 1), S. 83 (91). Vgl. etwa den Jahrzehnte währenden Kampf des Europäischen Parlaments um das Mitbestimmungsrecht bei der Gesetzgebung. 4 Kompetenzkonflikte können selbst innerhalb des Gerichtshofs auftreten, wie u. a. der lange währende Disput zwischen EuGH und EuG um Zuständigkeiten für neu zu schaffende Kammern zeigte. Die Frage, welche Generaldirektion für ein bestimmtes Dossier zuständig ist, ist bei Amtsantritt einer neuen Kommission regelmäßig hart umkämpft. 3
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mählichen Verzicht auf nationale Vetorechte und dem Aufkommen von Mehrheitsentscheidungen beim Erlass von Sekundärrecht nahm die Debatte an Fahrt auf5. Im „Delors-Europa“ der achtziger und frühen neunziger Jahre spielten Kompetenzfragen dann zurecht eine zentrale Rolle in der europarechtlichen Debatte. Mangels geschriebener Kompetenzen in wichtigen binnenmarktrelevanten Politikbereichen griff die Kommission in durchaus kreativer Weise auf bestehende Kompetenzvorschriften – insbesondere die allgemeine Binnenmarktkompetenz des Art. 114 AEUV und die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV – zurück und erweiterte in atemberaubendem Tempo Ihren Tätigkeitsbereich. Der Gerichtshof förderte diese Entwicklung mit einer europafreundlichen und am „effet utile“ orientierten Rechtsprechung. Auch wenn die Mitgliedstaaten den eingeschlagenen Weg durchaus unterstützten, stieß die rein zielorientierte Kompetenzauslegung insbesondere in der deutschen Rechtslehre zurecht auf Kritik6. Der verstärkte Rückgriff auf Mehrheitsentscheidungen in politisch sensiblen Fragen machte den Mitgliedstaten zudem deutlich, dass Kompetenzfragen auch Souveränitätsfragen sind. Die formale Frage nach der Wahl der korrekten Rechtsgrundlage war in dieser Phase aus mitgliedstaatlicher Sicht von großer Bedeutung, da sie oft darüber entschied, ob mit Mehrheit oder einstimmig abgestimmt werden musste. Im heutigen „Post-Lissabon-Europa“ scheint die Kompetenzfrage wieder etwas in den Hintergrund gerückt zu sein. Verfassungskonvent und zwei Vertragsreformen haben die Kritik an der unklaren Kompetenzsituation aufgegriffen und wesentliche Problembereiche entschärft. Auch wenn – insbesondere von deutscher Seite geäußerte – Wünsche nach einem „abschließenden“ Kompetenzkatalog unerfüllt blieben, haben die Vertragsreformen die Kompetenzvorschriften vervollständigt, klarer gegliedert und so der Realität der Unionsrechtsetzung angepasst. Die EU verfügt inzwischen in den Kernbereichen ihrer Politik über die notwendigen Kompetenzen. Ein Rückgriff auf unscharfe Querschnitts- und Lückenfüllungsklauseln zur Begründung einer Kompetenz ist hier nur noch selten notwendig. Die Tatsache, dass der Rat heute in den „klassischen“ Bereichen des Unionsrechts mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, hat die Relevanz der Wahl der Rechtsgrundlage in der Praxis weiter verringert7. An Bedeutung gewinnt dagegen in einer von zunehmender Euroskepsis ge-
5 Auf die Tatsache, dass Unionskompetenzen erst beim Wegfall nationaler Vetorechte ihre volle Wirksamkeit entfalten, hat Götz zurecht wiederholt hingewiesen, siehe auch seine „Bemerkungen zur Kompetenzverteilung“ in diesem Band, S. 97. 6 Siehe etwa den Überblick über die Kritik an der EuGH-Rechtsprechung zum Sozialrecht („Kompetenzanmaßung“, „Verstoß gegen die Gewaltenteilung“, „unzulässige Rechtsschöpfung“) bei Manfred Zuleeg, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitsund Sozialrecht im Streit, ArbuR 1994 , 77. 7 Natürlich besitzt die Frage der Wahl der Rechtsgrundlage in einzelnen Bereichen des Unionsrechts durchaus noch Relevanz, so etwa bei den Politiken ehemaligen „zweiten“ und „dritten Säule“, wo mitgliedstaatliche Souveränitätsrechte immer noch besonderen (Verfahrens-)Schutz genießen.
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prägten Atmosphäre die Diskussion um mögliche Rückübertragungen von EU-Kompetenzen8. 2. Kompetenzausübung als Dreh- und Angelpunkt der Kompetenzfrage Der Vertrag von Lissabon hat die Union mit umfassenden geteilten und ausschließlichen Kompetenzen ausgestattet. In den meisten Bereichen des Gemeinschaftsrechts steht damit heute nicht die formale Frage des Bestehens einer Kompetenz im Mittelpunkt; entscheidend ist, nach welchen Kriterien sich die Ausübung der Unionskompetenz richtet. In rechtlicher Hinsicht spielt dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dessen kompetenzrechtliche Ausprägung – der Subsidiaritätsgrundsatz – eine maßgebliche Rolle9. In der Anwendungspraxis des Lissabonner Vertrages bestehen damit bei der Frage, wer die Kompetenz in einem bestimmten Themenbereich jeweils ausüben soll, fast stets Argumentationsspielräume. Diese Praxis steht durchaus in Kontrast zum Idealkonzept einer streng formalisierten, von vorneherein festgeschrieben Abgrenzung zwischen nationalem und Unionshandeln. Die politische Einschätzung der Notwendigkeit von Unionsmaßnahmen ist nicht nur für die Kompetenzausübung im Bereich der geteilten Kompetenzen ausschlaggebend. Sie bestimmt selbst bei den ausschließlichen Kompetenzen, ob und in welchem Umfang die Kompetenzen auf Unionsebene tatsächlich ausgeübt werden. Der Ausgang der solchermaßen „politisierten“ Kompetenzabgrenzung ist dabei durchaus offen und führt keineswegs „systematisch“ zu einem Handeln der Union.
II. Beispiele defensiver Kompetenzausübung im Bereich geteilter Kompetenzen Die meisten Maßnahmen der Union betreffen heute den Bereich sog. geteilter Kompetenzen. Hier tritt Unionsrecht neben bestehendes nationales Recht im selben Politikbereich, ergänzt oder ersetzt dieses – vor allem, wenn ein grenzüberschreitender Bezug vorhanden ist. Maßstab ist dabei das Subsidiaritätsprinzip. Die These, dass das Harmonisierungsargument bei der Prüfung der Notwendigkeit von Unionsmaß8 Der britische Premierminister Cameron hat konkrete Verhandlungen mit der EU über eine solche Kompetenzrückführung noch vor dem angekündigten Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU angekündigt; auch in anderen Regierungen gibt es konkrete Überlegungen zu möglichen Kompetenzrückführungen, vgl. etwa den Niederländischen Bericht „Testing European legislation for subsidiarity and proportionality – Dutch list of points for action“, http://www.government.nl/documents-and-publications/notes/2013/06/21/testingeuropean-legislation-for-subsidiarity-and-proportionality-dutch-list-of-points-for-action.html (abgerufen am 20. 3. 2015). 9 Siehe dazu Oliver Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Berlin, 2003, S. 243.
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nahmen gleichsam als „Joker“ wirke und sich stets gegenüber dem nationalen Interesse durchsetze, bestätigt sich allerdings nicht. 1. Beispiel Energiebinnenmarkt Die Tendenz zur eher defensiven Kompetenzausübung der Union lässt sich etwa am Beispiel der europäischen Energiepolitik zeigen. Rapide steigende Stromkosten, grenzüberschreitende Stromausfälle und nicht zuletzt die Gaskrisen der Jahre 2006, 2009 und 2014 haben das Thema auf der Kommissionsagenda weit nach oben befördert. Tatsächlich lassen sich wohl nur wenige Bereiche nennen, in die Vorteile eines Binnenmarktes so greifbar sind wie in der Energiepolitik. Versorgungssicherheit lässt sich angesichts der verbundenen Strom- und Gasnetze schon denklogisch nur in Zusammenarbeit mit den Nachbarn sicherstellen10. Gleiches gilt für die Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien, die nur dann in bezahlbarer Weise gelingen kann, wenn die variable Produktion in einem hinreichend großen Marktgebiet aggregiert wird11. Die Juncker-Kommission hat demgemäß die Schaffung einer „Energieunion“ zu einer ihrer Prioritäten erklärt. Allerdings ist das Projekt der Verwirklichung eines Energiebinnenmarktes – Zieldatum war 2014 – ins Stocken gekommen. Es zeigte sich, dass die Mitgliedstaaten in Sachen Energiepolitik nicht ohne Weiteres bereit sind, eigene Regeln zugunsten eines integrierten Energiebinnenmarktes anzupassen oder aufzugeben. So ist die Kommission, trotz klarer Kompetenzen zur Schaffung eines Energiebinnenmarktes, oft auf erbitterte Widerstände gestoßen, wenn es um konkrete Maßnahmen zum Abbau von Handelshemmnissen ging12. Wohl nicht zuletzt wegen der politischen Sensitivität von Energiefragen hat sie sich in den letzten Jahren zumeist um konsensfähige Lösungen bemüht und dabei auch Verzögerungen für das Binnenmarktprojekt hingenommen. Ein Blick auf die im Rahmen der „Energieunion“ vorgeschlagenen Maßnahmen bestätigt diesen Befund, sucht man darin doch vergebens nach weitgehenden (aber konfliktträchtigen) Reformvorschlägen vom Kaliber der Vorschläge des „3. Energiebinnenmarktpaketes“ von 200713. Die starke Stellung der Mitgliedstaaten wurde auch beim Erlass der Durchführungsrechtsakte zur Harmonisierung im Strom- und Gasbereich, den sog. „Network 10
Siehe dazu jüngst die Mitteilung der Kommission zu den Ergebnissen sog. „Stress-Tests“ der Gasversorgungssicherheit der Mitgliedstaaten, die erhebliche Gefahrenpotentiale durch unkoordinierte Maßnahmen feststellte, siehe COM(2014) 654. 11 Siehe die Studie „The Benefits of an Integrated European Energy Market“, abrufbar unter https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/documents/20130902_energy_integration_be nefits.pdf (abgerufen am 20. 3. 2015). 12 Siehe dazu etwa die Beispiele in der Rede von des damaligen Energiekommissars Oettinger „Energy Policy beyond 2014“ vom 17. 5. 2013 (SPEECH-13 – 432). 13 Man denke nur an die Vorschläge zur Eigentumsentflechtung oder zur Schaffung eines europäischen Energieregulierers; siehe dazu die Presseerklärung vom 19. 9. 2007 (IP/07/ 1361).
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Codes“, deutlich. Auf Wunsch der Mitgliedstaaten sehen die meisten dieser Rechtsakte nur erste Ansätze einer Harmonisierung vor. Über die Notwendigkeit und Umfang weiterer Harmonisierungsschritte sollen dagegen nationale Netzbetreiber und Regulierer im Laufe des Implementierungsprozesses entscheiden. Obwohl die „Network Codes“ selbst als Kommissionsverordnungen mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können, sollte für die gemeinsame Entscheidung von Netzbetreibern und Regulierern über weitere Maßnahmen das Einstimmigkeitsprinzip gelten. Nur mit Mühe – und nicht in allen Bereichen – konnte die Kommission hier qualifizierte Mehrheitsentscheidungen durchsetzen14. Der Wille zur aktiveren Einflussnahme der Mitgliedstaaten auf energiepolitische Entscheidungen kam zuletzt auch in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24. Oktober 2014 zum Ausdruck, in denen die Mitgliedstaaten ankündigten, über wesentliche energiepolitische Themen nicht mehr „nur“ im Ministerrat, sondern regelmäßig auch im Europäischen Rat zu entscheiden15. Mag man sich über diese scheinbare Aufwertung der Energiepolitik auch freuen, so birgt sie zumindest das Risiko, dass wesentliche Weichenstellungen der europäischen Energiepolitik nunmehr nur noch einstimmig entschieden werden16. 2. Die „Åland“-Entscheidung: Weichenstellung für die Kompetenzen im Energiebereich Auch der Europäische Gerichtshof wird dem Ruf, Kompetenzen tendenziell im Sinne der Union auszulegen17 zumindest im Energiebereich keineswegs immer gerecht. In seiner vielbeachteten „Åland“-Entscheidung hat der Gerichtshof in einer Abwägung zwischen Binnenmarktinteressen und Autonomie nationaler Energiepolitik (Förderung erneuerbarer Energien) zugunsten der Mitgliedstaaten entschieden. In dem Verfahren ging es um die Frage, ob Mitgliedstaaten Fördersysteme für erneuerbare Energien rein national gestalten und ausländische Anbieter von der Teilnahme ausschließen können18. Die Entscheidung war von großer Bedeutung für die Binnenmarktpolitik der Kommission. Beihilfen zur Förderung erneuerbarer Energien in Milliardenhöhe be14
Vgl. Art. 9 des Verordnungsentwurf zu den sog. „Capacity Allocation and Congestion Management“-Leitlinien, abrufbar unter http://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/documents/ cacm_final_provisional.pdf (abgerufen am 20. 3. 2015). 15 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 23./24. 10. 2015 (EUCO 169/14). 16 Der Kommentar, die Ratsschlussfolgerungen seien ein „Anschlag auf die Demokratie“, dürfte die Bedeutung der Schlussfolgerungen allerdings deutlich überzeichnet haben, vgl. http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/eu-gipfel-in-bruessel-machtkampf-um-vetorecht-imklimaschutz-a-998879.html (abgerufen am 20. 3. 2015). 17 Siehe dazu etwa Juliane Kokott, Der pouvoir neutre im Recht der Europäischen Union, ZaöRV2009, 275. 18 Bezeichnenderweise wurde die Klage nicht von der Kommission, sondern von privaten Wettbewerbern angestrengt.
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treffen heute nicht mehr nur einen Nischenbereich der Stromerzeugung19. So werden etwa in Deutschland so viele erneuerbare Energieanlagen gefördert, dass deren nominale20 Erzeugungskapazität inzwischen den gesamten nationalen Strombedarf zu Spitzenzeiten – immerhin 82 GW – übersteigt. Aus Binnenmarktsicht stellt sich hier nicht nur die Frage nach der Legitimität des Ausschlusses ausländischer Erzeuger von der Förderung (immerhin könnten ausländische Erzeuger Strom aus erneuerbaren Energien oft weitaus günstiger produzieren als inländische Produzenten); die erheblichen nationalen Subventionen verzerren auch den fairen Wettbewerb im Binnenmarkt. Wenn sich die Strompreise nicht mehr nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage richten, sondern staatlich reguliert werden, führt dies in einem integrierten Strommarkt auch zu Nachteilen bei Erzeugern und Verbrauchern in Nachbarländern21. Die Wohlfahrtsverluste durch die rein national zugeschnittene Förderung erneuerbarer Energien wurden in einem Gutachten auf 20 – 30 Mrd. pro Jahr geschätzt22. Während sich Generalanwalt Bot noch klar gegen den Ausschluss ausländischer Erzeuger von nationalen Fördersystemen ausgesprochen hatte23, erkannte der EuGH den Eingriff in die Grundfreiheiten zwar an, rechtfertigte diesen aber mit legitimen nationalen Umweltschutzinteressen24. Eine Prüfung, ob koordinierte Fördermaßnahmen möglicherweise den gleichen Schutzstandard erreichen könnten, nahm der EuGH nicht vor. Unabhängig ob man dem EuGH in der konkreten Frage zustimmen möchte25, kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, dass die Große Kammer des EuGH letztlich davor zurückschreckte, im Interesse des Binnenmarktes mitgliedstaatliche Kompetenzen im Energiebereich anzutasten – was angesichts der weitreichenden fi-
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Dies unterschied den Fall von dem im Jahr 200 entschiedenen „Preussen-Elektra“-Fall, EuGH, Rs. C-379/98 – Preussen Elektra AG, Slg 2001 I-2099. 20 Allerdrings deckten die erneuerbaren Energien 2014 wegen der Variabilität ihrer Produktion nur ca. 28 % des Strombedarfs in Deutschland. 21 So blockiert der unabhängig von der Nachfrage eingespeiste deutsche Windstrom etwa den grenzüberschreitenden Stromhandel mit Polen oder Dänemark (sog. „Loop Flows“); die Subventionierung des deutschen Stroms machte Wasserkraftwerke und andere Speicherlösungen in angrenzenden Staaten unrentabel. 22 Siehe die Studie „The Benefits of an Integrated European Energy Market“, abrufbar unter https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/documents/20130902_energy_integration_be nefits.pdf (abgerufen am 20. 3. 2015). 23 Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 28. Januar 2014 in der Rs. C 573/12 – Ålands Vindkraft AB (noch nicht erschienen). 24 EuGH, Urteil vom 1. 7. 2014, Rs. C 573/12 – Ålands Vindkraft AB (noch nicht erschienen). 25 Bei der Entscheidung spielten wahrscheinlich auch die Schwierigkeiten der Anrechnung ausländischer Stromproduktion auf nationale Zielwerte für erneuerbare Energien eine Rolle.
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nanziellen und politischen Konsequenzen eines anders lautenden Urteils kaum überrascht26. Zumindest im Bereich der Energiepolitik agieren Rat, Kommission und Gerichtshof somit durchaus mit Augenmaß, wenn es um die Ausübung der geteilten Kompetenzen geht. Nationale energiepolitische Spielräume werden ernst genommen und besitzen selbst gegenüber dem Binnenmarktziel erhebliches Gewicht.
III. Beispiele defensiver Kompetenzausübung im Bereich ausschließlicher Kompetenzen Eine durchaus defensive Kompetenzausübung der Unionsorgane lässt sich heute auch in vielen Bereichen der ausschließlichen Kompetenzen nachweisen, einem Bereich also, in dem man erwarten würde, dass die Mitgliedstaaten ihre Kompetenz vollständig auf die Union übertragen haben. 1. Parallelität von nationalem und Unionshandeln im Bereich ausschließlicher Kompetenzen Die Abgrenzung der Kategorie der ausschließlichen Kompetenzen war einst Gegenstand lebhafter juristischer Diskussionen27. Der Lissabon-Vertrag definiert nunmehr einen Katalog ausschließlicher Kompetenzen, in denen gem. Art. 2 Abs. 1 TFEU „nur die Union gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen [darf]“. Die Definition legt nahe, dass in dem entsprechenden Bereich einzig Unionsorgane tätig sind. Allerdings zeigt ein Blick auf die Praxis, dass die Mitgliedstaaten ihre Kompetenz nur in einigen Politikbereichen – wie etwa bei der Festsetzung von Außenzöllen – vollständig abgetreten haben, während viele „ausschließliche“ Politikbereiche weiterhin durch eine Koexistenz von nationalen und Unionszuständigkeiten geprägt sind. Die Exklusivität der Unionskompetenz ist oft auf Sachverhalte mit Unionsbezug beschränkt, während die Mitgliedstaaten jenseits dieses Bereichs weiter rechtsetzend und regulierend tätig sein können.
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Der Umfang allein der deutschen Förderung für Produzenten erneuerbarer Energie über die „EEG“-Abgabe wird auf mehr als E 20 Mrd. pro Jahr geschätzt. 27 Siehe etwa Nils Rauer, Art. 5 EG und die Forderung nach einem europäischen Kompetenzkatalog, Europäische Zeitschrift des öffentlichen Rechts, 2002 , 959; Daniel Dittert, Die ausschließlichen Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft im System des EG-Vertrags, Frankfurt, 2001.
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2. Koexistenz von nationalem und europäischem Recht – Wettbewerbsrecht So besitzt die Union gem. Art. 2 Abs. 1(b) AEUV im Wettbewerbsrecht zwar die ausschließliche Kompetenz zum Erlass der für das „Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln“; die Mehrzahl aller Entscheidungen im Wettbewerbsrecht wird aber weiterhin von nationalen Wettbewerbsbehörden – übrigens z. T. auch nach Unionsrecht28 – erlassen. Der Gesetzgeber hat gewisse Regeln festgelegt, anhand derer der „Unionsbezug“ wettbewerblicher Sachverhalte zu ermitteln ist29; jedoch besteht etwa im Fusionskontrollrecht die Möglichkeit, Fälle von den Mitgliedstaaten ad hoc an die Kommission zu verweisen und, umgekehrt, Fälle mit gemeinschaftsweiter Bedeutung von nationalen Behörden anstatt durch die Kommission prüfen zu lassen. Im Kartellrecht bleiben die Mitgliedstaaten – ähnlich den geteilten Kompetenzen – bis zum Aufgreifen eines Falles durch die Kommission zuständig. 3. Koexistenz von nationalem und europäischem Recht – Direktinvestitionen Ähnlich stellt sich das Bild bei der „ausschließlichen“ Kompetenz der Union für ausländische Direktinvestitionen dar. Hier geht es in der Praxis vor allem um sog. Investitionsschutzübereinkommen mit Drittstaaten, die ausländische Direktinvestitionen vor Enteignungen und anderen ungerechtfertigten Eingriffen schützen soll. Die Zuständigkeit zum Abschluss von Investitionsschutzabkommen gehört als Teil der gemeinsamen Handelspolitik zu den ausschließlichen Unionskompetenzen gemäß Artikel 207 AEUV. Allerdings bleiben die Mitgliedstaaten für die mehr als 1200 bestehenden bilateralen Investitionsschutzabkommen mit Drittstaaten bis zum Abschluss entsprechender EU-Abkommen zuständig30. Die Union hat sich bisher auf den Abschluss einiger weniger Abkommen konzentriert und erst vereinzelt Investitionsschutzvereinbarungen, etwa im Rahmen von Freihandelsabkommen31 oder mit besonders bedeutenden Handelspartnern wie China in Angriff genommen. Bemerkenswert ist, dass die Mitgliedstaaten, vorbehaltlich der Zustimmung der Kommission nach den Regeln des Komitologieverfahrens, sogar neue bilaterale Abkommen mit Drittstaaten verhandeln und abschließen können. Die partielle Rückverlagerung der entsprechenden Kompetenzen beruht in diesem Fall auf Sekundär28
Siehe dazu KOM (2014) 453 vom 9. 7. 2014, Rn. 7. So etwa die Definition des „Zusammenschlusses mit gemeinschaftsweiter Bedeutung“ in Art. 1 der Fusionskontrollverordnung (Verordnung EG Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. (2014) L 24/1). 30 Siehe die Verordnung des Rates und des Europäischen Parlaments (EU) Nr. 1219/2012 vom 12. Dezember 2012 zur Einführung einer Übergangsregelung für bilaterale Investitionsschutzabkommen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern, ABl. (2012), L351/40. 31 So etwa in der Freihandelsabkommen mit Singapur, Kanada, oder den USA. 29
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recht32. Auch bei den Investitionsschutzabkommen richtet sich die konkrete Kompetenzausübung also nach den Umständen des Einzelfalls. 4. Bedeutung des Verfahrens für die Reichweite ausschließlicher Kompetenzen Volkmar Götz hat zurecht darauf hingewiesen, dass Verfahrensfragen – insbesondere die Beschlussfassung – für die tatsächliche Reichweite von Unionskompetenzen maßgeblich sein können33. Tatsächlich wird auch die Reichweite der ausschließlichen Kompetenzen ganz entscheidend durch die unterschiedlich weit reichenden Mitspracherechte der Mitgliedstaaten beeinflusst. Die ausschließlichen Kompetenzen sind zweifellos dort am stärksten, wo die Kommission im Rahmen unmittelbarer Verwaltungskompetenzen ohne substanzielle Mitwirkungsrechte des Rates Entscheidungen treffen und Rechtakte erlassen kann. Dies ist etwa im europäischen Wettbewerbsrecht der Fall, wo sich die Kommission zumindest in den Bereichen des Kartell- und Fusionskontrollrechts den Ruf erarbeiten konnte, gegenüber Versuchen mitgliedstaatlicher Einflussnahme weitgehend immun zu sein. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Kommission im Rahmen der Wettbewerbskontrolle gegen Privatunternehmen vorgeht. So lässt sich feststellen, dass die Kommission deutlich mehr Rücksicht auf mitgliedstaatliche Interessen nimmt, wenn sie Maßnahmen der Mitgliedstaaten auf Wettbewerbskonformität kontrolliert. Die verschwindend geringe Zahl eröffneter Wettbewerbsverfahren nach Art. 106 AUEV (Kontrolle staatlicher Maßnahmen) legt nahe, dass die Eingriffsschwelle der Kommission gegenüber Privatunternehmen deutlich niedriger liegt als gegenüber Mitgliedstaaten. Die Tatsache, dass die europäische Beihilfekontrolle im Vergleich zur Kartell- und Fusionskontrolle als anfälliger für mitgliedstaatliche Einflussnahme gilt, bestätigt diesen Befund. Klar begrenzt sind die ausschließlichen Unionskompetenzen in Bereichen, in denen Mitgliedstaaten über den Rat direkten Einfluss auf Entscheidungen oder Gesetzgebung der Kommission nehmen können. Selbst wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, ist der Einfluss der Mitgliedstaaten deutlich größer als etwa in der unionsunmittelbaren Verwaltung, wo sie regelmäßig nur ein Anhörungsrecht besitzen. Auch die Rechte der Mitgliedstaaten im Komitologieverfahren können in der Praxis erhebliche Auswirkungen auf den möglichen Einfluss der Mitgliedstaaten auf Entscheidungen der Kommission haben, wobei es Unterschiede zwischen verschiedenen Verfahrensarten gibt. So haben sich die Mitgliedstaaten bisher erfolgreich 32 Siehe Art. 11 und 16 der Verordnung 1219/2012, wonach die Kommission verpflichtet bleibt, die Ausübung der Kompetenzen durch die Mitgliedstaaten besonders eng zu überwachen (z. B. durch einen Genehmigungsvorbehalt Kommission der entsprechenden Verträge). 33 Siehe Volkmar Götz, „Bemerkungen zur Kompetenzverteilung“, in diesem Band Seitenzahl muss noch ergänzt werden.
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gegen eine vollständige Umstellung der alten Komitologieverfahren von 1999 auf die Verfahren der neuen Komitologieverordnung34 zur Wehr gesetzt. Dies dürfte auch damit zusammen hängen, dass die Mitgliedstaaten an ihrer vergleichsweise starken Stellung im „Regelungsverfahren“35 festhalten wollen, das in vielen Bereichen noch anwendbar ist. Dass die Art der Beteiligung der Mitgliedstaaten einen Unterschied in Bezug auf die Qualität der ausschließlichen Kompetenzen machen kann, zeigte sich jüngst auch an der Reform des Anti-Dumpingrechts, wo sich Änderungen im Komitologieverfahren klar auf die Machtbalance zwischen Kommission und Mitgliedstaaten in auswirkten36. 5. Kompetenzkonflikte bei „ausschließlichen“ Kompetenzen: Fusionskontrolle Wenn erhebliche wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel stehen, sind selbst formal klar der Union zugeordnete Kompetenzen vor nationalen Eingriffen nicht sicher. Dies zeigt das Beispiel der europäischen Fusionskontrolle, bei der regelmäßig Unternehmenszusammenschlüsse von großer wirtschaftlicher Bedeutung in einzelnen Mitgliedstaaten kontrolliert werden. Der Gesetzgeber hat sich hier ganz bewusst für eine exklusive Kontrolle großer Fusionen mit unionsweiter Bedeutung durch die Kommission entschieden. Mitgliedstaaten haben im Verfahren nur eine beratende Funktion. Selbst unmittelbar betroffene Mitgliedstaaten können ihnen unliebsame Fusionsentscheidungen letztlich nicht blockieren. In der Praxis hat sich allerdings gezeigt, dass es Mitgliedstaaten nicht immer leicht fällt zu akzeptieren, dass die Kommission in Fragen der Fusionskontrolle das letzte Wort haben soll. Immer wieder kam es zu nationalen „Zweitentscheidungen“, mit denen Mitgliedstaaten versuchten, Fusionsentscheidungen der Kommission auszuhebeln37. Ein prominentes Beispiel war der – letztlich gescheiterte – Versuch des Energieunternehmens E.ON, das spanische Unternehmen Endesa zu erwerben. Aus wettbewerblicher Sicht warf dieser Zusammenschluss keine Probleme auf, da der Eintritt von E.ON in den spanischen Markt eher wettbewerbsbelebend gewirkt hätte. Dementsprechend hatte die Kommission keine Bedenken gegen die Fusion und erließ eine Freigabeentscheidung. Dennoch fand die Fusion nie statt – denn die Kommission hatte die Rechnung ohne den spanischen Staat gemacht, der sich nicht damit abfinden 34
VO (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 16. Februar 2011, ABl. (2011), L 55/13. 35 Siehe zum Regelungsverfahren Art. 5 des Beschlusses des Rates vom Nr. 1999/468/EG vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl. (1999) L 184/23. 36 Siehe dazu etwa Henrike Landgraf, Das neue Komitologieverfahren der EU: Auswirkungen im EU-Antidumpingrecht, Halle 2012, S. 17 ff. 37 Neben dem sogleich beschriebenen „Endesa“-Fall gab es ähnliche Kompetenzdiskussionen etwa in den Fusionsverfahren COMP/M.3894. Unicredito/HVB; COMP/M.4249 – Abertis/Autostrade; COMP/M.4180 Gaz de France/Suez oder COMP/M.4155 – BNP PARIBAS / BNL.
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konnte, dass ein ausländisches Unternehmen das führende spanische Energieunternehmen erwerben sollte. Kurz nach Bekanntgabe des Übernahmeangebotes wurde die nationale Energieregulierungsbehörde durch eine spezielle Regierungsverordnung ermächtigt, den Zusammenschluss zu kontrollieren. Die Regulierungsbehörde erließ darauf eine eigene Fusionsentscheidung, in der sie die Genehmigung der Fusion von strengen Auflagen für E.ON abhängig machte, die sich letztlich als prohibitiv erwiesen. Auf eine Rechtfertigung ihres Vorgehens – etwa durch die Geltendmachung von Gründen der nationalen Sicherheit – verzichtete die spanische Regierung ebenso wie auf eine Information der Kommission. In juristischer Hinsicht mag es befriedigen, dass der Gerichtshof in einem von der Kommission angestrengten Vertragsverletzungsverfahren zwei Jahre später feststellte, dass das spanische Vorgehen einen klaren Bruch europäischen Rechts darstellte38. In praktischer Hinsicht kam das Urteil allerdings zu spät für E.ON, denn angesichts des systematischen Widerstands gab das Unternehmen seinen Übernahmeversuch letztlich auf. 6. Kompetenzkonflikte bei „ausschließlichen“ Kompetenzen: Freihandelsabkommen Ein überraschend großes Beharrungsvermögen der Mitgliedstaaten lässt sich schließlich auch im Bereich der Außenhandelskompetenzen der Union feststellen. So hat der Vertrag von Lissabon in Art. 3 Abs. 2 i.V.m Art. 207 AEUV nun ausdrücklich festgeschrieben, dass die Union berechtigt ist, internationale Handelsabkommen selbst abzuschließen. Tatsächlich hat die Union nach dem Scheitern eines umfassenden Welthandelsabkommens in der sog. Doha-Runde Verhandlungen mit einer Vielzahl von Drittstaaten aufgenommen und inzwischen mehrere Freihandelsabkommen abgeschlossen39. Obwohl auch der EuGH die alleinige Abschlusskompetenz der Union im Bereich ausgeübter Innenkompetenzen regelmäßig bestätigt und den Katalog betroffener Sachbereiche in verschiedenen Entscheidungen stetig ausgeweitet hat, konnte bislang kein einziges der bisherigen Freihandelsabkommen als reines Unionsabkommen abgeschlossen werden. Vielmehr hat die Union stets dem Drängen der Mitgliedstaaten nachgegeben, die Abkommen als sog. „gemischte Abkommen“ abzuschließen, bei denen sowohl die Union als auch die einzelnen Mitgliedstaaten Vertragspartner sind – und bei denen jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht hinsichtlich des Abkommens besitzt. Soweit Abkommen mit Drittstaaten nicht nur „klassische“ Handelsregeln enthalten, sondern darüber hinaus in umfassender Weise die Beziehungen mit einem Drittstaat regeln40, ist eine Einbeziehung der Mitgliedstaten sicher angemessen. Aller38
EuGH, Rs. C-196/07 – Kommission/Spanien, Slg. 2008, I-41. Siehe etwa das sog. CARIFORUM-Abkommen mit Staaten der Karibik, sowie die Abkommen mit Korea, Kolumbien oder Peru. 40 So etwa das „Deep and Comprehensive Free Trade Agreement“ mit der Ukraine oder das in Deutschland besonders kontrovers diskutierte „Transatlantic Trade and Investment Part39
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dings hat sich die Kommission stets gegen ein Vetorecht bei Abkommen gewehrt, die ausschließlich Freihandelsregeln – wie Zollabbau und Hindernisse für den Warenaustausch – betreffen. Tatsächlich kann ein systematisches Vetorecht für die Mitgliedstaaten die ausschließliche Unionskompetenz letztlich aushebeln. Die Kommission erwägt deshalb, ein weiteres Gutachten des Gerichtshofs einzuholen, um klarzustellen, dass reine Freihandelsabkommen – konkret geht es um das Abkommen mit Singapur – als reine Unionsabkommen abgeschlossen werden können41. 7. Kompetenzkonflikte bei „ausschließlichen“ Kompetenzen: Nationale Alleingänge bei Vereinbarungen zum Handel mit Tieren und tierischen Produkten Importverbote von Tieren und tierischen Produkten aus Gründen des Gesundheitsschutzes können nicht nur zu erheblichen wirtschaftlichen Schäden führen. Wie der aktuelle Konflikt um das von Russland verhängte Importverbot für Schweine und Schweinefleischprodukte unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes zeigt, können entsprechende Importverbote auch als Instrument der Außenpolitik eingesetzt werden – in diesem Fall als Reaktion auf die EU-Sanktionen im Zuge der Ukraine Krise42. Das WTO-Übereinkommen über sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen (SPSÜbereinkommen) soll verhindern, dass gesundheitspolizeiliche Schutzmaßnahmen den Handel mehr als nötig behindern. Die Kompetenz für die Verhandlung und den Abschluss von Vereinbarungen über gesundheitspolizeiliche Ein- und Ausfuhrbedingungen für tierische und pflanzliche Erzeugnisse liegt bei der Union43. Dies erscheint auch politisch sachgerecht, da ein „Patchwork“ unterschiedlicher Schutzmaßnahmen den Binnenmarkt verzerren kann. Auch außenpolitisch können einseitige und nicht abgestimmte Maßnahmen der Mitgliedstaaten großen Schaden anrichten. Dies hat sich etwa im Fall des russischen Importverbotes für Schweinefleisch aus der EU gezeigt. Obwohl der Handel mit diesen Erzeugnissen durch Vereinbarungen der Kommission mit Russland im Detail geregelt ist und die EU eigens ein WTOStreitbeilegungsverfahren eingeleitet hat44, haben einzelne Mitgliedstaaten, ohne nership“-Abkommen mit den USA, die Kooperationsregeln enthalten, die über reine Freihandelsmaßnahmen hinaus gehen. 41 Als besonders umstritten gelten dabei die Regelungen im Bereich der Transportdienstleistungen, des geistigen Eigentums, der nachhaltigen Entwicklung und des Investitionsschutzes. 42 Neben dem Einfuhrverbot für Schweine und bestimmte Schweinefleischerzeugnisse hat Russland noch ein weiteres Importverbot für andere Agrarprodukte verhängt und dieses als „Gegensanktion“ deklariert – und eine Rechtfertigung aus Artikel XXI GATT hergeleitet („nationale Sicherheitsinteressen“). 43 Bestätigt im Gutachten des EuGH 1/94, Slg. 1994, 1994, I-5243, Rn. 31. 44 WTO (DS 475) – Measures of the Russian Federation on the importation of live pigs, pork and other pig products from the EU.
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die Kommission vorher zu informieren, bilaterale Abkommen mit Russland geschlossen, die ihnen (nicht aber anderen EU-Ländern) die Ausfuhr von Schweinefleisch nach Russland gestatten sollen. Die Vereinbarkeit dieses Vorgehens mit Artikel 207 AEUV erscheint zumindest fraglich. Allerdings könnten die Mitgliedstaaten sich auf eine Praxis der Duldung bilateraler Arrangements mit Drittstaaten berufen45. So hat der Agrarrat schon im Juni 2007 in seinen Schlussfolgerungen festgestellt, dass es „eine andauernde Praxis mitgliedstaatlicher SPS-Zertifizierungen“ gebe und dass die entsprechenden mitgliedstaatlichen Abkommen „mit dem Binnenmarkt vereinbar“ seien. Tatsächlich hat die Kommission mitgliedstaatliches Tätigwerden in ihrem Kompetenzbereich – wohl auch angesichts des erheblichen personellen Aufwandes der entsprechenden Verhandlungen – über viele Jahre geduldet. Jedoch zeigt gerade der Fall des russischen Importverbotes, dass die Umgehung der Unionskompetenz politisch höchst problematisch sein kann. So führte die „Vorzugsbehandlung“ für ausgewählte EU-Länder durch Russland zu deutlichen Spannungen innerhalb der Mitgliedstaaten, was letztlich nicht nur den Binnenmarkt, sondern auch die außenpolitische Geschlossenheit der Union beschädigte. Die russische Strategie des „divide et impera“ vereitelte letztlich auch die Bemühungen der Kommission, eine WTO-konforme und für alle Mitgliedstaaten akzeptable Lösung mit Russland auf dem Verhandlungswege herbeizuführen.
IV. Fazit Die Hoffnung vieler Juristen, durch eine klare Definition der Entscheidungskompetenzen Streitigkeiten um Machtverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten zu vermeiden, hat sich nicht erfüllt. Es ergibt sich der überraschende Befund, dass wir de facto in einer Welt geteilter Kompetenzen leben, in der die Kompetenzausübung in jedem Einzelfall politisch neu austariert wird. Die Kompetenzzuweisungen des Lissabonner Vertrages geben nur einen Rahmen möglicher Kompetenzausübung vor; ob eine Kompetenz tatsächlich ausgeübt wird, hängt in letztlich von der rechtlichen und politischen Überzeugungskraft der Argumente für ein Unionshandeln ab. Die Ausübung einer Kompetenz erfordert neben der formalen auch eine politische Absicherung. Dies gilt nicht nur für den Bereich der geteilten, sondern auch für die ausschließlichen Kompetenzen. Das Bestehen einer ausschließlichen Kompetenz erleichtert zwar die politische Begründung der Kompetenzausübung, kann jedoch die tatsächliche Kompetenzausübung, wie gezeigt werden konnte, politisch nicht garantieren. Während hinsichtlich des Befundes einer „politisierten“ Kompetenzabgrenzung noch Einigkeit zu bestehen scheint, gehen die Bewertungen dieser Methode doch 45 Die Kommission schätzt, dass es ca. 5000 – 6000 solcher bilateraler Arrangements („Zertifikate“) gibt, in denen Drittstaaten für bestimmte tierische Erzeugnisse gesundheitspolizeiliche Einfuhrbedingungen mit einzelnen Mitgliedstaaten festlegen.
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deutlich auseinander. Gerade deutsche Autoren kritisieren die Unschärfe der jüngeren Kompetenzabgrenzungspraxis – Frank Schorkopf hat den Ausdruck der „kompetenziellen Beliebigkeit“ verwendet46. Das Fehlen einer klar umrissenen, vorbestimmten Kompetenzabgrenzung führe, so der Kernpunkt der Kritik, zwangsläufig zu einer fortschreitenden Aushöhlung mitgliedstaatlicher Kompetenzen. 1. Notwendigkeit dynamischer Kompetenzregeln Was die vermeintliche Unschärfe der Kompetenzabgrenzung betrifft, so spiegelt dieser Vorwurf letztlich den Wunsch nach einer „positivistischen“ – gleichsam mathematischen – Kompetenzabgrenzung wider. Die Idee eines abschließenden „Kompetenzausübungskataloges“ bleibt in der politischen Praxis allerdings zum Scheitern verurteilt. Kein funktionsfähiges föderales System kann ohne dynamische Kompetenzabgrenzungsklauseln auskommen. Nur sie erlauben es, Kompetenzzuordnungen im Einzelfall anhand klar vorbestimmter Kriterien sachgerecht vorzunehmen. Dies gilt in besonderem Maße für die Europäische Union, die in einer Vielzahl sich dynamisch entwickelnden Sachbereiche und einem Umfeld von 28 höchst heterogenen Mitgliedstaaten tätig werden muss. Dynamische Kompetenzabgrenzungsklauseln sind dabei keine Eigenart des Unionsrechts: Debatten um die Ausübung konkurrierender Kompetenzen nach dem Grundgesetz oder um die „interstate commerce“Klauseln des US-Verfassungsrechts sind ebenso „politisch“ und „unscharf“ wie europäische Kompetenzdebatten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat sich dabei durchaus als wirksames Korrektiv gegenüber einer als willkürlich empfundenen Kompetenzausübung erwiesen. Er kann den notwendigen Abwägungsprozess zwar nicht vollständig objektivieren. Er zwingt aber die Beteiligten, die Notwendigkeit des regionalen47 oder europäischen Handelns in jedem Einzelfall überzeugend – und voll justiziabel – zu begründen. Zugleich sichert das Erfordernis, die Kompetenzausübung im Einzelfall zu begründen, ein Mindestmaß an politischem Rückhalt das jeweilige Unionshandeln. 2. Keine schleichende Kompetenzaushöhlung zulasten der Mitgliedstaaten Auch der Vorwurf, dass die vermeintlich unscharfen Kompetenzregeln gleichsam zwangsläufig zu einem weiteren Souveränitätsverlust der Mitgliedstaaten zugunsten der Union führten48, trifft heute nicht mehr zu. Tatsächlich birgt die Politisierung der 46 Frank Schorkopf, Die Politizität der europäischen Kompetenzordnung als Rechtsproblem, in diesem Band, S. 11. 47 Vgl. zu Beispielen von Mehrheitsentscheidungen innerhalb von Teilregionen der EU etwa Art. 9 des Vorschlags einer „CACM“ Verordnung, siehe Fn. 14. 48 Siehe etwa Frank Schorkopf, Die Politizität der europäischen Kompetenzordnung als Rechtsproblem, in diesem Band; auch Götz stellte zumindest „zentripetale Tendenzen“ fest,
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Kompetenzabgrenzung die Gefahr einer schleichenden Kompetenzerweiterung. Allerdings greift die These, dass eine „politisierte“ Kompetenzabgrenzung gleichsam automatisch zu einer Kompetenzverlagerung zugunsten der Union führe, zu kurz. Betrachtet man die Entscheidungspraxis der letzten zehn Jahre, ergibt sich der überraschende Befund, dass die Gemeinschaftsorgane ihre Kompetenzen in vielen Bereichen durchaus zögerlich ausgeübt haben. In einer von Euroskepsis geprägten Debatte finden sich in vielen Bereichen immer weniger Unterstützer für neue, ambitionierte Unionsprojekte. Verschiedene Mitgliedstaaten setzen sich sogar vehement für eine Rückübertragung bestehender Kompetenzen ein49. Die Kommission prüft heute neue Initiativen selbst ihrem „Kernbereich“, der Binnenmarktpolitik, intensiv auf ihre Konsensfähigkeit50. Selbst in Bereichen ausschließlicher Gemeinschaftskompetenzen werden Kompetenzen in der Praxis oft von Mitgliedstaaten ausgeübt. Die bestehenden Spielräume bei der Kompetenzabgrenzung bergen sicher die Gefahr unberechtigter Eingriffe in mitgliedstaatliche Kompetenzen. In gleicher Weise gilt es aber zu verhindern, dass die Verwirklichung von gemeinsam vereinbarten Schlüsselprojekten der Union – wie etwa dem Binnenmarkt – an ungerechtfertigten nationalen Kompetenzanmaßungen scheitert. In diesem Fall drohte eine europapolitische Sackgasse. Wegen der großen Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Richtschnur in der politisierten Kompetenzwelt der EU bleibt zu wünschen, dass die Gemeinschaftsgerichte als „Hüter“ des Subsidiaritätsgrundsatzes die kompetenziellen Aspekte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes künftig schärfer konturieren und mit Leben füllen51.
siehe Volkmar Götz in: ders./Martínez Soria (Hrsg.), Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, 2002, S. 83 (86) 49 Siehe oben, Fn. 8. 50 Was der Barroso-Kommission im Übrigen den Ruf einer gewissen Zurückhaltung, ja „Folgsamkeit“ gegenüber den Mitgliedstaaten einbrachte; vgl. dazu etwa den Kommentar von Karin Bensch, http://www.tagesschau.de/ausland/barroso-bilanz-101.html (abgerufen am 20. 3. 2015). 51 Götz hat hier den Begriff einer „Subsidiaritätskultur“ verwendet, blieb allerdings skeptisch hinsichtlich der Rolle des EuGH, vgl. Volkmar Götz, in: ders./Martínez Soria (Fn. 1), S. 83 (92). Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Verfahren der Subsidiaritätsrüge durch nationale Parlamente gem. Art. 12 EUV i.V.m. dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit – dazu etwa Foroud Shirvani, JZ 2010, 753 ff.
Die Renationalisierung von Kompetenzen der EU – die grüne Gentechnik als primärrechtlicher Sündenfall oder Befreiungsschlag? José Martínez*
I. Die zunehmende Divergenz im Binnenmarkt Der europäische Binnenmarkt ist in den letzten Jahren durch eine zunehmende Divergenz mitgliedstaatlicher, europäischer und gesellschaftlicher Interessen geprägt.1 Die Ursachen hierfür sind vielschichtig: Sie reichen von Unterschieden zwischen den Wirtschaftsstrukturen der Mitgliedstaaten, die einen gemeinsamen wirtschaftspolitischen Konsens erschweren, bis hin zu einer sich verstärkenden Skepsis in den Gesellschaften der Mitgliedstaaten gegenüber den Bemühungen europäischer Institutionen, technische Entwicklungen einheitlich in der EU voranzutreiben. Die Reaktion der EU auf diese Divergenz bestand in den letzten Jahren vorrangig in einem Abbremsen der Integrationsgeschwindigkeit. Ziel sollte sein, den erreichten Grad der Integration zu vertiefen und die Akzeptanz der Union zu stärken, bevor neue Integrationsziele in Angriff genommen würden. Bei der Frage des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen (GVO) scheint diese Methode aber nicht mehr ausreichend, da die bestehenden Divergenzen zu tief sind. Denn die EU ist zwar im Jahre 2001 mit der Freisetzungsrichtlinie2 in der herkömmlichen Weise vorangeschritten und hat die Zulassung des Anbaus von GVO harmonisiert. Doch diese Regelung haben die Mitgliedstaaten seitdem fast durchweg nur noch mangelhaft angewandt. Hier ist der Integrationsprozess in der Praxis zum Stillstand gekommen. Die Gründe liegen in der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz dieses spezifischen Integrationsschrittes. So lehnen 70 Prozent der EU-Bürger gentechnisch veränderte Pflanzen ab und 54 Prozent halten sie gar für gefährlich. Einzig die Spanier
* Professor Dr. José Martínez ist Inhaber der Professur für Agrarrecht und Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. 1 Vgl. Peter M. Huber, Verfassungsstaat und Finanzkrise, Baden-Baden 2014, S. 27 f. 2 Richtlinie 2001/18 über die absichtliche Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt, ABl L 106, S. 1.
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befürworten Umfragen zufolge mehrheitlich den GVO-Anbau.3 Als Folge dieser fehlenden Akzeptanz in der Bevölkerung setzen die Mitgliedstaaten diese Vorgaben des europäischen Binnenmarktes, die zugleich wirtschaftsvölkerrechtlich gefordert sind, nur noch mangelhaft um. So erlauben derzeit nur 6 Mitgliedstaaten umfassend den Anbau von zugelassenen gentechnisch veränderten Pflanzen. Die restlichen 22 Mitgliedstaaten schränken den Anbau aufgrund gesundheitlicher oder gesellschaftlicher Bedenken erheblich ein oder untersagen ihn gänzlich, wie im Falle Polens oder Österreich.4 Damit steht die Europäische Union und insbesondere die europäische Kommission, die über die Einhaltung des Rechts wachen soll, vor einem Dilemma. Zum einen haben sich sämtliche Mitgliedstaaten auf ein Zulassungsverfahren für die Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen geeinigt, das einen einheitlichen europäischen Markt schaffen soll. Auch die WTO drängt darauf, den europäischen Markt durch ein transparentes Zulassungssystem für gentechnisch veränderte Pflanzen zu öffnen.5 Zum anderen nutzen aber die Mitgliedstaaten ihren Einfluss im Zulassungsverfahren, um die Zulassung der Freisetzung von gentechnisch veränderten Pflanzen zu verhindern. Und auch nach Zulassung verhindern die meisten Mitgliedstaaten rechtlich und faktisch den Anbau dieser Pflanzen. Denn zum einen hat der europäische Gesetzgeber die Mitgliedstaaten ermächtigt, auch nach bereits erfolgter Zulassung den Anbau einer gentechnisch veränderten Pflanze befristet einzuschränken oder zu verbieten. Voraussetzung ist dafür, dass 3
EU-Kommission, Special-Eurobarometer 354, Food related risks, November 2010, S. 30; Im Rahmen der Untersuchung des Fachbereichs Agrarwirtschaft und Lebensmittelwissenschaften der Hochschule Neubrandenburg wurden Landwirte in Mecklenburg-Vorpommern befragt. Danach liegt dort der Anteil der Befürworter der Grünen Gentechnik in größeren Betrieben deutlich höher als in kleineren Betrieben. Während in Betrieben mit mehr als 500 ha landwirtschaftlich genutzter Fläche annähernd drei Viertel der Befragten angeben, sie stünden der neuen Technologie positiv gegenüber, lehnt in Betrieben mit weniger als 100 ha ein ebenso großer Anteil einen Einsatz der Grünen Gentechnik ab. Insgesamt können sich 35 % der Landwirte in Mecklenburg-Vorpommern vorstellen, in den kommenden fünf Jahren gentechnisch veränderte Pflanzen im eigenen Betrieb anzubauen; 43 % schließen dies hingegen aus. Knapp ein Fünftel ist noch unentschieden. Als Gründe für den Verzicht werden vornehmlich die fehlende Akzeptanz der Bevölkerung sowie Risiken für Umwelt und Gesundheit genannt. Potentielle Anwender wiederum sehen in erster Linie eine größere Rechtssicherheit als Voraussetzung für einen Anbau gentechnisch veränderter Sorten. Von den Vorteilen eines Einsatzes der Gentechnik in der Landwirtschaft wird am häufigsten die höhere Ertragssicherheit genannt, gefolgt von einer Senkung der Produktionskosten sowie Ertragssteigerungen: Siehe Befragung zur Akzeptanz der Grünen Gentechnik in der Landwirtschaft, in: Agra-Europe, (19) 2007, Dokumentationen, S. 1 – 10. 4 Jadwiga Ziolkowska, Widersprüche zwischen ökologischer Landwirtschaft und der Grünen Gentechnik in Polen, in: Zeitschrift für angewandte Umweltforschung, (18) 2007, S. 187 – 190; Erich Reiter, Die Einstellung der Österreicher zu Kernenergie, Klimawandel und Genforschung: Auswertung und Kommentierung der Ergebnisse einer Meinungsumfrage, Wien 2008; Ferdinand Kerschner/Claudia Lang/Gabriele Satzinger/Erika Wagner, Kommentar zum Gentechnikgesetz, Wien 2007, S. 10 f. 5 Siehe hierzu unten IV. 4.
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neue oder zusätzliche Informationen zum gesundheitlichen oder ökologischen Gefährdungspotenzial der gentechnisch veränderten Pflanze vorliegen und diese begründet dargelegt werden. Auf dieser Grundlage hat zum Beispiel Österreich eine landesweite gentechnikfreie Zone errichtet und Deutschland den Anbau bestimmter Sorten untersagt.6 Zum anderen verhindern Umgehungsstrategien der Mitgliedstaaten durch faktisch begrenzende Maßnahmen, dass diese Produkte wirtschaftlich sinnvoll angebaut werden können. So verlangt Bulgarien Abstandsflächen von 30 km zu Schutzgebieten, 10 km zu Bienenfarmen und 7 km zu Betrieben mit biologischer Landwirtschaft, was insgesamt einem kompletten Anbauverbot gleichkommt. Auch Deutschland bedient sich derartiger faktisch begrenzender Maßnahmen. Es handelt sich um die Regelungen des Gentechnikgesetzes, die Gegenstand eines Normenkontrollantrags waren, über den das Bundesverfassungsgericht im November 2010 entschieden hat.7 Zu diesen faktisch begrenzende Maßnahmen zählen insbesondere die Ansprüche aus Benutzungsbeeinträchtigungen nach § 36 a GenTG und das Standortregister nach § 16 a GenTG. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung für verfassungsgemäß erachtet. Der Gesetzgeber verfolge mit der einseitigen Belastung des Gentechnik verwendenden Landwirts mit dem wirtschaftlichen Risiko legitime Ziele des Gemeinwohls.8 Gerade vor dem Hintergrund der breiten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatte um den Einsatz von Gentechnik und einer angemessenen staatlichen Regulierung habe der Gesetzgeber hierbei nicht nur einen weiten Entscheidungsspielraum.9 Vielmehr sei er zu einer derartigen Regelung sogar verpflichtet.10 Denn angesichts eines noch nicht endgültig geklärten Erkenntnisstandes der Wissenschaft bei der Beurteilung der langfristigen Folgen eines Einsatzes von Gentechnik und der Erheblichkeit der möglichen Risiken treffe den Staat die Pflicht, sich bereits im Vorfeld einer Gefahr schützend vor das Grundrecht auf Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu stellen.11 Zugleich ermöglicht die mitgliedstaatlich geprägte Struktur des Zulassungsverfahrens, dass das Zulassungsverfahren kaum angewandt worden ist.12 Will nämlich ein Mitgliedstaat dem Antrag eines Unternehmens auf Zulassung nicht stattgeben, verfügt er über die Letztentscheidungskompetenz.13 Und auch wenn der Mitgliedstaat dem Antrag stattgeben will, geht die Sachkompetenz zwar auf die Union 6
Rudolf Streinz, Gentechnikfreie Zone: Angleichung der Rechtsvorschriften, in: JuS 2006, S. 828 – 833. 7 BVerfG, 24. 11. 2010, 1 BvF 2/05. 8 BVerfG, 24. 11. 2010, 1 BvF 2/05, Rz. 141. 9 BVerfG, 24. 11. 2010, 1 BvF 2/05, Rz. 234. 10 BVerfG, 24. 11. 2010, 1 BvF 2/05, Rz. 224/233. 11 BVerfG, 24. 11. 2010, 1 BvF 2/05, Rz. 224/233. 12 Hierzu José Martinez, Grenzen einer Renationalisierung des Agrar-Binnenmarktes, in: Norer/Holzer (Hrsg.), Jahrbuch des österreichischen Agrarrecht 2011 Jahrbuch, S. 148. 13 Udo di Fabio/Wilhelm Kreiner, in: Rengeling (Hrsg,), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. II, Köln 2003, § 63, Rz. 94.
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über. Hier entscheidet aber zunächst nicht die Kommission über die Zulässigkeit, sondern im Komitologie-Verfahren ein Ausschuss, der aus Vertretern der Mitgliedstaaten besteht. Angesichts der bestehenden Mehrheit der Mitgliedstaaten gegen die Gentechnologie hat der Ausschuss in der Regel die Entscheidung ausgesetzt. In diesem Fall tritt der Rat an die Stelle des Ausschusses. Da auch hier in der Regel keine Einigung erzielt werden konnte, entschied die Kommission durch Beschluss. Hierbei war allerdings die Kommission aufgrund des politischen Drucks der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten sehr zurückhaltend und so sind bis heute trotz vorliegender ca. 20 Anträge nur wenige gentechnisch veränderte Pflanzen für das Inverkehrbringen zugelassen. Das harmonisierte Zulassungsverfahren ermöglicht daher den 22 Mitgliedstaaten, den von der Kommission und 6 Mitgliedstaaten erwünschten Ausbau des europäischen Gentechnikmarktes politisch zu blockieren. Im Ergebnis hat somit die Liberalisierung des Gentechniksmarktes durch die EU nicht zu einer Öffnung der europäischen Märkte für den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen geführt.
II. Die Renationalisierung als Antwort der EU Angesichts der seit 10 Jahren als Sackgasse empfundenen Situation entschied sich die Kommission 2010 zu einer Flucht nach vorn und schlug die Renationalisierung der Anbauzulassung vor.14 Das Parlament hatte dies im Juli 2011 befürwortet. Das lange im EU-Ministerrat auch von Deutschland blockierte Dossier wurde erst im Jahr 2014 in veränderter Form wiederbelebt.15 Nach Zustimmung des Europäischen Parlaments im Januar 2015 hat der Rat am 5. März 2015 dem Entwurf zugestimmt.16 Nach dem Willen der EU-Kommission soll es schon im Frühjahr 2015 in Kraft treten. Der Richtlinienentwurf greift die Idee der Renationalisierung auf, die seit dem Vertrag von Lissabon primärrechtlich verankert ist. Zugleich zielt er aber dabei auf den Wesenskern der Europäischen Union, die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes, denn er berührt einen Politikbereich, der durch die Freisetzungsrichtlinie bereits vollständig harmonisiert ist. Anhand des Richtlinienentwurfs will ich aufzeigen, dass die europäische Kompetenzordnung ausreichend flexibel ist, um eine derartige Fragmentierung des Binnenmarktrechts als Folge einer Rücküberantwortung der Sachkompetenz an die Mitgliedstaaten zu ermöglichen. Die Ausgestaltung der Kompetenzordnung findet aber ihre Grenze in den wirtschaftsvölkerrechtlichen Verpflichtungen der EU und der Mitgliedstaaten.
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Siehe hierzu José Martinez (Fn. 12), S. 145 ff. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/18/EG betreffend die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, den Anbau von GVO auf ihrem Hoheitsgebiet zu beschränken oder zu untersagen, KOM(2010) 0375. 16 Rat der EU, 6853/1/15 REV 1. 15
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Schauen wir uns dazu zunächst den Richtlinienentwurf und hierbei konkret Art. 26b Abs. 3 an:17 Er betrifft das Zulassungsverfahren ausschließlich für den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen, nicht hingegen für den Einsatz und den Handel. Die derzeit geltende Freisetzungsrichtlinie verlangt für das sogenannte Inverkehrbringen einer gentechnisch veränderten Pflanzenart (zu dem der Anbau gehört) eine Zulassung im Rahmen eines europäisch harmonisierten Verfahrens. Die Zulassung bestimmt sich ausschließlich nach den Kriterien der Freisetzungsrichtlinie.18 Danach darf das Inverkehrbringen von gentechnisch veränderten Organismen nur dann untersagt werden, wenn eine Gefährdung von zwei Rechtsgütern, 1. der menschlichen Gesundheit und 2. der Umwelt zu erwarten ist. Sobald die gentechnisch veränderte Pflanze zugelassen ist, unterliegt sie als Ware den allgemeinen Bestimmungen der Warenverkehrsfreiheit. Die Mitgliedstaaten dürfen daher nicht grundsätzlich den freien Verkehr und damit den Anbau dieser Pflanzen auf ihrem Hoheitsgebiet untersagen, beschränken oder behindern. Im Wege einer Schutzklausel werden die Mitgliedstaaten ermächtigt, auch nach bereits erfolgter Zulassung den Anbau einer gentechnisch veränderten Pflanze befristet einzuschränken oder zu verbieten. Voraussetzung ist allerdings, dass neue oder zusätzliche Informationen zum gesundheitlichen oder ökologischen Gefährdungspotential der gentechnisch veränderten Pflanze vorliegen und diese begründet dargelegt werden. Derartige gesicherte Erkenntnisse liegen derzeit nicht vor, sondern es besteht nur ein Verdacht einer Gefahr für Umwelt und Gesundheit.19 Der Richtlinienentwurf belässt zwar das Zulassungsverfahren, ermöglicht den Mitgliedstaaten aber einen einseitigen Ausstieg aus dem harmonisierten Bereich
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„Widersetzt sich der Anmelder/Antragsteller der Anpassung des geografischen Geltungsbereichs seiner Anmeldung/seines Antrags entsprechend einem Ersuchen eines Mitgliedstaats gemäß Absatz 1, so kann der betreffende Mitgliedstaat Maßnahmen erlassen, um den Anbau des betreffenden GVO nach dessen Zulassung gemäß Teil C dieser Richtlinie oder der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 in seinem gesamten Hoheitsgebiet oder in Teilen davon untersagen, sofern diese Maßnahmen im Einklang mit dem Unionsrecht stehen und begründet, verhältnismäßig und nicht diskriminierend sind und sich außerdem auf zwingende Gründe stützen, die beispielsweise Folgendes betreffen: a. umweltpolitische Ziele, die sich von den gemäß der Richtlinie 2001/18/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 bewerteten Faktoren unterscheiden; b. Raumordnung; c. Landnutzung; d. sozioökonomische Auswirkungen; e. Vermeidung des Vorhandenseins von GVO in anderen Erzeugnissen unbeschadet des Artikels 26a; f. agrarpolitische Ziele; g. öffentliche Ordnung.“ 18 Art. 6 ff. RL 2001/18/EG. 19 Vgl. Bundesamt für Naturschutz, Grundlagen der Umweltrisikoprüfung und des Monitorings transgener Pflanzen, abrufbar unter https://www.bfn.de/0301_risiko.html.
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(opt-out).20 Hierzu sollen die Mitgliedstaaten einen weitergehenden Gestaltungsspielraum dadurch erhalten, dass sie Anbaubeschränkungen oder sogar -verbote erlassen dürfen, wenn „zwingende Gründe“ dies rechtfertigen. Klingt dieses zunächst noch vertraut nach der Cassis-de-Dijon Formel21, so wird dieses vertraute Gefühl durch die Regelbeispiele durchbrochen, die der Entwurf im Anschluss auflistet: ¢ umweltpolitische Ziele, die sich von den im Zulassungsverfahren bewerteten Faktoren unterscheiden; ¢ Raumordnung; ¢ Landnutzung; ¢ sozioökonomische Auswirkungen; ¢ Vermeidung des Vorhandenseins von GVO in anderen Erzeugnissen unbeschadet zur Koexistenz; ¢ agrarpolitische Ziele; ¢ öffentliche Ordnung.
III. Das Konzept der Renationalisierung Handelt es sich aber bei dieser Anerkennung zwingender Gründe überhaupt um eine Renationalisierung? Der Begriff der Renationalisierung ist bislang vorwiegend eher in der Politologie verwandt worden. Gleichwohl handelt es sich auch um ein rechtliches Konzept. Unter Renationalisierung verstehe ich die Rückübertragung einer Sachkompetenz von der Europäischen Union auf die Mitgliedstaaten.22 Dabei sind formell die primärrechtliche und die sekundärrechtliche Renationalisierung zu unterscheiden: Die primärrechtliche Renationalisierung betrifft die Rückübertragung von Unionskompetenzen an die Mitgliedstaaten im Wege primärrechtlicher Vertragsänderung, während die Union bei der sekundärrechtlichen Renationalisierung die Sachverantwortung im Wege von Verordnungen und Richtlinien zurücküberträgt. Art. 48 Abs. 2 Satz 2 EUV stellt klar, dass eine primärrechtliche Renationalisierung, d. h. die Reduktion übertragener Zuständigkeiten der Union zulässig ist. Eine 20
Grundsätzlich hierzu: Maya Sion, The Politics of Opt-Out in the European Union: Voluntary or Involuntary Defection? In Thinking Together. Proceedings of the IWM Junior Fellows’ Conference, Winter 2003, ed. A. Cashin and J. Jirsa, Vienna: IWM Junior Visiting Fellows’ Conferences, Vol. 16; Rebecca Adler-Nissen, Opting out of the European Union, Cambridge 2014; spezifisch zum Gentechnikrecht siehe Astrid Strack, Der lange Weg zum opt-out, in: Natur und Recht 2014, S. 829 ff. 21 Siehe hierzu zuletzt David Herren, Das Cassis de Dijon-Prinzip : eine rechtsvergleichende Studie zur Äquivalenz von Rechtsnormen im WTO-Recht, im EU-Recht und im schweizerischen Recht, Bern 2014. 22 Vgl. Jutta Frasch, Gefahr für den Binnenmarkt, SWP-Aktuell 25 (Mai 2009), S. 1 f.
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primärrechtliche Renationalisierung ist zwingend bei der Rückübertragung ausschließlicher Kompetenzen nach Art. 2 Abs. 1 AEUV.23 Das Anwendungsgebiet der sekundärrechtlichen Renationalisierung sind hingegen die geteilten Zuständigkeiten. Nach Art.2 Abs. 2 Satz 3 AEUV nehmen die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten wieder wahr, sofern und soweit die Union entschieden hat, ihre Zuständigkeiten nicht mehr wahrzunehmen. Die Bestimmung verdeutlicht zugleich, dass die Union auch berechtigt ist, nur Teilbereiche einer Sachkompetenz zurück zu übertragen.24 Im Fall einer derartigen partiellen Renationalisierung muss der Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner rückübertragenen Sachkompetenz den bei der Union zulässigerweise verbliebenen Rechtsrahmen weiter berücksichtigen. Beim Richtlinienentwurf handelt es sich um eine partielle sekundärrechtliche Renationalisierung. Das verwundert zunächst, weil die Richtlinie die Zulässigkeit mitgliedstaatlicher Anbauverbote an das Vorliegen „zwingender Gründe“ knüpft. Diese zwingenden Gründe haben aber mit den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen der Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung konzeptionell wenig gemein. Die zwingenden Gründe der Cassis-Rechtsprechung sind europarechtliche Rechtskonzepte, die von der Kommission und dem EuGH vollumfänglich überprüfbar sind, wobei den Staaten eine Einschätzungsprärogative zusteht. Vor allem dienen sie aber dem Schutz des Allgemeinwohls, verstanden als europäische Rechtsgüter und –werte und eben nicht mitgliedstaatlichen und damit partikularen Interessen.25 Die zwingenden Gründe nach dem Richtlinienentwurf sind hingegen nicht vollumfänglich überprüfbar. Mitgliedstaaten, die beabsichtigen, vollständige oder partielle Anbauverbote zu erlassen, sollen der Kommission mindestens 75 Tage vor deren Annahme einen Entwurf dieser Maßnahmen übermitteln.26 Während dieser 75-tägigen Stillhaltefrist soll der Mitgliedstaat davon absehen, diese Maßnahmen zu erlassen und durchzuführen. Ist die Kommission der Auffassung, dass der Mitgliedstaat seine Befugnisse gemäß dieser Richtlinie missbraucht, so teilt sie dies dem betreffenden Mitgliedstaat binnen der 75-tägigen Stillhaltefrist mit.27 Die Kommission 23 Jürgen Schwarze, Der Reformvertrag von Lissabon – Wesentliche Elemente des Reformvertrages in: Schwarze/Hatje, EuR 2009, Beiheft 1, S. 9. 24 Christian Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. München 2011, Art. 2 AEUV, Rdnr. 20; Rudolf Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. München 2012, Art. 2 AEUV, Rdnr. 9. 25 Martin Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, Baden-Baden 1997, S. 237. 26 Art. 26b Abs. 4 Richtlinien-Entwurf. 27 Siehe Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament gemäß Artikel 294 Absatz 6 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union betreffend den Standpunkt des Rates in erster Lesung im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/18/EG betreffend die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, den Anbau von genetisch veränderten Organismen
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kann Vorschläge dazu unterbreiten, wie diese Maßnahmen zu ändern sind, damit sie den Auflagen dieser Richtlinie genügen. Nach Ablauf der 75-tägigen Stillhaltefrist obliegt es allerdings dem jeweiligen Mitgliedstaat zu entscheiden, ob er seine Maßnahmen ändert, um den Bemerkungen der Kommission Rechnung zu tragen, oder ob er sie in der ursprünglich vorgeschlagenen Form erlässt.28 Damit handelt es sich um eine neue Rechtfertigungsebene, die über den Ausgestaltungsspielraum hinausgeht, wie er bislang den Mitgliedstaaten z. B. durch die Rechtsprechung des EuGH zu Wettmonopolen im Hinblick auf das Konzept des „Schutzes der öffentlichen Gesundheit“ eingeräumt worden ist.29 Denn dieser Ausgestaltungsspielraum besteht nur in den Grenzen normativer Voraussetzungstatbestände, die europäisch ausgelegt werden. So hat der EuGH in seiner Entscheidung zum Wettmonopol Deutschland diese Grenzen der Ausgestaltungsfreiheit aufgezeigt.30 Beim neuen Vorschlag der Kommission indes bestehen derartige Grenzen nicht. Denn jenseits der allgemeinen europarechtlichen Vorgaben der Diskriminierungsfreiheit und der Verhältnismäßigkeit ist zu beachten, dass die dort genannten zwingenden Gründe nur mitgliedstaatliche Interessen schützen und daher nicht einheitlich zu definieren sind.
IV. Grenzen einer Renationalisierung 1. Renationalisierung und Art. 114 AEUV Ist diese Rückführung der Sachkompetenz und damit diese Renationalisierung zulässig? Welche Grenzen muss der europäische Gesetzgeber beachten, wenn er die Verantwortung für geteilte Kompetenzen an die Mitgliedstaaten zurückführt? Der Richtlinienentwurf wird auf Art. 114 AEUV gestützt, der insoweit auch die Antwort auf die Frage bietet: Die Renationalisierung ist zulässig, soweit sie dem Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes dient. Handelt es sich aber nicht vielmehr um eine Maßnahme, die den Binnenmarkt einschränkt? Harmonisierung und partielle Renationalisierung schließen sich grundsätzlich nicht aus. Entscheidend ist, auf das Ziel des Binnenmarktes als Gesamtziel abzustellen und nicht auf punktuelle Erreichungsgrade. So hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung, so z. B. in der Entscheidung Swedish Match hierzu festgestellt, daß Art. 114 AEUV eine geeignete Kompetenzgrundlage für den europäischen Gesetzgeber ist, um den Handel mit bestimmten Waren, in diesem Fall Snus-Tabak, zu un-
(GVO) auf ihrem Hoheitsgebiet zu beschränken oder zu untersagen, KOM (2014)570final, S. 10. 28 Siehe EU-Kommission (Fn. 27). 29 Siehe EU-Kommission (Fn. 27). 30 EuGH, Urt. v. 8. 09. 2010, Rs C-409/06 (Winner Wetten).
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tersagen.31 Voraussetzung ist die begründete Befürchtung, daß die Mitgliedstaaten zu keiner Übereinstimmung bezüglich der anzuwendenden Schutzstandards kommen und damit das Binnenmarktziel hinsichtlich des gesamten Tabaksektors gefährdet ist.32 Wenn somit Art.114 AEUV den Gesetzgeber ermächtigt, einen gesamten Markt zu untersagen, um das Gesamtziel „Binnenmarkt“ nicht zu gefährden, so muss erst recht eine teilweise Begrenzung eines Marktes durch die Ermächtigung zum Erlass von Anbauverboten vom Anwendungsbereich dieser Norm erfasst sein. Dabei muss die Kommission begründen, daß die Renationalisierung der Anbauzulassungen dem Ziel der Erhaltung des Binnenmarktes für gentechnisch veränderte Pflanzen dient. Die Anforderungen an diesen Nachweis sind nach Ansicht des EuGH zwar gering: So betont er in seiner Entscheidung in der Rechtssache Alliance for natural health, daß der „Gemeinschaftsgesetzgeber hinsichtlich der gerichtlichen Nachprüfbarkeit der Voraussetzungen über ein weites Ermessen in einem Bereich wie dem hier betroffenen verfügt, der von ihm politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen verlangt und in dem er komplexe Prüfungen durchführen muss.33 Folglich ist eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des Zieles offensichtlich ungeeignet ist.“34 Die Geeignetheit wird man sicherlich annehmen können. Denn die Kommission setzt sicherlich darauf, dass aufgrund der Ausstiegsmöglichkeit hinsichtlich des Anbaus die Widerstände der Mitgliedstaaten bei der Zulassung von gentechnisch veränderten Pflanzen zurückgehen werden. 2. Kohärenz der Renationalisierung mit primärrechtlichen Zielen? Zugleich beschränken aber der EuGH und ein Großteil der Literatur die opt-outBerechtigung auf den Schutz der in Art. 36 und Art. 114 Abs. 4 und 5 AEUV genannten Rechtsgüter.35 Dadurch soll verhindert werden, dass die opt-out Klausel zum Freibrief für die Mitgliedstaaten wird, um aus dem durch Rechtsangleichung bewirkten Integrationsprozess auszuscheren. Partikuläre wirtschaftliche Gesichtspunkte könnten in keinem Fall als Rechtfertigungsgrund i.S.v. Art. 114 Abs. 4 AEUV in Betracht kommen.36 Der Gesetzgeber sei daher verpflichtet, die Durchbrechung der Harmonisierung nur restriktiv anzuwenden und sie ausschließlich mit Binnenmarktzielen zu rechtfertigen. 31
EuGH, Urt. v. 14. 12. 2004, Rs. C-210/03 (Swedish Match) Gunther Herr, Grenzen der Rechtsangleichung nach Art. 95 EG ; Zugleich eine Anmerkung zu den Urteilen des EuGH vom 14. 12. 2004 (Arnold André und Swedish Match), in: EuZW 2005, S. 171 ff. 33 EuGH, Urt. v. 12. 07. 2005, Rs C-154/04 und C-155/04, Rdnr. 28. 34 EuGH, Urt. v. 12. 07. 2005, Rs C-154/04 und C-155/04, Rdnr. 29; bereits zuvor Urteil v. 13. 07. 1995, Rs. C-350/92, Rdnr. 35. 35 Christian Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 54. Ergänzungslieferung 2014 Art. 114, Rdnr. 170 m.w.N. 36 Christian Tietje, in (Fn. 35) Art. 114, Rdnr. 170. 32
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Diese Ansicht geht jedoch unzutreffenderweise von einer Vorstellung eines relativen Vorrangs des Binnenmarktes aus, den auch die in Abs. 4 und 5 geregelten Ausnahmen beachten müssen. Denn ein derartiger Vorrang des Binnenmarktes ist den Verträgen nicht zu entnehmen.37 Vielmehr verdeutlichen die Querschnittsklauseln, dass dem Binnenmarkt andere europäische Vertragsziele, wie z. B. der Umweltschutz gleichrangig38 zur Seite stehen. Bei der Ausgestaltung der opt-out-Regelungen sind somit die grundsätzlich gleichrangigen Vertragsziele im Sinne praktischer Konkordanz gegeneinander abzuwägen. Durch den Kommissionsentwurf sind neben dem Binnenmarktziel auch die Ziele Umweltschutz, Gesundheitsschutz, Verbraucherschutz und der Außenhandel betroffen. Die Kommission geht aber mit dem Richtlinienentwurf über die bisherigen Vertragsziele hinaus. Sicherlich dient die opt-out-Klausel einem höheren Umweltschutz, indem sie im Sinne des Vorsorgeprinzips die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Gefahr reduziert. Indes handelt es sich bei der Raumordnung, der Landnutzung, und insbesondere den sozioökonomischen Auswirkungen nicht um europäische Vertragsziele. Dies will ich im Folgenden anhand der opt-out-Gründe „sozioökonomische Auswirkungen“ und Raumordnung verdeutlichen, um sodann festzustellen, dass auch dieser Rückgriff auf mitgliedstaatliche Ziele ausnahmsweise mit dem System der Integration kohärent ist. 3. Renationalisierung zum Schutz mitgliedstaatlicher Ziele a) Sozioökonomische Auswirkungen als Opt-out Grund Der opt-out Grund „sozioökonomische Auswirkungen des Anbaus gentechnisch veränderten Saatgutes“ ist seit 2008 in der Diskussion. Im Dezember 2008 einigten sich die EU-Umweltminister erstmals politisch darauf, bei der Marktzulassung von GVO auch sozioökonomische Aspekte und Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Nachhaltigkeit zu berücksichtigen.39 Damit sollte eine vollständigere und über gesundheits- und umweltbezogene Risikoinformationen hinausgehende Bewertung von GVO ermöglicht werden. Zugleich sollte in der rechtlichen Diskussion um die Zulassung von GVO explizit die Berufung auf sozioökonomische Kriterien ermöglicht und die Diskussion über die bisherigen Rechtfertigungsgrenzen Umwelt- und Gesundheitsrisiken hinaus erweitert werden.40
37 Wie hier Wolfgang Kahl, in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., München 2011, Art. 114, Rdnr. 44 m.w.N. 38 Christian Calliess, in (Fn. 24), Art. 6 AEUV, Rdnr. 21 f. 39 Ergebnisse der EU-Ratstagung (Umwelt) vom 4. Dezember 2008 in Brüssel, abrufbar unter: www.bmu.de/europa_und_umwelt/ratstagungen_der_eu/umwelt/doc/42879.php. 40 Armin Spök, Sozioökonomische Auswirkungen von GVO, abrufbar unter http://www. gen-ethisches-netzwerk.de/gid/207/spök/sozioökonomische-auswirkungen-gvo.
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Auf Ersuchen des Ministerrats der Europäischen Union untersuchte die Kommission die Sichtweisen und Erfahrungen der Mitgliedstaaten zu sozioökonomischen Aspekten.41 Sie kommt zum Ergebnis, dass derzeit nur wenige regulatorische Erfahrungen mit der formellen Berücksichtigung dieser Belange besteht.42 In Europa berücksichtigt Norwegen seit 1993 die Auswirkungen der sozialen Implikationen von Rechtssetzungsakten im Gentechnikbereich.43 Frankreich hat 2008 einen Beirat eingerichtet, der Stellungnahmen zu ökonomischen, ethischen und sozialen Aspekten abgibt.44 Eine allgemein gültige Definition beziehungsweise Grenzziehung besteht derzeit nicht. Mögliche Auswirkungen des Anbaus von gv-Pflanzen, jenseits von gesundheitlichen und umweltbezogenen Effekten werden in der Literatur als ökonomische, agronomische, agroökologische, soziale beziehungsweise gesellschaftliche und manchmal auch explizit als sozioökonomische beschrieben. Darüber hinaus gibt es auch Beschreibungen von ethischen, politischen und kulturellen Implikationen. Und so sprechen Artt. 7 und 19 der EU-Verordnung 1829/2003 offen von „anderen legitimen Faktoren“. Eine Eingrenzung dessen, was im Zusammenhang mit dem Anbau von GVO-Pflanzen mit sozioökonomischen Faktoren gemeint ist, ist aber, wie darzulegen sein wird, notwendig.45 Ähnlich wie bei der Risikoabschätzung wird man sich bei der Abschätzung von sozioökonomischen Auswirkungen auf Eingrenzungen und Leitlinien einigen müssen, um zu vergleich- und diskutierbaren Bewertungen zu kommen. Sozioökomische Abschätzungen erfordern jedoch notwendigerweise eine mitgliedstaatliche Perspektive, d. h. sie können nicht durch die EU vorgenommen werden. Denn die jeweils unterschiedliche Umwelt und die regional unterschiedlichen agrar- und soziokulturellen Kontexte führen zu unterschiedlichen Ergebnissen.46 So sind die Auswirkungen eines GVO-Einsatzes abhängig von der spezifischen Agrarstruktur des Landes; auf eine industrielle Landwirtschaft wird sich der Einsatz
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Europäische Kommission: Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und an den Rat über die sozioökonomischen Auswirkungen des Anbaus von GVO auf der Grundlage der Beiträge der Mitgliedstaaten gemäß den Schlussfolgerungen des Rates „Umwelt“ vom Dezember 2008, Brüssel 2011. 42 Europäische Kommission: Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und an den Rat über die sozioökonomischen Auswirkungen des Anbaus von GVO auf der Grundlage der Beiträge der Mitgliedstaaten gemäß den Schlussfolgerungen des Rates „Umwelt“ vom Dezember 2008, Brüssel 2011, S. 4. 43 G. Kristin Rosendal, GMO assessment in Norway: societal utility and sustainable development, in: EMBO reports 10 (2009), S.939 f. 44 Haut Conseil des Biotechnologies, eingerichtet durch Beschluss der Nationalversammlung von Juni 2008 45 Siehe unten IV. 3. 46 Evaluation of the EU legislative framework in the field of cultivation of GMOs under Directive 2001/18/EC and Regulation (EC) No 1829/2003, and the placing on the market of GMOs as or in products under Directive 2001/18/EC Final Report, S. 10.
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anders auswirken als auf eine kleinstrukturierte, bäuerliche und nachhaltige Landwirtschaft 47 b) Raumordnung als Opt-out Grund Das gleiche gilt für die Raumordnung. Denn die Raumordnung ist kein Wert an sich, insbesondere kein europäischer Wert oder Ziel.48 Es ist ein Instrument zum Schutz von Werten und Gütern. Die Ausgestaltung muss daher notwendigerweise den Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Die Europäische Raumordnung ist „nur“ ein Teil der allgemeinen Koordinations- und Gestaltungsaufgabe der Gemeinschaft.49 Diese Aufgabe folgt im Gegensatz zum Binnenmarkt bislang nicht aus einer ausdrücklichen primärrechtlichen Zielbestimmung. Die Koordinations- und Gestaltungsaufgabe ergibt sich vielmehr aus der Summe der einzelnen fachpolitischen Koordinations- und Gestaltungskompetenzen der Union, mit denen sie koordinierend auf die Raumgestaltung durch die Mitgliedstaaten wirkt oder mit denen sie den Raum unmittelbar gestaltet. Sie basiert mithin auf der Feststellung, dass die Union das Territorium der Mitgliedstaaten durch ihre Fachpolitiken mitgestaltet. Die Europäische Raumordnung bündelt diese sektoriellen Aufgaben und fasst sie in einem eigenen konzeptionellen Rahmen zusammen. 4. Renationalisierung als Instrument einer abgestuften Integration Diese hier dargelegten Rechtfertigungsgründe dienen im Kern ausschließlich vermeintlichen Souveränitätsinteressen der Mitgliedstaaten und nicht europäischen Vertragszielen. Ich bin gleichwohl der Auffassung, dass eine partielle Renationalisierung auch zum Schutz dieser ausschließlich mitgliedstaatlicher Interessen zulässig ist. Denn sie eröffnet Handlungsmöglichkeiten für die Mitgliedstaaten in Sachbereichen, in denen die Mitgliedstaaten aus den anfangs genannten Gründen den Weg der europäischen Integration durch Rechtsangleichung nicht beschreiten wollen. Im Gegensatz zur Ansicht von Tietje50 lässt sich dieses in ein Gesamtkonzept der gestuften Integration einfügen. Dem System des Binnenmarktes und den Grundfreiheiten war zwar bislang die Anerkennung eines Rechtfertigungsgrundes „fehlende gesellschaftliche Akzeptanz“ wesensfremd. Besonders deutlich hat das der EuGH zum Gentechnikrecht in der Rechtssache Sausheim aus dem Jahre 2009 formuliert.51 47
Armin Spök, Sozioökonomische Auswirkungen von GVO (Fn. 40). Wilfried Erbguth, Europäisches Raumordnungsrecht: neue Regelungskompetenzen der EU im Gefolge des Vertrags von Lissabon?, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 137 (2012), S. 73 – 91. 49 José Martinez, Die Gestaltung des ländlichen Raums der Europäischen Union, in: Jahrbuch des Agrarrechts Bd. X, 2011, S.119 ff. 50 Christian Tietje, in (Fn. 35) Art. 114, Rdnr. 158. 51 EuGH, Urt. v. 17. 02. 2009, Rs. C-552/07, Slg. 2009, I-987. 48
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So führt der EuGH konkret mit Blick auf „Gewaltakte, insbesondere das Ausreißen der Pflanzungen“ aus, „dass sich ein Mitgliedstaat nach ständiger Rechtsprechung nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um die Nichteinhaltung der aus dem Gemeinschaftsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen.“52 Insbesondere könne er sich „nicht im Stadium der Durchführung einer Handlung der Gemeinschaft auf auftretende Schwierigkeiten einschließlich solcher, die mit dem Widerstand von Privatpersonen in Zusammenhang stehen, berufen, um die Nichtbeachtung der Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen, die sich aus Vorschriften des Gemeinschaftsrechts ergeben.“53 Des weiteren hat der EuGH in einer weiteren Entscheidung zur Gentechnik ethische oder religiöse Argumente für ein nationales Saatgutverbot für gentechnisch veränderte Pflanzen ohne nähere, tragfähige Begründung seitens des Mitgliedstaates nicht akzeptiert.54 Damit kann die Union grundsätzlich nicht auf das Fehlen der Akzeptanz eines europaweit zugelassenen und damit in den Binnenmarkt integrierten Produkts dadurch reagieren, dass sie die Verkehrsfreiheit dieses Produktes begrenzt. Jedoch hat der EuGH bereits in der Rs. Kind aus dem Jahr 1982 festgestellt, dass außergewöhnliche Verhältnisse Einschränkungen dieses Grundsatzes rechtfertigen können.55 Ausnahmen können z. B. in einer Situation gerechtfertigt sein, die durch die schrittweise Verwirklichung eines einheitlichen Marktes gekennzeichnet sind. Im Gentechnikrecht steht die Union in der Tat vor einer außergewöhnlichen Situation, die über die bislang anerkannten Instrumente des Binnenmarktes nicht gelöst werden konnte.56 Jedoch müssen zwei Sicherungen beachtet werden, die der EuGH in seiner Rechtsprechung unterstrichen hat: 1. Der EuGH hat nur vorübergehende Einschränkungen anerkannt, die in einem dynamischen Prozeß der Integration sich als zwingend erforderlich erweisen können.57 2. Der EuGH verlangt auch in Ausnahmesituationen spezifische, eng auszulegende Begrenzungen der mitgliedstaatlichen Rechtfertigungsgründe. Eine derartige Begrenzungsfunktion kann derzeit die Voraussetzung „sozioökonomische Gründe“ nicht erfüllen. 58 Hier ist eine Konkretisierung (durch die Mitgliedstaaten) zwingend erforderlich. Dieser möglichen systemkonformen Ausgestaltung innerhalb der Kompetenzordnung der EU steht nicht entgegen, dass dieser Regelungsmechanismus im internationalen Bereich in vergleichbaren Sachbereichen seit langer Zeit bekannt ist und effi52 EuGH, Urt. v. 17. 02. 2009, Rs. C-552/07, Slg. 2009, I-987 mit Bezug auf EuGH, Urt. v. 9. 12. 2008, Rs. C-121/07, Slg. 2008, I-9159, Rdnr. 72. 53 EuGH, Urt. v. 9. 12. 2008, Rs. C-121/07, Slg. 2008, I-9159, Rdnr. 72. 54 EuGH, Urt.v. 16. 07. 2009 – C-165/08, Rdnr. 57; grundsätzlich hierzu Satish, Zu Anbauverboten für gentechnisch veränderte Organismen (GVO) aus ethischen Gründen, NuR 2002, S. 687 ff. 55 EuGH, Urt. v. 15. 09. 1982, Slg. 1982, 2885, Rz. 19. 56 EuGH, Urt. v. 15. 09. 1982, Slg. 1982, 2885, Rz. 19, 24 f., 27. 57 EuGH, Urt. v. 15. 09. 1982, Slg. 1982, 2885, Rz. 19, 24 f., 27; siehe hierzu Martinez, Jahrbuch S. 159. 58 Armin Spök, Sozioökonomische Auswirkungen von GVO (Fn. 47).
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zient eingesetzt wird. Denn gerade weil „derartige Vorschriften in internationalen Rechtsordnungen, die ein einzelstaatliches Abweichen von ansonsten anerkannten Grundprinzipien erlauben, nicht sachgegenständlich im Hinblick auf vermeintliche Schutzgüter zu erklären sind, sondern nur damit, dass so Sicherheitsventile geschaffen werden, die es demokratisch legitimierten Regierungen erlauben, überhaupt an dem jeweiligen Integrationsprozess teilzunehmen“59, wird deutlich, dass es sich hierbei um ein Instrument der Integration handelt. Die vermeintliche Paradoxität besteht allein darin, dass durch das Nachgeben zugunsten des integrationsfeindlichen und insofern auch protektionistischen Handlungsdrucks eine Integration des Staates im Bereich der GVO überhaupt ermöglicht wird. 5. Völkerrechtliche Verpflichtungen als Grenze der Renationalisierung Zwar kann also das Binnenmarktrecht so ausgelegt werden, dass wirtschaftliche Partikularinteressen des Mitgliedstaates die Rückführung der geteilten Kompetenz ermöglichen. Gleichwohl findet diese Kompetenzregelung ihre Grenze im Wirtschaftsvölkerrecht. Denn die WTO besteht zu Recht darauf, den europäischen Markt durch ein transparentes Zulassungssystem für gentechnisch veränderte Pflanzen zu öffnen. Die WTO beruft sich dabei auf das Übereinkommen über die Anwendung von gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Maßnahmen (das SPS Übereinkommen) sowie auf das Übereinkommen über technische Handelshemmnisse (das TBT-Übereinkommen).60 Beide Übereinkommen sind nach Art. II:2 i.V.m. Anhang 1 AWTO für alle WTO-Mitglieder verbindlich. Hierzu gehören neben den Mitgliedstaaten auch die EU als Rechtsnachfolgerin der EG.61 Das SPS-Übereinkommen legt fest, dass handelsbeschränkende Maßnahmen nur ergriffen werden dürfen, soweit dies für den Gesundheitsschutz erforderlich ist.62 Die Vertragsstaaten müssen hierzu zwar bestehende internationale Standards zugrunde legen, sie dürfen aber auch darüber hinaus gehende eigenständige Schutzstandards definieren.63 Diese müssen jedoch auf transparent ermittelten wissenschaftlichen Erkenntnissen ausschließlich zum Schutz der Gesundheit und Leben beruhen und nicht diskriminierend wirken. Ebenso zielt das TBT-Abkommen darauf, dass technische Vorschriften und Standards nicht in protektionistischer Absicht aufgestellt und keine unnötigen Handelshemmnisse geschaffen werden. Zum Schutz von Leben und Gesundheit, zum 59
Christian Tietje (Fn. 35), Art. 114, Rdnr. 159. Übereinkommens über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen, vom 15. 04. 1994, ABl. L 336, S. 40; Übereinkommen über technische Handelshemmnisse v. 15. 04. 1994, ABl. L 336, S. 86. 61 Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV. 62 Anhang (1) (a) und (b) SPS-Übereinkommen. 63 Anhang A Nr. 3 SPS-Übereinkommen. 60
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Schutz der Umwelt oder zur Wahrung von Verbraucherinteressen hat jedes Land das Recht, solche Standards aufzustellen, die es für angemessen erachtet, und die dafür notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Diese Standards müssen auf den verfügbaren wissenschaftlichen und technischen Informationen beruhen. Weder nach dem SPS noch nach dem TBT Übereinkommen sind aber vorsorgende Maßnahmen bei einem reinen Gefahrenverdacht zulässig.64 Ein solcher Gefahrenverdacht liegt aber im Fall gentechnisch veränderter Pflanzen vor, da die Bedenken in den Gesellschaften der EU-Mitgliedstaaten bislang auf nicht konkretisierbaren Befürchtungen beruhen und auch die Wissenschaft das sich erst künftig realisierende Gefahrenpotential nicht mit hinreichender Sicherheit ermitteln kann.65 Demgemäß hat ein Schiedsgericht der WTO das zwischen 1998 und 2003 auf diesen Gefahrenverdacht hin in der EU verabschiedete Zulassungsmoratorium für gentechnisch veränderte Pflanzen als Verstoß gegen die genannten WTO-Übereinkommen gewertet.66 Insoweit ist der Rückgriff auf Rechfertigungsgründe Umwelt und Gesundheit nur bei einem spezifischen Nachweis möglich. Die Anordnung von Anbauverboten mit der Rechtfertigung Raumordnung oder sozioökonomischer Gründe, insbesondere der fehlenden Akzeptanz in der Bevölkerung ist nach WTO-Recht indes nicht möglich, da es derartige Öffnungsklauseln nicht kennt.67 An die völkerrechtlichen Vorgaben ist der europäische Gesetzgeber gebunden. Durch die Rückübertragung von Kompetenzen mit dem Ziel, den Mitgliedstaaten ein völkervertragswidriges Verhalten zu ermöglichen, verletzt die EU selbst ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem WTO-Übereinkommen. Die EU kann daher dieses Dilemma nicht rechtlich dadurch lösen, dass sie den mitgliedstaatlichen Forderungen nachgibt und den Teilbereich in dem Wissen renationalisiert, dass die Mitgliedstaaten völkerrechtswidrig von der zurückerhaltenen Kompetenzausübung Gebrauch machen. Vielmehr ist rechtlich eine Anpassung der völkerrechtlichen Verpflichtungen erforderlich (z. B. im Wege der TTiP-Verhandlungen, was aber derzeit nicht realistisch erscheint) oder eine rechtspolitische Informationskampagne über die beschränkten Gestaltungsmöglichkeiten der EU und der Mitgliedstaaten.
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Vgl. Astrid Strack (Fn. 20), S. 831 f. Vgl. BVerfG, 24. 11. 2010, 1 BvF 2/05. 66 WTO Dispute Settlement v. 29. 9. 2006, USA, Canada and Argentina vs. European Communities — Measures Affecting the Approval and Marketing of Biotech Products, DS291, DS292 and DS293. 67 Astrid Strack (Fn. 20), S. 835. 65
Bemerkungen zur Kompetenzverteilung Volkmar Götz Wenn ich das Wort ergreife in einem aus Anlass meines 80. Geburtstages veranstalteten Symposium, dann in erster Linie, um mich zu bedanken. Ich danke den Referenten für die hochinteressanten Referate. Ich danke den Initiatoren und Veranstaltern und allen Teilnehmern. Herrn Martínez und seinen Mitarbeitern danke ich besonders für die gelungene Planung und Organisation. In meiner Lebensbilanz ist dies ein Tag, an den ich immer zurückdenken werde. Sie haben mir mit dem Symposium und der Wahl des Themas große Freude bereitet. Seit ich mich mit dem Europarecht beschäftige – das ist seit den 60er Jahren – habe ich über die Frage der Kompetenzen der Integrationsgemeinschaft nachgedacht und gelegentlich auch publiziert.1 Wichtiger noch ist, dass ich meine Doktoranden zu beidem, dem Nachdenken und dem Publizieren, angeregt habe. Ich kann an dieser Stelle nicht alle nennen. Erwähnen will ich aber die umfangreiche Untersuchung von Christiane Trüe über „Das System der Rechtsetzungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union“ (2002) und die Dissertation von Markus Ludwigs über „Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag“ (2004). Sie stehen beispielhaft für die Bedeutung, die ich am Lehrstuhl der Kompetenzfrage beigemessen habe. Mit meinen heutigen Bemerkungen zur Kompetenzverteilung muss ich mich kurz fassen.2 Ich werde daher, was ich zu sagen habe, in 3 Thesen konzentrieren. 1. These: Das System der Unionskompetenzen wird über Verfahren gesteuert. Die relevanten Unterschiede sind die Art der Mitwirkung des Europäischen Parlaments und die Beschlussfassung im Rat. Ob Mehrheitsbeschlussfassung möglich ist oder das Einstimmigkeitserfordernis besteht, ist entscheidend für die Qualität und Tragweite der Kompetenzen. Kompetenzen, deren Ausübung dem Einstimmigkeitserfordernis unterliegt, sind qualitativ andere als solche, die eine Mehrheitsbeschlussfassung vorsehen. Das Einstimmigkeitserfordernis ist auch Grundlage von Strategien zur Erhaltung nationaler Kompetenzen. Eine zusammenhängende Lektüre der Unionsverträge würde ergeben, dass die weitaus größte Textmasse aus Kompetenzzuweisungen besteht. Diese legen jeweils Organkompetenzen fest. Aus den Organkompetenzen folgt die Kompetenz der 1 Zuletzt: Volkmar Götz, Ein System der Aufteilung von Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten? Bemerkungen zur Kompetenzordnung im Vertrag von Lissabon, in: Derlén/Lindholm (Red.), Festskrift till Pär Hallström, Uppsala 2012, S. 185. 2 Eingehender Hans H. Klein, Integration und Verfassung, AöR 139 (2014), S. 166 (171 ff.).
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Union. Auf die Konstruktion einer den Organkompetenzen vorausliegenden Unionskompetenz wird im Unionsrecht verzichtet. Die Kompetenzzuweisungen sind so beschaffen, dass sie sich nicht darauf beschränken, mit dürren Worten Materien zu benennen. Sie sind eingebettet in Zielvorgaben, zum Teil sogar allein durch Zielvorgaben determiniert. Wie das Einstimmigkeitserfordernis der Bewahrung nationaler Kompetenzen dient, lässt sich am Beispiel des Steuerrechts studieren. Für dieses Gebiet gilt das Einstimmigkeitserfordernis. Das hat zur Folge, dass der Umfang der Steuerharmonisierung überschaubar geblieben ist. Der weit fortgeschrittenen Harmonisierung der Umsatzsteuer stehen die Ansätze einer Verbrauchsteuerharmonisierung und Fragmente der Harmonisierung der direkten Steuern gegenüber. Das Einstimmigkeitsprinzip kann nicht durch Binnenmarktharmonisierung ausgehebelt werden (Art. 114 Abs. 2 AEUV). Es wird heute darüber nachgedacht, wie man, ohne durch das Einstimmigkeitsprinzip gehindert zu sein, Abhilfe gegen Steuerdumping einzelner Mitgliedstaaten schaffen kann, wie es jüngst in der Affäre zutage getreten ist, in der es um Steuervereinbarungen Luxemburgs mit international operierenden Konzernen ging. Man kommt dabei auf die nach Art. 50 Abs. 2 h und j AEUV mögliche Vereinheitlichung der Rechnungslegung oder auf die Beihilfenkontrolle. Auch für das Strafrecht besteht innerhalb der europäischen Kompetenzen ein Verfahrensmechanismus zur Wahrung nationaler Kompetenzen. Im „Notbremse“-Verfahren ist das Einvernehmen des Europäischen Rates erforderlich, also Einstimmigkeit. Ein Staat kann dies bei Maßnahmen der Strafrechtsharmonisierung einfordern, wenn „grundlegende Aspekte“ seiner Strafrechtsordnung betroffen sind (Art. 82 Abs. 3, 83 Abs. 3 AEUV). Am Ende meiner Ausführungen zur ersten These möchte ich noch hervorheben, dass die sog. „Kompetenz-Wahl“ bei sich überschneidenden Kompetenzen, die nach der Rechtsprechung des EuGH3 innerhalb bestimmter Grenzen möglich ist, ebenfalls vollständig auf die Unterschiede der Verfahren fokussiert ist – also je nachdem, ob diese die Beschlussfassung durch Einstimmigkeit erschweren oder durch Mehrheitsbeschlussfassung erleichtern und je nach der Art der Mitwirkung des Europäischen Parlaments. Ich komme zur 2. These. Sie soll eine wichtige Machtfrage ins Licht heben, die als solche zwar geläufig ist, aber im Allgemeinen nicht in die Kompetenzdebatte eingeordnet wird. Die 2. These lautet: Materiellrechtliches Europarecht (substantial law), wie es insbesondere in Gestalt der Grundfreiheiten und in zunehmendem Maße auch der Grundrechte vorhanden ist, generiert Kompetenzen des EuGH, deren Tragweite vor allem deshalb beträchtlich ist, weil sie von den Staaten nicht mehr gesteuert werden können. 3 Ständige Rechtsprechung: u. a. Rs. C-295/90, Slg. 1992, I-4193 (EP/Rat); Rs. C-155/91, Slg. 1993, I-939 (Kommission/Rat); Rs. 164/97, Slg. 1999, I-1139 (EP/Rat). Vgl. Ines Härtel, Die Zuständigkeiten der Union, in: Niedobitek (Hrsg.), Europarecht – Grundlagen der Union, München 2014, S. 503, Rn. 98 ff.
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Diese Kompetenzen des EuGH treten mit zunehmendem Gewicht zu den Kompetenzen der politischen Unionsorgane hinzu. Die Grundfreiheiten sind, so wie sie seit den Anfängen im EWG-Vertrag bis heute ausgestaltet sind, eigentlich auf legislative Gewährleistung und Realisierung angelegt. Die Vertragsartikel der Grundfreiheiten enthalten zahlreiche und stark ausdifferenzierte Rechtsetzungsermächtigungen. Was uns aber im Europarecht seit Jahrzehnten viel mehr beschäftigt, ist die Ausstattung der Grundnormen über den freien Warenverkehr, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit mit unmittelbarer Anwendbarkeit und Vorrang vor dem nationalen Recht. Sie ist das Resultat der EuGH-Rechtsprechung. Die Bedeutung dieser Rechtsprechung ist seit langem und kontinuierlich dadurch gesteigert, dass in den jeweiligen Basisnormen der Grundfreiheiten nicht lediglich Verbote unmittelbarer oder mittelbarer Diskriminierungen erblickt werden, sondern darüber hinaus „materielle Beschränkungsverbote“.4 Kompetenzrechtlich gesprochen: die Grundfreiheiten – und dasselbe gilt auch für die Grundrechte – mutieren zu Kompetenzen des EuGH. Die Überprüfung nationalen Wirtschaftsrechts auf Konformität mit den Grundfreiheiten bedeutet Kontrolle des EuGH, ob Differenzierungen und Beschränkungen durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind. Dieser Kontrolle entgeht selbst das nationale Steuerrecht nicht. Auf die direkten Steuern, die den politischen Unionsorganen durch das Einstimmigkeitsprinzip weitgehend verschlossen sind, hat der EuGH Zugriff, wie inzwischen zahllose Entscheidungen belegen.5 Dem EuGH kommt das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil und im Honeywell-Beschluss weit entgegen: Der EuGH kann, ohne dass dem Bedenken entgegengesetzt werden, Kompetenzen nach dem Prinzip des effet utile auslegen6 und Rechtsfortbildung betreiben.7 „Dies ist Teil des vom Grundgesetz gewollten Integrationsauftrages“ heißt es dazu im Lissabon-Urteil mit großer Bestimmtheit.8 Die gefürchtete und abgelehnte Kompetenz-Kompetenz der Union wird vom Bundesverfassungsgericht nicht am EuGH, sondern an „dynamischen Vertragsvorschriften mit Blankett-Charakter“ festgemacht, während das „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ als ein zuverlässig schützender rocher de bronze gesehen wird.9 Diese Betrachtungsweise läuft Gefahr, die kompetenzielle Bedeutung der Entscheidungs4 Vgl. Rudolf Streinz, Europarecht, 9. Aufl., Heidelberg 2012, Rn. 802 ff.; Thomas Oppermann/Claus Dieter Classen/Martin Nettesheim, Europarecht, 6. Aufl., München 2014, S. 386 f. 5 Diese 1986 beginnende EuGH-Rechtsprechung ist in der von Chr. Starck betreuten Göttinger Dissertation von Lars Loewens (Der Einfluss des Europarechts auf das deutsche Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, Nomos 2007) vollständig verarbeitet (a.a.O., S. 163 – 463). Zur jüngeren Rspr. vgl. Heinrich Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGHRechtsprechung, DStR 2009, 1229; Joachim Englisch, Nordea-Bank – ein weiterer Meilenstein in der EuGH-Judikatur, IStR 2014, 561; Marcel Herbort, „Marks & Spencer 2.0“ – Plädoyer gegen Trends in der EuGH-Judikatur, IStR 2015, 15. 6 BVerfGE 123, 267 (351 f.) – Lissabon. 7 BVerfGE 126, 286 (305) – Honeywell. 8 BVerfGE 123, 267 (352) – Lissabon. 9 BVerfGE 126, 286 (306 f.) – Honeywell.
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prärogativen des EuGH zu unterschätzen. Denn die allenfalls noch durch den „Willkürmaßstab“10 begrenzte Kompetenz des EuGH zur verbindlichen Auslegung des Unionsrechts kommt im Ergebnis einem Stück Kompetenz-Kompetenz gleich. Meine 3. These lautet: Den Kompetenzzuweisungen an die Union ist kein System der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten zu entnehmen. Die Kompetenzen der Union sind durch die Vertragsrevisionen kontinuierlich mehr geworden. Sie sind redundant ausgestaltet, gleichsam auf Vorrat angelegt. Jede Vertragsrevision, angefangen von der Einheitlichen Europäischen Akte bis zum Vertrag von Lissabon, hat die europäischen Kompetenzen erweitert und verstärkt. Die Erklärung des Europäischen Rates von Laeken (2001) hatte zwar in dramatischer Rhetorik die Gefahr einer „schleichenden Ausuferung der Zuständigkeiten der Union“ beschworen und eine „neu zu bestimmende Verteilung der Zuständigkeiten“ an die Spitze der Reformagenda gesetzt. Aber daraus ist nichts geworden. Die Verfassung und der aus ihr hervorgegangene Vertrag von Lissabon setzen die bisherige Richtung der Entwicklung ungebrochen fort. Die europäischen Kompetenzen wachsen unaufhörlich. Ihr Bestand ist allerdings nicht gleichzusetzen mit der aktuellen Verteilung der Kompetenzwahrnehmung. Zur Illustration von Redundanz der europäischen Kompetenzen nur dieses eine Beispiel: Die Kompetenz, eine gemeinsame Verkehrspolitik durchzuführen, umfasst sowohl das gesamte Verkehrswirtschaftsrecht als auch das Verkehrssicherheitsrecht. Dennoch dürfte eine europäische Straßenverkehrsordnung außerhalb des Erwartbaren bleiben. Daraus folgt im Ergebnis: Die Bewahrung nationaler Kompetenzen ist letztlich nicht durch eine in den Unionsverträgen prästabilisierte Ordnung garantiert. Sie muss vielmehr in Auseinandersetzung mit der Kompetenzausübung der Union immer wieder politisch gesichert und erkämpft werden. Dazu braucht der einzelne Staat, wenn es um Mehrheitsbeschlussfassung geht, Verbündete aus dem Kreis anderer Mitgliedstaaten. Dabei steht dem Staat das Subsidiaritätsprinzip zur Seite. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass dessen Durchsetzung ein rein politischer Prozess ist, dessen Ausgang nicht durch übergeordnete Rechtskontrollen abgesichert ist. Bekanntlich waren im Verfassungskonvent und schon in dessen Vorfeld die Kompetenzverlustängste der Staaten, voran aus Deutschland, massiv zum Ausdruck gekommen. Das Unionsrecht reagiert darauf mit zum Teil sehr durchsichtigen Versuchen der Beruhigung. In einige Kompetenztitel sind Harmonisierungsverbote eingebaut, u. a. bei Gesundheitspolitik und Verbraucherschutz. Aber man weiß, dass diese Verbote durch Harmonisierung auf der Grundlage der Binnenmarktkompetenzen mühelos unterlaufen werden können. Im Verfassungskonvent wurde in die Kompetenzergänzungsklausel (Art. 352 AEUV) ein Verbot eingefügt, auf dieser Grundlage nationales Recht zu harmonisieren. Das geschah zur Beruhigung nationaler Kompetenzverlustängste. Aber für die Harmonisierung nationalen Rechts ist diese Vor10
BVerfGE 126, 286 LS 3 – Honeywell.
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schrift seit jeher ohne Bedeutung, weil dafür weiterreichende andere Rechtsgrundlagen zur Verfügung stehen. Dagegen diente die einstimmige Kompetenzergänzung in großem Umfang der Schaffung unionseinheitlicher Rechtstitel geistigen Eigentums. Das bleibt weiterhin möglich. Nach dem Vertrag von Lissabon wird der Art. 352 AEUV aber selbst für diesen Zweck nicht mehr benötigt, weil sich die Binnenmarktrechtsetzung seit dem Vertrag von Lissabon auch auf die Schaffung europäischer Rechtstitel des geistigen Eigentums erstreckt (Art. 118 AEUV). Auch für den langen Katalog von Gegenständen, den das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil11 als „besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungskraft eines Verfassungsstaates“ eingestuft hat und die über die Strafrechtspflege, den Haushalt bis zur sozialstaatlichen Gestaltung und dem Familienrecht, Schul- und Bildungssystem reichen, bleibt Deutschland darauf angewiesen, seine Kompetenzen auf der Ebene der Kompetenzausübung, also in Verteidigung gegen die beabsichtigte Ausübung europäischer Kompetenzen zu wahren. Das Bundesverfassungsgericht hat den Lissabon-Vertrag nicht für verfassungswidrig erklärt. Es konnte dabei nicht übersehen, dass für die lange Liste der angeführten besonders sensiblen Gebiete jedenfalls teilweise europäische Kompetenzen vorhanden sind. Das zwingt zu der Schlussfolgerung, dass die vom Bundesverfassungsgericht gezogenen oder jedenfalls angedeuteten Verfassungsgrenzen nicht das Vorhandensein von Kompetenzen in Frage stellen, also folglich nur ihrer unbegrenzten Ausübung entgegenstehen. Schließen möchte ich mit einem Fall aus der EuGH-Rechtsprechung: Tanja Kreil hat sich im Jahr 2000 die Aufnahme als Soldatin in die Bundeswehr erstritten. Dies, obwohl die deutsche Verfassung (Art. 12a Abs. 4 S. 2 GG) ausdrücklich bestimmte: Frauen „dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten“. Der Fall Tanja Kreil illustriert die kompetenzielle Bedeutung von europäischen Grundrechten, wenn diese Geltung auch für die Mitgliedstaaten haben. Bei der Gleichberechtigung von Männern und Frauen war dies im Europarecht seit jeher der Fall, lange bevor es eine Europäische Charta der Grundrechte gab. Die Kompetenzbedeutung des Falles liegt auf der Hand: Es war nun der EuGH, der über eine Frage der inneren Ordnung der Bundesrepublik Deutschland entschied. Die Personalstruktur der Streitkräfte ist eine Frage der deutschen inneren Ordnung. Es ging nicht um einen nur beiläufigen Aspekt dieser Frage, wie sich aus der ausdrücklichen Klärung in der Verfassung ergab. Nichtsdestoweniger wurde vom EuGH abweichend vom deutschen Verfassungsrecht entschieden. Ich habe damals zur Entscheidung in der Sache Tanja Kreil12 eine zustimmende Anmerkung geschrieben.13
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BVerfGE 123, 267 (359 ff.) – Lissabon. EuGH, Urt. v. 11. 1. 2000, Slg. 2000, I-69. 13 Volkmar Götz, Zum Einsatz von Frauen in bewaffneten Einheiten der Streitkräfte, JZ 2000, 413. 12
Schlusswort Reinhard Hendler* Lieber Herr Götz, liebe ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Doktorandinnen und Doktoranden am Lehrstuhl des Jubilars, sehr geehrte Damen und Herren, das Programm unseres Geburtstagssymposiums sieht nach einem ereignisreichen und anstrengenden Tag mit profunden Vorträgen zum EU-Recht, angeregten Pausengesprächen sowie grundsätzlichen fachlichen Anmerkungen unseres Jubilars auch noch ein Schlusswort vor, und dies in beunruhigender Weise – im Gegensatz zu allen anderen Programmpunkten – ohne jede Zeitbegrenzung. Aber keine Sorge: Als verantwortlichem Leiter etlicher Tagungen des Instituts für Umwelt- und Technikrecht in Trier ist mir bestens bekannt, dass ein Schlusswort umso mehr geschätzt wird, je knapper es ausfällt. Das Angenehme an einem Schlusswort besteht darin, dass es Gelegenheit bietet, Dank zu sagen. Dieser Dank ist bereits von unserem Jubilar, Herrn Götz, zum Ausdruck gebracht worden. Ihm schließe ich mich gern an, freilich mit der Einschränkung, dass ich mich als Dankadressaten ausnehme. Zudem sei mir gestattet, noch einmal die Referenten hervorzuheben, die uns mit ihren instruktiven Vorträgen sachkundig über grundlegende Kompetenzfragen im Bereich der EU ins Bild gesetzt haben. Und nicht nur dies: Die Referenten haben uns zugleich für tieferliegende Problemschichten sensibilisiert und zu weiteren Überlegungen inspiriert. Sie verdienen gewiss einen Extradank. Gleiches gilt für Herrn Martinez und sein Team, denen das Verdienst zukommt, das Symposium erfolgreich organisiert zu haben, und zwar sowohl hinsichtlich der Vorbereitung als auch der heutigen Begleitung. Meine Damen und Herren, die Verteilung von Aufgaben und Befugnissen auf verschiedene Hoheitssubjekte birgt Konflikte. Dies gilt unabhängig davon, ob die Verteilung horizontal oder vertikal erfolgt. Für Horizontalkonflikte sei beispielsweise an das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Parlament, Parlament und Regierung oder auch Bürgermeister und Gemeindevertretung erinnert. Vertikalkonflikte sind Erscheinungen in politischen Mehrebenensystemen. Sie betreffen etwa das Verhältnis zwischen Ländern und kommunalen Gebietskörperschaften, zwischen Bund * Professor (em.) Dr. Reinhard Hendler war Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Umweltrecht an der Universität Trier.
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und Ländern sowie nicht zuletzt zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten. Den Vertikalkonflikten wird gewöhnlich eine erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet. Sie sind gleichsam Dauerbrenner der politischen und rechtlichen Diskussion und veranlassen nicht selten den Normgeber zu kompetenzrechtlichen Neujustierungen. Insofern erweist es sich immer wieder als reizvoll, eine Zwischenbilanz zu ziehen und sich darüber zu vergewissern, mit welchen künftigen Entwicklungen zu rechnen ist und wo möglicherweise Reformbedarf besteht. Da das EU-Recht in diesem Zusammenhang einige neuartige Fragen aufwirft, ist es – wie wir heute auch anschaulich erfahren haben – besonders lohnenswert, sich damit zu befassen. Das heutige Geburtstagssymposium bezieht seinen Reiz freilich nicht allein aus dem wissenschaftlichen Programm, sondern auch aus dem Umstand, dass sich mehrere Generationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Doktorandinnen und Doktoranden des Lehrstuhls Götz eingefunden haben. Hierdurch hat sich manches überraschende und – wie zu beobachten war – fröhliche Wiedersehen ergeben, teilweise nach vielen Jahren. Die persönliche Begegnung gehört zu den wesentlichen Bestandteilen eines Symposiums, wobei diese Begegnung bei einem Geburtstagssymposium besonders spannend sein kann. Daher sehen wir bereits erwartungsvoll dem nächsten Geburtstagssymposium zu Ehren unseres Jubilars entgegen. Es ist, wie Sie, lieber Herr Götz, feststellen können, nicht vollkommen uneigennützig, wenn wir Ihnen auch weiterhin stabile Gesundheit und ungebrochene Schaffenskraft an der Seite Ihrer geschätzten Frau und inmitten Ihrer Kinder und Enkelkinder wünschen. Und natürlich soll heute auch der Schlachtruf akademischer Geburtstagsfeiern nicht fehlen: ad multos annos!