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German Pages [265] Year 2011
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624159 — ISBN E-Book: 9783647624150
Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie
Herausgegeben von Lutz Friedrichs, Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier Band 69
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Michael Lorenz
Das Wort im Spannungsfeld von Anrede und Interpretation Erfahrungsbezug und Wirklichkeitsdeutung in der Predigt
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Meiner Frau und meinen Töchtern Yumiko, Ayano und Haruka
Sola autem experientia facit theologum (Martin Luther, WA.TR 1, Nr. 46) Die theologischen Probleme wollen ins Menschliche übersetzt werden und die menschlichen bis ins Theologische vorgetrieben (Franz Rosenzweig, Das neue Denken, in: Kleinere Schriften, 389)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62415-9 ISBN 978-3-647-62415-0 (E-Book) Inauguraldissertation zur Erlangung der Würde eines Doktors der Theologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 2011 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Lisa Hoppe, Göttingen Druck und Bindung: a Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Auslegung des Wortes Gottes als Phänomen der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bestimmung der Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Das zu Grunde liegende Verständnis der Sprache und ihrer Beziehung zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Die dreifache Struktur der Sprache . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Das Initialgeschehen des Anrufs und die Entwicklung hin zum Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Verantwortung des Lebens in den drei Dimensionen . . . 1.2.4 Der Ausgleich der Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die theologischen Grundlinien der Konzeption Müller-Schwefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Der Bereich des Du . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Das Weltverhältnis des Menschen . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Der Sieg des biblischen über das griechische Denken . . . 1.4 Problematische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Die von Christus geschenkte Freiheit . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Das Auseinanderbrechen der Wirklichkeit . . . . . . . . . 1.5 Verkündigung als Verheißung der Vollendung der Welt nach dem Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Die Auferstehung als Grund der Verkündigung . . . . . . 1.5.2 Verkündigung an die säkulare Welt . . . . . . . . . . . . 1.6 Erkenntnisgewinn für die homiletische Theoriebildung . . . . . 1.6.1 Der Einfluss von Erfahrung, Denken und Wirklichkeitsverständnis auf die homiletische Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.2 Die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch, Wort Gottes und Menschenwort . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.3 Das Problem der Sondersprache . . . . . . . . . . . . . . 2. Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation . 2.1 Exemplarisches und Spezifisches bei Engemann . . . . . . . . 2.2 Engemanns Beitrag zur Predigtanalyse: Verhinderte Kommunikation mit dem Hörer . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Lexematische Tendenz und semantischer Reim: Aufbau einer selbstgenügsamen Sonderwelt . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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2.2.2 Obsoleter Pfad und subcodierte Kombinatorik: Ausweichen in Bekanntes . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Wir-Alle-Syntax und erwartete Paradoxie: missglückte Verbindung von Glaubenssprache und Welterfahrung . 2.2.4 Reklametypische Plausibilität und ideologische Persuasion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ambiguitäre Predigt als Antwort auf die Analyse? . . . . . . . 2.3.1 Der Einfluss der theoretischen Perspektive auf die Deutung der Analyseergebnisse . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Der Einfluss der semiotischen Perspektive auf die homiletische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlinien der theologischen Argumentation und des Verhältnisses von Semiotik und Theologie . . . . . . . . . . . 2.4.1 Das inkarnationstheologische Axiom der Semiotischen Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Die Auseinandersetzung um den Offenbarungsbegriff . 2.4.3 Die existentielle Dimension des Verstehens . . . . . . . Anrede und Zeichen: Möglichkeiten der Verbindung beider Aspekte in der Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Das untrennbare Beieinander von Anrede und Interpretation und die kulturelle Bedingtheit des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Zum Verhältnis von Theologie und Semiotik in der Homiletik – Referentenbezug und Wahrheitsfrage . . . Personale Kommunikation als Wesen der Predigt: über die Semiotik hinaus weisende Ansätze bei Engemann . . . . . . .
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3. Ergebnisse der Analyse und theologische Grundlegung eines Antwortversuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die rechte Unterscheidung von Gott und Mensch als gemeinsames Problemfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Die Problematik bei Müller-Schwefe . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Die Problematik bei Engemann . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Sprache des Glaubens als Dialog mit der Sprache der Welt . 3.3 Die Theologie als Ausgangspunkt und orientierendes Zentrum aller homiletischen Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Abgrenzung von der Alternative Dialektische Theologie oder Empirische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Kriterien der Theologie im Anschluss an G. Ebeling . . . 3.3.3 Die aktuelle Schwierigkeit des Dialogs zwischen Glaubenssprache und Sprache der Welt . . . . . . . . . .
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Inhalt
3.4 Rezeption von Ebelings Fundamentalunterscheidung von Gott und Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Das Sein Gottes und des Menschen als Zusammensein im Medium des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Relationale Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Verkümmerung der Sprache und der Erfahrung unter der Dominanz wissenschaftlicher Welterfahrung . . . . . . . . . . . 3.5.1 Biologismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Historismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rückgewinnung von Sprache und Erfahrung mit Hilfe von Buber und Marcel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Orientierung der Rezeption an der homiletischen Fragestellung 4.2 Bubers Gegenüberstellung der Grundworte Ich-Du und Ich-Es: Abgrenzung und Beschreibung der Sphäre des Zwischen . . . . 4.2.1 Unmittelbarkeit der Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Gleichberechtigung der Partner . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Die Wirklichkeit des Zwischen . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Die Fülle des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Gegenwart des Du und Vergangenheit des Es . . . . . . . 4.2.6 Theologische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Gabriel Marcel: Reflexion, um für den Glauben Raum zu schaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Über Buber hinaus: Reflexion und Selbstverhältnis . . . . 4.3.2 Reflexion als integraler Bestandteil der Erfahrung . . . . 4.3.3 Erste und zweite Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Empfinden als Weise der Teilhabe . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Kontemplation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 Das „nicht-mediatisierbare Unmittelbare“ als Wurzel unser Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.7 Sein in der Situation und Unterwegs-Sein . . . . . . . . . 4.3.8 Selbstverhältnis, Intersubjektivität und Gottesbezug . . . 4.4 Konsequenzen für die Aufgabe einer erfahrungsnahen Predigtsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Zur Begründung der Forderung nach konkreter Predigt . 4.4.2 Anerkennung von Ambivalenz als Bedingung von Wirklichkeitsnähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Direkt und indirekt wirksame Kräfte . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Unmittelbarkeit und Distanz, Haltung und Reflexion . . .
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Inhalt
5. Entwurf einer prinzipielle, materiale und formale Fragen umfassenden hermeneutischen Homiletik . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Prinzipielle Homiletik als Auslegung von Gottes Handeln an uns in Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Prinzipielle Homiletik: systematisch-spekulativ oder hermeneutisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Das Gesetzesverständnis Ebelings: Gesetz als Gesetz der Lebenswirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Akzentverschiebung der Gesetzespredigt von Anklage zu Erkenntnis im säkularen Horizont . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Programm einer hermeneutischen Homiletik: prinzipielle, materielle und formale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Prinzipielle Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Materielle Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Formale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Einordnung in die homiletische Diskussion in Orientierung an der Frage des Erfahrungsbezugs als eines spezifischen Problems von Glaube und Theologie in der Neuzeit . . . . . . . 5.3.1 Verhältnisbestimmung zu W. Gräbs Konzept einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht . . . . . . 5.3.2 Orientierung der Homiletik am Erfahrungsbezug als spezifisches Problem von Glaube und Theologie in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Plädoyer für die Seele als anthropologischen Ort des Gottesbezugs des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Was eine Predigt ist, und wie der Vorgang des Predigens am besten zu beschreiben ist, darüber gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Allgemeine Zustimmung wird aber vielleicht die Aussage finden, dass es in der Predigt darum geht, Gott und Mensch zusammen zu bringen, zusammen zu denken, zusammen zu sprechen. Predigt gibt es, weil Gott mit dem Menschen zu tun haben will, und – so zumindest die Annahme der Theologie – der Mensch zum Gelingen seines Lebens auf Gott angewiesen ist. Es ist daher ein Problem der Predigt, wenn für ihre Hörer nicht deutlich und plausibel wird, wie und warum Gott und Mensch miteinander zu tun haben, was Gottes Wille zum Zusammensein mit den Menschen für uns bedeutet, warum das Leben nicht am Rand, sondern in seiner Mitte mit Gott zu tun hat. Es ist ein Problem für die Predigt, wenn ihre Sprache den Kontakt zu der Sprache der Menschen und der Welt verliert und zur religiösen Sondersprache wird, aber auch, wenn sie in der Alltagssprache mehr oder weniger aufgeht, d. h. wenn die Predigt als Wort Gottes den Menschen nicht mehr in seiner Mitte zu treffen und zu verwandeln vermag. Kurz gesagt: Es geht in der Predigt um das Zutun-Haben Gottes mit den Menschen, letztlich in der Ausrichtung auf das Evangelium als befreiendem und heilvollem Wort. Vor diesem Hintergrund war die Grundidee zu dieser Arbeit, den Zusammenhang von Gott und Mensch, das Zutun-Haben Gottes mit dem Menschen in der Mitte seines Lebens im Wort und in der Sprache zu suchen. Dies legt sich zunächst insofern nahe, als die Predigt, in der Gott und Mensch in heilvoller Weise zusammen kommen sollen, ein sprachliches Geschehen ist. Dem entspricht sodann auch die Sprachlichkeit der Existenz des Menschen. Nimmt man beides zusammen, müsste es bei einem umfassenden Verständnis von Sprache möglich sein, das Zutun-Haben-Wollen Gottes mit uns im Wort der Predigt so auszulegen, dass deutlich wird, wie Gott auf die Mitte der in ihrer Sprachlichkeit verstandenen Existenz des Menschen bezogen werden kann. Des Weiteren erhoffte ich mir von einem solchen Ansatz bei der Sprache die Möglichkeit, die prinzipielle homiletische Frage nach dem Wesen der Predigt und die praktische Frage nach dem Wie der Predigtarbeit miteinander verbinden zu können. Wenn das Wesen der Predigt als Wortgeschehen ausgelegt ist, das zugleich als Auslegung der sprachlichen Existenz des Menschen gelten kann, dürfte es möglich sein, aus der prinzipiellen Frage Konsequenzen für die materialen und formalen Fragen zu ziehen. Von diesen Überlegungen ausgehend, habe ich zwei Homiletiken ausgewählt und untersucht, die in unterschiedlicher Weise die Sprache als für die Predigt und den Menschen in gleicher Weise zentral in den Mittelpunkt
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Vorwort
stellen. Dies ist zum einen die aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts stammende Homiletik von Hans-Rudolf Müller-Schwefe, und zum anderen die in den 90er Jahren konzipierte und bis heute aktuelle semiotische Homiletik von Wilfried Engemann. Beide Ansätze stammen aus unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichem theologischem Hintergrund. Zwischen beiden steht in der Praktischen Theologie die empirische Wende. Beide zeigen darüber hinaus auch, wie unterschiedlich man die Sprachlichkeit der Existenz des Menschen verstehen und akzentuieren kann. Die Weite des Feldes, die durch diese beiden Ansätze gespannt wird, habe ich im Titel der Arbeit durch die Begriffe Anrede und Interpretation markiert. Bei Müller-Schwefe ist zumindest dem Ansatz nach das innerste Zentrum und Wesen der Sprachlichkeit des Menschen, dass er angeredet ist. Bei Engemann liegt der Akzent auf dem Zeichencharakter der Sprache und der Kommunikation; Zeichen sind demgemäß der Schlüssel zum Wesen des Menschen, weil er ohne Deutung von Zeichen seine Welt gar nicht wahrnehmen und in ihr nicht als kommunizierendes Wesen leben kann. Dem entspricht dann – um dies hier nur kurz anzudeuten – eine unterschiedliche Auffassung, wie Gott mit dem Menschen zu tun bekommt. Bei Müller-Schwefe, und im Kontext der Wort Gottes Theologie überhaupt, redet er den Menschen an, bei Engemann lässt er sich im Bereich des Menschen wahrnehmen. Damit ist wiederum eine recht unterschiedliche Einschätzung der kulturellen Bedingtheit des Predigtgeschehens verbunden. Das Wort Gottes als Anrede trifft den Menschen in seiner kulturellen Bedingtheit dem Anspruch nach von außerhalb. Dagegen betont der Ansatz, der von der Unvermeidlichkeit eines Zeichenlektürevorgangs als Grundlage jeglicher Wahrnehmung ausgeht, die kulturelle Bedingtheit jeglichen Redens von Gott. Im Verlauf der Untersuchung beider Homiletiken zeigte sich immer deutlicher die Schwierigkeit, Gott und Mensch im allgemeinen und das Wort Gottes und die Sprache des Menschen im besonderen zusammenzudenken, ohne dass es zur Trennung oder zur spannungslosen Identität kommt. Beide Ansätze vertreten zwar wichtige und unaufgebbare Einsichten, eine überzeugende Auslegung des Geschehens der Predigt im Horizont der Sprachlichkeit der menschlichen Existenz, die eine Verbindung prinzipieller und praktischer Fragen ermöglichte, bieten sie aber nicht. Die Gründe hierfür zeigen nicht zuletzt die spezifische Schwierigkeit, unter den Bedingungen der Neuzeit die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch plausibel und auf Erfahrung bezogen auszusagen. Die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch ist in beiden Ansätzen letztlich problematisch. Beide Male konzentriert sich dies in der Frage, wie Gottes Wort und Menschenwort zueinander ins Verhältnis zu setzen sind. Bei Müller-Schwefe ist der mit Barth begründete offenbarungstheologische Vorbehalt, dass erst mit Jesus Christus die „Sprache des Du“ als Möglichkeit des Menschen eröffnet wird, wie zu zeigen sein wird, der Ausgangspunkt eines Auseinanderfallens der Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt auf der einen und der ganz anderen Wirklichkeit Gottes auf
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Vorwort
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der anderen Seite. Die Spannung von „schon jetzt“ und „noch nicht“ löst sich in reine Zukünftigkeit auf. Dabei ist in der Auseinandersetzung mit MüllerSchwefe für die Homiletik insgesamt aufschlussreich, dass nahezu alle theologischen Aussagen und Argumente als Auseinandersetzung um die Frage verstanden werden können, was heute als Wirklichkeit plausibel ist und erfahren werden kann. Die zu diskutierenden theologischen Fragen auf den Gebieten der Schöpfungstheologie und der Christologie sind über MüllerSchwefes Ansatz hinaus interessant für die Frage, wie heutiges Welterleben in seiner Mitte auf Gott bezogen werden kann. Während bei Müller-Schwefe das Auseinanderfallen der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit des Menschen in seiner Verhältnisbestimmung zwischen Wort Gottes und menschlichem Wort angelegt ist, drohen bei Engemann umgekehrt das Wort Gottes und die Sprache des Menschen spannungslos ineinander zu fallen. Nicht die Einheit der Wirklichkeit ist hier das Problem, sondern dass in dieser Einheit der Unterschied zwischen Gott und Mensch nicht zum Tragen kommt – ebenso wenig wie das damit verbundene dynamische Geschehen zwischen Gott und Mensch. Ohne auf die dahinter stehende inkarnationstheologische Argumentation jetzt schon genauer einzugehen, sei darauf hingewiesen, dass die Inkarnation dabei nicht hinsichtlich ihrer soteriologischen Wirkung in den Blick genommen wird. Die Akkomodation Gottes an die Bedingungen des Menschseins ist rein formal gedacht und zielt nicht darauf, dass Gott sich den Bedingungen des Menschseins unter dem Gesetz aussetzt, um darin heilvoll einzugreifen. Die Inkarnation dient lediglich als Legitimation für die Rezeption nicht-theologischer Wissenschaften wie z. B. der Semiotik, die vom Gottesbezug bewusst absehen, mit der Folge, dass die Frage nach dem Gottesbezug des Geschehens in Sprache und Kommunikation nicht mehr weiter thematisiert wird. Es verwundert nicht, dass es auf diese Weise zu keiner überzeugenden Auslegung des Wirkens Gottes an uns im Wort mit Hilfe der herangezogenen Theorien über Sprache und Kommunikation kommt. Die Auseinandersetzung mit Engemanns Ansatz ist exemplarisch für den in der Praktischen Theologie im Zeichen der empirischen Wende häufig begegnenden Bezug auf die Inkarnation, sowie hinsichtlich der Frage, wie die grundsätzlich wünschenswerte Rezeption nicht-theologischer Wissenschaften in der Homiletik und der Praktischen Theologie theologisch sinnvoll umgesetzt werden kann. Die Analyse der beiden Homiletiken führt also zunächst die Schwierigkeit deutlicher vor Augen, Gott und Mensch in ihrer fundamentalen Unterschiedenheit dennoch auf Erfahrung bezogen in ihrer Zusammengehörigkeit zu denken. Zugleich macht sie aber auch im Sinne einer via negativa deutlich, wie die Grundidee meiner Arbeit nicht umgesetzt werden kann, und weist damit auch in die Richtung, in der eine Antwort versucht werden kann. Letztlich haben sich mir einige auf den ersten Blick vielleicht schlicht wirkende Einsichten der hermeneutischen Theologie Gerhard Ebelings als sehr tragfähig und hilfreich erwiesen. Entsprechend dem Kern der Problematik im Ver-
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Vorwort
hältnis von Gottes Wort und menschlichem Wort, ist dies z. B. die Aussage, dass das Zusammensein des Menschen mit Gott ein Zusammensein im Wort ist, und daher die Sprache das gemeinsame Medium von Gott und Mensch. Der fundamentale Unterschied von Gott und Mensch geht dabei nicht verloren, sondern wird am Gebrauch und an der Wirkung des Wortes festgemacht. Ohne dies hier bereits weiter auszuführen, ist damit sowohl ein Auseinanderfallen in die Wirklichkeit des Menschen und die ganz andere Wirklichkeit Gottes, als auch eine spannungslose Akkomodation Gottes an den Menschen verhindert. Das Zusammensein des Menschen mit Gott im Wort ist die Antwort auf die Schwierigkeit, Gott und Mensch zusammen zu denken, konzentriert auf die Frage des Verhältnisses von Gottes Wort und menschlicher Sprache. Hinter dieser Frage steht das homiletische Problem, wie unter den Bedingungen der Neuzeit plausibel und erfahrungsbezogen von Gott gesprochen werden kann. Das Zusammensein im Wort lokalisiert zwar die Erfahrbarkeit Gottes in der Anrede, diese kann aber als solche nur gehört werden, wenn erstens Anrede ein lebendiges, bewusst erlebtes Element menschlichen Lebens ist, und wenn zweitens das Phänomen der Anrede plausibel auf Gott bezogen werden kann. Anders herum gesagt: Wenn die mit dem Wort Anrede gekennzeichneten Lebenszusammenhänge des Menschen im Erleben undeutlich und geschwächt sind, verliert die Glaubenssprache Resonanzraum in der Sprache und im Erleben der Menschen. Dies scheint mir heute der Fall zu sein. In dem Maß, in dem der wissenschaftliche Umgang mit der Welt Gott dem Welterleben des Menschen entfremdet hat, sind auch die vom wissenschaftlichen Weltverhältnis qualitativ zu unterscheidenden zwischenmenschlichen Bezüge geschwächt worden. Die Erfahrungsbereiche des Zwischenmenschlichen, auf die sich die Glaubenssprache bezieht, haben ihrerseits kaum eine Sprache, die sie in selbstverständlicher Weise von der Subjekt-Objekt Relation des Weltverhältnisses abheben würde. Diese These versuche ich in der Arbeit an Hand der Phänomene des Biologismus und des Historismus zu belegen. Die Anrede allein reicht nicht, ihr muss eine plausible, an der Erfahrung auszuweisende Wirklichkeitsdeutung zur Seite stehen, die Anrede als solche und erst recht Anrede durch Gott als Phänomen plausibel macht. Insofern sind im weiteren Fortgang meiner Arbeit die beiden von Müller-Schwefe und Engemann vertretenen Aspekte Anrede und Interpretation als unaufgebbar beachtet. Engemann betont mit der Semiotik zu Recht die kulturelle Bedingtheit aller Theologie und Glaubenssprache. Das, was in einer Kultur als wirklich und erfahrbar gilt, und damit auch das Welterleben prägt, kann verhindern, dass die Anrede Gottes als solche gehört wird. Erfahrungsbezug und Wirklichkeitsdeutung gehören daher in der Predigt untrennbar zusammen. Der Anrede tritt bei Ebeling als Wirklichkeitsdeutung eine relationale Ontologie zur Seite, welche das Verhältnis des Menschen zu Gott und zu seinen Mitmenschen als Zusammensein bestimmt. Die relationale Ontologie ist bei Ebeling aus theologischen Aussagen abgeleitet und soll diese für heutige
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Vorwort
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Menschen mit ihrem Denken vereinbar machen. Wenn diese theologischen Aussagen aber auch Anhalt an der menschlichen Erfahrung haben sollen, wenn die Gottesbeziehung, wie Ebeling fordert, anthropologisch verifizierbar sein soll, muss neben die theologische Herleitung der relationalen Ontologie der Versuch treten, sie phänomenologisch, von der Erfahrung ausgehend, zu erschließen. Dem dient in der vorliegenden Arbeit die Bezugnahme auf Martin Buber und Gabriel Marcel. Buber und Marcel entfalten in unterschiedlicher Weise eine von der Erfahrung ausgehende relationale Ontologie, in welcher die Eigenart und das Wesen des intersubjektiven Verhältnisses im Unterschied zur Subjekt-Objekt Relation des Weltverhältnisses herausgearbeitet wird. Beide sehen den Bereich des Zwischenmenschlichen in seiner Eigenart gefährdet und wollen mit ihrer Arbeit diese Eigenart ins Bewusstsein heben und vor Verkümmerung bewahren. Mit Hilfe ihrer Arbeiten kann die Sprachlichkeit der menschlichen Existenz so entfaltet werden, dass sie auf Gottes Wort an uns in Gesetz und Evangelium bezogen werden kann. Ich versuche daher, auf der Grundlage von Buber und Marcel, die prinzipielle Homiletik so auszulegen, dass sie auf Erfahrungen des menschlichen Lebens bezogen ist, und deutlich wird, wie Gottes Handeln an uns im Wort mit der Mitte unseres Lebens zu tun hat. Bei der Auslegung des Wortes Gottes an uns in Gesetz und Evangelium orientiere ich mich wiederum an der Theologie Ebelings und seinem Verständnis des Gesetzes als Gesetz der Lebenswirklichkeit. Auf diese Weise entsteht schließlich der Entwurf einer Homiletik, die prinzipielle, materiale und formale Fragen miteinander verbindet, was von Anfang an das Ziel des Ansatzes bei der Sprache war. Abschließend versuche ich, den so entstandenen Entwurf in die homiletische Diskussion einzuordnen. Zum einen grenze ich ihn in Auseinandersetzung mit Wilhelm Gräb von subjekttheoretischen Versuchen ab, den Bezug des Menschen auf Gott im Anschluss an Schleiermacher zu denken und die prinzipielle Homiletik über das Selbstkonzept des Predigers praktisch wirksam werden zu lassen. Zum anderen versuche ich noch einmal, die Problematik von Erfahrungsbezug und Wirklichkeitsdeutung in der Glaubenssprache als spezifisches Problem der Neuzeit an der empiristischen Verengung des Erfahrungsbegriffs spätestens seit Kant zu verdeutlichen. Daran anschließend nehme ich kurz die homiletische Diskussion von der „Modernen Predigt“ über die Dialektische Theologie bis zur empirischen Wende unter dem Aspekt des Erfahrungs- und Wirklichkeitsbezugs in den Blick. Die Arbeit als Ganze versteht sich als ein Beitrag zu der Problematik, heute erfahrungsbezogen und konkret von Gott zu reden. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Michael Meyer-Blanck, der mich auf vielfältige Weise bei meiner Arbeit unterstützt hat. Besonders hilfreich und anspornend waren für mich das entgegengebrachte Vertrauen und die gewährte Eigenständigkeit im Arbeiten. Inhaltlich verdanke ich ihm die Auseinandersetzung mit der Semiotik, die Aufmerksamkeit auf grundsätzlich
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Vorwort
Fragen hinsichtlich der Rezeption nicht-theologischer Wissenschaften in der Praktischen Theologie und nicht zuletzt die Aufmerksamkeit und das Interesse für den philosophischen Diskurs. Danken möchte ich sodann Herrn Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost für die Bereitschaft, das Zweitgutachten zu erstellen. Von ihm bin ich im homiletischen Hauptseminar auf die Bedeutung der hermeneutischen Theologie Gerhard Ebelings für eine erfahrungsnahe Predigtweise aufmerksam gemacht worden, die in dieser Arbeit eine zentrale Rolle spielt. Viel zu verdanken für mein theologisches Denken habe ich schließlich in unterschiedlicher Weise Prof. Dr. Gerhard Sauter und Prof. Dr. Günter Bader. Mein Dank gilt sodann der Bayrischen Landeskirche, die meine Arbeit durch ein Stipendium und einen Druckkostenzuschuss unterstützt hat. Besonderer Dank gilt auch meinen Eltern, die meine Arbeit die ganze Zeit über mit Interesse und Anteilnahme begleitet und unterstützt haben, bis hin zum zeitraubenden Korrekturlesen. Meiner Frau Yumiko Sekine-Lorenz und meiner Tochter Ayano danke ich für das Verständnis und die Geduld. Ihnen und meiner inzwischen geborenen zweiten Tochter Haruka sei diese Arbeit, der es um die gegenwärtige Erfahrbarkeit der befreienden Macht der frohen Botschaft geht, gewidmet. Weiden, im Mai 2011
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Michael Lorenz
1. Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Auslegung des Wortes Gottes als Phänomen der Sprache 1.1 Bestimmung der Aufgabe Hans-Rudolf Müller-Schwefe lässt seiner 1965 erschienenen Lehre von der Verkündigung als Prolegomena 1961 einen Band mit dem Titel Die Sprache und das Wort vorangehen. Diese Vorgehensweise ist vor dem Hintergrund der zu seiner Zeit in Philosophie und Wissenschaft stattfindenden allgemeinen Hinwendung zur Sprache zu verstehen, die Müller-Schwefe in drei Sachverhalten begründet sieht: 1. Die Sprache erweist sich als Medium der Welterschließung, hinter das man nicht zurück kann. Jede Erfassung der Wirklichkeit setzt immer schon Sprache voraus. 2. Die Sprache erscheint als das spezifisch Menschliche am Menschen. 3. Die Sprache ist kein objektiv vorgegebenes Werkzeug, sondern Wirklichkeit ereignet sich im sprachlichen Vollzug.1 Aufgrund dieser Einsichten ändert sich für Müller-Schwefe die Ausgangslage der Theologie. Das Wort Gottes kann nicht mehr als Phänomen sui generis unabhängig von der Sprache untersucht werden. Bezugspunkt Gottes in der Welt ist nicht mehr alternativ die religiöse Subjektivität oder geschichtliche Tatsachen, sondern die Offenbarung im Wort Gottes als Phänomen der Sprache.2 Weil die Sprache kein sekundäres Werkzeug und Mittel ist, die primäre religiöse Subjektivität oder geschichtliche Tatsachen auszusagen, sondern die Subjektivität und die geschichtliche Wirklichkeit durch Sprache erschlossen und konstituiert sind, ist auch das Wort Gottes und seine Wirkung als Vorgang in der Sprache auszulegen.3 Von den unterschiedlichen Vorgängen in der Sprache benennt Müller-Schwefe im Anschluss an Ernst Fuchs programmatisch den Dialog als den Ort, welcher der Offenbarung im Wort Gottes entspricht: „Das Kerygma ist nicht Selbstaussage, Aussage des Selbstverständnisses, sondern Aussage von Betroffensein, ja von Verstandenwerden, das sich geschichtlich, also konkret, also leibhaftig ereignet. Der Dialog steht am Anfang von Sprache. Sprache ereignet sich konkret und macht den Menschen konkret in Gemeinschaft mit Mitmenschen und Welt.“4 1 Müller-Schwefe, Sprache, 13. Während diese drei Punkte die gemeinsame Problematik angeben, ist die Verhältnisbestimmung von Individualität und Allgemeinheit kontrovers. 2 Ebd., 14: „Das Wort Gottes, die Offenbarung ist ein Phänomen der Sprache.“ 3 Ebd., 14 f: „Denn offensichtlich kann das Denken, das einmal die Wirklichkeit als Ereignis der Sprache erkannt hat, nicht wieder zu einer Art von Gegenständlichkeit oder von religiöser Subjektivität zurück.“ 4 Ebd., 15.
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Müller-Schwefe führt damit seinen Ansatz als einen Beitrag ein, der die Existenz des Menschen und seine Sprache vom Dialog her versteht. Die entscheidende für die Homiletik fruchtbar zu machende Einsicht ist für ihn, „dass die Sprache selbst nicht bloße Form ist, sondern Ereignis, in dem die Menschen miteinander und mit der Wirklichkeit auf verschiedene Weise kommunizieren, so dass im Akt der Verkündigung […] sich Gemeinschaft ereignet.“5 Auf Grund dieser Aussagen könnte man erwarten, dass er versucht, die Predigt als sprachlichen Vorgang in ihrer Eigenart gemäß den Einsichten dialogischen Denkens zu beschreiben. Obwohl aber Müller-Schwefe Einsichten dialogischen Denkens in programmatischer Weise in der Bestimmung der Aufgabe seiner Untersuchung an den Anfang stellt, ist sein Verständnis der Sprache keine einfache Rezeption dialogischen Sprachverständnisses. Vielmehr entwickelt er ein eigenes Gesamtkonzept, indem er Anleihen bei Buber, Heidegger und Sartre macht. Demgemäß hat für ihn die Sprache die dreifache Struktur von Name, Ausdruck und Begriff. In diesen drei Dimensionen liegen für ihn die Möglichkeiten des Lebens in der Sprache beschlossen. Anders als das dialogische Denken oder auch Heidegger möchte er eine Abwertung des begrifflich abstrahierenden Denkens vermeiden. Alle drei Dimensionen sollen zu ihrem Recht kommen, wobei Müller-Schwefe seine Deutung als immer schon vom Wort Gottes herkommend versteht. Diese Konzeption Müller-Schwefes ist die Grundlage seines weiteren Vorgehens. Wenn es wahr ist, dass das Wort Gottes als Phänomen in der Sprache auszulegen ist, kommt es entscheidend darauf an, wie sich menschliches Leben in den Strukturen der Sprache verwirklicht, und wie das Wort Gottes dazu ins Verhältnis gesetzt wird.
1.2 Das zu Grunde liegende Verständnis der Sprache und ihrer Beziehung zu Gott 1.2.1 Die dreifache Struktur der Sprache In der Grundkonzeption der dreifachen Struktur der Sprache bei MüllerSchwefe steckt bereits ein tiefer Gegensatz zum dialogischen Denken. Während dieses auf die spezifische Eigenart des intersubjektiven Bezugs im Unterschied zur Subjekt-Objekt Relation reflektiert und dabei den ontologischen Primat des Dialogischen zu erweisen versucht, liegt bei Müller-Schwefe ein gestuftes Entwicklungsmodell vor, vom Du über das Ich zum Es, bzw. vom Namen über den Ausdruck zum Begriff. Die drei Elemente sollen sich „gegenseitig tragen und so durchdringen, dass das Du das Ursprüngliche ist, das 5 Ebd., 17.
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Es aber das Entspringende und dass zwischen beiden der Ausdruck des Ich sich regt. Aber so wahr das Du der Ursprung ist, so ist doch seine Verwirklichung das Ich und das Es.“6 Das Du hat auch hier einen Primat, der sich aber letztlich darauf beschränkt, alles andere zu konstituieren. Die Verwirklichung liegt im Ich und Es, womit sie letztlich auch ontologisch höher einzustufen sind. Damit liegt letztlich eine Reduktion des vom Dialogismus vordergründig übernommenen Primats der Anrede und des Du auf die Rolle der Konstitution des sich im Ausdruck und Begriff verwirklichenden – und damit eben nicht in der Begegnung zu sich kommenden – Subjekts vor. Neben diesem Entwicklungsmodell findet sich als zweite Perspektive auf die Sprache die Alternative von bleibender Zugewandtheit oder Bezogenheit auf das Du im verantworteten Leben und der Rebellion des Ich gegen die Abhängigkeit vom Du als Versuch, das Leben aus sich selbst heraus zu meistern. Diese Perspektive zieht sich durch alle drei Dimensionen der Sprache und hat in jeder ihre spezifisch ausgeprägte Gestalt. In diesem Blickwinkel zeigt sich, dass Müller-Schwefe in seiner Beschreibung vom Wort Gottes herkommt. Leicht lässt sich in der genannten Alternative der Gegensatz von Glaube und Sünde erkennen. Auch hier wählt Müller-Schwefe nicht die im Dialogismus bereit liegenden differenzierenden Beschreibungen menschlicher Lebenswirklichkeit zur Auslegung der genannten Alternative, sondern konzentriert statt dessen die Bezogenheit auf das Du im Begriff der Verantwortung. Bei Müller-Schwefe gibt es also zwei zueinander quer laufende Perspektiven, die m. E. in Spannung zueinander stehen. Erstens die vom Anruf angestoßene Entwicklung vom Du über das Ich zum Es, vom Namen über den Ausdruck zum Begriff. Zweitens in allen drei Dimensionen die Dynamik von Zuwendung und Abwendung von dem Du, das alles in Gang gesetzt hat und bleibender Bezugspunkt bleiben soll. Die Spannung dabei sehe ich darin, dass einmal die Verwirklichung des Lebens im Begriff liegt, das andere mal die entscheidende Wirklichkeit des Lebens in der Beziehung zum Du gesehen wird. Die ganze Last des Ausgleichs der Spannung trägt dabei die Verantwortung: der Bezug auf das Du bleibt gewahrt, indem das sich im Begriff verwirklichende Subjekt sein Handeln verantwortet. Diese zweifache Perspektive auf die Sprache ist auch der Rahmen, der für das Verhältnis Gottes zur Sprache bestimmend ist. In gewissen Sinne kommt es dabei zu einer Doppelung des Du. Zum einen ist das Anrufen im innermenschlichen Sprachgebrauch die erste, alles Weitere konstituierende Dimension der Sprache. Zum anderen steht das Du Gottes allen drei Dimensionen gegenüber. In diesem zweiten Sinn spricht Müller-Schwefe von der „Tiefe der Verantwortung“ in der alle drei Dimensionen der Sprache gründen.7 Der Entwicklung vom Anruf über den Ausdruck zum Begriff und der Al6 Ebd., 22. 7 Ebd., 22.
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ternative von bleibender Bezogenheit auf das Du in der Verantwortung und Leben aus sich selbst, soll nun im Durchgang durch die drei Dimensionen der Sprache nachgegangen werden, um die Implikationen und Konsequenzen dieser Konzeption genauer in den Blick zu bekommen.
1.2.2 Das Initialgeschehen des Anrufs und die Entwicklung hin zum Begriff 1.2.2.1 Anrufen Beim Anruf geht es Müller-Schwefe zunächst wesentlich um das Initialgeschehen, das den Menschen zu seinem spezifisch menschlichen Leben in der Sprache erweckt. Dieses Initialgeschehen ist dadurch gekennzeichnet, dass es unwiderruflich ist und den Angerufenen in Freiheit setzt. Diese Freiheit ist zu unterscheiden von der Freiheit des Begriffs, in Distanz die Welt zu ordnen und zu beherrschen. Es ist stattdessen Freiheit als „Gabe, zu antworten, auch in der Möglichkeit, die Antwort zu verweigern“,8 also Freiheit, sich zur Anrede zu verhalten. Der Aspekt der Unwiderruflichkeit meint, dass der Mensch, einmal zum Leben in der Sprache erweckt, nicht mehr in die Sprachlosigkeit zurückfallen kann. Nun kann er sich verhalten, er muss es aber auch. Die positive Möglichkeit der Freiheit auf dieser Ebene sieht Müller-Schwefe darin, dass der beim Namen gerufene Mensch seinerseits ermächtigt ist, Namen zu geben, anderen Menschen und auch Dingen.9 Das mit dem Initialgeschehen des Anrufs in Gang gebrachte Geschehen fasst Müller-Schwefe in folgendem Satz zusammen: „Wo also ein Mensch durch den Anruf zum Menschen erweckt wird, da geschieht Unwiderrufliches. Er wird als Person erweckt, er wird durch den Namen ermächtigt, zu antworten, selbst auch Namen zu verleihen und so in Verantwortung lebendig zu sein.“10 Der Aspekt der sich in der Sprache ereignenden Gemeinschaft tritt gegenüber dem Aspekt der ,Erweckung‘ zu eigenverantwortlichem Handeln in den Hintergrund. 8 Ebd., 27. 9 Ebd., 27.: „Der Mensch wird also durch den Namen zur Freiheit entbunden, zu sprechen und selbst Namen zu verleihen.“ Bereits hier deutet sich an, dass Müller-Schwefe letztlich vom Subjekt und seiner Freiheit aus denkt, und nicht von den die einzelnen Subjekte umgreifenden Kräften wie Sprache und Geist, die für das dialogische Denken von zentraler Bedeutung sind. Denkt man von diesen dem Subjekt vorausgehenden Kräften aus, wird deutlich, dass mich der Anruf beim Namen allererst in die spezifisch menschliche Wirklichkeit einsetzt, indem er mir einen bestimmten Platz innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft einräumt. Erst wenn mir so ein Platz innerhalb der menschlichen Gemeinschaft eingeräumt ist, habe ich auch die Freiheit, mich zur Anrede zu verhalten. Dass der Mensch ermächtigt ist, Namen zu geben, ist dann nicht vom einzelnen Subjekt aus zu verstehen, das in Freiheit versetzt nun nach seinem Gutdünken Namen geben kann, sondern im Rahmen des sprachlichen Prozesses, der die Menschen als Gemeinschaft in wechselseitiger Anerkennung in ihrer menschlichen Wirklichkeit konstituiert. Vgl. Rosenstock-Huessy, Soziologie, Bd.1, 170 ff. 10 Ebd., 26 f.
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1.2.2.2 Ausdrücken Dass es Müller-Schwefe in seiner Buberrezeption wesentlich um das Initialgeschehen des Anrufens geht, zeigt sich auch darin, dass die Näherbestimmung dessen, was die Ich-Du Beziehung im Unterschied zur Ich-Es Beziehung ausmacht, welche ein wesentlicher Bestandteil der philosophischen Bemühungen Bubers ist, bei Müller-Schwefe so gut wie keine Rolle spielt. Stattdessen gewinnt bei ihm die Beziehung, die durch das Rufen beim Namen gestiftet wird, durch die Dimension des Ausdrucks an Leben und Anschaulichkeit. Die Reduktion des Beziehungsgeschehens auf das Rufen beim Namen war nach Müller-Schwefe ohnehin eine Abstraktion, denn der Ausdruck ist beim Sprechen gleich ursprünglich mit dem Namen. Wer Namen gibt und so Beziehungen aufbaut, drückt zugleich etwas von sich aus. Dem Namen kommt kein zeitliches, sondern das sachliche Prä zu, weil er die Freiheit schenkt, sich auszudrücken.11 Für den Zusammenhang von Name und Ausdruck ist die von MüllerSchwefe immer wieder betonte Leiblichkeit des Menschen charakteristisch. Der Mensch verwirklicht sich und drückt sich in seinem Leib aus. Das Verhältnis des Menschen zu seinem Leib ist dabei kein instrumentelles: „Der Mensch hat nicht einen Leib; er ist Leib.“12 Müller-Schwefe deutet dieses nichtinstrumentelle Verhältnis zum Leib vom Namen her. Wenn es in der Bibel heißt: „Das Auge ist des Leibes Licht“ (Lk 12, 34 – 36), ist dies so zu verstehen, dass sich im Blick die Person selbst äußert. Was sich im Blick zeigt, ist vor allem der Grad der Zugewandtheit und Offenheit. Wer dem anderen etwas vorenthält, dem wird der Blick scheel, „die Gebärde [der Zuwendung] verstellt sich“.13 So sind Name und Ausdruck aufeinander bezogen: Der Grad der Treue und Zugewandtheit in der Beziehung entscheidet darüber, wie sehr sich der Mensch vorbehaltlos in den leiblichen Ausdruck hineinbegibt oder sich zurückhält und verstellt. Durch das Zurückhalten und Verstellen kommt Zweideutigkeit in den Ausdruck. Weil eine Äußerung auch bei rückhaltloser Zugewandtheit gedeutet werden muss, vollzieht sich in der menschlichen Gemeinschaft „der Ernst der Verwirklichung im Spiel der Verweisung“14. Ganz wie die semiotische Theorie geht Müller-Schwefe davon aus, dass man nicht hinter diese Verweisungen 11 Hier ist wiederum deutlich, dass das Subjekt der zentrale Fixpunkt im Denken Müller-Schwefes ist. Für das vom Subjekt ausgehende Denken ist das Subjekt, in dem immer schon etwas Eigenes ist, dass es ausdrücken könnte, der Ausgangspunkt. Geht man von der Sprache und der Anrede aus, wird durch die Anrede allererst hervorgerufen, was in der Antwort zum Ausdruck kommt. Ein bestimmter Geist, der uns durch die Sprache bestimmt, drückt sich in unseren Äußerungen aus. 12 Ebd., 30. 13 Ebd., 31. 14 Ebd., 33.
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zurück kann. Dennoch gilt, dass sich auf diese Weise „jedesmal neu Beziehung von Mensch zu Mensch verwirklicht“.15 Die Beziehung verwirklicht sich, wobei der existentielle Ernst durch das Spiel der Verweisung abgemildert wird. Der Mensch verwirklicht sich in seinen Äußerungen und kann sich gleichzeitig in seinen Äußerungen dem anderen entziehen. Sie sind ja nicht er selbst, sie verweisen nur auf ihn.16
1.2.2.3 Begreifen Ebenso wie den Ausdruck versteht Müller-Schwefe das Begreifen und den Geist vom Initialgeschehen des Anrufs her. Daher muss er die These der Anthropologie17 ablehnen, die den Geist als notwendige Überlebensstrategie des Mangelwesens Mensch deutet. Diese Deutung beschreibe zwar genau, in welchen Zusammenhängen das begriffliche Denken vorkommt und welche Funktion es dabei ausübt. Sie vermöge aber nicht zu erklären, wie die Distanznahme und das Begreifen möglich sind. Das entscheidende Argument ist auch hier die durch den Anruf geweckte Freiheit. Sie ist nicht nur Freiheit zur Antwort und zum Ausdruck, sondern eben auch Freiheit zur Distanz von der Welt. „Berufen zur Freiheit, erhebt er sich als Geist über die Wirklichkeit und ordnet sie. Die Wirklichkeit wird faßbar durch Begreifen.“18 Damit wird dem Anruf insgesamt ein dreifach gestuftes Erweckungsgeschehen zugeschrieben. Erweckung zur Aufnahme von Beziehung, zum Ausdruck einschließlich Deutung des Ausdrucks und schließlich zur Distanz vom Augenblick und der Welt. Müller-Schwefe sieht dabei das Begreifen von der Verantwortung und dem Bezug zum Du so umgriffen, dass es nicht notwendigerweise zur Entfremdung in der Dimension des Begriffs kommen muss. Darin ist aber keine Abkehr vom Leben, auch kein Hochmut; es geschieht als Antwort, aus Vertrauen. Weil der Mensch dem Anruf, der ihn bei Namen nennt, vertraut, ist er dem Augenblick, ist er dem Ausdruck des Lebendigen überlegen. Er läßt sich durch die Treue des Rufenden über die Zeit halten. So gewinnt er Freiheit zur Abstraktion.19
15 Ebd., 33. 16 Insofern für Müller-Schwefe das Spiel der Verweisungen im Ausdruck die faktische Situation des Menschen ist, scheint mir fraglich, ob er zu Recht aus seiner Perspektive mit Nachdruck betont, dass der Mensch nicht einen Leib hat, sondern Leib ist. Die Grundvorstellung, dass sich das ,eigentliche‘ Ich im Leib nur ausdrückt und damit zugleich auch verbirgt, scheint mir eher der Ansicht zu entsprechen, dass der Mensch einen Leib hat, auch wenn dieser konstitutiv zu seinem Sein als Mensch gehört. 17 Müller-Schwefe bezieht sich auf A. Portmann, A. Gehlen und M. Scheler. 18 Ebd., 43. 19 Ebd., 44.
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Bei der Fähigkeit zur Abstraktion handelt es sich für Müller-Schwefe daher um keinen Mangel, sondern um die ursprüngliche Zuordnung von Mensch und Welt. Die Möglichkeit des Menschen zu Distanz und Begriff ordnet MüllerSchwefe dem Geist zu: Diese Möglichkeit hat der Mensch, weil er Geist ist. Es ist seine Verantwortung, der Bereich seiner Freiheit, die Welt und das eigene Leben in ihr zu ordnen, indem er ihr gegenübertritt. Dass diese Distanz seine Berufung ist, dafür zeugt schon, dass so Ordnung gelingt.20
Die Distanz zum begrifflichen Ordnen erhält durch die Kennzeichnung als Berufung einen uneingeschränkt positiven Akzent. Im Zentrum des Handelns des Menschen steht damit das Begriffspaar Freiheit und Verantwortung. Müller-Schwefe versucht gleichzeitig, am Primat des Du festzuhalten und die Entwicklung hin zum abstrahierenden Denken als Verwirklichung positiv zu deuten. Dabei kommt es zur Aushöhlung der vordergründig vertretenen Positionen des Dialogismus. Im letzten Absatz ist dies zum einen erkennbar an der Formulierung, dass die Treue des Rufenden über die Zeit hält, und zum anderen an der Gleichsetzung von Geist und begrifflicher Distanz. Dass die Treue des Rufenden mich über die Zeit hält, scheint auf den ersten Blick das Dialogische zu betonen. Es ist aber letztlich ein weiterer Beleg dafür, dass Müller-Schwefe die vom Dialogismus betonte Eigenart der dialogischen Beziehung verkennt und die Anrede stattdessen auf die Konstitution des handelnden Subjekts reduziert. Die Treue des Rufenden und die Treue zum Rufenden rufen nicht in die Abstraktion, sondern in die konkrete Stellungnahme. Sie erheben nicht ,über‘ die Zeit, sondern konstituieren bestimmte Zeiträume und stellen in die eröffneten Zeiträume hinein. Zur begrifflichen Abstraktion und Analyse kommt es nachträglich, nachdem sich aufgrund von Ruf und Antwort Wirklichkeit ereignet hat.21 Dem entspricht, dass der Geist wie auch die Sprache im dialogischen Denken als das einzelne Subjekt umgreifend verstanden werden. Ordnung gelingt demnach nicht dadurch, dass der Mensch als Subjekt der Welt gegenüber tritt. Einen solchen für sich seienden 20 Ebd., 44 f. 21 Für Rosenstock-Huessy stehen daher die Analyse und das begriffliche Denken am Ende des sprachlichen Prozesses. Vgl. Rosenstock-Huessy, Soziologie, Bd.1, 190 ff. Freilich spielt die Analyse und das begriffliche Denken auch vorausschauend eine wichtige Rolle für das handelnde Subjekt. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass die dafür notwendige Analyse sich auf bereits abgelaufene Wirklichkeit bezieht. Eine eindrückliche Bestätigung dieses Zusammenhangs bietet die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise. Den Fachleuten bleibt nichts anderes übrig, als zuzugestehen, dass ihre Modelle keine Voraussagen zulassen, weil es eine Krise dieser Art noch nicht gegeben hat. Wiewohl also die Fähigkeit zur Abstraktion vom Anruf als Folgeprodukt des sprachlichen Prozesses herkommt, stellt die Formulierung, dass der Anruf über die Zeit erhebt, die Reihenfolge in der Gewohnheit subjekttheoretischen Denkens auf den Kopf.
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Mensch, der Geist hat,22 gibt es nicht. Der Mensch tritt der Wirklichkeit als Außenwelt immer schon im Rahmen eines durch die Sprache konstituierten Weltinnenraums gegenüber. Für die Konstitution dieses Weltinnenraums in der Sprache ist der Geist ebenso zuständig wie für das begrifflich abstrahierende Denken. Dem entspricht, dass Müller-Schwefe die kritische Auseinandersetzung mit dem distanzierenden Begreifen von Seiten derer, die vom Du und vom Intersubjektiven her ausgehen, nicht aufnimmt, sondern in der Beschreibung der Dimension des Begriffs ungebrochen in den Denkmustern des Idealismus und des Transzendentalismus verbleibt. Für ihn ist der Begriff das eigentlich Wirkliche. „In der Distanz des Subjekts von der Wirklichkeit erkennt der Mensch die Vernunft als wirkend in der Wirklichkeit.“23 Und: „als das Wirkliche an der wirklichen Welt, tritt immer mehr der Logos hervor.“24 Das eigentlich Wirkliche begegnet in der verobjektivierten Welt, in der alles Einzelne zum Exemplar einer Gattung wird, und alles in der Welt in einem großen kausalen Wirkzusammenhang miteinander verknüpft erscheint.25 Die Überlegenheit des Begriffs erscheint gerade in seiner Fähigkeit, zusammenzufassen und zu ordnen. So ist für Müller-Schwefe das Urteil die Form der Aussage, in der das Besondere vom Allgemeinen her, „Name und Ausdruck, Tätigkeit und Leiden vom Begriff her betrachtet und geordnet“26 werden. So werden vom Begriff her alle drei Dimensionen der Sprache integriert und zu einer neuen Struktur zusammengefasst. So „entsteht die Freiheit, das Lebendige in der Welt als das Handeln eines Subjekts im begrifflichen Sinne zu beschreiben. Es gibt ein Wollen, das sich auf Objekte richtet, ein Fühlen, das von einem Subjekt ausgeht, ein Denken, das sich über die Tatsächlichkeit erhebt. Und dieses Denken, Fühlen und Wollen wird als Kräftespiel angesehen, das der Geist begreifen kann.“27 Damit bestätigt sich in eindrücklicher Weise, dass das handelnde Subjekt der zentrale Fix- und Ausgangspunkt des Denkens Müller-Schwefes ist. Diesem ist die begrifflich zu ordnende Welt als seine eigentliche Wirklichkeit zugeordnet. Müller-Schwefe betont zwar immer wieder den Primat des Du und des Ausdrucks vor dem Begriff und seine bleibende Abhängigkeit von diesen. Dennoch verhindert dies nicht, dass der Begriff seinerseits die drei Dimensionen von sich aus neu ordnet und ihnen eine neue Struktur gibt. Die Rechte des Namens und des Ausdrucks erscheinen nun in der Perspektive, dass der Geist seinen Ursprung in Ausdruck und Name nicht vergessen darf. Letztlich werden sie in den Dienst des Begreifens als dessen Konstitutions22 Müller-Schwefe spricht vom Geist als apriori zu Leib und Seele: „Nicht Seele als Innen des Leibes, sondern Geist im apriori zu Leib und Seele.“ Ebd., 44. 23 Ebd., 47. 24 Ebd., 48. 25 Ebd., 47 f. 26 Ebd., 49. 27 Ebd., 50. Hervorhebung von mir, ML.
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bedingungen gestellt. Eine wirkliche Alternative hinsichtlich der Frage, was die Wirklichkeit des Menschen als spezifisch menschliche ausmacht, sind sie nicht. Der Mensch verwirklicht sich, in dem er auf Grund seines begrifflich abstrakten Denkens die Welt verwandelt.28 Dazu steht nun Müller-Schwefes zweite Perspektive auf die Sprache in Spannung. Sie bringt zur Geltung, dass der Mensch bleibend in der Verantwortung auf ein Du bezogen ist und das Wahrnehmen oder Scheitern an dieser Verantwortung über Gelingen und Verfehlen des Lebens entscheidet. In dieser Perspektive liegt das für die Wirklichkeit des Menschen und seine Verwirklichung als Mensch Entscheidende in der Beziehung zum Du, die mehr oder weniger ausdrücklich auf das Du Gottes verweist, demgegenüber wir unser Leben in den drei Dimensionen zu verantworten haben.
1.2.3 Verantwortung des Lebens in den drei Dimensionen 1.2.3.1 Namen Mit der Erweckung des Ich und seiner Freiheit entsteht die Alternative, aus dem Du zu leben oder sich von ihm abzuwenden, um zu versuchen, aus sich selbst zu leben. Während Verantwortung auf der Ebene des Namens bedeutet, dem anrufenden Du treu zu bleiben, liegt die Versuchung darin, „der Abhängigkeit vom Du überdrüssig zu werden, sich auf sich selbst zu stellen“.29 Als Konsequenz „entsteht aus Namensanruf und Namensmißbrauch die zwiegespaltene Menschenwelt: die Welt von Freund und Feind, Treue und Verrat, Segen und Fluch. Es ist die Welt der frühen Menschheit, wie sie uns die Dichtung noch widerspiegelt.“30 Entsprechend werden im Erleben der Zeit zwei unterschiedliche Existenzweisen sichtbar. Beim Leben in Treue lebt man aus der Zukunft. Man empfängt sich vom anderen, der aus der Zukunft entgegen kommt. Im Empfangen des Anrufs wird man gegenwärtig. Entzieht sich einer von beiden, dreht sich das Verhältnis der Zeiten um: der Mensch versucht nun aus seiner Gegenwart heraus Zukunft zu setzen.31 Ebenso wie Müller-Schwefe die Welt des Namens der frühen Menschheit und damit einer vergangenen Entwicklungsepoche zuschreibt, scheint für ihn die Möglichkeit, aus der Zukunft des Du zu leben, unwiederbringlich verloren zu sein: „So beginnt das Leben in der Vergänglichkeit. Das Leben ist erschöpflich. Es kommt von der verschlossenen Pforte her.“32 28 29 30 31 32
Ebd., 81, Müller-Schwefe, Lehre, 109 u. ö. Müller-Schwefe, Sprache, 28. Ebd., 28. Ebd., 29. Ebd., 29.
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Hier ist bereits erkennbar, wie Müller-Schwefe vermeidet, dass die Verwirklichung des Menschen im Begriff mit seiner wesentlichen Bestimmtheit im intersubjektiven Bereich in Konflikt gerät. Zum einen gehören die Lebensäußerungen im Bereich des Namens und des Du einer vergangenen Menschheitsepoche an. Zum anderen deutet sich im Verweis auf die verschlossenen Pforten des Paradieses das theologische Argument an, dass mit dem Sündenfall der Möglichkeitsraum des Du in der Sprache verloren gegangen ist. 1.2.3.2 Ausdruck In der Dimension des Ausdrucks bestimmt der Grad der Zugewandtheit und damit die Eigentlichkeit des Ausdrucks die Alternative zwischen dem Leben im bleibenden Bezug zum Du und dem Rückzug auf sich selbst. Im Rückzug auf sich selbst nutzt der Mensch seinen Leib nicht mehr zur Kommunikation mit dem anderen, sondern nimmt ihn in der Selbstdarstellung als „Chance, sich selbst zu gewinnen.“33 So aber ist der Leib nicht mehr die Verbindung von Mensch zu Mensch, sondern „Gefängnis“: Er muß ständig zum Eigentlichen überhöht werden. Er ist nicht mehr Opfer, in dem der Mensch sich dem Du übergibt, sondern Zeichen der Seele, die sich verliert, indem sie sich verwirklicht. Dann heißt es ,Spricht die Seele, so spricht, ach, die Seele schon nicht mehr‘. Denn alle Verwirklichung bindet, legt fest, macht vergänglich. Aus dieser Erfahrung der Vergänglichkeit sucht dann der Mensch auszubrechen. Alle Realisierung erhält Vorläufigkeitscharakter. Alle Darstellung wird zum zweideutigen Ausdruck der Seele. Das Ich verliert sich; es muß die Form für ,Äußerlichkeit‘ nehmen; ja das Äußere wird zum Hinweis auf ein eigentlich Gemeintes. Aber was eigentlich ist, die Seele, das ist nicht mehr das Du, das von der Huld des Du lebt und dem Anruf antwortet, sondern das Ich, das sich selbst retten will.34
So kommt es zur Scheidung von Innen und Außen, Seele und Leib. Alle Worte sind gleichzeitig Äußerung und Verhüllung. „Sprache wird ein Mittel, sich auszudrücken und darzustellen, aber auch sich zu verbergen und vorzutäuschen.“35 Diese Zweideutigkeit zeigt sich in einem Bereich, der ganz von der Du-Bezogenheit lebt, der intimen Beziehung von Mann und Frau, in der Scham. Hier schenkt sich arglos vertrauend das Du dem Du. Es schenkt sich aus Ernst im Spiel; es schenkt sich in Verwirklichung, die doch voll Verweisung ist. Tritt nun aber das Ich aus der Beziehung heraus, nimmt es sich nicht als reines Geschenk vom andern, dann bedroht das Ich das Du. Es weiß, dass seine Erfüllung im andern liegt. 33 Ebd., 35. 34 Ebd., 35. 35 Ebd., 36.
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Aber es wartet das Geschenk nicht ab, sondern sucht es sich zu nehmen. […] Nun muss der andere seine Offenheit schützen, aus Selbstbehauptung; der andere muss sich verhüllen. […] Die Scham zeugt von der Gefährdung, die einer für den anderen bedeutet. Sie zeugt zugleich davon, dass der Mensch von einem Augenblick herkommt, in dem er nackt war und sich nicht schämte, weil er den anderen noch nicht bedrohte.36
Der Ausdruck ist zudem ein Phänomen im Umgang mit der Welt: „Wie im Akt der Namengebung, so prägt der Mensch auch in der Deutung der Wirklichkeit als Ausdruck den Dingen sein Wesen auf.“37 Das Verhältnis des Menschen zu den als Ausdruck gedeuteten Mächten der Natur hängt davon ab, ob er an den Schöpfergott glaubt, der alle Welt ins Dasein ruft, oder nicht. Glaubt er dem Schöpfergott, müssen alle Naturgewalten letztlich dem Ruf Gottes gehorchen. Glaubt er nicht, wird der Einfluss der Naturgewalten übermächtig. Der Mensch macht sich von ihnen abhängig, wie wir es im vergangenen mythologischen Welterleben finden. Schließlich hat die Verkehrung im Leben des Ausdrucks wiederum Auswirkungen auf das Erleben der Zeit. Aus dem Leben aus der Zukunft wird Leben aus der Vergangenheit: An die Stelle der Treue, die aus der Zukunft im Ruf den Menschen trifft und ihn zur Äußerung, zum Opfer treibt, tritt nun die Zuverlässigkeit, die in der Kraft eines Ausdrucks, einer Metapher liegt. Der Mensch lebt nun nicht mehr von der Zukunft, sondern vom Vergangenen her. Er sucht es zu vergegenwärtigen.38
1.2.3.3 Begriff In der Dimension des Begriffs besteht die Versuchung, die zur Abwendung vom Du führt, in der Überschätzung der eigenen Kräfte, die dazu führt, „dass der Geist sich überhebt“39. Er verwechselt die Möglichkeit, die Welt in Freiheit zu ordnen, mit der ganzen Wirklichkeit. Der Geist löst sich aus der Zuordnung zu Name und Ausdruck und setzt sich absolut. So aber überhebt sich der Logos, der meint, auf den Mythos nicht mehr angewiesen zu sein. Es ist zwar legitim, dass der Geist die empfangenen Bilder und Gestalten im Reich des Begriffs ordnet, dass er „entmythisiert“. Der Geist darf aber nicht vergessen, dass er weiterhin darauf angewiesen ist, die Welt als Bild zu empfangen. Dies gehört zu seiner leiblichen Seinsweise. Der Logos darf den Mythos nicht verachten und dessen prius leugnen. „Wir sind in Gefahr, die Verwandlung der Welt im Begriff vom Empfangen zu isolieren. Dann wird die Welt nur Material 36 37 38 39
Ebd. Ebd., 37. Ebd., 42. Ebd., 57.
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für den menschlichen Geist und seine Hände. Dann wird die Sprache ihres Mutterbodens beraubt und allmählich in Funktionen und Formeln verwandelt.“40 Auch das Verhältnis zum Du droht vom begrifflichen Denken verdorben zu werden. Das Du ist dann nicht mehr Du sondern Objekt. Es wird versachlicht und allein von seiner Funktion her gesehen. Der Missbrauch des begrifflichen Denkens wurzelt für Müller-Schwefe in der Ur-Versuchung, sich von der Kraft des Geistes beflügelt autonom zu verstehen. Dann tritt der Mensch heraus aus der „Verantwortung vor dem UrDu“41 und versteht die Welt als Werk seines Geistes. Das Verständnis und Erleben der Zeit vom Begriff her ist das des ZeitKontinuums, in dem die Gesetze der Kausalität gelten. Durch die Fähigkeit zur Distanz eröffnet sich dem Menschen ein Zeitraum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ein Zeitraum, den zu gestalten er aufgerufen ist. Bezüglich des Zeiterlebens gemäß den drei Dimensionen der Sprache, gilt für Müller-Schwefe ein komplementäres Verhältnis. Es bleibt wahr, dass uns Gegenwart von der Zukunft her geschenkt wird und der Ausdruck sich auf vergangene Erfahrungen bezieht. Dennoch hat der des Begriffs fähige Mensch ein „eigenes Vermögen der Zeit“42. Der Mensch ist zwar in eine bestimmte Zeit hinein geboren, weshalb das Konkrete, Unverfügbare vor dem Abstrakten und Berechenbaren steht. Dennoch erfährt der Mensch in der ihm gegebenen Zeit den Ruf, den Zusammenhang der Zeiten zu begreifen und in ihn handelnd einzugreifen. „Das Handeln des Menschen in der Zeit, die ihm gegeben ist, ist sein größtes Geheimnis.“43 Auch hier ist wieder gut erkennbar, dass im Zentrum des Denkens Müller-Schwefes das freie Handlungssubjekt steht, demgegenüber die Rolle von Namen und Ausdruck auf das Herkommen zurückgedrängt wird.44
40 41 42 43 44
Ebd., 59. Ebd. Ebd., 52. Ebd., 54. Darin zeigt sich wiederum Müller-Schwefes Distanz zum dialogischen Denken. Denn gerade die Möglichkeit des Erlebens eines Zeitraums aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schreibt das dialogische Denken der Verheißung oder Berufung zu, die allererst Zukunft eröffnet und so einen Zeitraum ausspannt, in dem die Dimensionen der Zeit in ihrer unterschiedlichen Qualität erfahrbar werden. Das physikalische Zeit-Kontinuum des begrifflich abstrahierenden Denkens wird demgegenüber als tote Zeit angesehen, als bloße Verlängerung der Vergangenheit in die Zukunft nach den Gesetzen der Kausalität. Die Frage ist, ob der Mensch in der Dimension des Begriffs Zugang zum Zeitraum aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat, oder ob ihm Zukunft und Lebenszeiträume immer wieder neu erschlossen werden müssen. Vgl. RosenstockHuessy, Soziologie, Bd.1, 63 ff.
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1.2.4 Der Ausgleich der Spannung Der Durchgang durch die drei Dimensionen der Sprache mit ihrer Entwicklung hin zum Begriff und die Verantwortung des Lebens in den drei Dimensionen hat gezeigt, wie Müller-Schwefe die Spannung zwischen Verwirklichung des Menschen im Begriff und seiner wesentlichen Bezogenheit auf ein Du zum Ausgleich bringt. Im Zentrum steht das freie Handlungssubjekt, das durch seine Fähigkeit zu Begriff und Distanz Geschichte macht und diese zu verantworten hat. Das Dialogische ist keine Alternative oder Konkurrenz zu dieser Form der Verwirklichung. Das Du bildet die Klammer. Es konstituiert das Subjekt und ruft es zur Verantwortung. Die Verwirklichungsmöglichkeiten des Du erscheinen dabei als schon vergangene. Die Verantwortung vor Gott bezieht sich vorrangig auf das in der Dimension des Begriffs zu ordnende Weltverhältnis. So ist es im Sinne dieser Konzeption konsequent, dass Müller-Schwefe bei der Beschreibung der Alternative von Zuwendung zum Du oder Rückzug auf sich selbst bei den Dimensionen Name und Ausdruck im Rahmen menschlicher Intersubjektivität verbleibt, und den Bezug zu Gott als dem Ur-Du erst bezüglich der Verantwortung für die durch die begrifflichen Fähigkeiten verwandelten Welt explizit macht. Damit wird implizit das Du als Ort der Begegnung Gottes in der Welt ausgeklammert, wie sich unten noch bestätigen wird. Ebenso erscheint der Bezug zu Gott in der Ausdrucksdimension ausschließlich im Bezug auf das Weltverhältnis des Menschen. Der Glaube an den Schöpfergott entscheidet darüber, wie sich die Deutung der Welt als Ausdruck auf das Leben des Menschen auswirkt. Entgegen der ursprünglichen Proklamation des Dialogs als Ort in der Sprache, der dem Gottesverhältnis entspricht, erfolgt letztlich eine einseitige Betonung des Weltverhältnisses des Menschen, wenn es um den Bezug zu Gott geht. Dies ist der Preis, den MüllerSchwefe dafür zahlen muss, dass er am Bild des sich im Begriff verwirklichenden Menschen festhalten will. Das Gewicht dieses ,Preises‘ und die damit verbundene theologische Argumentation soll im Folgenden genauer untersucht werden.
1.3 Die theologischen Grundlinien der Konzeption Müller-Schwefes Die Kosten für den Ausgleich der Spannung zwischen Verwirklichung im Begriff und Verwirklichung in der Beziehung muss bei Müller-Schwefe letztlich die theologische Argumentation tragen, die damit die Spannung in sich selbst aufnimmt. So kommt es zu einer in sich nicht ganz widerspruchsfreien Doppelstrategie, in der die Bereiche der Intersubjektivität und des Weltverhältnisses in gegensätzlicher Weise behandelt werden.
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1.3.1 Der Bereich des Du 1.3.1.1 Der Offenbarungsvorbehalt im Bereich des Du Das Argument des Offenbarungsvorbehalts begegnet in Müller-Schwefes Auseinandersetzung mit Martin Heidegger.45 Wiewohl er auch selbst Heidegger vorwirft, in seinem Denken nicht bis zum Du vorzudringen, verteidigt er Heidegger zugleich gegen diesen Vorwurf: Aber es muss auch gefragt werden, ob in dieser Tiefe dem Menschen erlaubt sein kann, vom Du zu reden. Vielleicht ist das Reden, das Buber vom Du treibt, im Grund unangemessen. Denn er löst die Scham vor dem Ur-Du in eine dem Menschen mögliche Umkehr auf. Vielleicht wird Heideggers Zurückschrecken vor der Dimension des Du der Situation des Menschen eher gerecht, weil es die Scham nicht verleugnet, noch verletzt. So wird Heideggers Sprachdenken gerade in seinem Mangel ein Hinweis auf die wirkliche Situation des sprechenden Menschen, und wir werden davor gewarnt, das Du so ohne weiteres als erlebbar und verfügbar zu nehmen.
Daran schließen sich die entscheidenden Sätze an: Damit kommt aber in Sicht, dass die Inkarnation des Du Gottes in Jesus Christus erst den Du-Raum der Sprache eröffnet; aber so, dass das Du primär eine Sprache Gottes ist und erst dadurch die Möglichkeit des Menschen. Das ist die Umkehrung, die Karl Barth gebracht hat. Erst von Christus als dem Du Gottes her eröffnet sich das Du des Nächsten.46
Müller-Schwefe unterscheidet im Sinne eines Offenbarungsvorbehalts die ,natürliche‘ Sprache des Menschen von der Sprache Gottes. Das Du ist demgemäß in den ,Tiefen‘ der natürlichen Sprache nicht zu finden. Es ist erst eine Möglichkeit der vom Wort Gottes in Jesus Christus getroffenen und verwandelten Sprache. Damit fällt Müller-Schwefe an relativ unbetonter Stelle in der Auseinandersetzung mit Buber und Heidegger eine theologische Grundsatzbestimmung, die für sein Vorhaben, das Wort Gottes als Phänomen der Sprache auszulegen, zentral ist. Die entscheidende Frage ist, ob durch die Offenbarung prinzipiell neue Möglichkeiten in der Sprache eröffnet werden, oder ob die Offenbarung den rechten Gebrauch bereits vorhandener Möglichkeiten in ihrer Ambivalenz von Gelingen und Scheitern ermöglicht. M.E. ist der Ansatz, das Wort Gottes als Phänomen der Sprache auszulegen, nur 45 Nachdem Müller-Schwefe sein Verständnis der dreifachen Struktur der Sprache im ersten Teil „Die Struktur der Sprache“ dargestellt hat, setzt er sich im zweiten der insgesamt vier Teile seines Buches „Sprache und Existenz“ mit Buber, Heidegger und Sartre auseinander. 46 Müller-Schwefe, Sprache, 77.
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denkbar, wenn letzteres der Fall ist. Der Offenbarungsvorbehalt macht das im Wort Gottes begegnende Du zur fremd mir begegnenden Sprache sui generis. Abgesehen von diesen methodischen Erwägungen erscheint es mir weder möglich noch sinnvoll, Menschen, denen die Offenbarung in Jesus Christus nicht begegnet ist, das „Du des Nächsten“ als ihnen begegnender Anspruch und das partielle Gelingen der Beziehung zum Du in der Liebe abzusprechen. Dies liefe m. E. letztlich darauf hinaus, ihnen das Menschsein überhaupt abzusprechen.47 Welche als menschliche erkennbare Gemeinschaft ist ohne wahrgenommene und mehr oder weniger gelungen realisierte Ansprüche des Du denkbar? Ich bin daher im Gegensatz zu Müller-Schwefe der Auffassung, dass gerade im Du Möglichkeiten der Auslegung des Wortes Gottes als Phänomen der Sprache liegen, die verhindern, dass die Sprache des Glaubens zur Sondersprache wird.
1.3.1.2 Die schöpfungstheologische Argumentation Dem offenbarungstheologischen Vorbehalt gegenüber dem Bereich des Du entspricht Müller-Schwefes schöpfungstheologisch begründete Kritik an Bubers Aufruf zur Umkehr zum Du, die für ihn der „Kern“ seiner Anfrage an Buber ist. Buber möchte mit seiner Philosophie die Menschen aus dem Fall in die Es-Welt zur Umkehr aufrufen, zurück zum Leben in der Ich-Du Beziehung. Müller-Schwefe stellt dies in Frage: „Ist in dieser Dialektik von Fall und Umkehr nicht die biblische Wahrheit überspielt, dass die Menschheit in ihrem Gefälle eben nicht zum Ursprung zurückkehren kann, auch kein einzelner Mensch?“48 Die Bewegung der ständigen Erneuerung und Umkehr ist für ihn „von der unerbittlichen Einmaligkeit der Geschichte umgriffen.“49 Dies hängt für Müller-Schwefe mit der Geschöpflichkeit des Menschen zusammen, die ihn an seine Gestalt bindet: Weil der Mensch als Geschöpf nicht in die Sphäre des Ungeschiedenen zurückkann, sondern Gestalt ist mit seinem Geschaffensein, darum hebt die Möglichkeit, sich durch die Umkehr in die Einheit zu erstarken, die Wahrheit nicht auf, dass der Mensch als Gestalt, als Geschöpf der Verwirklichung und Erneuerung nicht mehr fähig ist, weil er nicht mehr in seiner Mutter Leib zurück kann, weil er sich eben in der Gestalt verwirklicht und sie nicht mehr abwerfen kann, wie eine Raupe, die sich verpuppt hat, die Hülle verläßt und als Falter entschlüpft.50
Der Bereich des Du ist nicht nur deshalb keine Möglichkeit der ,natürlichen‘ Sprache und des ,natürlichen‘ Menschen, weil er erst in der Offenbarung 47 48 49 50
Zur Begründung vgl. unten die Ausführungen zu Buber und Marcel. Ebd., 69. Ebd. Ebd.
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durch Jesus Christus eröffnet wird. Die Unmittelbarkeit, die Buber als das entscheidende Merkmal des Du reklamiert,51 steht zudem für Müller-Schwefe im Widerspruch zur Geschöpflichkeit des Menschen. Daran ist zweierlei bemerkenswert. Zum einen ist mit dieser Konstruktion, die erstens den Bereich des Du der Offenbarung vorbehält und zweitens für mit der Geschöpflichkeit unvereinbar erklärt, bereits das beziehungslose Auseinanderbrechen von Schöpfung und Erlösung angelegt, das als Auseinanderbrechen der einen Wirklichkeit im Laufe der Untersuchung immer deutlicher zu Tage treten wird. Zum anderen zeigt sich, dass Müller-Schwefe das Anliegen Bubers, dem es ja keineswegs um ein Zurückkriechen in den Leib der Mutter geht, nicht versteht bzw. trotz seines Anspruchs, Buber, Heidegger und Sartre als sich komplementär zu einander verhaltende Wahrheiten über die Sprache zueinander in Beziehung zu setzen, der Auffassung Bubers im Kern widerspricht. Dies sei hinsichtlich der Kritik an Bubers Konzeption der Unmittelbarkeit, bei der wiederum der Zusammenhang von Geschöpflichkeit und Gestalt begegnet, noch einmal verdeutlicht. Bubers Betonung der Unmittelbarkeit als wesentlichem Merkmal der IchDu Beziehung impliziert, dass „es hinwieder zu einem Gespräch keines Lautes, nicht einmal einer Gebärde [bedarf].“52 Dies ist nur möglich, wenn das Sein der Menschen kein für-sich Sein ist, das zueinander in Beziehung tritt, sondern Zusammen-Sein. Für Müller-Schwefe aber hat der Primat des Du nicht den Sinn des Seins als Zusammen-Sein, sondern den Sinn der Konstitution des Subjekts. Er denkt nicht vom Gemeinsamen, sondern von den einzelnen Subjekten aus, die in Beziehung zueinander treten und sich äußern. Hinter diese Vorstellung kann er nicht zurück und kritisiert darum an Bubers Gespräch ohne Laut und Gebärde, dass dieses nur möglich sei, „weil sie dort als schon zum Wort erwachte Menschen sitzen, die sich zu äußern vom Anruf gelernt haben.“53 Müller-Schwefe zieht aus dieser Kritik zwei Konsequenzen: [1] Der Ausdruck ist nicht, wie es bei Buber scheinen kann, nur der Umschlagplatz vom Du zum Es, sondern vielmehr Gestalt. Schöpfung ist nicht der Fall in die Gegenständlichkeit, sondern die Gebundenheit an die Gestalt, so dass der zum Ich vom Du Erweckte sich äußern, und auch die Welt, die ihm als Gestalt entgegentritt, deuten, aber auch in der Freiheit des Geistes im Begriff ordnen kann. [2] Die zweite Folgerung trifft die Auffassung vom Du. Über der befreienden Entdeckung, dass das Ich in ursprünglicher Beziehung vom Du her lebendig ist, wird diese Lebendigkeit, die Bewegung zum eigentlichen Kennzeichen gemacht. Dass ein
51 Siehe dazu unten Abschnitt 4.2.1 Unmittelbarkeit der Begegnung. 52 Ebd., 68. Vgl. Buber, Prinzip, 140 ff. 53 Ebd.
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Du das anderer konstituiert durch sein Gegenüber, durch das Anderssein, das kommt zu kurz.54
Damit ist der Widerspruch gegen den für Buber zentralen Punkt der Unmittelbarkeit, ohne den die ganze Auffassung des Dialogismus in sich zusammenfällt, an die Geschöpflichkeit des Menschen gebunden, die für MüllerSchwefe ihr entscheidendes Merkmal darin hat, dass sie den Menschen an seine Gestalt bindet, die der andere deuten kann aber auch muss. 1.3.2 Das Weltverhältnis des Menschen Die entscheidende theologische These für Müller-Schwefes Auffassung, dass der Mensch sich in der Dimension des Begriffs im Verwandeln der Welt verwirklicht, besagt, dass die „Entbindung des Menschen aus seiner Unmündigkeit“, „seine Freiheit zur Abstraktion“ nicht aus der Natur, sondern nur aus der Offenbarung in Jesus Christus verstanden werden kann. Müller-Schwefe versucht damit, das beherrschende Merkmal der Sprache seiner und unserer Zeit, die Dominanz des begrifflichen, abstrakten Denkens, auf die Offenbarung in Jesus Christus zurückzuführen, deren Wirkungen heute „in säkularisierter Form zum Tragen kommen“55. Die Verwirklichung des Menschen im Begriff ist also von Jesus Christus gewollt und herbeigeführt. Dem korrespondiert wiederum eine schöpfungstheologische Argumentation, welche die auf Verwandlung hin angelegte Zuordnung von Mensch und Welt in der Schöpfung grundgelegt sieht. Bevor ich mich dieser Argumentation zuwende, möchte ich auf die eigentümlich doppelgleisige Strategie der Argumentation Müller-Schwefe hinweisen.
1.3.2.1 Methodische Spannungen Die These, das Jesus Christus zu Abstraktion und Begriff befreit, steht in Spannung zu dem offenbarungstheologischen Vorbehalt, der den Bereich des Du in der Betrachtung der Sprache den Theologen und der Offenbarung reserviert. Einmal ist der Ruf der Offenbarung in die Sprache eingegangen, hat diese in Bewegung gesetzt und zu geschichtlichen Veränderungen geführt, die jeder auch unabhängig von der Offenbarung sehen kann. Das andere Mal soll ein Bereich exklusiv der Begegnung mit Gottes Wort in der Offenbarung vorbehalten bleiben. Wiewohl doch Jesus Christus den Bereich des Du geöffnet hat, ist er in diesem Fall anscheinend nicht so in die Sprache eingegangen, dass die Veränderungen und die neue Möglichkeit für jeden erfahrbar sind. Buber spricht, weil er kein christlicher Theologe ist, trotz der in die 54 Ebd. 55 Ebd., 100.
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Sprache eingegangenen Anrede durch Gott, zu Unrecht vom Du.56 Die Beschreibungen der Verwirklichung des Menschen im Begriff durch atheistische Denker wie Sartre dagegen kommen Müller-Schwefe gelegen. Einmal ist die argumentative Strategie, einen Bereich der natürlichen Erkenntnis zu entziehen, um die Notwendigkeit der Offenbarung zu erweisen. Die bemerkenswerte oder auch merkwürdige Folge dieser Logik ist, dass Theorien, die in ihrer Beschreibung des menschlichen Lebens von der Existenz Gottes und seiner Zuwendung zum Menschen in der Gnade ausgehen, darum kritisiert werden, und die bewusst atheistischen Theorien den Vorzug erhalten. Diesbezüglich ist zur fragen, ob die Offenbarung nicht die verborgene conditio humana als Geschöpf Gottes aufdeckt, und ob deshalb nicht anthropologischen Theorien, die vom Gottesbezug des Menschen ausgehen, der Vorzug zu geben ist. Das andere Mal ist die argumentative Strategie, einen zentralen Bereich gegenwärtiger Lebenserfahrung als Wirkung des Wortes Gottes auszuweisen, um zum einen diese Lebenserfahrung zu rechtfertigen und zum anderen die Menschen, die diese Erfahrung teilen, als auf das Wort Gottes ansprechbar auszuweisen. Es steht also letztlich die für die Predigt zentrale Frage der Verbindung von Glauben und gegenwärtiger Lebenserfahrung zur Debatte. Warum in unserer heutigen Sprache, die Müller-Schwefe programmatisch als Sprache „post Christum“57, als Sprache, in der die Bewegung des Wortes Gottes eingegangen ist, bezeichnet, einseitig nur die eine Wirkung der Offenbarung sichtbar und allgemein zugänglich sein soll, erscheint mir als willkürlich und letztlich durch das bestimmt, was Müller-Schwefe für heute plausibel erfahrbare Wirklichkeit hält bzw. selbst erfährt.
1.3.2.2 Die schöpfungstheologische Grundlegung des Weltverhältnisses des Menschen Das Verhältnis des Menschen zur Welt, durch das er die Welt verwandelt, ist für Müller-Schwefe in der Schöpfung durch das Wort angelegt und gewollt. Grundsätzlich gilt für ihn, dass die Schöpfung noch nicht fertig, sondern offen ist. „Schöpfung im Wort bedeutet: Bewegung und Bestimmung. Das Wort schafft Lebendiges, das noch nicht fertig ist; es schafft so, dass alles auf das 56 Vgl. dazu die kritischen Anmerkung in Rosenstock-Huessys, Widersinn, 103, zu MüllerSchwefes Buch: „Der Verfasser [Müller-Schwefe] meint, unsereiner handle von der Sprache der Menschen, also von etwas Natürlichem. Wir also seien Weltmenschen. Ihn aber, den Professor der Theologie mache sein Thema ,Wort Gottes‘ bereits als Thema zum Gläubigen, ja zum Geistlichen! Also, wenn ich von Sprache handle, bin ich nur weltlich; wenn ich das Wort Gottes behandle, bin ich geistlich. O sancta simplicitas. O Müller-Schwefe! Umgekehrt wird es wahr. Weil du ,das Wort Gottes‘ isoliert behandelst, bist du weltlich.“ 57 Müller-Schwefe, Sprache, 142.
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Neue angewiesen ist, auf die Zukunft.“58 Dieses Neue, die Zukunft schafft dabei zwar nicht der Mensch, sondern das „Schöpfungswort des Herrn“59. Aber in der Schöpfung ist der Mensch „das Haupt, die Spitze“60 : Er ist zur Freiheit berufen. Es ist seine Bestimmung, dass er die Wirklichkeit als ein Wort versteht, dem er zu antworten hat. Er ist also nicht fertig; er muss sich bewähren. Die Schöpfung fordert den Menschen zur freien Antwort heraus.61
Der Mensch als Spitze der Schöpfung reagiert in seinem die Welt verwandelnden Handeln auf die eigene und der Welt Beschaffenheit und verwirklicht damit sein schöpfungsmäßiges Wesen. Ungeklärt bleibt dabei, wie sich konkret die Verwirklichung durch das Handeln des Menschen zum „Schöpfungswort des Herrn“ verhält, das ja nicht nur das Verhältnis Mensch – Welt, sondern auch allein die Zukunft schafft. Dazu ist bei Müller-Schwefe nichts zu erfahren. Hat hier nicht der Geist als überindividuelle Realität seinen Ort im Unterschied zum vom Subjekt beherrschten ,Geist‘ des analytisch begrifflichen Denkens? Die Frage, wie das Schöpfungswort Gottes und das Handeln des Menschen zusammen wirken, ist für den Schöpfungsglauben zentral. Sie verhält sich parallel zum Verhältnis der Abhängigkeit von Gott, wie sie mit dem Schöpfungsgedanken gegeben ist, zur Freiheit des Menschen. Für Müller-Schwefe gilt: wie der Mensch auf Gott hin angelegt ist, so ist die Welt als Schöpfung auf den Menschen hin angelegt. Daher wartet die Welt darauf, dass der Mensch sie verwandelt, auch so, wie er dies auf der Grundlage der modernen Naturwissenschaft und Technik tut. Der Mensch kann nur deshalb die Natur dem Experiment unterwerfen, „weil das Gegebene darauf wartet, dass der Mensch so mit ihm umgeht.“62 Dabei gilt grundsätzlich, dass der Mensch „nur so lange offen [ist], sich und die auf ihn angelegte Welt zu verwirklichen, als er offen ist gegenüber Gott“63, womit der Zustand vor dem Sündenfall beschrieben ist. Mit dem Sündenfall wird dieser Zusammenhang durcheinander gebracht. Weil der Mensch sich von Gott abwendet und nicht mehr von ihm Zukunft und Verwirklichung der Schöpfung erwartet, muss er versuchen, die unfertige Schöpfung selbst zu vollenden, versuchen, „die Unfertigkeit und Bedürftigkeit zu ergänzen, aber auch die Verheißung, die auf ihm liegt, zu erfüllen. Er drängt zur Vollendung, zur Offenbarung des eigenen Wesens.“64 Sünde ist dann, „dass dieser Mensch, der sich vom Wort her als Gabe und Aufgabe empfängt, sein Leben nicht vor dem, der ihn ins Leben ruft, verantworten will, dass er sich in Angst und Trotz von ihm abwendet.“65 Der 58 59 60 61 62 63 64 65
Müller-Schwefe, Lehre, 68. Ebd., 69. Ebd. Ebd. Ebd., 106. Ebd., 69. Ebd., 70. Ebd., 72.
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Akzent liegt hier wiederum allein auf der Verantwortung der vom freien Subjekt durchgeführten Taten, nicht auf dem, was der Mensch bleibend im Geist empfängt, um schöpferisch sein zu können. Soweit die Argumentation Müller-Schwefes. Über die unbeantwortete Frage hinaus, wie die Abhängigkeit von Gott und die Freiheit des Menschen gleichzeitig zu denken sind, erscheinen mir zwei Punkte der Klärung bedürftig. (1) Die generelle Bezeichnung der Schöpfung als unfertig und damit verbunden, (2) der direkte Bezug der modernen Gestalt der Naturwissenschaft und des Weltverhältnisses des Menschen, die eine späte Entwicklung einer langen infralapsarischen Geschichte sind, auf den Schöpfungsgedanken an sich, also auch unabhängig vom Fall. Zu (1): Wiewohl die christliche Schöpfungslehre nicht einfach aus den am Anfang der Bibel stehenden Schöpfungsberichten abgelesen werden kann, ist doch auffällig, dass Müller-Schwefes Bestimmung der Schöpfung als unfertig im Gegensatz zu der Aussage steht, dass Gott seine Werke, die er machte, am siebten Tag vollendete (Gen 2,1) und dass alles, was Gott gemacht hatte, sehr gut war (Gen 1,31)66. Bezüglich der Tiere ist im ersten Schöpfungsbericht von herrschen (Gen 1,28) und im zweiten von Namensgebung die Rede (Gen 2,19 f). Von einer Unfertigkeit der Schöpfung und einem Auftrag an den Menschen, die Welt zu vollenden und so sein eigenes und der Welt offenes Wesen zu verwirklichen, kann zumindest im Bezug auf die Schöpfungsberichte kaum die Rede sein. Schon gar nicht, wenn damit die technische Verwandlung der Welt gemeint ist. Im Gegenteil erscheint das Bearbeiten des Ackers als Form der Kultivierung der Welt als Folge des Sündenfalls. Das bedeutet keineswegs, dass Gott den Menschen ursprünglich nicht als offenes Wesen geschaffen hat. Die von Gott geschaffene Offenheit des Menschen und der Welt ist aber kein Mangel und daher auch kein Gegensatz zur vollendeten Gestalt der Schöpfung. Es ist die Offenheit, die den Mensch auf Gott und auf seine Mitgeschöpfe verweist. Der Mensch ist demnach nicht isoliert für sich, sondern in seiner Bezogenheit auf Gott, seine Mitmenschen, seine Mitgeschöpfe und die Welt als Schöpfung zu verstehen. Insofern in diesen Bezügen das Wort als Anrede, und die Antwort des Menschen darauf die entscheidende Rolle der Verbindung spielt, sind die schöpfungsgemäßen Externbezüge des Menschen ihrem Wesen nach eher von den interpersonalen Bezügen her zu verstehen, in denen die Anrede ihren Ort hat, als von der Relation von Subjekt und Objekt her. Dass der Mensch in und aus diesen Bezügen lebt, wird als sehr gut bezeichnet; es ist kein Mangel, sondern Quelle der Fülle des Lebens, das schöpfungsgemäß ein Sein als Zusammensein ist. Dementsprechend steht im Zentrum des Sündenfalls nicht, dass der Mensch 66 Müller-Schwefe nimmt bezeichnender Weise die Arbeit des Menschen mit in diese Wertung hinein: „Das Leben, auch die Arbeit des Menschen, kommt zur Erfüllung, wenn Gott sie anschaut: ,Siehe, es war sehr gut‘.“ Ebd., 68. Von dieser Arbeit des Menschen ist im Schöpfungsbericht freilich nicht die Rede, sie kommt erst mit dem Sündenfall in den Blick (Gen 3,17).
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seine Verwandlung der Welt vor Gott nicht verantwortet. Davon ist überhaupt nicht die Rede. Der Sündenfall ist in seinem Kern eine Störung des Seins als Zusammensein. Zuerst eine Störung des Zusammenseins von Gott und Mensch und daraus resultierend des Zusammenseins von Mensch und Mensch, Mann und Frau, die sich gegenseitig die Schuld zuschieben. MüllerSchwefe sieht die Schöpfung nicht vom Sein als Zusammensein, sondern von der Zuordnung von handelndem Subjekt und zu verwandelndem Objekt aus, die zu Heideggers Zuordnung von Subjekt und Objekt als Geschick passt.67 Müller-Schwefes Verständnis der Offenheit der Schöpfung und der in der Schöpfung angelegten Zuordnung von Mensch und Welt als Unfertigkeit und Auftrag an den Menschen zur Weltverwandlung und -verbesserung, hängt (2) unmittelbar damit zusammen, dass Müller-Schwefe relativ späte geschichtliche Entwicklungen direkt auf den Schöpfungsglauben bezieht. Während lange Zeit der Schöpfungsglaube hinsichtlich des Verhältnisses von Mensch und Welt als Natur seinen „Erfahrungsanhalt“ an der „Ordnung und Schönheit der Natur“ und hinsichtlich des Verhältnisses des Menschen zur Welt als Geschichte „an Spuren göttlicher Vorsehung im eigenen Leben“ hatte, trat an deren Stelle erst mit der Aufklärung „die Überzeugung von der Verbesserungsbedürftigkeit der geschichtlichen Welt und von der Fähigkeit und Verpflichtung des Menschen zu ihrer Veränderung.“68 Müller-Schwefe liest diese Auffassung der Aufklärung in den Schöpfungsglauben hinein. Das durch die Schöpfung gesetzte Zusammensein von Welt und Mensch ist bei ihm wesentlich nicht Entsprechung zur Ordnung der Natur, sondern Aufruf, in Freiheit die Natur zu verwandeln. Die Schöpfung ist nicht nur offen und auf Gegenseitigkeit im Zusammensein angelegt, sondern unfertig. Damit kommt nun aber auch die Frage in den Blick, wie sich bei dieser Bezugnahme des modernen, von der Aufklärung inspirierten Denkens auf den Schöpfunsgedanken die ursprüngliche Zuordnung von Mensch und Welt in der Schöpfung zur faktischen Situation des Menschen unter der Sünde verhält. Diese Situation meldet sich beispielsweise in dem bekannten Sachverhalt der Dialektik der Aufklärung an. Kann man so einfach die Unterwerfung der Natur durch den Menschen im Experiment als schöpfungsgemäße Betätigung der Freiheit bezeichnen, ohne dabei auf die unter dem Vorzeichen der Sünde stehende Situation des Menschen zu reflektieren? Es steht in Frage, ob die Schöpfungsgemäßheit hier nicht nur dann zu Recht eingeführt wird, wenn der Mensch sich in seinem Handeln und die ihm anvertraute Welt tatsächlich als Schöpfung versteht. Mit anderen Worten, wenn den Schöpfungsaussagen ein Schöpfungsglaube entspricht. In Müller-Schwefes eigener Beschreibung des Sündenfalls wird der Mensch, der sich von Gott abwendet und sich selbst verwirklichen will, als treibender Faktor der Geschichte mindestens so anschaulich und plausibel, wie seine These vom Wort und Auftrag Gottes, die 67 Vgl. Ebd., 164 f., 195. 68 Ebeling, Dogmatik I, 266.
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Geschichte machen.69 Allein von der isolierten Situation her, dass der Mensch sich die Natur im Experiment unterwirft, ist zumindest nicht zu entscheiden, ob der darin handelnde Mensch dem Schöpferglauben gemäß die geschöpfliche Welt als Versprechen versteht, „indem sich Gott der Geber zusagt“, oder ob für ihn gilt: „Der Mensch will die Welt nicht als Gottes Kreatur wahrhaben, er will sie zu seiner Kreatur machen.“70 Wenn aber letzteres der Fall ist, verwechselt der Mensch „das Herrschen wie Gott mit einem gottlosen Herrschen“71.
1.3.2.3 Die endgültige Befreiung zum Begriff durch Jesus Christus Die Offenbarung in Jesus Christus ist das eigentliche Zentrum des Denkens Müller-Schwefes.72 Der geschichtliche Weltumgang des Menschen, der in der Schöpfung durch das Wort angelegt ist, wird durch die Inkarnation endgültig. Die Geschichte des Menschen wird durch das Wort, das Fleisch geworden ist, endgültig im dreifachen Sinne des Wortes: Der Mensch muss nun seine Aufgabe in der Welt, die ihm von Gott zugewiesen ist, endgültig übernehmen und durchführen. Er muss in dieser Verwirklichung seine Stellung zu Gott, dem Herrn der Geschichte, endgültig verantworten. Und er kann schließlich diese seine Rolle als Vollstrecker der Geschichte nur zu Ende führen, wenn Gott selbst ihm die Vollendung schenkt.73
Worin liegt begründet, dass der Mensch seine Aufgabe infolge der Inkarnation endgültig übernehmen und durchführen muss? Das entscheidende Argument lautet: „Die Verborgenheit des Offenbarungswortes ermächtigt den Menschen, die Welt in Freiheit zu verwandeln.“74 Die Verborgenheit der Herrlichkeit Jesu Christi bedeutet für Müller-Schwefe, dass die Welt dem Menschen zur Verwandlung zur Verfügung gestellt wird. Ja, man muss wohl sagen, dass ein wesentlicher Sinn der Inkarnation für ihn darin besteht, dass der Mensch zur unumschränkten Herrschaft über die Welt ermächtigt wird.75 Hierin sieht er auch einen, wenn nicht den wesentlichen Aspekt, der durch Jesus Christus gebrachten Freiheit. 69 Dem entspricht, dass bei ihm in Bezug auf die Erlösung durch Jesus Christus vom Ende der Geschichte die Rede ist. 70 Ebeling, Dogmatik I, 308. 71 Ebd. 72 Vgl. Cornehl, Zeitgeist, 21.29. 73 Müller-Schwefe, Lehre, 68. 74 Ebd., 74. Hervorhebung von mir, ML. 75 So heißt es an anderer Stelle über den Sieg des biblischen über das griechische Denken: „So wird das Denken der Welt zugeordnet, und der Glaube wird rein. Damit ist der Weg endlich frei: der Geist ist dem Menschen als Geschöpf zu eigen und ermöglicht ihm, als Herr dieser Welt aufzutreten.“ Ebd., 108.
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An anderer Stelle hat Müller-Schwefe selbst die Verborgenheit Jesu Christi im Sinne der Nichtgegenständlichkeit der interpersonalen Beziehung gedeutet.76 Sie ist dann letztlich darin begründet, dass Gott das absolute Du ist, das nicht zum Es in die offensichtliche Gegenständlichkeit herabsinken kann.77 Die Verborgenheit Jesu Christi ist dann Ausdruck der unterschiedlichen Qualität des Ich-Du Verhältnisses im Unterschied zur Subjekt-Objekt Relation. Dies entspricht dem mit der Schöpfungsaussage gegebenen Umstand, dass Gott nicht im Sinne des Weltverhältnisses gedacht werden kann. Die Verborgenheit des Offenbarungswortes entspricht der strikten Unterscheidung zwischen Gott dem Schöpfer und der Welt als Geschöpf Gottes. Was bedeutet also die Verborgenheit? Das Bestehen einer für den Menschen wesentlichen Realität, die nicht mit der Subjekt-Objekt Relation des Weltverhältnisses gleichgesetzt werden darf, oder – wie Müller-Schwefe meint – ein Hineintreiben des Menschen in die Subjekt-Objekt Relation und die endlich Welt, weil Gott sich dem Menschen entzieht? Hat Jesus Gott, Menschen und Welt zueinander gebracht und verbunden, oder kam er, um den Menschen sich und seiner zu verantwortenden endlichen Welt selbst zu überlassen?
1.3.3 Der Sieg des biblischen über das griechische Denken Müller-Schwefe sieht im modernen Säkularismus – oder wie er sich ausdrückt, in der tiefen Diesseitigkeit und Weltlichkeit des Denkens unserer Zeit – entgegen einer weit verbreiteten Auffassung einen Sieg des biblischen über das griechische Denken. Für ihn ist der Herr momentan dabei, in der Welt Geschichte zu machen, gerade in den Phänomenen des Säkularismus, die von vielen als Zeichen des Niedergangs des Glaubens gewertet werden.78 Während weitgehend unstrittig ist, dass das Christentum eine mehr oder weniger wichtige Rolle bei der Entstehung der Neuzeit spielt, ist das Besondere und Herausfordernde der These Müller-Schwefes, dass er den christlichen Glauben nicht als einen Faktor in Wechselwirkung mit anderen, sondern als den bestimmenden, Geschichte machenden Grund ansieht, der es gewissermaßen schaffte, allen anderen Faktoren seinen Stempel aufzudrücken. Das komplizierte Wechselspiel von griechischem und biblischem Denken erhält auf diese Weise eine klare und eindeutige Richtung: unsere heutige Geschichte ist Er76 Vgl. die Ausführungen zur Verleihung des Titels Kyrios in Müller-Schwefe, Sprache, 177 ff. 77 Das würde dann auch heißen, dass sich das wesentliche Leben des Glaubens in interpersonalen Bezügen abspielt – wie es ja auch dem Doppelgebot der Liebe als Summe christlichen Lebens entspricht. Von dort aus wäre dann auch die Zuordnung von Mensch und Welt in den Blick zu nehmen, d. h. die von Müller-Schwefe so oft strapazierte Verantwortung würde sich darin konkretisieren, dass das Handeln des Menschen in und mit der Welt auf einen Anruf von einem Mitmenschen oder von Gott antwortet. 78 Müller-Schwefe, Lehre, 110.
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Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Auslegung des Wortes Gottes
gebnis der Wirkung des Wortes Gottes. Es gilt zu erkennen, „dass der Herr eben mitten dabei ist, in der Welt Geschichte zu machen.“79 Diese Auffassung scheint insoweit konsequent, als Müller-Schwefe die Freiheit zur Herrschaft über die Natur im christlichen Glauben begründet sieht. Auffällig ist dabei allerdings, dass bei der Beschreibung der Entwicklungssprünge in der Geschichte des freien Umgangs mit der Welt bis hin zum modernen transzendentalen Subjekt der Einfluss oder gar Sieg des biblischen Denkens nur schwer auszumachen ist. Besonders auffällig ist dies bei MüllerSchwefes Beschreibung des Heraufkommens einer neuen Erfahrung von Wirklichkeit im Zuge der Entdeckung des Aristoteles im Mittelalter. Aristoteles selbst ist nicht von Christus beeinflusst. Seine Wiederentdeckung ist ein wichtiger Schritt zur Abstraktion und Begrifflichkeit des Denkens, deren Dominanz für unsere Zeit bestimmend ist. Denn mit Aristoteles wurde „die Allgemeingültigkeit und Allgemeinheit zur Voraussetzung der Wirklichkeit gemacht“: „Alles Konkrete erschien im Horizont des Allgemeinen.“80 Eine Folge davon war, dass in der Theologie „Gottes Wirklichkeit den Denkformen substantia und accidens, forma und materia unterworfen“ wurde. „Dadurch wurde Gottes Wirklichkeit weltlich, substanzhaft, fast ist man geneigt zu sagen: gegenständlich.“81 Insgesamt kam mit dem Erfassen des Konkreten vom Allgemeinen her Unruhe in den Menschen, die ihn nach vorne drängt. „Unruhe, das neu gesichtete Wesen der Welt, die Materie, zu gewinnen, mit ihr zu arbeiten.“82 Nicht von ungefähr werden sowohl die Welt als auch Gott wesentlich als Substanz betrachtet. Dies ist die Weise, wie man vom Allgemeinen her das Konkrete gegenständlich handhaben kann. Dass das Wesen Gottes so verfehlt wird, liegt auf der Hand, und wird auch von Müller-Schwefe als Einspruch der Reformation notiert.83 Genauso deutlich scheint mir, dass von der Arbeit mit der materiellen Welt als Ausdruck des Glaubens biblisch ebenso wenig die Rede sein kann. Müller-Schwefes Ausführungen zur Entdeckung des Aristoteles im Mittelalter sind damit eher eine Beleg dafür, dass die geschichtliche Entwicklung hin zu Abstraktion und Begriff und die damit einher gehende technische Verwandlung der Natur komplexer ist, als dies die Rede von einem eindeutigen Sieg des biblischen über das griechische Denken suggeriert.84 79 Ebd. 80 Ebd., 94. 81 Ebd., 93. Weitere Folgen sind das entstehen der Perspektive aus dem Gegenüber von Augenpunkt und Gegenstand, sowie Entstehung des Marktes und der Presse als Vorboten einer neuen Öffentlichkeit. 82 Ebd., 94 f. 83 Vgl. Ebd., 95: „Das Denken bearbeitet die Wirklichkeit [im nominalistischen Lager der Scholastik] nach allgemeinen formalen Prinzipien; die Offenbarung aber ist [nach Luther] ein Konkretissimum, das nicht aus dem Denken erschlossen werden kann.“ 84 Vgl. auch Müller-Schwefes Anmerkungen zur Renaissance, Ebd.: „Leonardo da Vinci findet allein das, was des Menschen Geist erfindet, preisenswert. Und auch ein restaurativer Geist wie Marsilio de Ficino sieht des Menschen Aufgabe in einem ,deformia reformare‘. Überall geht es
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Ein analoges Bild zeigt sich beim nächsten Beschleuniger der Entwicklung: der Aufklärung. Sie ist für Müller-Schwefe im wesentlichen Durchsetzung der Vernunft, d. h. in diesem Fall des Allgemeinen, dem sich das Besondere unterzuordnen hat. Dadurch „wird das Schicksal durch die Verfügung des Menschen selbst abgelöst.“85 Und: „Mit unglaublicher Beschleunigung wurde nun die Natur in die Verwandlung durch den Begriff hineingezogen und damit Geschichte gemacht, Weltgeschichte im Sinne der Heiligen Schrift.“86 Inwiefern dies im Sinne der Heiligen Schrift ist, wird nicht weiter ausgeführt.87 Qualitativ neu gegenüber Aristoteles sind die Entwicklung hin zum „transzendentalen Subjekt“, in dem der Mensch selbst als „Abstraktum“ erscheint, und die damit verbundene Entwicklung hin zur „transzendentalen Publizität“, in der die öffentliche Sphäre dem Maßstab der ratio und der Allgemeinheit unterworfen wird. Diese Entwicklung wird nun von Müller-Schwefe wieder als wesentlich in Jesus Christus begründet behauptet. In der Gegenwart scheint nun die ,transzendentale Publizität‘ in der Welt vollends zum Zuge zu kommen. Wir dürfen diesen Sachverhalt aber nicht pessimistisch verstehen, als ob nun endgültig das Denken aus dem Bereich der Offenbarung ausgewandert sei. Vielmehr ist das weltlich-diesseitige Denken ein Zeichen dafür, dass die Kraft des griechischen Geistes vom Wort Gottes verwandelt ist. Wie ist das zu verstehen? Heute kommt das Denken, die Fähigkeit zu summieren und zu abstrahieren, insofern zum Ziel, als es nicht mehr als Methode, die wahre Wirklichkeit zu erkennen, verstanden wird, sondern als Fähigkeit, in der der Mensch sich selbst und die gegebene Natur verwirklicht. Wirklichkeit ist im genauen Verstande des Wortes endlich und diesseitig, sie ist ein Prozess, dessen Verwirklicher der Mensch ist. Die eigentliche Kraft des Menschen liegt also in der Möglichkeit, zu abstrahieren, vom Augenblick abzusehen, Zusammenhänge zu überschauen. Er benutzt diese Kraft nicht nur dazu, um das Gegebene zu ordnen oder zu erklären, sondern um es zu verwandeln, in einen neuen Zustand des Seins zu versetzen. Der Mensch, der Urheber dieser Bewegung, ist selbst ein ,Abstraktum‘, das ,transzendentale Subjekt‘, das entsteht, wenn er von seiner Freiheit Gebrauch macht, in die er gesetzt ist.88
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um die Verwirklichung des Neuen, des noch nicht Dagewesenen. Darin verschlingt sich wunderlich die Angst, vor Gott bestehen zu können, mit der Freude, dass Welt und Leben erst beginnen.“ Ebd., 101. Ebd., 102. Müller-Schwefe selbst hatte im Ersten Band Erich Auerbachs Beobachtung angeführt, dass das Wort Gottes dadurch Geschichte macht, dass es den konkreten Einzelnen unabhängig von seiner Herkunft als Geschöpf Gottes würdigt. Dies ist gerade die entgegengesetzte Bewegung einer Unterordnung des Konkreten unter den Begriff. Vgl. Müller-Schwefe, Sprache, 106 ff. Müller-Schwefe, Lehre, 105 f. Hervorhebung von mir, ML.
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Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Auslegung des Wortes Gottes
Der entscheidende Punkt, der den Sieg des biblischen über das griechischen Denken für Müller-Schwefe markiert, ist, dass der Verstand mit seiner begrifflich abstrahierenden Tätigkeit nicht mehr auf die „wahre Wirklichkeit“, also Gott, sondern nur noch auf die Welt angewandt wird, deren Verwirklicher der Mensch ist. Der Stempel der Offenbarung ist für ihn „darin zu sehen, dass Denken aus einem metaphysischen Vermögen zu dem wichtigsten Organ des Diesseits geworden ist.“89 Gewöhnlich sehen wir in dieser Entwicklung einen Sieg des griechischen Geistes und eine Niederlage des biblischen Glaubens. Das ist falsch. Denn eben der metaphysische Geist der Griechen wird in der Begegnung mit dem Schöpferglauben der Christen endlich und durch die Begegnung mit der Verheißung der neuen Welt selbst zur Verwandlung des Diesseits bereit. Das diesseitig produktive Denken ist aus der Verbindung von griechischem Denken mit biblischem Glauben entstanden. So wird das Denken der Welt zugeordnet und der Glaube wird rein. Damit ist endlich der Weg frei; der Geist ist dem Menschen als Geschöpf zu eigen und ermöglicht ihm, als Herr dieser Welt aufzutreten.90
Das Denken ist der Welt zugeordnet und der Glaube wird rein.91 Das ist der Zielpunkt der Argumentation Müller-Schwefes, der den Sieg des christlichen Denkens über das griechische Denken besiegelt. Die vermeintliche Reinheit des Glaubens wird aber m. E. durch ein beziehungsloses Auseinanderbrechen von Glauben und Denken, von Gott und Welt erkauft. Die Wirklichkeit zerfällt in die „wahre Wirklichkeit“ Gottes und die Wirklichkeit der Welt, deren Verwirklicher der Mensch ist. Die fundamentale Unterscheidung von Gott und Welt, die mit dem Schöpfungsglauben ausgesprochen ist, kippt um in eine Trennung. Die Wirklichkeit der Welt, die für Müller-Schwefe „im genauen Verstande des Wortes endlich und diesseitig“ ist, kann nicht der Ort sein, in dem ich Gott in meinen Mitmenschen und allen Dingen begegnen kann. Weder vor, noch nachdem ich zum Glauben gekommen bin. Der Mensch ist mit sich und seiner Welt allein gedacht und nicht in seinem, wenn auch durch die Sünde verdeckten Zusammensein mit Gott. Diese im strikten Sinne gottlose Welt steht m. E. in direktem Widerspruch zum Schöpfungsglauben.
89 Ebd., 108. 90 Ebd. 91 Diese Entwicklung sieht Müller-Schwefe durch den Einspruch der Reformation gegen Aristoteles vorbereitet, in der die Unterscheidung zwischen Glauben und Denken deutlicher und für den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmend geworden ist: „Das Denken bearbeitet die Wirklichkeit nach allgemeinen formalen Prinzipien; die Offenbarung Gottes aber ist ein Konkretissimum, das nicht aus dem Denken erschlossen werden kann. So ist es möglich, das Denken weltlich zu nehmen, und den Versuch, mit seiner Hilfe den Glauben zu begründen, zurückzuweisen als die eigentliche Verderbnis der Theologie.“ Ebd., 95 f.
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1.3.3.1 Zur Unterscheidung von Glauben und Denken Um Müller-Schwefes Unterscheidung von Glaube und Denken nicht nur im Hinblick auf bedenkliche Folgen zu kritisieren, sind bestimmte Kriterien zu benennen, wie die Unterscheidung von Glaube und Denken verstanden werden soll. Ich beziehe mich dabei auf Gerhard Ebeling. Die Unterscheidung und der Konflikt zwischen Glaube und Denken sind nicht ohne die Geschichte ihrer Verhältnisbestimmung zu denken. Während am Anfang der Glaube mit der griechischen Philosophie im Streit um die wahre Weisheit lag, kam es in der Scholastik zu einer Synthese. Dabei kam es zu einer „bedenklichen Neigung“, „den Anschein zweier aneinander angrenzender Bereiche zu erwecken“92 : Die Zeit ist durch den Tod von der Ewigkeit abgegrenzt, das Diesseits grenzt ans Jenseits, der Raum der Gnade an den Raum der Welt. Damit aber drohen beide Bereiche beziehungslos auseinanderzubrechen und die Welt zum von Gott unabhängigen Raum zu werden. Die Profanität93 im christlichen Sinne ist aber „nicht ein dem Heiligen entzogener Bereich, sondern die von Gott unterschiedene und in ihrer Wirklichkeit ernstgenommene Welt, für die grundsätzlich stets beides miteinander wahr ist: die relative Selbständigkeit ihrer Internbezüge und ihre schlechthinnige Abhängigkeit von Gott.“94 Daher muss aussagbar sein, dass für die Welt die Vernunft und der Glaube zugleich zuständig sind, wenn auch in unterschiedlicher Hinsicht und Weise. Das weiterführende Kriterium ist diesbezüglich die Unterscheidung von Rätsel und Geheimnis. Rätsel können wie Rechenaufgaben gelöst werden. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sich der Mensch von ihnen distanzieren kann. Demgegenüber betrifft das Geheimnis „Probleme, die in der Weise das Leben angehen, dass ihre Beantwortung mit dem Lebensvollzug selbst zu tun hat.“ Diese Probleme können „nicht durch eine Lösung beseitigt, sondern bestenfalls durch eine Einsicht vertieft werden.“95 Und: Das Rätsel fordert mit Recht zur Erforschung und zur Aufklärung heraus, das Geheimnis hingegen lädt zur Besinnung und zur Andacht ein. Ein und derselbe Sachverhalt: etwa ein Vorgang in der Natur oder eine mitmenschliche Beziehung, kann zu beidem Anlaß geben. Das weist nun aber darauf hin, dass innerhalb dessen, was man als Profanität zu bezeichnen pflegt, die Dimension des Geheimnisses aufbricht, man kann auch sagen: das Widerfahrnis von Transzendenz sich ereignet.96 92 Ebeling, Dogmatik I, 146. 93 Erstaunlicher Weise geht Müller-Schwefe auf den Umstand nicht explizit ein, dass mit Jesus Christus die ganze Welt profan wird und nicht mehr einzelne Bezirke als heilig ausgesondert sind. 94 Ebeling, Dogmatik I, 148. 95 Ebd., 149. 96 Ebd.
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Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Auslegung des Wortes Gottes
Der Unterscheidung von Rätsel und Geheimnis ist die Unterscheidung von Wissen und Gewissen parallel. Das eine fördert den Menschen in seinem Haben, das andere in seinem Sein. Diese Unterscheidungen sind für Ebeling primär mit der Unterscheidung von Glaube und Denken verbunden. Er notiert aber auch, dass man sich „auch auf Seiten der Vernunft selbst zu einer Unterscheidung genötigt sehen“97 kann. Als Beispiele verweist er auf Pascals Unterscheidung „zwischen der Logik des Verstandes und der Logik des Herzens“ und darauf, dass Heidegger „der wissenschaftlichen Rationalität das Denken geradezu abspricht“.98 Obwohl sich diese Unterscheidung also auch im Bereich des Denkens anmeldet – eben weil bei der Auseinandersetzung mit dem Leben die Dimension des Geheimnisses aufbricht – geht es für Ebeling aus Sicht des christlichen Glaubens „dennoch allein um den Glauben“.99 Dies heißt nicht, dass dem Denken Reflexionen über den Geheimnischarakter des Lebens verwehrt werden sollen, etwa im Namen einer Reinheit des ausschließlich der Welt zugeordneten Denkens, sondern bezieht sich darauf, dass der Mensch die im Geheimnis aufleuchtende Lebensproblematik und damit sich selbst nicht allein mit den Kräften der Vernunft zurecht rücken kann. „Die Vernunft in ihrer reinsten Gestalt erweist sich als ohnmächtig gegen die Sünde des Menschen.“100 Hierfür ist der Glaube zuständig. Hier liegt denn auch für Ebeling der wahre Konflikt zwischen Glaube und Vernunft. Die Vernunft widersetzt sich wegen der Sünde dem Glauben, der das schlechthinnige Abhängigkeitsverhältnis von der Gnade bejaht. „Hier liegt der echte Konflikt von Glaube und Vernunft: dass in den Glauben, der das Gewissen der Menschen betrifft, die Vernunft hineinredet und der Glaube selbst sich davon so leicht verwirren läßt.“101 Es ist ein Konflikt auf der Basis dessen, dass es ein und derselbe Mensch ist, der als Glaubender denkt und als Denkender glaubt. Beide, der Glaube und die Vernunft, haben als gemeinsames Medium die Sprache und die Wahrheit. Wie stellt sich von diesen Überlegungen her der Sachverhalt bei MüllerSchwefe dar? Bei Müller-Schwefe ist nicht vom Geheimnis die Rede. Ein Aufscheinen der Transzendenz im Umgang mit der Welt soll gerade ausgeschlossen werden. Die Wirklichkeit, die der Mensch im Umgang mit der Welt verwirklicht, ist im strikten Sinn endlich und diesseitig. Dennoch ist dieser Umgang nach den Maximen von Abstraktion und Begriff nicht auf die Sphäre des Wissens, Habens und des aus der Distanz zu lösenden Rätsels beschränkt. Wenn auch das Gewissen als einziger Punkt ausgespart ist, geht doch der Mensch ganz in dem Prozess der Verwandlung der Welt auf: in ihm verwirklicht er sich selbst und die gegebene Natur. Diese Selbstverwirklichung, 97 98 99 100 101
Ebd. Ebd. Ebd., 152. Ebd., 156. Ebd., 156.
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die ganz dem Bereich des Denkens und dem Weltumgang zugeordnet ist, ist im genauen Sinne ein Lebensproblem, das mit dem Vollzug des Lebens selbst zu tun hat und damit auf das Geheimnis des Lebens verweist. Im gewissen Sinne ist das auch bei Müller-Schwefe so, insofern die genannte Verwirklichung dem Menschen zeigen soll, dass er nur Endlichkeit und Tod verwirklicht und damit umso deutlicher zu Tage tritt, dass er für die Vollendung seines Seins auf Gott angewiesen ist.102 Das Problematische an der Gesamtkonzeption ist jedoch, dass der Mensch ganz in seinem Weltumgang aufgeht. Bei Müller-Schwefe bleibt gewissermaßen nur die Totalperspektive: die Verwirklichung bringt Endlichkeit und Tod hervor, die Vollendung kann nur Gott bewirken, in einer neuen, anderen Welt nach dem Tod. Dabei wäre es für den auch im christlichen Sinne rechten Gebrauch der Freiheit des naturwissenschaftlichen Weltumgangs entscheidend, dass der Wissenschaftler „um das Geheimnis der Wirklichkeit, wie sie sich im Lebensbezug anmeldet“103 weiß. Die Tätigkeit der Weltverwandlung setzt sich dann gerade nicht absolut als der Bereich, in dem sich der Mensch verwirklicht. Als der Bereich der Verwirklichung des Seins des Menschen erscheint dann vielmehr der dem Gewissen zugeordnete Bereich der Anrede, in welchem der Mensch seine Mitmenschlichkeit lebt. So mag es dann auch im Handeln des Menschen nicht nur zu Endlichkeit und Tod, sondern auch zu Fülle, zu Momenten der Ewigkeit und zu Gelingen kommen, wie es auch dem Schöpfungsglauben entspricht, der die Welt als Gabe des Schöpfers empfängt.
1.3.3.2 Gleichsetzung des Denkens mit Abstraktion und Begriff Der Art der Trennung von Denken und Glauben bei Müller-Schwefe entspricht, dass das Denken einseitig mit Abstraktion und Begriff gleichgesetzt wird. In Anbetracht der intensiven Auseinandersetzung Müller-Schwefe mit der Existenzphilosophie104 ist dies zum einen verwunderlich, in Bezug auf seine Trennung von Denken und reinem Glauben aber konsequent. Denn der Sieg des biblischen über das griechische Denken liegt ja für ihn gerade darin, dass sich das Denken nicht mehr mit der Erkenntnis der „wahren Wirklichkeit“ befasst, sondern ganz im Weltumgang aufgeht. Das hat die merkwürdige Konsequenz, dass man sozusagen für das Denken bzw. die Vernunft ein Verbotsschild aufstellen muss, um ihr das Recht abzusprechen, sich mit dem Geheimnischarakter der Wirklichkeit und allem, was auf Transzendenz verweist, auseinanderzusetzen, wofür allein der Glaube zuständig sein soll.105 102 Müller-Schwefe, Lehre, 109. 103 Ebeling, Dogmatik I, 302. 104 Vgl. Müller-Schwefe, Existenzphilosophie. In diesem Buch setzt sich Müller-Schwefe mit Karl Jaspers, Martin Heidegger, Jean Paul Sartre und Gabriel Marcel auseinander. 105 Dies ist allerdings insofern wiederum konsequent, als die Welt nach Müller-Schwefe diesen Geheimnischarakter gar nicht hat.
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Gerade aus der Sicht des christlichen Glaubens ist m. E. offenkundig, dass damit von der Vernunft gefordert wird, über sich selbst eine partielle Wirklichkeitsblindheit zu verhängen, die zwangsläufig zu Erfahrungsdefiziten führt.106 Konsequenterweise kommt es dann bei Müller-Schwefe zur Kritik an Denkern wie Buber und Marcel, die in ihrem Denken von der Erfahrung der Gnade ausgehen und ihr Raum zu geben versuchen, während die Denker, die ein Bezugnahme auf alles Außerweltliche wie Heidegger ablehnen, oder konsequente Atheisten wie Sartre, den Vorzug bekommen. Das ist bezeichnend, weil sie die Erfahrung des heutigen Menschen besser treffen, die Erfahrung einer im wörtlichen Sinne gottlosen Welt. Es ist offenkundig, dass dieses Verbotsschild künstlich ist, und sich ein seinem Gewissen verpflichteter Denker ganz zu Recht nicht daran hält, ungeachtet dessen, ob er Theologe ist oder nicht. Wie sollte man von ihm verlangen, dass er sich im Denken einer Wirklichkeit und auch allen damit verbundenen Lebensvollzügen gegenüber blind stellt, die er im Glauben anerkennt? Der entscheidende Punkt ist doch nicht, dass das Denken nicht auf die Transzendenz Bezug nehmen darf, sondern dass es anerkennt, dass es allein der Glaube und nicht das Denken ist, der das Leben zurecht bringen kann. Man könnte auch sagen, dass es die Wirklichkeit der Gnade anerkennt oder die bei aller Selbständigkeit der Vernunft gleichzeitige Gültigkeit der Abhängigkeit von Gott. Wenn es dies tut, hat die Theologie keinerlei Veranlassung, dieses Denken aus Furcht vor der Reinheit des Glaubens abzulehnen. Im Gegenteil kann ihr dieses Denken dabei helfen, den Lebensbezug des Glaubens zu konkretisieren.
1.3.3.3 Die vermeintliche Reinheit des Glaubens Der strengen Diesseitigkeit und Weltlichkeit des Denkens korrespondiert bei Müller-Schwefe die vermeintliche Reinheit des Glaubens. Ein Glaube, der allein auf das Wort verwiesen ist, ohne falsche Stützen des Denkens und der Erfahrung.107 Hier werden aus dem richtigen Kern, dass Erfahrung und Denken ohne die durch das Wort vermittelte Erfahrung der Gnade nicht zu Gott und zum Glauben führen, unnötige und verfälschende Konsequenzen gezogen. Der Glaube, dem der Rückbezug auf Denken und Erfahrung verwehrt wird, wird nicht reiner, sondern lebens- und erfahrungsarm. Er trocknet aus und verschließt sich selbst den Zugang zu Gott. Denken und Erfahrung bedingen einander. Erfahrung ist gedeutetes Erleben. Das hat zur Konsequenz, dass ein Leben, in dem sich ein Mensch allein im abstrahierenden, begrifflichen Denken verwirklicht, notwendig zur Erfahrung eines gottlosen Lebens in einer gottlosen Welt wird, so gewiss weder Gott mit begrifflichem Denken zu 106 Dabei ist dann allerdings vorausgesetzt, dass die Welt als Schöpfung in ihrem Bezug zum Menschen Geheimnischarakter hat. 107 Müller-Schwefe, Lehre, 112.
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erfassen ist, noch der Glaube und der Mensch überhaupt im Abstrakten leben kann. Müller-Schwefe selbst stellt fest, dass sich der Mensch umso mehr der Wirklichkeit Gottes verschließt, als er die Welt auf das Berechenbare hin betrachtet und behandelt. Er meint allerdings, dass dadurch deutlicher zu Tage trete, dass die Welt zur Vollendung auf Gott angewiesen ist. „Je mehr der Mensch die Wirklichkeit nur auf das Berechenbare hin anspricht, umso reiner tritt zugleich heraus, dass die Vollendung der Schöpfung nicht in ihren Gesetzen liegt, sondern im Schöpfungswort des Herrn.“108 Für den Menschen, der darin lebt, die Wirklichkeit auf das Berechenbare hin anzusprechen und womöglich darin aufgeht, tritt dies keineswegs reiner zu Tage. Der Verweis auf Gott muss für ihn vielmehr unverständlich bleiben, weil ihm in seinem Denken und seiner Erfahrung kein Platz zugewiesen werden kann. Wenn das Leben der Schöpfung und ihre gegenwärtige Verwirklichung nichts mit Gott zu tun hat, warum sollte dann die Vollendung der Welt etwas mit Gott zu tun haben? Hinzu kommt, dass diese Art des Weltumgangs nicht ohne Folgen für das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen ist. Wenn sich der berechnende Umgang in seinem Leben ganz durchsetzen sollte, wird man kaum mehr sinnvoll von Mitmenschlichkeit reden können. Dann hat der Mensch nicht einmal mehr im Wort der Liebe eines Anderen, dem er vertraut, und das darum sein Leben verändert, einen Erfahrungsanhalt und Resonanzraum für die Wirklichkeit der Anrede Gottes, der es zu vertrauen gilt. Nicht zuletzt deswegen scheint es mir geradezu unmenschlich, die Verwirklichung im Bereich des Berechenbaren zu propagieren, damit der Glaube reiner werde. Dabei wird verkannt, dass letztlich auch das Gewissen, der letzte Bezugspunkt zu Gott, den MüllerSchwefe außerhalb des Glaubens gelten lässt, immer leiser wird und schließlich verstummen muss, wenn der Mensch ganz im Berechenbaren lebt. Der Glaube sollte m. E. auch niemals um der Reinheit und Notwendigkeit seiner selbst willen die Realität des Zwischenmenschlichen und der Liebe außerhalb des christlichen Glaubens gering schätzen oder gar leugnen, wenn diese auch bei Verkümmerung des Glaubens und gleichzeitigem Fortschreiten des begrifflich-abstrahierenden Weltumgangs bedroht ist. Wir sind weniger Zeugen eines Zeitalters der Reinheit des Glauben als vielmehr einer Plausibilitätskrise des Glaubens. Ebenso bestätigen leider die Schwierigkeiten gelingender Nähe zwischen den Menschen und eines daraus erwachsenden gemeinsamen Lebens, sowie die häufig anzutreffende Sinn- und Identitätsproblematik meine Einwände. Ein Glauben ohne Verstehen und ohne positiven Bezug zur Erfahrung hat m. E. nichts mit reinem Glauben zu tun. Die Reinheit des Glaubens hängt vielmehr daran, dass das Gottesverhältnis nicht durch Vorstellungen der Gegenständlichkeit, Berechenbarkeit und Machbarkeit verfälscht wird. Das heißt aber auch, dass der Glaube gar nicht klinisch rein vom Denken getrennt 108 Ebd., 69.
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werden kann, das immer für die Vorstellungen entscheidend ist. Die vermeintliche Reinheit des Glaubens nach Müller-Schwefe verhindert gerade die Reinheit des Glaubens, weil sich unweigerlich falsche Vorstellungen über das Gottesverhältnis einstellen müssen, wenn dieses ohne jede positive Bestimmung mit Anhalt an der Erfahrung bleibt, zumal wenn die Kategorien der Berechenbarkeit und Machbarkeit die einzigen zur Verfügung stehenden sind, die durch Erfahrung plausibel sind. Die bloße Negation der Berechenbarkeit ohne jeden Anhalt an der Erfahrung, kann hier kaum weiterhelfen. Ebeling spricht in diesem Zusammenhang treffend von dem notwendigen „Resonanzraum“, den die Sprache des Glaubens braucht, was keineswegs verhindert, das z. B. die Liebe zu Gott von der Liebe als menschlichem Phänomen zu unterscheiden ist.
1.4 Problematische Konsequenzen 1.4.1 Schöpfung Für die homiletisch zentrale Frage, wie das Wort Gottes als Phänomen der Sprache ausgelegt werden kann, ist entscheidend, wie das Wort Gottes zur Sprache des Menschen ins Verhältnis gesetzt wird. Dies wiederum ist ein Unterfall der schöpfungstheologischen Frage nach der Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch. Es ist daher kein Zufall, dass im Verlauf der bisherigen Untersuchung immer wieder schöpfungstheologische Fragen angeklungen sind. Dies geschah vorwiegend in Form kritischer Anfragen. Im Kern ging es dabei um die Anfrage, ob bei Müller-Schwefe die im Schöpfungsglauben implizierte fundamentale Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf in Gefahr steht, zur beziehungslosen Trennung zu werden. Dies soll zwar einerseits die Rückbindung des Handelns des Menschen an die Verantwortung vor Gott verhindern, andererseits aber erscheint die Schöpfung bzw. Welt bei MüllerSchwefe gänzlich diesseitig und endlich, bar jeder im Geheimnis aufscheinenden Beziehung zur Transzendenz. Die Welt erscheint als von Gott unabhängiger Raum, dessen Verwirklicher der Mensch ist. Angesichts dessen ist fraglich, wie bei der Betonung der Freiheit des Menschen und der Selbständigkeit der Internbezüge der Welt die im Schöpfungsglauben mitgesetzte schlechthinnige Abhängigkeit von Gott als Gegenwartsaussage konkret vorgestellt werden kann. Müller-Schwefe sieht im Gegensatz dazu gerade in dem Umstand, dass der Mensch ganz im Sinne Sartres mit sich und der Welt allein ist, ein Zeichen der Geschöpflichkeit des Menschen. „Das also ist die Wirklichkeit des Menschen heute: Er verwirklicht sich im Denken in strenger Diesseitigkeit und Weltlichkeit und vollzieht damit die Geschöpflichkeit.“109 Geschöpflichkeit heißt 109 Ebd., 109.
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hier, dass dem Menschen als Handlungssubjekt und Verwirklicher der Welt die Qualitäten des Schöpfers abgehen, so dass er nur eine endliche, diesseitige Welt hervorbringen kann. Dies ist im Sinne der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf konsequent. Die Frage ist dann nur, mit welchem Recht die Welt, deren Verwirklicher der Mensch ist, gleichzeitig noch als Schöpfung Gottes angesprochen werden kann, und das heißt dann auch, als Welt, die nicht nur einmal von Gott geschaffen wurde, sondern auch gegenwärtig auf Gott bezogen und in ihrem Sein als Schöpfung von Gott abhängig ist. Für den Menschen als Subjekt der menschlichen Geschichte und Welt ist die Frage, ob er in dieser Tätigkeit als Technokrat verstanden werden kann, der aufgrund begrifflichabstrahierender Reflexion Geschichte und Welt, d. h. seinen Lebensraum auch als zeitlich gewölbten Lebensraum mit Zukunft und Vergangenheit, konstruiert, oder ob hier andere Kräfte am Werk sind, die in ihrem Geheimnischarakter auf die Immanenz des Transzendenten in der Welt verweisen. Die Immanenz des Transzendenten begegnet auch bei Ebeling, wenn es darum geht, die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf nicht zur Trennung werden zu lassen, und die Schöpfungsaussage als Aussage über die Gegenwart zu verstehen. Der Schöpfungsglaube in seiner Relevanz für die Gegenwart hat Auswirkungen auf den Umgang mit der Welt. Die Welt als Schöpfung bekommt für den Menschen ein anderes Gesicht. Durch den Schöpfungsglauben „verändert sich insofern alles, als es für etwas eine Veränderung bedeutet, wenn es in seinem Zusammenhang mit Gott erkannt wird; man könnte auch sagen: insofern, als es die Welt verändert, wenn aus der sich selbst überlassenen Welt ohne Gott die von Gott gewollte Welt wird.“110 Die strikte Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf steht im Dienste einer für die Welt umso wesentlicheren Bezogenheit, was am prägnantesten darin zum Ausdruck kommt, dass der Transzendenz Gottes, ohne dieser zu widersprechen, eine „geglaubte Immanenz“ zur Seite steht. „Die geringste Kreatur wäre nicht Kreatur, wenn nicht der Schöpfer verborgen, tief verborgen, unerkennbar verborgen darin präsent wäre.“111 Es scheint mir offensichtlich, dass dies nichts mit der streng diesseitigen, weltlichen Welt Müller-Schwefes zu tun hat. Um noch einmal mit Ebeling zu sprechen: „was weiß der Mensch vom Wesen der Schöpfung, solange er sie losgelöst von Gott als Welt in Besitz nimmt und sich von ihr in Beschlag nehmen läßt?“112 Die Schöpfungsaussage als Gegenwartsaussage nötigt zu Klärung, wie die mit der Schöpfung behauptete Abhängigkeit von Gott mit der Freiheit des Menschen zusammen gedacht werden kann. Schwierig, wenn nicht unmöglich wird dies, je mehr das Handeln des Menschen und das Handeln Gottes an das Kausalschema angeglichen werden. Dann schließen sich das Handeln des Menschen und das Handeln Gottes unweigerlich gegenseitig aus. Sie können 110 Ebeling, Dogmatik I, 307. 111 Ebd., 314. 112 Ebeling, Dogmatik III, 165.
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Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Auslegung des Wortes Gottes
nicht gleichzeitig und miteinander bestehen. Das Schema Müller-Schwefes geht in diese Richtung. Gott schafft in der Vergangenheit die Welt, der Mensch ist in der Gegenwart der „Verwirklicher der diesseitigen Wirklichkeit“, und nach dem Tod führt Gott eine neue, andere Wirklichkeit herauf. Wie aber ist die Abhängigkeit und das Handeln Gottes zu verstehen, wenn es auch und gerade in der Gegenwart gelten soll? Das Handeln Gottes als Ins-Sein-Rufen ermöglicht es, im Gegensatz zu dem Denken im Kausalschema das Schöpfungsgeschehen als ein Freisetzen zu verstehen. Nicht in dem Sinne, als wäre das einmal Geschaffene damit in die Unabhängigkeit von Gott versetzt, sondern so, dass die das Hören allererst setzende Anrede ein unaufhebbares Gott-Gehören begründet, das sich freilich als solches nur dann erfüllt, wenn es ein Hören auf die Anrede Gottes bleibt. In dieser Relation von Schöpferwort und Hören wiederholt sich die Identität schlechthinniger Abhängigkeit und schlechthinniger Freiheit. Denn das Hören auf das Wort des Schöpfers ist einerseits reines Geschenk, andererseits als solches das Freigesetztwerden des Geschöpfs zum Gegenüber, zum Partner Gottes. In dieser Freiheit des Hörens befindet es sich aber nur dann, wenn sich darin das Hören als Gott-Gehören erfüllt.113
Der entscheidende Unterschied zu Müller-Schwefe ist, dass das Gott-Gehören und das Hören auf Gott bleibende Voraussetzung des schöpfungsgemäßen und damit auch allein schöpferischen Handelns des Menschen in der Welt ist. Das Ins-Sein-Rufen bleibt für die Gegenwart bedeutsam, insoweit der Mensch neu Zukunft gewinnen und gestalten können will und muss. Als Geschöpf und Partner Gottes gilt dem Menschen die Verheißung, dass ihm notwendige Veränderung und Gestaltung von Zukunft gelingt. Bei Müller-Schwefe wandelt sich die bleibende Voraussetzung zum einen in eine einmalige Voraussetzung und zum anderen in eine nachträgliche Verantwortung. Ergebnis des einmaligen Schöpfungsaktes ist die Struktur der Zuordnung von Mensch und Welt als zur Verwirklichung aufeinander angewiesene, prinzipiell unfertige Geschöpfe. Als solche geschaffene Struktur kann sie sich von Gott als ihrem Schöpfer ablösen. Der Mensch ist in die Freiheit versetzt. Diese kann er als Verwirklicher der Welt betätigen, ohne auf Gott zu hören. Der Bezug zu Gott wird in der Verantwortung ein nachträglicher. Er muss verantworten und rechtfertigen, was er aus sich heraus geschaffen hat. Es hat eine gewisse Konsequenz, wenn dann das Handeln Gottes bezüglich der Welt, wie wir noch genauer sehen werden, nur noch so vorgestellt werden kann, dass diese Wirklichkeit gekreuzigt wird, und Gott nach deren Tod eine neue Wirklichkeit schafft.
113 Ebd., 187 f.
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1.4.2 Die von Christus geschenkte Freiheit Wenn bei Müller-Schwefe von der von Jesus Christus gebrachten Freiheit die Rede ist, geht es durchweg darum, „dass Jesus Christus die Welt zur Welt befreit hat“114. Sie ist nun nicht mehr „religiös gegängelte“115 Welt. Auffällig daran ist, dass er nicht, wie nahe liegend wäre, darauf Bezug nimmt, dass sich durch Jesus Christus das Verhältnis von Heiligkeit und Profanität geändert hat. Während vorher bestimmte Bezirke und Bestandteile der Welt als heilig oder unrein ausgegrenzt waren, ist durch ihn alles profan geworden. Vielleicht greift Müller-Schwefe diesen Gedanken deswegen nicht auf, weil seine Kehrseite ist, dass damit auch alles gleichermaßen Gott unterstellt und damit geheiligt ist. Dies widerspräche aber Müller-Schwefes These, dass es gerade die ganz diesseitige Welt ohne Gottesbezug ist, zu der uns Christus befreit hat, womit die Frage nach der durch Christus gebrachten Freiheit unmittelbar an die schöpfungstheologische Problematik anschließt. Müller-Schwefe gibt etwas als Zentrum der von Christus gebrachten Freiheit aus, was sich vom Gottesbezug ablösen lässt und für sich in einer nachchristlichen Welt bestehen bleibt. Ein Aspekt der christlichen Freiheit, die Freiheit zur Welt, wird vom Wesenszentrum dieser Freiheit abgelöst und absolut gesetzt, womit sich die christliche Freiheit nichts weniger als in ihr Gegenteil verkehrt: dem Unterworfen-Sein unter weltliche Mächte, hier in der Gestalt des begrifflich-abstrahierenden Denkens und der dadurch erzeugten Produkte und Dynamiken. Die Freiheit zur Welt gehört zum christlichen Glauben, ist aber nicht ihr Wesen. Das entscheidende ist vielmehr, dass der Mensch nicht sich selbst gehört, sondern Jesus Christus,116 womit das schöpfungsgemäße Gott-Angehören durch Jesus wieder ganz hergestellt und uns ermöglicht wird. Der Glaubende ist dadurch von sich selbst befreit, damit aber auch von dem Zwang, sich selbst z. B. im Verwandeln der Welt verwirklichen zu müssen. Im biblischen Verständnis geht es bei der Freiheit um „die Art, wie sich in Hinsicht auf das Menschsein die Machtfrage stellt: offensichtlich nicht allein durch Mächte, die ihn von außen her in seinem Vermögen einschränken, sondern auch durch Mächte, die er in sich selbst beherbergt.“117 Zu diesen gehören als ausgezeichnete Fähigkeiten des Menschen, seine Fähigkeit zur Abstraktion und Begriff. Müller-Schwefe beschreibt selbst sehr treffend, wie diese den Menschen in neue Abhängigkeiten und Zwänge bringen.118 Das hindert ihn aber nicht daran, das Lamento über diese neu entstandenen Abhängigkeiten und 114 115 116 117 118
Müller-Schwefe, Lehre, 82. Ebd., 83. Vgl. Ebeling, Dogmatik III, 178. Ebd., 177. Vgl. Müller-Schwefe, Sprache, 123: „Indem der Mensch sich von der Es-Dimension abhängig macht, opfert er sich selbst seinem Gemächte auf.“
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die damit verbundene Entfremdung als falsch zurückzuweisen, weil dies eben eine Form sei, wie der Mensch die ihm von Jesus Christus zugewiesene Aufgabe, zu der dieser ihn befreit hat, wahrzunehmen versucht. Es ist Ausdruck dessen, dass dank Christus für den Menschen der „Weg endlich frei“ ist, „als Herr dieser Welt aufzutreten.“119 Damit wird ein weltliches Abhängigkeitsverhältnis, das seine Macht gerade daraus bezieht, dass man sich aus Mangel an Glaubensfreiheit in den Strukturen des Weltverhältnisses selbst verwirklichen muss, als Folge der von Christus geschenkten Freiheit zur Welt bezeichnet, was ein Widerspruch in sich ist. Das Wesen der von Christus geschenkten Freiheit liegt gerade darin, dass sie gleichermaßen von den Ansprüchen und der Macht des Mythos, der „religiös gegängelten Welt“, und des begrifflich-abstrahierenden Denkens befreit. Der Begriff als das entwicklungsgeschichtlich Spätere hat hier keinen Vorrang. Denn beide, Mythos und Begriff, stimmen darin überein, dass sie konkrete Gegenwärtigkeit verhindern, in welcher der Mensch Gott und seinen Mitmenschen offen zugewandt ist. Der Mythos tut dies, wie Müller-Schwefe beschreibt,120 indem er bestimmte Erfahrungen kanonisiert, und damit die Gegenwart von der Vergangenheit her bestimmt sein lässt. Auf diese Weise schränkt er die Offenheit ein. Das begrifflich-abstrahierende Denken tut es, indem es von der konkreten Situation, in der allein sich Gegenwart ereignen kann, ins Begrifflich-Allgemeine abstrahiert. Damit kommt in den Blick, wozu die christliche Freiheit wesentlich befreit. Nicht zur weltlichen Welt, sondern dazu, dem Anderen gegenwärtig zu begegnen und in Liebe dienen zu können. Es geht um die Gegenwärtigkeit und Offenheit, die Anrede des Anderen zu hören und ihr zu antworten, auf der die Verheißung erfüllter Zeit und erfüllten Lebens liegt. Der Mensch ist dann nicht mit sich und der Welt allein, sondern in der Gegenwärtigkeit begegnet ihm im Anderen und in der Welt der in ihr verborgene Gott. Um die die Personalität des Menschen ansprechende Gegenwärtigkeit von der Subjekt-Objekt Relation des Weltverhältnisses zu unterscheiden, schlägt Ebeling vor, dass man, um die christliche Freiheit zu charakterisieren, lieber von der „Freiheit des Gewissens als dem innersten Gehör des Menschen“121 statt vom freien Willen reden sollte. Eine Freiheit, die an die „unverbrüchliche Zugehörigkeit zu Gott, die nicht der Mensch, sondern Gott bewirkt“122 gebunden ist und bleibt. Dieser Freiheit zur Liebe und zum Dienen ist die Freiheit zur Welt und der freie Vernunftgebrauch ein- und untergeordnet. Der Mensch verwirklicht sein schöpfungsgemäßes Wesen nicht im Verwandeln der Welt, sondern in den unmittelbar mit dem Gottesverhältnis verbundenen zwischenmenschlichen Bezügen. Für die Verwirklichung in diesem Bereich – das, was man auch nach 119 120 121 122
Müller-Schwefe, Lehre, 108. Müller-Schwefe, Sprache, 130 ff. Ebeling, Dogmatik III, 190. Ebd.
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Müller-Schwefes anfänglichen Bestimmungen ein Leben in „Verantwortung“ bezeichnen könnte – kommt den begrifflich-abstrahierenden Fähigkeiten allein dienende Funktion zu. Dies bestätigt sich auch darin, dass begrifflich abstrahierende Analyse immer erst nachträglich einsetzen kann, nachdem schöpferische Prozesse des Lebens sich ausagiert haben, die umso mehr schöpferisch sind, als sie dienender Liebe entspringen. Es lassen sich auch bei Müller-Schwefe Stellen finden, in denen er die von mir dargelegten Zusammenhänge selbst anspricht. Dennoch hat dies keine Konsequenzen für die Hauptlinien seiner Argumentation. Hier gilt, dass die „eigentliche Kraft des Menschen“ nicht im Glauben, Lieben und Hoffen liegt, die sein Sein als Zusammensein aktualisieren, sondern „in der Möglichkeit zu abstrahieren“123. Der Mensch als das „Abstraktum“, das er als „transzendentales Subjekt“ ist, „entsteht, wenn er von seiner Freiheit gebrauch macht, in die er gesetzt ist.“124 Die Vermischung der christlichen Freiheit mit der säkular verstandenen Freiheit und Notwendigkeit zur Weltgestaltung und ihre Folgen zeigen sich in bedenklicher Weise in folgendem Zitat: Ja, indem der Mensch sich im Abstrahieren verwirklicht, verliert er sich, indem er sich gewinnt. Er gibt sich aus. Das Ausgeben und Sichweggeben ist der eigentliche Akt der Stärke, die auf Erden herrscht. Eben die Person opfert sich ins Abstrahieren.125
Man kann zwar nicht sagen, dass das „Sich-opfern ins Abstrahieren“ im Kontext dieser Stelle explizit gutgeheißen wird, dennoch ist auffällig, dass Müller-Schwefe hier den Begriff des Opfers verwendet, der von zentraler Bedeutung für seine Auffassung vom Glaubensleben ist.126 Nimmt man hinzu, dass wir zur Verwandlung der Welt von Jesus Christus eingesetzt sind und es zu erkennen gelte, „dass der Herr eben mitten dabei ist, in der Welt Geschichte zu machen,“127 kommt man kaum darum herum, dieses Opfer als Opfer im christlichen Sinne zu verstehen. Das Opfer hat bei Jesus aber eine geradezu entgegengesetzte Bedeutung. Es ist nicht Folge von Abstraktion und zielt nicht auf Abstraktion. Abstrahieren heißt, vom persönlichen Bezug abzusehen und ins Allgemeine, Vertretbare auszuweichen. Jesu Opfer bedeutet aber, dass er persönlich für seine Botschaft von der Versöhnung mit Gott einsteht, und sich darin nicht vertreten lässt oder in eine allgemeine Botschaft von der Liebe Gottes ausweicht. Dadurch wird er das Wort der Versöhnung und der Liebe Gottes an jeden Menschen, das diese zu Personen macht, die dazu befreit und aufgerufen sind, ihrerseits unvertretbar und konkret Liebe zu leben. In dem sich der Mensch in Liebe opfert, bestätigt er sein Personsein. Ein Opfer der
123 124 125 126 127
Müller-Schwefe, Lehre, 106. Ebd. Ebd., 107. Vgl. Cornehl, Zeitgeist, 24 f. Müller-Schwefe, Lehre, 110.
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Person ins Abstrahieren ist m. E. das Gegenteil eines Lebens in Glauben, Liebe und Hoffnung.
1.4.3 Das Auseinanderbrechen der Wirklichkeit Die bereits mehrfach angesprochenen Tendenzen zum Auseinanderbrechen der Wirklichkeit in die gänzlich diesseitige Wirklichkeit des Menschen und der Welt und der ganz anderen Wirklichkeit Gottes bestätigen sich und finden im Gesamtkonzept ihren Schlussstein in Müller-Schwefes Beschreibung des Endes der Geschichte in Jesus Christus. Jesus Christus hat nicht nur in seiner Offenbarung die Menschen endgültig zur Welt befreit, er ist mit Tod und Auferstehung auch der Zielpunkt der ganzen geschichtlichen Entwicklung der Wirklichkeit geworden. „In Jesus Christus kommt die Menschheit zum Ziel.“128 Dieser allgemeine theologische Sachverhalt wird von Müller-Schwefe so verstanden, dass dieses Ziel, das Anbrechen der neuen Welt, erst mit der Auferstehung erreicht wird. „Sein [Jesu] irdisches Leben wird [mit der Auferstehung] in die neue Welt versetzt. […] er kommt zur Gemeinschaft mit Gott.“129 Die neue Welt bricht nicht schon in Jesu Erdentagen mit seinem Handeln an, er lebt nicht schon als der Irdische in Gemeinschaft mit Gott. Das Leben und die Wirklichkeit, wie sie ist, müssen erst durch den Tod hindurch. „In Jesus Christus kommt die alte Menschheit zum Ende. Sie wird gekreuzigt, sie stirbt.“130 Wenn aber die Wirklichkeit, in der wir leben, gekreuzigt werden muss, und die Vollendung der Wirklichkeit in der neuen Welt erst nach dem Tod anbricht, stellt sich die Frage nach dem Sinn der Geschichte post Christum, vor allem auch der Sinn der Befreiung zur Verwandlung der Welt, die ja mit der Inkarnation erst richtig beginnt. Müller-Schwefe beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf die Verborgenheit der Herrschaft Christi, von seinem Wirken in den Erdentagen bis hin zur Erscheinung des Auferstandenen vor den vorherbestimmten Zeugen. Diese Verborgenheit bewirkt die „heilsgeschichtliche Differenz“131 der Wirklichkeit. Als Grund für die Verborgenheit und die heilsgeschichtliche Differenz nennt Müller-Schwefe in diesem Zusammenhang, dass Gott „den Glauben der Menschen sucht“132. Damit ist aber nicht die Frage nach dem Sinn der Weltverwandlung beantwortet, zu der Jesus Christus ermächtigt. Welcher Sinn kann ihr zukommen, wenn alle Wirklichkeit gekreuzigt werden muss, und die neue Welt, in die Jesus Christus in der Auferstehung durch Gott versetzt wurde, erst nach dem Tod anbricht? Müller128 Ebd., 71. Hervorhebung im Original. 129 Ebd. Zuvor heißt es: „die Schöpfung muss gekreuzigt werden, um zur Erfüllung zu kommen.“ Ebd., 25. 130 Ebd., 71. Hervorhebung im Original. 131 Ebd., 74. 132 Ebd.
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Schwefe selbst beschreibt die heutige Wirklichkeit der Weltverwandlung so, dass der Mensch damit nur seine eigene Vergänglichkeit verwirklicht. „Je mehr Zukunft er eröffnet, um so mehr verschließt er sich im Endlichen und verwirklicht den Tod.“133 Obwohl Müller-Schwefe die heutige Verwandlung der Welt durch die Technik als positive Wirkung Jesu Christi beschreibt, als Sieg des biblischen über das griechische Denken, sieht er sie selbst in ihrer faktischen Gestalt immer wieder als Folge der Sünde. Die Verwandlung der Welt führt zur Vergänglichkeit und Tod, weil der Mensch versucht, sich selbst zu verwirklichen und die Vollendung nicht von Gott erwartet. An keiner Stelle aber wird ausgeführt, was die Freigabe der ganz diesseitig gewordenen Welt durch Jesus Christus hinsichtlich des Weltverhältnisses des Menschen im Positiven bedeuten könnte. Stets führt der verwandelnde Umgang mit der Welt zu Vergänglichkeit und Tod. Die wenigen Andeutungen zur Nachfolge verweisen dagegen nicht von ungefähr auf die interpersonale Ebene. So spricht Müller-Schwefe davon, dass die Schöpfung „nur auf dem Wege der Nachfolge, des Kreuzes“ verwirklicht werden kann: „Herrschaft über die Kreatur, Selbstverwirklichung gibt es nur auf dem Wege der Liebe, des Opfers, der Überlegenheit, die die Liebe Christi gibt.“134 In einer Fußnote zu dieser Stelle verweist Müller-Schwefe auf Hannah Arendt, die „mit Recht von der Weltlosigkeit der Liebe Christi und im Zusammenhang damit von der Verborgenheit der Liebe und der Person-Beziehung unter den Menschen gesprochen“135 hat. Trotzdem dies so ist, bleibt für Müller-Schwefe zentral: Jesus Christus hat durch sein Sterben und Auferstehen die Welt verwandelt. Er hat sie auf ihre Bestimmung angesprochen; er hat die Welt zur Welt gemacht, er hat den Menschen zur Herrschaft über die Natur neu angesetzt. Es müßte wohl einmal dargestellt werden, inwiefern gerade Christi Leiden, sein Verzicht auf Macht in der Welt ihm die Macht über die Dinge verleiht und inwiefern er durch seine Passion die Mächte entbunden hat. Aber wie das im einzelnen auch aussieht, grundlegend ist, dass Jesus Christus die Welt zur Welt befreit hat.136
Jesus bringt die ursprüngliche Bestimmung des Menschen wieder zur Geltung, indem er den Menschen zur Herrschaft über die Natur ansetzt, die dann doch nur den Tod hervorbringt. Davon, dass Jesus Christus das Gott-Gehören wieder zur Geltung bringt und ermöglicht, in dessen Folge der Mensch als Partner Gottes nicht nur Tod hervorbringt, sondern Lebensraum gestalten kann und in und aus dienender Liebe Leben wächst, das Gott nicht dem Tod überlässt, ist dagegen nicht die Rede. Es gibt bei Müller-Schwefe kein Anbrechen der Ewigkeit in dieser Welt, das sich durch den Tod hindurch voll133 Ebd., 109. Ich bezweifle, dass der Mensch durch rein begrifflich abstraktes Konstruieren überhaupt Zukunft als zeitlich gegliederten Lebensraum des Menschen eröffnen kann. 134 Ebd., 75. Diesen Bestimmungen kann ich zustimmen, soweit die „Überlegenheit“ nicht das Opfer in die Abstraktion und die damit verbundene ,Herrschaft‘ über die Natur meint. 135 Ebd., FN 64. 136 Ebd., 82.
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endet. Diese Wirklichkeit muss gekreuzigt werden, und wird erst nach dem Tod zur neuen Welt bei Gott. Abgesehen davon, dass der Sinn der durch Jesus entbundenen weltverwandelnden Macht des Menschen fraglich bleibt, wird die Tendenz bestätigt, dass die strikte Unterscheidung von Gott und Welt hinsichtlich des gegenwärtigen Seins in der Welt zur Trennung wird. Die Welt wurde einmal von Gott geschaffen und soll in Zukunft, jenseits des Todes von ihm vollendet werden. In der Gegenwart ist sie dem Menschen überlassen, der sich und die Welt verwirklicht und damit Endlichkeit und Tod hervorbringt. In dieser Konzeption ist nicht vorgesehen, dass der Schöpfungsglaube dazu führt, dass der Mensch die Schöpfung als Versprechen betrachtet, „in dem Gott sich als Geber zusagt“137. Es ist nicht vorgesehen, dass der Schöpfungsglaube eine „Gegenwartsaussage über die Welt“138 ist, die den Umgang mit der Welt ändert, weil die Welt für den Menschen als Schöpfung ein anderes Gesicht bekommt. Es ist nicht vorgesehen, dass sich das Verhältnis zur Welt verändert, „insofern, als es die Welt verändert, wenn aus der sich selbst überlassenen Welt ohne Gott die von Gott gewollte Welt wird.“139 Und es ist auch nicht vorgesehen, dass so Leben gelingt, Ewigkeit sich schon jetzt ereignet und der Mensch daher nicht nur Tod hervorbringt. Es sieht vielmehr umgekehrt so aus, als ob der dem Schöpfungsglauben widersprechende Wille des Menschen, die Welt zu seiner Kreatur zu machen, von Jesus Christus hervorgerufen und gewollt ist, weil er den Menschen zur Herrschaft über die Natur neu ansetzt, wobei der Mensch sich selbst und die Welt verwirklicht. Obwohl Müller-Schwefe davon spricht, dass Gott die Welt nach dem Tod vollendet, ist nicht erkennbar, wie dabei bereits Angebrochenes aufgegriffen und vollendet wird. Stattdessen begegnet Abbruch und Kreuzigung. Die Wirklichkeit zerfällt in die diesseitige Wirklichkeit des Menschen und der Welt, deren Verwirklicher allein der Mensch ist, und die ganz andere wahre Wirklichkeit Gottes. Damit fallen auch Schöpfung und Erlösung auseinander, Jesus und Jesus Christus, unser gegenwärtiges Lebens und das Leben nach dem Tod, die alte und die neue Welt. Der Verantwortungsbegriff, der dieses Auseinanderfallen verhindern soll, ist maßlos überlastet. Er erweist sich als machtlos gegenüber den Verengungen und Verkehrungen des Schöpfungsglaubens und des Verständnisses der christlichen Freiheit, wie er auch das Auseinanderbrechen der Wirklichkeit nicht verhindern kann.
137 Ebeling, Dogmatik I, 308. 138 Ebd., 304. Korsch macht darauf aufmerksam, dass es beim Schöpfungsglauben im Gegensatz zur Kosmologie um ein „Lebensverhältnis in der Welt“ geht. Korsch, Dogmatik, 135 f. 139 Ebeling, Dogmatik I, 307.
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Verkündigung als Verheißung der Vollendung der Welt
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1.5 Verkündigung als Verheißung der Vollendung der Welt nach dem Tod Das Auseinanderbrechen der Wirklichkeit hat Folgen für die Bestimmung und Auslegung dessen, was im Akt der Verkündigung geschieht. In ihm werden ja die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit des Menschen zueinander in Beziehung gesetzt. Für Müller-Schwefe kann das letztlich nur dadurch geschehen, dass dem Menschen die vollendete, neue Welt nach dem Tod verheißen wird. Darum ist für Müller-Schwefe die Auferstehung, verstanden als der Anbruch der neuen Wirklichkeit, der Grund der Verkündigung. Diese Verkündigung ist zudem für Müller-Schwefe genau das, was unserer säkularen Situation gerecht wird. Beides sei im Folgenden kurz als homiletische Konsequenz der Theologie Müller-Schwefes erläutert. 1.5.1 Die Auferstehung als Grund der Verkündigung Das Auseinanderbrechen der Wirklichkeit äußert sich hinsichtlich des Glaubenslebens in der Auflösung der Spannung von „schon jetzt“ und „noch nicht“ in ein einseitiges „dereinst nach dem Tod“. Müller-Schwefe spricht zu Recht davon, dass die Vollendung nicht schon jetzt, sondern erst durch den Tod hindurch geschieht. Problematisch daran aber ist, dass der Tod Kreuzigung des Diesseits bedeutet, und in keiner Weise erkennbar ist, dass sich durch den Tod hindurch bei Gott vollendet, was hier im Leben im Glauben bereits anbricht. Die neue Welt und der neue Mensch brechen nicht schon in Jesu Erdentagen und nicht im Glauben an, sondern in der Auferstehung. In diesem Sinne ist für Müller-Schwefe die Auferstehung und nicht das Kreuz das entscheidende Ereignis: nur wenn sein [Jesu] Leben und Wirken in dem Anbruch der neuen Welt anlandet und also Anfang des Endes, die Vollendung der Wirklichkeit, wurde, hatte sein Leben und seine Verkündigung für uns Sinn, den Sinn der Verheißung Gottes, dass er Sünde, Leid und Tod für uns besiegt und uns zur Vollendung kommen lassen will.140
Die neue Welt bricht strikt erst mit der Auferstehung an. „Dann ist die Auferstehung die Dimension der neuen Welt, in die Jesu geschichtliche Wirklichkeit aufgenommen wurde.“141 Jesus Christus ist „von Gott in die neue Schöpfung versetzt.“142 Dem entspricht, dass das diesseitige Leben des Menschen in der Welt als solches, unabhängig davon, ob es im Glauben geführt wird oder nicht, ge140 Müller-Schwefe, Lehre, 193. 141 Ebd., 194. 142 Ebd., 195.
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kreuzigt und beendet werden muss. Jesu „Kreuz [bedeutet] den Tod, das Gerichtsurteil über den Menschen und seine Welt.“ Und: „sein Kreuz ist das Ende alles Lebens und zugleich der Anfang des neuen.“143 Weil das Neue nicht schon hier im Leben im Glauben anbricht, sondern erst nach dem Tod, ist Jesus Christus für uns wesentlich Verheißung und Zeichen des Zukünftigen. Die Auferstehung wird zur „Verheißung des Ziels“144, zum „Zeichen der neuen Wirklichkeit“145. Nicht, was wir schon jetzt im Glauben erleben, verbindet unser Leben in der Welt mit dem Leben nach dem Tod und lässt etwas vom Neuen aufleuchten und erfahrbar werden, sondern die Erscheinungen des Auferstandenen: „Die Erscheinung des Auferstandenen gehört beiden Bereichen an, der alten und der neuen Welt. So erscheint die neue Schöpfung in der alten.“146 Dem entspricht dann auch das Verständnis dessen, was Glauben und Glaubenszumutung ist: „der Auferstandene erscheint, damit an ihn geglaubt wird. Gerade die Erscheinung des Auferstandenen will zum Glauben führen, sie will geglaubt werden.“147 Glauben ist dann nicht ein Einstimmen in den Glauben Jesu an Gott, eine im aktuellen Lebensvollzug wirksame und Leben verändernde Ausrichtung auf Gott, sondern glauben im Sinne von Für-wahr-Halten einer ganz anderen Wirklichkeit nach dem Tod. Die Zumutung liegt dann darin, dass es für diese andere Wirklichkeit im Diesseits keinen erfahrbaren Anhalt gibt. „Das Zeichen proklamiert also Zukunft und fordert Glauben heraus.“148 Versteht man dagegen Glauben als Leben aus Gott, liegt die Zumutung im Überwinden und Loslassen des eigenen Ich. Weil und soweit das im Glauben an Jesus Christus möglich ist, gibt es auch schon jetzt ein Anbrechen und Erfahren des neuen Menschen. Problematisch an all dem ist nicht, dass Jesus Christus auch Verheißung der zukünftigen Vollendung bei Gott ist, sondern dass er ausschließlich und wesentlich Verheißung ist. Für Müller-Schwefe „verdichtet sich die Existenz Jesu Christi als Verheißung Gottes in der Auferstehung. Sein ganzes Leben und Leiden und Sterben kommt in der Auferstehung zur Konzentration.“149 Müller-Schwefe wendet sich damit explizit gegen Bultmann und Ebeling, für die sich Jesu Wesen und Wirken im Kreuz konzentriert. Ohne darauf hier schon genauer einzugehen, sei doch darauf hingewiesen, dass damit das Wort von der Versöhnung zwischen Gott und Mensch und das Zusammensein von Gott und Mensch ins Zentrum rücken: ein durch Jesus Christus vermitteltes Zusammensein mit Gott, das jetzt im Glauben anbricht und das Leben verändert. Dieses bezeichnet das „schon jetzt“ des Glaubens, dem das „noch nicht“ der Verheißung der Vollendung bei Gott durch den Tod hindurch zur Seite steht. 143 144 145 146 147 148 149
Ebd., 237. Ebd., 201. Ebd., 212. Ebd., 200. Ebd. Ebd., 202. Ebd.
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Verkündigung als Verheißung der Vollendung der Welt
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Der Ausfall des schon jetzt bei Müller-Schwefe bestätigt sich schließlich darin, dass der Glaube die Verwirklichung des Menschen im Weltverhältnis nicht aufbricht hin zu einer Offenheit im interpersonalen Bereich, dem das Subjekt-Objekt Verhältnis ein- und untergeordnet werden kann. Dies ist m. E. als die untrennbare Zusammengehörigkeit von Gottesliebe und Liebe zum Nächsten für die Beschreibung des Glaubenslebens im Neuen Testament zentral, in jedem Fall wesentlicher als das Weltverhältnis im Sinne der SubjektObjekt Relation, falls dieses im Neuen Testament überhaupt angesprochen ist. Für Müller-Schwefe aber gilt hinsichtlich der Verkündigung des Auferstandenen: Dieser Anruf darf nicht nur der Person des Menschen als Subjekt gelten, sondern muß sich auf den Leib richten, auf die Relation von Subjekt und Objekt. Ja, daß ich es deutlich sage: Wenn wir heute erfahren, wie der Mensch als Subjekt das Gegebene verwandelt und darin sein Geschick vollzieht, dann gilt eben dieser Welt, die sich selbst verwirklicht im Subjekt-Objekt-Spiel, die Botschaft vom Auferstandenen: Siehe, ich mache alles neu. […] nur so […] tut [die Kirche] ihr Werk in der Welt, alles auf den jüngsten Tag hinzutreiben.150
1.5.2 Verkündigung an die säkulare Welt 1.5.2.1 Zeitgemäßheit der Verkündigung Die Verkündigung, wie sie im letzten Zitat angeklungen ist, hat für MüllerSchwefe den Vorteil, dass sie das heutige Verständnis von Wirklichkeit trifft. „Wir erkennen in der Zuordnung von Subjekt und Objekt das ,Geschick‘, das dem Ganzen widerfährt und Endlichkeit im exakten Sinne verwirklicht.“151 Und weil der diesem Geschick unterworfene Mensch nach Ernst Bloch von dem Prinzip Hoffnung bewegt ist, entspricht ihr die christliche Verkündigung, die das Ziel der Hoffnung ankündigt: In diesem nachchristlichen Bild der Wirklichkeit kann nun die Auferstehung sinnvoll ausgesagt werden, wenn als ihre Aussage verstanden werden kann: die Wirklichkeit ist von Gott geschaffen, er hat ihr ein Ziel gegeben, die Auferstehung ist der Durchbruch Christi ins Ziel, so daß dieser Durchbruch zum Wort Gottes an alle Wirklichkeit wird.152
An die Ausführungen zum Schöpfungsglauben anknüpfend, bezweifle ich, dass diese „Aussage verstanden werden kann.“ Wenn die Schöpfungsaussage keine Aussage über die Gegenwart ist, weil der Mensch der alleinige Verwirklicher seiner Welt ist, fehlt auch der Aussage über das Geschaffensein der 150 Müller-Schwefe, Lehre, 205. 151 Ebd., 195. 152 Ebd.
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Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Auslegung des Wortes Gottes
Welt und dem damit gesetzten Ziel jegliche Grundlage und Plausibilität. Wenn die Verkündigung des Evangeliums nicht das gegenwärtig wirksame Welt- und Selbstverständnis verwandelt, so dass der Mensch eben nicht mehr der alleinige Verwirklicher der Welt ist, wird der Hinweis auf den zum Ziel durchgebrochenen Jesus kaum Gehör und Glauben finden.153
1.5.2.2 Auseinandersetzung mit Bonhoeffer Wiewohl für Müller-Schwefe die Verkündigung des Auferstandenen der heutigen Situation entspricht, sieht er das Problem, wie in einer säkularisierten Welt von Gott gesprochen werden kann und soll.154 Er setzt sich dazu mit Bonhoeffers Forderung einer nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe auseinander und formuliert schließlich eigene Eckpunkte einer solchen nicht-religiösen Interpretation. Übereinstimmung sieht Müller-Schwefe mit Bonhoeffer erstens darin, dass dieser an der Weltlichkeit und Diesseitigkeit der Welt und zugleich an Jesus Christus als dem Herrn festhält, wobei er die Situation der Diesseitigkeit der Welt als vom Herrn bereitet ansieht. Zweitens teilt Müller-Schwefe Bonhoeffers Kritik an theologischen Konzeptionen, die den Menschen auf seine „Abhängigkeit als Kreatur“ ansprechen, was ihm als Kennzeichen religiöser Rede gilt: Religion spricht den Menschen auf seine Unvollständigkeit an. Sie kann ihm demonstriert werden, weil sie zu seiner Ausstattung gehört. Das mag einmal das Selbstverständnis des Menschen gewesen sein. Heute aber versteht sich der Mensch nicht religiös, nicht von seiner Abhängigkeit her, sondern diesseitig, auf seine Freiheit und Aufgabe hin, diese Welt zu verwirklichen.155
In diesem Sinne versteht Müller-Schwefe die säkularisierte Welt wesentlich als mündige Welt, die in der Verkündigung auf ihre Autonomie im Verwirklichen der Welt und eben nicht auf ihre Abhängigkeit anzusprechen ist. Obwohl Müller-Schwefe große Übereinstimmungen mit Bonhoeffer sieht und seine Forderung einer nicht-religiösen Interpretation des Glaubens übernimmt, ergeben sich bei genauerer Betrachtung doch erhebliche Differenzen, selbst wenn man sich auf Müller-Schwefes Referat Bonhoeffers beschränkt. Wenn Bonhoeffer die religiöse Rede von der Abhängigkeit kritisiert, geht es ihm darum, den Menschen „nicht auf seine Schwächen, sondern auf 153 Müller-Schwefe sieht dies offensichtlich anders, was m. E. darin begründet ist, dass für ihn einerseits das Wirklichkeitsverständnis der Zuordnung von Subjekt und Objekt als Geschick wahr ist, und zum anderen für ihn Jesus Christus als entscheidend für die Vollendung der Welt außer Frage steht. 154 Die Frage lautet, „ob nicht heute das Denken grundsätzlich weltlich geworden ist (seit Hegel) und daher dem Glauben keine Möglichkeit mehr bietet anzusetzen.“ Müller-Schwefe, Lehre, 223. 155 Ebd., 227.
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seine Stärken“ anzusprechen, denn „Gott soll nicht der Lückenbüßer, er will die Mitte sein.“156 Und wenn Bonhoeffer die Diesseitigkeit bejaht, geht es ihm darum, Gott als die Mitte des Seins als entscheidend für das Diesseits zu behaupten: „nicht um das Jenseits, sondern um diese Welt, wie sie geschaffen, erhalten, in Gesetz gefaßt, versöhnt und erneuert wird, geht es doch.“157 Darum gilt für Bonhoeffer : „Das Diesseits darf nicht vorzeitig aufgehoben werden.“158 Und: „Die christliche Auferstehungshoffnung unterscheidet sich von der mythologischen darin, dass sie den Menschen in ganz neuer und gegenüber dem Alten Testament noch verschärfter Weise an sein Leben auf der Erde verweist.“159 Der Gegensatz zu Müller-Schwefe ist offensichtlich, bei dem die Auferstehungshoffnung ganz auf das Jenseits der neuen Welt verweist. Er kritisiert darum auch an Bonhoeffer, zu vergessen, dass der leidende Christus „zur Herrlichkeit durchbrach und zur Rechten des Vaters herrscht“.160 Zudem unterstellt er, dass Bonhoeffer noch nicht gesehen haben könne, „daß die Diesseitigkeit, die das Zeitalter der Abstraktion meint, und die Diesseitigkeit der Bibel zwei verschiedene Dinge sind.“161 Ich bezweifle, dass Bonhoeffer diesen Unterschied nicht gesehen hat, und meine umgekehrt, dass gerade hier Bonhoeffers Streit um das Verständnis der Diesseitigkeit und der Wirklichkeit im Sinne der Bibel und des Glaubens ansetzt. Bonhoeffer versucht m. E. mit der nicht-religiösen Interpretation deutlich zu machen, dass Diesseitigkeit heißt, Gott in der Welt zu begegnen, in dem, was das Leben in der Mitte ausmacht. Unabhängig von Bonhoeffer möchte ich diesbezüglich an die Ausführungen zum Verständnis der christlichen Freiheit erinnern, die darauf hinwiesen, dass die Abhängigkeit von Gott im Sinne des Ins-Sein-Rufens keineswegs im Gegensatz stehen zur menschlichen Freiheit als Handelnder in der Welt. Gott ist hier kein Lückenbüßer, sondern lebendige Mitte der Stärke des Menschen: im Glauben und Lieben wird er frei von dem vermeintlichen Zwang der Gesetzmäßigkeit des Althergebrachten und gewinnt die Kraft, schöpferisch die Welt zu erneuern. Die Stärke des Menschen, schöpferisch in der Welt handeln und Zukunft gestalten zu können, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Fähigkeit zu Glauben und zu Lieben,162 wobei 156 157 158 159 160 161 162
Ebd. Bonhoeffer, Widerstand, 184, zitiert nach Müller-Schwefe, Lehre, 227 f. Bonhoeffer, Widerstand, 227, zitiert nach Müller-Schwefe, Lehre, 228. Bonhoeffer, Widerstand, 226, zitiert nach Müller-Schwefe, Lehre, 228. Müller-Schwefe, Lehre, 225. Ebd., 229. Müller-Schwefe hingegen denkt die schöpferische Kraft des Menschen und sein Vermögen, Zukunft zu gestalten, unabhängig von Glauben und Lieben. Für ihn ist das begrifflich abstrahierende Vermögen des Menschen das Entscheidende. Aber auch dieses Vermögen hat nur so lange neue Zukunft heraufgeführt, als der Mensch vom Glauben an diese seine Fähigkeit und Kraft durchdrungen war und die Lebensverhältnisse auf der Welt dadurch nachhaltig zu verbessern hoffte. Die Verheißung einer besseren Welt hat seine schöpferischen Energien freigesetzt, nicht das begrifflich-abstrakte Denken an sich. An einer vergleichbaren Verhei-
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freilich dort, wo der Mensch schöpferisch tätig war und ist, keineswegs immer Glaube im Sinn des christlichen Glaubens begegnet, und die Liebe sich nicht immer auf alle Menschen als Gottes Geschöpfe bezieht. Immerhin sind dieser Glaube und die ihm korrespondierende Liebe auch in ihrer Verkümmerungsform Hinweis auf das, was die menschliche Welt in der Mitte zusammenhält und allein erneuern kann. Diese Überlegungen stimmen m. E. auch mit Bonhoeffers inhaltlicher Konkretion der nicht-religiösen Interpretation als Kirche für andere überein. Jesu Offenheit und sein Dasein für alle Menschen ist die Liebe, die dem Glauben an Gott den Schöpfer entspricht. Der Glaube, der in solcher Liebe lebt, kann die Welt schöpferisch erneuern. Dann ist der transzendente Gott immanent in der Welt gegenwärtig. „Das ,Fürandere-Dasein‘ Jesu ist die Transzendenzerfahrung.“163 Während also bei Bonhoeffer nicht-religiöse Interpretation darauf zielt, den transzendenten Gott mitten in dieser Welt zu vergegenwärtigen, bedeutet für Müller-Schwefe ,nicht-religiöse‘ Interpretation, die diesseitige autonome Welt im Licht der Zukunft zu sehen. „Und diese Zukunft bedeutet: Gericht über die Welt und den Menschen und Hoffnung des Zukünftigen.“164 Die Kirche hat Jesus Christus als den zu verkündigen, „der durch das stellvertretende Leiden zur Vollendung durchgedrungen ist und dem Menschen ermöglicht, die Diesseitigkeit als endliches Leben im Lichte der Verheißung der neuen Welt zu leben.“165 Was heißt aber, die Diesseitigkeit als endliches Leben im Lichte der Verheißung der neuen Welt zu leben? Der Gemeinde, die im Wort und Sakrament die „Zeichen“ desjenigen hat, „der die Zukunft ist“, wird „die Diesseitigkeit zur Ermächtigung, den Herrn durch ihre Produktion zu preisen, und zur Probe, ob sie die Vergänglichkeit, in der sie alles hineingezogen sieht, im Blick auf die Auferstehung aushalten kann.“166 Ein weiteres wesentliches Kennzeichen der weltlichen Verkündigung Müller-Schwefes ist, dass sie den Menschen bei seiner Selbstverwirklichung und Verwandlung der Welt behaftet und ihn dafür verantwortlich macht. Der Mensch „muß Welt, Diesseits verwirklichen und ist doch stets auf mehr angesprochen. Er muß endlich, sterblich werden und doch darin zugleich festhalten, daß Jesus Christus die neue Welt verheißt.“167 Schließlich ist für MüllerSchwefe die Verkündigung der Anwalt des Geheimnisses und der Verborgenheit des eigentlichen Seins. Dies aber nun nicht in dem Sinne, dass sich im Glauben die geheimnisvollen Bezüge des Lebens offenbaren, und das Leben daraufhin bereits als diesseitiges wesentlicher wird, und so die Ewigkeit an-
163 164 165 166 167
ßung und am Glauben der Menschen mangelt es heute. Der Glaube und das Vertrauen in die unterschiedlichsten zentralen Lebensbereiche der Gesellschaft, sei es Demokratie und Politik, die Wissenschaften oder das Wirtschaftssystem sind erschüttert. Bonhoeffer, Widerstand, 259, zitiert nach Müller-Schwefe, Lehre, 231. Müller-Schwefe, Lehre, 239. Ebd., 238. Ebd., 238 f. Ebd., 238.
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bricht, die sich durch den Tod hindurch vollendet, sondern in dem Sinne, dass das Eigentliche verborgen ist, weil es ganz in der Zukunft liegt. „Das verborgene Leben ist um der Zukunft willen verborgen.“168 Inwiefern diese Verkündigung nicht mythologisch-religiös ist und den Menschen auf Abhängigkeit anspricht, ist schwer zu verstehen. Gerade sie lässt aus der Stärke und Aufgabe des Menschen nur Endlichkeit und Tod hervorgehen.
1.6 Erkenntnisgewinn für die homiletische Theoriebildung Nach diesem kritischen Durchgang durch die Homiletik Müller-Schwefes möchte ich versuchen, Rückschlüsse auf wiederkehrende Problemkonstellationen und entscheidende Knotenpunkte der homiletischen Theoriebildung überhaupt zu ziehen. Die Argumentation Müller-Schwefes mag zum Teil sehr speziell erscheinen, wie überhaupt so viel Theologie, ganz unabhängig von ihrer Gestalt und inhaltlichen Ausrichtung, heute weniger zum Erscheinungsbild homiletischer Theorien gehört. Dies dürfte zu einem Großteil an dem Eindruck und der Meinung liegen, dass eine Überfrachtung der Homiletik mit als spekulativ empfundener Theologie die homiletische Theorie von der tatsächlichen Wirklichkeit der sonntäglichen Predigt entfernt und zu deren Gelingen auch nichts beizusteuern vermag.169 Nicht nur die Homiletik, sondern die Praktische Theologie als ganze versteht sich ja zu Recht als die Disziplin, welche die theologischen Ansprüche und Aussagen mit der Wirklichkeit und dem Wirklichkeitsempfinden gegenwärtiger Menschen vermitteln muss, und ist in diesem Sinne Anwalt sowohl der Theologie als auch der Wirklichkeit. Dieser Punkt aber, die Frage, was heute als Wirklichkeit erfahren wird und erfahren werden kann, und wie daraufhin Glaubensaussagen mit der Wirklichkeitserfahrung vermittelt werden können, scheint mir auch für MüllerSchwefes Gestalt der Homiletik zentral, wenn nicht sogar der Punkt, der letztlich auch über theologische Fragen entscheidet. Daher halte ich MüllerSchwefes Homiletik, gerade weil hier auch bzw. noch massiv theologisch argumentiert wird, für instruktiv bezüglich der Frage nach dem Wirklichkeitsbezug dessen, was in der Predigt geschieht und verkündigt wird. Die Frage selbst scheint mir eine der Schlüsselfragen, wenn nicht die Schlüsselfrage der Homiletik in der Neuzeit, in der im Zuge eines empiristisch verengten Erfahrungsbegriffs der Wirklichkeits- und Rationalitätsstatus all dessen, was mit Gott zusammenhängt, in Frage steht und so für den Plausibilitätsverlust des Glaubens und die Wirklichkeitsaushöhlung der Glaubenssprache sorgt. Meine These, die ich zu erweisen versuche, ist, dass die in eine 168 Ebd., 242. 169 Exemplarisch dafür ist Rössler, Problem, 180 f.
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Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Auslegung des Wortes Gottes
Homiletik bewusst oder unbewusst einfließende Wirklichkeitsauffassung darüber entscheidet, ob und wie die Homiletik dazu verhilft, die Wirklichkeit Gottes und des Menschen in der Predigt zusammen zu bringen bzw. als das, was zusammengehört, in seiner Zusammengehörigkeit auszulegen. Andersherum gesagt: Wenn schon der homiletischen Theorie eine Trennung der Wirklichkeit des Menschen und der Wirklichkeit Gottes zugrunde liegt, oder aber Gott unterschiedslos in der Wirklichkeit des Menschen aufgeht, ist nicht zu erwarten, dass die darauf aufbauende Homiletik dazu hilft, die Verbindung von Gott und Mensch, Glauben und Leben in der Predigt zu befördern oder, im zweiten Fall, die Notwendigkeit und Wirklichkeit verändernde Kraft des Glaubens zum Ausdruck zu bringen. Weil es in der Predigt um die Wirklichkeit des Zusammenseins von Gott und Mensch geht, ist für die Homiletik entscheidend, wie Wirklichkeit als Zusammensein von Gott und Mensch verstanden und erfahren werden kann. Die Schwierigkeit, das Zusammensein von Gott und Mensch unter neuzeitlichen Bedingungen des Denkens und Lebens zu verstehen und zu erfahren, führt bei Müller-Schwefe zu der extremen Ansicht, dass es dieses Zusammensein als gegenwärtig wirkliches und erfahrbares Zusammensein nicht gibt. Gegenwärtige Wirklichkeit ist bei ihm, dass der Mensch mit sich und der Welt allein ist. Die Wirklichkeit des Zusammenseins mit Gott muss dann ganz in die Zukunft verlegt werden. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass dies nicht Ergebnis einer theologischen Reflexion ist, nicht Ergebnis dessen, was von Jesus Christus her sich zu sagen aufdrängt, sondern Folge dessen, was für Müller-Schwefe als erfahrbare Wirklichkeit gelten kann. Es ist nicht Ausdruck der theologischen, sondern der intellektuellen Redlichkeit Müller-Schwefes, an dem festzuhalten, was er als Wirklichkeit des gegenwärtigen Menschen zu erkennen meint. Erst im zweiten Schritt wird auf dieser eigentlichen, feststehenden Grundlage aufbauend diese Wirklichkeitserfahrung theologisch legitimiert. Damit wird paradoxer Weise gerade in Gestalt massiver theologischer Argumentation, welche Jesus Christus als allein bestimmend für die Wirklichkeit behauptet, der Glaube als Gesprächspartner im Streit um die Wirklichkeit ausgehebelt, der die typische Wirklichkeitsauffassung der Moderne und den empiristisch verengten Erfahrungsbegriff wirksam in Frage stellen und das Wirklichkeitsverständnis erweitern könnte. Die Einseitigkeit und Fragwürdigkeit dieser theologischen Argumentation ist bereits exemplarisch an den Themen Schöpfung und Freiheit deutlich geworden. Noch einmal soll aber deutlicher ins Auge gefasst werden, wie gerade die Konstruktion einer vermeintlichen Reinheit des Glauben, die sich vom Denken der Welt separieren zu können meint, dem theologisch unkontrollierten Eindringen und der Dominanz bestimmter Erfahrungen und der damit verbundenen Weltbilder Vorschub leistet. All diese Fragen des Verhältnisses von Gott und Mensch und des Wirklichkeitsstatus der Rede von Gott konzentrieren sich in der Homiletik letztlich in der Frage des Verhältnisses von Gottes Wort und Menschenwort, weshalb
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auch dies noch einmal rekapitulierend bei Müller-Schwefe betrachtet werden soll. Schließlich erwächst aus der ganzen Problematik das für die Predigt konkrete Problem der Sondersprache des Glaubens. Die Sprache des Glaubens wird dann nur noch verstanden, wenn man irgendwie drin ist. Sie wird zum selbstbezüglichen, sich selbst bestätigenden Spiel. Dabei ist Glaubenssprache erst dann wirklich Glaubenssprache, wenn sie im Dialog mit der Sprache der Welt Wirklichkeit deutet und erschließt, und auf diese Weise die befreiende Macht des Evangeliums wirksam werden lässt, wenn sie nicht aus der alltäglichen Wirklichkeit in einen Sonderbezirk auswandert, sondern die alltägliche Wirklichkeit zu ihrer Wahrheit und zum Wesentlichen führen kann.
1.6.1 Der Einfluss von Erfahrung, Denken und Wirklichkeitsverständnis auf die homiletische Theoriebildung 1.6.1.1 Erfahrung dessen, was beanspruchen kann, wirklich zu sein Was für Müller-Schwefe authentische und plausible Erfahrungen seiner und unserer Zeit sind, zeigt sich darin, dass er die grundlegenden Erfahrungen Sartres als wahr erkennt, während er die dem Denken Heideggers und Bubers zu Grunde liegenden Erfahrungen als endgültig vergangene, heute nicht mehr zugängliche Erfahrungen ablehnt, weshalb er ihnen auch romantisierende Tendenzen vorwirft. Vor allem bei der Darstellung Sartres wird deutlich, welche Erfahrungen für Müller-Schwefe heute plausibel und damit wahr sind. Die besondere Stärke des Denkens Sartres sieht Müller-Schwefe dabei ganz im Sinne der Aufgabe der Homiletik und der praktischen Theologie, Anwalt der Wirklichkeitserfahrung des Menschen der Gegenwart zu sein, darin, dass bei ihm der Hauptakzent auf der Reflexion und dem Begriff liegt. Sartre spricht nicht romantisierend von Umkehr und Kehre, sondern stellt die Freiheit und das Engagement des Menschen in den Mittelpunkt. Dieses Engagement und diese Freiheit sind aber ganz ohne Gottes- und Transzendenzbezug zu denken. Müller-Schwefe führt daher gegen Jaspers Erfahrung des Umgreifenden die Erfahrung des reflektierenden Menschen ins Feld, „dass er zwar in der Weise der Reflexion sich selbst und die Welt verwirklicht,“ aber gleichzeitig die Reflexion dem Menschen enthüllt, „dass er allein ist mit der menschlichen Welt, die er durch die Sprache schafft.“: „Denn die Sprache vollendet sich zwar im Begreifen, dieses ist aber die Tätigkeit des Menschen in einer endlichen Welt.“170 Diese Erfahrung des reflektierenden Menschen hängt zusammen mit der Erfahrung des Ekels als der Grunderfahrung Sartres. Aus ihr leitet sich ab: „Der Mensch kommt zu sich selbst, indem er seinen Abstand vom Sein erfährt.“171 Der Mensch erfährt sich als „Für-sich-sein“.172 Er wird in 170 Müller-Schwefe, Sprache, 81. 171 Ebd., 82.
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Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Auslegung des Wortes Gottes
die Sphäre der Freiheit gestoßen. Darin liegt die große Chance des Menschen: „Gerade dass er sich als durch ein Nichts, einen Abgrund vom Sein getrennt erfährt, das macht seine Freiheit, seine Verantwortung für die Welt aus.“173 Es ist die Erfahrung des Für-sich-Seins, der ein bestimmtes Verständnis von Freiheit entspricht, das letztlich für Müller-Schwefe bestimmend ist, obwohl, wie gezeigt, von Jesus Christus her noch anderes zum Verständnis der Freiheit zu sagen wäre. Die Bedeutung der Erfahrung des Für-sich-Seins und der Entfremdung für Müller-Schwefes Homiletik wird dadurch verschleiert, dass er explizit beansprucht, Buber, Heidegger und Sartre als komplementäre Wahrheiten zueinander in Beziehung zu setzen. Letztlich werden aber die Erfahrungen Bubers und Heideggers auf die Rolle des Konstituierens des freien Handlungssubjekts reduziert und damit für die gegenwärtige Erfahrung und das damit verbundene Verständnis von Wirklichkeit irrelevant. Das hat seinen deutlichsten Ausdruck und seine bedenklichste Konsequenz darin, dass der Mensch als alleiniger Verwirklicher der Welt mit dieser allein ist. Die Erfahrung der Begegnung im Sinne Bubers ist für Müller-Schwefe keine wirkliche Alternative zur Erfahrung Sartres, und fällt damit als Argument im Streit um die Wirklichkeit aus: „Denn so wahr wir in einer immer schon gedeuteten Welt leben und vom Du her angerufen werden, so wahr ist zugleich, dass das Ich Welt und Du als Entfremdung erfährt, die es nur in Freiheit als eine unendliche Aufgabe übernehmen kann.“174 Es gibt nicht die Ambivalenz zwischen gelingender Begegnung und Erfahrung der Entfremdung in der Begegnung mit dem Du, sondern nur die Erfahrung der Entfremdung, die als unendliche Aufgabe des für-sich seienden Subjekts als Ausdruck seiner Freiheit übernommen werden muss. Für MüllerSchwefe gilt de facto, dass der Mensch immer schon in der Entfremdung lebt, das heißt, er muss aus der Welt der Objekte, der Vergangenheit sich immer abstoßen und aus der Welt des anderen sich durch das Manöver der Liebe in den Raum der Freiheit emporzuarbeiten versuchen.175
Das, was für Müller-Schwefe plausible Erfahrung des Menschen ist, bestimmt, was de facto seine Wirklichkeit ist, nach der er sich in seinem Verhalten richten muss. Damit wird Sartres „Manöver der Liebe“, das m. E. eine verzerrte Form und Verkümmerungserscheinung der Liebe ist,176 zur bestimmenden Wirk172 173 174 175 176
Ebd. Ebd., 81. Ebd., 85. Ebd., 86. Hervorhebung von mir, ML. Bei diesem Manöver geht es darum, die eigene Subjektivität vor dem objektivierenden Blick des anderen zu schützen. „Ist es wahr, dass meine Gebundenheit daher stammt, dass der andere als Subjekt mich als Objekt sieht, so muss ich also dafür sorgen, dass der andere mich nicht als Objekt sieht, sondern mich vergrößert, so dass ich für ihn nicht mehr Objekt, sondern
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lichkeit des Menschen erklärt. Was Buber nicht müde wird, als Erfahrung der Begegnung zu beschreiben, wird damit als mögliche Erfahrung und Wirklichkeit des heute lebenden Menschen ignoriert und ausgeschlossen. Damit erweist sich aber auch das Anliegen, die unterschiedlichen Ansätze von Buber, Heidegger und Sartre als komplementär geltende Wahrheiten aufeinander zu beziehen, als nicht durchführbar, so sympathisch dieses vermittelnde Anliegen auch sein mag. Die Behauptung des primären „Für-sichSeins“ bei Sartre ist präzise die Verneinung des ontologischen Primats einer intersubjektiven Sphäre des Zwischen. Der Mensch kann nicht gleichzeitig zu sich selbst kommen, indem er seinen Abstand vom Sein erfährt, und indem sich ihm das Sein im Anwesen entbirgt (Heidegger), oder indem er allererst in der Sphäre der Intersubjektivität die Ebene des Seins erreicht (Buber). Es stehen einander nicht drei komplementäre, sondern nicht miteinander vereinbare Auffassungen des Menschseins gegenüber, mit weitreichenden Konsequenzen z. B. für die Bestimmung dessen, was unter Freiheit oder Verantwortung verstanden werden kann und soll. Die Unvereinbarkeit der ontologischen Implikationen zeigt sich offenkundig in einem Grundsatz Sartres, den Müller-Schwefe zitiert: „Die Existenz geht der Essenz voran. Der Mensch schafft sich selbst.“177 Dieser Grundsatz kann nicht in dem Sinne mit den Auffassungen Heideggers oder Bubers für vereinbar erklärt werden, dass hier das Sein eben aus der Perspektive des Begriffs betrachtet wird. Er bezeichnet vielmehr präzise eine Auffassung vom Menschen, in der dieser sich selbst schafft. Vielleicht rächt sich an dieser Stelle die Schematisierung MüllerSchwefes, die den Geist einseitig dem Begriff zuordnet. Sie leistet dem Missverständnis Vorschub, dass die Angewiesenheit des Menschen und die Rolle der Empfänglichkeit im schöpferischen Prozess auf Name und Ausdruck reduziert werden können, während der Mensch im Geist aus sich selbst Welt setzt. Demgegenüber hat sich gerade der geistige Vorgang des Ins-Sein-Rufens als entscheidend für die bleibende Abhängigkeit des Menschen im Sinne des Schöpfungsglaubens erwiesen.
1.6.1.2 Theologische Legitimation des für wahr gehaltenen Wirklichkeitserlebens Den entscheidenden Beleg für meine Annahme, dass die Plausibilität der Erfahrung entscheidend ist für die Homiletik Müller-Schwefes und die theologische Argumentation erst sekundär darauf aufbaut, sehe ich darin, dass Müller-Schwefe, wie gezeigt, sowohl schöpfungstheologisch, als auch, was die von Jesus Christus gebrachte Freiheit betrifft, auffallend einseitig allein das ein absoluter Wert bin, dem sich die Subjektivität des anderen, also seine Freiheit unterwirft.“ Ebd., 85. 177 J.P. Sartre, Existentialismus, 14, zitiert nach Müller-Schwefe, Sprache, 82.
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Weltverhältnis des Menschen betrachtet, das ja tatsächlich, wenn man von der begrifflichen Abstraktion als der entscheidenden Wirklichkeit ausgeht, allein entscheidend sein kann. Das interpersonale Verhältnis ist immer konkret und nie begriffliche abstrakt. Es spricht m. E. viel dafür, dass diese Einseitigkeit und die damit verbundene aufgezeigte theologische Problematik durch die für den heutigen Menschen als wahr angesehene Wirklichkeitserfahrung begründet ist. Sogar Müller-Schwefe selbst kommt nicht darum herum, bei der Darstellung der Bewegung des Wortes Gottes im Alten und Neuen Testament immer wieder das interpersonale Geschehen ins Zentrum zu rücken,178 was ihn allerdings zu keiner Korrektur der Grundlinien seiner Argumentation veranlasst, obwohl er doch explizit beansprucht, bei der Darstellung der Struktur der Sprache immer schon vom Wort Gottes her zu kommen.179 Im Kern der theologischen Argumentation begegnet dabei eine Denkfigur, die paradoxer Weise einen Kritik und Weitung gegenwärtig verengter Wirklichkeitserfahrung durch die Erfahrung des Glaubens verhindert und so in den Dienst einer Rechtfertigung der am begrifflich-abstrahierenden Denken orientierten Wirklichkeitsauffassung tritt. Diese Figur behält den Bereich des Du exklusiv der Offenbarung vor, weshalb die Erfahrungen des Du, auf die Buber rekurriert, als mit dem Sündenfall nicht mehr vollziehbar angesehen werden. Diese Auffassung erlaubt Müller-Schwefe in der Auseinandersetzung mit Sartre einerseits die Verfälschung des ursprünglich von Gott Gemeinten zu diagnostizieren und diese dann doch als unsere faktische Situation anzusehen. So schreibt er zu Sartres Analyse des Blicks, der zum Objekt macht: das ist faktisch so. Der Blick des anderen macht zum Objekt, und auch die Idealisierung des Objekts in den Höchstwert spricht nicht dagegen. Aber es ist nicht wahr. Sondern vielmehr ist in der Fixierung durch den anderen die Verfälschung der Sprache immer schon spürbar. Das Zeichen dafür ist die Scham. […] Entscheidend ist, dass die Fixierung durch die Sprache des anderen immer schon eine Verdrehung der Sprache, auch der Gebärde ist, und dass dieser ,Fall‘ der Sprache zwar nicht rückgängig gemacht werden kann – das hat Sartre in der Analyse der Scham gut gesehen –, aber eben als Verkehrung dem Menschen nicht unbewußt ist.180
Entscheidend scheint mir hier das Verständnis des Sündenfalls und seiner Folgen für die Wirklichkeit des Menschen im Verhältnis zur Wirklichkeit Gottes. Ist der Sündenfall, wie Müller-Schwefe meint, ein Herausfallen aus bestimmten Möglichkeiten der Existenz, die damit für den Menschen auch nicht mehr Wirklichkeit sind, oder betrifft der Sündenfall das Vermögen des Menschen, den Anforderungen seiner Existenz jederzeit in angemessener 178 Vgl. z. B. die Ausführungen dazu, dass Jesus sein Titel von anderen zugesprochen werden muss. Müller-Schwefe, Sprache, 179 f, oder die Ausführungen zur Offenbarung des Namens Gottes im AT. Ebd., 153. 179 Ebd., 142. 180 Ebd., 88. Hervorhebung von mir, ML.
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Weise zu entsprechen? Bedeutet der Sündenfall die Unmöglichkeit der Erfahrungen des Du oder die Ambivalenz von Gelingen und Scheitern der Erfahrung des Du, die der Mensch von sich aus nicht aufheben kann? Letztlich geht es dabei um die Frage, ob man an der einen Wirklichkeit, in der Gott und Mensch zusammen gehören, festhält, auch wenn diese Zusammengehörigkeit durch den Sündenfall von Seiten des Menschen verdeckt und gestört ist. Dann gehören aber auch die Anforderungen und das partielle Gelingen des Du zumindest im zwischenmenschlichen Bereich, der auf das Du Gottes verweist, zum Erfahrungsbereich des Menschen. Offenbarung und Erlösung durch Jesus Christus bedeutet dann nicht das Eröffnen des vorher verschlossenen Bereichs des Du, sondern Anteilgabe an dem Vermögen, aus dem Du Gottes zu leben und so den Anforderungen des Du im zwischenmenschlichen Bereich gerecht zu werden. Umgekehrt sieht man bei Müller-Schwefe, wie das Aussparen des Bereichs des Du für die Offenbarung die Wirklichkeit aufspaltet in die gottlose Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt und der ganz anderen Wirklichkeit Gottes. Schließlich zeigt sich, wie die theologische Legitimation der Weltverwandlung des Menschen durch Müller-Schwefes Deutung der von Jesus Christus gebrachten Freiheit zur Rechtfertigung und Apologie dieser Weltverwandlung wird, trotz der damit verbundenen Erfahrungen der Verarmung des Lebens. Diese werden von Müller-Schwefe bei seiner Analyse der Sprache der Gegenwart schonungslos offen gelegt. Wahrheit zielt demnach nicht mehr auf die Wahrheit meines Lebens, sondern nähert sich immer mehr der Sachlichkeit an. Entscheidend ist nicht, was sich in meiner Situation, sondern was sich öffentlich zuträgt. W. Kamlah, den Müller-Schwefe hier zitiert, drückt es so aus: „Die Welt ist öffentlich, indem die Sprache es ist, und diese Allgemeinheit ist der vorbereitete Boden für die Allgemeinheit des Logos … Wir verstehen einander, indem wir miteinander die Welt verstehen.“181 Hier hat sich der Weltbezug absolut gesetzt und die vom Weltbezug zu unterscheidende Wirklichkeit der zwischenmenschlichen Begegnung zum Verschwinden gebracht. So aber muss „der Mensch zum einzelnen in der Masse“ werden, er lebt nicht aus der Begegnung mit dem konkreten, einzigartigen anderen, sondern „von dem, das allen zugänglich ist“182. Die Sprache verliert ihren „unverwechselbaren Klang“183 und nimmt den Ton der Sachlichkeit an. Die Sprache wird „immer mehr allgemein, abgeschliffen, verbindlich im Sinne der Richtigkeit, unverbindlich aber, was die Wahrheit oder die persönliche Betroffenheit angeht.“184 Fachsprachen nehmen immer mehr Raum ein. Neben ihrem Vordringen ist die Verwandlung der Sprache durch die öffentlichen Medien – damals Radio, Fernsehen, Kino – kennzeichnend: „Das Du wird als 181 182 183 184
W. Kamlah, Mensch, ohne Seitenangabe zitiert bei Müller-Schwefe, Sprache, 112. Müller-Schwefe, Sprache, 113. Ebd., 112. Ebd., 113.
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Lehen, als angewandter Fall des Es verstanden. Das Ich im Ausdruck nimmt für seinen Gestus beim Fernsehen und im Kino Maß.“185 Was im öffentlichen Medium gezeigt wird, wird Maßstab für das, was wirklich und gültig ist. Der Mensch gerät in Versuchung, die unwirkliche Wirklichkeit für die Erfüllung des Lebens zu halten. Er bemüht sich, in dieser imaginären Welt zu leben. Er gebraucht noch das Du; aber es ist nur eine Ableitung vom großen ,Man‘ der Öffentlichkeit. […] Schwer kann der Mensch dem Gewicht dieser allgemeinen und imaginären Daseinsbewältigung entgehen. Sie bietet ihm Erleichterung, Sicherheit und Erhöhung des Lebens. Er zahlt dafür mit seinem Leib und mit seiner Seele.186
Obwohl Müller-Schwefe dies alles so beschreibt, weigert er sich, angesichts dieser Phänomene wie andere über „den Verlust der Unmittelbarkeit“ zu trauern. Denn wir können in der Bewegung des Menschen, die gegebene Wirklichkeit ins Künstliche, in Phantom und Matrize zu verwandeln, keinen Abfall des Menschen vom Menschlichen sehen, sondern eine Weise, die Freiheit zu betätigen und dem Auftrag, die Welt als Welt zu nehmen, zu entsprechen.187
Dieses Nicht-Können entspringt weniger dem, was in Jesus Christus begegnet, als dem, was Müller-Schwefe für unsere Wirklichkeit als entscheidend ansieht. Peter Cornehl, der Assistent Müller-Schwefes war, nennt die Relevanz von Technik und Naturwissenschaft ein konstantes Grundmotiv der theologischen Arbeit Müller-Schwefes. „Als Schüler Karl Heims und auf Grund der intensiven Gesprächskontakte mit Physikern und Philosophen wie C.F. v. Weizsäcker, G. Howe und A.M.K. Müller hat er die geistesgeschichtliche Engführung der hermeneutischen Theologie überwunden und die Relevanz der modernen Naturwissenschaft und Technik erkannt. Er wußte: Hier geschehen die entscheidenden Veränderungen der Wirklichkeit.“188 Es ist aber zweierlei, die 185 186 187 188
Ebd., 123. Ebd. Ebd., 124. Cornehl, Nachruf, 44. In der Würdigung zum 70. Geburtstag von Hans-Rudolf Müller-Schwefe „Interdisziplinäre Forschung als geschichtliche Herausforderung“ heißt es im Vortrag Cornehls, in dem er Müller-Schwefe direkt anspricht: „Mit diesem Interesse an Naturwissenschaft und Technik überschritten Sie die traditionellen Grenzen hermeneutischer und historischer Theologie. Die Gründe dafür haben Sie uns oft genug eingeschärft: Hier entscheidet sich unsere Zukunft, weil durch das moderne naturwissenschaftliche Denken, durch Geist und Konstruktion der Technik unsere Wirklichkeit unwiderruflich bestimmt und in einen Prozeß radikaler Verwandlung hineingezogen wird. Bei aller Vielfalt der Themen war und ist das Ihr konstantes Grundmotiv: uns Theologen und Kirchenleuten einzuweisen in die ganze Härte dieses Prozesses der Säkularisierung mit allen ihren Folgen, in die Erfahrung der Endlichkeit, der Verzeitlichung und Vergeschichtlichung des Daseins, in die großartige Dynamik und tiefe Zweideutigkeit dieser Vorgänge, welche die Grundstrukturen der Gesellschaft, der Kultur, der Seele und auch des Glaubens verändern.“ Würdigung, 19, Hervorhebung von mir, ML.
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Relevanz von Technik und Naturwissenschaft für das gegenwärtige Erleben der Wirklichkeit anzuerkennen oder deren Einfluss und Wirkungen als im Sinne Jesu Christi zu rechtfertigen.189 Dass es zu diesen problematischen Konsequenzen kommt, hängt nicht unwesentlich mit der Vorstellung zusammen, Glaube und Denken seien um der Reinheit des Glaubens willen zu separieren. 1.6.1.3 Der Einfluss des Denkens auf die Theologie Obwohl Müller-Schwefe im Namen der Reinheit des Glaubens eine strikte Trennung zwischen Glauben und Denken fordert, hat das Denken seiner nicht-theologischen Zeitgenossen Sartre und Heidegger großen Einfluss auf seine Auffassung vom Glauben in unserer Zeit und seine Theologie. Das hat den berechtigten Grund, dass er nicht an seiner Zeit vorbei reden möchte. So kommt es dazu, um ein zentrales Beispiel zu nennen, dass die von Heidegger behauptete Zuordnung von Subjekt und Objekt als Geschick für seine Theologie letztlich entscheidender ist als die z. B. in der Trinitätslehre und vielen anderen zentralen Aussagen des Glaubens ausgesagte, durch den Geist vermittelte, interpersonale Beziehung zwischen Gott und Mensch und die damit verbundenen Folgen für das zwischenmenschliche Zusammenleben. Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass das Argument, die Zuordnung von Subjekt und Objekt als Geschick und die Existenzerfahrung im Sinne Sartres sei eben die von Christus bereitete Situation, die entstehenden Verzerrungen nicht wieder korrigieren kann, sondern dazu führt, dass MüllerSchwefe diesen Denkmustern und Erfahrungen zum Teil unkritisch verfällt und damit dem Glauben und der Theologie keinen guten Dienst erweist. Der Einfluss des Denkens auf die Theologie ist unvermeidlich. Jede Interpretation des Glaubens und der Bibel muss bereitstehende Denkmuster aufgreifen oder sich zumindest an ihnen abarbeiten. Eine strikte Trennung von Denken und Glauben ist so unmöglich wie ihre Forderung kontraproduktiv. Es kommt darauf an, dass die Denkmittel geeignet sind, die Wirklichkeit des Lebens und der Welt so auszudrücken, wie es dem in der Begegnung mit Jesus Christus Erkannten entspricht. Die Zuordnung des Glaubens zu Gott und des Denkens zur Welt im Sinne einer strikten Trennung verhindert dies aktiv. Sie führt dazu, dass die bereitliegenden Denkmittel nur mehr das Leben des Menschen in einer Welt ohne Gott auszusagen vermögen. Auf diese Weise entschwinden die Kategorien, die notwendig sind, um das Leben und die Welt in ihrem Wesen und ihrer Mitte von Gott betroffen und bestimmt auszusagen. 189 Dabei zweifle ich nicht daran, dass Müller-Schwefe mit seiner Theologie letztlich allein Jesus Christus dienen wollte. Hierzu schreibt wiederum Peter Cornehl: „Was er wollte in diesem Buch [Christus im Zeitalter der Ökumene] und in allen seinen Büchern, war : Christus die Ehre geben. Das was wirklich die Grundkonstante seiner theologischen Existenz.“ Cornehl, Zeitgeist, 29.
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Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Auslegung des Wortes Gottes
Weil aber das Leben doch Thema werden muss, wenn vom Glauben gesprochen wird, schieben sich die Theorien, welche den Menschen in der Welt ohne Gott beschreiben, in den Vordergrund. Was Theologie leisten soll, nämlich die Wirklichkeit des Menschen als von Gott geschaffen, erhalten, erlöst und dereinst vollendet zu entfalten, wird so gerade verhindert. Übrig bleibt dann nur, der Ansage der ganz anderen Wirklichkeit Gottes aus Mangel an heilvollen Alternativen blind zu glauben. 1.6.2 Die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch, Wort Gottes und Menschenwort Wenn es in der Predigt um die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch geht, ist entscheidend, wie die Wirklichkeit Gottes zur Wirklichkeit des Menschen im Verhältnis gesehen wird. In der Homiletik konzentriert sich diese Frage in der Verhältnisbestimmung von Wort Gottes und Menschenwort. Sieht man das menschliche Leben wie Müller-Schwefe als wesentlich sprachlich verfasst und in sprachlichen Bezügen sich vollziehend an, sind beide Fragen ohnehin sehr nahe beieinander. Wenn aber das menschliche Leben tatsächlich als wesentlich sprachliches zu verstehen ist, muss die Sprache als gemeinsames Medium von Gott und Mensch aufgefasst werden, ohne damit Gott von der Sprache umschlossen und begrenzt sein zu lassen, wenn die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch nicht nachträglich zum Menschsein des Menschen hinzutreten soll. Dies ist denn auch, wie wir weiter unten sehen werden, die These der hermeneutischen Theologie Ebelings. Unbestritten dürfte sein, dass Gott dem Menschen sowohl im Gesetz, als auch im Evangelium auf sprachliche Weise begegnet. Die Frage aber ist, ob Gott nachträglich in eine vom Gottesbezug unberührte Sprache des Menschen eingeht, oder ob die Sprache als menschliche Sprache grundsätzlich auf Gott bezogen ist. Wenn der Mensch als Mensch nur in seinem Zusammensein und seiner Bezogenheit auf Gott verstanden werden kann, kann m. E. nur letzeres der Fall sein. Die Offenbarung des Gesetzes deckt dann auf, was immer schon als Gesetz das Leben des Menschen bestimmt. Das Evangelium ist demgegenüber als Wort der Liebe den Menschen neu treffendes und sein Leben verwandelndes Wort. Aber auch das Evangelium setzt die Anrede der Liebe als immer schon zum menschlichen Leben gehörende Möglichkeit der Sprache voraus. Der Glaube, der Gott als den Quell aller Liebe erkennt, weiß, dass diese Möglichkeit dem Menschen immer schon aus seinem Zusammensein mit Gott zukommt. Wenn diese Überlegungen richtig sind, verwundert es nicht, dass die Trennung der Wirklichkeit in die Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt und die ganz andere Wirklichkeit Gottes bereits in Müller-Schwefes Verhältnisbestimmung zwischen Wort Gottes und menschlicher Sprache angelegt ist. Wiewohl er den Gott der Offenbarung im Anschluss an Pascal dem Gott der
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Erkenntnisgewinn für die homiletische Theoriebildung
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Philosophen als den redenden Gott des Dialogs gegenüberstellt, „der den Menschen ruft“190, gibt es für Müller-Schwefe keine besondere Affinität des Wortes Gottes zum Du der menschlichen Sprache. Im menschlichen Du begegnet nicht in verborgener Weise das Du Gottes, wie dies etwa auch Mt 25 nahelegen würde, vielmehr ist ihm das Du von Mensch zu Mensch ein Unterfall des von Gott fern zu haltenden Weltbezugs des Menschen: Welche Sprache spricht nun der Gott der Offenbarung? Ist nicht der ganze Sprachraum des Menschen vom Menschen und von der Welt besetzt? Das Du spricht die Beziehung von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Ding, von Mensch zum Ereignis aus; aber immer ist hier die Welt gemeint.191
Damit wird der Bereich des Du als Ort, in dem in der Immanenz Transzendenz aufscheinen kann, ausgeschlossen. Müller-Schwefes Antwort auf die eben selbst gestellt Frage ist nun, dass der Gott der Offenbarung in die Sprache des Menschen eingeht, sie damit bestätigt und gleichzeitig ihren rechten Gebrauch wieder herstellt: „Das Sprechen des Menschen hört nicht auf; aber es wird von Gott benutzt und damit zugleich zerbrochen wie geheiligt.“192 Müller-Schwefe verdeutlicht dies am ersten und zweiten Gebot, das alle Verderbnis im Bereich des Du und Ich aufdeckt und verbietet. Damit bestätigt er indirekt doch, dass der intersubjektive Bereich die Sphäre ist, in welcher der Gottesbezug des Menschen zur Entscheidung steht.
1.6.3 Das Problem der Sondersprache Wie bei Müller-Schwefes Ausführungen zum ersten und zweiten Gebot kommt bei seiner Darstellung des Wortes Gottes im Alten und Neuen Testament immer wieder der interpersonale Charakter des Wortes Gottes deutlich zum Ausdruck. Müller-Schwefe kann sogar das Wortgeschehen der Liebe als Ort der Kontinuität zwischen Gott und Mensch bezeichnen: Das Wort, der Anruf der Liebe ist der Finger, den Gott nach seinem Adam ausstreckt; es ist der Punkt der Kontinuität zwischen Gottes- und Menschenwelt. Und der Glaube, der Gottes Sohn den Namen ,Herr‘ gibt, ist der Finger, durch den der Mensch Gottes Schöpfungswort annimmt.193
Das Wortgeschehen zwischen Gott und Mensch ist ein Wortgeschehen interpersonaler Begegnung und dadurch gestifteter Gemeinschaft. Das Wort will „in die Gemeinschaft mit dem Vater ziehen“. „Das Wort ist Communio.“194 190 191 192 193 194
Müller-Schwefe, Sprache, 138 Ebd., 138. Ebd., 139. Ebd., 148. Ebd., 149.
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Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Auslegung des Wortes Gottes
Diese Aussagen stehen unverbunden neben der Beschreibung des Menschen, für den in seiner Sprache nicht die Möglichkeit zu Anrede und Gemeinschaft, sondern die Subjekt-Objekt Relation des Weltbezugs bestimmend ist. Das aber hat zur Folge, dass das von der Bibel her über die Gottesbeziehung und den Glauben Gesagte keinen Resonanzraum in der Beschreibung dessen hat, was menschliches Leben auch heute seinem Wesen nach ausmacht. Die Beschreibungen der Wirkungen des Wortes Gottes auf den Menschen werden zu theologisch richtigen, aber sich der Konkretion verweigernden Aussagen. Es wird nicht der Versuch unternommen, das mit dem Wort Gottes verbundene Geschehen zwischen Gott und Mensch vom interpersonalen Geschehen zwischen Menschen verständlich zu machen und zu deuten. Stattdessen erscheinen Worte wie Hören, Gehorsam und Glauben immer wieder als nicht weiter entfaltete und damit abstrakt bleibende Schlusspunkte der Ausführung.195 In den Ausführungen zur Himmelsbrotrede spricht Müller-Schwefe sogar davon, dass Verstehen in Glauben, Gehorsam und Hören verwandelt werden soll,196 womit das Unverständnis gegenüber den abstrakt bleibenden theologischen Aussagen legitimiert wird. Hören und Glauben kann ja durchaus sinnvoll im Sinne der Anrede als interpersonales Geschehen vom bloßen Verstehen eines theologischen Zusammenhangs differenziert werden. Der Gegensatz zum Verstehen bezeichnet hier aber eine unterschiedliche Bezugnahme auf Jesus, und schließt keineswegs aus, sondern ein, diese unterschiedliche Bezugnahme und das Leben des Glaubens im Unterschied zu anderen Lebensäußerungen zu verstehen. Im Gegenteil: wenn nicht deutlich ist und an der Erfahrung entfaltet wird, welche Rolle Hören, Glauben und Gehorsam im interpersonalen Beziehungsgeschehen zwischen Gott und uns spielen, stehen sie als letztlich unverstandene Forderung im Raum. Die „Communio“ mit Gott, das Hören und Glauben werden so zu Kernbegriffen einer nur für den Bereich des Glaubens gültigen Sondersprache, die sich einer Vermittlung mit den Erfahrungen der Menschen verschließt. Die fehlende Interpretation an Hand der interpersonalen Erfahrungen des Menschen verschließt aber nicht nur den Zugang zur Sprache des Glaubens, sondern bereitet zudem Missverständnissen und Fehlinterpretationen den Weg. Worte und Aussagen werden ja immer irgendwie verstanden, zu- und eingeordnet. Im Kontext der Ausführungen Müller-Schwefes liegt es dann nahe, Hören und Gehorchen als Handlungen eines selbständigen Subjekts zu verstehen, und nicht von dem das Subjekt umgreifenden Beziehungsgeschehen her, von dem allein die Gegenüberstellung zum Verstehen im Sinn einer Unterscheidung von Ereignis und Reflexion verständlich wird.
195 Wenn man Bonhoeffers Überlegungen zum Hang der Deutschen zum Gehorsam bedenkt, wäre gerade hier eine konkrete Beschreibung nötig, um nahe liegende Fehldeutungen zu verhindern. Vgl. Bonhoeffer, Widerstand, 14. 196 Müller-Schwefe, Sprache, 195.
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Erkenntnisgewinn für die homiletische Theoriebildung
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Ebenso wie die Aussagen über die Gemeinschaft mit Gott, das Hören und den Glauben, bleiben Müller-Schwefes Hinweise auf die Verantwortung gegenüber Gott abstrakt. Was aber würde geschehen, wenn man versucht, Verantwortung konkret zu denken? M.E. kommt man dann gar nicht darum herum, nicht nur vom Verhältnis zu Gott, sondern auch vom Verhältnis zu anderen Menschen zu reden. Etwa so, dass die Fähigkeit zur Abstraktion genutzt und verantwortet wird, um einen Missstand oder ein Leid abzuwenden, das einem in anderen Menschen konkret begegnet. Verantwortung und Wahrnehmung der Freiheit hieße dann, den Anruf zur Hilfe gelten lassen und auf ihn zu antworten. Die Fähigkeit zur Abstraktion, die bei Müller-Schwefe das Wesen der Freiheit ausmacht, hat dabei lediglich dienende Funktion. Eine Verantwortung gegenüber Gott, die sich im Willen Gottes nicht an den Mitmenschen gewiesen sieht, erscheint mir undenkbar. Kurz gesagt: Wenn man fragt, wie die Verantwortung der Abstraktion die Sünde bändigt, sich selbst verwirklichen zu wollen, kommt man gar nicht umhin, Freiheit, Verantwortung und Geist im Bereich des Intersubjektiven wurzeln zu lassen, und nicht mit Begriff und Abstraktion gleich zu setzen. Dann kann auch konkret entfaltet werden, was Leben in Verantwortung heißt, und wie dies mit Gesetz und Evangelium zusammen hängt.
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2. Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation 2.1 Exemplarisches und Spezifisches bei Engemann Von Müller-Schwefe herkommend erscheint Engemanns Vorgehen in vielem als Reaktion und Antwort auf das Problematische, das dort begegnet. Analyse und Vorgehen gegen das Problem der Sondersprache der Predigt, die durch redundante Wiederholung ihres Sprachspiels den Beitrag des Hörers aktiv verhindert, durch den dieser seine Wirklichkeitserfahrungen einbringen kann, sind wesentliches Thema der Semiotischen Homiletik. Im Hintergrund steht dabei die Problematik des Auseinanderfallens der Wirklichkeit. Zum einen wird sie konkret am Auseinanderfallen von Hörerwirklichkeit und Predigtsprache analysiert und bearbeitet. Zum anderen dient die Inkarnation dazu, die Einheit der Wirklichkeit und die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch theologisch zu erweisen und ein Auseinanderbrechen in eine menschliche Wirklichkeit und eine ganz andere Wirklichkeit Gottes zu verhindern. Schließlich betont Engemann gegenüber einer vermeintlichen Reinheit des Glaubens das unvermeidliche Beieinander von Kultur und Kommunikation und damit die kulturelle Bedingtheit auch der Glaubenssprache und Theologie. In der inkarnationstheologischen Argumentation und der Orientierung am konkreten Vorgang der Predigt ist Engemanns Homiletik exemplarisch für die homiletische Gegenbewegung gegen die von der dialektischen Theologie bestimmte Homiletik. Gerade in der Übergangsphase ist das Auseinandertreten der einen Wirklichkeit in die Wirklichkeit menschlichen Alltags und eine „eigentliche“ andere Wirklichkeit Gottes kritisiert worden, wobei immer wieder auch auf die Inkarnation Bezug genommen wurde. Ebenso typisch ist, konkret den Vorgang der Predigt in den Blick zu nehmen, zum Teil auch verbunden mit der kritischen Frage, was von der theologisch behaupteten Wirklichkeit tatsächlich beim Hörer ankommt. Dietrich Rössler hat zu Beginn dieser Phase der Homiletik programmatisch formuliert, dass die konkrete, von theologisch überhöhten Ansprüchen befreite, Wirklichkeit der Sonntagspredigt mit ihren Schwierigkeiten und Herausforderungen im Mittelpunkt der Homiletik zu stehen hat.1 Um die Realität der konkreten Sonntagspredigt auch wissenschaftlich methodisch gegen überzogene Ansprüche der Theologie abgrenzen und un1 Vgl. Rössler, Problem, 177 – 191.
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
tersuchen zu können, hat sich die Homiletik und wie die Praktische Theologie überhaupt den empirischen Wissenschaften zugewandt. Damit sind aber nicht-theologische Wissenschaften und Methoden, die explizit vom Gottesbezug der menschlichen Wirklichkeit absehen, zur Grundlage der Beschreibung des Vorgangs der Predigt geworden. Auch in dieser Hinsicht ist Engemanns Bezugnahme auf die Semiotik und ihr Status im Gesamt seiner homiletischen Theoriebildung exemplarisch. Mehrfach begegnet bei ihm das mit Emphase vorgebrachte Argument, dass die Theologie die Wirklichkeit der Kommunikation und ihre realen Bedingungen, wie sie die Semiotik beschreibt, nicht übergehen und außer Kraft setzen könne. Damit ergibt sich aber, trotz der im Vergleich zu Müller-Schwefe ganz unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Intention der Herangehensweise, eine ähnliche Schwierigkeit und Problematik: wie kann die Predigt die menschliche Wirklichkeit als auf Gott bezogen und soteriologisch auf Gottes Handeln verwiesen aussagen und an der Erfahrung plausibel machen? Während bei Müller-Schwefe die Wirklichkeit des Menschen und die ganz andere Wirklichkeit Gottes auseinander zu brechen drohen und in der Folge das Wirklichkeitserleben ohne Gott eher bestärkt als aufgebrochen wird, ist bei einer Konstellation, in der Theorien, die vom Gottesbezug bewusst absehen, die für die Beschreibung der Wirklichkeit des Vorgangs der Predigt herangezogen werden, zu fragen, ob und wie die Bezogenheit dieser Wirklichkeit auf Gott dennoch zur Geltung kommt. Der Aufmerksamkeit auf diese Frage liegt die Annahme zugrunde, dass die theologisch reflektierte oder nicht reflektierte Auffassung des Homiletikers über das, was als wirklich gelten kann, entscheidend ist für die Gestalt seiner Homiletik und in der Folge dafür, ob diese Homiletik dazu hilft, die Wirklichkeit des Menschen in ihrer Bezogenheit auf Gott in der Spannung zwischen Anspruch des Gesetzes und Zuspruch des Evangeliums zum Ausdruck zu bringen. Bei der konkreten Untersuchung und Beantwortung dieser Frage rückt das Spezifische der Homiletik Engemanns in den Vordergrund, das im Wesentlichen darin besteht, dass er den Vorgang der Predigt als Kommunikation versteht, die er mit Hilfe eines semiotischen Theorierahmens untersucht. Damit ist Engemanns Homiletik nicht nur bezüglich der neueren Homiletikgeschichte ein exemplarisches Gegenstück zu Müller-Schwefe, sondern auch eine spezifisch andere Möglichkeit, die sprachlichen Vorgänge und Grundlagen der Predigt in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Abgesehen von den unterschiedlichen philosophischen und sprachwissenschaftlichen Hintergründen,2 besteht der Unterschied darin, dass Müller-Schwefe beansprucht, in seiner Beschreibung der Struktur der Sprache vom Wort Gottes herzukommen, während Engemann sich die Vorgänge der Kommunikation von der semiotischen Theorie erhellen lässt. Von diesem Spezifikum 2 Müller-Schwefe ist eher vor dem Hintergrund hermeneutischer philosophischer Strömungen zu sehen, während die Semiotik eher der analytischen Philosophie zuzuordnen ist.
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Engemanns Beitrag zur Predigtanalyse
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Engemanns her, d. h. von seiner Rezeption der Semiotik in der Homiletik ausgehend, ergeben sich für die Fragestellung dieser Arbeit drei Untersuchungsfelder. (1) Die Semiotische Homiletik bietet einen Beitrag zur Predigtanalyse, der mit Hilfe der Semiotik Kommunikationsweisen entlarvt, die aktiv verhindern, dass der Hörer sich und seine Wirklichkeitserfahrung einbringen kann und so ein beziehungsloses Auseinanderfallen der Sprache der Predigt und der Wirklichkeit des Hörers provozieren. Dem steht ein Modell zur Seite, wie mit Hilfe der Einsichten der Semiotik der Hörer durch die Predigt dazu motiviert werden kann, sich und seine Erfahrung einzubringen und so den Text und den Hörer zusammen zu bringen. Der Beitrag Engemanns zur Predigtanalyse ist in jedem Fall geeignet, dass Problembewusstsein für die spezifische Schwierigkeit zu erhöhen, die Sprache des Glaubens und die Wirklichkeit der Hörer zusammen zu bringen. Es wird aber hinsichtlich der von Engemann vorgeschlagenen Antwort der „ambiguitären Predigt“ auch zu fragen sein, ob und inwiefern die spezifische Schwierigkeit, die Wirklichkeit des Hörers als auf Gott bezogen auszusagen, reflektiert und behandelt ist. (2) Das Verhältnis von Semiotik und Theologie in der homiletischen Theorieentfaltung Engemanns ist im Wesentlichen durch eine inkarnationstheologische Argumentation bestimmt, die in ihrer Stichhaltigkeit und ihren Konsequenzen zu untersuchen ist. Darüber hinaus soll gefragt werden, wie die Semiotik mit ihren zweifellos wichtigen Einsichten für die Homiletik anders als über das Inkarnationsargument so rezipiert werden kann, dass ihr Gewinn und die theologische Perspektive gleichermaßen und dem homiletischen Interesse dienend zur Geltung kommen. (3) Schließlich soll untersucht werden, wie Engemann in seiner Einführung in die Homiletik versucht, nicht nur den Vorgang, sondern auch das Wesen der Predigt theologisch als Kommunikation auszulegen. Dabei zeigt sich bei ihm selbst, dass die semiotische Perspektive zu ergänzen ist, wenn man zu inhaltlichen theologischen Aussagen kommen will.
2.2 Engemanns Beitrag zur Predigtanalyse: Verhinderte Kommunikation mit dem Hörer Bei Müller-Schwefe sind wir bereits auf das Problem der Sondersprache der Verkündigung gestoßen, dass die Glaubenssprache der Predigt die Wirklichkeit der Hörer nicht trifft und in ihrem Gottesbezug erschließt, sondern mit einer anderen Wirklichkeit konfrontiert, die vielleicht in sich stimmig ist, aber in ihrem Verhältnis zur Lebenswirklichkeit der Hörer sich der Konkretion entzieht. Die von Engemann mit Hilfe der Semiotik vorgenommenen Predigtanalysen bestätigen in eindrücklicher Weise diesen Befund und helfen
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
zugleich, ihn methodisch präzise zu beschreiben. Sie zeigen, wie sich die offensichtliche Verlegenheit, die Sprache des Glaubens konkret mit der Sprache der Welt ins Gespräch zu bringen, wahrscheinlich mehr unbewusst als bewusst Auswege in bestimmte Kommunikationsstrategien sucht, die zum einen die Glaubenssprache intern stabilisieren und bestätigen und zum anderen das Einbringen widerständiger Erfahrung verhindern. So entsteht gerade nicht ein Dialog der Glaubenssprache mit der Sprache der Erfahrung der Menschen, sondern ein abgeschlossener, von dem Austausch mit den Erfahrungen der Menschen abgeschirmter Bereich der Predigt. Was ich als Sondersprache bezeichne, nennt Engemann eine „obturierte Predigt“, womit das „Abdichten“ der Predigt gegen ihre Aussagen gefährdende Interpretationen gemeint ist.3 Die zentralen von Engemann herausgearbeiteten Mechanismen der „Obturation“ sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.
2.2.1 Lexematische Tendenz und semantischer Reim: Aufbau einer selbstgenügsamen Sonderwelt Eines der Mittel, durch affirmative und wortreiche Rede den Schein von Bedeutsamkeit zu erzeugen, bezeichnet Engemann als „lexematische Tendenz“4 : „theologieinterne Abstraktkorrelativa werden aneinandergereiht und führen schließlich zu einer quasi-synonymen Geschlossenheit der semantischen Pfade einer Predigt.“5 Als Beispiel nennt er eine Predigt, die den Besitz des Himmelreiches6 mit den Worten auszulegen versucht, dass „Gott die Tür in sein Reich auftut, […] [daß] er das Heil nicht nur zuruft, sondern schenkt, […] ein Reich [nämlich], das nicht im Himmel bleibt, sondern die Erde erfüllt, … (daß) das Reich Gottes Erbarmen mit den Menschen ist, (als) der volle Anblick Gottes, an dem wir nicht sterben, sondern wahrhaft leben […].“7Damit wird aber der Besitz des Himmelreiches nur durch schön klingende Wendungen erneut ausgesprochen, und nicht mit der Wirklichkeit und Erfahrungswelt der Hörer in Beziehung gesetzt, so dass diese den Besitz des Himmelreichs in seiner Bedeutung für sich erschließen könnten. Die Aussagen der Predigt bestätigen und stützen sich durch positiv konnotierte Wendungen selbst, vermögen aber nicht die Wirklichkeit der Hörer aufzuschließen 3 Engemann, Homiletik, 107: „Der Begriff ,Obturation‘, beheimatet vor allem in der Fachsprache von Medizin und Chemie, bezieht sich auf das Abdichten von Funktionssystemen. Ausgänge, Übergänge, Zugänge usw. werden dabei blockiert, verschlossen, verstopft.“ Hervorhebung im Original. 4 Mit dem Ausdruck lexematisch bezeichnet Engemann Ausdrücke, die sich nur ihrer Wortgestalt nach unterscheiden lassen, aber nicht zur aneignenden Interpretation herausfordern. 5 Engemann, Homiletik, 113. 6 Engemanns Predigtanalysen liegen Predigten zur Seligpreisung Mt 5.3 zugrunde. 7 Engemann, Homiletik, 114. Klammern im Original.
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Engemanns Beitrag zur Predigtanalyse
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und zum Heilvollen hin zu verändern. Es findet kein Dialog statt. In den Worten Engemanns: „Die Interpretation kommt zum erliegen.“8 Der lexematischen Tendenz verwandt ist das „Verfahren“ des „semantischen Reims“, bei dem an die Stelle einer erschließenden Auslegung eine „quasi-synonyme Wechselbegrifflichkeit“9 tritt. In einem Predigtbeispiel „reimt“ sich in dieser Weise „unverlierbares Heil“ auf „Heilszustand“, „Herrlichkeit“, „Glück“ und „Vollendung“. In einer andern bildet sich die Kette „Himmelreich“, „Himmelsreichtum“, „Gottesreichtum“, „freie Gabe der ewigen Liebe“, „Gnadengeschenk Gottes“, „groß, allen irdischen Werten überlegen“ und „unermeßlich“.10 Auch hier wird durch schöne Worte verschleiert, dass unklar bleibt, wie Glück und Vollendung konkret im Glaubensleben erfahren werden können.
2.2.2 Obsoleter Pfad und subcodierte Kombinatorik: Ausweichen in Bekanntes Während die beiden bisher verhandelten „Verfahren“ Wirklichkeit und Bedeutsamkeit erschließende Konkretion durch synonyme Ausdrücke ersetzen, geht es beim „obsoleten Pfad“ und der „subcodierten Kombinatorik“ darum, dass Predigten Wirklichkeit nicht mehr neu erschließen und in Bezug auf Gott aufschließen, sondern bereits etablierte Deutungen erneut auf- und abrufen. Der Effekt ist, dass der Predigthörer sich die Predigt nach den entsprechenden Signalen im Grunde selbst halten kann. Was einmal eine „erschließende Lesart“ war, wird zur „abschließenden Lesung“.11 Beim „obsoleten Pfad“ ist das Signal eine eingeführte „semantische Achse“, an der entlang schreitend alles Weitere entfaltet wird. So z. B., wenn durch die Feststellung, dass mit den Armen im Geiste „Menschen auf der Schattenseite des Lebens gemeint sind“ die semantische Achse Schattenseite/Sonnenseite eingeführt wird. Es folgt dann ein „Abschreiten kultureller Einheiten aus der Rubrik Schattenseite/ Sonnenseite“,12 das im Grunde keine die aneignende Interpretation fördernden neuen Informationen bietet. Während in den im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Fällen Bedeutung durch eine Fülle synonymer Ausdrücke auf Seiten der Glaubenssprache suggeriert wird, soll hier der Wirklichkeitsbezug durch eine Anhäufung von Stichworten auf Seiten der Welterfahrung gesichert werden. Beide Male mangelt es an gegenseitiger Durch8 9 10 11 12
Ebd. Engemann, Homiletik, 117. Beide Beispiele ebd. Ebd., 115. Ebd. Im Beispiel sind dies „Physisch und psychisch Kranke“, „Gescheiterte“, Menschen ohne Hoffnung“, „Arme der Dritten Welt“, wirtschaftlich Ausgebeutete“, „bedrängte Minderheiten“, in schlechten „Wohnsituationen“ Lebende, „in Ideologien verbohrte“.
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
dringung und wechselseitiger Interpretation von Glaubenssprache und Welterfahrung. Die „subcodierte Kombinatorik“ arbeitet nicht mit einer semantischen Achse, sondern mit einem die ganze Auslegung bestimmenden Subcode. Als Beispiel nennt Engemann eine Predigt, die nach der Lesung von Mt 5,3 („Selig sind, die da geistig arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich“) mit den Worten beginnt: „Wer dieses Wort verstanden hat, […] der hat Luther verstanden.“13 Luthers Rechtfertigungslehre und sein „seliger Tausch“ werden damit zum Paradigma, „an dem die Überzeugungen des Predigers exemplifiziert, bewahrheitet und aktualisiert werden.“14 Der Predigthörer erfährt auf diese Weise mehr über die theologischen Ansichten des Predigers, als dass der Glaube aktuell mit der Welterfahrung ins Gespräch kommt. Im genannten Beispiel kommt noch hinzu, dass gemäß des lutherischen seligen Tausches „über das /Himmelreich/ nicht in komparativen Relationen zur Erfahrungswelt der Hörer gesprochen werden [kann].“15 Von der Problematik des aktuellen Zusammensprechens von Gott und Welt aus betrachtet, ist die „subcodierte Kombinatorik“ ein Ausweichen in bereits etablierte Interpretationsmuster, die ihrerseits einer aktualisierenden Interpretation bedürften. Engemann drückt dies so aus: „Es ist die Frage, ob eine Predigt, die man sich nach Bekanntgabe des Subcodes als einer kombinatorischen Regel auch selbst halten kann, noch als Evangelium bezeichnet werden darf.“16
2.2.3 Wir-Alle-Syntax und erwartete Paradoxie: missglückte Verbindung von Glaubenssprache und Welterfahrung Die bisher besprochenen „Predigtstrategien“ haben den Dialog der Glaubenssprache mit der Welterfahrung dadurch umgangen, dass sie durch wortreiches Aufblähen einer der beiden Seiten Bedeutsamkeit suggeriert haben oder auf eine bereits etablierte, aber nicht mehr aktuell erschließende Deutung zurückgegriffen haben. Nun geht es um die problematischen Versuche eines aktuellen Brückenschlags. Dieser gelingt umso besser, je differenzierter konkret an der Erfahrung die Bedeutung des Glaubens aufgewiesen wird. Die von Engemann so genannte „Wir-Alle-Syntax“ ist demgegenüber nur der Schein einer aktuellen Vermittlung von Glaubenssprache und Erfahrung, der letztlich kaum etwas Spezifisches aussagt und sich der Konkretion verweigert. Wiederum für Mt 5,3 gilt: „Wenn alle ,arm‘ sind, ist keiner mehr ,arm‘.“17 Allgemein gesagt dient die „Wir-alle-Identifikation“ dem Prediger 13 14 15 16 17
Ebd., 118 f. Ebd., 118. Ebd., 119. Ebd. Ebd., 121.
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Engemanns Beitrag zur Predigtanalyse
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dazu, „jede auch noch so sperrige textliche Individualität mit einer Wir-alleProgrammsteuerung zu verkabeln.“18 Das vollmundige „letztlich wir alle“ suggeriert Aktualität der Aussage des Bibeltextes, bleibt aber in den untersuchten Predigten meist ein „Postulat, das im Grunde autoreflexiv ist und die Predigt nicht anderes sagen läßt, als dass sie gilt.“19 Das spezifische Potential des einzelnen Textes, die Zusammengehörigkeit unseres Lebens mit Gott konkret zu erschließen, wird nicht genutzt. An Stelle eines u. U. schwierigen Wegs der Vermittlung von Text und Gegenwart, der auch wenig schmeichelhafte Selbsterkenntnis einschließen kann, dafür aber auch neue Perspektiven, wählt man das Ohnehin-Gelten der Aussage für alle, das alles beim Alten lässt und nichts kostet. Diese Art der Verallgemeinerung, die pauschal Aktualität einer Aussage für alle reklamiert, führt zu der von Engemann so bezeichneten „erwarteten Paradoxie“, die darin besteht, dass zunächst entfaltete spezifische Aussagen dann doch für alle, in welcher Situation sie auch gerade seien, gelten sollen. Während /die Armen im Geist/ zunächst mit denen identifiziert werden, ,die den tiefen Riß in ihrem Leben zwischen Gott und ihnen mit Schmerz spüren‘ und ,die [Akkusativ] Menschen [Nominativ] ablehnen‘ – wer dürfte sich wohl mit Fug und Recht dazuzählen? – kommt die Predigt wiederum wie selbstverständlich zu dem Schluß, dass das Himmelreich ,an keine Bedingung geknüpft‘ ist, und es überrascht eben nicht, dass es ,von Gottes Gnade allein abhängt, ob wir Arme im Geist sind‘.20
Auf diese Weise wird sowohl die Aussage über den Schmerz der Gottferne, als auch die Einsicht, dass in bestimmter Perspektive alles von Gottes Gnade abhängt, in ihrem Potential neutralisiert, Gott und Leben zusammen zu denken. Der „tiefe Riss“ müsste statt dessen durch konkrete Beschreibungen von Lebenssituationen, die offen sind für eigene Erfahrungen, als Deutung des Lebens, mit der sich die Hörer auseinandersetzen können, angeboten werden. Über die Bedeutung der Gnade für unser Leben wiederum erfährt der Predigthörer kaum etwas, wenn sie abstrakt dazu dient, eine für den Glauben als günstig angesehene Einstellung oder Lebensweise potentiell allen zuzuschreiben. Die erwartete Paradoxie ist daher eine „spannungslose Paradoxie, die viel mit dem Reclamecode, etwas mit Ideologie und wenig mit Offenbarung zu tun hat.“21
18 19 20 21
Ebd., 120 f. Hervorhebung im Original. Ebd., 121. Ebd., 123. Ebd.
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
2.2.4 Reklametypische Plausibilität und ideologische Persuasion Engemanns Hinweis auf Formen „reklametypischer Plausibilität“ in Predigten ist insofern wichtig, als er noch einmal in besonderer Weise deutlich macht, dass und wie der Dialog zwischen Glauben und Welterfahrung, und damit die Auseinandersetzung und der Streit um die Wirklichkeit, umgangen und verdeckt wird. Denn für Reklame ist typisch, dass der Botschaft zugestimmt wird, weil sie ohnehin für erstrebenswert gehaltene Inhalte transportiert, und nicht, weil einen eine neue Einsicht überzeugt hätte. Bezüglich der Predigt bedeutet dies, dass ihrer Botschaft zugestimmt wird, weil der Prediger bestätigt, was der Hörer ohnehin für erstrebenswert hält, und nicht, weil eine aktuelle Erfahrung durch den Glauben neu und überzeugend erschlossen und gedeutet würde. Solche Botschaften erfüllen dann primär eine „metasprachliche Funktion ihres Kommunikationsverhältnisses mit dem Hörer : ,Wir setzen uns für das ein, was Sie immer schon geglaubt und gedacht haben‘.“22 Das als positiv Akzeptierte und Erwünschte wird dabei meist nur wie ein „Emblem“ aufgerufen, das „gewohnheitsmäßige Reaktionen“23 hervorruft, aber nicht ausgelegt. So heißt es in einer Predigt über das Himmelreich, das der Armut verheißen wird: „Das ist etwas ganz Lautloses und Stilles […] Das kann kein Mensch aussagen, wie das ist, wenn ,das Himmelreich ihr‘ ist; das kann sich nur zeigen und wird sich schon zeigen.“24 Die Verlegenheit, Gott und die Welt zusammen zu denken und zu sprechen, ist mit Händen zu greifen. Kommen mehrere der genannten problematischen Kommunikationsstrategien zusammen, führt das zu einer ideologischen Art der Kommunikation, die im Grund eine Verweigerung des Dialogs mit der erfahrenen Wirklichkeit ist. Ideologisch wird ein „semantisches System“ dann gehandhabt, „wenn man dessen Charakter als partielles semantisches Feld verschleiert und die komplexen Zuordnungen dieses Feldes als unabhängig, in sich selbst begründet und somit ,absolut‘ deklariert.“25 Dies beschreibt recht genau den Charakter einer Predigt, die sich damit begnügt, ihre theologische Richtigkeit und Gültigkeit zu deklarieren, ohne den Zusammenhang dieser Aussagen mit der Erfahrung und Wirklichkeit der Hörer darzutun, weil von dieser Seite Anfragen und Widerspruch befürchtet werden. Auf diese Weise kommt es aber nicht zu Deutung und Erschließung von Wirklichkeit, geschweige denn zu so etwas wie „Licht der Wahrheit“. Die ideologische Strategie funktioniert im Gegenteil nur, wenn die konkrete Bedeutung der gegebenen Interpretation im Dunkeln gehalten wird. Die „tragenden Begriffe“ sind „ausschließlich […] abstrakte Korrelate, die jeden aufkeimenden Widerspruch und Einspruch (der 22 23 24 25
Ebd., 125. Ebd., 126. Ebd., 125. Ebd., 127 f. Hervorhebung im Original.
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Ambiguitäre Predigt als Antwort auf die Analyse?
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aus den Prämissen resultierte) ignorieren, einer internen Plausibilität huldigen und sich somit vor jeder denkbaren Kompatibilisierung absichern.“26 Die Glaubenssprache ist für die ideologische Falle insofern anfällig, als ihre mit Gott zusammenhängenden Bestimmungen, in dem Sinne als „absolut“ und „unabhängig“27 von der Welt verstanden werden, dass die Welt von Gott her zur Wahrheit geführt wird. Dies geschieht ja aber gerade nur so, dass Gottes Wort in unsere Erfahrung und Wirklichkeit hinein gezogen wird, und nicht, indem es als absolut gültig behauptet und vor dieser Erfahrung abgeschottet wird.
2.3 Ambiguitäre Predigt als Antwort auf die Analyse? 2.3.1 Der Einfluss der theoretischen Perspektive auf die Deutung der Analyseergebnisse Von Müller-Schwefe herkommend, habe ich die Ergebnisse der Predigtanalysen Engemanns unter der Perspektive der Schwierigkeit wahrgenommen und dargestellt, Gott unter den Bedingungen der Moderne konkret auf die Erfahrung und Wirklichkeit des Menschen zu beziehen. Ich bin mir bewusst, dass dies nicht die Perspektive Engemanns ist. Engemann kommt her von der „wiederholten Konfrontation mit Predigten von enormer Redundanz, die im Streben nach Vollständigkeit und Eindeutigkeit Botschaften liefern, die ,alles‘ schon sagen wollen, runde Reden bieten, denen ,nichts‘ hinzuzufügen ist.“28 Zu dieser „Hörererfahrung Predigt“ als „vordergründiger“ Motivation zu seiner Arbeit treten als „Hintergrundmotivation“ „homiletische Prinzipien, die jene Predigtweise stützen, Lehrstücke über die Rezeption von Bibeltexten, über den Auftrag des Predigers, die Wirkung des Wortes (Gottes) usw., die den, der dieses Wort zu sagen hat, erklärtermaßen dazu befähigen sollen, die Integrität der Botschaft zu kontrollieren – ,damit nichts Fremdes hineinragt‘ (Karl Barth), stamme es vom Prediger oder vom Hörer.“29 Diese Erfahrung und Motivation führt Engemann zur Rezeption der Semiotik, die auf die Beschreibung der Hörerfahrung und der Motivation bereits zurück gewirkt haben dürfte. Die Semiotik ist dann der theoretische Rahmen und die Perspektive, unter der die Predigten nicht nur analysiert, sondern auch die Antwort zur Behebung der dabei zu Tage getretenen Missstände gegeben wird. Wie die Äußerungen zur „Hintergrundmotivation“ bereits erkennen lassen, 26 Ebd., 130. Hervorhebung und runde Klammer im Original. 27 Ebd., 132: „Indem jedoch die ideologische Rede diese Unschärfe [der Argumentation] verschleiert und gleichzeitig Konnotationen erzeugt, in denen jene Ausdrücke als absolute, logisch evidente, unabhängige Entitäten erscheinen, bricht sie einen potentiell offenen Diskurs ab.“ 28 Ebd., XV. 29 Ebd., XV.
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
soll die Semiotik auch die Grundlage abgeben, von der aus theologische Bestimmungen und Ansprüche kritisiert werden. Je nachdem, unter welcher Perspektive man die Ergebnisse der Analyse betrachtet, ergeben sich sehr unterschiedliche Wege zur Bearbeitung der aufgezeigten Problematik. Für Engemann ist aus semiotischer Perspektive der Kern des Problems die auf Eindeutigkeit zielende Redundanz, der vom Hörer nichts hinzuzufügen ist. Die Antwort ist dann „taktische Ambiguität“: die Inszenierung einer Botschaft, die interpretationsfähig und interpretationsbedürftig ist. Die Antwort auf die als problematisch erkannte Eindeutigkeit ist bewusst mit den Methoden der Semiotik inszenierte Mehrdeutigkeit. Diese Antwort ist zwar als Erweiterung homiletischer Theorie und Methodik wichtig und wertvoll, trifft aber m. E. nicht den Kern des Problems. Die in der Analyse zu Tage getretenen problematischen Kommunikationsstrategien sind nach meinem Eindruck Zeichen des dahinter stehenden Problems, unter heutigen Bedingungen die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch der Erfahrung konkret plausibel zu machen.30 Wenn dies der Kern des Problems ist, kann die Antwort nur als Antwort auf die Frage erfolgen, wie Gott und Mensch heute zusammen gedacht werden können, und wie Gottes Handeln in Gesetz und Evangelium für Menschen heute erfahrbar ist. Es muss dann eine inhaltliche Auseinandersetzung darüber stattfinden, wie Gott und Mensch in der einen Wirklichkeit zusammen gehören und durch das Wort miteinander verbunden sind. Die auf der rein formalen Ebene bleibende Antwort Engemanns reicht nicht aus. Die inhaltliche Antwort ist die Voraussetzung dafür, dass Engemanns Ausführungen zur „ambiguitären Predigt“ ihre volle Wirkung entfalten können. Der sinnvolle Gegenbegriff zur redundanten Eindeutigkeit, die sich anknüpfender Interpretation verschließt, ist daher m. E. nicht interpretationsbedürftige Mehrdeutigkeit, sondern eine konkrete, zur Erfahrung der Hörer hin offene Interpretation. Es geht darum, dass die Wirklichkeit des Hörers getroffen wird und durch den Bezug auf Gott in einer neuen Perspektive erscheint, was keineswegs durch das bloße Inszenieren einer mehrdeutigen Botschaft geleistet wird. Ohne Anschlussfähigkeit an die Erfahrung und Plausibilität des Gottesbezugs führt auch die Notwendigkeit zur Interpretation der Botschaft durch den Hörer nicht zum Dialog des Bibeltextes mit dem Leben der Hörer. Dass eine Inszenierung der Botschaft nicht „im Erwartungshorizont des Hörers aufgeht“,31 heißt noch nicht, dass damit der aktuellen Vermittlung von Gott und Mensch gedient ist.
30 Das Bewusstsein für diese Problematik kann beim Prediger durch den Anspruch der Bedeutsamkeit des Glaubens für unser Leben verdeckt sein. 31 Engemann, Homiletik, 178
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Ambiguitäre Predigt als Antwort auf die Analyse?
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2.3.2 Der Einfluss der semiotischen Perspektive auf die homiletische Theorie Engemann schließt für seine Arbeit die Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Frage bewusst aus, wie Gottes und unsere Wirklichkeit zusammen hängen. In der „Semiotischen Homiletik“ geht es „nicht um die Identifikation der Referente […], sondern um die Gestaltung von Zeichenprozessen.“32 Damit ist der theologisch geführte Streit um die Wirklichkeit, den man freilich besser als hermeneutische Bemühung denn als Identifikation bezeichnet, explizit aus der Homiletik ausgeklammert. Das ist ein bewusst gewählter, legitimer Standpunkt, der homiletische Fragen unter einer bestimmten Perspektive untersucht und entsprechend zu bestimmten, begrenzten Ergebnissen führt. Kritische Rückfragen sind aber dennoch erlaubt und geboten bezüglich des Verhältnisses von theologischer und nicht-theologischer Argumentation in der konkreten Umsetzung der so verstandenen Homiletik. Das gilt erst Recht, wenn wie im Fall Engemanns die Semiotik zur Namensgeberin einer eigenen Homiletik wird, in welcher die Semiotik die grundlegende Theorie abgibt, von der aus „Fragen auch der Speziellen Theologie“ berührt und deren „Prolegomena“ problematisiert werden.33 Der Streit um die Wirklichkeit wird dabei zwar einerseits hinsichtlich der in der Predigt kommunizierten Inhalte aufgrund der semiotischen Perspektive abgelehnt, die sich nicht für Referente, sondern allein für Zeichenprozesse interessiert. Andererseits aber wird dieser Streit durchaus hinsichtlich der Frage geführt, was Kommunikation ist und was Kommunikation zwischen Gott und Mensch zu sein beanspruchen kann. Es wird genau zu prüfen sein, ob in diesem Streit um die Wirklichkeit der Kommunikation die Theologie, d. h. was von Jesus Christus und vom Glauben her zu sagen ist, zu ihrem Recht kommt, oder dieser Streit eher im Namen der Semiotik auch gegen die Theologie geführt wird. Damit soll nicht grundsätzlich in Frage gestellt sein, dass sich die theologische und die semiotische Perspektive miteinander verbinden lassen. Es geht nicht um die Frage Semiotik oder Theologie, sondern darum, wie beide Perspektiven miteinander verbunden werden. Wenn auf der Ebene der homiletischen Theorie die Beschreibung der Wirklichkeit, in diesem Fall der Kommunikation, die bewusst von Gott absieht, umfassender und grundlegender angesetzt wird als diejenige, die von der Erfahrung Gottes herkommt, wird es dieser homiletischen Theorie kaum gelingen, zu einer Predigt anzuleiten, welche die typische neuzeitliche Welterfahrung etsi deus non daretur aufzuschließen vermag zur umfassenderen Perspektive einer Wirklichkeit, die in ihrer Mitte auf Gott bezogen ist. Selbstverständlich darf die geforderte umfassendere Perspektive der Theologie keine bloß behauptete sein, welche die Wahrheit der semiotischen Theorie bekämpfen zu müssen meint. Um32 Ebd., 134. 33 Ebd., XVI.
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
fassender meint, dass neben der berechtigten Perspektive des Zeichencharakters der Sprache auch andere dadurch nicht abgedeckte Aspekte der Sprache und Kommunikation zu ihrem Recht kommen. Wenn es um das geht, was von Jesus Christus her zu sagen ist, geht es dabei vor allem um den Anredeaspekt der Sprache, der als solcher freilich auch im zwischenmenschlichen Bereich und im Selbstverhältnis vorkommt, eben weil das menschliche Leben in seiner Mitte offenbar oder verborgen auf Gott bezogen ist.
2.4 Grundlinien der theologischen Argumentation und des Verhältnisses von Semiotik und Theologie 2.4.1 Das inkarnationstheologische Axiom der Semiotischen Homiletik Für Engemann ist die semiotische Perspektive nicht etwas, das noch mit der Theologie vermittelt werden müsste. Die semiotische Perspektive ist für ihn vielmehr als solche theologisch legitim, weshalb die „Semiotische Homiletik“ auch theologische Ansprüche erheben und von semiotischen Einsichten aus theologische Bestimmungen der Homiletik kritisieren kann. Zur Begründung bezieht sich Engemann auf die Inkarnation: Gottes Wort ist ,in, mit und unter‘ den Bedingungen menschlicher Kommunikation – oder überhaupt nicht – vernehmbar. […] In, mit und unter – mit diesen Präpositionen ist auch die Art und Weise der ergänzenden Rezeption, der unausweichlichen Zeichenbildung und unvollendbaren Interpretation verbunden. Damit haben wir gewissermaßen das inkarnationstheologische Axiom semiotischer Homiletik benannt, das von keiner ,übergreifenden‘ Theologie bagatellisiert werden kann.34
Während dies eine axiomatische Feststellung ist, begegnet später eine sich auf die Inkarnation beziehende Formulierung, die stärker auf die freiwillige Selbsterniedrigung Gottes abhebt und das eigentliche Argument ausmachen dürfte: „Ein Gott, der sich als Mensch unter Menschen Menschen aussetzt, setzt sich den Bedingungen dieses Menschseins aus. Was immer er sagt und tut, geht ein in die Prozeduren menschlicher Verständigung.“35 Bevor ich mich kritisch mit dieser Argumentationsweise auseinandersetzte, möchte ich eine wichtige Übereinstimmung im Anliegen ausdrücklich festhalten. Ich teile, gerade vor dem Hintergrund des bei Müller-Schwefe beobachteten Auseinanderfallens der Wirklichkeit, das Anliegen Engemanns, die Wirklichkeit als eine zu erweisen. Es gibt demnach nicht zwei Wirklichkeiten der Kommunikation, sondern nur eine, und daher auch keine Son34 Ebd., 158 f. Hervorhebung im Original. 35 Ebd., 165.
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dermöglichkeiten der Kommunikation Gottes mit uns. Im Reden Gottes mit uns begegnet als in der Sprache angelegte Möglichkeit nichts, was nicht auch in zwischenmenschlicher Rede begegnet. Insofern gilt, dass Gott zu den Bedingungen der Sprache und Kommunikation mit uns redet. Damit scheint den wesentlichen Punkten Engemanns zugestimmt. Dennoch bedarf es m. E. der Kritik in zwei Punkten. (1) Wiewohl sich die Einheit der Wirklichkeit letztlich in der Inkarnation erweist, legt sich durch die Formulierung der Argumentation Engemanns der Eindruck nahe, dass Gott sich (erst) mit der Inkarnation den Bedingungen sprachlicher Kommunikation anpasst. Gott tritt in die rein menschlich verstandene Sprache von außen ein. Demgegenüber meine ich, dass gerade das Zusammensein von Gott und Mensch, und damit die intendierte Einheit der Wirklichkeit, zu der Erkenntnis führt, dass die Sprache zu keiner Zeit rein menschlich, sondern per se das gemeinsame Medium von Gott und Mensch ist.36 Dem entspricht die Auffassung, dass das Zusammensein des Menschen mit Gott ein Zusammensein im Wort ist. Lutherisch gesprochen ist dies auch vor der Inkarnation der im Gesetz erfahrene Anspruch des Gesetzes, der auf die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch verweist, und die Sprache als Medium des Zusammenseins von Gott und Mensch erweist. Wenn man die Sprache per se als Medium zwischen Gott und Mensch ansieht, führt dies auf den Anredecharakter der Sprache als den Aspekt, an dem die Verbindung sprachlich und inhaltlich lokalisiert ist. Wiewohl man zweifellos auf den Anredecharakter auch stößt, wenn man nach der Sprache als Medium des gemeinsamen Lebens von Mensch und Mensch fragt, erlaubt die Gestalt seiner Argumentation Engemann, allein auf den Zeichencharakter der Kommunikation zu achten, weil die Frage des Zusammenseins von Gott und Mensch im Wort nicht explizit thematisiert wird. Die Argumentation zielt zwar auf den Erweis der Einheit der Wirklichkeit, spart aber die inhaltliche Frage nach der Verbindung von Gott und Mensch in und durch die Sprache aus. 36 So geht auch Ebeling davon aus , dass Gottes Wort „mündliches, zwischen Mensch und Mensch geschehendes Wort“ ist, so dass grundsätzlich gilt: „Gott und Wort [ist] so wenig ein Widerspruch wie Mensch und Wort, dass vielmehr das Wort es ist, was Gott und Mensch verbindet“. Ebeling, Hermeneutik, 341. Dies ist für Ebeling nicht zuletzt deshalb so, weil nur dann beschreib- und aussagbar ist, wie Gottes Wort nicht als „übernatürliches Sonderwort“, sondern als „wahres eigentliches, letztgültiges Wort“ entscheidend und heilsam in das Lebens des Menschen eingreift. Dem liegt wiederum eine entscheidende grundsätzliche theologische Weichenstellung zu Grunde: Das „fundamentale Mißverständnis, als sei Wort Gottes sozusagen eine separate Wortschicht neben dem zwischenmenschlichen Wort“, gründet in dem „Kardinalfehler der Theologie“, der Gott in einer zusätzlichen Sonderwirklichkeit ansiedelt. Von Gott kann nicht isoliert geredet werden. Wenn von Gott die Rede ist, muss zugleich von der Welt und dem Menschen die Rede sein, was umgekehrt auch bedeutet, dass „von der Welt theologisch nicht die Rede sein kann, ohne dass damit ebenfalls Gott als Geschehen zur Sprache kommt“. Ebeling, Hermeneutik, 340. Vgl. Rosenzweig, Stern, 167 f: „Gottes Wege und die Wege des Menschen sind verschieden, aber das Wort Gottes und das Wort des Menschen sind das gleiche. Was der Mensch in seinem Herzen als seine eigene Menschensprache vernimmt, ist das Wort, das aus Gottes Mund kommt.“
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
(2) Man kann das unter (1) Gesagte auch so zusammenfassen, dass Engemann zwar formal nach den Bedingungen der Kommunikation fragt, die Wirkung des Wortes Gottes aber nicht thematisiert wird. Kann man aber theologisch sinnvoll von dem Handeln Gottes reden und dabei von der Wirkung dieses Handelns absehen? Ergibt sich der theologische Sinn nicht allein aus dieser Wirkung? Engemann macht unter dem Hinweis auf die Inkarnation zu Recht geltend, dass sich Gott in Jesus Christus „den Bedingungen des Menschseins aus[setzt]“.37 Diese Aussage zielt aber theologisch auf das Sein unter dem Gesetz als die für das Gottesverhältnis entscheidende Bedingung des Menschseins. Soteriologisch relevant ist, dass Gott in Jesus das „Sein unter dem Gesetz“ auf sich nimmt. Es geht darum, dass sich in Jesus Christus in, mit und unter den Bedingungen des Seins unter dem Gesetz Versöhnung mit Gott und Menschsein im Sinne Gottes realisiert, und sodann im Evangelium durch die angebotene Anteilnahme an Jesus Christus zu unserer Möglichkeit wird. Die von der Semiotik beschriebenen Gesetzmäßigkeiten der Kommunikation nötigen nicht dazu, von Gott zu sprechen, wohl aber diejenigen Bedingungen unseres Seins, die es als Sein unter dem Gesetz erkennen lassen. Eine Homiletik, die von dieser Notwendigkeit nicht spricht und das Evangelium nicht als das darauf antwortende Handeln Gottes mit seiner befreienden Wirkung thematisiert, wird wenig dazu beitragen können, dass die durch sie angeleitete Predigt diese Notwendigkeit plausibel macht und das Evangelium als befreiende Botschaft sinnvoll darauf bezieht. Es ist bezeichnend für das Verhältnis von theologischer und semiotischer Argumentation bei Engemann, dass Notwendigkeit allein auf Seiten der Semiotik erscheint, z. B. wenn er betont, dass zu den Bedingungen menschlicher Kommunikation „notwendigerweise die Bildung von Lesarten“ gehört.38 Es ist richtig und wichtig diese Notwendigkeit zu betonen. Zu einem Dialog zwischen Semiotik und Theologie kommt es aber erst dann, wenn beide Theoriezusammenhänge mit dem zur Sprache kommen, was sich für sie als notwendig erweist. Engemann geht es aber weniger um einen solchen Dialog und einen in diesem Dialog geführten Streit um die Wirklichkeit – oder anders formuliert: um ein möglichst umfassendes Bild der Wirklichkeit – als vielmehr, wie er selbst treffend formuliert, um eine „theologische Legitimation“39 seiner Rezeption der Semiotik. Für eine solche Legitimation, die ich keineswegs bestreiten möchte, bedarf es m. E. des Verweises auf die Inkarnation nicht.40 Die Überzeugung genügt, dass der Glaube keine Wahrheit zu scheuen 37 38 39 40
Engemann, Homiletik, 165. Ebd. Ebd., 155. Ebeling lehnt eine Interpretation des Verhältnisses von Gotteswort und Menschenwort in Analogie zur Inkarnation explizit ab, weil man dabei von einem von der Sprache des Menschen zu unterscheidenden Wort Gottes ausgeht, das dann allererst in die Sprache des Menschen eingeht, und damit das Wort als das gemeinsame Medium von Gott und Mensch verfehlt. Der Sinn der Inkarnation liegt für Ebeling darin, „dass hier Wort in so völligem Sinn geschehen ist,
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oder gar zu leugnen braucht, ebenso auch der Hinweis darauf, dass Gottes Wort an uns sinnvoller Weise nicht als übernatürliches Sonderwort zu verstehen ist, das die Gesetze der Kommunikation außer Kraft setzt. Der Verweis auf die Inkarnation hingegen scheint mir erst dann auch umgesetzt und theologisch sinnvoll, wenn ihre soteriologische Zielrichtung zur Geltung kommt. Das allerdings wäre für eine Homiletik in der Tat wünschenswert, geht es in der Predigt doch um das gestörte Zusammensein des Menschen mit Gott und die im Evangelium angebotene Versöhnung. Nach diesen Überlegungen möchte ich auf die Metaebene homiletischer Theoriebildung zurückkehren. Theologische Legitimation anstelle eines umfassend geführten Dialogs kann ja durchaus eine sinnvolle Begrenzung der Aufgabe sein, auch wenn man die damit ausgesparten Fragen für zentral ansieht. In der Umsetzung ist dann aber entscheidend, sich der Begrenzung bewusst zu sein, und nicht das Begrenzte stillschweigend für das Ganze zu nehmen. Die inkarnationstheologische Argumentation Engemanns, welche ohne die soteriologische Zielrichtung der Inkarnation auszukommen meint, schärft dieses Problembewusstsein nicht. Daher möchte ich an zwei Punkten auf problematische Konsequenzen der darauf aufbauenden Theorieentfaltung hinweisen. (1) Die theologisch legitimierte Semiotik erscheint nicht als Dialogpartner der Theologie, sondern als die umfassende theoretische Grundlage, von der aus auch theologische Aussagen beurteilt werden, ohne ausreichend deren eigene Argumentationszusammenhänge zu beachten. Dies zeigt sich z. B. bei der Auseinandersetzung um den Offenbarungsbegriff. Hier kämpft Engemann gegen eine „wie auch immer begründete abgeschlossene Offenbarung“41, obwohl es theologische Gründe dafür gibt, die keineswegs mit den Einsichten der Semiotik in Konflikt geraten. So wird ein den Sachverhalt umfassender erschließendes Zugleich von Ja und Nein zugunsten eines einseitigen Nein verhindert. (2) Grundlegender als die Auseinandersetzung um den Offenbarungsbegriff und für die Homiletik von zentraler Bedeutung ist eine andere Konsequenz der Absolutsetzung der semiotischen Perspektive: die Nichtbeachtung des vom Zeichencharakter zu unterscheidenden Anredecharakters der Sprache. Besonders auffällig ist dies bei Engemanns Bezugnahme auf Bultmann, dessen zitierte Texte zum Teil explizit die spezifische Eigenart des Anredecharakters der Sprache thematisieren. Konsequenzen hat dies für die gesamte Homiletik. Als Beispiel sei genannt, dass Gott nach Engemann nicht in Jesus zu uns redet, sondern sich „wahrnehmen läßt“42. Der Ausfall des Anredecharakters ist für mich das Zentrum meiner Anfrage an Engemann, weil es die Wirkungsweise des Handelns Gottes ist, die in Gesetz und Evangelium undass Wortsein und Menschsein eins ward“. Ebeling, Hermeneutik, 341. Damit sind die Wirkung des Wortes und die soteriologische Zielrichtung der Inkarnation angesprochen. 41 Engemann, Homiletik, 159. 42 Engemann, Einführung, 79, 81.
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
löslich mit dem Anredecharakter der Sprache verbunden ist. Wie sollte es aber in einer Homiletik nicht wesentlich um die Wirkungsweise des Handelns Gottes mit uns in seinem Wort und deren Erfahrbarkeit und Plausibilität unter neuzeitlichen Bedingungen gehen? Ausdrücklich sei angemerkt, dass die Aufmerksamkeit auf den Anredecharakter des Wortes nicht von der Aufmerksamkeit auf den Zeichencharakter der Sprache suspendiert.
2.4.2 Die Auseinandersetzung um den Offenbarungsbegriff Vorweg sei angemerkt, dass der Offenbarungsbegriff für eine hermeneutische Theologie nicht die zentrale Bedeutung hat wie für die Dialektische Theologie, die mit ihren Auswirkungen in der Homiletik Engemanns Gesprächspartner in der Auseinandersetzung sein dürfte. Der Offenbarungsbegriff hat in diesem Zusammenhang den polemisch zuspitzenden Sinn, „gegen die Auflösung der Theologie in Anthropologie das Prae Gottes zur Geltung zu bringen.“43 Dieser zuspitzende Sinn liegt nicht in meinem Interesse, da ich der Auffassung bin, dass gerade die Wirkung des Wortes Gottes in der Offenbarung auf die Erfahrung des Menschen bezogen werden muss. Es geht mir also im Folgenden nicht um eine Verteidigung des dialektisch-theologischen Offenbarungsbegriffs, sondern lediglich um das problematische Verhältnis von semiotischer und theologischer Argumentation bei Engemann. In meinen eigenen Überlegungen zur Wirkungsweise des Handelns Gottes an uns in seinem Wort beziehe ich mich daher auch nicht auf den Offenbarungsbegriff, sondern auf den Begriff des Wortes Gottes.
2.4.2.1 Widerspruch gegen jede wie auch immer begründete abgeschlossene Offenbarung Engemanns Anliegen bei der Diskussion des Offenbarungsbegriffs ist, zu zeigen, dass es keine „wie auch immer begründete ,abgeschlossene Offenbarung‘“44 gibt. Die Behauptung einer abgeschlossenen Offenbarung ist problematisch, wenn sie als theologisches Argument für homiletische Konzepte herangezogen wird, die eine eindeutige, nicht mehr der ergänzenden Interpretation bedürfenden Botschaft der Predigt fordern. Die in diese Richtung zielende Kritik Engemanns teile ich ausdrücklich. Dennoch meine ich, dass der positive Sinn der Aussage, dass die Offenbarung in Jesus Christus abgeschlossen ist, bei Engemann unnötiger Weise unter den Tisch fällt. Engemann macht gegen die abgeschlossene Offenbarung die semiotisch-rezeptionsästhetische Einsicht geltend, dass von Offenbarung immer erst dann sinnvoll 43 Ebeling, Dogmatik I, 246. 44 Engemann, Homiletik, 159. Hervorhebung im Original.
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gesprochen werden kann, wenn der Rezipient von Quellen der Offenbarung zu diesen etwas dazu tut, d. h. erst im Zusammen von Rezeption und Offenbarungsquelle entsteht Offenbarung. In diesem Sinne sind Quellen „noch nicht die ,Offenbarung selbst‘ […], sondern Anfänge von Wegen, Ermöglichungen semantischer Pfade“.45 Dies impliziert für Engemann weiterhin, dass es nur durch Zeichen vermittelte Offenbarungen geben kann, die daher den allgemeinen Gesetzen des Zeichenprozesses unterliegen, der prinzipiell unabgeschlossen ist: Offenbarung „offenbart nur als eine signifikanter Formen bedürfende revelatio mediata, ist mithin ein progredierender Prozeß im Sinne der Peirceschen Semiose.“46 Soweit die Argumentation Engemanns. Nun ist aber zu fragen, was der Topos der abgeschlossenen Offenbarung denn seiner Intention nach meint, und ob dem tatsächlich aus den genannten rezeptionsästhetischen und semiotischen Gründen zu widersprechen ist. Anders gesagt, es geht darum zu zeigen, dass Abgeschlossenheit in diesem Zusammenhang keineswegs meint, Offenbarung mit „auf- und abrufbaren signifikanten Strukturen zu identifizieren“.47 Zuzustimmen ist Engemann in der Betonung der Unabgeschlossenheit der Offenbarung in dem Sinne, dass sie erst noch bei den Menschen ankommen und sich durchsetzen will. Für diesen Aspekt sehe ich die Semiotik als wichtige Interpretationshilfe, da sie den Aspekt der kulturellen Bedingtheit der verstehenden Aneignung und Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes hervorhebt. Die Behauptung der Abgeschlossenheit der Offenbarung zielt aber m. E. nicht darauf, dem Faktum zu widersprechen, dass der Prozess der Aneignung der Offenbarung noch lange nicht abgeschlossen ist, und auch nicht darauf, die Beteiligung des Empfängers beim Offenbarungsempfang zu leugnen, so dass dieser das Vorgegebene nur nachsprechen müsste. Sie meint vielmehr, dass in Jesus Christus die Menschen endgültig mit Gott versöhnt sind, und im Glauben an Jesus Christus ein Heilsweg offen steht, der selbst den Tod in das Heil zu integrieren vermag. Unüberholbarkeit und Abgeschlossenheit der Offenbarung in Jesus Christus besagt, dass es über das im Glauben an Jesus angebotene Zusammensein des Menschen mit Gott kein darüber hinaus gehendes, umfassenderes und damit auch heilvolleres Zusammensein mit Gott gibt. Die Offenbarung ist abgeschlossen, weil der damit offenbare Erlösungsweg umfassend und unüberbietbar ist, weil der Tod im Heil einbeschlossen ist. Differenzierter wäre daher zu formulieren, dass gleichzeitig die Unabschließbarkeit und Fragmentarität der Offenbarungsaufnahme und die Abgeschlossenheit und Unüberholbarkeit der Offenbarung in Jesus Christus gilt. Die Problematik des Dialogs zwischen Theologie und Semiotik bei Engemann zeigt sich darin, dass Engemann diesen Sinn der Rede von abge45 Ebd., 160. 46 Ebd., 159. Hervorhebung im Original. 47 Engemann, Semiotik, 178.
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
schlossener Offenbarung nicht in den Blick bekommt, weil er sich, vom semiotischen Theorierahmen ausgehend, allein auf die semantische Ebene konzentriert: den „auf- und abrufbaren signifikanten Strukturen“ als verfehlter Form der Offenbarungsaufnahme stehen „Anfänge von Wegen, Ermöglichungen semantischer Pfade“ gegenüber. Das Wortgeschehen der Offenbarung hat zwar immer auch mit Sinngehalt und semantischer Interpretationsbedürftigkeit zu tun. Daneben ist aber auch der davon zu unterscheidende Aspekt der Anrede entscheidend. Dieser Aspekt der Anrede kann im Vorgang der Aufnahme der Offenbarung allein dem beschriebenen Sinn der Abgeschlossenheit der Offenbarung entsprechen. Eine Interpretation ist immer partiell und nie abgeschlossen. Die Anrede dagegen kann mich in meiner Mitte, und das heißt dann auch als ganzen Menschen treffen – ohne dass die Bedeutung dieses Vorgangs interpretierend eingeholt werden könnte oder müsste.48 Die Anrede des Evangeliums zielt auf einen Glauben, in dem ich als Ganzer im Leben und Sterben gehalten bin. Insofern kann die Offenbarung auch in der Aufnahme als abgeschlossen und unüberholbar gelten. Gleichzeitig gilt aber, dass der Glaube nur das Leben prägen und durchdringen kann, wenn er im Gegenüber zu den sonst das Leben prägenden Faktoren verstanden werden kann. Verstehen und Erfahrung stützen sich dabei gegenseitig. Die Bedeutung des Verstehens und damit der interpretierenden Aneignung ist dabei keineswegs gering zu achten. Die Überzeugung von Wirklichkeitsferne kann äußert wirksam Erfahrung verhindern. Wiederum gilt hier, dass das Insistieren der Semiotik auf der kulturellen Bedingtheit aller Verstehensprozesse für die Homiletik von großer Bedeutung ist. Man kann den genannten Unterschied zwischen Anrede und semantischer Ebene bei der Aufnahme der Offenbarung auch so beschreiben, dass auf der semantischen Ebene der Interpretation nicht entscheiden werden kann, ob es durch die Aufnahme der Offenbarung zum versöhnten Zusammensein von Gott und Mensch kommt. Dieses Zusammensein ist als Wortgeschehen durch die Anrede Gottes und die darauf eingehende Antwort des Glaubens beschreibbar.49 Hinsichtlich dieses Zusammenseins im Wort meint Abgeschlossenheit der Offenbarung, dass das Zusammensein von Gott und Mensch in Jesus ohne Einschränkung und damit unüberbietbar ist. In Jesus ist das Sein des neuen Menschen als Zusammensein mit Gott, zu dem der Mensch von sich aus nicht fähig ist, Wirklichkeit geworden. Durch den Glauben können wir Anteil daran gewinnen. Abgeschlossenheit bedeutet also nicht ein abge48 Die Rezeption der Semiotik in der Theologie muss freilich nicht zu solcher Einseitigkeit führen. Michael Meyer-Blanck hat bei seiner Rezeption der Semiotik immer die grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis von Semiotik und Theologie im Blick. Es steht für ihn denn auch außer Frage, dass die Botschaft des Glaubens „niemals im Mitteilen und Verstehen auf[geht]“. Zudem gilt: „Die Formulierung einer semiotisch sich begrenzenden und damit einer semiotisch domestizierten Theologie wäre ein Mißverständnis Ecoscher Semiotik und ein religiöser Selbstwiderspruch“. Meyer-Blanck, Symbol, 85. 49 Ebeling, Dogmatik I, 249.
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schlossenes, verfügbares Wissen über Gott, das in der Predigt kund zu tun und von den Hörern nachzusprechen ist. Ein solches ,Wissen über‘ hat man außerhalb der Beziehung stehend von einem distanzierten Standpunkt aus. Damit steht man außerhalb der Begegnung mit Gott, in der sich Offenbarung als Eröffnung und Ermöglichung des versöhnten Zusammenseins mit Gott ereignet. Unabgeschlossen wiederum ist die endgültig in Jesus ergangene Offenbarung, weil Gott wie Jesu so auch unser Vater werden will. Engemanns Widerspruch gegen jegliche Abgeschlossenheit der Offenbarung hat seine Wurzel in der Reduktion der Sprache auf ihre Zeichenfunktion und die Interpretation des semantischen Gehalts, wodurch das Wortgeschehen, dem nachzudenken Aufgabe der Theologie ist, nicht in den Blick kommt, und so auch nicht der theologisch Standpunkt gegenüber dem semiotischen zur Geltung kommen kann. Dadurch entsteht eine schiefe Problemstellung, als ob von den Vertretern einer abgeschlossenen Offenbarung ein eindeutiger semantischer Inhalt behauptet würde, dem von semiotischer Seite der Beginn eines in seinem Ende nicht absehbaren semantischen Pfades gegenübergestellt werden müsste. Engemann hat zwar recht, wenn er behauptet, dass die Offenbarung nicht abschließend identifiziert werden kann, den theologisch entscheidenden Grund nennt er aber nicht. Denn für Engemann kann sie deshalb nicht abschließend identifiziert werden, weil es prinzipiell keinen den Prozess der Semiose abschließenden Interpretanten geben kann, und ein Zeichen (Signifikant) ohne ergänzende Deutung nichtssagend ist. Hierin unterscheidet sich der semantische Inhalt der Offenbarung nicht von allen anderen möglichen semantischen Inhalten. Demgegenüber ist die Entzogenheit vor einem Zugriff des Wissens im Fall der Offenbarung wesentlich anderer Natur. Sie hängt damit zusammen, dass das Zusammensein von Gott und Mensch im Wort als Wirkung der Offenbarung auf einer anderen Ebene liegt als der des Wissens – ohne dass damit die Unumgänglichkeit einer Interpretation dessen, was dabei geschieht, geleugnet werden soll. Der Widerspruch gegen autoritäre kirchliche und lehrhafte Systeme, in welchen die Offenbarungsinhalte „den Menschen als eine Art Fertigware verabreicht [werden], die sie hinnehmen müssen“,50 ist darin begründet, dass damit aus dem Geschehen der Offenbarung eine Lehre und ein Wissen gemacht wird. Darüber hinaus ist dann auch mit Engemann zu kritisieren, wenn die lehrhafte Interpretation der Offenbarung vorgibt, keiner weiteren Interpretation mehr bedürftig zu sein.
50 Tillich, Theologie, 173.
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
2.4.2.2 Folgen der Reduktion auf den semantischen Aspekt: Verlust an notwendiger Differenzierung Wegfall der Unterscheidung zwischen Offenbarung und ihrer Interpretation Die fehlende Differenzierung zwischen dem Zeichen- und dem Anredeaspekt der Sprache führt nun aber nicht nur dazu, dass neben der berechtigten Kritik an einer sich der aktualisierenden Interpretation verweigernden Lehre der entscheidende Grund für die Entzogenheit der Offenbarung vor einem identifizierenden Zugriff unerwähnt bleibt. Er bleibt nicht nur unerwähnt, der Zugang zu ihm wird verstellt, womit wiederum der gleichberechtigte Dialog zwischen Semiotik und Theologie zu Ungunsten der Theologie scheitert. Da bei Engemann allein die signifikanten Strukturen im Blick sind, kann zwischen dem Offenbarungsgeschehen selbst und sekundären theologischen Deutungen desselben nicht unterschieden werden. Offenbarungsgeschehen vollzieht sich für Engemann jedes Mal dann, wenn der semantische Inhalt der Offenbarung eine neue Deutung erfährt. Signifikant ist hier der Absatz, in dem Engemann von Tillichs Verhältnisbestimmung zwischen originaler und abhängiger Offenbarung ausgehend diese in einer „entscheidenden Hinsicht […] erweitert“: Das Verhältnis von originaler und abhängiger Offenbarung wiederholt sich an jedem Punkt der Semiose, an dem ein Signifikat zum signifizierenden Interpretanten eines weiteren Signifikats wird, überall da, wo das Original der Wahrnehmung zur Erkenntnis eines Nichtwahrgenommenen führt, das in seiner Art neues Original und zugleich abhängig ist.51
Die Erweiterung des Tillichschen Modells dürfte mit diesem selbst nicht mehr viel zu tun haben. Hängt doch die Originalität bei Tillich an der Einmaligkeit des geschichtlichen Ereignisses in Jesus Christus,52 in dem für die Versöhnung von Gott und Mensch unüberholbar genug getan ist. Bei Engemann hingegen erlebt die Originalität keine geringe Inflation.53 Worauf es ankommt ist, dass 51 Engemann, Homiletik, 160. Hervorhebung im Original und zusätzlich Original gesperrt. 52 Vgl. Tillich, Theologie, 151 f. 53 Dazu wäre noch anzumerken, dass Engemann, nachdem er ausgeführt hat, dass es an jedem Punkt der Semiose zu Originalen kommt, im unmittelbar anschließenden Satz ausführt, dass man lieber vom Originalen leben, also Botschaft von der Quelle nehmen soll. Warum nun aber das Originale an der Quelle gesucht werden soll, wo es doch an jedem Punkt der Semiose zu finden ist, bleibt zumindest an dieser Stelle Geheimnis des Autors (später erfährt man, dass die Kommentare in ihrem Bemühen um Eindeutigkeit das Informationspotential der Quelle NT einschränken). Wenn dann auch noch von originalen Aurediten geredet wird, scheint der Ausdruck völlig seiner spezifischen Bedeutung verlustig zu gehen. Letztlich ist er schon in der Wendung „Original der Wahrnehmung“ zu einer Art Allquantor bezüglich der Wahrnehmung geworden, denn welche Wahrnehmung ereignet sich letztlich nicht „in einer Konstellation […], die zuvor nicht existiert“. Engemann, Homiletik, 160 f.
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Engemann davon spricht, dass sich das Verhältnis von originaler und abhängiger Offenbarung und damit Offenbarung selbst an jedem Punkt der Semiose vollzieht. Damit ist Offenbarung als Zeichenlektürevorgang bestimmt, der sich von anderen lediglich durch seinen Inhalt unterscheidet und als Wahrnehmung und Deutung dieses Inhalts per se Offenbarung ist. Dies führt dann konsequenter Weise zum Wegfall der Unterscheidung zwischen dem Wort-Geschehen der Offenbarung und theologischen Aussagen darüber : „Offenbarung […] ist mithin ein progredierender Prozeß im Sinne der Peirceschen Semiose, ein Prozeß, von dem die Dogmen der frühen Christenheit ebenso betroffen waren wie die neueren.“54 Dogmen, egal welcher Zeit, sind gerade keine Offenbarungen und wollen es auch gar nicht sein.55 Ihre theologischen Urteile sind keine Stationen eines progredierenden Prozesses der Offenbarung, sondern Ergebnis nüchterner Reflexion, die allerdings in ihrer Methode an dem Wortgeschehen der Offenbarung orientiert ist. Im Übrigen wird noch einmal deutlich, dass sich bei Engemann Offenbarung in nichts von jedem beliebigen anderen Wahrnehmungsvorgang unterscheidet. Die soteriologische Zielrichtung der Offenbarung bleibt unerwähnt. Wegfall der Unterscheidung zwischen Jesus Christus und den Zeugnissen über ihn Ein analoger Sachverhalt zeigt sich hinsichtlich der Unterscheidung von Jesus Christus als dem Wort Gottes und dem Neuen Testament als Quelle und Zeugnis über ihn.56 Aus semiotisch-erkenntnistheoretischer Perspektive formuliert stellt sich die Lage so dar : Jesus Christus kann nicht im Gegenüber zu den Schriften des Neuen Testaments als Zeugnisse über ihn das Kriterium des Glaubens sein, weil Jesus als der Christus selbst nur eine Deutungsleistung ist, und Jesus in seiner Person, seinem Leben und Sterben auch nur als signifikante Struktur in Frage kommt, die gedeutet werden muss. Etwas, das selbst nur Deutung ist, kann nicht Kriterium anderer Deutungen sein. Man kann die Kette der Interpretanten nicht auf Jesus Christus als dem Kriterium und Grund des Glaubens hin überschreiten. Dass ein Überschreiten in diesem 54 Ebd., 159. Hervorhebung im Original. 55 Vgl. demgegenüber Fuchs, Prolegomena, 156: „Gottes Offenbarung […] ist kein Gegenstand des Lernens, sondern allenfalls ein Ereignis des Lebens, das sich vielleicht begleiten läßt. Soll die Theologie Wissenschaft sein, also begrifflich denken, so muß sie von vorneherein darauf verzichten, die Offenbarung Gottes begrifflich nachvollziehen zu wollen.“ Vgl. Ebeling, Geschichtlichkeit, 59: „Je stärker die Offenbarung als geoffenbarte Lehre verstanden wird, desto mehr entschwindet das Verständnis der Offenbarung als Geschehen“. 56 Auch hier zeigt sich bei Meyer-Blanck, dass die Rezeption der Semiotik nicht zu den problematischen Folgen wie bei Engemann führen muss, wenn er die Glaubensaussagen vom Grund des Glaubens unterscheidet: „Der Glaube weiß sich in seiner Beziehung auf Christus von den Aussagen über diesen Glauben immer zugleich unterschieden und damit erneut auf den sich neu erschließenden, aber nie gänzlich erschlossenen Glauben verwiesen“. Meyer-Blanck, Symbol, 44.
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Sinne vom Glauben gar nicht intendiert ist und diesem auch nicht entsprechen würde, ist bereits angeklungen: Glaube ist primär Antwort und Vertrauen auf eine Anrede, keine von einer Anrede unabhängige Interpretationsleistung. Dabei ist die Anrede und Antwort durchaus unvermeidlich mit einer Interpretationsleistung verbunden, was aber nichts daran ändert, dass der in der Anrede erfahrene Jesus Christus zum von den Zeugnissen über ihn unterscheidbaren Kriterium werden kann. Er wird durch die Anrede als Person erfahren, die von den Zeugnissen über sie unterschieden ist. Das Verhältnis zu Jesus Christus als Person ermöglicht eine Erneuerung des Gottesverhältnisses, eine Interpretation der mit Jesu Lebensweg gegebenen Zeichen reicht dafür nicht aus. Jesus als signifikante Struktur, als Beginn semantischer Pfade, deren Ende nicht voraussagbar ist, wirft die Frage nach der Identität des Christlichen auf. Dass nicht absehbar ist, wie das Evangelium in immer neuen Situationen zur Sprache kommt, ist richtig, weil das „Sein unter dem Gesetz“, aus dem es befreit, geschichtlich seine Gestalt verändert. Bei Engemann fehlt aber das notwendige Gegengewicht, die Identität dessen, was in jeder Zeit neu zur Sprache zu bringen ist. Alle vorläufigen, fragmentarischen Bemühungen der Theologen wären hinfällig, gäbe es nicht die Einfachheit und Einheit dessen, was in Jesus Christus begegnet. In diesem Sinne formuliert Joest in seiner Fundamentaltheologie: „Der Theologe kann jeden seiner Sätze, in denen er die Offenbarung Gottes in Christus auslegend entfaltet, als vorläufig und auf künftige Bewährung so formuliert verstehen und damit dem Dialog und der Korrektur offenhalten. Aber die Wahrheit der Gottesbekundung in Christus selbst kann er nicht als eine vorläufige und problematische behandeln. […] Denn damit ist ja das letzte Kriterium angegeben, vor dem theologische Sätze sich hinsichtlich ihrer Sachgemäßheit zu verantworten haben, und zugleich die Basis des Dialogs, in dem sie ihre gegenseitige Korrektur vollziehen.“57 Dass diese Basis nicht, wie für jede andere Wissenschaft zu Recht gefordert, nur eine hypothetische ist, hängt mit dem wesentlichen Aspekt des Glaubens zusammen, der bei Engemann argumentativ nicht zur Geltung kommt. Dazu noch einmal Joest: „Denn die Überzeugung, daß christlichem Glauben in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus der Grund gegeben ist, der ihn fordert und trägt und an dem die faktische Glaubensverkündigung immer wieder auszurichten ist, ist selbst ein Akt des Glaubens; oder anders gesagt: die Setzung eines Grundvertrauens in den in Christus gegenwärtigen Gott, in die Verläßlichkeit seiner Zusage, die Verbindlichkeit seines Aufgebots und Einlösung seiner Zukunft, die er in Christus angesagt hat. Man kann sich darauf unbedingt oder gar nicht, auf keinen Fall aber mit hypothetischem Vorbehalt einlassen.“58 57 Joest, Fundamentaltheologie, 253. 58 Ebd. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Meyer-Blanck, Symbol, 48: „Dabei [bei Engemanns Forderung einer mehrdeutigen Predigt] kommt es allerdings auch darauf an, die kommuni-
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2.4.3 Die existentielle Dimension des Verstehens Der monierte Wegfall des Anredeaspekts der Sprache kann auch als Wegfall der existentiellen Betroffenheit und des unbedingten Angegangenseins durch das Wort Gottes beschrieben werden. Demgegenüber ist zu beachten, dass Engemann seinerseits vom semiotischen Theorierahmen aus die existentielle Dimension des Verstehens besonders hervorhebt. Bezeichnend sind hier die Ausführungen zum „hermeneutischen Sukzessiv“, in denen er sich auf Bultmann bezieht, unter anderem auch um explizit den existentiellen Ernst der Verkündigung vom Anredecharakter der Predigt zu unterscheiden.
2.4.3.1 Hermeneutischer Sukzessiv – Bezugnahme auf Bultmann Zum existentiellen Charakter des Verstehensvorgangs äußert sich Engemann ausführlich in seinem Aufsatz Der Spielraum der Predigt und der Ernst der Verkündigung. Wie auch an anderer Stelle59 betont Engemann die „succesio hermeneutica“, das unaufhebbare „Du-bist-Dran!“, und spricht in diesem Zusammenhang von einem „hermeneutischen Existentialismus“ und „Existential-Hermeneutik“ Jesu.60 Während m. E. das dem Glauben spezifische Betroffen- und Engagiertsein des Hörers durch die Anrede methodisch durch die Semiotik nicht erfasst werden kann, geht Engemann davon aus, dass „das Repertoire einer theologisch durchreflektierten Rezeptionsästhetik durchaus geeignet zu sein scheint, z. B. hermeneutische, homiletische oder auch exegetische Fragen zu erhellen,“ weshalb man „das Erschließungspotential und die methodologische Qualität“ der Rezeptionsästhetik nicht gering achten sollte.61 Engemann bezieht sich dabei auf einen Aufsatz von Günther Klein,62 in dem dieser das „unerledigte Vermächtnis“ R. Bultmanns thematisiert. Engemann geht davon aus, dass die Rezeptionsästhetik geeignet ist, das, was Bultmann „durch den Gebrauch konzeptuell unklarer Begriffe“63 hinsichtlich des Entscheidungscharakters des Wortes Gottes missverständlich gesagt hat, zu präzisieren! Was Bultmann in dem Aufsatz,64 auf den sich Engemann im Laufe seiner Ausführungen bezieht, m. E. durchaus klar und deutlich entfaltet, ist der Anredecharakter des Wortes Gottes, der von der Zeichenfunktion der Sprache
59 60 61 62 63 64
kative Mehrdeutigkeit gerade mit der soteriologischen Gewißheit der evangelischen Botschaft zusammen zu denken.“ z. B. Engemann, Texte, 241; ders., Personen, 46. Engemann, Spielraum, 146. Ebd., 153. Vgl. Klein, Bultmann. Engemann, Spielraum, 153. Bultmann, Begriff, 268 – 293.
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zu unterscheiden ist. Bultmann tut dies freilich nicht im Gegenüber zur Semiotik, sondern in Auseinandersetzung mit griechischem Denken. Die Analyse dieser Auseinandersetzung mit Bultmann ist daher besonders aufschlussreich für das bei Engemann begegnende Verhältnis der semiotischen Perspektive zu dem, was von Jesus Christus her zum Verstehensvorgang zu sagen ist. Ich referiere zunächst die für den Vergleich interessanten Grundaussagen des Bultmanschen Aufsatzes, um sodann zu zeigen, dass Entscheidung bei Bultmann und Engemann etwas Verschiedenes meint, und sich Bultmanns Auffassung von Engemanns Verständnis der bei der Verkündigung ablaufenden Verstehensprozesse deutlich unterscheidet. Ob ich mich dabei, wie Engemann meint, einer „oberflächliche[n] Rezeption dialektisch-theologischer Klassik“ schuldig mache, wenn ich den „Ernst der Predigt“ am „Anredeund Anspruchscharakter des Wortes Gottes“65 festmache, oder ob umgekehrt Engemann Bultmann aufgrund seiner Befangenheit im semiotischen Theorierahmen nur oberflächlich gelesen hat, mag jeder an den Texten selbst überprüfen. Bultmanns Aufsatz Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament behandelt in historisch kritischer Rückfrage die den „neutestamentlichen Schriftsteller[n] vorliegenden geschichtlichen Möglichkeiten“ des Sprachgebrauchs von „Wort“ und „Wort Gottes“,66 bevor er in seinem dritten Teil Das Wort Gottes im Neuen Testament auf sein eigentliches Thema zu sprechen kommt. Diese Möglichkeiten sind zum einen der alttestamentlich-jüdische Sprachgebrauch, zu dem Bultmann auch Jesus selbst rechnet, und zum anderen der griechisch-hellenistische. Dieses Vorgehen ist für unseren Zusammenhang insofern aufschlussreich, als in der Charakteristik des griechischhellenistischen Sprachgebrauchs unschwer Elemente der semiotischen Theorie wiederzuerkennen sind. Denn: „Beherrschend für den griechischen Sprachgebrauch ist jedoch die Bedeutung von k|cor als dem Sinngehalt des Gesprochenen. Das Wort wird also primär nicht hinsichtlich des Ereignisses des Gesprochenwerdens, sondern hinsichtlich seines verständlichen Sinnes ins Auge gefaßt. Die ursprüngliche Bedeutung von k]ceim ist nicht anreden, sondern explizieren.“67 Der entscheidende Unterschied des griechischen Logos zum Wort Gottes im Alten und Neuen Testament ist, dass es sein „Sinngehalt“ ist und nicht sein „Gesprochenwerden“, das „ihn konstituiert“.68 Genau um den Sinngehalt eines Textes oder einer Botschaft geht es in der von Engemann stark gemachten semiotisch-rezeptionsästhetischen These, dass der Rezipient an der Konstitution des Sinngehalts beteiligt ist und der Frage,
65 66 67 68
Engemann, Spielraum, 143. Bultmann, Begriff, 268. Ebd., 274. Ebd., 275.
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wie die herrschenden Lesarten über Gott und Welt im Neuen Testament umcodiert werden.69 Was ist demgegenüber mit dem „Ereignis des Gesprochenwerdens“ gemeint? Inwiefern kommt es dabei nicht primär auf den Sinngehalt an, der aber, wie Bultmann in einer Fußnote extra anmerkt, selbstverständlich vorausgesetzt wird?70 Es kommt primär nicht auf den Sinngehalt an, weil es sich nicht um eine theoretische Feststellung, sondern um eine Willensäußerung Gottes handelt, die sich wiederum an den Willen des Menschen richtet. „Gottes Wort wendet sich nicht an den Intellekt, sondern an den Willen; es wird nicht gesehen, sondern gehört, nicht wissenschaftliche Forschung, sondern Gehorsam vernimmt es.“71 Um das „Ereignis des Gesprochenwerdens“ geht es dabei insofern, als das Wort keine überzeitliche Wahrheit, sondern der geschichtlich begegnende Wille Gottes ist. Hinsichtlich Jesu heißt das: „Er verkündet den Willen Gottes, sein Wort ist Anrede, Ruf zur Entscheidung. Nichts, was er sagt, ist neu, entscheidend aber ist die Stunde, das Jetzt des Gesprochenwerdens, das Ereignis des Wortes.“72 Gegenüber diesem geschichtlich begegnenden Wort ist keine Interpretationsleistung, sondern Gehorsam gefragt: „Das Hören ist also kein bloßes Anhören, sondern ein Gehorchen, mit dem das Tun verbunden ist.“73 Das Wort Gottes als an den Menschen gerichtete Botschaft wendet sich nicht an die Deutungskompetenz der Hörer, sondern „an das Gewissen“.74 Damit es dies aber kann, betont Bultmann noch einmal ausdrücklich, dass das Wort Gottes „verständliches Wort ist, dass es also weder durch seine Magie wirkt, noch als Dogma die blinde Unterwerfung, die Annahme von Absurdität fordert. Ohne seine Verständlichkeit wäre es nicht im echten Sinne Anrede.“75 Direkt im Anschluss folgt eine Passage, die von Engemann m. E. zu Unrecht als den eigenen Standpunkt bestätigend, zitiert wird: Echte Anrede ist nur ein Wort, das dem Menschen ihn selber zeigt, ihn sich selbst verstehen lehrt, und zwar nicht als theoretische Belehrung über ihn, sondern so, daß das Ereignis der Anrede ihm eine Situation des existentiellen Sich-Verstehens er69 70 71 72 73 74
Vgl. Engemann, Spielraum, 148. Vgl. Bultmann, Begriff, 269, Anm. 7. Ebd., 272 f. Ebd., 273. Ebd. Ebd., 282. Von hier aus wird noch einmal deutlich, was bereits zum Inkarnationsargument besprochen wurde, dass es an der Sache des Glaubens vorbei geht, wenn Engemann behauptet, „dass es das ebenso signifikante wie beliebig anmutende Ins-Fleisch-Gehen Gottes ist, durch das wir irreversibel auf die Lektüre von Zeichen verwiesen sind“. Engemann, Zeichen, 206. Inkarnation des Logos meint, dass Jesu Leben und Sterben zum Wort an uns wird, das sich an unser Gewissen und nicht an unsere Zeichendeutungskompetenz richtet. 75 Bultmann, Begriff, 283 f. Weil diese Verständlichkeit unter neuzeitlichen Bedingungen nicht mehr ohne weiteres gewährt ist, kommt auch der Semiotik eine wichtige Rolle für die Homiletik zu.
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öffnet, ihm eine Möglichkeit des Sich-Verstehens eröffnet, die in der Tat ergriffen werden muß. Anrede stellt nicht dies oder das für mich zur beliebigen Wahl, sondern sie stellt in die Entscheidung, sie stellt gleichsam mir mich selbst zur Wahl, als ein welcher ich durch die Anrede und meine Antwort auf sie sein will.76
Die beiden Aspekte des Zitats, die m. E. in Engemanns eignen Argumentationsgängen eine mit Bultmann nicht vereinbare Bedeutung haben, sind das „existentielle Sich-Verstehen“ und die „Entscheidung“. Für das, was Bultmann meint, scheint mir der Aspekt zentral, dass die Entscheidung „mir mich selbst zur Wahl“ stellt. Es geht um eine Möglichkeit meiner Existenz, die ich nicht allein, weil nicht ohne Anrede finden kann. Es geht um das Phänomen, dass ich nur in der Begegnung zu mir selbst finden kann, weil die Anrede mich als ganzes meint, und mich in meiner Mitte trifft. Die Anrede des Evangeliums unterscheidet sich von allen anderen zwischenmenschlichen Phänomenen dieser Art darin, dass sie mich so zu mir selbst bringt, dass meine Existenz Zusammensein mit Gott ist. Entscheidung meint in diesem Zusammenhang die Fähigkeit des Menschen, auf die Anrede zu antworten, und die in der Anrede gebotene Möglichkeit zu ergreifen. Die Entscheidungen, um die es Engemann geht, fallen innerhalb des Vorgangs der Interpretation des Textes und analog der interpretierenden Aufnahme der Predigtbotschaft. Es geht dabei im Anschluss an Wolfgang Iser um die Leerstellen des Textes, die den Leser zu interpretatorischer Interaktion auffordern. In diesem Zusammenhang kommt Engemann „auf die Fokussierung des Aspekts der Entscheidung im Vorraum der Predigt“ zu sprechen: Der Autor des biblischen Textes hat dem potentiellen Leser Spielraum gelassen, so daß dieser die für ihn vorgesehenen Rollen als seine Rollen inszenieren und so in die Produktion eines neuen Textes eintreten kann. In der Kooperation mit seinem Leser fängt der Bibeltext an, mehr zu bedeuten, als sein Autor voraussehen konnte. Jetzt greift also wieder die successio hermeneutica: Ich bin dran. Was da steht, kann weder zu mir, geschweige denn zu den potentiellen Hörern gelangen, ohne daß ich den Entscheidungen, in die ich durch die Kooperation mit dem Text gestellt wurde, meinen Spielraum anerkenne, ohne daß ich zwischen verschiedenen möglichen Deutungen wähle, ohne daß ich als Traditor in dem Sinne beansprucht werde, daß ich den gelesenen Text historisch werden lassen kann, daß ich ihm zuerkenne, bei mir Geschichte gemacht zu haben und ihm nun einen gegenwärtigen Text folgen lasse, der ganz auf den Vorsehungen des alten Textes beruht und ganz Resultat meiner Entscheidung ist.77
Die Textstelle macht hinreichend deutlich: Bei den Entscheidungen, die Engemann im Blick hat, geht es um die Wahl verschiedener Deutungen, in deren Folge erst der Text für mich in seinem Sinngehalt entsteht. Bei der Entschei76 Ebd., 283. Bei Engemann, Spielraum, 153 f. 77 Engemann, Spielraum, 150. Bei Entscheidung und Deutungen wähle Hervorhebung von mir, ML, bei Engemann zusätzlich historisch und gegenwärtigen kursiv.
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dung im Sinne Bultmanns geht es darum, Gottes Anrede an mich zu ergreifen oder nicht. Die Frage der Deutung und des Sinngehalts ist Voraussetzung für diesen Akt, und insofern auch von existentieller Wichtigkeit für die Verkündigung! Denn wenn die mir zur Verfügung stehenden kulturellen Decodierungen und die gleichzeitig wirksamen kulturellen Subcodes, welche regeln, was als wirklichkeitsrelevant gelten kann, den Kontext der Anrede und diese selbst als Anrede Gottes an mich als in ihrem Wirklichkeits- und Erfahrungsbezug fragwürdig erscheinen lassen, wird die Anrede auch als solche nicht gehört. Dies ändert aber nichts daran, dass die Entscheidung der Anrede von den Entscheidungen der Interpretation zu unterscheiden ist. Die Semiotik hat hinsichtlich der kulturellen Bedingtheit des Verstehens und der Zusammengehörigkeit von Subjekt und Sache im Verstehen Entscheidendes beizutragen. Homiletisch besonders fruchtbar werden diese Einsichten dann, wenn sie auf die Anrede des Menschen durch Gott als der ,Sache‘ des Glaubens bezogen werden. Kontraproduktiv, weil wichtige Problemstellungen verdeckend, scheint mir hingegen der Versuch, den existentiellen Ernst der Anrede und die damit verbundene Entscheidung durch die Entscheidungen im Prozess der Interpretation und dem damit verbundenen Ernst zu ersetzen.78 Von daher muss es auch als Missverständnis bezeichnet werden, wenn Engemann davon spricht, dass es ihm darum geht, „das Bultmannsche Entmytologisierungsprogramm konsequent in die Homiletik zu übertragen.“79 Denn es geht zwar in der Entmythologisierung, wie Engemann sagt, darum, dass der Glaubende nicht zu einem „stolzen Bejaher von Unverständlichkeiten 78 Eine ähnliche Argumentation bezüglich des existentiellen Ernstes der Verkündigung findet sich bei Reuter in seinem Buch „Predigt Verstehen“, in dem er sich auf Lyotards Verstehenskonzeption bezieht. Reuter betont dabei, dass „das Verstehen, wie es in dieser Arbeit aufgefaßt wird, ja die Dimension der Betroffenseins enthält“, und fährt fort: „Es geht nicht um rationales Klären von theoretischen Fragestellungen, es geht – um mit Barth zu sprechen – nicht um Lösungen, sondern um Erlösung“. Reuter, Verstehen, 168. Die mit Barth gemachte Feststellung deutet er dann wie folgt: „Um es weniger expressionistisch zu formulieren: der Hörer versteht nicht einfach einen objektiven Sachverhalt, sondern Verstehen bedeutet immer, dass er das Verstandene, indem er es versteht, auch mit seiner Lebenswirklichkeit verknüpft. Weil das Verstehen ein konstruktiver Akt ist, wird dem Gesagten bzw. Gelesenen etwas hinzugefügt, das zur subjektiven Lebenswelt des Hörers gehört. Es erfährt eine Ergänzung um die subjektive Betroffenheit des Hörers und eröffnet dem Hörer eine neue Perspektive“. Reuter, Verstehen, 168. Reuters Deutung des Begriffs der Erlösung, der m. E. weder expressionistisch noch spezifisch barthianisch, sondern schlicht theologisch ist, ist die Charakteristik eines jeglichen VerstehensVorgangs aus konstruktivistischer Perspektive, die der Unterscheidung von Gott und Mensch sowenig bedarf, wie des Begriffs der Erlösung. Auch das Betroffen-Sein ist in diesem Zusammenhang ein recht unspezifischer alltäglicher Vorgang, über den mit Hilfe der herangezogenen Theorie nicht gesagt werden kann, ob er die Schichten der Person, die im Glauben angesprochen sind, erreicht. Im Glauben geht es nicht nur um die Eröffnung neuer Perspektiven, die sich auf vielfältige Weise bieten mögen, sondern um ein neues Sein des Menschen. Wenn es aber um das Sein des Menschen geht, ist grundsätzlicher und vor der Aufspaltung in Subjekt und Objekt, die der Rede von Perspektivenbildung vorausgeht, anzusetzen. 79 Engemann, Spielraum, 151.
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und Unwahrscheinlichkeiten“ wird.80 Aber der eigentliche theologische Kern des Entmytologisierungsprogramms ist doch der, dass das Glaubensverständnis dahingehend gereinigt wird, dass es im Glauben grundsätzlich nicht um Vorstellungen und Weltbilder, sondern eben um die Antwort auf die Anrede Gottes und das Ergreifen der uns darin gebotenen Existenzmöglichkeit geht.81 Genau dieses Ziel des Entmytologisierungsprogramms wird von Engemann eben nicht beherzigt. Der Glaube bleibt bei ihm auf der Ebene der Codierung und Umcodierung von Weltbildern und erreicht die Ebene des Selbstverständnisses und der damit angesprochenen Daseinsmöglichkeit des Glaubens nicht. 2.4.3.2 Gewissheit und Wahrheitsfrage Ein weiterer Aspekt, der den Unterschied zwischen der Sprache als Medium der Sinn- und Weltkonstruktion und der Sprache als Medium der Begegnung von Mensch und Gott und Mensch und Mensch verdeutlicht, ist die Frage nach Lüge und Wahrheit. Wenn Sprache primär in ihrer Funktion gesehen wird, begegnende Wirklichkeit in einen Sinnzusammenhang einordnen zu können, wird das Problem der Lüge angesichts der erkenntnistheoretischen Einsicht sekundär, dass man die Deutung der Dinge so oder so nicht an „den Dingen, wie sie sind,“ überprüfen kann. Entscheidender ist, dass überhaupt ein Sinnzusammenhang aufrecht erhalten werden kann. Für diesen Zusammenhang gibt Engemann mit Voltaires Candide ein „eindrucksvolles literarisches Beispiel“.82 Es geht dabei darum, dass sich der Philosoph Pangloß von einer „Kette sich überstürzender, schicksalhaft makabrer Ereignisse“ nicht aus der Ruhe bringen lässt „dank eines internalisierten Interpretationssystems, das die Dinge auf einen Nenner bringt,“ von dem gilt: „Es ist ein ,Nenner‘, für den keine Größe zu erdrückend oder zu belanglos wäre, daß sie nicht zählen könnte als ein Zeichen für die Richtigkeit der Deutung, oder besser, für ihre Tauglichkeit, ihre Tragfähigkeit.“83 Der Gesichtspunkt der Tauglichkeit ist dabei abgekoppelt von dem der Wahrheit. Für den gleichen Sachverhalt gibt es Beispiele aus der psychoanalytischen Praxis, die deutlich machen, dass eine angebotene Erklärung für ein psychisches Problem auch dann hilft, wenn sie nicht den tatsächlichen biographischen Tatsachen entspricht. Wenn der Glaube in diesem Sinne verstanden werden soll, würde das heißen, dass der Satz, dem Glaubenden muss alles zum besten dienen, so zu interpretieren ist, dass alles Begegnende in das Weltbild des Glaubens eingeordnet werden kann. 80 Ebd. 81 Vgl. Fergusson, Entmythologisierung, 1329, sowie Schmithals, Bultmann, 393. Aber auch schon Fuchs, Programm, 27: „Man sollte meinen, es wäre deutlich genug zu merken gewesen, dass eine Entmythologisierung überholter Weltvorstellungen das Verständnis für die Hauptsache weckt: dass Gott als Person verstanden werden will.“ 82 Engemann, Homiletik, 35. 83 Ebd.
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Dagegen spricht schon, dass dann der Glaube ein gesetzliches Bestehen auf eine bestimmte Deutung wird, gepaart mit ängstlicher Abwehr von Rückfragen nach den wahren Sachverhalten, eine Glaubensgestalt wie sie sich z. B. als biblizistische Frömmigkeit findet. Demgegenüber stellt sich das Problem der Wahrheit in der Dimension der Sprache als Medium der Mitmenschlichkeit nicht in erkenntnistheoretischer Hinsicht, sondern im Sinne der Wahrhaftigkeit und Verlässlichkeit des Sprechers. Im Zusammenleben ist der Mensch darauf angewiesen, dass er sich auf das, was ihm von anderen zugesagt wird, verlassen kann. Je enger die zwischenmenschliche Beziehung, desto offensichtlicher ist die Notwendigkeit dieses Aspekts. Eugen Rosenstock-Huessy hat diesen Aspekt der Sprache besonders betont, indem er sagt, dass nur der wirklich spricht, der sich an das gebunden weiß, was er sagt.84 Gewissheit erscheint in diesem Zusammenhang nicht als Vergewisserung einer Welt- und Lebensdeutung, sondern ist das Vertrauen in eine mir gemachte Zusage, die mich gewiss macht. In diesem Sinne ist auch Jesus „als gewißmachendes Wort des Lebens“ zu verstehen, wie es von Ebeling in seinen Leitsätzen zur Christologie entfaltet wird.85 „Einstimmen in Jesus heißt darum: mich in der Weise mit dem Wort, das er ist, identifizieren, daß ich der, der ich bin, als schon Vergangener sein kann, weil ich mich auf die zugesagte Zukunft einlasse als darin schon Eingelassener.“86 Indem ich mich auf die zugesagte Zukunft einlasse, verlasse ich mich auf die Wahrhaftigkeit des in Jesus ergangenen Wortes Gottes, ich verlasse mich wie Jesus auf den verborgenen Gott. Die daraus erwachsende Gewissheit ist von den partiellen Gewissheiten unterschieden, wie sie im zwischenmenschlichen Bereich möglich sind.87 Der Unterschied hängt zentral damit zusammen, dass beim Einverständnis mit Jesus das Selbstverständnis des Menschen grundsätzlich zur Diskussion steht. „Wenn es sich dabei nicht um ein partielles Interesse, sondern um das Leben selbst, d. h. um die Entscheidung über das eigene Menschsein handelt, so ist gemeint: Jesus begegnet als das den Menschen identifizierende Wort und darum als Einladung, einzustimmen, um so, in ihn eingestimmt, mit sich selbst einig zu sein.“88 Das Wort identifiziert den Menschen so, dass es ihm deutlich macht, dass er nur aus Gott leben kann; damit ist zugleich offenbar, dass der Mensch bisher als Sünder gelebt hat. Indem der Glaubende in Jesu Wort einstimmt, ist er mit sich selbst einig, weil er in sein Geschöpf-Sein einstimmt. Das „mit sich selbst einig“ darf daher nicht so verstanden werden, dass der Mensch aufgrund einer Vgl. Rosenstock-Huessy, Sprache, 354 u. ö. Ebeling, Theologie, 83 – 92, 84. Ebd. Letzter Halbsatz Hervorhebung von mir, ML. Ebeling nennt als „partielle Gewißheitserfahrung, die ahnen läßt, was Existenz in Gewißheit hieße: z. B. wenn ein Mensch seine Schuld bekennt, in auswegloser Lage getrost ist, im Augenblick äußersten Gefordertseins sich hingibt, oder einfach: wenn einer fröhlich ist, ganz bei der Sache ist, von Herzen liebt, entschieden seinen Weg geht usw.“ Ebeling, Theologie, 87. 88 Ebeling, Theologie, 84.
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gewonnenen Erkenntnis, nun mit sich selbst einig, auf sich allein gestellt frei sich verwirklichen könnte. Insofern es das Wesen des Menschen als Geschöpf Gottes ist, auf Gott angewiesen zu sein und auf seine Mitmenschen hin ausgerichtet zu sein, ist er nur im „Gegründetsein extra me“ mit sich einig. In diesem Sinne gilt: „die Gewißheit des Glaubens ist das radikale Gegenteil von Selbstgewißheit: nämlich Gegründetsein extra me und d. h. Gottesgewißheit, wie sie Jesus eröffnet und wie sie von daher bestimmt ist als Teilhabe an Gottes Allmacht, als Angerufensein durch Gottes Wort und als Ermächtigtsein zum Anrufen Gottes.“89 Die Gewissheit als Gegründet-Sein extra me ist zu unterscheiden von einer aus einer bestimmten Weltdeutung erwachsenden Vergewisserung im Umgang mit den im Leben auf mich zukommenden Situationen, mag die fragliche Weltdeutung dabei ein noch so christliches Gewand haben. Diese Art der Gewissheit gehört vielmehr auf die Seite der Selbstgewissheit, indem man dem, was begegnet, mit einem fertigen Weltbild antwortet, und so den begegnenden Anspruch leicht von sich fern halten kann, umso leichter, als das dabei verwendete Weltbild religiöse Weihen hat.90 Dass dem Glaubenden alles zum besten dienen muss, ist daher nicht so zu verstehen, dass alles mit dem christlichen Gottesbild in Einklang gebracht werden kann, sondern so, dass der Glaubende in jeder Situation im Namen Jesu auf den in ihr verborgenen Gott vertraut und versucht, ihrem Anspruch an ihn gerecht zu werden. Dem entspricht, dass „Konkretionen“ der Gewissheit Jesu sind: „die Freiheit, die, von Vergangenem und Zukünftigem nicht irritiert, gegenwärtig sein läßt zu dem, was an der Zeit ist zu sagen und zu tun; die Vollmacht, die aus dieser Freiheit zum Notwendigen folgt; und die Liebe, zu der die Freiheit ermächtigt.“91
2.4.3.3 Zusammensein im Wort oder Selbst- und Weltbildreform Die Überlegungen zum Sich-Verstehen im Sinne Bultmanns haben gezeigt, dass es in der Begegnung mit dem Wort Gottes primär um die Willensäußerung Gottes geht, die meine Beziehung zu ihm betrifft. Von diesem Zentrum des Geschehens ausgehend, kommt es dann zu einer Selbst- und Weltbildre89 Ebd., 85. 90 Vgl. hierzu auch Ebelings 8. Leitsatz zur Christologie: „Die eigentliche Frage der Gewißheit ist völlig verfehlt, wenn sie abgedrängt wird in den Horizont des Wissen von Festgestelltem und dabei stillschweigend Selbstgewißheit zur selbstverständlichen Voraussetzung gemacht wird. Doch verbirgt sich in dem Streben nach Vergewisserung [!] in bezug auf das Feststellbare als dem Streben nach Macht über das Verfügbare der Versuch, die vorausgesetzte Selbstgwißheit zu sichern durch ihre Erfolge. Der selbstgewisse Mensch erfährt sich zumindest als in Frage gestellt durch das von ihm noch Unbewältigte. In der Ungewißheit in bezug auf dies oder das ist die Ungewißheit des Menschen in bezug auf sich selbst verborgen wirksam und verführt in Unverstand zur Sicherung aus dem Verfügbaren.“ Ebd., 86. 91 Ebd., 89. Hervorhebung im Original.
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Grundlinien der theologischen Argumentation
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form, weil beide jetzt in ihrer Mitte auf Gott bezogen werden. Beide Aspekte gehören untrennbar zusammen und sind doch zu unterscheiden: der Vollzug der Gottesbeziehung in Anrede und antwortendem Glauben, und die veränderte Sicht des Lebens und der Welt. Die Beziehung impliziert die Selbst- und Weltbildreform. Umgekehrt aber kann die bloße Selbst- und Weltbildreform nicht für den Vollzug der Beziehung als dem soteriologisch Entscheidenden einstehen. In der Beschreibung der Begegnung mit dem Wort Gottes in Jesus Christus und in der Predigt ist daher die Anrede unverzichtbar. Engemann hingegen beschreibt die Vorgänge konsequent ohne Bezug auf die Anrede. Offenbarung bedeutet demgemäß, „dass Gott sich dem Menschen zeigt, dass Gott sich wahrnehmen läßt.“92 Die biblischen Texte, die von Jesus zeugen, drängen darauf, „herrschende Lesarten über Gott und die Welt umzucodieren und ihren Lesern interpretatorische Entscheidungen zuzumuten, die je eine überraschende andere Sicht der Dinge implizieren.“93 Das ist richtig, erlaubt aber ohne den Verweis auf die Anrede nicht zu explizieren, dass nach Bultmann der Glaube als Antwort auf das Wort Gottes „nicht bedeutet, daß der Mensch das Wort akzeptiert und hinterher danach sein Lebens so einrichtet, daß es zum ,Leben‘ führt, sondern so, daß dieser Glaube selbst das Leben gibt und vor dem Tode rettet.“94 Die Offenbarung „innoviert“ eben nicht nur unser Wissen über Gott, die Welt und uns selbst, sondern betrifft in der Versöhnung unmittelbar unser Gottesverhältnis als Beziehung. Analog werden wir auch einer Anrede im zwischenmenschlichen Bereich nicht gerecht, wenn wir daraus einzig und allein Wissen über unseren Gesprächspartner und uns zu erlangen versuchen, ohne uns mit einer Antwort in der Beziehung zu engagieren. Dieser Zusammenhang begegnet bei Bultmann auch, wenn er bezüglich des biblischen und des griechisch-hellenistischen Wortverständnisses den Unterschied zwischen Sehen und Hören herausstellt. „Der beherrschende Sinn von k|cor ist“, so Bultmann bezüglich des griechisch-hellenistischen Sprachgebrauchs, „daß er ap|vamsir ist, d. h. daß er einen Sachverhalt sehen läßt.“95 Der Mensch versteht demgemäß „sein Sein nicht als geschichtliches, das durch das Miteinander von Ich und Du konstituiert wird, sondern er sucht vom denkenden Ich aus sein Sein in der Welt zu verstehen. Er braucht nicht zu ,hören‘; er will ,sehen‘; der k|cor ist nicht Anrede, sondern ap|vamsir.“96 Demgegenüber gilt: „Gottes Wort ist immer Anrede und wird als solches nur verstanden, wenn die Anrede verstanden, im eigentlichen Sinne gehört
92 Engemann, Einführung, 79. Die Offenbarung in Jesus Christus bedeutet dann: „Ein neues Niveau der Verständlichkeit Gottes und der Deutlichkeit seines Heils wird in der Geschichte und dem Geschick Jesu erreicht.“ Ebd., 81. 93 Engemann, Spielraum, 148. 94 Bultmann, Begriff, 283. 95 Ebd., 274 f. 96 Ebd., 275 f.
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wird.“97 Engemann folgt offenbar der nach Bultmann griechisch-hellenistischen Auffassung. Bei ihm geht es beim Glauben nicht um Antwort auf die Anrede Gottes an uns, sondern um „Welt- und Selbstbildreform“.98 Das Hören kann in diesem Verständnis keine eigenständige Bedeutung haben: „Daß in Jesus aus Nazareth Gott selbst unter die Leute gekommen, daß er für uns gestorben ist, ja, daß Jesu Tod und Auferweckung uns das Leben gerettet hat – das kann man nicht sehen und hören. Zu solchem Urteil kann nur gelangen, wer einen Erschließungsraum zur Verfügung hatte, dessen Begehbarkeit es erforderte aber auch ermöglichte, seine Zeichen zu deuten.“99 Anfang und Wesen des Glaubens ist in Engemanns Ausführungen ein Zeichendeutungsvorgang, nicht das Hören der Anrede Gottes und unsere Antwort darauf.
2.5 Anrede und Zeichen: Möglichkeiten der Verbindung beider Aspekte in der Homiletik 2.5.1 Das untrennbare Beieinander von Anrede und Interpretation und die kulturelle Bedingtheit des Verstehens Nachdem ich bisher in kritischer Auseinandersetzung mit der Argumentation Engemanns den Anredeaspekt gegenüber dem Zeichenaspekt der Sprache stark gemacht habe, gilt es nun, den Zeichenaspekt der Sprache und die semiotischen Einsichten in ihrer Bedeutung für die Homiletik explizit hervorzuheben. Es ist bereits mehrfach angeklungen, dass der Anredeaspekt zwar vom Zeichenaspekt zu unterscheiden ist, aber nicht von ihm getrennt werden kann. Bei Bultmann zeigte sich dies z. B. in der ausdrücklichen Feststellung, dass die Anrede auch als solche verstanden werden muss, um sie als Anrede hören zu können und auf sie mit Glauben zu antworten. Bei der Gegenüberstellung von Anrede und dem an der Interpretation des Wahrgenommenen orientierten griechischen Sprachverständnis war dies zwar unbetont, in Bultmanns ganzer Theorieentfaltung aber ist es zentral: seine existentiale Interpretation zielt ja gerade darauf, dem unter den Bedingungen der Neuzeit lebenden Hörer verständlich zu machen, was Anrede durch Gott sein soll, damit er diese Anrede auch als solche hören kann. Obwohl es letztlich um die Anrede geht, ist das Verstehen und damit die interpretierende Deutung der gehörten oder gelesenen Worte, mit der sich die Semiotik befasst, entscheidend: nur durch diese interpretierende Deutung können die begegnenden Worte als Anrede, und erst recht als Anrede durch Gott, verstanden und damit auch wahrgenommen werden. 97 Ebd., 282. 98 Engemann, Spielraum, 148. 99 Ebd.
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Die an dieser Stelle liegende Unverzichtbarkeit und Stärke der Semiotik hat Michael Meyer-Blanck als Beschreibung des Ineinanders von Zeichen und Subjekt beschrieben. Die Unhintergehbarkeit des Zeichenaspekts der Sprache bedeutet: „ohne Zeichen gibt es keine Wahrnehmung.“100 Die Wahrnehmung der mir begegnenden Worte als Anrede und damit auch die Erfahrung der Anrede ist an deutende Zeichenlektüre gebunden. Wenn diese Anrede als Anrede durch Gott wahrgenommen und erfahren werden soll, ist dies erst recht unweigerlich mit den Deutungen verbunden, „mit denen man sich in [m]einer Kultur über die religiös zu qualifizierenden Erfahrungen verständigt.“101 Die vom Zeichenaspekt der Sprache zu unterscheidende Erfahrung der Anrede ist zwar zentral für den Glauben, gleichzeitig aber ist Zeichenlektüre unabdingbar für „das Zustandekommen von Erfahrung, für jede Form von Wahrnehmung.“102 So sehr es in Gesetz und Evangelium als den beiden Weisen des Redens Gottes mit uns um Anspruch und Zuspruch, und damit um Anrede geht, wird doch beides vermittelt und hörbar gemacht durch Beschreibung unseres Lebens in seinem Bezug zu Gott (Gesetz) und der Erzählung von Jesus Christus (Evangelium), die sich wiederum gegenseitig erschließen und deuten. Wiewohl es in der Predigt wesentlich um unser Leben als angesprochenes geht, ist der eher geringe Anteil direkten Ansprechens und Zusprechens immer bezogen auf die Beschreibung unseres Lebens als angesprochenes. Zur Gestaltung dieser Beschreibung mit dem Ziel, dass der Hörer möglichst viel damit anfangen kann, hat die Semiotik wesentliches beizusteuern. Trotz des sachlichen Primats der Anrede ist daher das Achten auf den Zeichencharakter der Sprache für die Homiletik unverzichtbar. Andernfalls könnte das Vermittlungsproblem zwischen Gott und Mensch, das unter den Bedingungen der Neuzeit im Zentrum der Homiletik steht, vorschnell durch den Verweis auf „Anrede“ scheinbar gelöst erscheinen. Die Problematik verhält sich hier analog zur Diskussion um „Symbole“ als vermeintlich einfache Lösung der Vermittlungsproblematik. So wie Symbole nicht an sich und gleichsam automatisch Transzendenz und Immanenz zusammenführen, sondern nur, wenn sie in dieser Weise gelesen werden, führt auch Anrede nicht per se zur Erfahrung von Transzendenz in der Immanenz. Abgesehen davon, dass Anrede nicht nur in der Form direkter Anrede, sondern auch indirekt über deutende Wahrnehmung des Begegnenden erfahren werden kann, ist vor allem die Erfahrung von Anrede als Anrede durch Gott – und damit das Aufscheinen von Transzendenz in der Immanenz – an kulturell bedingte Deutungsprozesse gebunden. Die besondere Stärke der semiotischen Kommunikationsauffassung scheint mir dabei zu sein, auf der kulturellen Bedingtheit und dem soziokulturellen Kontext jeglichen Verstehens zu insis100 Meyer-Blanck, Symbol, 140. 101 Ebd., 141. 102 Ebd.
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
tieren. Letztlich wirft einen dieses Insistieren auf den soziokulturellen Kontext des Verstehens unerbittlich auf die Vermittlungsproblematik zurück. Sowohl für Symbole als auch für die Anrede gilt: wenn der soziokulturelle Kontext den Zusammenhang von Gott und Mensch in seinem Wirklichkeitsstatus als höchst fraglich qualifiziert und Deutungen des Lebens und der Welt in der Regel ohne den Bezug auf Gott vornimmt, ist ihr Potential geschmälert, die Erfahrung von Transzendenz in der Immanenz zu ermöglichen. Die Bedeutung des soziokulturellen Kontextes und der kulturellen Bedingtheit allen Verstehens wird von Engemann zu Recht gegen dies in Zweifel ziehende theologische Positionen betont: es gibt „keine Möglichkeit des Verstehens oder Erkennens, die nicht an ein Netz von Konventionen anknüpfen müßte.“103 Zweifellos gilt: „das Interpretationsrepertoire der Theologie überhaupt [ist] kulturell gebunden. Daher ändert sich mit der Kultur auch die Theologie.“104 Von daher ist mit Engemann alle Homiletik zu kritisieren, die den Schluss nahe legt, dass sich die im Text enthaltene Botschaft unabhängig von den soziokulturellen Bedingungen ihrer Rezeption selbst durchsetzt, bzw. die Bedingungen als sachfremd bewusst an den Rand der Überlegungen drängt.105 2.5.2 Zum Verhältnis von Theologie und Semiotik in der Homiletik – Referentenbezug und Wahrheitsfrage 2.5.2.1 Grundsätzliche Überlegungen zur Verhältnisbestimmung Generell stellt sich bei der Rezeption der Semiotik wie anderer nicht-theologischer Wissenschaften die Frage, wie die Vorgehensweise und die Ergebnisse dieser Wissenschaften, die bewusst und per Definition vom Gottesbezug des Menschen und der untersuchten Sache absehen, zur theologischen Perspektive auf den gleiche Sachverhalt in Beziehung gesetzt wird. Da die Theologie keine Wahrheit zu scheuen braucht, geht es dabei nicht darum, beide Perspektiven gegeneinander auszuspielen, sondern darum, beide Perspektiven zu ihrem Recht kommen zu lassen, und die für die Homiletik relevanten Ein103 Engemann, Homiletik, 11. 104 Ebd., 23. Unnötig bzw. problematisch finde ich dagegen die Zuspitzung, die suggeriert, dass die Kultur Subjekt der Theologie sei: „Was folgt aus der faktischen Ubiquität der Kultur im Hinblick auf das Aussagepotential der Theologie? Impliziert der unausweichlich ubiquitäre Charakter der Kultur nicht auch ihre potentielle ,Omniszienz‘? Wer spricht? Wer bietet den Sinn? Wer liefert die Form – wenn nicht die Kultur?“ Engemann, Homiletik, 22. Meyer-Blanck widerspricht dieser Zuspitzung, ohne damit die Unhintergehbarkeit der Kultur in Frage zu stellen, wenn für ihn der „Code“ bzw. die „Enzyklopädie“ „nicht als monokausale oder universale Erklärungsmuster gelten, sondern als Widerlager von – gleichwohl immer wieder ernst zu nehmender – Subjektivität.“ Meyer-Blanck, Symbol, 141. 105 Vgl. den Abschnitt „Unabhängigkeit – ein Mythos über die Botschaft“, Engemann, Homiletik, 146 – 148.
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sichten für die Zwecke der Homiletik möglichst fruchtbar zu verbinden. Eine konfrontative Gegenüberstellung beider Perspektiven kann in der Regel dadurch verhindert werden, dass man die nicht-theologische Sichtweise als begrenzte Sichtweise auf die weitere, den Gottesbezug einbeziehende Perspektive bezieht. Praktisch heißt dies im konkreten Vorgehen, dass man die Ergebnisse des nicht-theologischen Wissenschaft nicht vorschnell mit dann meist aus ihrem Zusammenhang genommenen theologischen Aussagen kurzschließt, oder theologische Aussagen kritisiert, ohne hinreichend auf deren Recht und ihre unterschiedliche Perspektive zu achten. An Hand dieser Überlegungen sei noch einmal die oben dargestellte Problematik des Vorgehens Engemanns rekapituliert. Das Inkarnationsargument ist per se nicht geeignet, ein Ins-Verhältnis-Setzen von Semiotik und Theologie im beschriebenen Sinn zu befördern, in dem beide Perspektiven zu ihrem Recht kommen. Schon in dem Argument selbst ist ja der theologische Aussagezusammenhang nur unzureichend und daher der soteriologische Sinn der Inkarnation nicht beachtet. Entscheidend dabei ist, dass das Verständnis des Menschen als auf Gott bezogen nicht zum Zug kommt. Inkarnation als das Auf-sich-Nehmen der Bedingungen des Menschseins, meint ja theologisch das Sein unter dem Gesetz, das letztlich auf den Anspruch Gottes auf den Menschen verweist. In gleicher Weise fasst Jesus als Wort Gottes an uns im Sinne eines Zuspruchs und als Versöhnung direkt die Gottesbeziehung des Menschen in den Blick. In der Form, wie Engemann sich auf die Inkarnation bezieht, wird zudem die Frage des Übergangs und des Nebeneinanders von theologischer und semiotischer Argumentation verdeckt. Das Inkarnationsargument ist von der Art, dass es die Rezeption der Semiotik pauschal legitimiert, so dass im Folgenden nicht mehr nach dem Verhältnis beider Perspektiven gefragt wird. Vielmehr hat sich gezeigt, dass die Semiotik zum grundlegenden Theorierahmen wird, von dem aus auch genuin theologische Sachverhalte wie die Offenbarung beurteilt werden. So kommt es gerade nicht dazu, dass beide Perspektiven zu ihrem Recht kommen. Es entstehen „Ja/ Nein-Alternativen“ z. B. hinsichtlich der Frage der Abgeschlossenheit der Offenbarung, die weder semiotisch nötig sind, noch der theologischen Aussageintention gerecht werden. Homiletisch entscheidender ist aber, dass auf diese Weise die in der Predigt ablaufende Kommunikation ausschließlich unter einer theoretischen Perspektive betrachtet wird, die vom Gottesbezug prinzipiell absieht.106 Damit widerstreitet aber das damit gegebene Verhältnis von theologischer und se106 In der Kritik an der theologischen Unterbestimmtheit homiletischer Theorien, die sich mit Kommunikationstheorien befassen, bin ich mit Jochen Cornelius Bundschuh einig, ebenso, „dass gerade an der theologisch zentralen Frage nach der Bedeutung von Gottes Wirken in seinem Wort andere Perspektiven aufbrechen.“ Bundschuh, Kirche, 289. Anders als Bundschuh deute ich das Wirken Gottes im Wort nicht in Anlehnung an Josuttis als Inne-Sein in einem dynamischen Kraftfeld oder Klangraum des Wortes Gottes, sondern als Mit-Sein im Sinne einer interpersonalen Beziehung. Vgl. Bundschuh, Kirche, 319 f u. ö.
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miotischer Argumentation m. E. zentralen homiletischen Anliegen und Aufgaben. Denn wie könnten die sprachlichen Vorgänge in der Predigt bzw. die in ihr ablaufende Kommunikation homiletisch nicht daraufhin untersucht werden, wie sich das Verhältnis Gottes zum Menschen im Wort vollzieht und gestaltet? Selbst wenn man nicht, wie die hermeneutische Theologie das Zusammensein Gottes mit dem Menschen als Zusammensein im Wort bestimmt, wofür doch viel spricht, dürfte man nicht darum herumkommen, homiletisch anzuerkennen, dass die Predigt wesentlich mit dem Gottesbezug des Menschen und dessen Veränderung hin zum Heilvollen zu tun hat. Dies geschieht in der Predigt aber durch das Wort. Die Homiletik hat sich daher darum zu bemühen, zu klären, wie man sich die Verbindung von Gott und Mensch durch das Wort vorstellen kann. Anders gewendet: Wenn auf der Ebene homiletischer Theoriebildung unbeantwortet bleibt, wie man sich das Zusammensein von Mensch und Gott unter den Bedingungen und Denkvoraussetzungen der Neuzeit vorstellen kann, wird diese Homiletik kaum dazu anleiten können, die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch in der Predigt plausibel zu machen. Wie sollen die Predigthörerinnen und Predigthörer, die massiv im täglichen Leben mit Vorstellungen und damit verbunden Verhaltensweisen konfrontiert sind, die vom Gottesbezug menschlichen Lebens absehen, die dargebotene Perspektive auf Gott als das ganze Leben betreffend und durchdringend verstehen, und nicht als sonntäglichen Zusatzblick auf die Welt, wenn die Predigerin oder der Prediger selbst nicht zu sagen vermag, wie die Sprache des Menschen, die ja einen wesentlichen Teil seiner Menschlichkeit ausmacht, mit Gott zusammen hängt? In Folge der pauschalen theologischen Legitimation der Semiotik durch das Inkarnationsargument gerät die zentrale homiletische Frage aus dem Blickfeld, wie Gott und Mensch im Wort oder durch das Wort zusammenhängen. Es ist daher auch kein Zufall, dass die Anrede als bedeutsam für die homiletische Theoriebildung bei Engemann praktisch ausfällt, obwohl sie einerseits als zentrales Element menschlichen Lebens phänomenologisch beschrieben und zugleich in der Form des Anspruchs des Gesetzes und des Zuspruchs des Evangeliums sinnvoll und plausibel auf Gott bezogen werden kann. Jesus Christus ist dann, wie gezeigt, nicht mehr das Wort Gottes an uns, sondern Gott lässt sich in Jesus Christus in besonderer Weise wahrnehmen. Die Predigt vom Reich Gottes, die darauf abzielt, „dass ich mein Leben unter den Bedingungen des Reiches Gottes verstehen und Zeuge der Inszenierung dieses Reiches unter den Bedingungen meines Lebens werde,“107 ist dann nicht mehr sinnvolle Ergänzung zur Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus, die dem Anliegen gerecht wird, dass sich der Glaubende in seinem Selbst- und Weltverständnis ausdrücken und auslegen muss,108 sondern zentrale und 107 Engemann, Spielraum, 161. Hervorhebung im Original. 108 Gelingt es nicht, das Selbst- und Weltverhältnis als zentral auf Gott bezogen zu verstehen, kann letztlich auch die Anrede Gottes als solche nicht mehr gehört werden. Von daher ist es wichtig,
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einzige Form der Predigt, nicht aus theologischen Gründen, sondern weil Zeuge der Inszenierung des Reiches Gottes zu sein der Perspektive rezeptionsästhetischer Theorien entspricht. Eine weitere homiletisch bedenkliche Folge ist, dass die Vermittlungsaufgabe von Gott und Mensch, Glaubenssprache und Lebenserfahrung der Menschen aus der ihr zukommenden Zentralstellung der Homiletik verdrängt wird. Während die Symboldidaktik den Fehler gemacht hat, die Schwierigkeiten der Vermittlung mit dem Rückgriff auf den vermeintlich selbstwirksamen Modus des Symbols, das von sich aus Immanenz und Transzendenz verbinde, zu umgehen, und damit das Vermittlungsproblem nur scheinbar und damit letztlich gar nicht gelöst hat, so ist der ambiguitäre Kommunikationsmodus an sich ebenso wenig eine Lösung der Vermittlungsproblematik. In diese Richtung geht denn auch die Anfrage von Jan Hermelink, ob „die semiotische ,Strapazierung‘ der Theologie am Ende wieder auf das Vertrauen in die Selbstdurchsetzung der ,Botschaft‘ hinaus[läuft], nun in der unhintergehbaren ,Offenheit‘ von Gestaltung und Rezeption?“109 So kann man denn in der Tat beobachten, wie bei Engemann die Vermittlungsaufgabe einerseits an den Text und die in ihm angelegten Leerstellen,110 und andererseits vor allem an den Hörer abgegeben wird. Aus der richtigen Einsicht, dass der Hörer das Gehörte zu seinen Verstehens-Voraussetzungen und Erfahrungen in Beziehung setzen muss, folgert Engemann, „dass der Hörer letztlich der kompetente Vermittler zwischen der von ihm erlebten ,Situation‘ und christlicher ,Tradition‘ ist.“111 Diese Aussage wird dann falsch, wenn die theologische Reflexion auf die Vermittlung von Situation und christlicher Tradition durch eine den Hörer als Interpret involvierende Gestalt der Botschaft ersetzt wird.
2.5.2.2 Referentenbezug der Kommunikation und Wahrheitsfrage Neben den angesprochenen grundsätzlichen Überlegungen ist für das Nebeneinander von Semiotik und Theologie in der Homiletik und in anderen praktisch-theologischen Disziplinen entscheidend, wie man mit dem Umstand umgeht, dass die Semiotik Ecoscher Prägung, die zumeist bei der Rezeption herangezogen wird, bewusst die Wahrheitsfrage und die Rückfragen „dass ich mein Leben unter den Bedingungen des Reiches Gottes verstehen und Zeuge der Inszenierung dieses Reiches unter den Bedingungen meines Lebens werde“. 109 Jan Hermeling, Rez. Gib mir ein Zeichen, in: ThLZ 119 (1994) Sp. 556 f, zitiert nach MeyerBlanck, Symbol, 45, Anm. 65. 110 Vgl. Engemann, Homiletik, 158, wo von dem „Modell-Leser“ die Rede ist, „der dem Text so nah ,auf den Leib rückt“, dass er schließlich, in ihm ,untergebracht‘, etwas entdeckt, ,was der Text – unabhängig von der Intention des Autors – tatsächlich sagt‘“ (mit Bezugnahme auf Ecos Lectura in fabula, 61 und 79). Später heißt es, der Text hat „selbst das signifikative Material bei sich, mit dem er erschließbar wird“. Ebd., 169. 111 Ebd., 149.
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nach den Referenten, d. h. der Wirklichkeit, auf die sich die Kommunikation bezieht, aus dem Aufgabenbereich der Semiotik ausklammert. Die Semiotik interessiert demgemäß, dass und wie Kommunikation funktioniert, ganz unabhängig davon, ob das Kommunizierte wahr ist und einen Anhalt an der Wirklichkeit hat.112 Mit dieser aus semiotischer Perspektive sinnvollen Selbstbeschränkung kann man bei der Rezeption unterschiedlich umgehen. Meyer-Blanck z. B. betont, dass das Absehen der Semiotik von der Wahrheitsfrage, die mit dem Wirklichkeitsstatus der Referente der Glaubenssprache zu tun hat, diese keineswegs suspendiert, sondern letztlich umso schärfer stellt.113 Engemann dagegen folgert aus dem Umstand der Referentenunabhängigkeit der Kommunikation für die Predigt, dass diese durch die Semiotik davor bewahrt werde, „die kaum ,greifbaren‘ Referente der Theologie und traditionellen Predigt (Gott, Glaube usw.) in immer neuen diskursiven Anläufen vermeintlich identifizierend in die Kommunikation einzubeziehen.“114 Gegenüber den von Engemann untersuchten Predigtbeispielen abstrakter Identifikation hat dies sein Recht, für die homiletische Theoriebildung als solche hat es aber zur Folge, dass von semiotischen Grundsätzen ausgehend die Frage nach dem Wirklichkeitsstatus der Aussagen der Glaubens- und Predigtsprache zu beantworten für unnötig befunden wird. Die für die Homiletik zentrale Vermittlungsaufgabe kann aber m. E. nicht bearbeitet werden, ohne die Frage nach dem Wirklichkeitsstatus der Gottesbeziehung des Menschen und dessen Plausibilität im Kontext neuzeitlichen Denkens und Wirklichkeitserlebens zu stellen. Dies schließt letztlich auch ontologische Reflexionen ein, die freilich nicht ontisch identifizieren, sondern hermeneutisch deuten.
2.5.2.3 Kontrollierter Übergang von der semiotischen zur theologischen Perspektive Die semiotische Theorie führt bei der Untersuchung der Predigt als Kommunikation von sich aus zu dem Punkt, an dem die theologische Frage als nicht mehr von der Semiotik zu bearbeitende, aber notwendige und unabweisbare Aufgabe erscheint. Dieser Punkt begegnet nicht von ungefähr, wenn in der semiotischen Theorie der Wirklichkeitsbezug der Rede als „Kommunikationsumstand“ beachtet wird.115 Der Kommunikationsumstand ist für die 112 Vgl. Eco, Einführung, 73: „Die Semiotik interessiert sich für die Zeichen als gesellschaftliche Kräfte. Das Problem der Lüge (oder der Falschheit), das für die Logik von Bedeutung ist, ist prä- oder postsemiotisch.“ 113 Meyer-Blanck, Symbol, 165. 114 Engemann, Homiletik, 52. 115 Man kann an dieser Stelle fragen, warum hinsichtlich des Kommunikationsumstandes betont vom Wirklichkeitsbezug und den „Dingen, wie sie sind“ gesprochen wird, wo doch die Umstände der Kommunikation in jedem Fall auch nur als gedeutete von Belang sind. Ebd., 51.
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Anrede und Zeichen: Möglichkeiten der Verbindung
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Semiotik von Interesse, weil er auf die Aufnahme und Interpretation der Botschaft zurück wirkt.116 Solche Kommunikationsumstände können ein „vernachlässigter Talar“ sein, aber auch das „Wissen um solche Situationen, in denen gegenwärtig Blut vergossen wird,“117 das für die Aufnahme der Botschaft vom für uns vergossenen Blut Jesu eine Rolle spielen kann. Ein wesentlicher Bestandteil der Aufmerksamkeit auf den Kommunikationsumstand ist, „spezifische gesellschaftliche Subcodes zu bedenken“.118 Solche Subcodes können für das, was als wirklichkeitsrelevant angesehen wird, entscheidend sein, und einer Botschaft, die dem zuwiderläuft, die Plausibilität und Wirkung nehmen. So kann man z. B. auf der „System-Ebene“ beobachten, dass „die semantischen Systeme, unabhängig von ihrer prinzipiellen Funktionalität, in koordinierungsrelevante und irrelevante unterteilt“119 werden. Bei der Untersuchung der die Predigt betreffenden „gesellschaftlichen Subcodes“ kann man direkt auf das von mir als zentral angesehene Problem der Homiletik stoßen. Es begegnet in Codes, die davon ausgehen, dass die Welt ohne Gott funktioniert, und wir mit uns und der Welt allein sind. Diese Codes werden täglich eingeübt und gestärkt durch Analysen und Erklärungen der Welt, die bewusst von Gott absehen, und den darauf aufbauenden Lebensweisen und Verhaltensmustern. Dem stehen Codes zur Seite, welche die Plausibilität der Rede von Gott und ihre Wirklichkeitsrelevanz in Zweifel ziehen oder für nicht entscheidbar halten. Es ist aus semiotischer Perspektive offensichtlich, dass solche Codes die Wirkung von Botschaften untergraben, denen die Zusammengehörigkeit von Gott und Welt zu Grunde liegen. Innerhalb der Semiotik ist aber das damit aufgeworfene Problem nicht lösbar, wie entgegen dieser wirksamen Subcodes die Zusammengehörigkeit von Gott und Welt heute plausibel sein und erfahren werden kann. Damit ist eine Rückfrage an die Wirklichkeit verbunden, die per definitionem nicht ins Gebiet der Semiotik fällt. Die Semiotik weist hier also selbst auf einen für die Homiletik zentralen Punkt, den sie nicht beantworten kann. Eines der von Engemann angeführten Beispiele kommt dem sehr nahe. Er berichtet von einem Prediger, der trotz fehlender Zuhörer seine Predigt hält. Durch diesen Kommunikationsumstand wandelt sich die Botschaft des Predigers „Jesus ist für uns gestorben“ in die Botschaft „Der ist für uns gestorben – und kümmert uns nicht mehr.“120 Damit hat sich die Annahme durchgesetzt, dass unser Leben und unsere Welt in Wirklichkeit ohne Gott zu verstehen ist. Ein Sterben, um Gott und Mensch zu versöhnen, hat darin keinen Platz. Damit 116 Ebd., 180: „Die ,Umstände‘ wirken als Interpretant der Botschaft.“ 117 Ebd. 118 Ebd. Vgl. zu Subcodes, Ebd., 92: „als Subcodes soll im weiteren ein auf jeder Ebene des Codes benennbares Phänomen bezeichnet werden: nämlich, dass jede konventionalisierte Zuordnung, Strukturierung, Koordinierung usw. (also jede Erscheinungsform des Codes) in actu communicationis auf einer ,tieferliegenden‘ Codierung basiert.“ 119 Ebd., 76. 120 Ebd., 183.
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ist die Schwierigkeit der Verkündigung in unserer Zeit recht deutlich markiert. Engemann interpretiert den Befund aber anders und wendet ihn sogar ins Positive. Denn durch die Veränderungen der Kommunikationsbedingungen sei es möglich, „zu erleben, dass die durch die Interpretationsstörung ausgelöst Erfahrung, ,dass alles auch anders sein kann‘, in dieser Situation selbst schon ein Stück Evangelium ist, das das Gesetz erlaubter und unerlaubter Zuordnungen durchbricht.“121 In Verbindung mit der Erzählung von dem vor leeren Stühlen Predigenden ist dies ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie der Versuch zu kurz greift und letztlich verfehlt ist, rein formale von der Semiotik beschriebene Vorgänge als interpretierende Auslegung des Evangeliums zu verstehen. Die durch Kommunikationsumstände ausgelöste Erfahrung, „dass alles auch anders sein kann“, kann gleicherweise positiv und befreiend, wie negativ desillusionierend und deprimierend sein. Es ist eben nicht möglich, rein formal die Veränderung der Umstände und das Neue per se als Evangelium zu bezeichnen, ohne auf die inhaltliche Verbindung zu Glaube und Liebe zu achten, die in der Tat die Kräfte sind, welche Gesetzlichkeit durchbrechen und neues Leben ermöglichen. Zur Diskussion eines unproblematischen Übergangs von der semiotischen zur theologischen Perspektive gehört eine differenziertere Untersuchung der Frage, ob nicht die semiotische Einsicht in die Unabhängigkeit der Kommunikation von dem Bezug auf ihre Gegenstände (Referente) nicht doch der Homiletik nahe legt, auf ontologische Reflexionen zu verzichten, und statt dessen ernst zu nehmen, dass die Kommunikation über Gott und den Glauben ohnehin nur in „kulturellen Einheit“ möglich ist. Engemann stellt durchaus die Frage: „Welcher Art ist die Wirklichkeit, die ,hinter‘ den genannten Ausdrücken [Gott, sein Reich, sein Sohn] geglaubt, erkannt, verteidigt wird?“122 Er setzt dabei als konsensfähig voraus, „dass es hier um andere Ebenen von Wirklichkeit als nur die ontisch identifizierbare geht.“123 Letztlich geht es ihm aber dabei um keine Antwort oder Reflexion auf die selbst gestellt Frage. Die schwere Greifbarkeit der Bezugsgrößen des Glaubens legt für ihn vielmehr nahe, dass man die ontologische Reflexion unterlassen und sich auf die Untersuchung der Kommunikationsinhalte als kultureller Größen beschränken sollte. Die „semiotische Analyse des Predigtgeschehens“ befreit davor, „die kaum ,greifbaren‘ Referente der Theologie und traditionellen Predigt (Gott, Glaube usw.) in immer neuen diskursiven Anläufen vermeintlich identifizierend in die Kommunikation einzubeziehen.“124 Dem semiotischen Insistieren auf der Referentenunabhängigkeit der Kommunikation liegt die schon von Saussure ausgesprochen Einsicht zu 121 122 123 124
Ebd., 184. Ebd., 12 f. Ebd., 42. Ebd., 52.
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Grunde, dass die „Ausdrucksmittel einer Gesellschaft“ unabhängig von der Beschaffenheit der Objekte auf „Konvention“ beruhen.125 Daraus folgt für Engemann für Predigt und Homiletik: Die Möglichkeit, verständlich zu sein, erhält die Predigt jedoch nicht dadurch, dass all ihren Signifikanten eine sinnliche Wahrnehmung korrespondieren würde (sonst wäre es ein aussichtsloses Unterfangen, sich beispielsweise über ein konsequent eschatologisch gedachtes Himmelreich verständigen zu wollen). Wichtiger scheint es zu sein, dass der Hörer etwas kennt, was seine Kultur (im engeren Sinne: sein soziokultureller Kontext) an Bedeutungen bereithält, die sie den wahrgenommenen Signifikanten entsprechen läßt.126
Und: Demnach gibt es etwas, das in der menschlichen Gesellschaft per communicationem statt der Dinge im Umlauf ist, das als Inhalt gewußt wird (noch ehe der an diesem Ausdruck Partizipierende die Erfahrung eines ,wirklichen‘ Referenten machen konnte oder dies jemals kann) und das zu seiner mitteilenden Repräsentation lediglich eines es bezeichnenden Ausdrucks bedarf.127
Ich bezweifle nicht die Einsicht, dass die Ausdrucksmittel, mit denen man sich über etwas verständigt, kein wie auch immer zu denkendes Abbild der realen Vorgänge sind. Mir scheint aber an den Schlussfolgerungen, die Engemann daraus zieht, die darin liegende Abkopplung der Kommunikation vom Erfahrungsbezug generell und für die Homiletik im Besonderen problematisch. Wenn das Entscheidende ist, „dass der Hörer etwas kennt, was seine Kultur an Bedeutung bereit hält“ und vom Erfahrungsbezug gänzlich abgesehen wird, dann ist nicht mehr zu unterscheiden, ob jemand vom Hörensagen über etwas mitredet, weil er eben weiß und gelernt hat, was man darüber zu sagen pflegt, oder ob er aus eigener Erfahrung und damit auch eigenverantwortlich spricht. Das ist aber gerade homiletisch relevant und betrifft wiederum die schon angesprochene Vermittlungsproblematik. Das Problem besteht ja gerade darin, dass man Glaubenssprache vielfach nur noch von Hörensagen kennt und zwar irgendwie weiß oder zu wissen meint, wie sie funktioniert, ihre Kraft aber verloren gegangen ist, eigene Erfahrungen anzusprechen, zu deuten und dann auch neue zu prägen. Glaubenssprache ist aus Erfahrung hervorgegangen und hat dann bestimmte kulturell bedingte Ausdrucksformen ausgebildet. Ihre Rückübersetzung in Erfahrung und ihr Bezug zur Erfahrung sind das dringende homiletische Problem. 125 Ebd., 11 f. An anderer Stelle bezieht sich Engemann in diesem Sinne auf Cassirer : „Die Erkenntnis wie die Sprache, der Mythos und die Kunst: sie alle verhalten sich nicht wie ein bloßer Spiegel, der die Bilder eines Gegebenen […] einfach zurückwirft, sondern sie sind […] die eigentlichen Lichtquellen, die Bedingungen des Sehens wie die Ursprünge aller Gestaltung“. Ebd., 68. Vgl. Cassirer, Philosophie, 26 f. 126 Engemann, Homiletik, 59. 127 Ebd., 59 f.
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Der Akzent, den Engemann von der Semiotik ausgehend setzt, weist m. E. daher in die falsche Richtung. Es reicht eben nicht aus, dass die Interpretationen, die ein Prediger vornimmt, verstanden werden können, weil er „aus der schier unendlichen Palette an Bedeutungen, die die abendländischchristliche Kultur“ bereithält, zitiert, so dass er „Himmelreich“, durch die Ausdrücke „Gott selber in seiner Herrschaft“, „das Reich, das in Kraft besteht“, „Gottes Herrlichkeit“ usw. auslegen kann. Man kann vielleicht „verstehen“ oder „wissen“, dass die Glaubenssprache so funktioniert, was das Himmelreich mit dem eigenen Leben zu tun hat, versteht man dadurch nicht. Um den Unterschied zwischen dem aus semiotischen Gründen auszuschließenden Referentenbezug und den homiletisch notwendigen Erfahrungsbezug zu verdeutlichen, sei ein weiteres Beispiel angeführt. Bohren sagt in einer Predigt zu Mt. 5,3, um die Notwendigkeit der Umkehr zu betonen: „Denn was nützt mir das Himmelreich, wenn ich im Straßenkreuzer davon fahre?“128 Engemann führt dazu aus, dass es im Sinne der Referentenunabhängigkeit der Kommunikation nicht nötig sei, einen Straßenkreuzer aus Erfahrung zu kennen und an realen Objekten eine Definition zu versuchen, was ein Straßenkreuzer ist, um den Verweis auf den Straßenkreuzer als Hinweis für „Wohlstand“, „Arroganz“ oder auch „Unfähigkeit sich beschenken zu lassen“129 zu verstehen. Das ist zweifellos richtig, ändert aber nichts daran, dass die Aussage nur dann im eigentlichen Sinne verstanden wird, wenn man aus Erfahrung etwas damit anfangen kann, was es heißt, sein Glück im Wohlstand zu suchen oder in sich verschlossen, nichts von anderen annehmen zu können. In der gleichen Weise hat sich auch die positive Beschreibung dessen, was mit Reich Gottes gemeint ist, auf Erfahrung zu beziehen. Eine Sprache ist tote Sprache, wenn sie lediglich bekannte Zuordnungen abruft, ohne Resonanz in der eigenen Erfahrung auszulösen. Kommunikation und Verständigung kann wohl auch ohne eigene Erkenntnis aus Erfahrung aufrecht erhalten werden, zumal wenn die Bedeutung und Bedeutsamkeit ihrer Inhalte im soziokulturellen Kontext außer Frage steht. Zu nachhaltigen Störungen kommt es aber, wenn Wahrheitsgehalt und Wirklichkeitsbezug grundsätzlich fraglich geworden sind, was besonders dann der Fall ist, wenn der Bezug zur Erfahrung nicht mehr hergestellt werden kann. Für die Glaubenssprache wirkt hier vor allem erschwerend, dass die Erfahrung spätestens seit Kant weithin auf einen empiristischen Erfahrungsbegriff reduziert ist, und für andersartige Erfahrungen weitgehend die Sprache und damit aber auch Plausibilität fehlt. Weil der Wirklichkeitsgehalt der Rede von Gott grundsätzlich in Frage steht, kommt die Theologie und die Homiletik m. E. nicht darum herum, die Frage nach der hinter der Glaubenssprache stehenden Wahrheit und Wirklichkeit zu stellen. Für die Semiotik ist die Frage nach den realen Gegenständen ja auch „nicht 128 Ebd., 58. 129 Ebd., 61.
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als solche belanglos, aber sie gehört nicht in die Semiotik,“130 weil für die Semiotik nicht von Belang ist, „was an sich wahr ist, sondern was Verstehen in Gang setzt, zur Interpretation auffordert und so Plausibilität erlangt.“131 Eco führt dazu in seiner Einführung in die Semiotik das Beispiel des brennenden Hauses an. Natürlich möchte jeder Mensch wissen, ob die Aussage, dass sein Haus brennt, der Wirklichkeit entspricht. Für den Semiotikprofessor sei aber als Semiotiker nur von Interesse, wie die Kommunikation über das brennende Haus funktioniert, und dies ist ganz unabhängig davon, ob das Haus wirklich brennt oder nicht. In der Tat kann man Panik auslösen, obwohl das Haus nicht wirklich brennt. Zu dieser Panik gehört aber auch, dass in keiner Weise fraglich ist, was ein brennendes Haus in Wirklichkeit ist und für das eigene Leben bedeutet. Dies ist bei einer Kommunikation, die sich auf Gott bezieht, nicht ohne weiteres der Fall. Das Verstehen und die Plausibilität, um die es der Semiotik geht, sind bei den Glauben betreffenden Sachverhalten auch nicht ohne weiteres von der Wahrheitsfrage zu trennen. Verstehen in dem Sinne, dass man sich im gegenüber zu Gott neu versteht und die Wahrheitsfrage in dem Sinne, dass das eigene Leben in der Gottesbeziehung wahr wird, sind untereinander wie auch mit der Erfahrung des Gottesbezugs unlöslich verknüpft. Man kann auch so sagen: Wenn Glaubenssprache nicht Erfahrung deutet und dabei mit der Sprache der Welt in Dialog tritt, handelt es sich vielleicht um Hülsen von Glaubenssprache, nicht aber um lebendige Glaubenssprache. Glauben hat mit mir nicht am Rand, sondern in meiner Mitte zu tun, und ist per se auf meinen Lebensvollzug und daher auf meine Erfahrung bezogen. Dies ist aber zugleich der „Referentenbezug“ der Glaubenssprache, denn für den Glauben kommt Gott nicht an sich, sondern in seiner Beziehung zu mir in Betracht. Freilich geht es in der Glaubenssprache nicht darum, Gott „in immer neuen Anläufen vermeintlich identifizierend in die Kommunikation einzubeziehen“,132 weil das, wovon der Glaube spricht, eine Beziehungswirklichkeit ist. „Verstehen“ kann man die Glaubenssprache letztlich nur, wenn man mit solcher Beziehungswirklichkeit etwas anfangen kann, auch im zwischenmenschlichen Bereich, der dann über sich hinaus auf Gott verweisen kann. So wie die unproblematische Wirklichkeit eines brennenden Hauses Grundlage dessen ist, dass die Aussage „Dein Haus brennt“ auch als Lüge verstanden werden kann, so sind die Beziehungen, in denen ich zu mir selbst und zu anderen Menschen stehe, die Erfahrungsgrundlage und der Resonanzboden der Glaubenssprache. Es geht um das Aufschließen der Glaubenssprache und In-Beziehung-Setzen zu diesen Erfahrungen und umgekehrt. Die Ansicht, dass kulturell rubriziertes Wissen über Gott auch ohne den Bezug auf Erfahrung „verstanden“ werden kann, dient dem gerade nicht. 130 Meyer-Blanck, Symbol, 82. 131 Ebd., 84. 132 Engemann, Homiletik, 52.
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2.5.2.4 Der unterschiedliche Sinn der Bezugnahme auf ontologische Fragen in Semiotik und Homiletik Engemann argumentiert gegen die ontologische Fragestellung: „eine letzte, ontologische Struktur wäre weder interpretationsbedürftig noch -fähig. Denn könnte man sie in eine weitere Interpretationsstruktur aufnehmen, wäre sie nicht die ,letzte‘.“133 Dahinter steht wahrscheinlich die Stellungnahme Ecos gegen die Tendenzen zum ontologischen Strukturalismus bei Lvi-Strauss. Dabei geht es um die Frage, ob man eine universale Struktur des menschlichen Geistes identifizieren kann, die letztlich alle geschichtlich begegnenden menschlichen Lebensäußerungen erklären kann. Abgesehen davon, dass sich auch eine solche behauptete Struktur an der Erfahrung ausweisen müsste und immer interpretationsbedürftig bliebe, ist die ontologische Fragestellung der Homiletik anderer Natur. Es geht dabei um die Verstehbarkeit und Plausibilität des Gottesbezugs des Menschen als wirklichkeitsrelevant. Es geht nicht um „letzte“ ontologische Strukturen, sondern um die explizite Bezugnahme auf ontologische Fragen. Daher ist die ontologische Reflexion auf den Gottesbezug des Menschen auch kein weitere Interpretationen verhindernder Endpunkt der Analyse. Sie ist die Basis, von der aus die unausschöpfliche Interpretation unseres Lebens und unserer Welt als im Verhältnis zu Gott stehend ihren Ausgangspunkt nehmen kann.
2.6 Personale Kommunikation als Wesen der Predigt: über die Semiotik hinaus weisende Ansätze bei Engemann In der Semiotischen Homiletik setzt sich Engemann zwar mit bestimmten theologischen Aussagen über die Predigt auseinander, seine Antwort und sein eigener konstruktiver Beitrag beschränkt sich aber auf formale Fragen der Predigtarbeit und Predigtgestaltung. In seiner Einführung in die Homiletik geht er darüber hinaus, und versucht auch theologisch das Wesen der Predigt als Kommunikation zu bestimmen. Dabei will er „darüber nachdenken, inwieweit das Reden Gottes mit den Menschen unter den Bedingungen menschlicher Kommunikation überhaupt beschrieben werden kann.“134 Gleichzeitig rücken theologische Aussagen ins Zentrum, die durch die semiotische Perspektive allein nicht mehr beschrieben werden können. Denn in der Predigt geht es eben nicht nur um „Welt- und Selbstbildreform“135, son133 Ebd., 30. 134 Engemann, Einführung, 116. 135 Engemann, Predigt, 83, und: Spielraum, 149.
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dern um „die Beziehung Gottes zu uns“.136 Die Inhalte einer Predigt dienen vornehmlich der „Konstituierung und Pflege des Verhältnisses zwischen Gott und uns […]: Indem Gott zu uns redet, schafft bzw. pflegt er Gemeinschaft mit uns und unter uns.“ In der Predigt geht es „um das Gemeinsamsein und -bleiben von Gott und Mensch.“137 Darum hat eine Predigt auch „zu verdeutlichen, dass Gott ein Verhältnis mit uns hat – es möge uns passen oder nicht.“138 Um dieses Verhältnis Gottes zu uns zu verdeutlichen und im Rahmen menschlicher Kommunikation zu beschreiben, bezieht Engemann sich auf die grundlegende Einsicht der Kommunikationswissenschaft, „dass Verständigungsprozesse zwischen Menschen auf mindestens zwei Ebenen realisiert werden, auf einer Inhaltsebene und auf einer Beziehungsebene.“139 Engemann versucht nun, die Beziehung zwischen Gott und Mensch nach Analogie der Beziehungsebene der Kommunikation auszulegen. Dies führt ihn v. a. dazu, Predigt als personale Kommunikation zu bestimmen, in welcher die „persönliche Note“140 des Predigers und das mit der Person einstehende Bezeugen der Botschaft konstitutiv sind. Der Predigtprozeß wird als Kommunikationsprozeß zwischen Personen realisiert, wodurch die Predigt einen personalen Mitteilungscharakter erhält. Der da redet, hat ein ,Gesicht‘, durch das alles Gesprochene einen eigenen, individuellen Charakter erhält. Was ich da höre, ist unauflösbar verbunden mit dem, der zu mir redet.141
Die persönliche Note und der individuelle Charakter sind dabei nicht wie bei Thurneysen und Urner Hindernis für das Lautwerden des Wortes Gottes, sondern entsprechen der „Praxis des Evangeliums Jesu, seine Sache in Person zu sein.“142 Denn: „Sofern das Wort in der Person Jesu zu Menschen in Beziehung und in Aktion tritt, haftet ihm selbst der Charakter personaler SelbstMitteilung an.“143 Soweit die Argumentation Engemanns, die einerseits Ansätze einer Öffnung hin zur inhaltlichen Frage nach dem Verhältnis von Gott und Mensch enthält, andererseits aber diese vor allem im Person- und Zeugenbegriff liegenden Ansätze nicht konsequent aufgreift, sondern letztlich auf der formalen Ebene bleibt. Der Zeugenbegriff böte in der Linie inkarnationstheologischer Argumentation die Möglichkeit, den Akzent auf das Zusammensein von Gott und Mensch zu legen. Gott offenbart sich und begegnet in dem Menschen Jesus, weil er nicht als für-sich-seiender Gott, sondern als Gott im Zusam136 137 138 139 140 141 142 143
Engemann, Einführung, 119. Hervorhebung im Original, dort Fettdruck. Ebd. Ebd. Ebd., 117. Hervorhebung im Original, dort Fettdruck. Ebd., 121. Hervorhebung im Original. Ebd., 120. Hervorhebung im Original, erste Hervorhebung dort Fettdruck. Ebd., 123. Hervorhebung im Original , dort Fettdruck. Ebd. Hervorhebung im Original, dort Fettdruck.
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mensein mit dem Menschen wahrhaft als der Gott begegnet, der er ist. Analog gehört zum Zeugen Jesu Christi der bezeugende Mensch dazu, weil auch er das versöhnte Zusammensein von Gott und Mensch und seine Gemeinschaft mit Jesus Christus bezeugt. Ein Zeugnis nur von Gott oder Jesus Christus in einem Für-sich-Sein ohne den Gläubigen wäre demgegenüber eine Verfälschung der Botschaft. Wiewohl man dies in Engemanns Argumentation mitlesen kann, liegt der Akzent bei ihm nicht auf dem Zusammensein von Gott und Mensch, sondern auf der kommunikationspraktischen Unvermeidlichkeit im Zeugnis von Jesus Christus auch von sich selbst zu ,zeugen‘ bzw. von sich etwas auszudrücken: „ich kann nicht das eine haben ohne das andere. So unbestreitbar das, was ich höre, den bezeugt, der Ursache und Inhalt der Botschaft ist, Christus, er zeugt auch vom Zeugen, der nicht hinter sein Zeugnis zurücktreten kann.“144 Damit ist weniger die Gemeinschaft von Gott und Mensch angesprochen, die für den Zeugenbegriff konstitutiv ist, als die kommunikationstheoretische Einsicht, dass man gar nicht kommunizieren kann, ohne etwas von sich selbst mitzuteilen, und auf diese Weise unweigerlich immer auch Beziehung zu gestalten. In der Auslegung des Zeugnisbegriffs durch den allgemeinen Umstand der Beziehungsebene der Kommunikation geht das Spezifische des Zeugnisbegriffs verloren, den Zusammenhang von Gott und Mensch zum Ausdruck zu bringen. M.E. ist es denn auch weniger die „individuelle Eigenart“ und „persönliche Note“ per se, welche dem Mitteilungscharakter des Evangeliums entsprechen, als vielmehr die Elemente, welche persönliche Betroffenheit und ein in Beziehung zu Gott gelebtes Leben widerspiegeln. Die Auslegung der Beziehung Gottes zu uns in der Predigt durch die Beziehungsebene der Kommunikation legt darüber hinaus das Missverständnis nahe, die Beziehungsbotschaften zwischen Prediger und Hörer direkt auf die Beziehung zwischen Gott und Hörer zu beziehen. Wiewohl es wichtig ist, dass der inhaltlichen Botschaft, z. B. von der Versöhnung, die Signale auf der Beziehungsebene der Kommunikation so gut es geht entsprechen, ist die durch Jesus Christus versöhnte Gottesbeziehung, zu welcher der Prediger im Namen Jesu einlädt, von der Beziehung des Predigers zu seinen Hörern zu unterscheiden. Die Beziehung zu Gott ist durch das Zeugnis vermittelte Beziehung und nicht als solche durch die Beziehungsebene der Kommunikation direkt gestaltete. Mit meinen kritischen Einwänden soll nicht gesagt sein, dass man nicht auch die kommunikationstheoretische Einsicht von der Unhintergehbarkeit der Beziehungsebene der Kommunikation so interpretieren könnte, dass sie auf die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch verweist. Dies könnte in der Richtung erfolgen, dass man menschliches Sein relational als Zusammensein interpretiert, das nicht zuletzt in der Unausweichlichkeit, Beziehungen im Wort zu gestalten und zu verantworten, auf das Zusammensein mit 144 Ebd., 122.
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Gott verweist. Immer aber wäre dabei die Frage des Verhältnisses von Gott und Mensch explizit zu verhandeln und das Bestehen dieses Verhältnisses, das nach Engemann die Predigt zu verdeutlichen hat, „es möge uns passen oder nicht“, auch hinsichtlich der Erfahrung plausibel zu machen. Dieser inhaltlichen Frage weicht Engemann durch den formalen Verweis auf die Beziehungsebene der Kommunikation aus. Immerhin kommt er ihr in seinen Ausführungen zum Person-Begriff sehr nahe, bei denen er sich in zentralen Punkten auf den katholischen Theologen Walter Kasper und dessen Ausführungen zu dem Thema Jesus Christus – Mittler zwischen Gott und Mensch bezieht, dem Schlusskapitel seines Buches Jesus der Christus. Von ihm zitiert er über die göttliche Person: „Die göttliche Person ist keine Wesenheit und Substanz, sie ist vielmehr das reine Einander-Zugewandtsein, reine Aktualität im gegenseitigen Verschenken und Empfangen.“145 Wiederum auf Kasper und Max Müller rekurrierend, führt er aus, dass sich die Heilsgeschichte in der Predigt fortsetzen soll, indem das „Heil in Christus“ als „personale Erfahrung“ Wirklichkeit wird. Mit dieser personalen Erfahrung hängt es zusammen, dass sich der Mensch „einerseits in seiner unaustauschbaren Einzigartigkeit geliebt, als ,unvertretbares Ich‘ gewollt, andererseits als ausgestattet mit einer dynamischen Offenheit für alles, was nicht er selbst ist, für Fremdes, Neues, Unbekanntes“146 erfährt. Schaut man genauer, was mit dem Person-Begriff im Zusammenhang der Christologie bei W. Kasper und der personalen Erfahrung bei M. Müller gemeint ist, stößt man zentral auf das Verhältnis von Gott und Mensch. Ich beginne mit dem Person-Begriff bei Müller, den Kasper direkt aufnimmt und im Zusammenhang seiner christologischen Ausführungen um einige Aspekte erweitert. Müllers Ausführungen zum Person-Begriff147 gehen aus von dem nachneuzeitlichen Phänomen des „Schwindens der Person“: „Die Person ist heute fehlend und im Entzug.“148 Im damaligen Kontext, Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, ging es um die Behauptung, dass die Zeit des Individuums endgültig vorbei und die Zeit des Kollektivs angebrochen sei, in dem der Mensch zum Funktionsträger innerhalb eines Arbeitsprozesses wird, in dem er sich nicht mehr als Person erfahren kann. Demgegenüber ist Müllers Anliegen, den Begriff der Person von dem des Individuums zu unterscheiden und in einem Durchgang durch die Begriffsgeschichte und der in ihr festgehaltenen Erfahrungen herauszuarbeiten, was die „personale Erfahrung“ ausmacht, um abschließend zu fragen, wie personale Erfahrung auch heute noch möglich ist. Aus dieser Problemstellung ist bereits ersichtlich, dass es hierbei nicht um einen so oder so unumgänglichen Begleitumstand menschlicher 145 Ebd., 123. 146 Ebd. 147 Vgl. M. Müller, Erfahrung. Kasper und Engemann beziehen sich vor allem auf die 2. Abhandlung „Person und Funktion“, 83 – 123. 148 Ebd., 85, mit Bezug auf Heidegger. Hervorhebung im Original.
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
Kommunikation geht, bei dem dann individueller Charakter und persönliche Note sehr nah beieinander liegen.149 Vielmehr geht es explizit um eine bestimmte Erfahrung, die aufgrund der Fraglichkeit des Gottesbezugs des Menschen in der Moderne gefährdet ist. Bei der Entfaltung des Person-Begriffs nach Müller können wir uns auf die wesentlichen, auch von Kasper übernommenen Ergebnisse beschränken. Der Begriff der Person bezeichnet demnach, dass im einzelnen, individuellen Menschen das Überindividuelle eines Absoluten konkret wird, also eine Widerspruchseinheit von Endlichem und Unendlichem. Es geht dabei um eine Identität, in der die gegensätzlichen Pole in ihrer Differenz erhalten bleiben: „das Subsistente als das für sich Selbständige und das Wesens- und Seinsprinzip als das gemeinsame, gültige Verbindende werden in der Ineinssetzung sein gelassen.“150 Müller fragt sodann: Wo gibt es im menschlichen Leben eine „personale Erfahrung“, die dieser Begriffsbestimmung entspricht? Bei der Suche nach entsprechenden Erfahrungen zeigt sich, dass die personale Erfahrung in der abendländischen Tradition auf die jüdisch-christliche Tradition zurückgeht. In der griechischen Metaphysik kommt es zwar zum Kontakt des Individuums mit dem Sein, die Individualität bleibt aber letztlich nicht als selbständige erhalten: im Tod löst sich die Seele vom Leib und geht in den absoluten Geist ein.151 So erfahren wir in der „Grunderfahrung des Geistes zwar Absolutes in uns […], aber nicht uns als Endlich-Absolute, als Personen.“152 In der jüdisch-christlichen Tradition zeigt sich aber ein spezifisch anderer Umgang mit der Todeserfahrung. Während sich der Heide am Trost der Metaphysik genügen lässt bzw. genügen lassen muss, dass das „Unvergängliche und Intelligible“ bewahrt bleibt, der „sinntragende Mensch“ aber vergeht, hofft der Christ auf die Auferstehung des Fleisches. Darin zeigt sich „der Anspruch des Menschen, daß nicht nur Geist, also überindividuelles Sein ewig währe, sondern daß Endliches, wir die endlich Leibhaften als diese selbst, nicht untergehen.“153 Dieser Anspruch des Christen macht die Todeserfahrung zu einer Widerspruchs- und Gegensatzerfahrung. Worin aber liegt der erfahrbare „Grund der Einheit und des Zusammens von Bedingtheit und Unbedingtheit“?154 Antwort: 149 Vgl. Engemann, Einführung, 120: „Der da redet, hat ein ,Gesicht‘, durch das alles Gesprochene eine eigenen, individuellen Charakter erhält.“ Hervorhebung im Original. Sowie Ebd., 121: „Weil der Prediger eine Person ist, kommt das Gesagte nicht ,nackt‘ daher ; es hat ,eine persönliche Note‘.“ Hervorhebung im Original. 150 Müller, Erfahrung, 93. 151 Vgl. Ebd., 97: „Im Tode verschwindet mit dem Verfall der Leiblichkeit unsere Einzelheit: der Geist löst sich aus dem ,compositum mixtum‘, in das er eingegangen ist, heraus; er befreit sich aus dieser Beschränkung zu seiner schrankenlosen Weite und Unbegrenztheit, in der er der eine Geist ist, der göttliche Geist der m|gsir mo^seyr.“ 152 Ebd., 97. Hervorhebung im Original. 153 Ebd., 98 f. 154 Ebd., 101.
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die jüdisch-christliche Erfahrung erfährt als den Grund dafür, daß der endliche und bedingte Mensch zugleich absolute und unbedingte Bedeutung habe, seine dialogische Struktur. Martin Buber hat dies immer wieder herausgestellt. In der dialogischen Struktur sind Unbedingtes und Bedingtes nicht nur so nur ,beisammen‘, daß sie zwei verschiedene Seins- und Wirklichkeitsschichten ,in uns‘ darstellen, die wir in uns vorfinden können. Der Anspruch bleiben zu können, unbedingt zu sein im Währen, steigt nicht aus uns selbst und unserer Tiefe hervor, als der in allem leibhaften Dasein sich zur Geltung bringende Anspruch des Geistes in uns. Was an uns unbedingt ist, ist der Anspruch, der nicht aus uns kommt und entsteigt, sondern an uns herantritt, auf uns zukommt, uns fordert. Das Zusammen von Bedingtheit und Unbedingtheit ist nicht die Gleichzeitigkeit von Wirklichkeitsebenen, sondern das Zueinandergehören von unablösbaren Struktur-Momenten in einem Ereignis der Begegnung, welche eine Begegnung von Absolutem und Nichtabsoluten ist, als welches Ereignis und als welche Begegnung wir Menschen selbst sind. Im Hören des unbedingten Anspruchs und im endlichen Versuch des Entsprechens diesem gegenüber vollzieht sich jedesmal neu jenes Geschehen, das wir die Menschwerdung nennen können und das im eigentlichen Sinne Personwerdung, Geburt der Person darstellt.155
Dieses Zitat zeigt sehr schön, wie die Frage der Zusammengehörigkeit von Mensch und Gott, genauer, das Ereignis-werden ihres Zusammenseins, unlöslich mit dem Aspekt der Anrede, hier in der Form des Anspruchs, verbunden ist. Es ist daher kein Zufall, dass die inhaltlich theologische Frage nach der Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch und der Anredeaspekt der Sprache bei Engemann beide nicht vorkommen. Der Verweis auf die Beziehungsebene der Kommunikation kann dies nicht ausgleichen, weil die Frage nach einer erfahrbaren Plausibilität der Widerspruchseinheit von Gott und Mensch unbeantwortet bleibt. Der Zusammenhang der Aussagen Kaspers, auf die sich Engemann bezieht, ist die Entfaltung des christologischen Dogmas in unserer Zeit und damit das Problem der Vermittlung von Gott und Mensch,156 also genau das von mir angemahnte zentrale Problem auch der Homiletik. Im Jesus Christus begegnet, so Kasper, eine neue Wirklichkeit des Menschseins: „Menschsein für Gott und für die anderen.“157 Diese neue Möglichkeit des Menschseins und die damit verbundene Erfahrung wurden im Laufe der Zeit in dem Begriff „personale Erfahrung“ zusammengefasst. An dieser Stelle verweist Kasper direkt auf Müller, dem er für das Verständnis des Person-Begriffs viel zu verdanken habe.158 Dementsprechend führt er aus: 155 Ebd., 101 f. Hervorhebungen im Original. 156 Vgl. Kasper, Jesus, 283: „Es ist offenkundig, daß hinter der ständigen, bis heute nicht zur Ruhe gekommenen dialektischen Bewegung in der gesamten Dogmen- und Theologiegeschichte zwischen der Betonung der Einheit und der Betonung der Unterschiedenheit von Gottheit und Menschheit [in Jesus Christus] ein ungeklärtes und vielleicht auch unklärbares Problem steht: das Problem der Vermittlung zwischen Gott und Mensch.“ 157 Kasper, Jesus, 290. 158 Ebd., Anm. 48.
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Wilfried Engemann: Auslegung der Predigt als Kommunikation
Die Person ist die Weise, wie das Allgemeine, das Sein als Horizont des Geistes, dieses Konkrete ist; sie ist der Ort, wo das Sein bei sich selber ist; sie ist Da-Sein. Die Person ist konstituiert durch die Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem, Bestimmten und Unbestimmten, Faktizität und Transzendenz, Unendlichem und Endlichem. Sie ist diese Spannung; ihre Identität besteht darin, daß sie das Differente sein läßt.159
Für den konkreten Lebensvollzug heißt das: zum einen verwirklicht sich die Person in Relationen „zu sich, zur Mitwelt und zur Umwelt.“ Diese personalen Relationen werden zum anderen „gekreuzt und getragen durch die umgreifende Relation des Menschen zu Gott“.160 Kasper akzentuiert etwas anders als Müller, wenn er nicht vom unbedingten Anspruch des göttlichen Gebotes, sondern von der „Einmaligkeit der Person“, die „unbedingte Annahme um ihrer selbst willen [verlangt]“,161 spricht. Die unbedingte Annahme „begründet ihre Heiligkeit und ihre unantastbare Würde.“162 Neben der Einmaligkeit verweist Kasper auf die „grenzenlose Offenheit“ der Person, die auf das „unendliche Geheimnis Gottes“ verweist.163 Nach dieser Charakterisierung des Person-Begriffs kommt Kasper auf das Problem der Vermittlung zwischen Gott und Mensch zurück: Person ist wesentlich Vermittlung. Aufgrund seiner Personalität ist der Mensch eingespannt in der Horizontalen wie in der Vertikalen; er ist das Wesen der Mitte. Diese Mitte ist jedoch kein in sich ruhender Punkt, sondern dynamisch über sich hinausbezogen. In dieser Bewegung kommt der Mensch nie zur Ruhe. Er ist offen für alles, angelegt auf Gemeinschaft und doch stets auf sich zurückgeworfen; er ist ausgerichtet auf das unendliche Geheimnis Gottes und doch unbarmherzig hineingebunden in seine Endlichkeit und in die Banalität des Alltags.164
Es dürfte deutlich geworden sein, dass die „faktische Eigenart einer jeden Predigt“ und deren „persönliche Note“, auf welche die Argumentation bei Engemann abzielt, von der in Jesus Christus begegnenden personalen Vermittlung im Sinne Kaspers zu unterscheiden ist. Die Bezugnahme auf Kasper, die für die theologisch zentralen Aussagen Engemanns entscheidend ist, stimmt nicht mit der spezifisch Engemannschen Argumentation zusammen, die wie in der Semiotischen Homiletik auf der formal kommunikationstheoretischen Ebene verbleibt. Der von Kasper gemeinte Zusammenhang ist weder eine Begründung für die von Engemann geforderte persönliche Note der Predigt, noch kann die Beziehungsebene der Kommunikation als angemessene Auslegung der theologisch relevanten Aussagen Kaspers über Beziehung 159 160 161 162 163 164
Ebd., 291. Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Personale Kommunikation als Wesen der Predigt
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und Partizipation gelten. Hinsichtlich der Frage nach dem Wesen der Predigt geht Engemann über die semiotische Perspektive hinaus zur explizit theologischen Perspektive. Die theologischen Aussagen bleiben dabei aber wesentlich Zitat, dessen Vermittlung mit den kommunikationstheoretischen Zugängen zur Homiletik nicht geglückt ist.
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3. Ergebnisse der Analyse und theologische Grundlegung eines Antwortversuchs 3.1 Die rechte Unterscheidung von Gott und Mensch als gemeinsames Problemfeld Trotz der sehr unterschiedlichen Ansätze von Müller-Schwefe und Engemann hat sich im Laufe der Analyse ein beiden gemeinsames Problemfeld ergeben: die Unterscheidung von Gott und Mensch, in der Weise, dass es nicht zur Trennung kommt, sondern die Bezogenheit des Menschen auf Gott in ihrer soteriologischen Zielrichtung zur Geltung kommt. Dieses Problem ist für den Erfahrungsbezug der Predigtsprache entscheidend. Wenn die Unterscheidung von Gott und Mensch zur Trennung führt, geht auch die Erfahrbarkeit Gottes verloren. Wenn umgekehrt Tendenzen zur Identifikation vorherrschen, verschwindet auch die Dynamik der Bezogenheit des Menschen auf Gott, die nur aus dem Unterschied heraus möglich wird. Die Bezogenheit des Menschen auf Gott ist aber gerade der Punkt, an dem Gott erfahrbar wird. Treten die Erfahrung und die Rede von Gott auf die eine oder andere Weise auseinander, verkommt die Sprache des Glaubens zur Sondersprache, die von einem abgesonderten Bereich handelt, der mit der Erfahrung der Menschen nichts zu tun zu haben scheint.
3.1.1 Die Problematik bei Müller-Schwefe Wenn man davon ausgeht, dass Gott mit uns durch sein Wort handelt, konzentriert sich die Frage der rechten Unterschiedenheit von Gott und Mensch auf die Frage des Verhältnisses von Gottes Wort und Menschenwort. Dies hat sich in der Analyse bestätigt. Der Kern der Problematik bei Müller-Schwefe liegt m. E. daher darin, dass er die intersubjektiven Möglichkeiten der Sprache als Sprache des Du im Sinne Bubers, oder allgemeiner als Sprache der Liebe, erst mit der Offenbarung in Jesus Christus als Möglichkeiten des Menschen anerkennen will. Dies versteht er als den Einspruch Barths, hinter den man nicht zurück könne.1 Damit wird aber das Wort, in dem Gott mit uns im Evangelium handelt, gegenüber den gegebenen natürlichen Möglichkeiten der Sprache ein Sonderwort, das ganz neue Möglichkeiten in die Sprache hinein bringt. Diese neue Möglichkeit ist dann das, was der Mensch von sich aus nicht 1 Vgl. Müller-Schwefe, Sprache, 77.
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Ergebnisse der Analyse und theologische Grundlegung
erreichen kann, sondern ihm nur von Gott her gewährt werden kann. Dem gegenüber bin ich im Anschluss an die Verhältnisbestimmung Ebelings der Meinung, dass die Möglichkeiten des Du und der Liebe von Anfang an von Gott gegeben und aufgegeben sind. Was der Mensch von sich aus nicht erreichen kann und ihm von Gott in Jesus Christus gewährt wird, ist das Vermögen, dieser Gabe und Aufgabe gerecht zu werden. Wenn dies richtig ist, dann ist Müller-Schwefes theologischer Streit gegen eine natürliche Theologie, die in der Folge das Werk Jesu Christi überflüssig mache, gänzlich fehl am Platz. Eben weil wir der von Anfang an gegebenen Gabe und Aufgabe nicht gerecht zu werden vermögen, ist und bleibt Jesus Christus für uns unentbehrlich. Bringt er hingegen eine neue Möglichkeit der Sprache, wird er nach Vollzug dieser Änderung entbehrlich. Von dieser Trennung innerhalb des Möglichkeitsraums der Sprache in natürliche Sprache und Sprache der Offenbarung lassen sich bei MüllerSchwefe die Linien ausziehen zu allen anderen Trennungen, v. a. der zwischen Schöpfung und Erlösung und der zwischen Wirklichkeit des Menschen und Wirklichkeit Gottes, wenn auch andere Aspekte sich damit verbinden, wie vor allem sein Verständnis Jesu als Herrn der Geschichte. Wenn der für die Erlösung unverzichtbare sprachliche Möglichkeitsraum des Du erst mit der Offenbarung in Jesus Christus gegeben ist, ist es konsequent, dass Schöpfung und Erlösung auseinanderfallen. In der Schöpfung geht es dann um das Weltverhältnis des Menschen, während in der Erlösung die intersubjektiven Bezüge entscheidend sind.2 Die Schöpfungswirklichkeit des Menschen muss dann gekreuzigt werden. Die Erlösung geschieht nicht durch den Tod hindurch, sondern beginnt erst nach dem Tod mit dem Anbrechen der anderen Wirklichkeit Gottes. Der Mensch ist als Subjekt der Geschichte ohne Gnade auf sich allein gestellt. Er kann nur standhalten in der Agonie und in dem Glauben an die Verheißung, dass nach dem Tod die andere Wirklichkeit Gottes auf ihn wartet. Diese Konsequenzen sind nicht allein Resultat der Verhältnisbestimmung von Gottes Wort und Menschenwort, hängen aber unlöslich mit ihr zusammen. 3.1.2 Die Problematik bei Engemann Entgegen der Trennung bei Müller-Schwefe, hat das für das Verhältnis vom Gottes Wort und Menschenwort entscheidende Inkarnationsargument die richtige Intention, gegen ein Auseinanderfallen der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit des Menschen, die Zusammengehörigkeit von Gott und 2 Man kann viele Aussagen Müller-Schwefes finden, die diese Aufteilung als grobe Verzeichnung erscheinen lassen. Dennoch bestätigt sie sich in der Gesamttendenz. Die Verwandlung der Welt ist für Müller-Schwefe die schöpfungsgemäße Bestimmung des Menschen. Sie führt aber nur zu Endlichkeit und Tod. Diese Wirklichkeit muss gekreuzigt werden. Nach dem Tod bricht die andere Wirklichkeit Gottes an, zu der Jesus Christus bereits durchgedrungen ist.
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Die rechte Unterscheidung von Gott und Mensch
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Mensch und die Einheit der Wirklichkeit zu betonen. Nur tut es dies m. E. mit ungeeigneten Mitteln, in der Art und Weise wie es sich dabei auf die Inkarnation beruft. Richtig daran ist, dass mit der Inkarnation vollends deutlich geworden ist, dass und wie Gott und Mensch in der einen Wirklichkeit zusammen gehören. In diesem Sinne deckt die Inkarnation und die Offenbarung in Jesus Christus auf, was in der Schöpfung immer schon angelegt und gewollt ist. Problematisch ist hingegen, wenn Engemann davon spricht, dass die Inkarnation zeigt, dass sich Gott den Bedingungen der menschlichen Sprache anpasst. Auf diese Weise entsteht wieder eine ähnliche Konstellation wie bei Müller-Schwefe, bei der Gott in der Inkarnation oder Offenbarung von außen in die Sprache eintritt. Vor allem wenn man das Zusammensein von Gott und Mensch als Zusammensein in der Sprache denkt, ist damit gerade nicht an der Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch festgehalten. Gott ist zunächst für sich gedacht, auch mit eigener Sprache, und tritt dann mit dem Menschen in Beziehung, indem er sich den Bedingungen seiner Sprache anpasst. Unverfänglicher und klarer ist es demgegenüber, davon auszugehen, dass die Sprache grundsätzlich das gemeinsame Medium von Gott und Mensch ist. Zu dieser Anfälligkeit des Inkarnationsarguments für Fehlinterpretation tritt als zweites, letztlich wohl entscheidender, hinzu, dass Engemann vom Semioseprozess als seinem grundlegenden Orientierungsrahmen dazu geführt wird, Offenbarung wesentlich als Wahrnehmung und den damit verbundenen Deutungsprozess zu verstehen. Offenbarung in Jesus Christus heißt für ihn, dass sich Gott in Jesus Christus in besonderer Weise hat wahrnehmen lässt.3 Damit ist m. E. der Rahmen des solo verbo, dem das sola fide zugeordnet ist, verlassen. Diese Einschätzung ist freilich erläuterungsbedürftig, insofern unsere Wahrnehmungen sprachlich verfasst sind. M.E. ist das solo verbo aber nicht als Unhintergehbarkeit der Sprachlichkeit unseres Weltverhältnisses zu verstehen, sondern im Sinne von Anrede. Es ist wie der ihm zugeordnete Glaube ein interpersonales Phänomen. Um diesen Unterschied zu markieren, scheint es mir sinnvoll, zwischen dem Weltverhältnis und intersubjektiven Verhältnissen zu unterscheiden, insofern das Ansprechen im intersubjektiven Verhältnis seinen genuinen Ort hat.4 Dieser Unterscheidung entspricht die Unterscheidung der Zeichenhaftigkeit der Sprache von dem Phänomen der Anrede als zwei Aspekten der Sprache, die nicht aufeinander reduziert werden können, was im Laufe der Arbeit noch weiter entfaltet und begründet werden soll.
3 Engemann, Einführung, 79.81. 4 Freilich kann mich auch etwas in der Welt wahrgenommenes „ansprechen“, etwa eine Blume oder ein Landschaftseindruck. Auch hier ist es sinnvoll, zwischen dem Aspekt des AngesprochenSeins und dem Vorgang der Wahrnehmung und Deutung zu unterscheiden.
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Ergebnisse der Analyse und theologische Grundlegung
3.2 Die Sprache des Glaubens als Dialog mit der Sprache der Welt Die Bezogenheit des Menschen auf Gott, die aus der Unterschiedenheit ihre Dynamik und soteriologische Ausrichtung erhält, ist als Bezogenheit und Zusammensein des Menschen mit Gott in der Sprache der Ort der Erfahrbarkeit Gottes. Wenn die traditionelle Glaubenssprache oder auch die aktualisierte Glaubenssprache der Predigt, die dieses Zusammensein des Menschen mit Gott in der Unterschiedenheit ausspricht, die Erfahrungen der Menschen nicht erreicht, liegt eine Störung vor, deren Ursachen geklärt werden müssen. Denn wenn die Glaubenssprache sich vor den Erfahrungen der Menschen in der Welt verschließt, wie Engemann dies in seinen Predigtanalysen gezeigt hat, hört sie damit zugleich auf Glaubenssprache zu sein. Ich teile die Auffassung Ebelings, dass die Sprache des Glaubens Dialog der Sprache des Glaubens mit der Sprache der Welt ist, und ausschließlich als dieser Dialog existiert.5 Fällt dieser Dialog aus, verliert die Unterschiedenheit und Bezogenheit ihren Sinn. Gottes Handeln am Menschen trifft dann den sündigen Menschen und seine Welt nicht, um sie zu verwandeln, sie läuft ins Leere. Das Evangelium ist das Wort, das von den Zwängen der Welt befreit. Daher kann es als Evangelium nur laut werden, indem es seine Vollmacht an der Welt erweist. Darum kann Ebeling sagen: „Nur in dieser Begegnung mit der Sprache der Welt, ja nur durch sie kommt der Glaube überhaupt zur Sprache. Und nur als Vollzug solcher Begegnung existiert Sprache des Glaubens.“6 Daher kann es Sprache des Glaubens nicht in einem vor den widerstreitenden Welterfahrungen geschützten Raum geben. Sprache des Glaubens kann sich auch nicht erneuern und aktuell werden, wenn man der Konfrontation des Glaubens mit der Welterfahrung ausweicht. Engemann hat nun in seinen Predigtanalysen in eindrucksvoller Weise aufgezeigt, wie Prediger mir ihren Predigten dieser Konfrontation ausweichen, in dem sie selbstbezügliche, redundante Sprachspiele aufführen, die das Einbringen der Erfahrung des Hörers aktiv verhindern. Engemann nimmt diesen Befund aber nicht zum Anlass, nach der dahinter liegenden Not und Schwierigkeit der Prediger zu fragen, die Sprache und die Erfahrung des Glaubens mit der Sprache und Erfahrung der Welt ins Gespräch zu bringen. Er verbleibt vielmehr auf der Ebene der bewussten bzw. wahrscheinlich zumeist unbewussten Kommunikationsstrategie, und stellt den Fehlformen seinen Gegenentwurf einer „ambiguitären“ Predigt entgegen. Das ist ohne Frage ein Schritt in die richtige Richtung, weil auf diese Weise bewusst gefördert wird, dass die Hörer ihre Erfahrungen einbringen. Ich meine, dass dennoch die hinter den Fehlformen der Kommunikation stehende spezifische Schwierig5 Ebeling, Einführung, 232: „Die Sprache des Glaubens ist also der Dialog des Glaubens mit der Welterfahrung.“ 6 Ebd., 230.
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Die Theologie als Ausgangspunkt und orientierendes Zentrum
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keit, wie heute Sprache und Erfahrung des Glaubens und der Welt zueinander stehen, beantwortet werden müsste, damit letztlich auch die ambiguitäre, die Erfahrungen der Hörer einplanende Predigt ihre volle Wirkung entfalten kann.7
3.3 Die Theologie als Ausgangspunkt und orientierendes Zentrum aller homiletischen Theoriebildung 3.3.1 Abgrenzung von der Alternative Dialektische Theologie oder Empirische Wende Wenn hier die Theologie als Ausgangspunkt und orientierendes Zentrum der Homiletik ausgegeben wird, versteht sich dies als Gegenthese zu der Alternative „Homiletik im Zeichen der Dialektischen Theologie“ oder „Homiletik im Zeichen der empirischen Wende“. Im Fall der Dialektischen Theologie vermochte die Theologie die praktische Predigtarbeit nicht zu orientieren. Im Falle der Homiletik im Zeichen der empirischen Wende wurden theologische Fragen zunächst einmal ausgeklammert, um sich ganz den praktischen Predigtfragen und der empirischen Erforschung der Predigtwirklichkeit zuzuwenden. Die theologischen Fragen der prinzipiellen Homiletik galten als lange genug traktiert und geklärt. Insofern kam es zwar zum Bruch mit der Tradition der Dialektischen Theologie, aber nicht eigentlich zur theologischen Auseinandersetzung.8 Wenn daher hier von der Theologie als Ausgangspunkt 7 Müller-Schwefe weicht demgegenüber der Frage, was Evamgelium und Wort Gottes heute heißt, nicht aus. Seine Antwort auf diese Frage dient zwar dem Dialog der Glaubenssprache mit der Sprache der Welt in seinem Sinne, ändert aber nichts an den aufgezeigten Trennungen. So spricht das Evangelium, das seiner Ansicht nach gerade heute gehört und verstanden werden kann, die Menschen darauf an, dass sie als Subjekte der Geschichte und der technischen Weltverwandlung nur Endlichkeit und Tod produzieren, und verheißt ihnen das neue, andere Leben bei Gott nach dem Tod. 8 Gräb, Predigt, 11. Hermelink weist darauf hin, dass die von ihm untersuchten Autoren der empirischen Wende (Lange, Bastian, Otto und Jetter) an dem dogmatischen Wirklichkeitsbegriff der Dialektischen Theologie festhalten. Demgemäß besteht ein „prinzipieller Gegensatz zwischen Erfahrungswirklichkeit und Glauben“, Hermelink, Situation, 229. Dadurch entsteht eine doppelte Perspektive: „Die Kommunikation mit der Wirklichkeit der Hörer soll empirisch aufgeklärt werden und wird zugleich weiterhin systematisch-theologisch interpretiert“, Hermelink, Situation, 263. Demgegenüber gehe es darum, die „Wirklichkeit als Ort des Handelns Gottes [zu begreifen]“, Hermelink, Situation, 268. Hermelink bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf Ebeling: Die Wirklichkeitsdeutung des Glaubens könne mit Ebeling verstanden werden als „Auslegung der jeweiligen Situation als Ausprägung der Grundsituation. In der Konfrontation mit der ,Offenbarung‘ werden die individuellen Lebenssituationen zum Material einer homiletischen Deutung, die sich auf das fundamentale Gottesverhältnis des Glaubenden bezieht“. Hermelink, Situation, 275. Im gleichen Sinne versuche ich im Anschluss an Ebeling die Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt als in ihrer Mitte von Gott betroffen zu verstehen, und mit
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Ergebnisse der Analyse und theologische Grundlegung
und orientierendem Zentrum die Rede ist, ist damit ein bestimmtes hermeneutisches Verständnis von Theologie gemeint, wie es bereits bei der bisherigen Analyse der Problematik zugrunde gelegt war.
3.3.2 Kriterien der Theologie im Anschluss an G. Ebeling Aufgabe der Kriterien der Theologie ist es, dafür Sorge zu tragen, dass das Handeln Gottes am Menschen in der Unterscheidung von Gott und Mensch zu Geltung kommt, ganz gleich, welcher Gegenstand verhandelt wird. Daher sind solche Kriterien nicht eine mehr oder weniger große Zahl entscheidender Inhalte. Es geht vielmehr darum, „die Situation zu umreißen, in der die Sache der Theologie ,spielt‘.“9 Diese Situationsangabe wird bei allen unterschiedlichen legitimen Möglichkeiten immer zwei Elemente enthalten. (1) Dass die Situation des Menschen, von der die Theologie handelt, eine von Gott bestimmte Situation ist. (2) Dass Gott ein am Menschen handelnder Gott ist, der die Situation des Menschen grundlegend verändert. Unschwer lassen sich darin die Aspekte der Unterscheidung bei gleichzeitiger Bezogenheit erkennen, die uns bei der Analyse der Homiletiken beschäftigt haben. In seiner „Einführung in die Theologische Sprachlehre“ fasst Ebeling den ersten Aspekt so: „Die Theologie verliert ihr Thema, wenn das Reden von Gott für sie entbehrlich zu werden scheint.“10 Dieser zunächst vielleicht allzu selbstverständlich und darum harmlos klingende Satz fordert, einen Grund der Notwendigkeit des Redens von Gott angeben zu können. Die Brisanz dieser Forderung wird sofort einsichtig, wenn man zugesteht, dass dieser Grund nicht bloßer Verweis auf die christliche Überlieferung sein kann. Ebeling sucht diese Notwendigkeit dort, wo sich in unserem Leben eine „Präsenz des Verborgenen“ oder des „Geheimnisses“ anmeldet.11 Den zweiten Punkt fasst Ebeling in dem Satz: „Die Theologie verliert ihr Thema, wenn sie nicht mit dem völlig Verändernden zu tun hat.“12 Damit ist mit gesetzt, dass die Theologie nicht situationsvergessen, von der faktischen Situation des Menschen als Sünder absehen kann.13 Beide Kriterien sind auf das Grundkriterium
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Bezug auf Buber und Marcel die empiristisch verengte Erfahrungswirklichkeit in eine auf Gott beziehbare Erfahrungswirklichkeit zu öffnen. Ebeling, Einführung, 42. Ebd., 53. Hervorhebung im Original. Ebd. Der apologetisch verstandene Hinweis auf parallele Strukturen von theologischen und allgemein anerkannten Sachverhalten, wie er z. B. von Reuter in seiner homiletischen Arbeit geführt wird, genügt diesem Kriterium nicht. Eine bloße Doppelung bekannter Sachverhalte durch den Verweis auf Gott, z. B. der Nachweis, dass das Verstehen beim Pfingstgeschehen dem Verstehensbegriff Lyotards strukturparallel ist, trägt zum Erweis der Notwendigkeit des Redens von Gott nichts bei. Ebd. Hervorhebung im Original. Dies hat zur Folge, dass Ebeling in seiner „Dogmatik des Christlichen Glaubens“ die topoi, die klassischer Weise supralapsarisch verhandelt werden, wie die Schöpfungslehre und Gotteslehre,
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Rezeption von Ebelings Fundamentalunterscheidung
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christlicher Theologie bezogen, dass sie dem entsprechen, was in Jesus Christus begegnet.
3.3.3 Die aktuelle Schwierigkeit des Dialogs zwischen Glaubenssprache und Sprache der Welt Wenn die Notwendigkeit, im Anbetracht des menschlichen Lebens von Gott zu reden, und die Veränderung, die von Gott her in unserem Leben wirksam werden können, die Kriterien der Theologie sind, ohne die sie ihre „Sache“ verliert, dann ist das Auseinanderfallen von Glaubenssprache auf der einen und Sprache und Erfahrung der Welt auf der anderen Seite das entscheidende theologische Problem. Die Theologie zum Ausgangspunkt der Homiletik zu machen, heißt daher für mich, nach Gründen für dieses Auseinanderfallen zu suchen. Die rechte Unterscheidung von Gott und Mensch und die Kriterien der Theologie sind dabei sowohl Ausgangspunkt, als auch bleibendes orientierendes Zentrum der homiletischen Theoriebildung.
3.4 Rezeption von Ebelings Fundamentalunterscheidung von Gott und Menschen 3.4.1 Das Sein Gottes und des Menschen als Zusammensein im Medium des Wortes Die Fundamentalunterscheidung von Gott und Mensch im Sinne Ebelings wurde bereits mehrfach in der Auseinandersetzung mit Müller-Schwefe und Engemann herangezogen, so dass hier wenige zusammenfassende Bemerkungen genügen. Wesentlich ist erstens, dass das Sein des Menschen und das Sein Gottes grundsätzlich als Zusammensein bestimmt sind. Damit wird verhindert, dass Gott in einer Sonderwirklichkeit angesiedelt ist, womit die Einheit der Wirklichkeit zerbrochen und der Bezug des Menschen auf Gott nachträglich ist. Entscheidend ist sodann zweitens, dass dieses Zusammensein ein Zusammensein im Medium des Wortes ist. Bei der Diskussion der Frage, wie die im Schöpfungsglauben mit gesetzte Abhängigkeit von Gott mit der Freiheit des Menschen zusammen gedacht werden kann, hat sich diese spezifische Verbundenheit durch das Wort als entscheidend erwiesen. Gott ruft durch sein Wort ins Leben und beruft zu bestimmtem Handeln. Dieses Rufen und Berufen schränkt die Freiheit des Menschen nicht ein, sondern ist deren ebenfalls infralapsarisch in den Blick nimmt. Dies dient wiederum dem Dialog mit der Sprache der Welt, ohne den Glaubenssprache aufhört Glaubenssprache zu sein.
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Ergebnisse der Analyse und theologische Grundlegung
Bedingung. Die Verbundenheit des Menschen mit Gott im Wort ist damit durch die sprachlichen Phänomene des Anredens und Berufens näher bestimmt. Für das Verhältnis von Gotteswort und Menschenwort heißt dies drittens, dass Gottes Wort selbstverständlich als menschliches Wort ergeht. Die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch betrifft nicht die Struktur der Sprache und den damit gegebenen und aufgegebenen Möglichkeitsraum. Der Unterschied liegt viertens in dem Vermögen, die gegebene Sprache mit ihren Möglichkeiten recht zu nutzen und damit in der Wirkung des Wortes. Gottes Wort ist vollmächtiges Wort, das der jeweiligen Situation gerecht wird und zum wahren Leben befreit.
3.4.2 Relationale Ontologie 3.4.2.1 Relationale Ontologie und Schöpfungsglaube Die „relationale Ontologie“ Ebelings ist Konsequenz dessen, dass Gottes Sein und das Sein des Menschen als Zusammensein bestimmt ist. Die ontologische Besinnung auf die Seins-Aussage über Gott und den Menschen ist für Ebeling notwendig, um eine Bewusstseinsspaltung des modernen Menschen zwischen Glauben und Verstand zu verhindern.14 Zu solcher Spaltung kommt es, wenn der Verstand von der Substanzontologie ausgeht. Deren „Voraussetzung besteht darin, dass man es mit separaten Größen zu tun hat, deren Sein unabhängig voneinander besteht und die man nachträglich auf ihre Vergleichbarkeit hin befragt.“15 Damit widerspricht die Substanzontologie dem Schöpfungsglauben wie überhaupt dem Glauben an Gott, der die Kreatur nicht als selbständiges Sein, sondern als von Gott abhängiges Sein versteht. „Das Geschaffensein der Kreatur bestimmt ihr Sein als die bleibend konstitutive Relation zwischen Gott und Gottes Kreatur.“16 Relationale Ontologie bedeutet also, dass dem Zusammensein der ontologische Primat zukommt, Relation also nicht nachträgliches In-Beziehung-Setzen meint. Gott und Welt bilden eine einzige Wirklichkeit, die in sich „aufs tiefste und gewichtigste unterschieden“17 ist. Entscheidend dabei ist ferner, dass die Relation sprachlicher Natur im Sinne der Anrede ist. Das Sein der Kreatur ist „Ins-Sein-Gerufen14 Ebeling, Dogmatik I, 219: „In der Reflexion scheint ihm [dem modernen Menschen] nichts anderes möglich zu sein, als mit einem Seinsbegriff umzugehen, der die Rede vom Sein Gottes unmöglich macht. In seinem Glaubensbewußtsein hingegen sowie im Vollzug des Gebets muß er sich offenbar über die Barrieren der Reflexion hinwegsetzen und in einer Weise mit dem Sein Gottes rechnen, über die er sich keine gedankliche Rechenschaft geben und die er nicht mit seinem sonstigen Denken in Einklang bringen kann.“ 15 Ebd., 221. 16 Ebd. 17 Ebd., 223.
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Rezeption von Ebelings Fundamentalunterscheidung
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sein“.18 D.h. dass die fragliche Relation nicht im kybernetischen oder systemtheoretischen Sinne als Wechselwirkung von Kräften nach dem Kausalprinzip verstanden werden kann, wie in solchem Fall die Vorstellung ja auch die ist, dass die Kräfte an Für-sich Seiendem ansetzen. Der ontologische Primat kommt vielmehr der spezifischen Verbindung zwischen den Seienden zu, die durch das anredende Wort gekennzeichnet ist.
3.4.2.2 Relationale Ontologie und Anthropologie Die relationale Ontologie als Konsequenz des Glaubens betrifft zunächst das Gottesverhältnis. Ebeling bestimmt aber das Sein des Menschen mit der Welt in gleicher Weise als Zusammensein. Dies ist auch kaum anders möglich: ist doch das Sein des Menschen, wie es auch in seinem Verhältnis zu Welt und Mensch sich auswirkt, eben jenes Sein, das durch Gott ins Sein gerufen wurde und wird. Der Mensch ist geschaffen als das Sein, das Sprache hat. Gott ruft den Menschen ins Sein und möchte von ihm Antwort. Das Sein des Menschen als sprachliches Wesen ist aber dann auch für sein Verhältnis zu den Mitmenschen und zur Welt wesentlich.19 Was für das Zusammensein mit Gott bestimmend ist, soll auch für das Verhältnis zum Mitmenschen und zur Kreatur entscheidend sein, wie es z. B. das Doppelgebot der Liebe zum Ausdruck bringt. Darin liegt m. E. ein entscheidender Aspekt der Aussage der Gottebenbildlichkeit, dass das Verhältnis des Menschen zur Welt und seinen Mitmenschen in gleicher Weise als Zusammensein bestimmt ist, das durch den sprachliche Vorgang der Anrede konstituiert ist. Das Zusammensein des Menschen mit seinem Mitmenschen, das in den verschiedenen Ausprägungen des Angesprochen-Seins, Hörens und Antwortens lebt, hat seinen Ursprung in Gott. Wenn die Bewusstseinsspaltung des modernen Menschen vermieden werden soll, die Ebeling zur onotologischen Besinnung veranlasst hat, muss die relationale Ontologie auch von der Seite des Menschen und seinen Erfahrungen her einsichtig gemacht werden. Die bloße Ableitung aus dem Schöpfungsgedanken und Denkbarkeit im Modell der relationalen Ontologie reichen nicht aus. Die Gottesbeziehung muss anthropologisch verifizierbar sein,20 eben darum aber auch die relationale Ontologie im zwischenmenschlichen Bereich. Das menschliche Zusammensein als Zusammensein im Wort in der Fülle seiner Erscheinungsweisen weist über sich hinaus und zurück auf das allein im Wort bestehende Gottesverhältnis. 18 Ebd., 221. 19 Das Zusammensein als sprachliches Zusammensein gilt vor allem für das Verhältnis zu den Mitmenschen, weil Anrede und Gehörsein hier auf Gegenseitigkeit beruhen. Aber auch das Zusammensein mit der Welt hat in abgestufter Weise Anteil an dieser Verbindung. Der Mensch wird von der Welt angesprochen und herausgefordert. Sie hat für ihn sprachlichen Charakter, und er benennt sie mit Namen. Die Welt selbst als Materie hat nicht Anteil an der Sprachlichkeit. 20 Ebeling, Dogmatik I, 177.
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Ergebnisse der Analyse und theologische Grundlegung
Ohne diesen Resonanzboden wird die Sprache des Glaubens zur Sondersprache und hört damit zugleich auf lebendige Sprache des Glaubens zu sein, die im Dialog mit der Welt lebt. Daher ist eine phänomenologisch von den Erfahrungen des Menschen ausgehende relationale Ontologie die notwendige Ergänzung zu ihrer theologischen Herleitung.
3.4.2.3 Relationale Ontologie und Analogie Die relationale Ontologie hat Auswirkungen für das Verständnis von analoger Rede in Bezug auf Gott, das entscheidend ist für den Grad der Direktheit oder Indirektheit der Rede von Gott in der Glaubenssprache und damit auch in der Predigt. Verlässt man die Substanzontologie als Rahmenvorstellung, muss Analogie nicht mehr als ideelle Entsprechung im Vergleich zweier an sich seiender Wesen verstanden werden. Analogie kann dann vielmehr verstanden werden als „ein sich vollziehendes Entsprechen, ein Lebensvorgang“.21 Genauso wie die Sprache das Medium des Zusammenseins von Gott und Mensch nicht nur metaphorisch, sondern tatsächlich ist, sind die verschiedenen Vorgänge innerhalb dieser Verbundenheit im Wort, wie Anrede, Hören, aber auch Glauben und Lieben etc., in Bezug auf Gott keine uneigentliche, sondern eigentliche Redeweise. Hier werden nicht Verhältnisse zwischen Menschen nachträglich auf Gott in seinem Für-sich-Sein übertragen, sondern das Zusammensein von Gott und Mensch lebt in diesen Vollzügen. In der Gottesbeziehung haben sie ihren Ursprung und ihr Leben auch im Zwischenmenschlichen. Das bedeutet nicht, dass nicht zwischen der Liebe Gottes und der Liebe, wie wir sie unter Menschen kennen, oder der Vaterschaft Gottes und menschlicher Vaterschaft zu unterscheiden wäre. Es verhält sich hier aber so wie im Verhältnis von Gotteswort zu Menschenwort dargestellt. Die Gabe und Aufgabe ist die gleiche, nur das Vermögen ist unterschiedlich. Die zwischenmenschlichen Verhältnisse sind daher nicht nur metaphorische Veranschaulichung des eigentlich im Bezug auf Gott Gemeinten, sondern in ihrer Ambivalenz weisen sie über sich hinaus auf Gott als die Quelle allen Lebens, von der aus auch die zwischenmenschlichen Verhältnisse Heilung erfahren.
21 Ebd., 222.
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Verkümmerung der Sprache und der Erfahrung
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3.5 Verkümmerung der Sprache und der Erfahrung unter der Dominanz wissenschaftlicher Welterfahrung Ein wesentliches Ergebnis meiner Analyse im Anschluss an Einsichten Engemanns ist, dass heute offenbar eine besondere Schwierigkeit besteht, die Glaubenssprache zu den Erfahrungen der Menschen in Beziehung zu setzen. Dadurch besteht latent die Gefahr, dass Glaubenssprache zur Sondersprache wird, die das Leben der Menschen nicht wirklich erreicht und daher dem Ernst des Lebens in der Welt nicht gewachsen scheint. Meine These ist nun, dass heute die Schwierigkeit des Erfahrungsbezugs darin begründet liegt, dass die Sprache des Glaubens sich auf menschliche Erfahrungsbereiche bezieht, die ihrerseits heute kaum ein Sprache haben und als Erfahrungsbereiche daher zu verkümmern drohen. Aus den bisherigen Ausführungen zur relationalen Ontologie ist bereits deutlich geworden, dass es sich dabei um jene Erfahrungsbereiche handelt, die dem Zusammensein als spezifisch sprachlichem Zusammensein im Sinne der Anrede zuzuordnen sind. Die These, dass dieser Bereich kaum eine Sprache hat und als spezifischer Erfahrungsbereich zu verkümmern droht, soll besagen, dass die spezifische Eigenart der damit gesetzten Beziehungen verloren zu gehen droht und das intersubjektive Verhältnis mehr oder weniger dem Verhältnis zu Dingen nach dem Schema der Subjekt-Objekt Relation angeglichen wird. Was ein Zusammensein im Sinne von Anrede und Gerufen-Sein bedeuten soll, ist heute fraglich, während ein Zusammensein im Sinne von Wechselwirkung und verschiedenen Rückkopplungsmechanismen selbstverständlich erscheint. Das Kausalschema, das nach dem Kräftespiel von Ursache und Wirkung fragt, ist heute selbstverständliches Grundmodell zur Erklärung der Wirklichkeit. Es findet nicht nur Anwendung im toten Raum der Materie oder in unserer Beziehung zur Materie im Subjekt-Objekt Verhältnis, sondern auch in Psychologie und Soziologie, wo es um den Menschen und sein Leben in menschlicher Gemeinschaft und Gesellschaft geht. Je mehr dieses Modell sich absolut setzt, droht es die Wahrheit der durch Anrede charakterisierten Beziehung zu verdecken oder zu verzerren. Je mehr aber einem Erfahrungsbereich selbstverständliche Sprache und Ausdrucksmöglichkeit verloren geht, desto mehr ist er der Gefahr der Verkümmerung ausgesetzt. Wiewohl Ebeling diesen Sachverhalt nicht im Sinne meiner These zugespitzt hat, findet sich bei ihm immer wieder die Anmerkung, dass die Absolutsetzung der wissenschaftlichen Erfahrung eine schwerwiegende Verarmung der menschlichen Erfahrung bedeutet, sowie der Hinweis, dass die christliche Glaubenstradition nachhaltig durch die wissenschaftliche Welterfahrung gestört worden ist.22 Dies ist nicht als Kampfansage gegen wissen22 Ebeling, Einführung, 9.
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Ergebnisse der Analyse und theologische Grundlegung
schaftliches Denken zu verstehen. Die wissenschaftliche Methode und das Kausalschema haben ihr Recht, aber eben auch ihre Grenze. Dass diese Grenze gerade zu dem mit Anrede, Gerufen-Sein etc. bezeichneten Bereich verläuft, ist ohne weiteres einsichtig, wenn man sich die Grundlagen der wissenschaftlichen Methode vergegenwärtigt. Ein zentraler Grundsatz dieser Methode lautet, dass vom Subjekt und seinem Betroffen-Sein möglichst abzusehen ist. Das Ergebnis der Forschung muss von jedem Subjekt zu jeder Zeit erzielt werden können. Betroffen und persönlich in einer Weise angegangen zu sein, die keine Distanz und Abstraktion erlaubt, ist aber gerade das Wesen der Anrede, durch die unvertretbar ich gefordert bin.23 Forschung abstrahiert von der konkreten Situation und fragt nach dem jederzeit Gültigen. Anrede weist in die Situation ein und macht gegenwärtig. Anrede zielt auf die unvorhersehbare Antwort des Anderen und hat daher wesentlich mit Freiheit, Kreativität und Neuanfang zu tun. Forschung dagegen fragt nach immer geltenden Gesetzen, nach Ursache und Wirkung. Anrede steht am Beginn neuen schöpferischen Lebens, Wissenschaft untersucht nachträglich und zerlegt in einzelne Faktoren. Dass Wissenschaft von Gott absieht ist selbstverständlich und richtig. Gott ist nicht verrechenbar. Wenn man dies mit unseren Überlegungen zur relationalen Ontologie zusammennimmt, ergibt sich folgendes Gesamtbild: Gott, der die Kreaturen ins Leben ruft, ist der Grund und die Quelle des relational verfassten Seins. Von ihm ausgehend ist auch das Sein der Menschen, die Gott antworten sollen und können, Sein als Zusammensein im Sinne der relationalen Ontologie. Im Verhältnis zum Menschen gewinnt auch die stumme Materie Anteil an der Anrede. Das Gefälle geht von Gott über den Menschen zur Materie. Die wissenschaftliche Methode verfährt umgekehrt, und sieht völlig von Gott ab. Der Mensch steht dazwischen. Meine These besagt nun, dass der Mensch immer mehr vom wissenschaftlichen Denken her aufgefasst wird, und die spezifische Eigenart seines Lebens im Sinne der relationalen Ontologie verloren geht, weil Gott als Grund und Quelle der Anrede aus dem Gesichtskreis der Menschen mehr und mehr entschwindet, während gleichzeitig das wissenschaftliche Denken dominiert. Dass es tatsächlich zu dieser Grenzüberschreitung des für die Materie und abgeschlossene Lebensprozesse zuständigen Denkens auf das Leben der Menschen kommt, zeigt sich z. B. daran, dass die intersubjektive Beziehung in der Philosophie weithin als Unterfall des Weltverhältnisses des Menschen und damit der Subjekt-Objekt Relation verhandelt wurde, mit den entsprechenden Aporien, die sich daraus 23 Auch der Wissenschaftler lebt wesentlich von dieser Anrede. Je mehr er sich persönlich von einer Aufgabe herausgefordert sieht, desto mehr wird er ganz in seinem Forschen aufgehen. Dieser Forscherdrang erlaubt ihm, während der Forschung methodisch von sich als Subjekt zu abstrahieren, ohne von sich entfremdet zu werden. Rosenstock-Huessy hat auf diese Bedeutung der Anrede für die Wissenschaft, die methodisch von der Anrede abstrahiert, immer wieder hingewiesen. Ein deutliches Zeichen dafür ist, dass bestimmte Erkenntnisse oder Erfindungen, obwohl sie grundsätzlich von jedem vollzogen werden können und Allgemeingut werden, mit bestimmten Namen verbunden bleiben.
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Verkümmerung der Sprache und der Erfahrung
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ergeben.24 Hier wird die Anrede als das spezifisch Intersubjektive, das nicht auf das Subjekt-Objekt Verhältnis reduziert werden kann, nicht erkannt und anerkannt. Wie sich dieser Mangel auf das Leben der Menschen auswirkt, wird in aller Konsequenz von Sartre vor Augen geführt. Er gibt vielfältige und eindringliche Beschreibungen der Entfremdung im zwischenmenschlichen Umgang, die daraus resultieren, dass der andere mich als Objekt anblickt und behandelt und damit meine Subjektivität gefährdet.25 Dies gipfelt dann in dem Lebensgefühl, das in dem Satz zum Ausdruck kommt: „Die Hölle, das sind die anderen.“26 Das Beispiel Sartres macht deutlich, welche Konsequenzen die Verkümmerung der Sprache und der Erfahrung der Anrede für unser Leben hat. Es zeigt auch deutlich die bereits angesprochenen Zusammenhänge. Der relationalen Ontologie steht bei Sartre das „Für-sich-Sein“ gegenüber. Gott als Grund und Quelle der relationalen Ontologie wird geleugnet. Das Verhältnis zur Welt ist nicht das des Zusammenseins, sondern der Distanz und des Ekels. Der Mensch lebt nicht in den Relationen, sondern indem er sich von der Welt und anderen abstößt und selbst entwirft. Gnade als das, was mir in der Relation zukommt, gibt es nicht. In der Konsequenz und Geschlossenheit dieses Gegenentwurfs zum Glauben ist Sartres Philosophie der negative Hinweis darauf, dass die Anrede und die mit ihr verbundenen Lebensphänomene ihren Ursprung in Gott haben. Die Popularität, der sich Sartre nach wie vor erfreut, ist ein Hinweis auf das Recht meiner These. Darüber hinaus möchte ich zur Verdeutlichung den Biologismus und Historismus als zwei aktuelle Beispiele anführen, welche die angesprochene Verkümmerung der Sprache und der Erfahrung bestätigen. Es sind zugleich zwei Beispiele, die zeigen, wie dadurch die Sprache des Glaubens gefährdet wird, weil sie ihren Resonanzboden verliert und so zur Sondersprache wird.
3.5.1 Biologismus Unter Biologismus verstehe ich die Gleichsetzung von Leben mit biologischen Lebensphänomenen. Sie führt zum gegenwärtigen hohen Ansehen der Biowissenschaften und ihrem Anspruch, das Leben zu erklären. Ob man nun meint, mit der Entschlüsselung des Genoms den Schlüssel zum Leben in der 24 Vgl. Michael Theunissen, Der Andere, 2. 25 Es ist dies genau dies das Problem, das entsteht, wenn man das zwischenmenschliche Verhältnis nach der Subjekt-Objekt Relation denkt. Es treffen dann zwei Subjekte aufeinander, die einander drohen, sich zu Objekten zu machen. Aus dieser Problematik entwickelt sich dann Sartres Verständnis der Liebe, in der sich ein Subjekt freiwillig dem anderen unterwirft, um den anderen nicht zu zwingen, ihn zum Objekt zu machen bzw. umgekehrt zu erreichen versucht, dass sich der andere freiwillig unterwirft. Vgl. Sartre, Sein, 264 ff. Mit der Liebe als dem Sich-öffnen zweier Seelen und dem gemeinsamen Tragen von Aufgaben hat dies nichts zu tun. 26 Marcel, Geheimnis, 305.
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Ergebnisse der Analyse und theologische Grundlegung
Hand zu haben, oder sich anschickt, mit dem Verweis auf neuronale Vorgänge im Gehirn Vorgänge wie Freiheit, Liebe oder die Seele als Illusion zu entlarven: immer wird hier ganz selbstverständlich und kaum hinterfragt das Leben überhaupt auf rein biologische Lebensphänomene reduziert. Auch die Evolutionstheorie gehört hierher, insofern und soweit sie die Geschichte des Menschen zu einem Wurmfortsatz der Naturgeschichte macht, und sie so ihres Spezifikums beraubt, das nicht auf natürliche Prozesse reduzibel ist.27 Ist die Reduktion des Lebens auf biologische Lebensfaktoren erst einmal vollzogen und akzeptiert, ist es im Grunde tatsächlich unmöglich, sinnvoll vom Leben der Seele, von Freiheit, von Liebe, vom Hören des Wortes, das mich meint, und vom Glauben zu sprechen. Wenn Leben im Bewusstsein der Menschen nur oder in erster Linie biologisches Leben meint, können sie dann die Worte noch hören und verstehen, die von dem Leben sprechen, das uns in Jesus Christus erschlossen ist? Einem Leben, das am Kreuz zur Vollendung kommt, dem Punkt, an dem das rein biologische Leben aufhört zu existieren. Die Spitzenaussage der Kreuzestheologie macht den Gegensatz zum biologischen Lebensbegriff offensichtlich. Nicht von ungefähr sind es die Freiheit, den Auftrag Gottes anzunehmen und danach zu leben und die Liebe und Hingabe Jesu, die zu diesem Tod am Kreuz führen und verständlich machen können, inwiefern hier trotz des biologischen Todes von der Vollendung des Lebens die Rede sein kann. Es sind zugleich die Phänomene, die auch unabhängig vom Bezug auf das Kreuz den nicht-biologischen Lebensbegriff erschließen und das, was bisher als spezifisch sprachliche Relation im Sinne der Anrede bezeichnet wurde, mit Leben erfüllen. Das Beispiel des Biologismus macht deutlich, wie unter der Dominanz wissenschaftlichen Denkens einzelne Wissenschaften die durch ihre Methode gesetzten Grenzen fließend überschreiten,28 vielleicht noch mehr in der öffentlichen Wahrnehmung und Rezeption einzelner Ergebnisse, als in den Wissenschaften selbst. Zugleich zeigt es den damit einher gehenden Sprachverlust und die damit verbundene generelle Infragestellung zentraler menschlicher Erfahrungen. Der Sprachverlust vollzieht sich hinsichtlich dessen, was menschliches Leben in seinem Wesen ausmacht. Bezeichnend ist für diesen Sprachverlust, dass es nicht an Kritik und Unbehagen gegenüber den Ansprüchen fehlt, zentrale menschliche Erfahrungen für Illusionen auszugeben. Aber diesem Unbehagen und der Kritik mangelt es an einer selbstverständlichen, lebendigen Sprache, für die außer Frage steht, dass derartige Behauptungen im Grunde unhaltbare Verfehlungen sind, die am Phänomen menschlichen Lebens völlig vorbei gehen. Stattdessen hört man eine zwar nicht falsche, aber relativ abstrakte, philosophisch argumentierende Kritik, 27 Die Geschichte ist der Ort, an dem die Ansprechbarkeit des Menschen und seine Freiheit zur Antwort zur Debatte stehen. 28 Dabei ist nicht zu vergessen, dass es viele Wissenschaftler gibt, die diese Grenzen genau kennen und respektieren.
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welche die Ansprüche der Biologie auf ihr durch die ihre Methode gesetztes Maß zurechtrückt. Das Fehlen einer selbstverständlichen, lebendigen Sprache, die feste Wurzeln in der Erfahrung hat, zeigt den Grad der Gefährdung dieser Erfahrungen an. Das Fehlen und Schwinden dieser Sprache entzieht der Sprache des Glaubens den nötigen Resonanzboden. Die Sprache des Glaubens kann in wesentlichen Aussagen buchstäblich nicht mehr gehört und verstanden werden. Für Theologie und Kirche heißt dies m. E., dass es nicht genügt, theologisch korrekt den inneren Zusammenhang der Glaubensaussagen zu erklären. Auch nicht, den Bereich des Glaubens mit theologisch-philosophischen Argumenten gegen den Bereich der Welt abzugrenzen. Vielmehr müsste eine Verlagerung der Aufmerksamkeit erfolgen, weg vom Weltverhältnis des Menschen hin zu den intersubjektiven Bezügen des Menschen und zu der Frage, was menschliches Leben im menschlichen Miteinander ausmacht. Anthropologie in diesem Sinne ist heute eine vordringliche Aufgabe von Theologie und Kirche. Die Kirche kommt dabei zwar immer vom Glauben her, sollte sich aber vermehrt auf den Streit um das allgemein Menschliche einlassen, ohne unbedingt sofort von Gott zu sprechen, dafür aber die konkreten Erfahrungen der Menschen um so mehr im Blick haben. Die Kirche muss aktiv selbst dazu beitragen, dass ihr der Resonanzboden für die Sprache des Glaubens nicht verloren geht. Dies kann sie umso besser, wenn sie Erfahrungen aufgreift, deutet und zu anderen Erfahrungen anregt. Philosophisch und theologisch begründetes Abstecken des Bereichs der Welt und des Bereichs des Glaubens dient eher der Vergewisserung nach Innen, als das es Fragende und Suchende mit den Erfahrungen des Glaubens in Berührung bringt. Zudem stellt solche Aufteilung immer zugleich die Einheit der Wirklichkeit in Frage.
3.5.2 Historismus Das mit Historismus bezeichnete Phänomen mag weniger aktuell erscheinen. Immerhin hört man immer wieder die Klage, dass trotz vielfältiger Geschichtsaufarbeitung und dem damit einher gehenden öffentlichen Interesse der lebendige Bezug zur Geschichte verloren gegangen sei. Brisanz gewinnt dieses Phänomen, wenn es sich mit dem Bezug zur Zukunft analog verhalten sollte. Dann wäre die Kehrseite des verloren gegangenen Geschichtsbewusstseins die fehlende Kraft, Zukunft und neue Zeiten anbrechen zu lassen. Zukunft als das Unvorhergesehene und Neue ist dabei zu unterscheiden von der bloßen Verlängerung von Vergangenheit entlang der physikalischen Zeitlinie gemäß den Gesetzen von Ursache und Wirkung. Eine geschichtlich neue Zeit oder Epoche bricht an, wenn Menschen für die Herausforderungen ihrer Zeit schöpferisch neue Antworten finden. Dazu bedarf es neben anderem vor allem der Geistesgegenwart und der Hingabe, zwei wesentlichen Äußerungen des Lebens, das die relationale Ontologie im Blick hat. Aktuell ist also der His-
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Ergebnisse der Analyse und theologische Grundlegung
torismus insofern, als es der Vergangenheit und Tradition an Kraft gebricht, gegenwärtiges Leben zu formen und zu bilden, und die Zukunft nicht eigentlich als Zukunft, sondern eher als drohende Folge aus Vergangenheit und Gegenwart erscheint. Wie der Biologismus dem Lebensverständnis des Glaubens den Resonanzboden entzieht, so entzieht der Historismus dem Evangelium den Resonanzboden. So wie der Biologismus die Rede vom in Jesus Christus erschlossenen Leben unhörbar macht, so macht der Historismus das „Für dich“ des Evangeliums unhörbar. Der Historismus erklärt alle geschichtlichen Ereignisse aus ihrer geschichtlichen Entwicklung heraus und relativiert sie damit.29 In dem Maße, in dem er dies tut, geht die in Freiheit und Hingabe gegebene Antwort auf eine bestimmte Herausforderung verloren, die als solche Antwort uns unmittelbar betrifft. Das durch den Historismus eingeübte Verhalten weicht dieser Betroffenheit und dem aus, was unvertretbar uns sucht und meint. Das Wort vom Kreuz und das darin enthaltene „Für dich“ kann aber nur als solches Wort gehört werden, das unvertretbar mich meint. Wendet man das vom Historismus praktizierte Verhalten wie selbstverständlich auch auf das Geschehen am Kreuz an, bleibt gar nichts anderes übrig, als sich daran die Zähne auszubeißen, was das alles zu bedeuten habe. Schließlich kommt dann noch die Frage dazu, wie die dabei eventuell gewonnenen Einsichten zu unserem Leben in Beziehung stehen und es verändern können und sollen. Zum besseren Verständnis des „Für dich“ kommt uns das oben zur Analogie Gesagte zu Gute. Das „Für dich“ gibt es in gleicher Weise in zwischenmenschlichen Beziehungen, es unterschiedet sich von dem „Für dich“ Jesu lediglich in dem Vermögen dessen, was es leistet. Das zwischenmenschliche „Für dich“ hat in gleicher Weise wie das „Für dich“ Jesu mit der Herstellung und Wiederherstellung von Gemeinschaft zu tun, mit dem Unterschied, dass es nicht zwischen Gott und Mensch wieder Versöhnung stiftet und volle Gemeinschaft herstellt, sondern zwischen Menschen. Nehmen wir ein Beispiel. Der Partner, der Verletzungen von Seiten des anderen in Liebe erträgt und am anderen trotz Enttäuschungen festhält, lebt und spricht dieses „Für dich“. Wenn der andere dieses „Für dich“ erkennt und für sich gelten lässt, kann die Gemeinschaft geheilt und erneuert werden. In der gelingenden Beziehung ist das „Für dich“ der Akt, in dem man in Liebe an den Lebensaufgaben des anderen mitträgt. Jesus nimmt die Verletzungen der Gottesbeziehung der Menschen, die durch die Sünde entstehen, auf sich. Er lebt die ertragende und vergebende Liebe Gottes, auch gegen die Widerstände gegen diese gelebte Liebe Gottes, die ihn ans Kreuz bringen. Wer das „Für dich“ Jesu erkennt, d. h. hört, und für sich gelten lässt, wird damit in die Gemeinschaft von Gott und Mensch, die in Jesus Wirklichkeit geworden ist, aufgenommen. Im Leben des
29 Vgl. Figal, Historismus, 1794.
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Glaubens ist das „Für dich“ der selige Tausch und das Anteilgewinnen am Leben Jesu. Entscheidend ist auch hier wieder, dass das „Für dich“ und das Mit-sein mit Jesus Christus, das bei Paulus in seinen verschiedenen Varianten so zentral ist,30 keine auf den Glauben beschränkte Sonderwirklichkeit und Sondersprache ist. Andernfalls kommt es zu einem Resonanzverlust, der das Evangelium unhörbar macht. Man weicht dann aus, und sucht die Bedeutung Jesu ideengeschichtlich als Lehrer oder als Vorbild oder Verkündiger des Reiches Gottes.31 Auf diese Weise wird Jesus nach vollbrachter Tat der Vergangenheit übergeben, eine Rede von der Gegenwart Jesu Christi ist dann im Grunde unnötig. Anders verhält es sich, wenn Jesus Christus als das Wirklichkeit gewordene, ungetrübte Zusammensein von Gott und Mensch der Lebenszusammenhang ist, auf den wir bleibend angewiesen sind, weil wir ihn nicht aus eigenen Kräften herbeizuführen vermögen, sondern nur durch Anteilnahme im Hören auf das „Für dich“. Gabriel Marcel weist darauf hin, dass ein Mit-Sein im qualifizierten Sinne nur von zwischenmenschlichen Verhältnissen ausgesagt werden kann.32 Dieses Mit-sein sieht er heute bzw. zu seiner Zeit als gefährdet an. Es kann für ihn wiedergewonnen und bewahrt werden aus der Aufmerksamkeit auf den spezifischen Charakter der intersubjektiven Relation, die nicht dem Verhältnis zu den Dingen und damit der Subjekt-Objekt Relation angeglichen werden darf. Diesem spezifischen Charakter, den ich bisher vornehmlich mit dem Wort Anrede charakterisiert habe, möchte ich mich nun zuwenden.
30 Vgl. Grundmann, sum, 780 – 795. Das die Existenz des Christen prägende Sein mit Christus drückt Paulus durch 14 mit sum- genbildete Komposita aus. Grundmann, sum, 786. 31 So auch in der relativ neuen Variante ästhetisch orientierter Praktischer Theologie, die davon spricht, dass die Predigt den Menschen in die Möglichkeiten des Reiches Gottes hinein imaginieren solle. Ein Ausweichen ist das dann, wenn dies bereits als Evangelium verstanden wird. 32 Vgl. Marcel, Geheimnis, 238.
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4. Rückgewinnung von Sprache und Erfahrung mit Hilfe von Buber und Marcel 4.1 Orientierung der Rezeption an der homiletischen Fragestellung Die bisherigen Überlegungen zum Erfahrungsbezug der Predigtsprache haben auf den mit dem Begriff Anrede bezeichneten, gefährdeten sprachlichen Bereich verwiesen, der das Medium des Zusammenseins der relationalen Ontologie ist. Zudem wurde deutlich, dass Glaubenssprache zur Sondersprache verkümmert, wenn bestimmte Erfahrungen nur noch vom Glauben her in den Blick kommen und nicht auf allgemein menschliche Erfahrungen bezogen werden können, d. h. wenn sich Gotteserkenntnis nicht anthropologisch ausweisen lässt. Dem liegt die theologische Auffassung zu Grunde, dass die Gnade nicht das im Leben Gegebene und Aufgegebene erweitert und verändert, sondern Gelingen des Lebens ermöglicht.1 Das fehlende Stück ist daher eine relationale Ontologie, die nicht Folge des Schöpfungsglaubens ist, sondern umgekehrt von den Erfahrungen der Menschen ausgehend zur relationalen Ontologie vorstößt, ohne sich auf Offenbarungswissen zu berufen. Die Philosophie Bubers und Marcels ist in wesentlichen Teilen eine solche ausgeführte relationale Ontologie. Beide verstehen die Art der Relation im Sinne der Anrede. Beide gehen davon aus, dass diese Relation nicht auf das Weltverhältnis reduziert werden kann. Ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit besteht darin, die Eigenart dieser Relation herauszuarbeiten und gegen Nivellierung, Verzerrung und Verkümmerung zu schützen. Es sind Arbeiten, die sich als Antwort auf die Gefährdung dieser Relation in ihrer Eigenart und ihren Möglichkeiten verstehen.2 Beide kommen zwar von der Erfahrung der 1 Das ist kein Rückfall in die scholastische Gnadenlehre, nach der die übernatürliche Gnade in die Natur einfließt und diese nicht verändert. Diese Gnadenlehre ist insofern problematisch, als sie am substanzontologischen Modell orientiert ist. Demnach tritt zum für sich seienden Menschen mit seinem Vermögen die Gnade hinzu. Der substanzontologisch gedachte Mensch ist dann als Glaubender derjenige, der die Gnade als Habitus hat. Demgegenüber ist von der relationalen Ontologie und vom Evangelium her zu kritisieren, dass Leben im Glauben und in der Gnade das Für-sich-sein-Wollen der Sünde aufbricht und zum Leben im Zusammensein mit Jesus Christus führt. Die Gnade und der Glaube verändern also – wie die Reformation gegen die Scholastik betont – die Natur und das Sein des Menschen, in dem sie aus der Verkehrung ins Für-sich-Sein ein Zusammensein machen. Dennoch bleiben die diesem Leben gestellten Gaben und Aufgaben, die von vorneherein am Zusammensein ausgerichtet sind, dieselben. Das Evangelium erfüllt das Gesetz. 2 Buber geht es vor allem um die Erhaltung und Wiederherstellung der Unmittelbarkeit, die verloren geht, wenn die intersubjektiven Bezüge und die ihnen vergleichbaren Weltbezüge (Ich-Du) dem Verhältnis zu den Dingen angeglichen werden (Ich-Es). Unseren bisherigen theologischen
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Gnade her, sind aber explizit nicht theologische, sondern philosophische Arbeiten.3 Ihre Methode ist phänomenologisch und geht von der Erfahrung aus. Sie sind daher, zumindest von ihrem Programm her, die gesuchte Ergänzung zur Theologie Ebelings. Die Philosophie Bubers und die Philosophie Marcels sind ein weites Feld. Eine Einführung oder ein grober Überblick kann und soll hier nicht gegeben werden. Vielmehr sollen beide Philosophien von unserer homiletischen Untersuchung aus in den Blick genommen werden. Es geht daher erstens um eine Verdeutlichung dessen, was mit der spezifischen Eigenart der sprachlichen Relation im Sinne der Anrede gemeint ist. Dabei sind zentrale Wesenszüge herauszugreifen und vor allem phänomenologisch an der Erfahrung auszuweisen. Diesbezüglich werde ich mich auf Buber und seine Gegenüberstellung der Grundworte Ich-Du und Ich-Es beziehen. Zweitens geht es darum, exemplarisch in die Denkbewegung der Philosophie Marcels einzuführen. Wie jede Philosophie kann auch diese sinnvoll nicht über fertige anzueignende Ergebnisse, sondern nur über das Bekanntwerden mit der ihr eigenen Denkbewegung rezipiert werden. Dies ist der für die praktische Predigtarbeit fruchtbare Punkt. Geht es doch darum, von der Erfahrung ausgehend und an der Erfahrung orientiert, jene Bereiche zu erschließen und zur Sprache zu bringen, die der Resonanzraum für die Sprache des Glaubens sind. Die Denkbewegung Marcels sensibilisiert für die spezifischen Schwierigkeiten und Fallen dieses Unternehmens. Zudem gibt er mit der sogenannten „sekundären Reflexion“ ein Instrument an die Hand, wie der Bereich der intersubjektiven Relation gegen die nivellierenden Einwände der ratio geschützt werden kann. Damit wird der Raum für den Glauben freigehalten, so dass es zu keiner Bewusstseinsspaltung kommen muss.
4.2 Bubers Gegenüberstellung der Grundworte Ich-Du und Ich-Es: Abgrenzung und Beschreibung der Sphäre des Zwischen Mit Hilfe von Buber4 soll die Eigenart der von ihm so bezeichneten Ich-Du Beziehung im Unterschied zur Ich-Es Beziehung, also dem Weltverhältnis im Sinne der Subjekt-Objekt Beziehung, in wesentlichen Punkten herausgearÜberlegungen zur relationalen Ontologie entspricht, dass Buber die Heilung und Erhaltung der Unmittelbarkeit als von Gott ausgehend denkt. Marcel spricht wiederholt davon, dass wir in einer zerbrochenen Welt leben. Dies meint das Verschwinden des Mit-Seins im spezifisch intersubjektiven Sinn, wie es uns bei der Besprechung des Historismus und seinen Folgen für das Evangelium begegnet ist. Vgl. Marcel, Geheimnis, 32 ff. 3 Dass beide von der Erfahrung der Gnade herkommen, ist entscheidend. Diese Erfahrung ist leitend für die Erkenntnis. Es handelt sich also nicht um ein Bemühen im Sinne der sogenannten natürlichen Theologie aus der Beobachtung der Natur zur Erkenntnis Gottes aufzusteigen. 4 Bei der Bezugnahme auf Buber ist mit Vorsicht vorzugehen, insofern seine Sprache leicht als
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Bubers Gegenüberstellung der Grundworte Ich-Du und Ich-Es
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beitet werden. Ich orientiere mich dafür an der Arbeit Der Andere von Michael Theunissen, der die weisheitlich-poetische Sprache Bubers zu gängiger philosophischer Terminologie in Beziehung setzt und Wert auf die phänomenologische Ausweisbarkeit der von Buber gemeinten Sachverhalte legt. Theunissens Rekonstruktion der Philosophie Bubers ist an dessen Gegenüberstellung der Grundworte Ich-Du und Ich-Es orientiert und fragt danach, wie geeignet das Vorgehen Bubers ist, die Sphäre des Ich-Du gegen das Ich-Es in seiner Eigenart abzusetzen und in seinen wesentlichen Merkmalen zu beschreiben.5 Die Intentionalität ist das charakteristische Merkmal der Ich-Es Relation, in welcher das Subjekt sich auf Objekte bezieht. Theunissen spricht von einer „Sphäre der Subjektivität“, die „das agierende Subjekt samt der von ihm intentional verwalteten Welt [umfasst].“6 Diese Sphäre ist durch drei Merkmale gekennzeichnet. (1) Sie ist perspektivisch geordnet und auf das Ich als den Mittelpunkt seiner Welt zentriert. (2) Das Verhältnis von Ich und Es ist ein Verhältnis der Über- und Unterordnung: „das Es ist das Bestimmte, das sich als ,Subjekt‘ setzende Ich das Bestimmende.“7 Dieses Konstituiert-Sein durch das Subjekt ist jeder Vergegenständlichung zu eigen. (3) Zusammen gehalten wird die vom Ich als Mittelpunkt aus entworfene Welt durch den bestimmten Sinn oder Horizont, in dem sie entworfen ist. Bei dieser Sinn- und Horizontintentionalität geht es um „eine Gerichtetheit, die im Sich-richten auf Ge-
Schlagwort und Einladung zum mystischen Wohlfühlen missverstanden werden kann. Michael Theunissen beschreibt in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts den Umgang mit Buber so: „In der breiten Öffentlichkeit ist die Philosophie des Dialogs zur gängigen Münze geworden. Man spricht vom Du und glaubt, sich zu verstehen; der Begriff ,Begegnung‘ kursiert unter Theologen und Pädagogen als gedankenloses Schlagwort; das Gespräch gilt als zeitgemäß.“ Theunissen, Der Andere, 483. Wenn Buber in dieser Weise rezipiert wird, ist für das Problem des Erfahrungsbezugs der Glaubenssprache gerade nichts gewonnen. Man richtet sich dann nur in einem neuen Sprachspiel ein, in dem man sich wohl fühlen kann, und weicht so wieder den widerständigen Erfahrungen aus. Was Begegnung und Du bei Buber meint, ist ja keineswegs selbstverständlich, sondern der gefährdete Bereich menschlicher Erfahrung, weshalb die bloße Rede von Du, Begegnung und Gespräch die gemeinte Wirklichkeit auch nicht ohne weiteres repräsentiert. Dies eben ist die widerständige Erfahrung, dass das Du des Anderen als bedrohlich begegnet, weil es mich mit seinen Erwartungen und Urteilen unter Druck setzt. Soll diese Art einer oberflächlichen Buberrezeption vermieden werden, ist zum einen auf die Ambivalenz der Erfahrung zu achten, in welcher der Andere als Du begegnen kann, häufig aber eben als Er erlebt wird. Zum anderen kommt es darauf an, möglichst eng an der Erfahrung das von Buber Gemeinte phänomenologisch auszuweisen. 5 Im Duktus seiner Arbeit „Der Andere“ mit dem Untertitel „Studien zur Sozialontologie der Gegenwart“ geht es Theunissen darum, die Philosophie des Dialogs als Gegenentwurf zur Transzendentalphilosophie zu verstehen. Die Transzendentalphilosophie ist der philosophische Boden, von dem abstoßend und mit dem sich auseinandersetzend Buber seine Position entfaltet. Daher fragt Theunissen, wie Buber die Destruktion des transzendentalphilosophischen Modells der Intentionalität gelingt. 6 Theunissen, Der Andere, 261. 7 Ebd.
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genstände diesen zugleich den Raum ihres Gegenstehens vorgibt.“8 Diesen drei Merkmalen einer am Subjekt ausgerichteten Theorie stehen drei Merkmale der Ich-Du Beziehung gegenüber. (1) Während das Es dem Ich immer und notwendig durch den Entwurf vermittelt ist, besteht zwischen dem Ich und dem Du in der Begegnung Unmittelbarkeit. (2) Während im Ich-Es Verhältnis Abhängigkeit herrscht, ist die Ich-Du Beziehung ein Verhältnis der Gegenseitigkeit in einer Gemeinschaft gleichursprünglicher, gleichberechtigter Wesen. (3) Während in der Sphäre der Subjektivität alles perspektivisch auf das Ich zentriert ist, bildet im Ich-Du Verhältnis das „Zwischen“ den Mittel- und Ausgangspunkt. Diesem Zwischen kommt gegenüber dem Welt setzenden Ich ontologische Priorität zu. Diese drei Merkmale der Ich-Du Beziehung sind nun zu entfalten.
4.2.1 Unmittelbarkeit der Begegnung Die Behauptung einer Unmittelbarkeit scheint in direktem Widerspruch zu Engemann zu stehen, dem es bei seiner Diskussion des Offenbarungsbegriffs auch darum geht, einer wie auch immer gearteten Unmittelbarkeit zu widersprechen.9 Wenn aber, wie ich meine, die Zeichenhaftigkeit der Sprache und die mit dem Ausdruck Anrede gekennzeichneten sprachlichen Vorgänge zwei Aspekte der Sprache sind, die zwar nicht voneinander getrennt, aber auch nicht aufeinander zurückgeführt und reduziert werden können, kann dieser Widerspruch vermieden werden. Das Phänomen der Unmittelbarkeit liegt dann auf einer anderen Ebene als der horizont- bzw. codegebundenen Kommunikation durch Zeichen. Insofern Engemann Sprache und Kommunikation ausschließlich als semiotischen Prozess untersucht, in dem Unmittelbarkeit freilich niemals vorkommen kann, besteht kein Widerspruch zur Behauptung der Unmittelbarkeit, wenn diese auf einer vom semiotischen Prozess unterschiedenen Ebene der Sprache und des Erlebens zu suchen ist. Eine sachliche Differenz und Anlass zum Widerspruch besteht aber insofern, als Engemann die Grenzen der semiotischen Betrachtungsweise nicht beachtet, was nicht zuletzt an der Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsbegriff deutlich wurde. Dieser Abschnitt über die Unmittelbarkeit wird zu erweisen haben, ob die Behauptung, dass Zeichen und Anrede zwei nicht aufeinander zu reduzierende Aspekte der Sprache sind, zu Recht besteht.
8 Ebd., 262. 9 Es ist bezeichnend, dass Engemann sich von den Autoren, die zum weiteren Kreis des dialogischen Denkens gerechnet werden, einzig auf Karl Jaspers bezieht, der die Unmittelbarkeit ablehnt. Vgl. Theunissen, Der Andere, 480: „Dass die Philosophie der existentiellen Kommunikation [Jaspers] hinter der Radikalität des ,Dialogismus‘ zurückbleibt, bezeugt wohl am augenfälligsten ihr Nein zur ,Unmittelbarkeit‘.“
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Bubers Gegenüberstellung der Grundworte Ich-Du und Ich-Es
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4.2.1.1 Unmittelbarkeit als Ausschluss jeglichen Mittels Der Begriff der Unmittelbarkeit bestimmt das, was er meint, negativ. Er meint den Ausschluss jeglichen Mittels. „Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen, keine Phantasie […] Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme […]. Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel gefallen ist, geschieht Begegnung.“10 In dem, was Buber Begegnung nennt, ist ausgeschlossen, dass der Andere Mittel zum Zweck ist. Die Funktionalisierung des Anderen zum Mittel der Befriedigung eigener Bedürfnisse ist aber nur eine Form des Mittels. Für die Begegnung aber soll gelten, dass das Mittel im umfassenden Sinne als Medium generell ausgeschlossen ist, eben im Sinne der Horizontintentionalität „als der horizontale Raum, mit dem ich das Seiende in seiner Vergegenständlichung umgebe.“11 Damit ist nicht nur mein Umgang mit dem Anderen und damit der ethische Aspekt im Blick wie z. B. bei der „Gier, der nur erscheint, was dem Bedürfnis der Triebe entgegen kommt“,12 sondern auch der sinnstiftende Entwurf, die bestimmte Begrifflichkeit, mit der ich an etwas herangehe. Das Mittel und Hindernis des sinnstiftenden Entwurfs wird im Ereignis der Begegnung durchbrochen. Was mir vom anderen her begegnet, lässt sich nicht umstandslos meinem Sinnentwurf einfügen. Eben deshalb ist die Begegnung auch mir widerfahrendes Ereignis. Sie hat den Moment des Neuen, Überraschenden. Mit der Durchbrechung des sinnstiftenden Entwurfs hat es dann auch zu tun, dass sich in der Begegnung Gegenwart ereignet. Im horizontgebundenen Entwurf wird alles repräsentiert, in der Begegnung ereignet sich Präsenz des Anderen, die mich selbst gegenwärtig macht.
4.2.1.2 Unmittelbarkeit als Phänomen der Sprache Wiewohl die Unmittelbarkeit über die Sprache hinaus ins Schweigen drängt, ist die Heimat des Du die Sprache. Das die Sprache hinter sich lassende Schweigen hat die Sprache zur Voraussetzung und erhält von ihr seinen Sinn. Dass der Andere als Du im Grundwort Ich-Du und damit in der Sprache begegnet, unterscheidet die Auffassung der dialogischen Denker in charakteristischer Weise von anderen Weisen des Umgangs mit dem Problem des im Du begegnenden Anderen. So bewegt sich z. B. für Husserl und Sartre „der
10 Buber, Prinzip, 15 f, zitiert nach Theunissen, Der Andere, 263. 11 Theunissen, Der Andere, 263. 12 Ebd.
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Rückgewinnung von Sprache und Erfahrung
Andere vornehmlich im Medium der sinnlichen Wahrnehmung.“13 Mit der Verortung des Du in der Sprache ist im Ansatz bereits die Sphäre der Subjektivität unterwandert, insofern die Sprache das einzelne Subjekt umfasst. Mit den Worten Bubers: „in Wahrheit nämlich steckt die Sprache nicht im Menschen, sondern der Mensch steht in der Sprache und redet aus ihr.“14 Der Gegensatz von Wahrnehmung und Sprache ist freilich im Erleben kein absoluter, da wir als sprachliche Wesen wahrnehmen. Gerade in gesammelter Betrachtung können wir hörfähig werden und Anrede an uns erfahren.15 Es ist aber zu unterscheiden, ob der Pol der Wahrnehmung oder der Pol der Anrede bestimmend ist. Zur Wahrnehmung gehört das Distanzieren und Einordnen, das auch auf die Sprache und den zwischenmenschlichen Umgang übergreifen kann. Umgekehrt kann von der Sprache her das Angegangen-Sein auch auf die Bereiche der Wahrnehmung übergreifen und diese bestimmen. Wenn der Andere vornehmlich im Medium der sinnlichen Wahrnehmung erscheint, dann wird sein sprachliches Begegnen, von dem wir angegangen sind, für das Bemühen, den Anderen in den eigenen Entwurf einzuordnen, zum Paradox und Störfall. Nach Buber besteht ein Zwiespalt in der Sprache zwischen den Grundworten Ich-Es und Ich-Du, der sich in seiner Gegensätzlichkeit phänomenal beschreiben lässt. „Das Sprechen des Grundwortes Ich-Du ist das Ansprechen, das des Grundwortes Ich-Es das Besprechen. Das Du ist immer und wesenhaft der (oder das) Angesprochene bzw. Angeredete, sei dieser nun der Andere (im Falle meines Ansprechens) oder ich selber (im Falle meines Angesprochenwerdens).“16 Der Unterschied zwischen Angesprochen-werden oder Besprochen-werden ist im Erleben deutlich. Nicht von ungefähr ist es ein Zeichen von Unhöflichkeit, wenn man in Anwesenheit einer Person in dritter Person von ihr redet, als ob sie nicht da wäre. Dies eben ist das Kennzeichen des Besprochen-Werdens: meine Präsenz als der Rede fähiges Wesen wird geleugnet. Ich werde behandelt wie ein Gegenstand, der sich nicht wehren kann gegen die Einordnung, die man mit ihm vornimmt. Es wird ein Urteil über mich gesprochen, das mich festlegt. Zum einen auf meine Vergangenheit und zum anderen auf das, was die Anderen von mir wahrnehmen, was ja immer unendlich viel weniger ist, als in mir an Leben ist. Das Bereden geschieht ohne mich, ich kann nichts dagegen tun. Genauer : ich könnte nichts dagegen tun, wenn es keine Anrede gäbe. Weil es Anrede gibt und ich mein Angeredet-Sein nicht verliere durch die Behandlung des Besprochen-Werdens, vermag ich zu 13 Ebd., 281. Für das Ausfallen des Aspekts der Anrede bei Engemann ist bezeichnend, dass Offenbarung für ihn bedeutet, dass sich Gott in besonderer Weise wahrnehmen lässt. 14 Buber, Prinzip, 41. 15 Hinsichtlich des Menschen als Betrachter oder Zuschauer, als homo spectans, ist zwischen den Polen „unbeteiligter Zuschauer“ und „gesammelte Betrachtung“ zu unterscheiden. Beim unbeteiligten Zuschauer ist das Moment der Wahrnehmung stärker als das der Anrede und des Angegangen-Seins, bei der gesammelten Betrachtung ist das Gegenteil der Fall. 16 Theunissen, Der Andere, 283. Hervorhebung im Original.
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Bubers Gegenüberstellung der Grundworte Ich-Du und Ich-Es
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protestieren, indem ich die mich Besprechenden anrede. Auch die mich Besprechenden haben immer auch die Möglichkeit der Anrede an mich. Mit der Anrede aber verändert sich alles. Als Angeredeter bin ich nicht Gegenstand, sondern Adressat und Empfänger der Rede. Als Angeredeter bin ich nicht festgelegt und eingeordnet, sondern im Gegenteil aufgefordert, offen zu antworten: „an die Stelle des festsetzenden und zur Passivität verurteilenden Unterordnens [tritt] der Aufruf zur Gegenseitigkeit und niveaugleichen Partnerschaft.“17 Je mehr der Aufruf zur Gegenseitigkeit wirklich ernst gemeint ist, desto mehr nähert sich das Anreden der Unmittelbarkeit an. „Als Unabhängigkeit von meinem Entwurf eignet diese Unmittelbarkeit in bestimmten Grenzen jedem Angeredeten. Läßt sich doch die Aktion des Partners als Vollzug seiner Freiheit nicht von mir entwerfen.“18 Freilich erfolgt die Antwort des Partners ihrerseits vermittelt durch einen Entwurf. Das ändert aber nichts daran und bricht dem nichts ab, dass ich in meiner Anrede den anderen als Person in seiner Freiheit meinen kann, ohne und vor jedem Bezug zu gegenständlichen Themen. Die Intention der Unmittelbarkeit bezieht sich daher auch nicht primär auf die Antwort des anderen, sondern vor allem auf „dessen Wesen und Anwesen“: „Deshalb ist das Du wohl am gegenwärtigsten in jenen ganz unmittelbaren Ausrufen, in denen ich nur ,Du‘ sage und sonst nichts. ,Gemeint‘ ist da nicht dieses oder jenes am Anderen, sondern der Andere selbst in der Unmittelbarkeit seines Daseins.“19 Die Beschreibung hat versucht, die Gegensätzlichkeit von Anreden und Bereden deutlich zu machen. Für die Anwendung dieser Unterscheidung auf die Wirklichkeit und unser Erleben ist zu bedenken, dass die Reinformen Grenzwerte sind. Vieles spielt sich zwischen diesen beiden Polen in unterschiedlichsten Varianten ab. Nicht alles, was formal als Anrede auftritt, meint und erwartet wirklich die freie Antwort des Angeredeten. Ein besonders deutliches Beispiel dafür ist die Anrede in der Reklame. Hier soll der Angeredete gerade nicht etwas tun, was den Erwartungen und dem Sinnentwurf der Reklame Treibenden nicht entspricht. Der Andere ist hier nur insoweit von Interesse, als er sich gemäß den Erwartungen der Werbung Treibenden verhält. Es gibt viele ähnlich Beispiele, in denen das Es im Gewand des Du auftritt. Die durch das Du suggerierte Nähe und Vertrautheit soll dann nur das Manipulationsinteresse verschleiern. Umgekehrt kann eine distanziert wirkende Umgangsform ihren Grund gerade in dem Respekt vor der Freiheit des Anderen haben. Ein anderes Beispiel für die unterschiedliche Mischung beider Aspekte ist die Situation, in der ich Beurteilungen ausgesetzt bin. Diese Beurteilungen können so gemeint sein, dass sie als Herausforderung auf mich als Person in meiner Freiheit zu antworten zielen. Sie können aber auch das Urteil über mich fällen und nichts Weiteres und Besseres von mir erwarten. Die 17 Ebd., 285. 18 Ebd. 19 Ebd., 286.
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Beispiele zeigen, dass es im zwischenmenschlichen Umgang eine ganze Skala von Abstufungen der Anrede gibt, vom kaum verhüllten Es bis hin zum eigentlichen Du. Von der Bitte, die ich auch jedem anderen stellen könnte bis zur Bitte, die nur Du erfüllen kannst.
4.2.1.3 Vollendung der Zwiesprache im Schweigen Das Du hat seine Heimat in der Sprache, weil es unlöslich mit dem Phänomen des Ansprechens verbunden ist. Dennoch genügt die wechselseitig hin und her gehende Rede nicht der Forderung, die perspektivische Zentrierung auf das Ich zugunsten des Zwischen zu verlassen. Denn als Anredender bin und bleibe ich der Mittelpunkt, von dem die Initiative ausgeht. In Folge davon leidet auch die Unmittelbarkeit: „Weil in der Anrede die Initiative vom mir ausgeht, muß ich vorher wissen, wie ich den Anderen anzureden habe. Es ist als jene ,Vorwegnahme‘ nötig, die zu den Mitteln entwerfenden Sich-richtens auf … gehört.“20 Ebenso schränkt der Primat der Anrede die volle Ranggleichheit der Partner ein. Darum ist es konsequent, dass sich für Buber das Du nicht in der Rede, sondern im Schweigen vollendet. Dem korrespondiert, dass sich der Gegensatz der Grundworte, wie gesehen, nicht so sehr über den Gebrauch der Worte Du oder Er entscheidet, sondern über den Grad, in dem ich mich meinem Partner mit ganzem Wesen zuwende und bereit bin, die Äußerung seines Wesens zu vernehmen. Dies entspricht dem oben erwähnten Unterschied zwischen unbeteiligtem Zuschauen und konzentrierter Betrachtung. An dieser Stelle sind die Gedanken Bubers mit den Überlegungen Marcels zur Kontemplation verwandt, nur das es bei der Kontemplation um das Verhältnis zu mir selbst geht.21 Der Vorgang im Verhältnis zu mir selbst und zum anderen ist aber beide Male der gleiche. Es geht darum, in der Konzentration auf das Wesen im Schweigen hörfähig zu werden für das Wesentliche. Dieses hat immer ansprechenden Charakter.
4.2.1.4 Repräsentanz und Präsenz, Summe der Eigenschaften und ganzes Wesen Die menschliche Zwiesprache vollendet sich für Buber aus genannten Gründen im Schweigen, hat aber allein in der Rede eine sachlich erfassbare Form: „Die menschliche Zwiesprache kann, wiewohl sie im Zeichen, also in Laut und Gebärde […], ihr eigentümliches Leben hat, ohne das Zeichen bestehen;
20 Ebd., Die drei Punkte halten das Ziel des Sich-Richtens auf frei. 21 Vgl. unten Abschnitt 4.3.5 Kontemplation.
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freilich nicht in einer erfaßbaren Form.“22 Dieses Auskommen ohne Zeichen bestätigt sich auch darin, dass nichts Bezeichenbares hat, wer Du spricht. „Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.“23 Das „Nichts“ ist hier präzise in seiner Verbindung mit der Sphäre des Habens zu verstehen, die von dem Ich-Du Verhältnis ausgeschlossen ist. Haben, im Sinne von über etwas verfügen, kann man nur einen Gegenstand. Wer Du spricht und den Anderen auf sein Wesen und seine freie Antwort anspricht, hat daher keinen intentionalen Gegenstand. Wer Du spricht hat nichts, aber es begegnet ihm der Andere in der Ganzheit seines Wesens. Dieser Unterschied lässt sich wiederum phänomenal an der Sprache ausweisen. Alles „Es“ hat in der Sprache Repräsentationsfunktion. Die Anrede hat keine Repräsentationsfunktion. „Die Wirklichkeit, im Es bloß repräsentiert, ist im Du unmittelbar präsent.“24 Der Unterschied von Repräsentanz und Präsenz kommt vor allem auch darin zum Ausdruck, dass im Fall der Repräsentanz immer nur Eigenschaften ausgesagt werden können, die nie erschöpfend beschreiben, was es um das betreffende Ding oder den betreffenden Menschen ist.25 Im Grundwort Ich-Es erfährt der Mensch „die Dinge als Summen von Eigenschaften.“26 Das Seiende geht aber in der Gesamtheit seiner Beschaffenheit nicht auf. Im Fall der Anrede wird nicht die Gesamtheit der Beschaffenheit, sondern die Ganzheit des Anwesenden präsent. Er ist als Ganzer gefordert: „als Aufforderung zur Antwort zielt die Anrede auf die Freiheit des Anderen, aus der er sein Wesen verwirklicht.“27 An diesem Unterschied zwischen einer Summe von Eigenschaften und der Präsenz des Wesens tritt besonders deutlich zu Tage, dass die Zeichenfunktion der Sprache auch im umfassenden semiotischen Verständnis28 und die Anrede zwei nicht auf einander reduzierbare Aspekte der Sprache sind. Das, was mir gegenwärtig wird, ist nicht sprachlos, weil es mich anspricht, es ist aber nicht als Dies oder Das bezeichenbar. Buber geht davon aus, dass sich „als eigentliches Sein zeigt“, „was als nichts bezeichnet wurde“, während das, was als etwas bestimmbar ist, seine Be22 Buber, Prinzip, 143. Die Zwiesprache kann sich nur deshalb im Schweigen vollenden, weil es die verlautbare Anrede gibt. Das Schweigen ist beredetes Schweigen. 23 Ebd., 8. 24 Theunissen, Der Andere, 303. 25 Vgl. Ebd., 304: „Es sind in der Tat immer nur Eigenschaften, worin das Worüber der Rede das Vorkommende repräsentiert. Nur im Zusprechen von Prädikaten kann das Besprechen das Vorkommende so hervorkommen lassen, wie es vorkommt, Darin liegt, dass die feststellende Aussage das Seiende nie in seiner Ganzheit trifft.“ Dies entspricht der semiotischen Einsicht, dass die Semiose nie abgeschlossen ist. 26 Buber, Prinzip, 33. 27 Theunissen, Der Andere, 305. 28 Mit umfassendem semiotischem Verständnis meine ich, dass das Zeichen nicht als zweistellige, sondern dreistellige Relation verstanden wird. Durch den dreistelligen Zeichenbegriff wird zwar gerade die zweistellige Vorstellung der Repräsentanz aufgebrochen und aufgehoben in ein Netz der Verweisungen, damit ändert sich aber nichts an der Gegenüberstellung einer Summe von Eigenschaften oder Deutungen gegenüber der darunter verborgenen Präsenz des Wesens.
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grenztheit offenbart,29 weshalb Buber vom ontologischen Primat des Grundwortes Ich-Du vor dem Grundwort Ich-Es spricht. Diese Ausführungen zur Unmittelbarkeit machen verständlicher, warum der intersubjektive Bereich durch die Dominanz der wissenschaftlichen Welterfahrung gefährdet ist. Der wissenschaftliche Verstand bewegt sich in seinen Untersuchungen ausschließlich im Grundwort Ich-Es.30 Er untersucht das, was er untersucht, ausnahmslos als Gegenstand, dessen Eigenschaften er möglichst umfassend zu ergründen sucht. Ebenso wird verständlich, warum eine wissenschaftliche Untersuchung von Sprache und Kommunikation, wie sie z. B. die Semiotik vornimmt, nichts zur Erhellung des Aspekts der Anrede beitragen kann.31 4.2.2 Die Gleichberechtigung der Partner 4.2.2.1 Gegenseitigkeit der inneren Handlungen Hier kann an die Ausführung zum Unterschied von Besprechen und Ansprechen angeknüpft werden, die gezeigt haben, wie dem Unterordnen des Anderen unter den eigenen Entwurf auf der einen Seite die Gegenseitigkeit auf der anderen gegenüber steht.32 Dabei zeigte sich, dass die Anrede gerade auf Gegenseitigkeit zielt. Die Anrede spricht den Anderen auf seine Freiheit an und appelliert an sein ganzes Wesen. So entspricht der Ich-Du Beziehung „die Gegenseitigkeit der inneren Handlung“.33 „Innere“ Handlung meint, dass es kein äußerliches Handeln am Anderen im Sinne der Ich-Es Beziehung ist, sondern mit dem innerlichen Sich-Richten auf den Anderen zu tun hat. Ein Aspekt dieser Gegenseitigkeit innerer Handlungen ist die „Gegenseitigkeit der Vergegenwärtigung“.34 Die Begegnung kommt erst dann zustande, wenn beide Partner sich einander ganz zuwenden und den anderen auf sein ganzes Wesen hin ansprechen. Ebenso gibt es die Begegnung erst, wenn „Gegenseitigkeit der Akzeptation, der Bejahung und der Bestätigung“35 besteht. Behandelt einer der beiden Partner den anderen im Sinne der Ich-Es Relation, kann es nicht zur Begegnung und zur Ich-Du Beziehung kommen. Dies zeigt, wie gefährdet die Ich-Du Beziehung ist. Während ich die Ich-Es Relation jederzeit von mir aus 29 Theunissen, Der Andere, 306. 30 In seiner Motivation und Herausgefordert-Sein hat er Anteil am Grundwort Ich-Du. 31 Dies gilt auch für die üblich gewordene Unterscheidung von Sach- und Beziehungsebene in der Kommunikation. Die Gestaltung der Beziehung wird dabei nach dem Sender- und Empfänger Modell der Botschaftsübertragung gedacht, was mit dem Wesen der Anrede und der Begegnung, wie bereits der Aspekt der Unmittelbarkeit zeigt, unvereinbar ist. 32 Für Sartre ist die Überordnung des Anderen über mich die Ursprungssituation des Menschen, während es für Buber die Begegnung „gleichursprünglicher und gleichberechtigter Wesen“ ist. Vgl. Theunissen, Der Andere, 264. 33 Buber, Prinzip, 149, vgl. Theunissen, Der Andere, 264. 34 Buber, Urdistanz, 423, vgl. Theunissen, Der Andere, 264. 35 Ebd., Vgl. Theunissen, Der Andere, 264.
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herstellen kann, bin und bleibe ich für die Ich-Du Beziehung auf den Anderen angewiesen. Es kommt zwar entscheidend auf mich und meine Einstellung an, aber eben genauso entscheidend auf den Anderen. Ich kann die Begegnung nicht durch meine Tat herbeiführen, sie ist unverfügbar. Daher sagt Buber, sie geschieht „aus Willen und Gnade in einem“,36 wobei Gnade das Geschenk des Unverfügbaren ist. Das gegenseitige Ineinandergreifen der Handlungen betrifft auch das Verhältnis von Aktivität und Passivität. In der Subjekt-Objekt Relation bedeutet die Aktivität des Subjekts notwendig die Passivität des Objekts.37 Ist die Subjekt-Objekt Relation bzw. das Grundwort Ich-Es im zwischenmenschlichen Umgang bestimmend, begrenzen sich die Aktivitäten beider Partner gegenseitig. Die Entfaltung des Einen bedeutet dann notwendig die Einschränkung des Anderen.38 In der Begegnung ist dieser Antagonismus aufgebrochen. Aktion bedeutet in ihr nicht Passivität des Anderen und stößt nicht an die Grenze der Aktion des Anderen. Aktion zielt vielmehr auf die Aktion des Anderen. Sie zielt nicht nur darauf, sie erfüllt sich allererst in der Aktion des Anderen. Bleibt die Aktion des Anderen und damit das Ineinandergreifen beider Handlungen aus, bleibt mein Mich-Ausstrecken nach dem Anderen unerfüllt. So wie in der Subjekt-Objekt Relation Aktivität und Passivität einander notwendig entsprechen, so in der Begegnung das Ineinandergreifen der Handlungen.
4.2.2.2 Die reine Tat als Einheit von Aktion und Passion Zur Aktivität des Subjekts und Passivität des Objekts gehören alle Phänomenbereiche des Habens. Wer Du spricht, hat nichts. Die Handlung des Du Sprechenden ist nicht auf einen Gegenstand gerichtet. Das meint der Begriff der „reinen“ Tat oder des „reinen“ Aktes bei Buber. Der reine Akt erwächst nicht aus dem Vermögen eines Habenden und zielt nicht auf ein Haben. Er existiert ausschließlich, rein als Akt. In diesem reinen Akt liegt aber allein die Verwirklichung des Wesens. Alles selbstmächtige Handeln aus der Potenz der Eigenschaften und Fähigkeiten verwirklicht lediglich Teilaspekte des Wesens. Nur im Angesprochen-werden wird das ganze Wesen zur Aktion aufgerufen. Darum ist die reine Tat zugleich die Wesenstat, die den ganzen Einsatz meines Wesens verlangt. Die Wirklichkeit des reinen Wirkens heißt bei Buber er36 Buber, Prinzip, 11, vgl. Theunissen, Der Andere, 268. 37 Vgl. Theunissen, Der Andere, 266: „Das Subjekt ist als solches notwendig in Aktion, das Objekt in Passion, das Subjekt das Handelnde, das Objekt das Ge- und Behandelte. Diese Differenz ist ohne weiteres im Begriff des Subjekts gesetzt; denn begriffsgemäß ist das subjectum das, was es ist, d. h. das zugrunde Liegende, weil es nicht einfach vorliegt, sondern vorliegen läßt, eben das objectum oder das Vorliegende, das damit zum passiv Gegebenen, statisch Entgegenstehenden wird.“ 38 Vgl. Sartre, Sein, 264ff und Theunissen, Der Andere, 209 ff.
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staunlicher und bezeichnender Weise auch „Sinn“, über den er sagt: „Nicht gedeutet – das vermögen wir nicht -, nur getan will er von uns werden.“39 Das hieße, dass unser Leben dadurch Sinn erhält, dass wir auf die Ansprüche an uns, die wirklich uns meinen und uns nicht funktionalisieren, mit unserem Wesen und Einsatz antworten. Dies entspricht dem Gedanken der Analogie der Entsprechung, der als Folge der relationalen Ontologie Ebelings erschien. Auch dort hat die Entsprechung in der antwortenden Tat den ontologischen Vorrang vor der gedanklichen Entsprechung. Buber bestimmt die reine Tat als Einheit von Aktion und Passion. Wir haben bereits gesehen, wie im Ineinandergreifen der Handlungen bei der Begegnung die gewöhnliche Verhältnisbestimmung zwischen Aktivität und Passivität in der Verteilung auf die Partner aufgebrochen wird. Im Grunde genommen liegt der Bereich der Begegnung jenseits der Differenz von Aktion und Passion, da beide immer polar aufeinander bezogen sind. Buber bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass er von der Einheit von Aktion und Passion in der reinen Tat spricht: „So ist die Beziehung Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem. Wie denn eine Aktion des ganzen Wesens, als die Aufhebung aller Teilhandlungen …, der Passion ähnlich werden muß.“40 Entscheidend dabei ist, dass die Passion die Aktion nicht mindert, sondern als das Erleiden der Aktion des Anderen die eigene Aktion herausfordert. Diese Passion fordert meine Aktion nicht nur heraus, in ihr findet allein meine Aktion als Wesenstat zu sich selbst.41
4.2.3 Die Wirklichkeit des Zwischen 4.2.3.1 Die Herkunft der Partner aus dem Zwischen Dem Ansprechen und dem Du kommt bei Buber zentrale Bedeutung zu. Dies darf aber nicht zu der Annahme verleiten, dass die Reihenfolge des Subjektivismus, die mit dem Ich anfängt, lediglich umgekehrt wird, so dass eine Du39 Buber, Prinzip, 112, vgl. Theunissen, Der Andere, 315. 40 Ebd., 15, zitiert nach Theunissen, Der Andere, 317. 41 Theunissen macht darauf aufmerksam, dass „Faktizität im Sinne des Sich-unverfügbar-seins“ bei Buber konsequenter gedacht ist als bei Heidegger. Bei Buber ist die Faktizität damit gegeben, dass ich in meinem Eigenen vom Anderen abhängig bin. Bei Heidegger hängt die Faktizität letztlich an der Geworfenheit: „in die ,Welt‘ geworfen ist das jemeinige Dasein, weil es überhaupt geworfen, d. h. ohne sein Zutun in sein Sein eingesetzt ist. Unverfügbar ist also dem Dasein sein eigenes Sein. Vor allen Abhängigkeiten von den in der Welt entdeckten Fakten ist das Dasein abhängig von sich selbst als dem selbst unverfügbaren und insofern unabhängigen Grund all seines Verfügens“. Theunissen, Der Andere, 322. Konsequenter ist die Faktizität, d. h. die Abhängigkeit von Unverfügbarem, bei Buber deshalb, weil bei ihm die Aktion gerade als Passion, im Erleiden des Unverfügbaren, reine Aktion wird. Bei Heidegger hingegen wird der eigene Entwurf durch die Geworfenheit eingeschränkt. Vgl. Ebd., 322 f.
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Ich Reihenfolge entsteht.42 Den Vorrang hat nicht das Du vor dem Ich, sondern das Zwischen vor Ich und Du. Dies ist im Grunde in der Gleichberechtigung beider Partner in der Beziehung bereits mit gesetzt, weshalb wir an die Überlegungen zur reinen Tat anknüpfen können. Die Begegnung ist reines Geschehen und aktuelles Ereignis. „Rein“ meint hier wiederum, dass die Begegnung nur als Ereignis ist, sich im Ereignis also nicht etwas ereignet. In dem Begriff des reinen Geschehens ist damit mit gesetzt, dass sich die Begegnung nicht aus Akten der Begegnung zusammensetzt. Ich und Du als die zwei Pole der Begegnung werden vielmehr als solche erst durch die Begegnung konstituiert. „Anstatt dass Ich und Du als schon fertig Seiende die Begegnung zustande bringen, müssen sie nach dem Ansatz der Dialogik selbst erst dem Geschehen der Begegnung entspringen. Nur so kann sich das Zwischen gegenüber der ,Sphäre der Subjektivität‘, der meinen wie der fremden, als das Ursprüngliche behaupten.“43 Im Gegensatz dazu sind Subjekt und Objekt bereits vorhanden, bevor sie durch die Ich-Es Relation aufeinander bezogen werden. Weil aber weder das Ich noch das Es die Relation bedürfen, um zu sein, gehen sie einander auch nicht entscheidend an. Buber spricht in diesem Zusammenhang von „naturhafter Abgehobenheit“ zwischen Ich und Es und „naturhafter Verbundenheit“ zwischen mir und dir.44 Es ist bereits deutlich geworden, dass das Zwischen weder im Ich, noch im Anderen liegt oder sich aus beiden zusammensetzt. Der Bereich des Zwischen, aus dem Ich und Du entspringen, erfasst und umgreift das einzelne Ich. So tun es die „ontologischen Urphänomene“ Sprache, Liebe und Geist. Der Mensch hat nicht Geist, der Geist ergreift den Menschen. Man hat Gefühle, aber die Liebe geschieht. Der Mensch „steht in der Sprache“.45 Umgreifend sind aber die Urphänomene und das Zwischen nur jeweils im Verhältnis zum Ich und zum Du. Sie umgreifen nicht Ich und Du zusammen, in dem Sinne, dass das Umgreifende objektiv gegeben ist. Damit ist eine objektive Ganzheitsbetrachtung, innerhalb derer den Partnern der Beziehung ihr Platz zugewiesen werden kann, ausgeschlossen: „Kein ,Drittes‘, weder die ,Ideenwelt‘ noch die Welt der Realitäten, entspannt und überhöht die ,Zwiefältigkeit‘.“46 Daher gilt: „Ein wirkliches Gespräch … vollzieht sich nicht in dem einen und dem anderen Teilnehmer, noch in einer beide und alle anderen Dinge umfassenden neutralen Welt, sondern im genauesten Sinn zwischen beiden, gleichsam in einer nur ihnen beiden zugänglichen Dimension.“47 Diese Dimension ist nicht 42 So etwa in der theologisch-dogmatischen Rezeption Bubers bei Heim. Vgl. Ebd., 372. Dies ist letztlich der Position Sartres sehr ähnlich. Müller-Schwefe dürfte in seinem Verständnis des Dialogismus von seinem Lehrer Heim beeinflusst sein, wie sich in seinem Verhältnis zu Sartre bestätigt hat. 43 Ebd., 269. Hervorhebung im Original. 44 Ebd. 45 Buber, Prinzip, 8. 46 Theunissen, Der Andere, 265. 47 Buber, Problem, 405, zitiert nach Theunissen, Der Andere, 266.
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feststellbar, sondern nur im Ereignis da. Das Zwischen ist dabei nicht im räumlichen Sinne48 ,zwischen‘ den Partnern, sondern im Sinne des im Ereignis Verbunden-Seins. Das Zwischen lässt sich also nicht wie ein Ding zwischen den Partnern identifizieren. In diesem Sinne ist es ein „metaphysisches Faktum“49. Daher trennt das Zwischen Ich und Du auch nicht ontisch voneinander, weshalb es auch die Unmittelbarkeit nicht aufhebt, sondern ermöglicht.
4.2.3.2 Die Wirklichkeit des Zwischen als Einheit von Schicksal und Freiheit Buber war ausgegangen von der transzendentalen Philosophie und dem Modell der Intentionalität, das die Subjekt-Objekt Relation angemessen beschreibt, um davon das ganz andere Ich-Du Verhältnis abzuheben. Dabei hat sich immer mehr herauskristallisiert, dass das unverfügbar Begegnende und die eigene Wesenstat im Ereignis eine Einheit bilden. „Der Zusammenfall von Faktizität und Wesenstat bezeichnet den äußersten Punkt jenseits der Intentionalität und der transzendentalen Scheidung von Akt und Fakt, von Vorgabe und Überwurf.“50 In diesem Ereignis des Zusammenfalls von Faktizität und Wesenstat vollzieht sich eine Teilnahme am Leben des Anderen, von der alle Kategorien des Habens fern zu halten sind. Diese Teilnahme am Leben des Anderen ist für Buber zugleich Teilnahme an der Wirklichkeit: Wer in der Beziehung steht, nimmt an einer Wirklichkeit teil, das heißt: an einem Sein, das nicht bloß an ihm und nicht bloß außer ihm ist. Alle Wirklichkeit ist ein Wirken, an dem ich teilnehme, ohne es mir eignen zu können. Wo keine Teilnahme ist, ist keine Wirklichkeit. Wo Selbstzueignung ist, ist keine Wirklichkeit. Die Teilnahme ist um so vollkommener, je unmittelbarer die Berührung des Du ist.51
Die Teilnahme ist ganz an das Ereignis der Begegnung gebunden. Sie kann aus dem Wirken nicht in ein Haben überführt werden. Die Teilnahme am Anderen gibt mir nicht nur Anteil an ihm, sondern ist auch der Weg, wie sich mir mein eigenes Sein erschließt, weil ich nur hier zur Wesenstat gefordert und befähigt bin. „Nur die Teilnahme am Sein der seienden Wesen erschließt den Sinn im Grunde des eigenen Seins.“52 Dies zeigt, dass die Nähe zum Anderen und die Nähe zu mir selbst einander nicht ausschließen, sondern bedingen. Ich bin mir selbst unverfügbar und nur in der Begegnung gegeben, „weil es das fremde Tun ist, das als Anspruch mein eigenes Tun anfänglich und durchgehend trägt 48 Marcel macht immer wieder darauf aufmerksam, dass angesichts der intersubjektiven Realität die räumlichen Kategorien und Vorstellungsweisen fehl gehen. Vgl. Marcel, Geheimnis, 175. 49 Theunissen, Der Andere, 266. 50 Ebd., 322. 51 Buber, Prinzip, 65 f, vgl. Theunissen, Der Andere, 325. 52 Buber, Problem, 393, vgl. Theunissen, Der Andere, 326.
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oder als Antwort mein eigenes Tun vollendet, in allem aber ein fremdes Tun bleibt.“53 Wenn ich in Übereinstimmung mit mir selbst und im Kontakt mit dem Grund meines Seins leben will, kommt es gleichermaßen auf mich und auf die Tat des Anderen an, denn: „meine Tat ist der Vollzug meines Wesens allein dadurch, dass ich mich der Tat des Anderen anheimgebe.“54 Diese Einheit von Tat und Leiden beschreibt Buber auf der Ebene des Zwischen als Zugleich von Schicksal und Freiheit. Damit rückt ein Freiheitsbegriff in den Blick, welcher der Willkür, die man gemeinhin zuerst mit Freiheit assoziiert, entgegengesetzt ist. Das Wort Schicksal meint in diesem Zusammenhang das, was mir zugeschickt ist, und damit nicht das blinde Verhängnis. „Die Willkür ist die pure, ,ungeschickte‘ Aktion, welche gewalttätig in die bestehende Welt eingreift und sie nach den Vorstellungen des Subjekts umformt. Das Verhängnis ist die träge Passivität, die solcher Aktion entgegensteht.“55 Dies beschreibt treffend das Freiheitsverständnis des modernen Menschen, der sich selbst als denjenigen versteht, der nach seinen Vorstellungen Geschichte und Zukunft gestaltet. Die Gegenposition dazu ist nicht, dass der Mensch nicht Geschichte gestalten kann und muss, sondern dass er sich dabei abhängig weiß von dem, was ihm vom anderen her begegnet. Seine Freiheit in diesem Sinne betätigt der Mensch immer dann, wenn er dem Anspruch mit seinem Wesen antwortet. Wir haben bereits gesehen, dass sich Aktion und Passion in der SubjektObjekt Relation gegenseitig zwar bedingen aber auch begrenzen, während sie im Ich-Du Verhältnis eine Einheit bilden. Ebenso verhält es sich hier mit Willkür und Verhängnis auf der einen und Freiheit und Schicksal auf der anderen Seite. Willkür und Verhängnis begrenzen einander, das Verhängnis schränkt meine Willkür ein. Demgegenüber gilt, dass die Freiheit nur zusammen mit dem Schicksal Ereignis wird. Sie bedingen einander und bilden eine Einheit. „Die Freiheit als Einheit von Freiheit und Schicksal: das ist der zur Begegnung gehörige ,Wille‘ oder die ,Tat‘, die meine ,Bestimmung‘ ist. Denn in der Bestimmung ist das, was als willkürliches Bestimmen und verhängnisvolles Bestimmtsein auseinanderfällt, eins geworden.“56 53 Theunissen, Der Andere, 326: „Positiv ist es mein mir selbst unverfügbarer Grund. Als mein Grund ist es das mir Eigenste, das Innerlichste meiner Innerlichkeit. Als mein eigener Grund aber ist es mir nicht selbst wieder zu eigen.“ Hervorhebung im Original. 54 Ebd., 326. 55 Ebd., 327. 56 Ebd., 328. Dort auch das Buberzitat aus „Das dialogische Prinzip“, 62: Der freie Mensch „glaubt an die Bestimmung und daran, dass sie seiner bedarf: sie gängelt ihn nicht, sie erwartet ihn, er muss auf sie zugehen, und weiß doch nicht, wo sie steht, er muss mit dem ganzen Wesen ausgehen, das weiß er […]. Da greift er nicht mehr ein, und er läßt doch nicht bloß geschehen. Er lauscht dem aus sich Werdenden, dem Weg des Wesens in der Welt; nicht um von ihm getragen zu werden: um es selbst zu verwirklichen, wie es von ihm, dessen es bedarf, verwirklicht werden will, mit Menschengeist und Menschentat, mit Menschenleben und Menschentod. Er glaubt, sagte ich; damit ist aber gesagt: er begegnet.“
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4.2.4 Die Fülle des Seins Von einer Fülle des Seins oder Fülle des Lebens zu reden, die nichts mit der Anhäufung von Gütern zu tun hat, sondern im Sich-öffnen für Gott und den Anderen ihren Grund hat, gehört zu immer wieder kehrenden Grundaussagen des Glaubens und der Predigt. Damit sie auch aussagen und erschließen, was sie meinen, sind sie möglichst erfahrungsnah an den Erlebnisweisen des Menschen zu orientieren. Buber beschreibt die unterschiedlichen Erlebnisweisen als Dialektik des Es-Ich und Dialektik des Du-Ich. Das Ich des Grundwortes Ich-Es bezeichnet er dabei als Eigenwesen und Subjekt des Erfahrens und Gebrauchens. Das Ich des Grundwortes Ich-Du als Person, die sich bewusst wird als „Subjektivität“. „Subjektivität“ meint dabei, dass der abhängige Genitiv wie in Subjekt des Erfahrens und Gebrauchens fehlt. Person erscheint nur in der Beziehung zu anderen Personen. Die Dialektik besteht darin, dass jeweils ein Aspekt der Unabhängigkeit (Eigenwesen, Subjektivität) einem Aspekt der Abhängigkeit (Subjekt, Person) zugeordnet ist. Die Dialektik des Es-Ich besteht darin, dass es „einerseits bloß der funktionelle und punktuelle Pol der Intentionalität, der Dasein nur im Vollzug des objektivierenden Aktes hat, andererseits aber etwas beständig und auch außerhalb seiner intentionalen Funktion Vorhandenes“57 ist. Die Bestimmtheit des Subjekts erhält es allein aus seinen Objekten. Dem entspricht das Erleben der Entfremdung, dem Entschwinden des eigenen Wesens, wenn man primär in der Ich-Es Relation lebt. Denn das Es-Ich ist von sich selbst her „ohne Fülle und Substanz“.58 Dennoch ist es etwas Bestimmtes, das sich als Eigenwesen gegen andere Eigenwesen absetzt. Beide Seiten der Dialektik kommen „überein in der Leere des Vorhandenseins, das dem Subjekt als Eigenwesenheit zugesprochen wird.“59 In den Worten Bubers: Das Subjekt „mag sich noch so viel zu eigen machen, ihm wächst keine Substanz daraus, es bleibt punkthaft, funktionell, das Erfahrende, das Gebrauchende, nichts weiter. All sein ausgedehntes und vielfältiges Sosein, all seine eifrige ,Individualität‘ kann ihm zu keiner Substanz60 verhelfen.“61
57 Ebd., 270. 58 Ebd. 59 Ebd., im direkten Anschluss heißt es: „Trotz seiner individuellen Bestimmtheit widerspricht das Vorhandensein des Subjekts nicht dessen punktueller Funktionalität, weil es selber völlig substanzlos ist.“ 60 Angesichts der Gegenüberstellung von Substanzontologie und relationaler Ontologie bei Ebeling, mag die Verwendung der Begriffs „Substanz“ in diesem Zusammenhang verwundern. Theunissen merkt denn auch an, „dass der Substanzbegriff, der das Sein im Nichts artikulieren soll, einer am Es orientierten Tradition entnommen ist und demgemäß nur in der Beziehung auf Akzidenzien Sinn hat. […] Im Grundwort Ich-Es wird das Seiende als die den Akzidenzien zugrunde liegende Substanz vorgestellt, das Du aber läßt mit der Eigenschaftlichkeit in Wirklichkeit auch die Substanzialität hinter sich. So kommt das im Du erlebte Sein [bei Buber] nicht
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Die Dialektik des Du-Ich besteht darin, dass es nichts für-sich Seiendes ist, weil es nur in Beziehung zu anderen Personen erscheint, auf der anderen Seite aber sich als unabhängige Subjektivität bewusst wird. Das Du-Ich ruht „gerade weil es nichts von sich abhängig macht, unabhängig in sich selbst.“62 Die Versöhnung dieser Dialektik sieht wie folgt aus: Nichts nämlich ist das Du-Ich nur nach Maßgabe des vorkommenden Bestandes, der sich in dem Einen so, in dem Anderen anders bestimmt. […] Aber das Fehlen individueller Bestimmtheit bedeutet keineswegs gänzliche Unbestimmtheit. Im Gegenteil: die Autarkie der Person setzt die Teilnahme an einem Sein voraus, das im Kontrast zur Leere der Vorhandenheit die absolute Fülle selber ist.63
Die Fülle der Person ereignet sich in der Begegnung. Alles Verlassen auf Besitz und Haben auch im Sinne von Begabung und Talent zieht das Ich auf die Seite des Es-Ich, und verhindert so die Möglichkeit zur Fülle im Ereignis der Begegnung. Wiederum erscheint dabei der zentrale Begriff der Teilnahme, der m. E. für die Glaubenssprache von entscheidender Bedeutung ist: Die Person wird sich selbst als eines am Sein Teilnehmenden, als eines Mitseienden, und so als eines Seienden bewußt. Das Eigenwesen wird sich seiner selbst als eines Sound-nicht-anders-seienden bewußt. Indem das Eigenwesen sich gegen andere absetzt, entfernt es sich vom Sein.64
Für die Fülle der Person reserviert Buber den Begriff „Selbst“. Die Selbständigkeit des Selbst erwächst der Person aus der Unabhängigkeit des Gegenstandes von ihr.65
4.2.5 Gegenwart des Du und Vergangenheit des Es Die Ich-Du Beziehung erhält durch die Phänomene der Fülle und der Gegenwart einen konkreten positiven Sinn. Beide Phänomene bedingen und erläutern einander. Denn: „Gegenwart, nicht die punkthafte, die nur den jeweiligen im Gedanken gesetzten Schluß der ,abgelaufenen‘ Zeit, […] sondern
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als es selbst zur Sprache, sondern nur in Bildern, die es letztlich in die Es-Sphäre hinabziehen. Nur was das Du nicht ist, nicht, was es ist, bleibt gewiß.“ Ebd., 307. Buber, Prinzip, 67. Theunissen, Der Andere, 271. Ebd. Buber, Prinzip, 66, bei Theunissen, Der Andere, 271. Dieses „Selbst“ Bubers ist nicht ohne Beziehung zum „Selbst“ in Heideggers vier Jahre später erscheinenden „Sein und Zeit“, das dort dem Husserl zugeschriebenen Ich gegenübersteht. Dazu Theunissen, Der Andere, 272: „Die personale Subjektivität Bubers ist wie das Selbst Heideggers ein dynamischer Vollzug, eine Weise zu sein […], und auch in dieser Hinsicht die Korrektur des Subjekts, dessen Aktivität sich noch über einer statischen Grundlage erhebt. Während jedoch nach Heidegger das Selbst nur im freigebenden Sich-absetzen von anderem Selbst zu sich kommen kann, hat es nach Buber sein Sein allein in der Beziehung.“
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Rückgewinnung von Sprache und Erfahrung
die wirkliche und erfüllte, gibt es nur insofern, als es Gegenwärtigkeit, Begegnung, Beziehung gibt.“66 Die Gegenwart ist wie das Sein und die Sprache zwiefältig. Sie hat eine dem Es zugeordnete Vergangenheitsseite und eine dem Du zugehörige Zukunftsseite. Nur die letztere ist erfüllte Gegenwart, während erstere die punkthafte Gegenwart des gleichmäßig ablaufenden Zeitstrahls der physikalischen Zeit ist. Bei der Unterscheidung von Ansprechen und Besprechen hatte sich gezeigt: was beredet wird, ist bereits vorher Gegenstand des Wissens. Sein Besprechen in der Gegenwart ist lediglich Verlängerung der Vergangenheit. Der objetivierende Blick kann immer nur erfassen und feststellen, was bereits geworden ist. Daher ist die Vergangenheit „Wesenszug des noematischen Korrelats“.67 Daher gilt: „Nicht nur der lebt in der Vergangenheit, der sich an die Ge- und Begebenheiten von einst erinnert, auch der tut es, der jetzt, in diesem Augenblick, von Gegenständen umstanden ist.“68 Die Gegenwart des Du breitet sich demgegenüber mit ihrer eigenen Fülle aus. In ihr begegnet nicht die Vergangenheit in Verlängerung, sondern das „schlechthin Neue“69. In dieser Gegenwart liegt die Möglichkeit des Schöpferischen, weil ich in Freiheit auf den Anspruch des Anderen antworten kann. Weil ich in dieser Gegenwart dem Anderen zugewandt bin, ist sie auf die Zukunft ausgerichtet. Indem ich den Anderen anspreche, erwarte ich erst aus der Zukunft von ihm die vielleicht überraschende, jedenfalls von mir nicht vorher gewusste Antwort. Der Akt des Ansprechens „hält sich gleichsam in die Zukunft hinein, ohne diese Zukunft selbst schon vorwegzunehmen.“70 Durch diese Spannung zur Zukunft dehnt sich die Gegenwart erst zur Gegenwärtigkeit. „Die Zukünftigkeit ist es, die der dialogischen Gegenwart die Spannung der Gegenwärtigkeit gibt und die sie abscheidet vom flüchtigen Jetzt.“71 Davon zu unterscheiden ist die Spannung zur Zukunft, die sich von der Zukunft die Befriedigung eigener Wünsche erhofft und erwartet. Diese Spannung verschließt vor der Gegenwärtigkeit des Anderen und damit vor der Gegenwärtigkeit überhaupt.
66 Buber, Prinzip, 16, bei Theunissen, Der Andere, 294. 67 Theunissen, Der Andere, 294, vgl. auch ebd., 294 f: „Die Abgeschlossenheit, die der Vergangenheit des Es eignet, ist nicht so sehr das Erledigtsein des mehr oder weniger lange Zurückliegenden […] als vielmehr die Vollendung im Jetzt, über das hinaus der Akt des Beredens nicht langt.“ 68 Ebd., 295. 69 Ebd. 70 Ebd., 296. 71 Ebd.
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Bubers Gegenüberstellung der Grundworte Ich-Du und Ich-Es
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4.2.6 Theologische Implikationen Die Behauptung einer relationalen Ontologie war bei Ebeling schöpfungstheologisch begründet, um die schöpfungsgemäße Abhängigkeit der Geschöpfe von Gott aussagen zu können. Daraufhin haben wir uns der Ontologie des Zwischen als einer ausgearbeiteten Konzeption der relationalen Ontologie zugewandt. Als ein zentrales Element dieser Ontologie hat sich die Gleichursprünglichkeit und Gleichwertigkeit der Partner der Begegnung ergeben. Diese Gegenseitigkeit ist aber nach Buber nicht auf die Beziehung zwischen Menschen beschränkt. Der „Wert der Werte“ ist für ihn „die Gegenseitigkeit der Beziehung zwischen Menschlichem und Göttlichem.“72 Diese Gegenseitigkeit ist für ihn die Quelle und der Grund der Gegenseitigkeit als „Seinscharakter des Alls“.73 Es ist daher jetzt danach zu fragen, wie sich die Ausformung der relationalen Ontologie bei Buber zur Theologie verhält. Ich wende mich dafür zunächst der Theologie bei Buber zu und frage in einem zweiten Schritt nach dem Verhältnis zur christlichen Theologie.
4.2.6.1 Bubers Theologie des Zwischen Theunissen beschreibt Bubers Philosophie als negative Ontologie, deren positives Ziel nur theologisch entfaltet werden kann. Die reine Ontologie bleibt bei der Differenz von Sein und Seiendem stehen. „Die dialogische Theologie, als Ontotheologie, aber will das Sein selbst als Seiendes aufzeigen, ohne es zu demjenigen Seienden zu machen, das nicht das Sein ist.“74 Damit ist das Thema der Unterschiedenheit von Gott und Welt angesprochen, das bei Buber in der Form „nicht Trennung und nicht Identität“ erscheint. Die Welt als Ort der Begegnung mit Gott: Nicht Trennung, nicht Identität Buber bestimmt Gott im Gegensatz zur klassischen abendländischen Metaphysik.75 In dieser unterliegt Gott der Kategorie des Grundes. Demnach ist das unmittelbar Gegebene in Natur und Geschichte stets etwas anderes als Gott,
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Buber, Erzählung, 80, zitiert nach Theunissen, Der Andere, 264. Theunissen, Der Andere, 265. Ebd., 338. Meist wird diese Gestalt der Metaphysik mit Metaphysik überhaupt gleichgesetzt, und Metaphysik daraufhin für überholt erklärt. Marcel versteht seine Philosophie als Metaphysik, die aber wie bei Buber in allem der klassischen abendländischen Metaphysik entgegen gesetzt ist. Metaphysik in diesem Sinne meint also nicht ihre abendländische Ausformung, sondern dass sie von ,Sachverhalten‘ handelt, die nicht der Gesetzmäßigkeit physischer Dinge unterliegen. In diesem Sinne ist die Abgrenzung der Ich-Du Beziehung von der Ich-Es Relation metaphysisch.
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Rückgewinnung von Sprache und Erfahrung
der aus diesem Gegebenen lediglich abgeleitet werden kann. Im Gegensatz dazu ist für Buber Gott unmittelbarer gegeben als alles andere: „Es ist nicht so, dass irgend etwas anderes ,gegeben‘ und dies erst daraus abgeleitet wäre, sondern dies ist das uns unmittelbar und zunächst und dauernd gegenüber Wesende: das rechtmäßig nur angesprochen, nicht ausgesagt werden kann.“76 Unmittelbarkeit ist hier in dem oben entfalteten Sinne gemeint, der gegenständliche und intentionale Vermittlung ausschließt. Gott ist dabei insofern unmittelbarer gegeben als alles andere, als er ausschließlich in dieser Weise und nie im Sinne der Ich-Es Relation begegnet. Die Unmittelbarkeit des Du ist aber allein das, was unser Wesen hervorrufen und uns daher unbedingt angehen kann. Gott als das „unmittelbar gegenüber Wesende“ ist dabei nicht von uns und der Welt getrennt zu denken.77 Buber wendet sich gegen eine Abgrenzung der Sphäre des Glaubens und der Religion gegen das Weltleben78 und spricht stattdessen von der Allgegenwart des Gottesverhältnisses und der Welt als dem „Ort der Begegnung mit Gott“.79 Gott begegnet überall da, wo mich ein Du anspricht, sei es in der Natur, im menschlichen Gegenüber oder in Gestalt einer Aufgabe, die mir gestellt ist. Der Gott der Dialogik zeigt sich da, „wo ich ihm scheinbar abgewandt bin: wo mir im Gegenüber das Geheimnis eines Dinges aufgeht, wo mir ein Mensch als er selbst gegenwärtig ist, wo ich im Handeln den Anspruch einer Idee erfülle.“80 Gott ist aber auch nicht identisch mit Menschen, Dingen und „Wesenheiten“81, die uns in der Welt als Du begegnen. Die Welt ist nicht der Ort Gottes, sondern Ort der Begegnung mit Gott. Das in der Welt Seiende kann mir zum Du werden, es wird aber auch immer wieder zum Es. Es ist immer auch in der
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Das Du begegnet hinsichtlich des Bereichs des Vorkommenden als Nichts. Es ist ein metaphysisches Faktum. Buber, Prinzip, 82, bei Theunissen, Der Andere, 331. Buber macht damit zu Recht darauf aufmerksam, dass die Theologie Gott zum Es macht, indem sie über ihn diskutiert. Dass Theologie getrieben wird, ist um des Glaubens und um Gottes Willen notwendig. Dennoch sollte dem Theologen immer bewusst sein, dass der lebendige Gott anwesend ist, wenn er über ihn spricht. Die menschliche Person ist für Buber der „zentrale Platz des Kampfes zwischen der Bewegung der Welt von Gott weg und ihrer Bewegung auf Gott zu“. Buber, Prinzip, 247. Buber steht damit in der Tradition des Chassidismus, der die Trennung von Heiligem und Profanem aufhebt, was für Buber eine Aufhebung der Trennung von Gott und Welt bedeutet. In gleicher Weise wendet er sich aber „in der geschichtlichen Erwiderung auf die Metaphysik Spinozas“ (Theunissen, Der Andere, 332) gegen die Ineinssetzung von Gott und Welt. Buber, Botschaft, 745, zitiert nach Theunissen, Der Andere, 333. Theunissen, Der Andere, 332. Bisher war im Referat Bubers ausschließlich vom zwischenmenschlichen Du die Rede. Dieses steht für Buber in der Mitte zwischen der Natur und den Wesenheiten, die uns ebenfalls als Du begegnen können. Die Natur nur eingeschränkt, weil lediglich sie uns ansprechen kann, während sie selbst keine Ansprüche hört. Zu den Wesenheiten vgl. Buber, Prinzip, 10: „Da ist die Beziehung in Wolke gehüllt, aber sich offenbarend, sprachlos, aber sprachzeugend. Wir vernehmen kein Du und fühlen uns doch angerufen, wir antworten – bildend, denkend, handelnd: wir sprechen mit unserm Wesen das Grundwort, ohne mit unserm Mund Du sahen zu können.“
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Bubers Gegenüberstellung der Grundworte Ich-Du und Ich-Es
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Welt Vorkommendes und hat im noematischen Bereich seinen Ort. Gott aber ist „kein gegenständlicher Bezugspunkt“.82 Der lebendige Gott kann nicht zum Es, zum toten Gegenstand werden. Das ist der Grund dafür, warum für Buber gilt: „zu Gott gibt es keine Beziehung neben den Beziehungen zur Natur, zu den Mitmenschen und zu den Ideen; es gibt sie nur in ihnen.“83 Es gibt genau in dem Sinne keine Beziehung zu Gott, als Gott nicht in den gegenständlichen Bereich fällt, in dem wir allein intentional „in Beziehung zu“ treten. Gott begegnet im einzelnen Du als die „Verlängerung“ der Beziehung zu diesem Du als Seiendem: Sofern das ewige Du eben das ist, was über die einzelnen Du hinaus ist und was in der (transzendierenden) Verlängerung der Beziehung zu diesem begegnet, ist es das Sein, das vom Standpunkt des in der Welt Vorkommenden als Nichts erscheint. Das heißt nicht, es sei dieses Nichts. Es ist weder das bloße Nichts des Vorkommenden noch etwas Vorkommendes, das hinter dem einzelnen angesprochenen Seienden abermals vorkäme. In ihm ist vielmehr das, was vom Vorkommenden her wie nichts aussieht, existente Wirklichkeit.84
Diese Auffassung der Welt als Ort der Begegnung mit Gott bedeutet, dass eine Frömmigkeit, die einen Rückzug aus der Welt propagiert, genauso abzulehnen ist, wie eine mystische oder spekulative Identifikation von Gott und Welt. Beide Ansichten fassen das in der Welt Vorkommende als Es, womit Gott in seiner Seinsart einem in der Welt vorkommenden Seienden angeglichen wird und das eigene Selbst zum Eigenwesen wird.85 „Gegen jenen an die Welt Verfallenen führt Buber die Heiligung der Welt ins Feld, gegen diesen mit der Welt Verfallenen die Heiligung der Welt.“86 Gott, das ewige Du In Gott ist das, was vom Vorkommenden in der Welt her nichts ist, existente Wirklichkeit. So gibt er der Du-Welt, die keinen Zusammenhang in Raum und Zeit hat, Kontinuität und Wirklichkeit. Gott ist die Wirklichkeit des Zwischen. Gott ist jedoch nicht identisch mit dem Zwischen der Begegnung bestimmter 82 83 84 85
Theunissen, Der Andere, 334. Ebd. Ebd., 335. Vgl. Ebd., 333: „Der mystischen oder spekulativen Identifikation von Gott und Welt geht existentiell das ,Erfahren und Gebrauchen‘ voraus, dem Wirklichkeit nur das Vorkommen des in der Welt Vorkommenden ist. Wenn dieses Seinsverständnis die göttliche Wirklichkeit nicht überhaupt ignoriert, so kann es sie nur als etwas auch in der Welt Vorkommendes oder als das Ganze des in der Welt Vorkommenden begreifen. Auf derselben Ebene des Es liegt aber auch der Rückzug aus der Welt. Einmal weil der aus der Welt herausgesetzte Gott desgleichen nur als etwas für sich Vorkommendes gedacht werden kann, zum anderen weil das, worauf sich der die Welt angeblich verlassende Mensch in Wahrheit zurückzieht, nur er selbst als ,Eigenwesen‘, als das ebenfalls vorkommende Individuum ist.“ 86 Ebd.
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Rückgewinnung von Sprache und Erfahrung
Seiender. Er ist vielmehr die Mitte, auf welche sich die Gesamtheit aller Beziehungen bezieht. „Gott fällt also nicht einfach mit dem ontologisch erfaßbaren Zwischen zusammen, sondern ist gleichsam das Zwischen allen Zwischen, d. h. das Zwischen, sofern es nicht nur je mich und dich, sondern alle Beziehungen zu jedem mir begegnenden Du sowie alle Beziehungen überhaupt miteinander verbindet.“87 Während in der zwischenmenschlichen Begegnung, die im Ereignis Verbundenen die Welt um sich ausschließen, ist die Ausschließlichkeit der Begegnung in Gott identisch mit einer umfassenden Einschließlichkeit. Kraft dieser Einschließlichkeit verbinden sich „die isolierten Momente der Beziehung […] zu einem Weltleben der Verbundenheit.“88 Für das Erleben des einzelnen Menschen konkretisiert sich das Kontinuum der Du-Welt im „Weg“. Im Weg wird die Wirklichkeit des Zwischen erfahrbar. Der Weg ist die Einheit von Schicksal und Freiheit, als die sich die Wirklichkeit des Zwischen gezeigt hat. Der Weg ist, „einmal die Wesenstat, in der ich mich selbst verwirkliche und meinem Leben Richtung gebe, zum anderen aber ist er die Bahn, in die sich mein Tun hineinarbeitet, und die als solche nicht mein Tun ist.“89 Ohne mein Gehen des Weges erschließt sich der Weg nicht, das Gehen des Weges und der Weg selbst sind nicht zu trennen. Das Finden Gottes auf dem Weg ist „nicht ein Ende des Weges, nur seine ewige Mitte.“90 Die von Gott gestiftete Beständigkeit der Du-Welt fällt nicht in die Gegenständlichkeit zurück. Während das konkret begegnende Du im Anderen immer wieder zurück sinkt ins Es, bleibt die Gegenwart Gottes „ewige Gegenwart“. Dass Gott als Du existiert, heißt, dass er seinem Wesen nach nicht Es werden kann. Im Gegensatz zum Menschen wird Gott das Du nicht durch Anrede geschenkt, wie es ihm auch durch Bereden nicht genommen werden kann. Die Existenzweise Gottes als Du ist entscheidend für die Frage der Erfahrbarkeit91 Gottes, an der diese Arbeit besonderes Interesse hat. Im Blickwinkel des in der Welt Vorkommenden ist Gott nichts und wird nie als vorkommender Gegenstand erfahren. In jeder Begegnung aber kündigt er sich als Wirklichkeit an. Diese Erfahrung ist es, auf welche die Sprache des Glaubens m. E. bezogen ist.
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Ebd., 336. Buber, Prinzip, 102. Theunissen, Der Andere, 337. Buber, Prinzip, 81, bei Theunissen, Der Andere, 337. Ich verstehe dabei Erfahrung so umfassend, dass auch die ,Erfahrung‘ der Begegnung darunter fällt, während Buber den Begriff der Erfahrung auf den Umgang mit dem Vorkommenden im Sinne der Ich-Es Relation beschränkt. Vgl. Buber, Prinzip, 9.10: „nicht Erfahrungen allein bringen die Welt dem Menschen zu. Denn sie bringen ihm nur eine Welt zu, die aus Es und Es und Es, aus Er und Er und Sie und Sie und Es besteht. Ich erfahre Etwas.“ Und: „Die Welt als Erfahrung gehört dem Grundwort Ich-Es zu. Das Grundwort Ich-Du stiftet die Welt der Beziehung.“
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Bubers Gegenüberstellung der Grundworte Ich-Du und Ich-Es
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Theunissen merkt an, dass das Auszeichnende der Theologie Bubers darin liege, „dass sie nicht Gott als Du, sondern das Du als Gott setzt.“ Darin unterscheide sie sich von allen Ansätzen christlicher Theologie, die an die Dialogik Bubers anknüpfen: Sie geht nicht von einer jenseits des ,innerweltlichen‘ Du-Erlebnisses geschehenen Offenbarung aus, um diesen Gott dann durch den Titel ,ewiges Du‘ der menschlichen Vorstellung näher zu bringen. Vielmehr ist ihr phänomenales Material allein das Erlebnis des Du, das als Erlebnis des reinen Du die Begegnung mit Gott ist.92
Theunissen mag hinsichtlich der Theologen Heim, Gogarten und Brunner, die er im Blick hat, Recht haben. An oben ausgeführte Überlegungen zur Analogie der Entsprechung und zur Unterscheidung von Gotteswort und Menschenwort in Vollmacht und Vermögen anknüpfend, kann aber gesagt werden, dass es keineswegs zwingend ein Merkmal christlicher Theologie ist, mit dem Titel „ewiges Du“ Gott uneigentlich zu bezeichnen, um ihn der menschlichen Vorstellung näher zu bringen. Die Vorstellung eines ewigen Du, das Quelle und Grund des zwischenmenschlichen Du ist, und das zwischenmenschliche Du in seinem Vermögen weit übersteigt, weil es nicht zum Es werden kann, kann vielmehr als Auslegung des Grundsatzes gelten, dass sich das Wirken Gottes und das Wirken des Menschen im Wort nicht seiner Seins-Struktur, aber seinem Vermögen nach unterscheiden. So bestimmt denn auch Ebeling das Sein Gottes als Zusammensein, das als Gegenübersein Gottes den Charakter des Personseins hat. Hinsichtlich der Verwendung des Person-Begriffs in der Gotteslehre stellt er fest: Eine ontologisch befriedigende Weise, vom Personsein Gottes zu reden, läßt sich nur im Zusammenhang mit der Anthropologie erreichen. Nicht etwa so, dass ein untheologischer Begriff des menschlichen Personseins auf Gott zu übertragen wäre. Vielmehr so, dass im Sinne relationaler Ontologie der Begriff des Personseins das Menschsein als Zusammensein mit Gott bestimmt und verständlich werden läßt, warum das Zusammensein Gottes mit dem Menschen als Gegenübersein angesprochen und dieses ebenfalls als Personsein präzisiert werden kann. Und zwar nicht in einem bloß übertragene, uneigentlichen Sinne, sondern in strikter Bedeutung.93
Die Motivation des Fortgangs zum ewigen Du Das ewige Du Gottes hat seinen Erfahrungsanhalt an dem innerweltlich begegnenden Du, das phänomenal ausweisbar ist. Was aber motiviert und berechtigt dazu, von diesem begegnenden Du zum ewigen Du weiter zu gehen und dieses als existierend zu behaupten? Nach Buber tut dies die Du-Welt durch „die Huld ihrer Ankünfte und die Wehmut ihrer Abschiede.“94 Huld 92 Theunissen, Der Andere, 340. 93 Ebeling, Dogmatik I, 229. Hervorhebung von mir, ML. 94 Buber, Prinzip, 37, bei Theunissen, Der Andere, 342.
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Rückgewinnung von Sprache und Erfahrung
bezeichnet hier den von Buber auch mit Gnade bezeichneten Umstand, dass die Begegnung für das Ich und das Du unverfügbar ist. Die Huld der Ankünfte des Du weist über das einzelne begegnende Du hinaus, das für sich allein nur die Wirklichkeit des Vorkommenden hat. Ebenso weist es über mich, dem das Du begegnet, hinaus, weil die Wirklichkeit des Zwischen nicht von mir gewirkt ist, sondern mich allererst zur „wirkenden Wirklichkeit“ macht. So führt die Huld der Ankünfte des Du über das einzelne Du und das Ich hinaus. Zum ewigen Du hin führt es aber durch die Wehmut seiner Abschiede, wenn das Du zum Es zurück sinkt. Diese Wehmut ist ein Leiden am Widerspruch: „Der Widerspruch ist, das unbeständig sein soll, was in der Huld seiner Ankunft doch die Wirklichkeit schlechthin offenbart hat.“95 Buber verbindet somit genau wie Marcel die erfahrbare Notwendigkeit von Gott zu sprechen mit dem Tod des Menschen, den ich liebe:96 Sage ich Du zu meinem Nächsten, so meine ich nicht etwas, was sich bloß meinem Anspruch verdankt und darum mit ihm vergeht. Ich meine nicht einmal bloß den Anderen in der Erstreckung seiner Lebenszeit; denn weil ich nicht den vorkommenden Anderen im Sinn habe, denke ich auch nicht an den verkommenden, der er als der Vorkommende und einst Hervorgekommene ist. Ich meine vielmehr ein unvergängliches Wesen, das ich wohl dem Anderen, sofern ich Du zu ihm sage, zuspreche, das aber nicht der Andere ist. […] Wehmut kann ich nur fühlen, weil ich im einzelnen Du das währende meinte. Sofern ich aber in ihm das währende meinte, führt es mich durch die Wehmut seiner Abschiede zum ewigen Du hin.97
Das einzelne Du führt zum ewigen Du hin, während sich umgekehrt in den „Augenblicken gesammelter Erfülltheit“ der Glanz offenbart, „mit dem das ewige Du die Welt erhellt.“98 Für den die Begegnung Erlebenden sind es also die Erfahrungen der erst mein Wesen hervorrufenden Wirklichkeit in Kombination mit der Unbeständigkeit dieser Erfahrungen, welche die Existenz des ewigen Du zwar nicht beweisen, aber verständlich machen. Für Buber begegnet das Du als Gott „wo die Erfahrung der dialogischen Faktizität, der auf Grunde der ,Immanenz‘ auftretenden ,Transzendenz‘ ihre äußerste Tiefe erreicht.“99 In solchen Ereignissen offenbart die Du-Welt Gott und verbirgt ihn zugleich. „Sie offenbart Gott, weil sie mich im einzelnen Du das Du selbst schauen lässt. Sie verbirgt ihn, weil statt des Du selbst immer nur einzelnes Du vor mein Angesicht tritt.“100 Diese Einheit von Offenheit und Verborgenheit nennt Buber Geheimnis. In den geheimnisvollen Bezug kann man nur tiefer eindringen, ihn aber niemals in gegenständliches Wissen überführen. Das Geheimnis eignet nicht nur Gott, wir Menschen haben Teil 95 96 97 98 99 100
Theunissen, Der Andere, 343. Vgl. Marcel, Gegenwart, 287. Theunissen, Der Andere, 343. Hervorhebung im Original. Ebd., 344 f. Ebd., 346. Ebd.
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Bubers Gegenüberstellung der Grundworte Ich-Du und Ich-Es
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am Geheimnis, weil auch im einzelnen Du die Dualität von außen und innen, die für die Welt kennzeichnend ist, durchbrochen ist. 4.2.6.2 Das Verhältnis zur christlichen Theologie (1)Vereinbarkeit mit dem Schöpfungsglauben. Die Ausführungen zu Bubers ,Theologie des Zwischen‘ zeigen, dass seine Dialogik als ausgeführte Konzeption einer relationalen Ontologie, zu der sich Ebeling vom Schöpfungsglauben her gedrängt sah, gelten kann. Die relationale Ontologie statt der Substanzontologie ist nach Ebeling notwendig, um eine dauerhafte und aktuale Abhängigkeit des Menschen als Geschöpf von Gott als dem Schöpfer aussagen zu können. Entscheidend dabei ist der Bezug durch das Wort, so dass es nicht zur ausschließenden Konkurrenz zwischen Gott und dem Menschen als Subjekten des Handelns kommt, sondern der Mensch umgekehrt durch Gottes Wort in seine Freiheit eingesetzt wird. Beide Punkte werden durch die Dialogik Bubers bestätigt und ausgelegt. Du und Ich gehen allererst aus dem Zwischen hervor, das in Gott seinen Grund hat. Sie bleiben in der Einsetzung ihres eigentlichen Wesens von der Gnade des Du und damit von Gott abhängig. Indem der Mensch am Du partizipiert, hat er Anteil am eigentlichen Sein und an Gott. Partizipierend am Du ist er Geschöpf und zugleich als Mitarbeiter Gottes schöpferisch. Der Bezug zum Du ist genau jener, in dem die Aktivität zweier Subjekte einander nicht begrenzen und ausschließen, sondern höchste Passivität und Aktivität in eins fallen. Gott als der Grund und die Wirklichkeit des Zwischen setzt im Du den Menschen allererst in seine Freiheit ein. Diese ist nicht Freiheit der Wahl vor uns liegender Optionen, sondern Vollzug der Freiheit im Ergreifen der Anrede. Es ist letztlich die Freiheit, nicht in die Gegenständlichkeit herabzusinken, sondern an der Fülle des Seins Anteil zu haben. Gleichzeitig steht es dem Menschen frei, sich der Anrede zu verweigern. So besteht im Verhältnis zu Gott zugleich unbedingte Abhängigkeit und Gegenseitigkeit. Der Mensch ist in seinem Sein als in der Welt Vorkommender überhaupt und in seiner Verwirklichung der Möglichkeiten und Bestimmung seines Menschseins von Gott abhängig. Gegenseitigkeit besteht, weil Anrede auf Antwort zielt. Dem entspricht in der Glaubenssprache, dass der Gnade Gottes auf Seiten des Menschen als sein Tun der Glaube korrespondiert. Dieser gleichzeitige Bezug von Gegenseitigkeit und Abhängigkeit ist auch in den zusammengehörigen Formeln sola gratia, solo verbo, sola fide ausgesprochen. (2) Das Evangelium als unterscheidendes Merkmal. Die Ausführung darüber, was es um die relationale Ontologie und das menschliche Sein in seiner Verfasstheit ist, gehört theologisch gesehen zur Bestimmung des Gesetzes. Von daher ist es m. E. nicht überraschend oder gar ausgeschlossen, dass diesbezüglich zwischen christlicher und jüdischer Theologie Übereinstimmung bestehen kann. Das unterscheidende Merkmal der christlichen Theo-
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Rückgewinnung von Sprache und Erfahrung
logie gegenüber der Theologie Bubers liegt nicht in der Bestimmung dessen, was das menschliche Sein dem Gesetz Gottes nach ist und sein soll, sondern in dem Evangelium, dass die Bestimmung des menschlichen Seins in Jesus Christus Wirklichkeit geworden ist, an der wir im Glauben partizipieren. Durch diese Partizipationsmöglichkeit, die sich im Übrigen auch nur über das zwischenmenschliche Du erschließt, ist uns die Anteilnahme am von Gott gewollten Sein als Menschen ermöglicht. Das Plus an Gnade gegenüber der im Du begegnenden Gnade, liegt darin, dass Gott für uns auch die menschliche Seite der Gegenseitigkeit übernommen hat, weil wir aus eigener Kraft dazu nicht in der Lage waren und sind. Dass diese Seite in Jesus Christus ganz erfüllt ist, zeigt sich darin, dass sie der Macht des Todes standhält und sie überwindet. Der Tod wird in das Sein mit Gott mit hinein genommen und verliert so seine Macht als radikale Verneinung menschlichen Seins, die uns aus der Beziehung hinaus auf uns selbst zurück und dann ins Nichts wirft. Dass dieses Nein in Jesus Christus in ein Ja umgewandelt ist, und dass wir im Glauben Anteil bekommen an seinem Leben, ist das Evangelium. Von daher kommt es auch zu neuer Erkenntnis Gottes. Sie besagt, dass die Ermöglichung der Bestimmung des Lebens und die Überwindung des Todes von Gott ausgehen, und das ewige Du in seiner Liebe zu den Menschen in die Welt eingeht, um diese zu verwirklichen. Das Eingehen Gottes in die Welt, seine Menschwerdung, ist keine Identifikation mit einem Seienden in der Welt, in dem Sinne, das Gott zu diesem Seienden wird. Damit würde Gott gerade nicht als Gott begegnen. Gott ist Gott in seinem Zusammensein mit dem Menschen, was nicht zuletzt der trinitarische Gottesbegriff zum Ausdruck bringt. Als dieser ist er in Jesus Christus gegenwärtig. Von daher begegnen in Jesus Christus der wahre Mensch und der wahre Gott zugleich. Es ist das Skandalon des Johannesevangeliums, das es radikal von der Gnosis unterscheidet, deren Sprache es teilweise benutzt, dass Gott als das absolut Seiende sich an einen konkret seienden, einzelnen Menschen gebunden haben soll. Dieser ist nicht Gott im Sinne eines weltlich Seienden, in ihm begegnet Gott und er ist Gott, weil die Seinsweise Gottes die des Zusammenseins mit den Menschen ist. Dies kommt in der von Jesus gebrauchten Anrede Gottes als Vater treffend zum Ausdruck. Beachtenswert ist, dass Buber auch in dieser Hinsicht mit seiner Konzeption, dass Gott am Ort der Welt begegnet, mit der Begegnungsstruktur Gottes in der Christologie übereinstimmt. Das Unterscheidende ist, dass Gott in der besonderen Weise, die zur Überwindung des Todes und der Ermöglichung des Lebens im Glauben führt, ausschließlich in Jesus Christus begegnet. Das vere deus, vere homo ist die Bestätigung Bubers. Der Unterschied zu Buber ist, dass dies exklusiv und zugleich inklusiv101 in Jesus Christus Wirklichkeit geworden ist. 101 Die Exklusivität zielt auf die Inklusion, die Heineinnahme aller Menschen im Glauben. Stellvertretung bedeutet daher, dass Jesus etwas stellvertretend für uns tut, nicht damit wir davon dispensiert sind, sondern weil wir es allein nicht können und damit wir es können.
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Gabriel Marcel: Reflexion, um für den Glauben Raum zu schaffen
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4.3 Gabriel Marcel: Reflexion, um für den Glauben Raum zu schaffen 4.3.1 Über Buber hinaus: Reflexion und Selbstverhältnis Gabriel Marcel stimmt mit Martin Buber in vielen wesentlichen Punkten überein.102 Um nur das Zentrale zu nennen: wo Buber vom Zwischen spricht, steht bei Marcel der „intersubjektive Nexus“,103 der in gleicher Weise ungegenständlich zu denken ist; aus ihm kommt den Menschen Teilhabe am Sein zu; in der Intersubjektivität begegnet uns Gott als „absolutes Du“ und „Gegenwärtigkeit“.104 Im Blick auf den Fortgang meiner Untersuchung zur Homiletik möchte ich mich auf zwei unterscheidende Merkmale gegenüber Buber bei Marcel konzentrieren, die besonders auch für die Methodik der Predigtarbeit bereichernd sind. Dies ist erstens die zentrale positive Rolle, welche die Reflexion bei Marcel einnimmt. Faktisch achtet auch Buber die Rolle der Reflexion nicht gering, ist doch seine Philosophie eine auf das Ereignis der Begegnung bezogene reflexive Bemühung, um dem gefährdeten Bereich der Unmittelbarkeit Geltung zu verschaffen. Darin zeigt sich bereits, dass die Unmittelbarkeit der Begegnung mindestens heute, wenn nicht überhaupt,105 auf Reflexion angewiesen ist. Dennoch erscheint die Reflexion innerhalb der Philosophie Bubers auch als Feind der Unmittelbarkeit, denn „die ,Rückbewegung‘ die Reflexion auf sich ist als die ,monologische Grundbewegung‘ der Tod jeder Zwiesprache, die nur in der gegenwärtigen Zuwendung lebt.“106 Die Reflexion in der positiven Rolle, die ihr Marcel gibt, kann aber m. E. ein wichtiges methodisches Hilfsmittel der Homiletik sein, zumal es um ein stets auf Erfahrung bezogenes Verständnis von Reflexion geht. Die Klärung und Ordnung der Erfahrung in die Bereiche, die auf Gott verweisen und jene, die vor Gott verschließen, ist zentrales Anliegen einer am Erfahrungsbezug der Predigt interessierten Homiletik. Zweitens bringt Marcel gegenüber Buber eine Ergänzung, insofern bei ihm das Selbstverhältnis eine ebenso zentrale Rolle wie die Intersubjektivität spielt. Da er zeigt, wie die Art 102 Theunissen merkt in seinem Paragraphen über Marcel an, dass Marcel „vor allen Einwänden ausdrücklich feststellt, Buber sei in der Durchleuchtung des dialogischen Phänomens ,viel weiter gegangen‘ als er selber“. Theunissen, Der Andere, 351. 103 Marcel, Geheimnis, 306. 104 Ebd., 441. 105 Heute, um gegen die positivistischen Tendenzen der Wissenschaften und des öffentlichen Bewusstseins das Spezifische der Begegnung zur Geltung zu bringen. Darin liegt aber beschlossen, dass unterscheidendes reflexives Vermögen immer notwendig ist, um das Ereignis der Begegnung identifizieren und damit bewusst erleben zu können. In diesem Sinne ist die Unmittelbarkeit zwar nicht für ihr Zustandekommen, aber im Gesamtzusammenhang des Lebens für ihr bewusstes Erleben auf Reflexion angewiesen. 106 Theunissen, Der Andere, 305.
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Rückgewinnung von Sprache und Erfahrung
des Selbstverhältnisses der Art der Beziehung zum Anderen entspricht, lässt sich von dort aus ein die Lebenswirklichkeit des Menschen umfassendes Ineinander der drei Relationen Selbstverhältnis, Intersubjektivität und Gottesverhältnis erschließen, das in der Predigtarbeit als hermeneutischer und heuristischer Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Predigttext und der begegnenden Wirklichkeit verwendet werden kann.
4.3.2 Reflexion als integraler Bestandteil der Erfahrung 4.3.2.1 Implikationen für das Gottesverhältnis Die Reflexion, um die es Marcel geht, abstrahiert nicht von der Situation und der mich angehenden Erfahrung, sondern versucht gerade den Zusammenhang von Reflexion und Erleben herauszustellen und zu beschreiben. Das bedeutet auch, dass sich seine Bemühung, mit Hilfe der Reflexion für den Glauben Raum zu schaffen, in ihrer Ausführung von der Kants unterscheidet, die man vielleicht zunächst mit diesem Ansinnen assoziieren könnte. Kant schrieb in der Vorrede der zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft: „Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“107 Wissen und Erkenntnis müssen sich in dieser Sichtweise entweder auf Erfahrung oder Vernunft gründen. Der zugrunde gelegte Erfahrungsbegriff ist dabei der auf die sinnliche Wahrnehmung beschränkte des Empirismus. So heißt es in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft: Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verständigkeit in Bewegung bringen, […] und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt?108
Eine Erfahrung Gottes kann es bei diesem zugrunde gelegten Erfahrungsbegriff selbstverständlich nicht geben. Mit seiner Widerlegung der Gottesbeweise legt Kant dann dar, dass auch die Vernunft, der zweite mögliche Grund gewisser Erkenntnis, nicht zur Erkenntnis Gottes geeignet ist.109 So hat Kant das Wissen bezüglich Gott aufgehoben. Der Platz, den er damit für den Glauben geschaffen hat, ist der der moralischen Sphäre. Gott wird darin zu einer Idee mit dem Status eines regulativen Prinzips. Dieses kann zwar nicht 107 Kant, Kritik, 33 (BXXX). 108 Kant, Kritik, I.I.47, zitiert nach Leidhold, Gegenwart, 71. 109 Die Beweise sind für Kant „gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig […] Denn alle synthetischen Grundsätze der Vernunft sind von immanentem Gebrauch; zu der Erkenntnis eines höchsten Wesens aber wird ein transzendenter Gebrauch derselben erfordert, wozu unser Verstand gar nicht ausgerüstet ist.“ Leidhold, Gegenwart, 71 f.
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bewiesen werden, ist aber als regel-gebendes Prinzip von der praktischen Vernunft anzuerkennen, „um die Weltordnung als vernünftig-zweckmäßig denken zu können.“110 Demgegenüber ist die philosophische Bemühung Marcels darauf gerichtet, einem in der Erfahrung fundierten Glauben Raum zu schaffen. Dies ist angesichts der Wirkungsgeschichte Kants und des empiristisch verengten Erfahrungsbegriffs in ihren Auswirkungen nicht zuletzt auch auf die Theologie von entscheidender Bedeutung.111 4.3.2.2 Das Verständnis von Philosophie Die Philosophie hat es nach Marcels Verständnis nicht mit abstrakten, überzeitlichen Dingen zu tun, sondern ist an die Situation ihrer Zeit und die in ihr begegnende Problematik gewiesen.112 Nicht nur dies, der Philosoph und der denkende Mensch selbst sind wesentlich dadurch bestimmt, dass sie in einer Situation stehen, in die sie selbst einbeschlossen sind: „wie auch immer dieses ,Ich‘, dieses ,Selbst‘ verstanden werden mag, die Situation rührt an dieses nicht allein von außen, sondern bestimmt es auch inwendig.“113 Zu dem Umstand, dass meine Situation mich innerlich angeht, gehört auch, dass ich in ihr mehr oder weniger zufrieden und mit mir einig, oder unzufrieden und mit mir uneinig bin. Auch dies betrifft unmittelbar das philosophische Bemühen: Einstweilen möchte ich nur festhalten, dass eine Untersuchung wie diese als das Gesamt der Verfahrensweisen anzusehen ist, vermittels welcher ich von einer als unstimmig erlebten Situation, von der ich sogar sagen möchte, ich befände mich im Zerwürfnis mit mir selbst, hinüberzuwechseln vermag in eine andere Situation, darin eine bestimmte Erwartung erfüllt ist.114
Mein Sein, das ein Sein in der Situation ist, und mein Denken und Philosophieren stehen in so engem Verhältnis, dass es sinnlos wäre, die Ergebnisse der philosophischen Bemühung wie fertige Produkte ohne den vollzogenen DenkWeg übernehmen zu wollen. Es gilt, „dass sich um die Untersuchung selbst und ihren Zielpunkt ein Band schlingt, das nicht zerrissen werden könnte, 110 Ebd., 72. 111 Ich werde unten versuchen, meinen Ansatz in die homiletische und praktisch-theologische Diskussion der letzten Jahre über den Begriff der Erfahrung einzuordnen, wodurch sich auch eine Verhältnisbestimmung zu den primär an Schleiermacher orientierten Ansätzen ergibt, dessen Theologie eine Antwort auf die durch Kant und den Empirismus virulente Erfahrungsproblematik der Theologie ist. 112 Vgl. Marcel, Geheimnis, 57: „Meiner Meinung nach knüpft eine dieses Namens würdige Philosophie gerade an die gegeben Sachlage an, um das in ihr Beschlossene in den Griff zu bekommen, und muss so die fast unabsehbare Vielfalt von Umständen ausspähen, zu denen die von ihrer Sonde freigelegten Faktoren zusammentreten.“ 113 Ebd., 20 f. 114 Ebd., 21.
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ohne eben dem Zielpunkt jegliche Realität zu nehmen.“115 In diesem Sinne sollen die Ausführungen zu Marcel keine Ergebnisse präsentieren, sondern exemplarisch in eine Denkbewegung einführen, die mit der konkreten Situation des Menschen und ihrer Veränderung zu tun hat. Eine Predigt ist zwar nicht einseitig als Reflexion zu bestimmen, dennoch hat sie auch reflexiven Charakter, und die konkrete Situation von Menschen und ihre Veränderung ist für sie zentral. Die Philosophie Marcels bietet damit einen ausgleichenden Akzent gegenüber der Betonung der Unmittelbarkeit bei Buber. Sinn dieser Betonung soll und kann nicht das Aufgehen in bestimmten Lebensphänomenen sein. Die Krise, die Buber dazu führt, für den Erhalt und die Erneuerung der Unmittelbarkeit einzutreten, ist auch die Krise, die Marcel zum Philosophieren treibt. Für ihn zeigt sich diese in dem Schwinden echten gemeinschaftlichen Lebens, in dem einer am Leben des anderen Teil hat, was er in dem Bild der „zerbrochenen Welt“ zum Ausdruck bringt. Eine Welt, in der jeder mehr und mehr isoliert für sich lebt, und an die Stelle innerlicher äußerliche Bezüge treten. Integraler Bestandteil dieser Krise ist für ihn aber eine mit „Begehrlichkeit und Angst“ gepaarte „Denkverweigerung“,116 die sich vor allem auch in einem Mangel konkreten Vorstellens zeigt. Zu den Anstrengungen und Schwierigkeiten des Denkens zählen für Marcel an zentraler Stelle die oft irreführenden Bilder, die von einem bestimmten Wortgebrauch herbeigeführt werden. Diese führen dazu, dass sich sehr häufig so etwas wie Knoten bilden – oder besser Gerinnsel im physiologischen Wortsinn –, die den freien Fluss des Denkens hindern, ist doch dieses vor allem ein Kreislauf. Solche Gerinnsel kommen daher, dass sich das Wort gewissermaßen mit Leidenschaft sättigt und damit den Wert eines Tabu erreicht.117
Es sind die mit dem sich absolut setzenden wissenschaftlichen, gegenständlichen Denken verbundenen Vorstellungskategorien und Bilder, welche das Mit-Sein des Menschen und damit im Rahmen einer relationalen Ontologie das Sein des Menschen überhaupt einschränken. Daher gilt für Marcel, daß nichts mehr not tut als denken, daß aber andererseits das Denken kein Verfahren ist wie die anderen. In Wahrheit ist es überhaupt kein Verfahren, da doch erst das Denken erlaubt, ein Verfahren – welches auch immer – auszuarbeiten. Wir haben uns mithin über die Natur des Denkens selbst Klarheit zu verschaffen. Genauer gesprochen wird das Denken sich selber durchsichtig werden müssen. Es könnte freilich sein, dass dieser Vorgang der Selbsterhellung nicht zu weit getrieben werden darf. Denn es ist, wie wir sehen werden, möglich, daß das Denken im Prüfen des eigenen
115 Ebd., 17. 116 Ebd., 57. 117 Ebd., 27 f.
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Wesens zur Erkenntnis gelangt, es gründe unausweichlich in etwas, das es nicht ist, daraus es seine Kraft schöpft.118
Damit ist bereits angedeutet, dass es bei dem Denken, das mir von einer Situation in die andere hilft, nicht um die Gnade verleugnende Selbsterlösung geht. Die Natur dieses Denkens in seiner Verbindung mit der Situation und dem Erleben des Menschen soll nun genauer betrachtet werden.
4.3.2.3 Der Zusammenhang von Reflexion und Erleben Die auf die konkrete Situation und die Erfahrungen des Menschen bezogene Reflexion erwächst aus Hindernissen im gelebten Leben und dient dem Umgang mit diesen Hindernissen. Sie ist „wie durch ein Gelenk mit dem Erlebnis verbunden, und nichts wäre von größerer Wichtigkeit als die Natur dieses Gelenks zu fassen.“119 Marcel beginnt nun die Untersuchung mit einem trivialen Alltagsbeispiel: ich habe meine Uhr verloren, die mir persönlich wertvoll ist. Die Überlegung setzt ein, wann und wo ich die Uhr verloren haben könnte, bis ich sie schließlich finde, und das Problem damit gelöst ist. Marcel macht an Hand dieses einfachen Beispiels auf mehrere Punkte aufmerksam. Die Reflexion ist keine getrennte Fähigkeit der Psyche neben anderen wie Wille oder Emotion, sie ist „nichts sonst als eben die Aufmerksamkeit“,120 die sich um das Bemerken des Verlustes entfaltet. Die sich entfaltende Reflexion hat „hier keinerlei Platz für rein abstraktes Denken“,121 ich muss mich vielmehr konkret zurück zu erinnern versuchen. Schließlich ist die sich entfaltende Aufmerksamkeit und Reflexion umso intensiver, „als ich an meiner Uhr hänge“. Die Gedanken sind nicht allein Gedanken, „sondern Unruhe“.122 Damit zeigt sich: „Die Reflexion wird nur für etwas in Gang gebracht, das die Mühe lohnt. Andererseits ist freilich auch zu beachten, dass es sich da um ein persönliches Tun handelt, das mir niemand sonst abnehmen kann.“123 Das Beispiel mit der Uhr betrifft den Besitz eines äußeren Gegenstandes und findet im Wiederfinden der Uhr seine Lösung. Reflexion im eigentlich philosophischen Sinn hat es demgegenüber mit meinem Sein zu tun. Nicht mein Besitz, sondern mein Sein steht in Frage. Auch hierfür nennt Marcel ein Beispiel: Ich bin enttäuscht durch das Benehmen eines Menschen, den ich gern hatte. Zunächst habe ich mein Urteil über diesen Freund zu berichtigen. Ich werde mir wohl sagen müssen, er sei gar nicht der Mensch, den ich in ihm sah. Nun kann es aber sein, dass 118 119 120 121 122 123
Ebd., 58 f. Ebd., 114. Ebd., 113. Ebd. Ebd. Ebd., 114.
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meine Besinnung hier nicht haltmacht. Eine Erinnerung steigt herauf – die Erinnerung an eine Handlung, die ich dereinst selbst beging, und plötzlich frage ich mich: war diese Handlung wirklich so verschieden von jener, die ich heute mit solcher Strenge zu beurteilen geneigt bin? Was berechtigt mich also dazu, über den anderen den Stab zu brechen? Womit mein Denken gar mich selbst in Frage stellt.124
Die Erinnerung hat zu einer Gegenüberstellung von mir selbst und dem beurteilten Freund geführt. Dabei ist jedoch dieses „Selbst“ als einheitliche, feststehende Größe fraglich geworden. Ich wurde dazu geführt, mich selbst zu fragen, was ich wert bin und ob ich befugt und berechtigt bin, über den Anderen ein Urteil zu sprechen. Obwohl diese Einsicht schmerzlich sein kann und mit einer Einschränkung verbunden ist, ist sie vielleicht dennoch mit einem Gefühl der Befreiung verbunden, so „als hätte ich eine Schranke niedergelegt“.125 Dies ist in doppelter Hinsicht der Fall: einerseits stehe ich in umfassenderer Verbindung mit mir selber, brachte ich doch das Ich, das ehedem diese Handlung beging, mit dem selbstgefälligen Ich in Beziehung, das sich bedenkenlos zum Richter aufgeworfen. Andererseits freilich – und das kann kein bloßer Zufall sein – fühle ich mich fähig, mit meinem Freund in weit innigeren Bezug zu treten, nun da zwischen uns die Schranken fielen, die das Gericht vom Angeklagten trennt.126
Das Beispiel zeigt, wie Reflexion meine Situation grundlegend verändern kann, und dass Reflexion in diesem Sinne mit Wertbewusstsein und Selbsterkenntnis zu tun hat. 4.3.2.4 Reflexion und Sinnmitte Das Denken hat mit meinem Leben zu tun, mit dem, was meinem Leben Sinn und Wert gibt. Von daher widerspricht Marcel einer Entgegensetzung von kalt kritischem Denken und spontanem Leben. An dieser Stelle berühren Marcels Überlegungen unmittelbar das oben angesprochene Problem des Biologismus und die Frage, was menschliches Leben als Leben ausmacht. Der Begriff der Spontaneität ist ihm philosophisch nicht geklärt und „siedelt im zwielichtigen Grenzbereich, wo Psychologie und Biologie ineinanderfließen.“127 Der biologisch fest umrissene Lebensbegriff, der für Tiere Gültigkeit hat, verliert im Bezug auf den Menschen seinen Sinn.128 Die Gesamtheit der biologischen Funktion ist zwar Voraussetzung für das Leben des Menschen, es geht aber darin nicht auf. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass jedes menschliche 124 125 126 127 128
Ebd., 115. Ebd., 116. Ebd. Ebd., 117. Marcel bezieht sich diesbezüglich auf Julian Marias „Einführung in die Philosophie“. Ebd., 117 f.
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Leben auf eine Mitte hingeordnet ist, die seinem Leben nicht nur Sinn, sondern auch Energie gibt. „So kann etwa ein Gefangener, der doch weiterhin Nahrung zu sich nimmt, atmet und so fort, ohne Übertreibung sagen, dies sei für ihn kein Leben mehr. Oder eine Mutter, sie lebe nicht mehr wirklich, seit ihr Sohn bei den Fliegern ist.“129 Die Mitte, auf die das Leben hingeordnet ist, kann ganz unterschiedlich sein: ein geliebter Mensch oder auch eine Lieblingsbeschäftigung, Jagen und Spielen genauso wie Forschen und Schaffen. Es geht dabei um die Antwort auf die Frage Wovon lebst Du? „Hier geht es nicht bloß um einen Endzweck eines Lebens, viel eher um den geistigen Brennstoff, der das Dasein fristen hilft.“130 Weil das menschliche Leben in dieser Weise auf eine Mitte hingeordnet ist, kann sein Wesen nicht in reiner Spontaneität gefasst werden, „und damit kann auch das Denken nicht mehr als lebensfeindlich betrachtet werden.“131 Damit kommt noch einmal das Verhältnis und Ineinander von Reflexion und Erfahrung in den Blick. Stellt man sich die Erfahrung im Sinne des Empirismus als „Aufzeichnung von Eindrücken vor, dann bleibt unverständlich, wie sich die Reflexion ihr beizufügen vermöchte.“132 Im Gegenteil gilt: je mehr wir die Erfahrung in ihrem Beziehungsreichtum erfassen, in ihrem Ausgriff, ich möchte fast sagen in ihrer Dialektik, um so verständlicher wird auch, dass sie nicht anders kann, sie muss sich in Reflexion wandeln – und wir werden sagen dürfen: sie ist um so eigentlicher Reflexion, je voller sie Erfahrung ist.133
Der Beziehungsreichtum und Ausgriff hat sich gezeigt in den Beispielen, in denen der Gang des Lebens aufgestört und unterbrochen wird, sei es durch eine verlorene Uhr oder die Enttäuschung über einen Freund. In der Rückwendung auf sich selbst im zweiten Beispiel wird ihre Dialektik erkennbar : je umfassender und voller wir uns selbst in der Erfahrung erfassen, verbunden mit dem Moment schmerzlicher, aber auch befreiender Selbsterkenntnis, desto eigentlicher ist sie Reflexion.
129 Ebd., 118. 130 Ebd., Vgl. die Nähe zu Luthers Bestimmung, was einen Gott haben heißt, die er in der Auslegung des 1. Gebots im Großen Katechismus vornimmt: „Ein Gott heißt das, dazu man sich versehen soll alles alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten, also dass einen Gott haben nichts anderes ist, denn ihm von Herzen trauen und glauben. […] Worauf du nun (sage ich) dein Herz hängst und verläßt, das ist eigentlich Gott.“ Luther, Katechismus, 15. 131 Marcel, Geheimnis, 119. 132 Ebd. 133 Ebd., 119 f.
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4.3.3 Erste und zweite Reflexion Neben der Reflexion, die sich auf mein Sein in der Situation bezieht, gibt es die im Wissenschaftsbetrieb geübte, von der Situation abstrahierende Reflexion. Beide haben ihr Recht und ihre Aufgabe. Marcel unterscheidet sie und ordnet sie einander zu als erste und zweite Reflexion: „Während die primäre Reflexion die ihr zunächst dargebotene Einheit aufzulösen strebt, ist die sekundäre Reflexion im wesentlichen wiedererlangend, ist sie Rückeroberung.“134 Von Buber herkommend können wir dies, wie ich meine in Übereinstimmung mit Marcel, so verstehen, dass die primäre Reflexion die gegebene Einheit auflöst, indem sie nach den äußerlichen, gegenständlichen Bezügen der Ich-Es Relation fragt und die kausalen Verhältnisse zwischen den Bestandteilen ermittelt. Die sekundäre Reflexion bringt demgegenüber zur Geltung, wie Verhältnisse nicht äußerlich, sondern durch ein nicht-kausatives Band ,innerlich‘ mit mir verknüpft sind, etwa indem sie, wie gesehen, die Wert- oder Sinnfrage betreffen. Im Unterschied zu Buber geht Marcel dabei nicht primär vom Faktum der Begegnung aus, sondern von den Veränderungen im Selbstverhältnis durch das Akut-Werden der inneren Bezüge in einer bestimmten Situation, die zu einer ,Aufspaltung‘ führen, in der ich mir selbst gegenüber Stellung beziehe. Letztlich erweisen sich die beiden genannten Unterschiede zu Buber hierin als zusammengehörig: die Reflexion spielt insofern eine Rolle, als die ,inneren‘ Bezüge, die bei Buber die Ich-Du Relation kennzeichnen, auch für das Selbstverhältnis bestimmend sind. Damit ist bereits deutlich geworden, dass „Auflösung“ und „Rückeroberung“, erste und zweite Reflexion nicht im Sinne der dialektischen Schritte von Analyse und Synthese zu verstehen sind, insofern die Synthese die in der Analyse gewonnenen Teile wieder zueinander in Beziehung setzt. Es geht nicht um eine Neuanordnung des äußerlichen Beziehungsgeflechts, sondern um zwei unterschiedliche Ordnungen der Relation, ähnlich den von Buber als IchDu und Ich-Es Relation beschriebenen, denen unterschiedliche Weisen der Reflexion zugeordnet sind.
4.3.3.1 Der existentielle Bezugspunkt Die Erweiterung Marcels gegenüber Buber lässt sich auch so beschreiben, dass nach Marcel das Selbstverhältnis die gleiche intersubjektive Struktur wie das Verhältnis zum Anderen hat. Bei der Beschäftigung mit dem Selbst zeigt sich dessen „doppelbödige“ Natur. Es wird die gleiche Dialektik des Ich sichtbar, wie sie Buber bezüglich des Du-Ich und des Es-Ich entfaltet hat. Buber spricht in diesem Zusammenhang von der Leere der Vorhandenheit des Subjekts, dem 134 Ebd., 120.
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in der Ich-Es Relation keine Substanz zuwächst. Dem steht die nach den Maßstäben der Vorhandenheit als Nichts zu bezeichnende Fülle der Subjektivität gegenüber. In gleicher Weise unterscheidet Marcel im Bezug auf das Selbstverhältnis einen bestimmten Jemand, welcher der Ich-Es Relation entspricht, von einem Nicht-Jemand, als der ich mich erlebe, ohne doch Existenz im Sinne der Vorhandenheit von diesem Nicht-Jemand aussagen zu können.135 Wenn man nun nach dem positiven Kern des Selbsterlebnisses fragt, in dem man sich als Nich-Jemand erlebt, der nicht der Bestimmung als dies und das unterliegt und damit auch der Ausgangspunkt der sekundären Reflexion ist, stößt man auf den Bezugspunkt der Existenz „oder vielmehr eine Bezugspunktexistenz, worunter ich – um ganz genau zu sein – eine Existenz solcher Art meine, dass bei ihrer Leugnung jedwede Existenzaussage für mich alsbald undenkbar würde.“136 Wenn ich phänomenologisch von mir als demjenigen, der Existenzurteile ausspricht, ausgehe, kann das unbezweifelbar Existentielle „nur ich sein, sofern ich Gewissheit habe, zu existieren.“137 Dieses unbezweifelbar Existentielle ist von grundlegend anderer Natur als das cogito ergo sum des Descartes. In dem Ausdruck ich existiere kann das „ich“ nicht als ein bestimmtes dies ausgesondert werden, dem dann Existenz als Prädikat zugesprochen wird: „einmal weil ,ich‘ in keinem Fall als ein ,Dies‘ betrachtet werden darf, weil ,Ich‘ geradezu die Negation des ,Dies‘ – jedes ,Dies‘ – ist, und dann weil die Existenz kein Prädikat ist, was Kant ein für allemal in seiner ,Kritik‘ begründet hat.“138 Das ich existiere als unzweifelhaft Existentielles ist eine „unzerlegbare Einheit“ und damit etwas schlechthin Unmittelbares.139 Zur Natur dieser Unmittelbarkeit merkt Marcel an, dass sie nicht als gefühlsmäßige Unmittelbarkeit zu verstehen ist, so dass an die Stelle der kartesianischen Formel ein sentio, ergo sum tritt. Durch das folgernde Wort ergo würde das ich fühle lediglich „ein ich denke in verhülltem, und unklarem Zustand“140 sein. Die Aussage ich existiere steht „außerhalb jeglicher Schlußfolgerung“.141 135 Dies läuft auf keinen Gegensatz hinaus, erweist sich doch das als Nicht-Jemand bezeichnete Selbst bei ihm als konstitutiv mit den Anderen verbunden. Die Selbstauffassung als bestimmter Jemand ist letztlich auch nichts anderes, als die Übernahme der Ich-Es Relation in das Selbstverhältnis, was bei Buber auch als Phänomen der Entfremdung begegnet, während das Selbsterlebnis als Nicht-Jemand dem Umstand entspricht, dass das Ich nach Buber dem Zwischen, durch das es als Nicht-Jemand bestimmt ist, entspringt. 136 Marcel, Geheimnis, 126 f. Marcel betont ebenda, dass diese Frage eine phänomenologische und keine ontologische ist: „ich frage hier mitnichten, ob es in der Seinsordnung ein absolut Existentes gibt, das nur Gott sein könnte, und allem, was aus ihm hervorgeht, die Existenz – also eine abgeleitete Existenz – verliehe. Ich gehe von mir aus, sofern ich Existenzurteile ausspreche, und frage mich nach dem Sinn, auf den sich diese Urteile beziehen, um den herum sie sich ordnen.“ 137 Ebd., 127. 138 Ebd., 128. 139 Ebd. 140 Ebd., 129. 141 Ebd.
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Die Natur des ich existiere ist nicht die vermittelnde des Denkens, sondern die unmittelbare des „exclamativen Selbstbewußtseins“: „es äußert sich beim kleinen Kind (und wohl schon beim Tier) in Schreien und Sprüngen und nimmt beim Erwachsenen natürlich maßvollere Züge an.“142 An diesem Punkt sieht Marcel wie Buber eine Gefährdung der Unmittelbarkeit, die er an der zunehmenden Bürokratisierung fest macht, die Menschen als dies und das behandelt. Das hat Folgen für „unseren Umgang mit uns selbst, was also bedeuten würde, dass wir uns von der Existenz immer dichter abschirmen.“143 Die gedankliche Undurchdringlichkeit des ich existiere bedeutet zudem eine gewisse „Massigkeit“ der Existenz. Die Existenz ist sich selbst nicht transparent: „nichts gleicht somit weniger dem transzendentalen Ich, das sich in gewissem Sinn schon bei Kant, stärker noch bei seinen Nachfolgern, im Herzen, in der Mitte des philosophischen Kampfplatzes ansiedelt.“144 Ein transzendentales Ich, das sich vom Sein in der Situation des empirischen Subjekts unbefleckt wähnt. 4.3.3.2 Erste und zweite Reflexion am Beispiel „mein Körper“ Die Behauptung ich existiere ist unlöslich damit verbunden, dass ich von meinem Körper spreche. Mein Körper als meiner ist im Selbstverhältnis der Kernbereich dessen, von dem ich nicht abstrahieren kann, ohne mich von der Existenz abzuschnüren. Die erste Reflexion zertrennt das Band, das zwischen mir und meinem Körper besteht und das Wort mein ausmacht. Sie macht meinen Körper zu einem Körper unter unzähligen anderen. Diese Trennung ist die Grundlage jeglicher wissenschaftlichen Erkenntnis vom Körper. „Die primäre Reflexion hat also grundsätzlich von der Tatsache abzusehen, dass dieser Körper der meine ist; sie soll daran erinnern, dass er die gleichen Eigenschaften hat wie alle anderen Körper, […]. Objektiv gesprochen ist er wesentlich nicht-bevorzugt.“145 Die sekundäre Reflexion bestreitet die Ergebnisse der primären Reflexion nicht. Sie weigert sich aber, die Trennung des Ichs vom Körper für endgültig anzusehen. Ihr „Sprungbrett“ ist dabei der oben umrissene existentielle Bezugspunkt. Die Methode der sekundären Reflexion kann dabei nicht die der primären sein, sie kann nicht die getrennten Teile nachträglich wieder in Bezug zueinander setzen. D.h. die sekundäre Reflexion kann nicht in der Logik des Dinges verharren, die sich dem Denken aufgrund der sprachlich gegebenen Unterscheidung von Subjekt und Prädikat nahe legt. In der Philosophiegeschichte ist das Problem des Verhältnisses 142 Ebd., 130. 143 Ebd., Vgl. auch ebd., 131: „Vom exclamativen Bewußtsein abgeschnürt, droht die Existenz zu ihrem eigenen Leichnam zu werden, und keine Philosophie der Welt hat die Macht, diesen Existenzleichnam zu neuem Leben zu erwecken.“ 144 Ebd., 131. 145 Ebd., 132.
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zwischen mir und meinem Körper als Frage des Leib-Seele Dualismus verhandelt worden. Geht man dabei von der Unterscheidung von Subjekt und Prädikat aus, „dann haben wir wohl Leib und Seele entweder als unterschiedliche Dinge zu betrachten, zwischen denen ein bestimmter, gedanklich faßbarer Bezug walten muß – also entweder den Leib als ein Ding, dessen bloßes Prädikat die von uns unangemessen so genannte Seele wäre – oder umgekehrt.“146 Oder es bleibt, weil dies nicht befriedigend ist, ein Dualismus in der Form des Parallelismus oder einer Theorie der Wechselwirkung. Im einen wie im anderen Fall freilich werden Leib und Seele als Dinge betrachtet und für die Zwecke der logischen Formulierung in Begriffe verwandelt, die man streng definiert wähnt und untereinander in bestimmter Weise verbunden meint. Ich möchte dartun, dass dieses Postulat zurückzuweisen ist, wenn man die Sachverhalte bedenkt, die einbeschlossen sind in dem, was ich meinen Körper nenne, was ich nicht umhin kann, meinen Körper zu nennen.147
Nicht von ungefähr befinden wir uns damit zugleich in Auseinandersetzung mit dem oben genannten Biologismus. Ist es doch die dualistisch gedachte Wechselwirkung oder ein Geist-Körper-Parallelismus, der die Neurobiologie dazu veranlasst, die Seele und ihre Äußerungen wie Freiheit und Liebe als bloße Illusionen zu betrachten. Die gegen diese Auffassung argumentierende sekundäre Reflexion verfährt phänomenologisch, d. h. sie versucht „in der Erfahrung beschlossene Sachverhalte herauszuschälen“.148 Die in der Erfahrung beschlossene Vertrautheit mit meinem Körper, die nicht in das parallele Schema passt, könnte indes gerade als die Illusion bezeichnet werden, die man zu durchschauen habe. So kann man aber nur argumentieren, wenn man von der eigenen Erfahrung absieht. Demgegenüber „steht uns dann die Annahme frei, er [der die Illusion aufzulösen meint] habe diese Erfahrung durch bloße Gedankenschemata ersetzt und verbliebe somit innerhalb ihrer, weit davon entfernt, über sie hinauszugehen.“149 Wenn man bei der Erfahrung bleibt, wird deutlich, dass man sich zu seinem Körper „in zugleich sehr bestimmter und sehr unterschiedlicher Weise“ verhalten kann: „ich kann seinen Launen nachgeben, ich kann aber auch versuchen, ihn zu beherrschen. […] Einzig durch Wunder an sophistischer Akrobatik vermöchte ich diese Feststellungen im Rahmen der parallelistischen These unterzubringen.“150 Alle diese Erfahrungen des Selbstverhältnisses schließen die „undurchdringliche Gegebenheit“ mein Körper ein. Um diese Gegebenheit genauer zu erfassen untersucht Marcel sowohl den Besitzbegriff als auch die Frage des werkzeuglichen Bezugs zu meinem Kör146 147 148 149 150
Ebd., 133. Ebd., 134. Ebd. Ebd., 135. Ebd.
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per, die beide darin übereinstimmen, ein äußerliches Verhältnis zwischen mir und meinem Körper zu setzen. Im Referat der Kritik dieser Vorstellungen beschränke ich mich auf den werkzeuglichen Bezug.151 Zunächst liegt es durchaus nahe, meinen Körper als mein Werkzeug aufzufassen, „als das Organ […], das mir erlaubt, in der Welt tätig zu sein und mich ihr eben damit einzufügen.“152 In solchen Fällen, in denen etwas auf einen bestimmten Begriff gebracht wird – hier den des Werkzeugs – verfährt die sekundäre Reflexion so, dass sie fragt, was dieser Begriff enthält und in welchen Grenzen er Geltung hat. Hier also, „was der Werkzeug-Begriff enthält und in welchen Grenzen werkzeugliches Wirken vollziehbar ist.“153 Im Werkzeug-Begriff enthalten ist, dass das Werkzeug ein Mittel ist, ein bestehendes Vermögen, das der Nutzer des Werkzeugs haben muss, „zu entfalten, zu erweitern oder zu mehren“.154 Das bestehende Sehvermögen des Auges wird durch unterschiedliche optische Geräte, sei es nun Brille, Mikroskop oder Fernrohr erweitert. Das Sehvermögen selbst ist dem Körper zu eigen: „Es läßt sich sogar sagen, dieser Körper bestehe eben, recht – das heißt dynamisch, in seinen Verrichtungen – besehen, im Inbegriff seiner Vermögen.“155 Von außen könnte man daher den Körper wie ein Mehrzweckgerät betrachten. Für mich ist aber nicht der Körper von außen ein Körper, sondern mein Körper, und mein ist er „nur insoweit, als ich ihn nicht betrachte, als ich nicht von ihm Ab-stand nehme, oder aber : als er für mich nicht Gegenstand ist – als ich eben mein Körper bin.“156 Wenn ich von meinem Körper sage, er sei mein Werkzeug, stelle ich diesen Abstand wieder her. Das bestätigt sich darin, dass ich durch die Setzung des Werkzeugbezugs in einen unendlichen Regress gerate: Verlängert nämlich, wie wir sahen, jedes beliebige Werkzeug ein Körpervermögen, also den Körper selbst, dann kann dieser unmöglich als Werkzeug betrachtet werden, ohne einen anderen Körper zu denken, nenne man ihn nun Geistleib oder Astralleib oder wie immer, dessen bloßes Werkzeug der physische Körper wäre. Sofern aber dieser Geist- oder Astralleib selber als Körper gesetzt wird, ist die Frage zurückgeschoben ohne Ende. Dieser Regreß kann bloß unter einer Bedingung vermieden 151 Marcel sieht einen engen Bezug zwischen meinem Körper und dem Besitz. Vieles, was für meinen Besitz (dargestellt am Beispiel meines Hundes) gilt, gilt auch für das Verhältnis zu meinem Körper: der Anspruch des mir Gehörens, die Notwendigkeit des Unterhalts, die Beherrschung bzw. der Gehorsam. Dennoch ist mein Körper kein von mir unterschiedenes zeit-räumliches Wesen. Daraus folgert Marcel, dass nicht das Besitzverhältnis den Umstand mein Körper erhellt, sondern umgekehrt dieser die Vorstellung des Besitzens. Die Bindung an meinen Körper ist demnach das „gefühlte Vorbild“ jeglichen Besitzens. Dennoch bleibt der kategoriale Unterschied bestehen. „Die Tragödie allen Habens besteht unabänderlich in der verzweifelten Anstrengung, ganz mit etwas eins zu werden, das doch nicht eines Wesens ist und sein kann mit dem, der hat“. Ebd., 140. 152 Ebd., 141. 153 Ebd. 154 Ebd. 155 Ebd., 142. 156 Ebd.
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werden, nämlich: sofern dieser Körper, den ich nach dem Muster von Werkzeugen fiktiv zu denken vermag, die sein Wirkungsfeld erweitern, mein Körper ist, ist er nicht Werkzeug. Spreche ich vom meinem Körper, dann spreche ich auf eine Weise von mir selbst, dann stelle ich mich außerhalb jeden werkzeuglichen Bezugs.157
Mein Verhältnis zu meinem Körper ist nicht werkzeuglicher Natur. Auszuschließen ist ebenfalls jegliche Art einer Identität von mir selbst und meinem Körper, die nichts anderes wäre als „sinnloser Materialismus“. Es bestünde dann keine Möglichkeit mehr, mich von dem Körper als Objekt zu unterscheiden. Mein Körper bin ich aber gerade, sofern er mir nicht Objekt ist. Damit ergibt sich ein Zusammenhang, den Marcel mit dem Ausdruck Fleischwerdung bezeichnet, der in diesem Zusammenhang von jeder theologischen Konnotation freizuhalten ist: Sofern ich eine Art Verhältnis (welches Wort nicht ganz angemessen ist) zu ihm [meinem Körper] unterhalte, das sich nicht objektivieren läßt, kann ich mich meinem Körper identisch setzen, wobei sogleich ersichtlich wird, wie unangemessen auch das Wort ,Identität‘ ist, denn gültig läßt es sich ja nur in der Welt der Dinge – oder genauer der Ding-Abstraktionen – anwenden, welche die Fleischwerdung übersteigt. Es versteht sich, dass der Ausdruck Fleischwerdung (incarnation), von dem ich so häufig Gebrauch zu machen haben werde, in diesem Zusammenhang ausschließlich die Situation eines Wesens meint, das sich wesentlich und nicht akzidentiell als seinem Körper verhaftet scheint.158
In seinem metaphysischen Tagebuch hat Marcel für den nicht-werkzeuglichen Bezug zu meinem Körper den Ausdruck „gleichgestimmte Mittlerschaft“ gebraucht, der zum Ausdruck bringen will, dass sich uns unser Körper „zunächst als empfunden darbietet“.159 Damit rückt als Erfahrungskorrelat der sekundären Reflexion das Empfinden in den Mittelpunkt, das damit vom gängigen Erfahrungsbegriff des Empirismus als Korrelat der primären Reflexion zu unterscheiden ist. Dabei ist an die Überlegungen zum werkzeuglichen Bezug anzuknüpfen, so dass Empfinden nicht als Verrichtung zu denken ist, die mein Körper gleich einem Gerät tätigt.
4.3.4 Empfinden als Weise der Teilhabe Das Empfinden als Weise der Teilhabe soll von der bloßen Wahrnehmung äußerer Reize unterschieden werden. Das Empfinden hat wie beim Beispiel mein Körper mit Betroffen-Sein zu tun, von dem nicht abstrahiert werden kann. Diese Art der Verbundenheit betrifft nun nicht nur mein Selbstverhältnis und meinen Körper, sondern auch mein Verhältnis zu der mich an157 Ebd., 143. Hervorhebung im Original. 158 Ebd., 143 f. Hervorhebung im Original. 159 Ebd., 144.
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gehenden Welt und den Menschen, die mir begegnen. Dem äußerlichen Kontakt im Sinne des Sender-Empfänger Modells steht Empfinden als Teilhabe gegenüber, die jede solipsistische Vorstellung ausschließt. Wiewohl unser Bewusstsein zu existieren unlöslich an das Empfinden gebunden ist, kann das Empfinden unterdrückt und geschwächt werden. Dem Empfinden als Teilhabe steht die Verweigerung der Teilhabe gegenüber, dem dann auch eine Schwächung der Lebendigkeit und die Gefahr des Nihilismus korrespondieren. Um das mit Empfinden als Teilhabe Bezeichnete und die Weigerung der Teilhabe genauer in den Blick zu bekommen, seien einige Beispiele angeführt. 4.3.4.1 Die Erdverbundenheit des Bauern Ein dem Verhältnis zu meinem Körper in seiner Massigkeit und geistigen Undurchdringlichkeit ähnliches Beispiel ist die „unerhört starke Erdverbundenheit des Bauern“.160 Sie wird ex negativo sichtbar an dem Bauern, der zu seinen Kindern in die Stadt gezogen ist, und trotz besseren Auskommens und der Zuneigung seiner Kinder sich nicht in die neue Situation finden kann. Dieses Beispiel zeigt eine Verbundenheit, die der Bauer nicht eigentlich in Worte zu fassen vermag. „Sie [die Erde] liegt sozusagen jenseits dessen, was er sieht, ist seinem Wesen verbunden, worunter wir nicht allein sein Handeln, sondern alles bis zu seinen Mühen zu verstehen haben.“161 Diese unmittelbare Nähe kontrastiert Marcel mit der Distanz eines Betrachters der Landschaft: Hier ist der Gegensatz der denkbar schärfste zwischen der als innerer Gegenwärtigkeit erfahrenen Erde und dem, was eine Landschaft dem Liebhaber sein mag, der sie zu schätzen weiß und seinem Wortschatz ein paar Eigenschaftswörter entnimmt, um sie möglichst treffend zu schildern.162
Wir sind vielleicht geneigt, gerade dem Landschaftsliebhaber zuzuerkennen, dass ihn eine bestimmte Landschaft in besonderer Weise anspricht. Die Ansprechbarkeit und die Empfindsamkeit sind ihm auch nicht abzusprechen, und doch ist die Teilhabe und Verbundenheit beim Bauern wesentlich intensiver. Der Betrachter geht nach dem Genuss wieder nach Hause, wo ihn ganz andere Dinge beschäftigen und angehen mögen. Der Bauer dagegen ist in seinem Wesen mit dem Land, das er bebaut, verbunden, was in der nicht heilen wollenden Wunde zum Ausdruck kommt, die ihm geschlagen ist, wenn er in der Stadt lebt. Er ist in seinem Sein in einer Weise von seiner Beziehung zum Land geprägt, dass er nicht davon abstrahieren kann. Dies Beispiel zeigt, dass Teilhabe und Verbundenheit nichts mit Intelligenz und besonderer Bewusstheit zu tun hat, sondern mit der Wahrnehmung dessen, was für unser Sein und 160 Ebd., 162. 161 Ebd., 163. 162 Ebd.
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unsere Existenz bestimmend ist. Die empfundene Verbundenheit zeigt, dass solch eine Bestimmung der Existenz ein Leben im Inneren tatsächlich prägt oder geprägt hat.
4.3.4.2 Unterschiede im Bereich des Betrachtens: Liebhaber, Künstler und Techniker Der Gegenspieler zum Bauer im ersten Beispiel ist der Betrachter. Nun lassen sich aber auch Differenzierungen innerhalb des Betrachtens vornehmen. So ist vom genießenden Betrachter der Landschaft der Künstler und Maler zu unterscheiden, der, um so mehr er echt schöpferisch ist, an der Landschaft Teil hat, wenn auch in ganz anderer Form als der Bauer. Gleich wie beim Bauern ist, dass die Teilhabe einem Handeln und Schaffen aus dem Wesen verbunden ist. Dem Schaffen des Künstlers stellt Marcel die Erzeugung des Technikers gegenüber. Wenn beide sehen und beobachten, wie sich Leben entfaltet, reagieren sie in unterschiedlicher Weise darauf. Der wissenschaftliche Techniker möchte nacherschaffen und erzeugen, was er Leben nennt. Dem Künstler dagegen „liegt an der geleisteten Gestalt, er weiß zuinnerst, ihm werde beschieden sein, ihr Leben einzuhauchen“.163 Beide Antriebe sind gegensätzlich. „Der eine, der des Künstlers, wird einzig auf dem Grunde der Teilhabe wirksam, der andere kommt gerade aus der Weigerung der Teilhabe, ist blanke Negation.“164 Kernpunkt des die Teilhabe verweigernden wissenschaftlichen Vorhabens ist „der Gedanke der Bedingtheit jedweden Phänomens“.165 Es geht darum, zwangsläufige Vorgänge zu erkennen und dann auch selbst auszulösen. Von seinem Tun und seinen Ergebnissen her tritt der Wissenschaftler den Beweis an, alles in dieser Welt entstehe ohne Dazutun einer schöpferischen Kraft aus sich selbst. Eigentlich ist seine gesamte Technik gegen jeglichen Glauben an solches Eingreifen gerichtet. Und seine Hybris liegt eben in dieser Art apologetischer Absicht mit umgekehrtem Vorzeichen.166
Die Verleugnung einer schöpferischen Kraft im Menschen führt in die oben genannte Problematik des Biologismus und Historismus. Ohne Empfindung und Teilhabe, ohne schöpferische Antwort auf das Empfundene und die uns angehenden Herausforderungen bleibt lediglich biologisches Funktionieren für den Lebensbegriff übrig. Ein solcher Lebensbegriff ist notwendig ungeschichtlich. Je mehr sich politisches und gesellschaftliches Handeln am Ideal eines an vermeintlichen Sachzwängen orientierten Pragmatismus orientiert, 163 164 165 166
Ebd., 167. Ebd., 168. Ebd. Ebd., Hervorhebung im Original.
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desto mehr schwindet die Kraft zur Zukunftsgestaltung. Der Mensch als Verursacher vieler Sachzwänge neigt dann dazu, sich hinter diesen als nur äußerlich von ihnen eingeengt zu verstecken, sich aber innerlich nicht betroffen und herausgefordert zu fühlen. Zuständig sind die Experten und Fachkommissionen, die mit den bereichsspezifischen Gesetzmäßigkeiten vertraut sind.167 So beraubt sich der Mensch, vom technisch-wissenschaftlichen Blick auf die Welt gebannt, selbst seiner Zukunft und seines schöpferischen Potenzials. Diese Überlegungen zum Schöpferischen finden, wie sich gezeigt hat, ihre Bestätigung im Bezug zwischen Schöpfer und Geschöpf. Dieser Bezug ist nicht der zwangsweise von Ursache und Wirkung, der ein äußerlicher zwischen je für sich Seienden ist, sondern ein das Sein als Zusammensein bestimmender innerlicher Bezug, von dem nicht abstrahiert werden kann. Es ist der auf Ansprechbarkeit basierende Bezug des HervorRufens, dem innere Verbundenheit und Teilhabe zugeordnet ist. Dieser Zusammenhang zeigt sich nicht zuletzt christologisch. Die neue Schöpfung ist unzertrennlich an die Verbundenheit und Teilhabe an Jesus Christus gebunden, so gewiss sie außerhalb jeglicher kausalen Notwendigkeit liegt.
4.3.4.3 Betrachten zwischen Zuschauen und innerlicher Teilnahme Die Unterscheidungen innerhalb des Betrachtens hängen daran, ob man bloß betrachtet oder auch teilnimmt. Der bloße Betrachter „wohnt bei, ihn beherrscht eine Neugier, die nichts Beklemmendes hat, weiß er doch genau, daß er in das Geschehen auf der Bühne nicht verwickelt ist.“168 Marcel macht darauf aufmerksam, dass diese Geisteshaltung auch jenseits des Theaters allgemein verbreitet ist. Er nennt als Beispiel, dass viele Leute in den neutralen Ländern während des Ersten Weltkrieges diesem „Krieg wie einem Fußballmatch oder einem Stierkampf“ beiwohnten.169 Es ist offensichtlich, dass man heute als Fernsehzuschauer auch unfreiwillig in dieser Rolle des bloßen Zuschauers gedrängt wird. Einen vorläufigen Höhepunkt hatte diese Entwicklung, als im letzten Irakkrieg tatsächlich der Ernst der Kampfhandlungen gleichzeitig am Fernsehschirm zum beobachtbaren Schauspiel wurde. Es ist zu fragen, ob nicht die Tragik alles Reality-Fernsehens darin besteht, dass der 167 Auf Grund dieser Problematik insistiert Rosenstock-Huessy in seiner Soziologie darauf, dass nur Fachmann und Laie gemeinsam Träger menschlicher Wirklichkeit sein können. Ein einfaches Beispiel: Die Liebe der Mutter zu ihrem Kind und das Wissen und die Erfahrung der Erzieherinn wirken zusammen in der Wirklichkeit der Erziehung: beide sollten einander anerkennen und achten. Im politischen und gesellschaftlichen Bereich besteht dagegen heute die Tendenz zur Delegation an Fachkommissionen. Ob man von einer verbreiteten Anerkennung und Achtung zwischen Politiker und Bürger als Grundlage einer demokratischen Kultur sprechen kann, ist fraglich. Vgl. Rosenstock-Huessy, Soziologie, Bd. 1, 111 ff. 168 Marcel, Geheimnis, 169. 169 Ebd., 169 f.
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Wunsch nach Teilhabe am echten Leben sich im ungeeignetsten Medium zu erfüllen sucht. Bei aller momentanen Erregung bleibt das im Fernsehen Gesehene in Distanz zum eigenen Leben, das aufgrund dieses Surrogats gerade nicht selbst wirklich gelebt wird. Diejenigen, die ihr Leben im Fernsehen entblößen, hoffen damit wahrscheinlich auch mehr oder weniger bewusst auf den Wirklichkeitsmehrwert, der dem Fernsehen zugeschrieben wird. Was im Fernsehen gezeigt wird, ist bedeutungsvoll. Sie bedenken dabei aber nicht, dass Lebensphänomene der zwischenmenschlichen Empfindung und Teilhabe nicht den Blick des bloß zuschauenden Dritten vertragen. Hier zeigt sich, wie die Dominanz der Kultur des Sensationellen, des Dabeiseins und zuschauenden Konsumierens Hand in Hand geht mit der Zersetzung des Schamgefühls, das in seiner Bedeutung für gelingendes zwischenmenschliches Leben zum Teil wohl gar nicht mehr verstanden wird.170 Die in ironischer Distanz verbleibende Zuschauermentalität ist der eine Pol des Spektrums des Betrachtens. Der andere ist die Kontemplation.
4.3.5 Kontemplation Die Kontemplation171 ist dem neugierigen, auf Zerstreuung bedachten Zuschauen ebenso entgegengesetzt, wie dem auf ein Tun gerichtetem Zweckblick des Technikers. Sie hat ein anderes Verhältnis zu Zeit und Dauer als diese beiden Weisen des Betrachtens. Die Kontemplation schließt Neugier zutiefst aus, ist mithin nicht zum Kommenden hingespannt. Es ist, als ob die je aufs Tun bezogenen zeitlichen Entgegensetzungen hier ihren Sinn verlören – in jedem Fall ihren Wert. Die Zeit der Kontemplation kann nur die Gegenwart sein.172
Das Fehlen der Neugier unterscheidet sie von allen Formen des Aufgehens in der Gegenwart, die im Zuge der Eventkultur propagiert werden.173 Vom 170 Vgl. zum Schamgefühl Rosenstock-Huessy, Denken, 472ff, und Seelenkunde, 778 f. 171 Kontemplation ist nach Marcels Ansicht nicht jedem und jeder ohne weiteres möglich. Sie ist „undenkbar für jemanden, der auf der Oberfläche des Realen treibt“. Marcel, Geheimnis, 171. Marcel sieht in diesem Zusammenhang die asketischen und meditativen Übungen der Religionen als Mittel zur Bereitung der Kontemplationsfähigkeit. Karin Johne macht darauf aufmerksam, dass Voraussetzung jedes geistlichen Übungsweges und jedes geistlichen Lebens die Einübung bestimmter „menschlicher Grundhaltungen“ ist, „die heute bei vielen Menschen zu verkümmern drohen.“ Johne, Übungsweg, 13. Zu diesen Grundhaltungen zählt sie Empfangsbereitschaft, Innehalten und Verweilen und Schauen auf das Wesentliche, Sammlung und Konzentration. Johne, Übungsweg. 25. 172 Marcel, Geheimnis, 171. 173 Dieses Aufgehen in der Gegenwart ist die gegenteilige Bewegung zur Sammlung, die das Wesen der Kontemplation ist. Es führt nicht zu sich selbst und ist nicht vom Einzelnen für sich zu vollziehen, sondern zum Aufgehen in der Menge. Vgl. zum Aufgehen des Einzelnen in der Masse: Rosenstock-Huessy, Soziologie, Bd. 1, 70 ff.
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Techniker unterscheidet sie der auf ein mögliches Tun gerichtete Blick. Die Aufmerksamkeit des Technikers gilt „den Schwierigkeiten, denen dieses Tun innerhalb des dinghaft Gegebenen ausgesetzt ist.“174 Er fragt nach den Gesetzmäßigkeiten, die für jedes Ding und jeden Sachverhalt dieser Art gelten. Insofern betrachtet der Zweckblick das Objekt als einer bestimmten Klasse zugehörig, als „Glied einer Reihe“.175 Demgegenüber betrachtet die Kontemplation ihr Objekt nicht im Bezug auf anderes, sondern in seiner Einzigkeit. Die Bezeichnung als Objekt ist dabei eigentlich unangemessen, weil die Erkenntnis nicht äußerlich bleibt, sondern in die Innenschau mit hinein genommen wird. „Kontemplation heißt, sich angesichts von etwas sammeln – so zwar, dass eben die Wirklichkeit, vor der man die Gedanken zusammennimmt, in das Insichgehen gewissermaßen selber eingeht.“176 Diese Aussage ist im Sinne der Unterscheidung der Subjekt-Objekt-Relation von der spezifisch anderen Beziehung, die Buber Ich-Du Beziehung nennt, zu verstehen. In der Subjekt-Objekt Relation vollzieht sich immer ein Handeln am Objekt, wobei sich das Subjekt in seiner Selbstmächtigkeit nicht wandelt. Die Sammlung dagegen zielt gerade auf die innerliche Wandlung. In ihr bleibt das Wesen nicht unverändert. So ist die Kontemplation zwar selbst nicht auf ein Tun gerichtet im Sinne einer Handlung am Objekt, sie zielt aber auf eine Veränderung des Seins, das allem Tun zu Grunde liegt. Dieses Sein ist kein Fürsich-Sein, sondern ein in einer konkreten Situation stehendes, angegangenes Sein. Diese angehende Wirklichkeit wird in die Sammlung mit hinein genommen. Auf der innersten Ebene, auf der es um Änderungen des allem Handeln einer Person zu Grunde liegenden Seins geht, erscheint das Sein als Zusammen-Sein, als „coesse“.177 In der Kontemplation zeigt sich: wo es um unser Sein geht, kann vom Angegangen-Sein gar nicht abgesehen werden, weshalb unser Sein nicht als „Für-sich-Sein“, sondern als Zusammensein im Sinne der Anrede zu bestimmen ist. Von daher bestätigt sich der von Buber behauptete ontologische Primat des Zwischen vor dem handelnden Subjekt. Die Sammlung ist für Marcel „der Akt, vermöge dessen ich das Entgegenstehen überwinde“.178 Ähnlich wie bei Buber ist es das Einnehmen einer Haltung, die nichts von der Intentionalität im Sinne des Objekt-Bezugs hat. Wie Buber kommt auch Marcel an dieser Stelle auf das Schweigen zu sprechen. Das Vermeiden des Entgegenstehens im Objekt-Bezug ist „an den Akt gebunden, mittels dessen ich in mir Schweigen schaffe.“179 Dieses Schweigen hat
174 Marcel, Geheimnis, 173. 175 Ebd., 174. Die Neugier und das zuschauende Genießen nehmen analog das Objekt als der „Klasse“ des Sensationellen, Interessanten oder Genussversprechenden wahr. 176 Ebd., 175. Die Ausdrucksweise „so zwar“ in der Übersetzung von Hanns von Winter würde man wohl heute geläufiger mit „und zwar so“ wiedergeben. 177 Ebd., 177. 178 Ebd. 179 Ebd.
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aber nicht nur den negativen Sinn der Ausschließung des Objektbezugs, es hat zugleich einen positiven Wert. Man mag es Fülle nennen, die nur dann erwächst, wenn die Sprache aufgesogen oder verdrängt wurde, die, wie schon Bergson tiefsinnig erkannte, von Natur geeignet ist, räumliche Bezüge auszusagen, Bezüge reinen Nebeneinanders, welche die Innenheit gerade ausschließt.180
Dieser Mangel der Sprache zeigt sich bereits in dem Begriff „Innenheit“ für etwas jenseits der räumlichen Trennung in Innen und Außen Stehendes. Der Begriff Innenheit ist nicht räumlich zu verstehen, sondern bezeichnet die „Begrenzung der Einbildungskraft, liegt jenseits des Vorstellbaren“.181 Wiewohl nicht vorstellbar, ist seine Realität einsichtig, z. B. im Vorhandensein der nicht-werkzeuglichen Kräfte, die allem Werkzeuggebrauch zu Grunde liegen. Ebenso im Phänomen des das ganze Wesen meinenden Angesprochen-Seins. Um diese Innenheit betreffenden Erfahrungen geht es in der Sammlung, die damit nicht Absehen von allem und Für-sich-Sein ist, sondern das Sein als Zusammen-Sein erkennen lässt.182 4.3.6 Das „nicht-mediatisierbare Unmittelbare“ als Wurzel unser Existenz Wie bei Buber Ich und Du aus dem Zwischen hervorgehen und damit am Ursprung ihrer Existenz das Unmittelbare steht, so führt bei Marcel die Auseinandersetzung mit der Gegebenheit mein Körper und der Natur des Empfindens zu der Notwendigkeit, „einen Begriff einzuführen, den ich das nicht-mediatisierbare Unmittelbare nennen möchte, die wahre Wurzel unserer Existenz.“183 Nicht-mediatisierbar, weil die sekundäre Reflexion erweist, dass das Empfinden nicht im Sinne der Übertragung einer Botschaft verstanden werden kann.184 Damit bestätigt sich, was bereits das Phänomen der Kon180 Ebd. 181 Ebd., 175. 182 Die gleichen hier herausgestellten Merkmale – nicht Objekt-Bezug, Teilnahme am Sein – finden sich in Johnes Umschreibung der Meditation. Demnach ist Meditation die jedem Menschen grundsätzlich „gegebene Fähigkeit, das, was ihm begegnet, mit seinem ganzen Sein wahrzunehmen und in die Mitte seines Wesens einzulassen. Nicht als ein Beherrschender, der alles ,in den Griff‘ bekommen will, begegnet der Meditierende dem Leben, sondern als ein Empfangender, Aufnehmender, Teilnehmender.“ Johne, Übungsweg, 26. 183 Marcel, Geheimnis, 154. Hervorhebung im Original. 184 Die erste Reflexion denkt Empfinden „wie eine gesendete und empfangene Botschaft“ (ebd., 149). Die dabei zugrunde liegende Annahme ist, dass die Botschaft in die Sprache des entsprechenden Sinnes übertragen wird. Die sekundäre Reflexion setzt mit ihrer Kritik am Begriff des Übertragens an. Übertragen heißt, „eine Gruppe von Gegebenheiten durch eine wenigstens teilweise andersartige Gruppe von Gegebenheiten ersetzen“ (ebd., 151). Methode der sekundären Reflexion ist es, nach den dabei implizierten Voraussetzungen zu fragen. In diesem Fall ist enthalten, dass die Elemente beider Gruppen „Objekte, also dem Geist gegen-ständlich sein müssen, damit Übertragung sein könne“ (ebd.). Als Beispiel nennt Marcel die Übertra-
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templation gezeigt hat: das „Ich existiere“ als Bezugspunkt der Existenz kann nicht solipsistisch als „eine Art Kern subjektiver Gewißheit“185 betrachtet werden. Dies ist solange möglich, als man annimmt, Empfinden sei Übertragung einer Botschaft, da dabei Natur und Existenz des Senders zweifelhaft bleiben. Mit der Anerkenntnis des nicht-mediatisierbaren Unmittelbaren ist daher der Solipsismus grundsätzlich überwunden. Zu dem für die Vorstellung Schwierigen des existentiellen Unmittelbaren gehört, dass es nichts ist, „was als Denkinhalt betrachtet werden könnte“,186 da jeder Denkinhalt nur in Verbindung mit Mediation möglich ist. Dieser Umstand lässt sich nun aber dem positiven phänomenalen Erfahrungsbereich der Anrede zuordnen: „Denn im Anruf liegt etwas, das über jeden ihm einfügbaren Denkinhalt hinausgeht.“187 Marcel bestätigt damit meine These, dass der Anredeaspekt und der Zeichencharakter der Sprache zwei nicht aufeinander zu reduzierende Aspekte der Sprache sind, und macht zugleich einsichtig, warum dies vom Denken oder Zeichen herkommend zunächst unmöglich erscheint. Wie bei Buber im Zusammenhang der Begegnung zeigt sich auch beim Empfinden als Teilhabe ein Jenseits der Alternative von Aktivität und Passivität. Denn im Gegensatz zum Empirismus erweist sich das Empfinden nicht als reines Erleiden.188 Es ist nicht Erleiden, sondern Empfangen, wobei die aktive Seite mitzuhören ist. Empfangen im aktiven Sinne ist ein Empfangen bei sich, das ein „Bei-sich-sein, das wohlgemerkt keineswegs ein Für-sich-sein ist“,189 voraussetzt. In diesem Sinne ist das Empfangen bei sich ein Aufnehmen. An dieser Stelle nimmt Marcel wiederum Bezug auf den Anredecharakter : „Am wenigsten ungenau würde wohl der Ausdruck Ansprechbarkeit
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gung eines Textes in eine andere Sprache, wozu ein bestimmter Übertragungscode erforderlich ist. Wiewohl wir aber bei der Sinneswahrnehmung ohne Zweifel einen Anstoß von außen erhalten, liegt kein objektiv Gegebenes vor. „Das vorsinnliche Geschehen, das ich im angenommenen Fall vermeintlich in die Sinnensprache zu übertragen habe, kann uns aber gerade in keiner Weise gegeben sein. Wenn wir das nicht sogleich erkennen, so nur deshalb, weil wir von der physischen Vorstellung gebannt sind und den unserem Organismus von außen mitgeteilten Anstoß mit der Tatsache verwechseln, hier liege für das Subjekt ein objektiv Gegebenes vor“ (ebd.). Der erst zu erhellende Bezug, der im Wort gegeben liegt, wird damit verdinglicht. Da man mit der Grundannahme, Empfindung sei Übertragung einer Botschaft, auch bei tiefer bohrenden Überlegungen nicht weiterkommt, muss die sekundäre Reflexion zugeben, dass Empfinden nicht als Übertragung einer Botschaft verstanden werden kann. „Und zwar aus dem wesentlichen Grund, dass jegliche Botschaft das Vorhandensein einer Empfindung voraussetzt – genau wie jedes beliebige Werkzeug, wir sahen es eben, das Vorbestehen meines Körpers zur Voraussetzung hat“ (ebd., 152). Ebd., 154. Ebd., 156. Ebd. Kant hat sich nach Auffassung Marcel „einer Verwechslung schuldig gemacht“, als er vom Empirismus die Auffassung übernahm, „Rezeptivität sei Passivität“. Dies gelte nur im Grenzfall des Abdrucks eines Siegels, was denn auch das Paradebeispiel des Empirismus war. Ebd., 165. Ebd.
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das hier in Rede stehende Tun wiedergeben. Es bildet den Gegensatz zur inneren Untätigkeit, der Empfindungslosigkeit oder Apathie.“190 Diese Ansprechbarkeit ist für Marcel ein nicht weiter ableitbares Faktum, so dass es zu einer „unüberholbaren Zweiheit“ kommt von „Nicht-emfindendem, Nichtansprechendem – und dem, was noch so schwach am unendlichen Einvernehmen teilhat, also nichts anderem als der Existenz selbst.“191 An dieser Stelle zeigt sich trotz der unterschiedlichen Herangehensweise von Buber und Marcel ihre sachliche Nähe. Man könnte sagen, Buber erfährt eine weitere Auslegung, indem das nicht ableitbare Faktum der Anrede und der Ansprechbarkeit mit dem ebenfalls unableitbaren Faktum der Empfindsamkeit in Verbindung gebracht wird. Diese Empfindsamkeit hat dann auch im Verhältnis zu uns selbst ihren Ort und ist an unsere Existenzweise als körperliche Wesen gebunden. So wird von dieser Seite die Aussage Bubers anschaulicher, dass das Ich allererst aus der Begegnung hervorgeht, insofern das sich selbst als existierend behauptende Ich ein empfindendes und ansprechbares ist. Das unableitbare Faktum der Empfindungsfähigkeit und Ansprechbarkeit ist die Wurzel unserer Existenz, die in der Äußerung „ich existiere“ ihren Bezugspunkt hat. 4.3.7 Sein in der Situation und Unterwegs-Sein Sein im Zusammen-Sein ist Sein in der Situation. Sein in der Situation bedeutet dabei nicht nur, dass wir immer in bestimmten Situationen stehen und von diesen mehr oder weniger betroffen sind, es bedeutet auch, dass ich mich nicht als von den Umständen im letzten Kern unberührtes Subjekt verstehen kann. Dass Sammlung überhaupt vorkommt, zwingt uns, vom Postulat der meisten philosophischen Lehrmeinungen bis hin zu unseren Tagen Abstand zu nehmen: Welches Postulat im ganzen darin besteht, die Umstandsbestimmungen, die mich als empirisches Subjekt erstellen, als kontingent in bezug auf ein abstraktes Subjekt zu betrachten, das letzten Endes mit der Vernunft identisch wäre.192
Es ist dies die bekannte Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich, die für Marcel letztlich bedeutet, dass der transzendentale Kern seine zufällige Hülle abstreifen kann und muss. Damit aber abstrahiert man von den gegebenen Umständen und stellt sich außerhalb ihrer. „Wer so vorgeht, flüchtet wahrlich in ein ,Nirgendwo‘, aber ein Nirgendwo, das er abwegig als Freistatt ansieht, als einen Olymp des Geistes.“193 Abstraktionen als geistige Operation, die teilweise von der Situation abstrahiert, haben Sinn nur in190 191 192 193
Ebd., 166. Ebd. Ebd., 181. Ebd., 182.
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nerhalb der Situation: „Sie sind rein geistige, auf bestimmte Zwecke gerichtete Verfahren und können lediglich an einem seinerseits bestimmten Haltepunkt unseres Weges ihren Platz finden.“194 Sobald sich die Abstraktion absolut setzt, verkehrt sich ihr Sinn in Unsinn. Umfassende Abstraktion gibt es nicht und kann es nicht geben, denn unser Los ist letztlich, Wanderer zu sein, die schlechthin nur vermöge einer Fiktion stillstehen können, gegen die jedoch in der entschlossensten Weise anzukämpfen dem philosophischen Denken eigen ist.195
Diese Fiktion ist nicht nur die des transzendentalen Subjekts, sondern auch die Laborsituation des Experiments. Es kommt darauf an, die Begrenztheit dieser Situation zu erkennen, und nicht umgekehrt die Fiktion eines letztlich abstrakten, unberührten Subjekts zum Grundbild menschlichen Lebens zu machen. „Sein in der Situation“ und „Unterwegs-Sein als Wanderer“ sind dabei die beiden zusammen gehörenden Bestimmungen unseres räumlich verorteten und zeitlich sich erstreckenden Mensch-Seins. Sowohl das Austreten aus den Umständen als auch das Austreten aus der Zeit sind unmöglich. Wie aber kann die damit gesetzte Nicht-Kontingenz der Umstände im Bezug auf das Selbst verstanden werden? Es kann ja nicht darum gehen, die Betroffenheit im Sinne empirischer Kausalität und Notwendigkeit zu verstehen, die mit der Innenheit nichts zu tun hat. In Anbetracht des Bezugs zur Innenheit muss der „Gegensatz von Kontingenz und Notwendigkeit“196 überstiegen werden. Ich bin in meinem Sein betroffen, nicht weil ich Einwirkungen gemäß dem Kausalgesetz ausgeliefert bin, sondern weil ich angesprochen und in meinem Sein herausgefordert bin. Marcel sagt daher, „die Nicht-kontingenz des Empirischen könne nur in einem besonderen Sinne behauptet werden, demselben, in dem sich das Subjekt als solches schafft.“197 Was ein Mensch ist, stellt sich heraus in seinen Handlungen, in denen er sich selbst in den gegebenen Umständen bewähren muss. Die Umstände kommen nicht als für-sich-seiende in Betracht, sie treten „bloß in Bezug auf ein freies Handeln in das Mittel, dem sie Ansporn oder Hemmschuh sind.“198 In diesem Sinne ist die Nicht-Kontingenz der gegebenen Umstände allein im Bezug auf die Innenheit zu verstehen.199 Die Innenheit und Nicht-Kontingenz wiederum ist unzertrennlich mit schöpferischer Entfaltung verbunden. Schöpferische Entfaltung ist nicht Herstellen gemäß den Naturgesetzen, sondern freie Antwort auf die Anspra194 Ebd. 195 Ebd., 183. 196 Ebd., 186. Dieser Gegensatz liegt auf der Ebene der kausalen Wirkungen der Subjekt-ObjektRelation, der die Innenheit sowenig erreicht, wie die räumliche Unterscheidung von innen und außen. 197 Ebd., 183. 198 Ebd., 184. 199 Dies entspricht bei Buber der Zuordnung von Schicksal und Freiheit.
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che, in der wir mit unserem Selbst gefordert sind. In dieser Antwort liegt der Moment des Unvorhersehbaren, Überraschenden. Als Antwort auf Ansprache auf der Ebene der Innenheit hat das Schöpferische nicht unbedingt etwas mit der Herstellung eines Werkes zu tun, weshalb der Ausdruck schöpferische Entfaltung angemessener ist als schöpferisches Handeln. Nicht erst der Künstler ist schöpferisch, aus dessen kontemplativer Betrachtung einer Landschaft ein Bild entsteht, das Schöpferische ist bereits in jedem Bewundern der Landschaft enthalten, weil es „tätiges Empfangen“200 einschließt. Zu den zentralen schöpferischen Werken gehören daher auch die Taten der Liebe, auch wenn sie kein sichtbares Werk hervorbringen. Mit dem Phänomen des schöpferischen Sich-Entfaltens ist ein Lebensbegriff gegeben, der sich klar vom biologischen Lebensbegriff unterscheidet: wo Leben ist, da ist auch schöpferisches Sichentfalten. Oder aber – mit dem von mir gebrauchten Wort und in voller Übereinstimmung mit Karl Jaspers – wo Sein ,in der Situation‘ ist. Wobei der Begriff ,Leben‘ phänomenologisch zu bestimmen ist, ohne jeden biologischen Nebensinn. In diesem Zusammenhang ist die etymologische Beziehung zwischen ,Leben‘ und ,Lebhaftigkeit‘ ungemein aufschlußreich, und es wäre wohl zu erweisen, daß, was wir in einem phänomenologischen Verstand Leben nennen, nicht zu trennen ist von der – übrigens wesensmäßig ansteckenden – Anteilnahme des Lebenden am Leben. Wer wirklich am Leben ist, findet nicht allein Geschmack am Leben, er trägt dazu bei, Leben um sich herum zu verbreiten, es gleichsam zu schüren.201
4.3.8 Selbstverhältnis, Intersubjektivität und Gottesbezug Das bisher Dargelegte sei abschließend unter der Perspektive des wechselseitigen Ineinanders von Selbstverhältnis, Intersubjektivität und Gottesbezug dargestellt, das m. E. als umfassender hermeneutischer und heuristischer Rahmen für die Predigtarbeit geeignet ist.
4.3.8.1 Das Selbstverhältnis Ein Selbstverhältnis zu haben, bedeutet im Allgemeinen, dass wir uns selbst gegenübertreten können. Dies wird häufig im Sinne der Subjekt-Objekt Relation verstanden, so dass wir uns selbst zum Objekt werden. So z. B., wenn wir unseren Körper nicht als unseren Körper in Betracht ziehen, sondern als einen Körper unter anderen, der mit allen anderen Körpern bestimmte Merkmale teilt. Wenn es aber um das Selbstverhältnis im Sinne des In-sich-Gehens und 200 Ebd., 185. 201 Ebd., 190.
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Sich-Sammelns geht, kann dies nicht im Sinne dieser Relation verstanden werden, wiewohl es dennoch zu einer Aufspaltung in zwei verschiedene Formen oder Existenzweisen des Ichs kommt. Marcel nennt als Beispiel den Monolog des Kaisers Augustus in der Tragödie Cinna. Augustus entdeckt, dass ein Mann, dem er jahrelang Gutes getan hat, an der Spitze einer Verschwörung gegen ihn steht. Seine erste Regung ist Zorn, ist Empörung, er will es dem Undankbaren vergelten. Aber etwas in ihm weigert sich, einer so natürlichen Regung die Zügel schießen zu lassen. Und im berühmten Monolog […] geht er mit Entschiedenheit in sich, in sein tiefstes Ich, darin nicht Zornesmut und Rachsucht wohnen, noch auch, allgemeiner gesprochen, Begierde und Gelüst.202
Das Ergebnis des In-sich-Gehens ist, dass sich Augustus nicht mehr als „unschuldiges Opfer menschlicher Undankbarkeit“ vorkommt, „sondern als zuletzt für diese Situation eigenverantwortlich“: er selbst hatte in der Vergangenheit „wie die gehandelt, die nun sein Verderben beschlossen haben.“203 Das Beispiel zeigt zwei verschiedene „Modalitäten der Existenz“,204 das Ich der Rache und das Ich der Sammlung und Reflexion, und damit auch unterschiedliche Kräfte, die hier wirksam sind. Was Marcel allgemein als „Begierde und Gelüst“ bezeichnet, ist zum einen der Wunsch nach Rache, und zum anderen die Beweggründe und Kräfte, die Augustus in der Vergangenheit genauso handeln ließen, wie die Verschwörer jetzt. Kräfte, die mehr oder weniger stark von Machtstreben bestimmt sind. Diese Kräfte sind zugleich jene, die in die Subjekt-Objekt-Relation hinein ziehen. Die Rache und das Streben nach Macht suchen nach den Machtmitteln zur Umsetzung ihres Willens und finden sie in dem Zwang, den das Subjekt auf das Objekt ausüben kann. Die dem entgegen wirkende Kraft zieht in Richtung der Innenheit. Sie führt zur Selbsterkenntnis, zur Wahrheit über sich selbst. Insofern könnte diese Kraft als „Liebe zur Wahrheit“ bezeichnet werden. Im Beispiel des Augustus stellt sie vor die umfassende Frage: „wer bin ich, daß ich andere verurteile?“205 Die letzte Frage zeigt, dass die Sammlung dazu führt, dem eigenen Leben gegenüber Stellung zu beziehen. Dabei abstrahiert man nicht vom eigenen Leben, um es mit anderem zu vergleichen. Der einordnende Vergleich mit anderen liegt ganz fern. Man zieht sich vielmehr aus dem aktuell gelebten Leben zurück in das eigene Sein, wie es sein sollte, aber noch nicht ist, so dass „der Abstand sichtbar [wird] zwischen meinem Sein und meinem Leben.“206 Wenn ich in mich gehe, kann ich mein Leben, so wie es ist, bewerten „im 202 203 204 205 206
Ebd., 178. Ebd., 180. Ebd., 179. Ebd., 180. Ebd., 186.
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Namen des Lebens, das ich in mir trage, das zu leben ich ersehne, das ich leben sollte, um vollkommen ich selbst zu sein.“207 Hier kommt nun wieder an zentraler Stelle die Anrede ins Spiel. Angesichts einer Berufung, gewinne ich Gewissheit über meinen Weg und mag „bewogen sein, zu verurteilen, was mein Leben bislang tatsächlich gewesen war.“208 Das Gegenteil der Situation eines Menschen, der eine Berufung erfahren hat, ist die Situation des Menschen, der sich im eigenen Leben nicht zurechtfindet. Er verliert das Maß für die verhältnismäßige Wichtigkeit des zu Tuenden. Sein Leben ist mit „zweitrangigem Zeitvertreib überfüllt“ und ihm wird einer „Menge langweiliger Verpflichtungen aufgeladen, ohne zu bedenken, dass es lauter Scheinverpflichtungen sind“.209 Die Ablehnung und Befreiung von diesen Verpflichtungen wäre ein Akt der Treue zu sich selbst. Dieses Selbst aber muss sich durch einen Anruf bemerkbar machen: „Das Selbst, dem ich treu zu bleiben habe, es kann doch nur der Anruf sein, der aus meinem tiefsten Innern dringt – der Anruf, das zu werden, was ich buchstäblich nicht bin.“210 Diese Überlegungen zeigen, dass ich mich nicht in abstrakten Raum selbst erkennen und mir selbst nahe kommen kann. Der Akt der Selbsterkenntnis ist unlöslich mit schöpferischem Tätig-Sein verbunden.211 Sowohl die Erkenntnis als auch das Tätig-Sein sind dabei im Sinne der Innenheit zu verstehen. Es geht um keine prinzipiell von der Situation abstrahierende wissenschaftliche Erkenntnis und nicht um ein Tätig-Sein im Sinne eines Herstellens, wie es für die Arbeit vieler Menschen charakteristisch ist. Dem Finden zu sich selbst im schöpferischen Tätig-Sein steht die Entfremdung im herstellenden Arbeitsprozess gegenüber, den wirklich mir persönlich gestellten Aufgaben die Surrogate von Scheinverpflichtungen, die jeder beliebige andere auch erledigen könnte. Hier bestätigt sich auch das oben über den nicht-biologischen Lebensbegriff Gesagte, der Leben und schöpferisches Sich-Entfalten verbindet. Mein Lebensgefühl ist „um so stärker, als ich auf ein Ziel hingespannt bin“,212 wenn dies ein Ziel ist, das ich aufgrund eines Anrufs mir gestellt habe und dessen Verwirklichung von mir abhängt.213 Umgekehrt gilt, dass ein Mensch „um so
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Ebd., 187. Ebd. Ebd., 194 f. Ebd., 195. Vgl. Ebd.: „Seine eigene Natur erkennen ist – auf welcher Ebene immer – nur dem wirklich tätigen Menschen möglich, nach Maßgabe seines Tätigseins, mag sich auch seine Tätigkeit in äußerst engen Grenzen bewegen und einem Beobachter nicht wahrnehmbar sein.“ 212 Ebd., 219. 213 Dies wirft Licht auf die bekannte Zweiheit von Anspannung und Entspannung, Kontemplation und Aktion, die für das Leben charakteristisch ist. Es zeigt, dass Entspannung weit mehr ist als die Notwendigkeit, sich auszuruhen und neue Kraft zu schöpfen, wie dies heute oft verstanden wird. Entspannung und Kontemplation ist nicht das Nach, sondern das Vor der Aktion, das der Aktion allein die sinnvolle Richtung geben kann.
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dürftiger lebt, je mehr er nur mit sich beschäftigt“214 ist. Es ist die Tragik des egozentrischen Menschen, dass er mit seinem Verhalten das Gegenteil von dem erreicht, was er will, eine Steigerung seines Lebens. Gerade im ewigen Kreisen um sich selbst kommt er nicht in Kontakt mit sich, weil er sich vor den Anrufen verschließt, die sein schöpferisches Tätig-Sein hervorrufen könnten. Marcel führt hier den Begriff der „Verfügbarkeit“ (disponibilit) ein, der die Fähigkeit eines Menschen bezeichnet, „den Anrufen des Lebens zu antworten“.215 Ist die Verfügbarkeit geschwächt, bildet die „kümmerliche Erlebniswelt“ eines Menschen „eine harte Schale, die er nicht zu durchbrechen vermag.“216 All dies macht deutlich, dass das Selbstverhältnis an jeder Stelle offen sein kann zu Anruf, Begegnung und Intersubjektivität. Wenn das Selbstverhältnis zur Selbsterkenntnis führt, zeigt es kein „Für-sich-Sein“, sondern ein Ausgespannt-Sein zu Aufgaben und Zusammen-sein mit anderen.
4.3.8.2 Intersubjektivität Beim Selbstverhältnis hat sich die Ambivalenz der gegebenen Möglichkeiten des Selbstbezugs gezeigt. Dem egozentrischen Selbstbezug, der Selbsterkenntnis und Übereinstimmung mit sich selbst gerade verhindert, steht das Selbstverhältnis der Sammlung gegenüber, dem ein ansprechbares, verfügbares Ich entspricht, dessen Verfügbarkeit nicht mit Beeinflussbarkeit zu verwechseln ist. Die Ambivalenz und die unterschiedlichen Möglichkeiten der Beziehung wiederholen sich entsprechend im Verhältnis zu anderen Menschen. Dem egozentrischen Selbstbezug korrespondiert das Eintreten für die Rechte des Egos im Verhältnis zu anderen Menschen. Dies zeigt sich besonders deutlich beim Kind, das ständig Sorge hat, zu kurz zu kommen und die eigenen Ansprüche gegen die anderer abgrenzt. Dem entspricht die Bedeutung, die der Anerkennung der eigenen Leistung durch andere zugemessen wird. Beides findet sich auch beim Erwachsenen insofern „in ihm das Kind-erleben überdauert.“217 Solches Erleben im Verhältnis zu anderen ist an das „Hierund-Jetzt“ gebunden. Der Andere ist dabei höchst ambivalent. Einerseits kann er meine Rechte und mein Können bestätigen, andererseits kann er sie in 214 Ebd., 220. 215 Ebd., 221. 216 Ebd., Aus dem Ausgeführten ist bereits deutlich geworden, dass Verfügbarkeit kein bedingungsloses sich zur Verfügung stellen meint im Sinne eines nicht Nein-sagen Könnens, das zu den oben genannten Scheinverpflichtungen führt. Diese Art von Verfügbarkeit und Selbstlosigkeit zählt zu den wenig rühmlichen Seiten christlicher Frömmigkeitsgeschichte. 217 Ebd., 236. Marcel nennt ebenda das Beispiel eines Komponisten aus Liebhaberei: „Mit bebender Stimme hat er eben ein eigenes Lied gesungen. Nun fragt ein argloser Hörer achtungsvoll: ,Von Debussy?‘ Darauf der Sänger mit gemachter Bescheidenheit: ,Nein, von mir.‘ Auch hier versucht das Ich Aufmerksamkeit, Lob und Bewunderung auf sich abzulenken, von einem anderen, der ihn als Lautverstärker dient.“
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Frage stellen und mich verkennen. Der Mensch ist dabei letztlich mit sich selbst beschäftigt, wie es das englische Wort self-conscious treffend zum Ausdruck bringt: man fühlt sich als Blickfang im positiven oder negativen Sinn. Alles dreht sich um die „vermeintlichen Gedanken der anderen.“218 Die anderen erscheinen dabei als Er und Sie, die mich beurteilen. Dies alles hat noch nichts mit Intersubjektivität zu tun, die erst dann beginnt, wenn die Habachtstellung gegenüber dem Anderen aufhört und an Stelle des Beobachtet- und Beurteilt-Werdens ein Miteinander tritt. Für Marcel gilt: „das Verhältniswort Mit ist gerade in hervorragendem Maße intersubjektiv. Es ist in der Welt der Objekte, die im ganzen eine Welt des Nebeneinander schlechthin ist, gar nicht anwendbar.“219 Sobald dieses Mit besteht, verschwindet die Bezogenheit auf sich selbst und das Kleben am Hier und Jetzt. Man ist dann zusammen mit dem Anderen bei einem gemeinsamen „Woanders“. Es wiederholt sich hier das Hingespannt-Sein auf ein anderes als man selbst, das als Bedingung zur Möglichkeit der Selbsterkenntnis begegnet ist. Dabei findet sich eine Stufenleiter des Mit und der Intersubjektivität, je nach dem Grad, in dem die Beziehung zu dem Woanders von Innenheit und schöpferischem Tätig-Sein bestimmt ist. In der Zweckgemeinschaft der Arbeiter einer Fabrik ist das Mit nur auf sehr niedrigen Stufe vorhanden, vor dem Hintergrund des „gemeinsamen Loses“ aber auch nicht von der Hand zu weisen. Findet man sich mit jemandem anderen zusammen, weil man den als Berufung empfundenen Auftrag nicht alleine bewältigen kann, ist das Mit ungleich stärker. Dabei gilt: „Der Wirklichkeitsgehalt [des Mit] reichert sich nach Maßgabe des Bekanntwerdens der Einzelnen an, die einander in der Einzigkeit ihres unterschiedlichen Seins und in der Einheit ihres gemeinsamen Geschicks erkennen.“220 Das Mit und die Intersubjektivität öffnet sich einer Haltung, die sich zum einen wie in der Kontemplation auf die Einzigkeit des Anderen richtet, und zum anderen das Sein als Sein in der Situation, die eine gemeinsame Situation ist, anerkennt. So wird dem einzelnen die Entlastung zuteil, nicht allein unterwegs zu sein, sondern auf seinem Weg Weggefährten zu haben.221 Den Abstufungen im Grade des Mit entsprechen Abstufungen im Anrufen, vom „einfachen Klingelzeichen für den dienstbaren Geist“ bis hin zum „Gebet“.222 Bei dem, was Marcel durch das Mit kennzeichnet, fließen Wir und Du, die gemeinsame Ausrichtung auf etwas und die Begegnung, in unterschiedlichen Graden ineinander. Die Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel oder das Be-
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Ebd., 237. Ebd., 238. Hervorhebung im Original. Ebd., 242. Das Sein in der Situation und das Unterwegssein waren oben als die unzertrennlich zusammen gehörenden Bestimmungen unseres Menschseins herausgestellt worden. Zur Weggefährtenschaft vgl. Rosenstock-Huessy, Seelenkunde, 777 f. 222 Ebd., 240.
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troffen-Sein von einem gemeinsames Schicksal und Leiden223 ist verbunden mit der Beziehung zwischen Menschen, die sich ihrer inneren Natur nach von der Beziehung zu Dingen unterscheidet.224 Diese Beziehung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie beide Partner in ihrem Sein nicht unverändert lässt. Sie stiftet „eine Einheit, in bezug auf welche der Dritte, der an ihr nicht teilhat, als Eindringling erscheint, als Nichteingeweihter.“225 Je mehr das sich zwischen beiden Abspielende ihr Innerstes trifft und verändert, sind es „zutiefst nicht mitteilbare […] Erfahrungen“, „die man sich scheut, mit anderen zu besprechen, die sie nicht am eigenen Leib erlebt haben.“226 Das Sprechen über solche Erfahrungen und das einander Sich-öffnen und Teilen dieser Erfahrungen bedarf des Schutzes vor beobachtenden dritten Blicken, eben weil die Innenheit von ganz anderer Natur ist als der beobachtende, zuschauende Blick.227 Diese Erfahrungen des Du und des Wir bezeichnen Bereiche, „wo die Worte Ich und Du nicht mehr zwei voneinander streng unterschiedene Kerne bezeichnen, zwischen denen lediglich Beziehungen objektiver Art durch beiderseits gesendete Signale herstellbar sind.“228 Diese Unmittelbarkeit der Begegnung ist wie bei Buber mit Gegenwärtigkeit verbunden, die vom Hier und Jetzt des beobachtenden Blicks zu unterscheiden ist. Marcel verdeutlicht dies wiederum an Unterschieden im Erleben. Es kann sein, dass ich gemeinsam mit einem anderen Menschen in einem Raum bin, der mir dennoch unendlich weit entfernt vorkommt. Ich kann Verbindung zu dem anderen Menschen aufnehmen: „Die grobstoffliche Verbindung von ihm zu mir ist sichergestellt, allerdings nur diese, durchaus vergleichbar jener, die zwischen zwei Stationen
223 Marcel verweist häufig auf das für ihn und seine Zeitgenossen historisch gegenwärtige Beispiel der Frontkämpfer und Kriegsgefangenen. Ebd., 242 u. ö. 224 Der Begriff Beziehung ist im Fall der inneren Beziehung zwischen Menschen in seiner metalogischen Bedeutung zu erfassen. Die logische Bedeutung besteht darin, dass Begriffe nicht für sich stehen können, sondern in ihrer Bedeutung durch die Beziehungen, die sie untereinander eingehen, bedingt sind. Dies ist auch die logische Bedeutung des Verweisungscharakters des Zeichens, womit sich wiederum bestätigt, dass Anrede und Zeichen zwei nicht aufeinander reduzierbare Aspekte der Sprache sind. Der Angeredete ist Interpretand, indem er das Zeichen aktuell deutet, und steht damit in dem logischen Verhältnis der Zeichenrelation. Zugleich kann er als Angeredeter an der inneren Beziehung partizipieren. 225 Marcel, Geheimnis, 243. Dem entspricht bei Buber die Ausschließlichkeit der Ich-Du Beziehung, vgl. Theunissen, Der Andere, 311. 226 Marcel, Geheimnis, 243. Marcel bezieht sich hier vor allem auf leidvolle Erfahrungen im Zusammenhang des Krieges, aber auch auf die Einheit, die zwei Brüder über ihre gemeinsame Liebe zur Musik gefunden haben, wie er sie in seinem Schauspiel „Quartett in Fis-Dur“ beschreibt. Vgl. Marcel, Quartett. 227 Die gegenwärtige Vermischung dieser Bereiche führt zu dem tragischen Versuch, ,echtes‘ Leben durch Zerren zwischenmenschlicher Belange in die Öffentlichkeit des Fernsehens wieder zu gewinnen. 228 Marcel, Geheimnis, 244. Dem entspricht bei Buber die Unmittelbarkeit der Begegnung.
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hergestellt werden kann, einem Sender und einem Empfänger.“229 Dennoch fehlt das Wesentliche, es ist eine „Verbindung ohne Verbundensein“.230 Der andere vernimmt unzweifelhaft die Worte, die ich spreche, mich selber aber vernimmt er nicht. Und ich kann sogar den äußerst peinlichen Eindruck haben, mich in meinen Worten, wie er sie mir wiedergibt, wie sie sich in ihm spiegeln, nicht wiederzuerkennen. Zufolge eines seltsamen Phänomens schiebt sich der andere so zwischen mich und meine eigene Wirklichkeit, er entfremdet mich gewissermaßen mir selbst, ich bin nicht wahrhaft ich, wenn ich mit ihm bin. Hingegen kann es zufolge eines umgekehrten Phänomens geschehen, daß mich der andere innerlich sozusagen erneuert, wenn ich ihn gegenwärtig fühle. Solche Gegenwärtigkeit macht mich mir selber offenbar, denn sie macht mich reicher, als ich ohne sie wäre.231
Buber spricht davon, dass das Ereignis der Begegnung nicht nur von meiner Haltung, sondern auch von der des anderen abhängt. Ich bin in der Beziehung zum Anderen auf Gnade angewiesen. Dies zeigt sich in der Beschreibung Marcels. Nur wenn der Andere sich auf mich in meiner Einzigkeit richtet, kann das Innerste in mir angesprochen werden, so dass ich mir selber offenbar werde. Geschieht dies nicht, kann ich mich selbst nur aus den Worten des Anderen und seinem Verhalten mir gegenüber deutend erschließen. In diesem Sinne schiebt der Andere sich zwischen mich und mein eigentliches Selbst. Im Zwischenmenschlichen liegt die Verheißung, nicht allein leben zu müssen, zugleich aber die Gefahr der Entfremdung von mir selbst. Im Gelingen bin ich auf den Anderen angewiesen. „Gegenwärtigkeit kann nur willkommen geheißen (oder abgewiesen) werden“.232 Der Akt, durch den ich mich auf ein Objekt beziehe und der, durch den ich mich auf Gegenwärtigkeit einstelle, sind wesensmäßig verschieden. Das Beispiel zeigt, dass das Selbstverhältnis und die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht voneinander getrennt werden können. Das Selbstverhältnis, von dem Marcel ausgeht, führt von selbst zur Intersubjektivität, je mehr ich mich auf meine Erfahrungen einlasse. Der egozentrische Mensch ist demgegenüber jemand, der seine Erfahrungen nicht zu meistern vermag. Solange eine egozentrische Erwägung Macht über mich hat, schließt sie mich vom Anderen ab, wobei unter dem Anderen das Leben, die Erfahrung des Anderen zu verstehen sind. Zugleich freilich – und darin besteht das Paradoxon – verdecke ich gewissermaßen meine eigene Erfahrung, denn meine Erfahrung ist ja mit der anderen real verbunden. Von dieser kann ich nicht abgeriegelt werden, ohne es von 229 230 231 232
Ebd., 273. Ebd. Ebd., 274. Hervorhebung im Original. Ebd., 277. Hervorhebung im Original.
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jener zu sein. Anders ausgedrückt: das Egozentrische schlägt stets mit Blindheit. Es gibt aber kein Blindsein, das nicht umfassend wäre.233
Umgekehrt gilt, dass das vollständige Selbstbewusstsein nicht sich selbst zum Zentrum haben kann, es „kann nicht heauto-zentrisch“, es muss „hetereozentrisch sein“: „Vom Anderen oder von den Anderen her – und allein von ihnen her können wir uns verstehen.“234 Die Intersubjektivität als Bereich „einer erlebten Fülle“ ist daher die Grundlage für Marcels ontologische Untersuchung, die damit im Innersten einen „antikartesianischen Grundzug“ hat:235 „Sie ist eine Metaphysik des ,wir sind‘, im Gegensatz zur Metaphysik des ,ich denke‘.“236 Marcel verweist in diesem Zusammenhang auf seinen Gegenspieler Sartre, der wegen des fehlenden theologischen Schlusssteins einen „verstümmelten Kartesianismus“ betreibe. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass der Andere ausschließlich in der Perspektive der Bedrohung meiner Rechte und meiner Freiheit vorkommt, auf den Punkt gebracht in dem Satz: „Die Hölle sind die anderen.“237 Die Grundlage der Metaphysik ist damit bei Marcel etwas nicht Feststellbares, aber doch auf Grund von Erfahrung Erkennbares.238 Der „intersubjektive Nexus“, „in den ich doch gewissermaßen einbeschlossen bin“,239 kann mir nicht gegeben sein, er ist vielmehr die Bedingung dafür, dass mir etwas gegeben ist, zumindest die Bedingung, dass mich das Gegebene anspricht.240 Weil nicht 233 234 235 236 237
Ebd., 302 f. Ebd., 303. Hervorhebung im Original. Ebd., 304. Ebd. „Sartre nun hat sich selbst in eine mißliche Lage gebracht: er sieht im Anderen lediglich die Bedrohung meiner Freiheit, oder bestenfalls eine Verführungsmöglichkeit, von der schwer zu sagen ist, wie sie nicht in sadistischem oder masochistischem Sinn zu deuten wäre. Wenn der Verfasser von ,Huis-Clos‘ schreibt: ,Die Hölle sind die anderen‘, so hat er damit seine Unfähigkeit eingestanden, die Philia oder Agap in den Griff zu nehmen – sei es nun aus Gründen, die sich von der existentiellen Psychoanalyse herleiten, oder einfach zufolge seiner metaphysischen Postulierungen. Zu guter Letzt ist ihm einzig die überaus fragwürdige Sphäre des Eros zugänglich, allenfalls die einer Arbeitsgemeinschaft, in der sich Belegschaften bilden, die durch das Bewußtsein zu leistender Aufgaben zusammengehalten werden. So muß es wohl sein. Es könnte anders nur sein, wenn er sich – ausdrücklich oder nicht – von seinen ontologischen Grundsätzen lossagte, vom radikalen Widerstand des Für-sich-Seins, das definitionsgemäß die Intersubjektivität im strengen Sinne, die ich diesem Wort gab, unmöglich macht, wenn Sie also wollen: daß wir für andere aufgeschlossen sind, ihnen unser Herz öffnen und eben damit uns selbst zugänglicher werden.“ Ebd., 304 f. 238 Vgl. Ebd., 308: „Die ungeheure Schwierigkeit, die wir hier zu bewältigen haben, rührt daher, daß sich das Denken unter dem Druck der idealistischen Lehrmeinungen, denen es nur mit allergrößter Mühe entsagt, von den Objekten gewöhnlich bloß abzuwenden vermag, um seine ganze Aufmerksamkeit entweder dem ,ich denke‘ zu schenken, oder eine noch unklareren Modalität davon, etwas dem ,ich fühle‘ oder ,ich lebe‘. Hier nun wird uns offenbar eine ganz anders geartete Bemühung abverlangt. Als ob wir uns abseits der Insellage des Ichs anzusiedeln hätten, mittendrin im Element, aus dem diese Insel emportaucht.“ 239 Ebd., 306. 240 Ebd., 308.
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feststellbar, ist das Intersubjektive auch nicht als dies oder das bezeichenbar. Es ist ein „Mitgemeintes, das ein Mitgemeintes bleibt, auch und gerade wenn ich mein Denken darauf hinzurichten trachte.“241 Der Begriff Nexus ist dabei insofern unangemessen, als die Ebene der reinen Bezüge zu überschreiten ist, hin zu einem lebendigen Eins-Sein. Es geht bei der Intersubjektivität um „die Gegenwärtigkeit eines gefühlten Untergrunds“, „einer tief im Ontologischen wurzelnden Gemeinschaft“.242 Dem steht wiederum die Auffassung Sartres entgegen, der sagt: „Des Menschen Losung ist das Leisten, sich im Leisten selbst zu leisten und nichts sonst zu sein, als wozu er sich leistet.“243
4.3.8.3 Das Gottesverhältnis Die ontologische Untersuchung führt zu Bestimmungen, die auch für die Gotteserkenntnis charakteristisch sind. Es geht um etwas nicht Feststellbares und nicht als dies oder das Bezeichenbares. Entscheidend für unsere Frage des Erfahrungsbezugs ist dabei, dass dies nicht aus dem Gottesbegriff und einem Begriff absoluten Seins gefolgert wird, sondern die Grundlage der Untersuchung eine „erlebte Fülle“ ist, deren Eigenart und Bedingungen nachgegangen wird. Welche Elemente dieser Erfahrung veranlassen aber dazu, nicht nur vom Sein als der Realität zu sprechen, die mich als Selbst begründet, sondern von Gott? Insofern die Realität, die mich als Selbst begründet, als Anruf erfahren wird, verweist sie letztlich auf den mich rufenden Gott. Wieder stellt sich wie bei Buber die Frage, was den Fortgang vom Du zum absoluten Du rechtfertigt. Ausgangspunkt ist bei Marcel das Selbstverhältnis und die Frage „Wer bin ich?“. Die Beantwortung dieser an mich selbst gestellten Frage wirft allerdings einige Probleme auf. Bin sich selbst überhaupt berechtigt, diese Frage letztgültig zu beantworten? „Jeder von uns hat wohl festzustellen vermocht, daß es Stunden gibt, in denen wir das Gefühl haben, in uns selbst gleichsam inmitten eines Labyrinths zu sein. Und dann verlassen wir uns auf einen anderen, den nächsten Freund etwa, den treuesten Weggefährten, der uns herausführen, 241 Ebd., 311. 242 Ebd., 313. Für Marcel ist zwar die Intersubjektivität nicht einfach mit dem Sein ein und dasselbe. Umgekehrt aber gilt: „ein dem Sein zugewandtes Denken hüllt es wieder in die intersubjektive Gegenwärtigkeit, an deren Austreibung sich die Philosophie monadischer Prägung mit dem willkürlichsten aller Gewaltstreiche gemacht hatte. Es sei übrigens daran erinnert, dass es bei der Beschaffenheit des monadischen Universums schwer fällt, sich vorzustellen, wie die Monadologie selbst darin Wurzeln zu schlagen vermochte. Setzt sie doch eine Art inter-monadischen Grundes voraus, dessen Möglichkeit sie ja ganz offenbar ausdrücklich leugnet, zum wenigsten dort, wo sie mit äußerster Strenge auftritt. Vielleicht ließe sich obendrein zeigen, wie folgerichtiges monadologisches Denken dazu führt, den Bereich des Möglichen zum Schaden des Seins – dieses in seiner geheimnisvollen Positivität genommen – zu überlasten.“ Ebd., 312 f. 243 Ohne Stellenabgabe zitiert Ebd., 235.
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also zur Selbsterkenntnis verhelfen soll.“244 Damit verschiebt sich aber letztlich nur das Problem, denn immer noch bin ich es, der den Freund oder auch einen vermeintlich objektiv Beurteilenden zum Urteil ermächtigt. Werde ich mich dieser meiner Macht bewusst, verspüre ich „gute Lust, das Urteil in Zweifel zu ziehen, dem ich mich kurz zuvor noch hatte beugen wollen.“245 Diese Überlegungen machen verständlich, „warum der Gedanke einer objektiv gültigen Antwort auf die Frage ,Wer bin ich?‘ – oder anders ausgedrückt: ,was bin ich wert?‘ – ein Widerspruch in sich sei. Diese Frage ist im Menschlichen unlösbar.“246 Dies ist auch insofern einsichtig, als das, was ich bin, wesentlich von den Anrufen abhängt, die an mich ergehen und meiner Freiheit, auf sie zu antworten. Mein Sein ist bestimmt als Sein in der Situation und als Unterwegs-Sein. Meine Erfahrung und mein Erleben hat immer wieder mit meinem Sein und seiner Bestimmung zu tun, die Ganzheit meines Seins ist aber im Erfahren nicht fassbar. „Dieser Anruf [Wer bin ich?] ist supra-empirisch, er ergeht jenseits aller Erfahrung an den Einen, der nur als absolutes Du betrachtet werden kann, als letzte Zuflucht für den ruhelosen Menschengeist.“247 Die Frage „Wer bin ich?“ steht in engem Zusammenhang mit dem, was Marcel als glauben an bestimmt. Es ist dabei an die oben erwähnte Verfügbarkeit zu denken, als meine Seite in dem Geschehen, in dem mein Selbst gerufen und bestimmt wird. „Glaube ich an, so heißt das, daß ich mich selbst zur Verfügung stelle oder auch eine grundlegende Verpflichtung eingehe, die nicht allein das betrifft, was ich habe, sondern auch, was ich bin.“248 Glauben an ist somit die Verfügbarkeit, die sich an ein bestimmtes Gegenüber richtet, ein Gegenüber, von dem ich erfahren habe und erwarte, dass es zur Fülle des Seins ruft und das Leben als Gabe erfahren lässt. Von diesem Gegenüber kann man sagen, „es sei jedenfalls eine personelle oder suprapersonelle Realität“, wobei für Marcel zwischen dem Personellen und dem Suprapersonellen kein Gegensatz besteht: „Ich möchte vielmehr annehmen, das Personelle sei eigenständig es selbst bloß kraft dessen, was in ihm den Rahmen sprengt, worin es als ego schlechtweg immer gefangen zu sein droht.“249
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Ebd., 202. Ebd., 203. Ebd. Ebd., 207. Ebd., 384. Hervorhebung im Original. Ebd., 386. Hervorhebung im Original.
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Konsequenzen für die Aufgabe einer erfahrungsnahen Predigtsprache
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4.4 Konsequenzen für die Aufgabe einer erfahrungsnahen Predigtsprache Angesichts einer homiletischen Arbeit mag die relativ ausführliche Beschäftigung mit Buber und Marcel überraschen. Sie steht aber in direktem Dienst einer erfahrungsbezogenen Predigtsprache, indem sie unterschiedliche Erfahrungsarten herausarbeitet, die sich einem Gott zugewandten und einem vor Gott und der Gnade verschließenden Leben zuordnen lassen. Dabei entsteht nun nicht etwas nach der Art einer gleichmäßig sich in zwei Hälften teilenden Fläche, die durch logische Opposition konstituiert ist, sondern ein komplizierteres Gebilde, in dem zwei nicht voneinander ableitbare Ebenen ineinander greifen, wobei die beiden Ebenen von gänzlich unterschiedlicher Art und Beschaffenheit sind. Bevor ich im nächsten Kapitel versuche, einen Entwurf einer hermeneutischen Homiletik zu skizzieren, soll zusammenfassend festgehalten werden, inwiefern die dargestellten philosophischen Überlegungen der homiletischen Theorie und Methode hinsichtlich des Erfahrungsbezug der Predigtsprache zu gute kommen.
4.4.1 Zur Begründung der Forderung nach konkreter Predigt Die Forderung konkreter Predigt ist, wenn nicht in jeder homiletischen Theorie, so doch in der praktischen Ausbildungsphase von Pfarrerinnen und Pfarrern zentral. Die Hörerinnen und Hörer sollen die Predigt mit ihrem Leben in Verbindung bringen können. Die Konkretion und die Anschlussfähigkeit an die eigene Erfahrung sind letztlich ausschlaggebend, ob der Hörer dem Gesagten Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt beimisst. Diese Argumentation kann durch die rezipierte Philosophie unterstützt und erweitert werden. Sie erlaubt, einen klaren Trennungsstrich zu ziehen zwischen bloßer Veranschaulichung und der eigentlich in Frage stehenden Konkretion. Das Anbringen von Beispielen im Sinne einer Veranschaulichung des bereits Gesagten dürfte in der Praxis die häufigste Form des Scheiterns an der Konkretion sein. Die Vorstellung der Veranschaulichung impliziert, dass der gemeinte Sachverhalt auch ohne veranschaulichende Beispiele verstanden werden kann. Etwas zugespitzt gesagt, soll dem theologisch und vielleicht auch intellektuell etwas unbedarften Laien mit eingängigen Bildern und Beispielen erklärt werden, was an sich auch ohne diese Bilder fassbar ist. Marcel hat aber gezeigt, dass Erfahrungen und Lebensphänomene, je mehr sie mit der für den Glauben wesentlichen Innenheit zusammenhängen, um so weniger im abstrakten Raum logischen Schließens zugänglich sind. Das konkrete Beispiel ist hier keine zusätzliche Veranschaulichung, sondern der notwendige Boden, von dem allein aus Erkenntnis gewonnen werden kann. Nur durch das kon-
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krete Beispiel kann die Sprache des Glaubens verstanden werden, die uns nur insofern angeht, als wir in der Situation stehen und unterwegs sind. Das allein theologisch Richtige und in sich Schlüssige hat sich von seinem Entstehungsboden verselbstständigt und spricht genau genommen nur noch dann Wahrheit aus, wenn für den Hörer der Zusammenhang mit der Erfahrung gegeben ist. Je mehr dieser Zusammenhang verloren gegangen ist, und theologische Rede als allenfalls in sich schlüssige Fremdsprache verstanden wird, kann die Predigt nur den Weg über konkrete Beispiele gehen, um von der Erfahrungsgrundlage aus den Sinn der Sprache des Glaubens neu zu erschließen. Alles Festhalten an eingeübten Formeln der Glaubenssprache und theologischen Argumentationsmustern, zu denen Beispiele nur die Veranschaulichung sind, ist demgegenüber der Tendenz nach Zeichen einer, wenn auch vielleicht nicht bewussten, Abschottung vor der Wirklichkeit und des Rückzugs in die Selbstbestätigung einer Sonderwelt.250
4.4.2 Anerkennung von Ambivalenz als Bedingung von Wirklichkeitsnähe Angesichts vieler enttäuschender, mit Sinnlosigkeit und Leid konfrontierender Erfahrungen von Menschen mag man sich dazu veranlasst fühlen, die positiven Seiten des Lebens, wie sie sich im Lichte des Glaubens zeigen, besonders deutlich herauszustellen. Diese Reaktion ist verständlich und kann selbstverständlich auch gelingen, birgt aber viele Gefahren. Nicht selten kann das so Angepriesene nur als formelhafte billige Vertröstung gehört werden, die mit den eigenen Erfahrungen um so weniger in Einklang gebracht werden kann, als einseitig das Positive betont wird. Im besten Fall ist die Botschaft dann das Wachhalten einer anderen, besseren Gegenwelt, ohne dass allerdings deutlich würde, wie ein Weg in diese Welt gegangen werden kann. Wenn es nicht so günstig läuft, wendet sich der Hörer früher oder später enttäuscht von der Botschaft ab. Es ist daher m. E. von grundlegender Bedeutung für die Wirklichkeits- und Erfahrungsnähe der Predigtsprache, der Ambivalenz der Lebensphänomene möglichst gerecht zu werden. Zu Recht kann man z. B. im Anschluss an Buber von der Begegnung als einem Lebensphänomen sprechen, in dem Fülle und Sinn liegen. Man sollte aber dabei nicht vergessen, das viele die Begegnung mit anderen Menschen als Situation des Beurteilt- und UnterDruck-gesetzt-Werdens im Sinne Sartres erleben. Ähnlich verhält es sich mit der Berufung und Übernahme von Aufgaben. Der „echten“ Berufung, die meinem Leben Sinn und Ziel verleiht, steht das Unvermögen „Nein“ zu sagen und die im Arbeitsprozess oft unvermeidbare Übernahme von Verpflichtungen gegenüber, die mich von mir selbst entfremden. Von selbst treibt diese 250 Das Kind ist aber auch hier nicht mit dem Bade auszuschütten. Man kann sich auch im positiven Sinne in die Glaubenssprache der Mütter und Väter flüchten, die für uns spricht, wo wir selbst noch nicht verstanden haben.
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Problematik wiederum in die Konkretion. In konkreter Beschreibung kann die negative Erfahrung aufgenommen und die positive von ihr unterschieden werden. Besonders hilfreich für die Erfahrungsnähe und Plausibilität dürften die Stufenleitern von einem Erfahrungspol zum anderen sein, wie sie sich immer wieder bei Marcel finden. Die einander diametral gegenüber stehenden Extreme sind zwar eindrücklicher, die Erfahrungen des Lebens spielen aber häufiger im Bereich der Zwischentöne. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Erfahrungsnähe sind die unterschiedlichen Kräfte, die in die eine oder andere „Richtung“ ziehen.
4.4.3 Direkt und indirekt wirksame Kräfte Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Erfahrung des Glaubens die zunächst unwahrscheinlichere, flüchtigere ist, und die entgegengesetzte die handfest sich aufdrängende. Dies gilt ganz allgemein und kommt in klassischen Formulierungen wie „Erfahrung wider alle Erfahrung“ oder Luthers „verborgen unter dem Gegenteil“251 zum Ausdruck. Der Umgang mit Dingen und Menschen in der Ich-Es Relation ist vom handelnden Subjekt aus überschaubar und prinzipiell kontrollierbar. Von daher ist die zentrale Kraft, die in diese Richtung drängt, der Wille, sich durchzusetzen und Macht auszuüben. Freilich macht der Wille zur Machtausübung und Selbstbehauptung auch vor dem spirituellen Bereich nicht halt und führt dort zu dem bekannten Phänomen, dass die Sünde der Selbstbehauptung gerade in der scheinbar frömmsten Haltung versteckt sein kann. Umgekehrt ist die Subjekt-Objekt Relation nicht per se böse, ihre Betätigung kann und soll im Dienste des Nächsten und der Allgemeinheit stehen. Dennoch hat der von anderen Zwecken abgekoppelte Wille zur Macht eine natürliche Affinität zur Ich-Es Relation, insofern er dazu führt, von Gott und vom Anderen und damit auch von sich selbst abgeriegelt zu sein. Dies zeigt, dass der Wille zur Macht im Bereich des Spirituellen und Religiösen letztlich eine unter dem Kleid des Du versteckte Ich-Es Relation ist. Umgekehrt setzt die Erfahrung des Du dem Willen zur Selbstbehauptung und Macht eine klare Grenze. Sie lehrt die Angewiesenheit auf die Gnade des Anderen. Im Zentrum der Erfahrung des Du und der Intersubjektivität als für unser Sein bestimmend steht damit etwas, was dem Willen zur Macht zutiefst widerspricht. Der direkte Gegensatz zum Willen zur Macht ist darum die Demut im Sinne der Einsicht und Anerkenntnis, dass ich allein aus mir selbst nichts bin.252 Was ich in Anlehnung an Marcel, der Nietzsches Ausdruck aufnimmt,253 als 251 Dies darf freilich nicht im Sinne einer logischen Opposition missverstanden werden. Vgl. Ebeling, Luther, 259 ff. 252 Vgl. Marcel, Geheimnis, 394. 253 Vgl. Ebd., 39 ff.
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Wille zur Macht bezeichnet habe, hat unterschiedlichste Erscheinungsformen und wird für viele heute eher in der Form des Auf-sich-allein-Zurückgeworfen-Seins und in dem Gefühl erfahren werden, alles aus eigener Kraft schaffen zu müssen. Aus theologischer Sicht ist der Kern all dessen die Sünde als der Versuch und Wille, aus sich selbst und nicht aus Gott zu leben. Aus diesem Blickwinkel ist unmittelbar einsichtig, dass Überheblichkeit und Verzweiflung zwei Seiten einer Medaille sind. Für die Erfahrung ist in jedem Fall kennzeichnend, dass Sünde vor den anderen und letztlich auch vor sich selbst und einem als sinnvoll erfahrenen Leben verschließt. Der Verschlossenheit entspricht eine mehr oder weniger deutliche Verkrampfung oder Verspannung, die nichts mit der Hinspannung auf eine Aufgabe und ein Ziel zu tun hat. Die Kräfte, die in die andere Richtung ziehen, sind ihrer Zugewandtheit zur Vielfalt des Lebens entsprechend vielfältiger. Man kann sie mit der Sprache des Glaubens als Glauben, Lieben und Hoffen zusammenfassen. Aus diesem weiten Feld möchte ich an dieser Stelle nur die für unseren Zusammenhang charakteristische Verbindung von Liebe und Wahrheit herausgreifen, die sowohl bei Marcel als auch bei Ebeling begegnet. Der Zusammenhang von Liebe und Wahrheit knüpft an das oben zur Kontemplation Gesagte an. Das Beispiel des Kaiser Augustus in der Tragödie Cinna hatte dort ein Wahrheitsverständnis gezeigt, das mit Selbsterkenntnis, mit der Wahrheit über mich selbst und dem Wahr-Werden meines Lebens zu tun hat. Ein solches Wahrheitsverständnis, das mit der „adaequatio rei et intellectus“ und der bloßen Richtigkeit einer Aussage nichts zu tun hat, kann für Marcel allein Aussagen wie „die Liebe leite uns zur Wahrheit“ oder „jemand habe sich für die Wahrheit aufgeopfert“ verständlich machen.254 Die Wahrheit im Sinne des In-der-Wahrheit-Seins und der Wahrheit über sich selbst ist das Gegenteil von Lebenslügen und der Blindheit des Egozentrischen. Marcel vergleicht sie einem Licht, das wie die Anrede von außen und doch aus meinem Inneren kommt.255 „Die Wahrheit vermag zu blenden gleich dem Licht, das schmerzt, wenn man hineinschaut: so pflegt man aber auch zu sagen, wer es absichtlich nicht sehen wolle, der schlage sich selbst mit Blindheit, und dergleichen mehr.“256 Im Gegensatz zur Wahrheit, die das Urteil über einen außer mir liegenden Sachverhalt betrifft, bin ich durch die 254 Ebd., 86. 255 Dies entspricht dem oben bereits angesprochenen Sachverhalt, dass die Berufung, die an mich ergeht, zugleich von außen und aus der Tiefe meines eigenen Inneren kommt, wodurch sie von Verpflichtungen, die mich von mir selbst entfremden, unterscheidbar wird. Es geht dabei letztlich um die Unterscheidung des von der Innenheit und damit auch von der Intersubjektivität bestimmten Ich von dem für-sich sein wollenden Ich. Marcel drückt dies in seinen Ausführungen über das ,Licht der Wahrheit‘ so aus, dass nicht von den Tatsachen an sich ein Licht ausgeht, sondern dass das Ich den Tatsachen ein Rückstrahlungsvermögen verleiht, wobei dieses Ich von dem Ich zu unterscheiden ist, „das sich dem Durchleuchtetwerden durch diese Kraft versagt.“ Ebd., 95. 256 Ebd., 92.
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Selbsterkenntnis im Höchstmaß in meist desillusionierender Weise betroffen. Weil mein die narzisstische Kränkung scheuendes Ich vor der Wahrheit flieht, bedarf es der Liebe als Gegenkraft. Dabei ist wohl das Vermeiden des Lichts der Wahrheit als das Normale anzusehen, das nicht unbedingt als manifeste Lebenslüge auftreten, sondern in verschiedenen Zwischentönen erscheinen kann.257 Wie aber ist das zu begreifen, dass die bloßstellende und schmerzliche Wahrheit, der man ins Auge sehen können muss, geliebt werden kann? Marcel verweist dazu darauf, dass diese Wahrheit trotz allem auch Erleichterung mit sich bringt: „gerade wenn ich lange Zeit hindurch einer peinlichen Wahrheit ausgewichen bin, vermag ich in der Aufgeschlossenheit für sie wahre Erleichterung zu finden. Woran sonst sollte diese Erleichterung liegen, als daran, daß sie einem aufreibenden und aussichtslosen Kampf ein Ende setzt.“258 Dieser Kampf ist letztlich ein Kampf mit sich selbst: „das wünschende Ich stemmt sich gegen den Wahrheitssinn“.259 Im Lichte des weiter oben über die Kontemplation Gesagten könnte man sagen, der Wahrheitssinn bleibt gegen das wünschende Ich lebendig, weil nur so das Ich in Einklang mit sich selbst kommen kann. Je mehr man dem Licht der Wahrheit verschlossen und in seiner zurechtgemachten Welt eingesponnen ist, desto weniger ist man im Sinne der Anrede und Innenheit verfügbar. Die Liebe zur Wahrheit ist also die Kraft, die mich zum einen zu meinem wahren Selbst führt, was zugleich aber auch bedeutet, dass sie mich dem Anderen und der Intersubjektivität gegenüber öffnet. Der Zusammenhang zwischen Wahrheit und Liebe besteht also auch andersherum in dem Sinne, dass das Wahr-Werden egozentrische Blindheit abbaut und Liebe ermöglicht.260 Man könnte sagen, dass die Liebe 257 Marcel beschreibt dies wie folgt: „Ehe wir weitergehen, muß festgehalten werden, daß sich die Mehrzahl aller Menschen Zeit ihres Lebens zwischen den Gegebenheiten der eigenen Existenz hindurchtasten, wie man sich in einem dunklen Zimmer Schritt für Schritt durch schwere Möbel findet. Es mag das Tragische ihres Loses gerade darin liegen, ihr Dasein wohl nur deshalb ertragen zu können, weil es sich in solchem Zwielicht abspielt. Es ist so, als hätte sich ihre Sehkraft dem Halbdunkel schließlich angepaßt. Nicht ganz die Lebenslüge, wie sie Ibsen in der ,Wildente‘ dargestellt hat, eher ein Zustand des Nichtsehens, der andererseits wieder mit absoluter Unbewußtheit nichts zu tun hat. Es ließe sich auch sagen, ihre Aufmerksamkeit sei nicht an diese Gegebenheiten ihrer Existenz gewandt, sie richteten sich viel mehr so ein, auf anderes zu achten, und dieses ,So-einrichten‘ sei gleichsam die geheime Triebfeder, die uns das Leben erträglich macht.“ Ebd., 94. 258 Ebd., 101. 259 Ebd. 260 Marcel nennt das Beispiel der Eltern, die der Wahrheit ins Auge sehen müssen, dass ihr Sohn, in den sie so große Hoffnungen gesetzt haben, nicht ganz normal ist. Die selbstgewählte partielle Blindheit, welche vor Desillusion bewahrt, könnte zunächst auch als von der Liebe eingegebenes Festhalten am eigenen Kind erscheinen. Solche blind machende Liebe dürfte sich jedoch bei näherem Zusehen als scheinbare Liebe erweisen. Denn erst wenn die Eltern der Wahrheit ins Auge sehen, bewahren sie zum einen das Kind durch falsche Erwartungen vor Verbiegungen, zum anderen kann dann erst die Liebe auf den Plan treten, die an der erkannten und anerkannten Last des Kindes mitträgt. Zu unterscheiden, wann die Liebe noch nicht realisierte Möglichkeiten eines Menschen wachrufen kann und wann sie im Namen der Wahrheit Grenzen anzuerkennen hat, ist freilich im Einzelfall schwierig. Vgl. Ebd., 99 f.
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zur Wahrheit dem Verlangen entspricht, sich selbst, dem Anderen und einem als sinnvoll und erfüllt erlebtem Sein näher zu kommen.261 Zusammenfassend262 kann man vielleicht sagen, dass das wünschende und sich behaupten wollende Ich, das in seiner Macht und Unverwüstlichkeit jedem in der Erfahrung zugänglich ist, und die Liebe zur Wahrheit den Kern des Gegensatzpaares der direkten Kräfte bilden, die in die eine oder andere Richtung ziehen und damit auch die entsprechenden Erfahrungen begünstigen und hervorrufen. Demgegenüber ist nun die Bedeutung der von mir „indirekt“ genannten Kräfte zu betonen, die ausschließlich gegen den Glauben und die mit ihm verbundenen Erfahrungen stehen. Mit der Bezeichnung „indirekt“ möchte ich zum Ausdruck bringen, dass sie nicht ohne weiteres mit den Bestrebungen des wünschenden und sich behaupten wollenden Ich in Verbindung gebracht werden können. Ich meine damit die mehr oder weniger allgemein anerkannten Vorstellungen und Begriffe vom Leben, die Erfahrungen nach Art der Innenheit nicht vorsehen. Sie gehen gemäß meiner Anfangsthese auf die Dominanz des wissenschaftlichen Denkens zurück. Die geschichtliche Entwicklung nachzuvollziehen, die zu dieser Dominanz geführt 261 Marcel nennt die Liebe zur Wahrheit „so etwas wie eine geheime Freude darüber“, sich in der intelligiblen Umwelt zu bewegen (ebd., 111). Intelligibel meint in diesem Zusammenhang im Sinne der Innenheit den Gegensatz zu jeglicher Verstofflichung der Bezüge zwischen dem Ich und den Tatsachen. An späterer Stelle merkt Marcel an, dass „intelligible Umwelt“ vom Blickpunkt der Wahrheitsfrage aus dasselbe meint wie Intersubjektivität, wo es um die Frage des Seins geht. 262 Wie Marcel versteht Ebeling Wahrheit nicht nur als Urteil im Sinne der Übereinstimmung einer Aussage mit ihrem Sachverhalt. „In der Sprache steht die Wahrheit in umfassenderem Sinn auf dem Spiel als allein in der Form der Richtigkeit einer Aussage. Ohne den Zusammenhang mit der Sprache zu verlieren hat Wahrheit einen Bezug zum Sein“. Ebeling, Dogmatik Bd. 2, 116. Während Marcel die dem wünschenden Ich widerstreitende Selbsterkenntnis in den Blick nimmt, hat Ebeling eher das Wahr-Machen des gegebenen Wortes im Blick, womit von vorneherein die Ebene der Innenheit und der Intersubjektivität anvisiert ist. Auch hier zeigt sich nun ein besonders enger Zusammenhang von Wahrheit und Liebe, wie Ebeling ihn besonders in seiner Einführung betont. Ebeling geht es dabei darum, dass Wahrheit und Liebe im Sinne des Glaubens nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Es scheint zwar bisweilen so, als ob um der Liebe willen Wahrheit verschwiegen werden muss, oder umgekehrt, dass um der Wahrheit willen die Liebe suspendiert werden muss: „Die Liebe kann die Wahrheit gefährden und die Wahrheit kann die Liebe gefährden. Und ich wäre bereits nicht völlig bei der Wahrheit, wenn ich mich ihr aus anderem Grund verpflichtet fühlte als allein um der Wahrheit willen. An all dem ist wohl Richtiges. Eben darum ist die Beziehung von Wahrheit und Liebe nur dann ganz fest zu knüpfen, wenn um der Wahrheit willen die Verpflichtung zur Liebe gilt. Das verdeutlicht, was es mit der Wahrheit auf sich hat, der um Jesu willen die Sprache des Glaubens verpflichtet ist.“ Ebeling, Einführung, 242 Was hier bei Ebeling aus der Orientierung an Jesus als dem Kriterium des Glaubens gefolgert und mehr angedeutet als ausgeführt ist, hat Sinn, wenn wahr-werden bedeutet, den an mich ergehenden Rufen nicht auszuweichen und mit der Antwort meines Wesens meinen Anteil am intersubjektiven Geschehen wahr zu machen. Dieses Wahr-Machen ist dann zugleich Akt der Liebe. In dieser Perspektive wird verständlich, dass auch Gnade und Wahrheit keine Gegensätze sind. Die Gnade deckt nicht das verkehrte Leben in Unwahrheit zu, sie führt hin zum Leben in der Wahrheit, das zugleich Leben aus Gnade und in Liebe ist.
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hat, ist hier nicht möglich und nötig. Dabei mögen die direkten Kräfte ihre Rolle gespielt haben. Dennoch halten die Folgen dieser Entwicklung – die Erfahrungen der Entfremdung, die Verdunkelung der Erfahrung von Gnade und Freiheit, die Erfahrung der Abwesenheit Gottes, die entsteht, weil man nicht mehr weiß, wo Gott zu suchen ist – die Menschen auf der Seite der Ich-Es Relation fest, unabhängig davon, ob sie ihr Ich behaupten wollen oder sich nach Begegnung sehnen. Die Vorstellung davon, was Erfahrung ist und sein kann, und die Erfahrungen, die daraufhin gemacht werden, bedingen einander. Hierin zeigt und bestätigt sich die Bedeutung der Reflexion und des Denkens als integraler Bestandteil unseres Seins. Das Denken ist kein vom Menschen unabhängiges Werkzeug. Beim Denken geht es nicht nur um Ergebnisse, die unabhängig vom Denkprozess gehandhabt werden können, das Denken ist vielmehr wesentlich mit entscheidend für unsere Art des Seins in der Situation. Es ist vor allem das nach den Gesetzen der Kausalität fragende und diese allein gelten lassende Denken der primären Reflexion, das die anders gearteten Erfahrungen des Glaubens und des intersubjektiven Lebens permanent in Frage stellt. Den außerhalb des Glaubens Stehenden und den Atheisten verleiten sie dazu, sich ein völlig falsches Bild von Gott und dem Glauben zu machen, und versperrt ihnen so den Weg zur Erfahrung des Glaubens. Den Glaubenden selbst drängen die primäre Reflexion und der mit ihr verbundene Erfahrungsbegriff in einen Zwiespalt. Sein gläubiges und betendes Ich und sein denkendes Ich drohen unversöhnt auseinanderzufallen. Dieser Zwiespalt wird zur permanenten Anfechtung, ganz abgesehen davon, dass das primäre Denken die Erfahrungsgrundlagen des Glaubens gefährdet. Die entscheidende Gegenkraft dagegen ist kein Credo quia absurdum, sondern die sekundäre Reflexion, die, „ohne selbst noch Glaube zu sein, es fertig bringt, wenigstens dessen geistigen Raum auszusparen und zu bereiten.“263 Wie kein Gegensatz oder Konkurrenz zwischen Wahrheitstreue und Liebe bestehen sollte, so auch nicht zwischen Streben nach Wahrheit und Glaube. Vielmehr ist der Zusammenhang „zwischen dem Glauben und dem Geist der Wahrheit“ zu betonen. „Jedesmal, wenn sich zwischen beiden eine Kluft auftun will, beweist dies entweder, daß der Glaube in Abgötterei entartet oder daß der Geist der Wahrheit verkümmert und Vernünfteleien weicht.“264
4.4.4 Unmittelbarkeit und Distanz, Haltung und Reflexion Das zentrale Anliegen Bubers ist die Wiedergewinnung und Bewahrung der Unmittelbarkeit. Die Unmittelbarkeit und Stärkung der Intersubjektivität kann aber, wie gezeigt, nicht auf Kosten des Denkens gehen. Der Mensch ist 263 Marcel, Geheimnis, 371. 264 Ebd., 500.
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und bleibt auch als Mensch, der aus der Begegnung und dem Du lebt, denkender Mensch. Zum Menschsein gehört das Denken und zum Denken gehört die Distanz, und zwar in dem Sinne, dass das Denken seine Aufgabe verfehlt, wenn es die Distanz zu seinem Objekt nicht wahrt. Marcel macht auf den Umstand aufmerksam, dass häufig der Hang besteht, Gedanken, die man geistig nachvollziehen und verstehen kann, „sich zu eigen zu machen, sie zu übernehmen.“265 Gegen solches Ausbleiben eines eigenen kritischen Geistes betont Marcel die Distanz,266 den „Abstand, den das Denken zwischen sich und dem Objekt zu wahren hat, oder, dynamischer gesprochen, […] den Akt, durch den es der Lockung widersteht, sich von seinem Objekt verschlingen zu lassen, sich mit ihm zu vermischen.“267 In Anbetracht der sich zur primären Reflexion kritisch verhaltenden sekundären Reflexion ist unmittelbar einsichtig, dass dies nichts mit lähmendem Skeptizismus zu tun hat, sondern im Dienst der Wiedergewinnung der Unmittelbarkeit stehen kann und für diese unerlässlich ist. Gerade weil die Bedingungen, unter denen Unmittelbarkeit bzw. Intersubjektivität erfahren werden können, durch geläufige Denkschemata und die an räumliches Denken und Vorstellen gebundene Sprachstruktur268 verfälscht und verdeckt zu werden drohen, ist die kritische Distanz des Denkens wichtig. Distanz ist aber nicht nur notwendiges Element eines sich die Fähigkeit zur Kritik bewahrenden Denkens, Distanz ist neben dem unbedingten Angegangen-Sein der Anrede integraler Bestandteil des Gottesverhältnisses. Was mich in der Anrede zu mir selbst führt, ist näher bei mir als ich mir selbst sein kann, weil es der Grund meiner selbst ist, zugleich ist es als mein Grund auch fern von mir und innerhalb dieses Lebens von mir nicht zu erreichen. In der Religion ist Ehrfurcht und Distanz. Für die homiletische Anleitung des Predigers heißt dies, dass es nicht nur darum gehen kann, ihn auf eine bestimmte Haltung hinzuweisen, die ihn für den Empfang des Wortes Gottes und die Erfahrungsbereiche des Glaubens disponibel macht. Diese Haltung ist wichtig und entscheidend dafür, dass die Erfahrungen nicht nur theoretisch gekannt, sondern auch selbst gemacht werden, dass also der Prediger als Zeuge spricht. Daneben sind aber die Methoden der kritischen, sekundären Reflexion und der Konkretion, sowie damit verbunden der bewusste Umgang mit Sprache, Denkschemata und Vorstellungen ebenso geboten, und in keiner Weise Einschränkungen der Empfänglichkeit der rechten Haltung. So oder so kommt der Prediger nicht umhin, das Erfahrene in bestimmten Vorstellungs- und Denkzusammenhängen auszusprechen.
265 266 267 268
Ebd., 198. Marcel bezieht sich explizit auf das deutsche Wort Distanz, vgl. Ebd., 199 f. Ebd., 200. Vgl. Ebd., 175.
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5. Entwurf einer prinzipielle, materiale und formale Fragen umfassenden hermeneutischen Homiletik 5.1 Prinzipielle Homiletik als Auslegung von Gottes Handeln an uns in Gesetz und Evangelium
5.1.1 Prinzipielle Homiletik: systematisch-spekulativ oder hermeneutisch Die prinzipielle Homiletik hat Wesen und Wirkung der Predigt, ihre Begründung und ihre Aufgabe zu entfalten. In Anknüpfung an die Bestimmung des Seins Gottes und des Menschen als Zusammensein im Medium des Wortes verstehe ich Predigt als Rede, die dazu beauftragt ist und versucht, das Wort Gottes an uns weiterzusagen und auszulegen. Dabei ist nicht problematisch, dass Gottes Wort in menschlichen Worten ergehen soll, da das Wort das gemeinsame Medium zwischen Gott und Mensch ist, ohne dass der fundamentale Unterschied zwischen Gottes Wort und Menschenwort verwischt wird, der in der Wirkung des Wortes liegt. Gottes Wort ist vollmächtiges Wort, das der jeweiligen Situation gerecht wird und zum wahren Leben befreit. Das menschliche Wort der Predigt wird insofern und insoweit Gottes Wort, als es die wahre Situation des Einzelnen aufdeckt und zur Veränderung des Lebens zum wahren Leben hin verhilft. Inwieweit das Wort der Predigt solches leistet, ist nur vom je einzelnen Hörer aus zu ermessen. Die Aufgabe der Predigt ist damit die Weitergabe und Auslegung des Wortes Gottes, das als solches aktuelles, die Situation treffendes und veränderndes Wort ist. Begründet ist sie in der Menschwerdung des Wortes Gottes in Jesus Christus, der uns zur Weitergabe des Wortes beauftragt und ermächtigt. Das Wesen, und damit untrennbar verbunden, die Wirkung der Predigt ist vom Wort Gottes als vollmächtigem Wort her zu bestimmen. Das Grundkriterium für das, was Wort Gottes ist, ist in der christlichen Theologie Jesus Christus als das Fleisch gewordene Wort Gottes. Die Texte der Bibel, die von Jesus Christus zeugen, sind daher sinnvoller Weise Ausgangspunkt und Grundlage der Predigt. Dass diese Texte für uns der Zugang zu Jesus Christus sind, hat in der von der dialektischen Theologie beeinflussten Homiletik dazu geführt, die Exegese und das Nachsprechen des in der Bibel begegnenden Wortes zu betonen, dem möglichst nichts Eigenes beizumischen
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Entwurf einer hermeneutischen Homiletik
sei.1 Es geht dabei vor allem auch um die Einübung einer bestimmten Haltung, die das Wort hören und vom Heiligen Geist empfangen will.2 Dieser Haltung wird dann auch die Fähigkeit und Funktion zugesprochen, den garstigen Graben der Geschichte überbrücken zu können, und das Wort Gottes über alle geistesgeschichtlichen und sonstigen geschichtlichen Veränderungen hinweg heute als aktuelles Wort hören zu können. Ohne den Wert einer angemessenen Haltung gegenüber den Texten der Bibel in Frage stellen zu wollen, möchte ich darüber hinaus die Rolle der hermeneutischen Reflexion betonen. Das Einnehmen einer bestimmten Haltung gegenüber dem Wort der Bibel ist ja bereits das Ergebnis einer Reflexion über das Wesen und die Wirkungsbedingungen dessen, was man in der Bibel sucht. Sowenig wie die Reflexion im kontradiktorischen Gegensatz steht zu Leben und Unmittelbarkeit, sondern diese fördern und mit verwirklichen helfen kann, sowenig widerspricht eine methodische Reflexion des Glaubens und des Wortes Gottes dem Glauben. Das kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass die Theologie als Reflexion und Verantwortung des Glaubens integraler Bestandteil des Glaubens ist. Die Reflexion auf die Bedingungen des Hörens des Wortes Gottes und die Bedingungen, unter denen neue, aktuelle Sprache des Glaubens entspringen kann, hat nun aber zentral zu tun mit geschichtlichen Veränderungen und der gegenwärtigen geschichtlichen Situation. Dagegen das Einnehmen einer rechten Haltung im Verbund mit dem Verweis auf die übergeschichtliche Gültigkeit der christlichen Wahrheit auszuspielen, ist unnötig und kontraproduktiv, insofern unser Leben so oder so von unseren Vorstellungen und Denkmustern geprägt wird, in denen wir unser Leben und die Welt erfassen. Diese machen sich spätestens dann wieder bemerkbar, wenn wir das, was wir in einer bestimmten Haltung erfahren haben, weitergeben wollen. Gerade hierbei sind die Reflexion und die von Marcel betonte Distanz zu den bereitliegenden und sich aufdrängenden Sprachspielen und Ausdruckszusammenhängen entscheidend. Ein bloßes Nachbuchstabieren des Textes, das die bereitliegende Alltagssprache und das Leben bestimmende Vorstellungs- und Denkmuster beiseite lässt und so eine spezifische Glaubenssprache kultiviert, ist keine Alternative, weil auf diese Weise die Glaubenssprache zur Sondersprache wird. Vielmehr gilt es, die Balance zu finden zwischen der Aufnahme 1 Vgl. Barth, Homiletik, 24. In dem Vortrag „Menschenwort“ betont Barth den Gehorsam und die Unterordnung unter das Wort: „Es ist gesprochen und so, als das, das gesprochen ist, muss es weiter sprechen. Dienst verlangt Disziplin und Disziplin verlangt Subordination.“ Barth, Menschenwort, 104. 2 Vgl. Barth, Menschenwort, 115. Dort steht als VI. These: „Die menschliche Möglichkeit der Predigt sowohl als der wissenschaftlichen Theologie steht und fällt mit der Bitte um den hl. Geist, durch den Gott sein Wort selbst spricht und zu Gehör bringt und sich damit zum Dienst seiner Kirche bekennt.“ Bohren charakterisiert in „Die Bitte um den Geist, Anmerkungen zur Methodenfrage“ die Exegese im Zuge der Predigtarbeit in einer sich an Barth aufnehmenden Formulierung als „anbetenden Gehorsam“. Exegese ist für ihn „als Gebet Bitte um den Geist“. Bohren, Bitte, 147.
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Prinzipielle Homiletik als Auslegung von Gottes Handeln
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gängiger Vorstellungs- und Denkmuster und den mit ihnen verbundenen Erfahrungen und deren Abwandlung und Aufbrechung, wenn sie den Zugang zur Erfahrung des Glaubens verstellen. Dies kann umso besser gelingen, als die Eigenart des Wortes Gottes und seine Wirkung verstanden wird als ein den Menschen angehendes und treffendes Wort. Integraler Bestandteil dessen ist eine Reflexion des Unterschieds zwischen den mit Gott zusammenhängende Erfahrungen und den Erfahrungen mit der Welt in Absehung von Gott, die für das säkulare Bewusstsein bestimmend sind, das in den gängigen Vorstellungsund Denkmustern lebt. Die mit Gott zusammenhängenden Erfahrungen betreffen dabei nicht nur explizit die Gottesbeziehung, sondern implizit auch das Selbstverhältnis und das Verhältnis zum Anderen. Neben den biblischen Text und die exegetischen Bemühungen tritt daher die systematisch-theologische Frage nach dem Wesen und der Wirkung des Wortes Gottes. Wesen und Wirkung gehören dabei untrennbar zusammen, weil sich das Wesen des Wortes Gottes in seiner Wirkung zeigt, die Situation zu treffen und zu verändern. Die systematisch-theologische, prinzipielle homiletische Reflexion verstehe ich daher als Reflexion der Situation, die das Wort Gottes aufdeckt und der Wirkungen, die es entfaltet. Ihre Funktion besteht in der Einweisung in den Lebenszusammenhang, in dem uns das Wort Gottes trifft und neue Sprache des Glaubens entspringt. Darüber hinaus liefert sie Erkenntnisse darüber, wie dem Glauben heute Raum geschaffen werden kann und angemessen von den Erfahrungen des Glaubens im Unterschied zu anderen Erfahrungsweisen gesprochen wird. Die prinzipielle Homiletik ist damit zugleich die entscheidende Antwort auf die praktische Frage, wie man eine Predigt macht. Diese Behauptung über die prinzipielle Homiletik steht freilich im krassen Widerspruch dazu, wie die prinzipielle Homiletik in der jüngeren Homiletikgeschichte, vor allem am Übergang von der dialektischen Theologie zur empirischen Wende verstanden und erlebt wurde. Stellvertretend sei hier auf Dietrich Rösslers Aufsatz Das Problem der Homiletik von 1965 verwiesen. Die prinzipielle Homiletik seiner Zeit wird dort nicht als praktisch ausgerichtet und hilfreich erfahren, sondern als formal-abstrakt und überfordernd. Rösslers Gegenüberstellung von der „konkreten Sonntagspredigt“ und „realen Aufgabe des Pfarrers“ und der „abstrakten und nirgendwo realen ,Verkündigung der Kirche‘“3 ist für ein breites Empfinden und Problembewusstsein exemplarisch und wirkt noch bis heute nach, wie bei Engemann gesehen. Das Auseinanderfallen von erlebter Wirklichkeit und dem, was in der prinzipiellen Homiletik als Wesen und Wirkung des Wortes beschrieben wird, das dazu führt, die prinzipiellen Bestimmungen als wirklichkeitsfern und nicht real einzustufen, dürfte seine Ursache in der von Rössler übrigens nicht kritisierten Methode und Erscheinungsgestalt der prinzipiellen Homiletik seiner Zeit haben. Rössler charakterisiert sie als „systematisch-spekulativ“.4 3 Rössler, Problem, 180. 4 Ebd., 177.
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Entwurf einer hermeneutischen Homiletik
Der Kontext mit seiner Gegenüberstellung von konkret und real erfahrbar zu abstraktem Nirgendwo lässt vermuten, dass Rössler mit dem Wort spekulativ die Kantische Bedeutung des Wortes als „Erkenntnis des Allgemeinen in abstracto“5 assoziiert. Gemäß dieser Bestimmung verliert alle von der konkreten Erfahrung losgelöste spekulative Erkenntnis ihren Sinn und ihre Berechtigung, Erkenntnis von etwas Realem zu sein. Praktisch äußert sich dies für den Prediger darin, dass der Predigtbegriff, statt dem Prediger praktisch hilfreiche Orientierung an die Hand zu geben, „die sonntägliche Aufgabe des Pfarrers in nicht mehr zu überbietenden Weise belastet und befrachtet.“6 Der Predigtbegriff wird als Zusammenfassung von Superlativen erlebt: „Kerygma und Offenbarung, Gottes eigenes Wort, vergangenes und zugleich gegenwärtiges Heilsereignis.“7 Das Problem eines solch „spekulativ-systematischen“ Predigtbegriffs liegt darin, dass dargetan wird, was das Wort Gottes ist und leistet, ohne dass einsichtig wird, wie dies zum menschlichen Leben in Beziehung steht und in konkreten Situationen als verändernder Eingriff Gottes erfahren8 werden kann. Nimmt es aber Wunder, dass vielen Predigthörern nicht ganz klar wird, was der Glaube mit ihrem Leben zu tun hat oder gar wie behauptet lebensnotwendig und lebensentscheidend ist, wenn bereits im theologischen Kern der Predigttheorie die Verbindung von theologischen Anspruch und menschlichem Leben so wenig gelingt, dass selbst für Theologen das Behauptete „nirgendwo real“ ist? Anders als Rössler und andere sehe ich eine Lösung nicht in der Abwendung von der theologischen Frage und der Hinwendung zu praktischen und empirischen Fragen, die mit dem empirisch verengten Erfahrungsbegriff arbeiten, um mit der Realität und Wirklichkeit des Lebens in Kontakt zu kommen. Das grundsätzliche Problem an dieser Hinwendung zur Empirie ist, dass im Rahmen des damit übernommenen Erfahrungsbegriffs Gott tatsächlich ausscheidet. M.E. kann es keine Lösung an der theologischen Frage vorbei geben, wie Gottes Wirken im Wort und unser Leben ineinander verwoben sind. Die prinzipielle Homiletik ist daher nicht systematisch-spekulativ, sondern hermeneutisch zu entfalten. Es geht um ein Verstehen und den phänomenalen Aufweis der Wirkungsweisen des Wortes Gottes im menschlichen Sein, das Sein als Zusammensein im Wort ist. Diesem Verstehen hat das Bedenken des Seins des Menschen als Zusammensein im Wort im Anschluss 5 Franz, Spekulation, 381. 6 Rössler, Problem, 181. 7 Ebd., Rössler zitiert dort u. a. G. Wingren: „Predigt aber ist das Ereignis, das in der gegenwärtigen Phase der langen Reihen göttlicher Erlösungstaten diese umgestaltende und schöpferische Kraft in sich trägt“, und: „Die Predigt ist nicht bloß ein Reden von einem vergangenen Christus, sondern sie ist ein Mund, durch den der gegenwärtige Christus uns heute das Leben zuruft.“ 8 Wie schon oben in der Einführung zur Marcel angedeutet, steht hier im Hintergrund das Problem der Erfahrbarkeit Gottes in der von Kant bereiteten Situation, in der Erfahrung auf Sinneswahrnehmung eingeschränkt wird, so dass Gott aus dem Bereich des Erfahrbaren prinzipiell entschwindet.
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an Buber und Marcel gedient. Nun geht es darum, auf diese Beschreibung der Situation des Menschen theologisch das Wirken Gottes an uns in seinem Wort zu beziehen. Ich beziehe mich dabei mit Ebeling auf die lutherische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und verstehe Gesetz und Evangelium als die alles umfassenden Weisen des Handelns Gottes an uns durch sein Wort.
5.1.2 Das Gesetzesverständnis Ebelings: Gesetz als Gesetz der Lebenswirklichkeit 5.1.2.1 Differenzierungen im Begriff des Gesetzes Gesetz und Evangelium sind zwar die alles umfassenden Weisen des Handelns Gottes an uns durch sein Wort. Dennoch ist ihre Zuordnung und ihr Verhältnis nicht im Sinne einer Addition zweier Teile zu einem Ganzen zu verstehen. Im Verhältnis von Gesetz und Evangelium kommt vielmehr das Gegensatz- und Unterscheidungsgeschehen zum Austrag, das uns bereits bei den Kriterien der Theologie begegnet ist. Es geht darum, dass Gott heilvoll verändernd in die Wirklichkeit des Menschen eingreift, dass er ihn aus den Zwängen des Gesetzes befreit und die vom Gesetz unerfüllbaren Ansprüche an gelingendes Leben auf andere Weise erfüllt. Damit hängt an der Unterscheidung und dem Verhältnis von Gesetz und Evangelium wesentlich auch der Erfahrungsbezug des Wortes Gottes. Evangelium wird erfahren, wenn es aus den Zwängen des Gesetzes befreit, die man im eigenen Leben als wirksam erlebt. Von diesem Fokus her, der auf die Erfahrbarkeit des Evangeliums und das soteriologische Handeln Gottes am Menschen zielt, ist an der Reihenfolge Gesetz und Evangelium festzuhalten. Es ist dies die Reihenfolge, in welcher der Mensch das Wort Gottes als Gesetz und Evangelium indirekt und direkt erlebt. Diese Reihenfolge bedeutet daher auch die bewusste Entscheidung für eine nicht situationsvergessene Theologie, die eben darum von der Situation des Menschen als Situation der Sünde ausgeht.9 9 Barths Vorordnung des Evangeliums vor das Gesetz ist dagegen von Gott aus gedacht. Von dort aus hat sie auch ihr Recht. Die Erfüllung des Gesetzes im Evangelium, das Zusammensein mit Gott in der Teilhabe an Christus, ist der Grund für die Existenz des Gesetzes, dessen Missbrauch durch den Menschen und seine Folgen Konsequenzen der Verfehlung sind. Insofern sagt Barth zu Recht, dass sachlich das Evangelium vor dem Gesetz steht. Das ändert aber nichts daran, dass das Gesetz das Leben wirkt, bei Nichtbeachtung nicht Leben wirkt und auch in dieser Wirkung als Gesetz Gottes besteht und daher nicht ausschließlich auf den Missbrauch des Menschen zurück geht. Die einseitige Gleichsetzung von Gesetz und Wegweisung in der Gnade, welche die Wirkung des Gesetzes bei Nichtbeachtung unterschlägt, ist daher m. E. zu kurz gegriffen. Was die Situationsvergessenheit betrifft, würde Barth zur Geltung bringen, dass das Heil in Christus die Situation des Menschen ist, die kundgetan werden muss. Aber eben dass sie kundgetan werden muss, damit der Mensch im Glauben darauf antworten könne, zeigt ja bereits an, dass die Situation des Menschen von ihm aus die des gestörten Verhältnisses zu Gott ist. Als solcher macht er zuerst Erfahrung mit dem Gesetz Gottes.
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Die angegebene Bedeutung des soteriologischen Gegensatzgeschehens von Gesetz und Evangelium beinhaltet eine universale Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium, die so nicht ohne weiteres in der biblischen Grundlage bei Paulus begegnet, bei dem mit Gesetz primär exklusiv die biblische tora gemeint ist.10 Dennoch sieht Paulus die Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium offenbar auch für seine nicht-jüdischen Zuhörer als zentral an. Darin sieht Ebeling Ansätze für eine Ausweitung des Gesetzesverständnisses bei Paulus, das sein Zentrum darin hat, dass auch die Nichtjuden durch das Evangelium von der faktischen Wirkung des Gesetzes zu befreien sind.11 Dass es um die faktische Wirkung des Gesetzes und das „Sein unter dem Gesetz“ geht, das die Nichtjuden gleichermaßen betrifft, findet gegenüber der Bestimmung von Gesetz als tora bei Paulus noch keinen begrifflichen Niederschlag. Luther und die Reformation haben daher die soteriologische Intention der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bei Paulus aufnehmend, die für alle Menschen gleichermaßen gilt, seinen Gesetzesbegriff erweitert und als das „jedem Menschen ins Herz geschriebene Gesetz“ bezeichnet und dies mit dem Gedanken des Naturrechts verbunden.12 Mit dem Naturrecht ist freilich auch diese Interpretation für unser heutiges Verständnis fraglich geworden. M.E. ist daran vor allem problematisch, dass dadurch der Unterschied zwischen dem Sein und einem daraus folgenden Sollen und der menschlichen Interpretation dessen, was Sein und darum auch Sollen ist, verwischt wird. Diesen Unterschied zu machen bedeutet nicht, eine Empfänglichkeit für das „wahre“ Sein und Sollen und eine Verbindung zwischen beiden zu leugnen.13 Diese Problematik ist bei Ebeling dadurch vermieden, dass er das Gesetz als Gesetz der Lebenswirklichkeit bestimmt. Damit ergeben sich folgende Differenzierungen dessen, was unter Gesetz zu verstehen ist. (1) Das im Leben wirksame Gesetz der Lebenswirklichkeit, unabhängig von seiner Deutung. Ebeling bezeichnet dies auch als „ontologische Verwendung des Begriffs des Gesetzes“.14 (2) Deutungen der Lebenswirklichkeit auf die in ihr wirksame Gesetzmäßigkeit. Diese Deutungen haben sowohl deskriptive als auch normative Aspekte. Sein und Sollen hängen miteinander zusammen, insofern das Leben sich an seinen Gesetzmäßigkeiten orientieren muss, und die im Sein angelegten Möglichkeiten des Lebens nicht gegen die Gesetzmäßigkeiten dieses Seins verwirklicht werden können.
10 Vgl. Bultmann, Theologie, 260 f. 11 Vgl. Ebeling, Dogmatik III, 266: „Das griechische Wort nomos erlaubt es Paulus, den Bedeutungshorizont von tora auf die faktische Wirkung des Gesetzes hin zu überschreiten.“ 12 Ebeling, Erwägungen, 288. 13 Ebeling sieht diese Empfänglichkeit im Gewissen verortet, in der Bedeutung des Wortes, die bei Luther intendiert ist. 14 Ebeling, Dogmatik III, 274.
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(3) Die speziell biblisch christliche Deutung der Lebenswirklichkeit und das damit korrespondierende Gesetz, das im Doppelgebot der Liebe sein Zentrum hat.15 5.1.2.2 Sein unter dem Gesetz Die Bestimmung des Gesetzes als Gesetz der Lebenswirklichkeit ist daran zu prüfen, ob sie der soteriologischen Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gerecht wird, die darin liegt, dass das Evangelium vom Sein unter dem Gesetz befreit, das alle Menschen betrifft. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden. (1) Sein unter dem Gesetz bedeutet, dass man mit dem gegeben Leben umgehen muss. Das Leben ist gleichzeitig Gabe und Aufgabe. Wir müssen uns dazu verhalten und es in bestimmter Weise leben, was zu Gelingen oder Scheitern führen kann. In diesem Sinne spricht Ebeling davon, dass uns die Lebenswirklichkeit zur Gesetzeserfahrung wird. Dabei ist der Gedanke an ein bestimmtes gedeutetes Gesetz noch fern zu halten. Ebeling beschreibt dazu Anlässe, die „dazu angetan [sind], den Menschen innerlich anzurühren und zu bewegen, ihn seines Beschenkt- und Gefordertseins, seines Getroffen- und Infragegestelltsein bewußt zu machen.“16 Dieser Aspekt des Seins unter dem Gesetz betrifft die Frage des Wie der Lebensführung eines gelingen wollenden Lebens. Die Virulenz dieser Frage drängt zur Deutung dessen, was die Wirklichkeit des Lebens in ihrem Wesen ausmacht, und wie das Leben daraufhin am besten zu leben ist, was zu einer Vielfalt an Gesetzen als Ergebnissen dieses Deutungsprozesses führt. (2) Ein damit verbundener, aber doch auch zu unterscheidender Aspekt betrifft das, was man in der theologischen Sprache als „Selbstrechtfertigung“ zu bezeichnen pflegt, allerdings wiederum in einer erweiterten, vom expliziten Gottesbezug unabhängigen und darum universalen Bedeutung. Hierbei erhält die Frage, wie ich mein Leben leben soll, ihr eigentliches Gewicht und ihren existentiellen Ernst durch die zusätzliche Frage, was bin ich wert, was steht mir zu? Es ist die Frage nach dem Lebensrecht und den Rechten im Leben; nach dem, was mir zusteht; nach meinem Platz im Leben und der Gemeinschaft der mit mir Lebenden. In dieser Frage kann der Mensch den Gottesbezug leugnen, den Bezug zu anderen Menschen aber nicht. Immer wird er versuchen, seinen Wert in den Augen der anderen abzulesen, wird er seine Rechte von den anderen bestätigt und anerkannt wissen wollen. Und selbst wenn er auf Autonomie und Selbstbehauptung setzt, muss er sich eben gegen die anderen durchsetzen, die ihm dabei zu Konkurrenten werden, die seine Rechte bedrohen. Sein unter dem Gesetz heißt in diesem Aspekt, die eigenen Rechte und Ansprüche im Verhältnis zu einem bestimmten Gesetz zu bestimmen, ein15 Das Doppelgebot der Liebe ist normatives Zentrum und Kriterium, von dem aus auch die neulutherischen Schöpfungsordnungen zu beurteilen sind. 16 Ebeling, Dogmatik III, 269.
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zufordern, sich selbst zuzusprechen oder aus einer bestimmten Deutung der Wirklichkeit abzuleiten. Weil man der Infragestellung durch andere und sich selbst dauernd ausgesetzt bleibt, muss man dies tun, solange der Glaube nicht die Fragen nach dem eigenen Wert und Existenzrecht zur Ruhe bringt. Beide Aspekte des Seins unter dem Gesetz zusammen machen das Handeln und Handeln-Müssen des Menschen zu einem Leisten und Leisten-Müssen. Beide Aspekte betreffen alle Menschen, unabhängig von ihrer Kenntnis oder Anerkenntnis des als Gesetz Gottes verstandenen und gedeuteten Gesetzes. Atheistische Weltanschauungen befreien keineswegs vom Leisten und Rechtfertigen, so als ob dieses allein auf die Forderung Gottes zurückginge. Im Gegenteil fehlt ohne den Gottesbezug die Möglichkeit, dem Leisten oder SichRechtfertigen-Müssen zu entgehen. 5.1.2.3 Funktion und Wirkung des Gesetzes Bei der Funktion und Wirkung des Gesetzes sind das als Gesetz der Lebenswirklichkeit faktisch wirkende Gesetz und die Deutungen der Lebenswirklichkeit als Gesetz in ihrer christlichen und nichtchristlichen Form zu unterscheiden. Als das faktisch wirksame Gesetz bewirkt das Gesetz das Gelingen und Scheitern des Lebens, freilich nicht in dem Sinne, dass sich dies mit dem bewussten Erleben von Gelingen und Scheitern decken muss. Auch ein oberflächliches Leben, das viele Möglichkeiten dessen, was Leben im christlichen Sinne ausmacht und bereichert, nicht nutzt, kann subjektiv als gelungen erlebt werden. An die Ausführungen zu Marcel anknüpfend, kann als Gelingen die gelungene Nähe zu Gott, dem Anderen und sich selbst gelten, als Scheitern die Erfahrungen von Entfremdung und Sinnlosigkeit. Versteht man das Gesetz als Gesetz Gottes, ist hier der Punkt, an dem der deus absconditus mit seinem opus alienum zu verorten ist. Gott will das Leiden, Scheitern und Verderben der Menschen nicht, und doch ist er es, der das Leben in einer bestimmten Ordnung geschaffen hat, die darauf ausgerichtet ist, dass der Mensch mit ihm zusammen sein Leben lebt. In diesem Zusammenleben liegt Leben und Heil. Es kann daher nicht ausbleiben, dass sich Leben verdunkelt und heillos wird, wenn der Mensch sich dem Willen Gottes zum Zusammenleben widersetzt, das seine Antwort im Glauben erfordert. M.E. sollte man dabei den Gedanken eines strafenden, vergeltenden Gottes als menschliche Deutung der Erfahrung von Unheil und Abwesenheit Gottes ganz beiseitelassen. Es geht um nichts mehr und nichts weniger als das Ausschlagen des Heils, das als Kehrseite Unheil zur Folge hat. Das opus proprium Gottes in seinem Heilshandeln und sein opus alienum sind dann kein nicht nachvollziehbarer Widerspruch. Das opus alienum ist um des opus prorium willen notwendig. Formulierungen wie solche, dass Gott tötet, um lebendig zu machen, sind nicht so zu verstehen, dass Gott töten muss, um danach lebendig machen zu können, schafft er doch von Anfang an aus dem Nichts. Sie be-
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deuten, dass Gottes Lebendig-Machen, das sich im Lebensvollzug des Glaubens vollzieht, das Töten-Müssen zur Kehrseite hat. Das Gesetz als Deutung und auferlegte Satzung hat gemäß dem reformatorischen usus theologicus legis17 anklagende und die Sünde aufdeckende Wirkung und Funktion. Das Gesetz in diesem Sinne deckt das Scheitern des Menschen an der Anforderung des Gesetzes auf. Diese Funktion gilt mit Einschränkungen vor allem hinsichtlich des Sündenbegriffs nicht nur für das bewusst als Gesetz Gottes verstandene Gesetz. Auch die sich nicht auf Gott beziehenden, als Gesetz wirksamen Deutungen der Lebenswirklichkeit halten die Rechte des Menschen in der Fraglichkeit und decken jedes selbstverschuldete Scheitern an der Lebenswirklichkeit auf. Allein aus dem Umgang mit dem anerkannten oder selbst erwählten Gesetz kommt der Mensch nicht zu Frieden und Ruhe. Besonders scharf ins Licht tritt die Unmöglichkeit der Erfüllung beim im christlichen Sinne verstandenen Gesetz: weder der Glaube an Gott noch die Liebe zu Gott und den Menschen können durch eine sich an Einsichten orientierenden Willensanstrengung geleistet werden, zumal der Gedanke des Leistens und der damit einklagbaren Anerkennung sowohl dem Glauben als auch der Liebe ihrem Wesen nach widerspricht. Damit ist offenkundig, dass das Gesetz als Heilsweg ausfällt. Auch diese Erkenntnis kann sich in übertragener Form im Umgang mit nicht christlich verstandenen Gesetzen einstellen, weil auch hier die gesuchte Anerkennung dahin drängt, um seiner selbst willen und nicht auf Grund bestimmter Leistungen anerkannt zu werden. Die Untauglichkeit des Gesetzes als Heilsweg meint bei diesem erweiterten Gesetzesverständnis nicht nur, dass ein bestimmtes religiöses Gesetz ungeeignet ist, Leben im Einklang mit Gott zu bewirken, sondern auch ganz allgemein das Unterfangen, aus eigener Kraft mit Hilfe der Einsicht in die Gesetze der Wirklichkeit den Weg zum erfüllten Leben gehen zu können. Dass sich die anklagende Funktion und die Funktion der Erkenntnis der Untauglichkeit des Gesetzesweges auch auf nicht christlich verstandene Gesetze übertragen lassen, hat seinen Grund in dem faktisch wirksamen Gesetz Gottes als Gesetz der Lebenswirklichkeit. Die Wirkung des Gesetzes hat die beiden Aspekte der Anklage und der Erkenntnis, die letztlich beide dorthin führen und treiben sollen, wo das wahre Leben zu finden ist: im Empfangen der Gnade, im Glauben und im daraus folgenden Lieben. Darin liegt zum einen das Ende des Gesetzes in der Bedeutung des Seins unter dem Gesetz. Die Frage nach meinem Wert und meinem Platz im Leben ist unwiderruflich beantwortet von Gott, der letztlich allein die Fragen zur Ruhe bringende Antworten geben kann. In diesem Frieden bin ich zur Liebe befreit, die sich ohne Hintergedanken dem Anderen 17 Der davon zu unterscheidende usus politicus legis hat die Funktion, das Leben vor den Auswirkungen der Sünde zu bewahren und damit zu erhalten. Er kann hier vernachlässigt werden, weil er auf die Frage der Aktualität und Erfahrungsnähe der Evangeliumsverkündigung keinen Einfluss hat.
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ganz öffnen kann. Zu Ende ist das Gesetz, an dem sich das Handeln des Menschen entzündet, der sich damit vor der Gnade verschließt. Erfüllt ist das Gesetz als Gesetz der Lebenswirklichkeit, als welches es bestehen bleibt. Wiederum gilt auch hier, dass es unabhängig vom Glauben an Gott auch im zwischenmenschlichen Bereich Erfahrungen der Gnade und gelingenden Lebens gibt. Das hängt wiederum damit zusammen, dass gemäß dem Gesetz Gottes als Gesetz der Lebenswirklichkeit die Beziehung zum Anderen und die Beziehung zu Gott zusammen gehören, und Gott in der Liebe gegenwärtig ist, auch dann, wenn man nicht an ihn glaubt oder glauben kann.
5.1.3 Akzentverschiebung der Gesetzespredigt von Anklage zu Erkenntnis im säkularen Horizont Die Wirkung des Gesetzes wurde als Anklage und Vermittlung von Erkenntnis bestimmt. Beides dient letztlich dem Ziel, zum Evangelium hin zu treiben. Noch bei Luther liegt der Akzent auf der Anklage, für ihn ist das Gesetz wesentlich lex accusans,18 und die Erkenntnis der Sünde und der Untauglichkeit des Gesetzes als Heilsweg entwickelt sich nicht unwesentlich aus dieser Anklage. Demgegenüber meine ich, dass der Akzent heute auf die Erkenntnis zu legen ist. Die Differenzierung des Gesetzesbegriffs in (1) Gesetz als Gesetz der Lebenswirklichkeit, (2) Gesetz als unabhängig vom Gottesbezug gedeutete Lebenswirklichkeit und (3) dem spezifisch christlich verstandenen Gesetz hat den Vorteil, dass man die Gesetzeserfahrung ganz allgemein ansprechen kann. Wenn dies aber tatsächlich zum Evangelium und nicht in die Verzweiflung treiben soll, ist dies ja dann dennoch auf das christliche Verständnis der Lebenswirklichkeit als wesentlich auf Gott bezogen zu beziehen. Ohne dass deutlich ist, was der Bezug auf Gott überhaupt bedeuten soll und wie er verstanden werden kann, kann auch das Evangelium als das Versöhnt- und Vereint-Sein mit Gott in Jesus Christus nicht verstanden und aufgenommen werden. Die Hauptaufgabe der Gesetzespredigt liegt m. E. daher heute darin, die christliche Deutung der Lebenswirklichkeit zur Geltung zu bringen. Diese Deutung ist entsprechend dem Doppelgebot der Liebe als der Zusammenfassung des Gesetzes darauf konzentriert, dass die Lebenswirklichkeit von ihrem Gottesbezug her Sinn und Erfüllung erfährt: im Geliebt-Werden von Gott und dem Weitergeben der Liebe unter den Menschen. Mit Hilfe von Buber und Marcel ist eine erfahrungsnahe Auslegung unserer Lebenswelt als Lebenswirklichkeit im christlichen Sinne möglich, die sowohl das Gelingen und Scheitern, als auch den Gottesbezug plausibel macht. Im Hintergrund dieser Bestimmung der Aufgabe der Gesetzespredigt stehen auch die oben genannten Beobachtungen zum Verlust des Resonanzbodens der Glaubenssprache und der Gefährdung der Erfahrungen, auf die sich 18 Vgl. Ebeling, Erwägungen, 288.
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Glaubenssprache bezieht. Der Gesetzespredigt kommt die Aufgabe zu, an der Rückgewinnung dieses Resonanzbodens zu arbeiten, auf dem Lebenserfahrungen auch kontrastweise sinnvoll auf Gott beziehbar werden. Gesetzespredigt hat gegen die allseits sich aufdrängende Deutung der Lebenswirklichkeit ohne Gott und der damit verbundenen Erfahrung der Abwesenheit Gottes die Deutung der Lebenswirklichkeit als zentral auf Gott bezogen an der Erfahrung orientiert zur Geltung zu bringen. Diese Bestimmung der Aufgabe der Gesetzespredigt bedeutet im Vergleich zu Ebeling eine Akzentverschiebung. Bei ihm dient die Bestimmung des Gesetzes als Gesetz der Lebenswirklichkeit hauptsächliche dazu, Leben universal als Leben unter dem Gesetz beschreibbar zu machen, um alle Menschen auf Gesetzeserfahrung ansprechen zu können. Demgegenüber meine ich, dass das Hauptgewicht auf die Plausibilität und erfahrungsnahe Auslegung unserer Lebenswirklichkeit als auf Gott bezogen zur Geltung zu bringen ist. Dies wirft die Frage auf, ob damit überhaupt der usus theologicus legis, auf den es Ebeling im reformatorischen Sinne zentral ankommt, gewahrt ist und zur Geltung kommt. Ich meine, dass der usus theologicus legis im säkularen Horizont gerade so angemessen zur Sprache gebracht werden kann, weil die Wirkung der Gesetzespredigt, zu Gott und zum Evangelium hin zu treiben, gar nicht erfolgen kann, wenn nicht deutlich ist, was unter Gott und dem Evangelium im Bezug auf die eigene Lebenserfahrung verstanden werden kann. Gemäß meiner These, dass die Erfahrungsgrundlage für Gottes Wirken im Leben geschwächt ist, ist es notwendig, mit Hilfe der Gesetzespredigt den Gottesbezug der menschlichen Erfahrung zu klären und dem Bewusstsein wieder durchsichtig zu machen. Diesen Zusammenhang möchte ich durch Beobachtungen zur Situationsveränderung der Rede von Gesetz und dem damit verbundenen Gericht im Horizont des Säkularismus ergänzen, um von dort aus zu beschreiben, wie in einer nicht anklagenden, sondern beschreibenden Weise der usus theologicus legis in dieser Situation gerade angemessen zur Geltung kommt.
5.1.3.1 Nihilismus statt Endgericht als Horizont und Erfahrungsgrundlage des Redens vom Scheitern am Gesetz In einer allgemein religiösen Situation, in welcher die Existenz von Gott oder Göttern nicht in Frage steht, erscheint deren Wille als selbstverständlich bestimmend für das menschliche Leben. Das den göttlichen Willen zusammenfassende Gesetz wird als heilig erlebt, weshalb seine Verletzung Bestrafung und Wiedergutmachung nach sich ziehen muss. In einem solchen Kontext steht der anklagende Charakter des Gesetzes mindestens gleichwertig neben dem Aspekt, dass man mit Hilfe des Gesetzes den Weg zu einem von Gott gesegneten Leben finden kann. Dem Gelingen des Lebens steht dann nicht nur das Scheitern als Erfahrung von Sinnlosigkeit und Leere gegenüber, sondern auch die Angst vor dem Zorn und der Strafe Gottes. Die Angst vor
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dem strafenden Gott als Angst davor, im Endgericht nicht zu bestehen, ist noch der selbstverständlich ins Bewusstsein tretende Horizont, wenn zu Zeiten Luthers vom Gesetz gesprochen wird. Dieses Bild des Gerichts wird umso blasser, je mehr die Gottesvorstellung an sich ins Wanken gerät. Im gleichen Maße, wie durch die Säkularisierung Gott als bestimmend für unser Leben aus dem Bewusstsein verschwindet, verliert auch die Vorstellung eines Gerichts an Bedeutung, obwohl die bange Frage nach dem Bestehen im Gericht angesichts eines Todesfalles durchaus mit den Resten des Gottesglaubens aktiviert wird. Nun mag man leicht geneigt sein, das Verblassen der Vorstellung vom strafenden Gott und vom drohenden Endgericht am wenigsten tragisch zu nehmen, wie denn ja auch eine Gesetzespredigt, die mit dem drohenden Gericht Angst machen und zu Christus treiben will, heute zum Glück nicht zur Debatte steht. Dennoch ist es mit dem stillschweigenden Verschwinden der Gerichtsvorstellung aus der Predigt nicht getan. Nötig scheint mir vielmehr zu fragen, was denn sinnvoller Weise an die Stelle der drohenden Bestrafung im Gericht zu treten hat, wenn die Frage der Folgen des Scheiterns am Gesetz Gottes im Raum steht. Gefragt ist damit nach dem Punkt, auf den die Erfahrungen des Scheiterns und des Unheils im Leben bezogen werden können. Gefragt ist nach dem Gegenpol des Gelingens und der Fülle des Lebens. Wie lässt sich das, woraus Jesus Christus letztlich rettet, auf den Punkt bringen? Ein Versuch wäre verfehlt, die Vorstellung des Endgerichts zu reaktivieren, um die befreiende Macht des Evangeliums vor Augen zu führen. Auch hier gilt, dass angesichts der Situation des Zweifels über die Existenz Gottes nicht spekulativ von Gott zu reden, sondern auf die konkreten Erfahrungen der Menschen Bezug zu nehmen ist. Deswegen erscheint mir das Gegenstück zum Endgericht, das droht und in verschiedenen Abstufungen aktuell erfahrbar ist, wenn man dem Gesetz Gottes nicht entspricht, der Nihilismus zu sein. Der Nihilismus kann m. E. nicht nur theologisch als Gerichtserfahrung verstanden werden, er scheint mir in mancher Hinsicht besser geeignet, theologische Sachverhalte wie Sünde und den richtenden deus absconditus ohne nahe liegende moralisierende Missverständnisse zur Sprache zu bringen. Unter Nihilismus verstehe ich die Erfahrung der Abwesenheit Gottes, die dann auch als Abwesenheit eines Sinn und Wert vermittelnden Zentrums des Lebens erlebt wird. Die Erfahrung des Nihilismus ist: es ist da nichts Absolutes, an das man sich halten könnte, das meinem Leben Sinn und Richtung gibt; es gibt keinen Gott. Entsprechend der oben herausgestellten Zusammengehörigkeit von Gottesverhältnis, Verhältnis zum Anderen und zu mir selbst, hat der Nihilismus über den Gottesbezug hinaus Folgen für das Selbstverhältnis und die Beziehungen zu den Mitmenschen. Der Übermensch Nietzsches z. B. erfährt nicht eine Bestimmung, die ihn in Einklang mit sich selbst versetzt, sondern stellt sich dem Schicksal des Nihilismus mit dem heroischen Mute der Verzweiflung. Der Übermensch trägt zwar für die gemeine Masse das Schicksal des Nihilismus, eine offene Begegnung oder gar Gemeinschaft
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zwischen dem Übermenschen und dem Mensch der Masse ist dabei aber ausgeschlossen.19 Sartre hält an der Situationsbeschreibung des Nihilismus fest, verwirft aber die Idee des Übermenschen. Dennoch ist bei ihm das Bild bezüglich des Selbstverhältnisses und des Verhältnisses zu anderen ähnlich. Der Mut und das trotzige Festhalten am eigenen Entwurf werden angesichts der faktisch fehlenden Werte-Hierarchie geradezu zum einzigen ethischen Wert. Die daraus resultierende Problematik drohender Assozialität, die das Scheitern in den mitmenschlichen Beziehungen klar vor Augen stellt, veranlasste Sartre, sich später dem Marxismus zuzuwenden.20 Ein offensiv vertretener Nihilismus dürfte auch heute eher eine Extremposition sein, dennoch sind die damit angesprochenen Erfahrungen einer fehlenden Gewissheit der eigenen Aufgabe, der Dialektik von Selbstbehauptung gegen andere und dem Bedürfnis nach Nähe und geteiltem Leben und die Erfahrung der Abwesenheit Gottes, die ja in diesen bereits zum Ausdruck kommt, Allgemeingut. Die Predigt des Gesetzes, die im Rekurs auf die Erfahrung das Gesetz der Lebenswirklichkeit im christlichen Verständnis zur Geltung bringt, kann sich auf diese Erfahrungen beziehen, um die Folgen des Scheiterns am Gesetz der Lebenswirklichkeit zu benennen. Zugleich liegt in diesen Erfahrungen der gefühlte Mangel, das Ungenügen, die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben, die sinnvoll auf Gott bezogen werden können. Die Folge des Scheiterns am Gesetz Gottes ist dabei nicht die drohende Strafe im Endgericht, sondern das unmittelbar erlebte Ungenügen und vergebliches Bemühen um ein glückliches, erfülltes Leben. Sünde wird dabei als das erkennbar, was sie in ihrem Kern ist: nicht Verfehlung gegen moralische Normen, sondern getrennt sein von Gott und leben aus sich selbst, das zwischen „aus sich selbst leben wollen“ und „aus sich selbst leben müssen“ schwankt. Sünde wird erkennbar nicht als moralischer Defekt, sondern als Verderbnis des Seins. Das „Gericht“ Gottes ist dann, dass Gott die Menschen sich selbst überlässt, die sich der von ihm dargebotenen Gnade verweigern. Es ist als verfehltes Leben die notwendige Kehrseite des von Gott bestimmten erfüllten Lebens. Das Gericht und der deus absconditus hat in diesem Sinne nichts mit einem Gott zu tun, der strafen und vergelten will. Der deus absconditus ist nicht der zornige, sondern der abwesende Gott. Gott will mit den Menschen zusammen leben, er will ihr Heil. Daneben von einem strafen wollenden Gott zu sprechen, scheint mir unnötig. Das Bedürfnis nach Bestrafung und gerechtem Ausgleich ist menschlich, wie allerdings auch die Androhung von Strafe im menschlichen Zusammenleben zur Erhaltung des Lebens unvermeidlich ist. In diesem Sinne kann dann auch im Sinne des usus politicus legis der Reformation von dem Willen Gottes zur Bestrafung im Sinne des Schutzes des Lebens gesprochen werden.
19 Fetscher, Nihilismus, 1482. 20 Ebd.
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5.1.3.2 Die Wirksamkeit des usus theologicus legis im Aufzeigen des Gesetzes der Lebenswirklichkeit Die Überlegungen des letzten Abschnitts haben gezeigt, dass das Erfahrungen deutende Aufzeigen des Gesetzes der Lebenswirklichkeit heute geeignet ist, den Sinn des usus theologicus legis zu erfüllen. Indem sich das Aufzeigen und Deuten des Gesetzes der Lebenswirklichkeit an der Erfahrung orientiert, macht es zugleich das Scheitern im Verbund mit der Sünde als „Leben-Wollen aus sich selbst“ deutlich und den Mangel und die Sehnsucht nach einem Leben fühlbar, in dem Nähe zu mir selbst, zum Anderen und zu Gott gelingt. Es ist in einem Aufzeigen des Irrtums und Hintreiben zu Gott. Entscheidend dabei ist, dass man verstehen kann, was es bedeutet, sich Gott zuzuwenden. Bei entsprechend erfahrungsnaher Auslegung ist sowohl erkennbar, welche Veränderung des Lebens und des Seins mit dem Glauben verheißen wird, als auch, wie man sich Gott unter gegenwärtigen Bedingungen des Denkens vorstellen kann. Es bedarf dann sicherlich einiger von deutender Reflexion begleiteter Einübung im Glauben, bis man die erfahrbaren Ansätze gelingenden Lebens im Selbstverhältnis und im zwischenmenschlichen Bereich auf das ihnen zu Grunde liegende Gottesverhältnis zu beziehen lernt. Gelingt dies, weicht die Unsicherheit und Ambivalenz im Gelingen des Zwischenmenschlichen und im Selbstverhältnis mehr und mehr einem Sein im Einklang mit sich selbst, mit dem Anderen und mit Gott. Demgegenüber hat eine an das Gewissen und Verantwortungsbewusstsein appellierende Predigt immer das Problem, dass der Bezug auf das Sein, das mit der Sünde und dem Gottesbezug zur Debatte steht, in Richtung auf einzelne Handlungen verloren geht. Das Abgleiten ins Moralisieren liegt relativ nahe, sowohl auf Seite des Predigers als auch auf Seiten des Predigthörers, der auf dem moralischen Ohr hören kann, obwohl es der Prediger nicht so meint. Der Appell an Gewissen und Verantwortung wirft zudem eher die Hörer auf sich selbst zurück, als dass er den Weg zu Gott hin öffnet. Zu eng sind seit der Aufklärung Gewissen und Verantwortung mit der Vorstellung der Autonomie des Menschen verbunden. Zudem wird die Verantwortungslast gegenwärtig immer drückender. Es sei nur an die Verantwortung für die Zukunft erinnert, von der immer weniger deutlich ist, wie man ihr gerecht werden kann, sowie an die Rede von der Eigenverantwortung, die nicht ganz frei davon ist, strukturelle Probleme sinnloser und belastender Weise dem Einzelnen aufzubürden. Gerade die Verantwortung vor den künftigen Generationen kann zwar sehr wohl geeignet sein, das eigene Unvermögen und Scheitern einzusehen. Aber es ist nicht nur sehr schwer zu hören und bis ins letzte an sich heran zu lassen, es bleibt bei dieser Form der Gesetzespredigt auch unklar, wie das Gelingen aussehen kann und warum es seinen Grund und Bestand im Gottesverhältnis hat. Eine darauf sich beziehende Evangeliums-Verkündigung, die zusagt, dass jeder einzelne von Gott angenommen, gewollt und
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wertgeachtet ist, ist inhaltlich zweifellos richtig. Dennoch steht sie vor der Schwierigkeit, dass Gott in diesem Satz für die meisten Hörer in seinem Sein und in seiner Bedeutung für die Wirklichkeit, die unser Leben angeht und bestimmt, unklar und problematisch bleibt. Dann aber kann die Botschaft des Evangeliums nur als schönes Gegenbild gegen die leider andere Lebenswirklichkeit verstanden werden, dessen seinsverändernde Wirksamkeit permanent von Zweifeln an seinem Wirklichkeitsbezug und seiner Wirklichkeitsmächtigkeit untergraben werden. Ganz abgesehen davon, dass bei dieser Form der Evangeliums-Verkündigung das Darbieten einer billigen Gnade nahe liegt, und der Widerspruch Gottes gegen die Sünde und der damit verbundene Ernst häufig ausfällt oder doch undeutlich bleibt. Die punktuelle Aussage über die Annahme des Einzelnen durch Gott ist zu wenig, um die differenzierten Zusammenhänge zwischen Leben mit und ohne Gott in ihrem Verhältnis zur Lebenswirklichkeit zu erfassen.
5.1.4 Evangelium Während die Erfahrungen des Seins unter dem Gesetz vielfältig, weil dem geschichtlichen Wandel unterworfen sind, ebenso wie die jeweiligen Deutungen der Lebenswirklichkeit, bezieht sich das Evangelium auf die singuläre geschichtliche Erscheinung Jesu und hat in dem Wirklichkeit-geworden-Sein seines Lebens, Sterbens und Auferstehens seinen abgeschlossenen, unüberholbaren und damit auch einfachen Grund. Das Entscheidende ist beim Evangelium nicht wie beim Gesetz eine Erkenntnis, auf die hin das Handeln neu ausgerichtet werden kann, als welche sie immer unabgeschlossen und vielfältig ist, sondern ein Sein, das uneingeschränkte Zusammensein von Gott und Mensch, das in Jesus Christus geschichtlich Wirklichkeit geworden ist. Untrennbar damit verbunden ist das Zweite, dass dieses wirklich gewordene Sein nicht nach Art des Gesetzes als Forderung begegnet, die von uns zu verwirklichen wäre, sondern dass wir an dieser Wirklichkeit, die für uns von uns aus unerschwinglich ist, Anteil bekommen.21 Das, was wir von uns aus nicht zu erreichen vermögen, nämlich beständig gegen unseren Selbsterhaltungstrieb, unsere Angst und unsere Bedürfnisse aus dem Zusammensein mit Gott zu leben, ist uns ermöglicht durch die Weise des Anteil-Bekommens an einer bereits bestehenden Wirklichkeit. Durch den Anschluss an etwas bereits Vorhandenes, das Anteilnehmen an einem begegnenden Sein, das grundsätzlich der Struktur menschlichen Seins als Zusammensein entspricht, wird die Struktur des Seins unter dem Gesetz aufgehoben, in welcher die Differenz von gefordertem und tatsächlichem Sein niemals überwunden wird. Der ge21 Dieses Zweite ist kein Widerspruch zur Einfachheit des Evangeliums. Dieses Einfache ist seinem Wesen nach von der Art, dass es Anteil gibt, weil es Liebe ist, deren Ziel das Sein als Zusammensein ist.
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setzlich unvermeidliche Impuls an den Willen, die Differenz von sich aus zu überbrücken, der mit der unauflöslichen Ambivalenz von verdienter Annahme und Wunsch nach unbedingter Annahme verbunden ist, läuft ins Leere. Es ist Begegnen und Ereignis-Werden des Seins, das als von uns erreichtes in sich unmöglich ist. Es ist dem vergleichbar, dass einem Menschen von einem anderen Liebe widerfährt, die als erreichte, verdiente Liebe nicht die Liebe wäre, die ihm als Ereignis zu Teil wird. Freilich bleibt diese zwischenmenschliche Liebe, ohne dass dadurch ihr positiver Wert verloren geht, der Ambivalenz zwischenmenschlicher Anerkennung ausgesetzt, weil wir als Geschöpfe einander nicht zum absoluten Grund des Lebens werden können.22 Was Evangelium ist und wie es in unserem Leben wirkt, kann mit Bezugnahme auf Buber und Marcel ausgelegt werden. Im Folgenden soll in Orientierung an Ebeling gezeigt werden, inwiefern Jesus Christus in seinem Leben, Sterben und Auferstehen als das Ereignis des Wirklich-Werdens dieses Seins verstanden werden kann. Dabei wird auch deutlicher werden, dass dieses Ereignis seinem Wesen nach ein sich mitteilendes, austeilendes Ereignis ist.
5.1.4.1 Die Fleischwerdung des Wortes: Gottes Wort als Person Weil das Wort Fleisch wurde, ist das uneingeschränkte Zusammensein von Gott und Mensch nicht mehr Forderung, sondern menschlich-geschichtliche Wirklichkeit geworden. Dabei liegen immer zugleich zwei Aspekte ineinander : dass der wahre Mensch Wirklichkeit geworden ist, und dass er den anderen Menschen in der ihnen gemäßen und fassbaren Weise als Mensch begegnet, so dass sie Anteil gewinnen können an seinem Sein. Wir können hier daran erinnern und anknüpfen, dass das uneingeschränkte Zusammensein des Menschen mit Gott, das in Jesus Wirklichkeit geworden ist, ein Zusammensein im Medium des Wortes ist. Jesus entspricht als Hörender und Handelnder ganz dem vollmächtigen Wort Gottes, das der Situation gerecht wird und sie zum Heil hin verändert. Darum ist er zugleich der Ort der Anwesenheit Gottes für die Menschen, die ihm begegnen. Er selbst, der ganz vom Wort Gottes lebt, wird für die anderen zum Wort Gottes. Dass er auf diese Weise als Wort Gottes in Person erscheint, heißt, dass bei ihm nicht wie bei allen anderen Menschen eine Differenz zwischen seinem Sein und seinen Werken besteht. Jesu Sein als Zusammensein mit Gott, das als Gottes Zusammensein mit ihm auf das Zusammensein mit allen Menschen zielt, findet ungebrochen Ausdruck in seinem Leben: er ist Gottes Wort in Person.23 Dem entspricht als 22 Die zwischenmenschliche Liebe, die zugleich einen festen Grund des eigenen Seins im Glauben hat, vermag dann auch mehr und mehr frei zu werden von Überforderung und Ambivalenz. 23 Ebeling grenzt davon als andere Arten der Anwesenheit Gottes „magische Anwesenheit“, „mythische Vermischung von Göttlichem und Menschlichem“, „Inspiration und Autorisation von Menschen durch Gott“ und „Zusammensein Gottes mit der Kreatur“ ab. Ebeling, Dogmatik II, 66 ff.
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Prinzipielle Homiletik als Auslegung von Gottes Handeln
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Antwort des Menschen, dem das Wort Gottes in Jesus begegnet, der Glaube, der „in das Zusammensein mit Gott hinein [nimmt]“.24 Glauben heißt, sich in der Begegnung mit Jesus einzulassen auf das Zusammensein mit Gott, das in Jesus begegnet. 5.1.4.2 Das Wort vom Kreuz Was im vorher gehenden Abschnitt leicht wie eine bloße steile theologische Behauptung klingt, hat sich angesichts des Todes als Wirklichkeit zu erweisen. Zugleich ist das Wort vom Kreuz, in dessen Zentrum das „Für dich“ steht, der Vorgang, durch den wir im Glauben Anteil am Sein Jesu gewinnen. Darum ist das Wort vom Kreuz, wiewohl es vom Tod handelt, das Zentrum der frohen Botschaft, an dem erkannt wird, was es um Gott und um unser Heil ist, und das, im Glauben aufgenommen, für uns Anteil am Heil bedeutet. Bei dem Versuch einer deutenden Beschreibung dieser Zusammenhänge gilt in besonderem Maße, was an sich für alle Glaubensaussagen gilt: sie entfalten ihre Wahrheit nur im Zusammenklang dessen, was nur nacheinander gesagt werden kann; werden einzelne Aussagen isoliert verstanden, werden sie leicht falsch. Das behauptete uneingeschränkte Zusammensein Jesu mit Gott erweist sich im Erleiden des Todes. Weil wir in Jesus nicht hinein schauen können, bleibt sein Zusammensein mit Gott für uns ja immer der Fraglichkeit ausgesetzt, weil wir von uns selbst nur die Ambivalenz des Schwankens zwischen Hingabe und Selbstbehauptung kennen. Nun aber weicht Jesus vor dem Tod nicht aus, der eine Konsequenz seines Auftrags von Gott und damit seines Glaubens und seines Gottesverhältnisses ist. Im Tod ist sein „Gottesverhältnis aller irdischen Sicherung entledigt und ganz auf den Glauben gestellt, weil ganz auf die Gnade.“25 Im Sterben des Fluchtodes am Kreuz gibt es keine dem Selbstbild schmeichelnde Rückspiegelung seitens des Menschen, im Tod gibt es kein Sich-Behaupten mehr. Als Konsequenz des Auftrages Gottes kann sich dieses Sterben nur ganz auf diesen Glauben, das Gottesverhältnis und seine Macht gegenüber dem Tod verlassen. Was von unserer Seite aus das Zusammensein mit Gott einschränkt, ist unser Eigenwillen, der auf Steigerung des Lebens zielt. Das Zurückstellen seines Eigenwillens im Ringen in Gethsemane im Angesicht des Todes ist Ausdruck des uneingeschränkten Zusammenseins von Gott und Mensch in Jesus. Dass Jesus im Tod ganz auf den Glauben und die Gnade gestellt ist, verändert das Verständnis von Heil. Es ist nicht Heil, das in irdischer Macht und Weisheit zum Ausdruck kommt, und daher den Tod als seine Negation fliehen muss. Es ist kein Heil am Tod vorbei, „sondern durch den Tod hindurch.“26 Der 24 Ebd., 93. 25 Ebd., 214. 26 Ebd., 215.
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Tod wird in das Heil integriert. „Es kann auch nicht das als Heil gelten, was nicht im Tode zur Vollendung kommt.“27 Solche Sätze sind freilich schwer zu hören. Es kommt darauf an, dass der Tod dem von Gott kommenden Heil nichts anhaben kann, dass der Allgewalt des Todes und dem Tod als letztes Wort widersprochen ist. Das Heil vollendet sich im Tod, weil die Gottesbeziehung, die Heil bedeutet, im Tod bestehen bleibt und von allen dagegen stehenden Einschränkungen befreit wird. Das bedeutet keine Reduktion des Menschseins auf die Gottesbeziehung ohne die zwischenmenschlichen Bezüge. Wie die Gottesbeziehung und das erfüllte, jetzt schon ewige Leben wesentlich in den zwischenmenschlichen Bezügen und auch im Selbstverhältnis lebt, so bleiben diese auch im Tod und durch den Tod, von Gott getragen, erhalten. Am Kreuz vollzieht sich damit auch die Scheidung von dem, was endlich und vergänglich, und dem, was ewig ist. Diese Scheidung steht im Widerspruch zu dem, wie man sich Gott und seine Macht im Allgemeinen vorzustellen pflegt. Gottes Macht erweist sich nicht in Machttaten, die sich innerhalb des vergänglichen Seins durchsetzen. Gottes Macht erweist sich darin, dass er größer und umfassender ist als das vergängliche Sein, und dass er den Menschen an diesem seinen Sein im Zusammensein mit ihm Anteil gibt. Das ewige Sein Gottes in seiner Beziehung zu uns begegnet uns dabei immer schon im irdischen Leben, überall da, wo wir auf das Geheimnis der Wirklichkeit stoßen: In der Liebe und Verbundenheit zwischen den Menschen, die in Gott gründen und keine dem physischen Vergehen unterworfene Dingnatur haben. Das Wort vom Kreuz bewirkt so ein Umdenken in Bezug auf das Verständnis des Heils und das Verständnis Gottes. Diese Veränderung des Verständnisses von Heil und Tod bedeutet auch, dass von einem Leben nach dem Tod zu sprechen im Bezug auf den Glauben ans Kreuz nichts mit der Vorstellung zu tun hat, dass das Leben unterbrochen durch den Tod weiter geht wie gehabt. Auch die damit verbundenen Vorstellungen einer Kompensation von erlittenem Unrecht sind diesbezüglich zu hinterfragen. Darum spricht man auch unmissverständlicher besser nicht vom Leben nach dem Tod, sondern vom Leben durch den Tod hindurch. Das Leben bleibt ja vom Tod nicht unberührt und unverändert, es ist nicht ein weiter so, das den Tod bagatellisiert. Was durch den Tod hindurch sich am Leben erhält und damit als eigentliches Leben erweist, ist von anderer Gestalt als das Leben vor dem Tod. Was im irdischen Leben bereits als ewiges Leben anzusprechen ist, in der Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen, bleibt erhalten und gewinnt im Sein bei Gott Raum. Insofern gibt es eine Kompensation des Leidens, als das Leiden an der Gewalt ein Ende findet und das Leben dadurch uneingeschränkt bestehen kann. Eine aufrechnende Kompensation gibt es nicht. Dies zeigt, dass der Trost des Auferstehungsglaubens nicht zum Quietismus führt. Die Stellen des Neuen Testaments, die von den Früchten und dem Lohn im Himmel sprechen, die man bisweilen im Widerstreit mit der 27 Ebd., 218.
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Rechtfertigungslehre sieht, erhalten an dieser Stelle ihren guten Sinn. Das, was jetzt im Glauben gelebt wird, kann dann uneingeschränkt vom Widerstand der Welt bestehen. Ebenso kann man Angesichts der sich offenbarenden Dürftigkeit und Nacktheit des eigenen gelebten Anteils am ewigen Leben durchaus von Heulen und Zähneklappern sprechen.28 Unter dieser Perspektive wird auch deutlich, dass die oben gemachten kritischen Bemerkungen zur Vorstellung des Gerichts im Sinne eines vergeltenden Gottes keineswegs den Ernst des Glaubens und Lebens aufweichen und das Gericht auf nur zeitliche Folgen reduzieren. Das Ausschlagen des Heils bedeutet Unheil auch durch den Tod hindurch, wobei auch hier die Vorstellung einer Vergeltung ganz fern zu halten ist, wie dem für dich, das in Jesu Hingabe begegnet, zweifelsfrei zu entnehmen ist. In diesem für dich, das Anteil gibt am Sein Jesu und als Angebot ausnahmslos und bedingungslos allen gilt, liegt die frohe Botschaft des Evangeliums. Darüber hinaus die Kehrseite der Verweigerung des Heils als mit der Liebe Gottes unvereinbar zu erklären, führt sehr nahe an die Gefahr heran, Gott mit einem alle Realität zudeckenden Trostpflaster zu verwechseln, das nicht zum heilen Leben, sondern zur Verbiegung der Wahrheit führt. Damit soll nicht geleugnet sein, dass es in Gottes Macht steht, letztlich alle Menschen zu sich zu führen. Der Trost, der in diesem Gedanken liegt, wird dann zum falschen Trost, wenn er von dem für dich des Evangeliums ablenkt. Denn an eines sind wir im Glauben gewiesen: selbst wenn Gott letztlich alle zu sich führt, dann doch nur durch dieses für dich hindurch und nicht auch an diesem vorbei.29 Einen verstehenden Zugang zum für dich des Wortes am Kreuz kann man vielleicht öffnen, wenn man Jesu Tod mit anderen Martyrien vergleicht, sei es des Alten Testamens, des Neuen Testamens oder der Kirchengeschichte. Es trifft ja auch auf die alttestamentlichen Propheten und die späteren Glaubenszeugen zu, was oben über das Festhalten am Auftrag Gottes im Angesicht des Todes gesagt wurde: hier fällt alle irdische Sicherheit weg, und allein der Glaube bleibt übrig. Der Unterschied besteht darin, dass Jesus der sich Hingebende ist, dessen Auftrag und ganze Existenz der Zuspruch der Sündenvergebung Gottes ist.30 Sünde ist hierbei wiederum nicht auf Taten, sondern 28 Zu den angeklungenen Evangelienstellen seien noch zwei Paulustexte aus dem 2. Korintherbrief angeführt. 2. Kor. 4,16 f: „Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“ Und 2. Kor. 9,6: „Ich meine aber dies; Wer da kärglich sät, der wird auch kärglich ernten; und wer da sät im Segen, der wird auch ernten im Segen.“ 29 Diese Aussage ist als Aussage zu verstehen innerhalb des sich über sich selbst verständigenden christlichen Selbstverständnisses. Auf das Problem eines sich eventuell daraus ableitenden christlichen Absolutheits- und Exklusivitätsanspruchs im Verhältnis zu anderen Religionen kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. 30 Der Zuspruch von Sündenvergebung mag auch bei christlichen Märtyrern eine Rolle spielen.
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auf das den Taten zu Grunde liegende Sein zu beziehen. Die wirksame Sündenvergebung in diesem Sinne, d. h. das Aufheben des Zustandes des vom Menschen aus gestörten Zusammenseins mit Gott, ist die Seins-Verbundenheit mit Jesus, dessen Sein das sündlose Sein ist. Anders gesagt: Die Sündenvergebung Jesu ist ihrem Wesen nach ein Teilgeben an seiner Sündlosigkeit. Es ist daher die Sündenvergebung, die sich ausnahmslos und ohne Bedingung an alle richtet, weil alle der Sündlosigkeit in diesem Sinne ermangeln und sie von sich aus niemals erreichen können. Das von Jesus für uns erwirkte Heil ist seinem Wesen nach nicht exklusiv, sondern inklusiv. Darum wird Jesus auch nicht, wie es z. B. von Henoch heißt, in den Himmel entrückt. Stephanus sieht ihn vor seinem Martyrium zur Rechten Gottes sitzen, d. h. Jesus wird von Gott auferweckt und zu dem fortdauernden Amt der Sündenvergebung für alle Menschen eingesetzt. Das uneingeschränkte Zusammensein von Gott und Mensch ist im Auferstandenen allen angeboten. Reicht aber nicht das Wort von der unbedingt uns vergebenden Liebe Gottes aus? Wozu bedarf es des Wortes von der Versöhnung am Kreuz, des für dich dahin gegeben? Es ist nötig, weil die Liebe Gottes keine Liebe des guten Vorsatzes ist, sondern des tätigen Tragens und Erleidens. Sie trägt und erleidet die Verletzung und Zerstörung der Beziehung von Seiten des Menschen und seine Ablehnung. Die Ablehnung und Auflehnung gegen Gottes unbedingten Gemeinschaftswillen, gegen Gottes gelebte Liebe in Jesus Christus, sein Zuspruch der Vergebung von Sünde und seine Heilungen auch am Sabbat bringen Jesus ans Kreuz. Indem Jesus sich kreuzigen lässt, nimmt er den Widerstand und die Ablehnung gegen die Liebe auf sich und besiegelt mit seinem Tod die Gültigkeit und Fortdauer dieser Liebe.31 Diese Liebe, die alles trägt und erträgt, ist trotz des Tötungswillens der Menschen die ausgestreckt bleibende Hand Gottes zur Gemeinschaft. Es ist die Liebe, die im für dich erfahren wird. Das für dich ist zugleich ihr Ausdruck und ihr Sein. Als Liebe und als für dich ist sie Ausdruck des Willens zur Gemeinschaft im gehaltvollen Sinne des Zusammenseins. Der Glaube als Antwort auf das für dich ist das Zusammensein mit Jesus, das zugleich Zusammensein mit Gott ist, weil Jesu Sein Zusammensein mit Gott ist. „Das Für-uns vollzieht sich lebensmäßig als ein Sein mit Christus, als ein Hineingenommensein in das, was an ihm und durch ihn geschehen ist, als ein Teilnehmen daran, […]. Das Weiterwirken hat den Charakter einer Seinsverbundenheit. Deren innere Relation kann außer durch das Für und das Mit auch durch das wechselseitige In zum Ausdruck kommen.“32 Ihr wesentliches Zeugnis ist aber der Verweis auf Jesus Christus, in dessen Namen sie Sünden vergeben. 31 Vgl. Ebeling, Dogmatik II, 223: „Am Kreuz wird dies beides miteinander anschaulich: zum einen der Widerstand der sündigen Menschheit gegen die gelebte Liebe Gottes und zum anderen der Preis des Sündlosen für die gelebte Liebe Gottes.“ 32 Ebd., 220.
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Wiewohl ich meiner Auslegung viele Einsichten und Klärungen Ebeling verdanke, möchte ich ihm in einem Punkt widersprechen, der die Deutung der Versöhnung als Sühne betrifft. In Fortsetzung des Gedankens der erleidenden und Ablehnung ertragenden Liebe heißt es bei Ebeling: „Versöhnung ist also Tat in der Form des Leidens und Sterbens. An diesem Beieinander von Tat und Tod in der Versöhnung hängt ihr Sühnecharakter. Und am Sühnecharakter der Versöhnung hängt ihre Wahrheit, sowohl in Hinsicht auf den veranlassenden Grund ihrer Notwendigkeit, als auch in Hinsicht auf den Ermöglichungsgrund ihrer Wirklichkeit.“33 Die Einheit von Tat und Tod ist mit der ertragenden Liebe, die aus dem unbedingten Gemeinschaftswillen Gottes erwächst m. E. hinreichend gedeutet. Die Vorstellung der Sühne ist demgegenüber untrennbar mit dem Gedanken einer Wiedergutmachungsleistung gegenüber Gott verbunden,34 welche den Willen zur Gemeinschaft verdunkeln und verzerren kann, der in der erleidenden Liebe zum Ausdruck kommt. Die Wahrheit der Versöhnung hängt daran, dass in Jesus Gottes Willen zur Gemeinschaft durch den Tod nicht negiert und sie durch die Ablehnung der Menschen nicht unwirksam gemacht wird. Der „veranlassende Grund ihrer Notwendigkeit“ ist das vom Menschen nicht in Ordnung zu bringende und vom Menschen aus gestörte Zusammensein von Gott und Mensch. Der „Ermöglichungsgrund ihrer Wirklichkeit“ ist die Teilhabe am Sein Jesu, nicht eine Gott zu erbringende Gegenleistung für die Sünde.
5.1.4.3 Das Wort des Lebens Das Wort des Lebens ist gegenüber dem Wort vom Kreuz kein inhaltlich neues Wort. Es ist das Wort der Proklamation, dass Gott und Jesus endgültig und unwiderruflich zusammen gehören. Das Wort von der Auferstehung korrigiert nicht das Wort vom Kreuz, indem es den Tod zurücknimmt, es bestätigt vielmehr, dass das durch den Tod hindurch gegangene Leben ewiges Leben bei Gott ist. Das Wort von Kreuz und Auferstehung ist Wort des Lebens, weil es das ewige Leben in Christus weitergibt: „in ihm ist nicht das menschliche Leben wirksam, das den Lebensdurst nicht stillen kann, sondern das ewige Leben, das an erfülltem, wahrem Leben Anteil gibt.“35
33 Ebd., 222. 34 Lanczkowski, Sühne, 474. 35 Ebeling, Dogmatik II, 343.
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5.2 Programm einer hermeneutischen Homiletik: prinzipielle, materielle und formale Aspekte 5.2.1 Prinzipielle Homiletik Wie im einleitenden Kapitel zu diesem Gesamtentwurf bereits angesprochen, steht bei einer spekulativen Vorgehensweise ein als „dogmatisch übersteigert“36 empfundener Predigtbegriff im Bewusstsein des Predigers die „nirgendwo reale Verkündigung der Kirche“37 der realen Wirklichkeit der Sonntagspredigt gegenüber. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn sich wie z. B. bei Barth zu beobachten, die prinzipielle Homiletik darin erschöpft, die Predigt als Gottes Wort zu bestimmen, ohne dabei zu explizieren, wie dies im Rahmen ontologischer und anthropologischer Überlegungen, die einen Bezug zum Erleben der Wirklichkeit haben, verstanden werden kann. Angesichts dieses Mangels ist zu bedenken, dass es ja gerade das Wort Gottes ist, das die Verbindungsstelle zwischen Gott und Mensch ist, also gerade der Punkt, der eine Explikation dieser Verbundenheit in ihrer Möglichkeit und ihrem Sein erfordert. Umso mehr, als es beim Wort Gottes gemäß seiner soteriologischen Ausrichtung um seine das Sein verändernde Wirkung am Menschen geht. Von dieser seinsverändernden Wirkung zu sprechen, ohne sich dabei auf ein Verständnis des Seins des Menschen in seinem Verhältnis zu Gott zu beziehen, das sich in seiner Plausibilität an der Wirklichkeitserfahrung ausweisen kann, führt dann zur Diastase von dogmatisch übersteigertem Predigtbegriff und realer Sonntagspredigt. Das, was als orientierende Verstehens-Hilfe für die Vermittlungsaufgabe der Predigt hier zu leisten wäre, wird dann dem Prediger mit der Aufgabe aufgebürdet, eine den „Menschen der Gegenwart angehende Erklärung eines biblischen Textes“38 zu leisten. Die genuin systematischtheologische Aufgabe wird damit an die Exegese und an das Vermögen des Predigers, in rechter Weise zu hören und sich vom Geist Gottes bestimmen zu lassen, delegiert, der damit von der Homiletik für seine Aufgabe nicht theologisch orientiert, sondern allein gelassen ist. Meine Grundthese hinsichtlich der homiletischen Theoriebildung ist daher, dass es nur dann zu einer integrierten Gesamttheorie der Predigt kommen kann, in der die Arbeit des Predigers theologisch orientiert wird, wenn in der prinzipiellen Homiletik die Aufgabe geleistet wird, das, was ihrem Begriff nach in der Predigt geschieht, in Beziehung auf das Menschsein des Menschen so zu entfalten, dass die Verbindung zur erfahrenen Wirklichkeit hergestellt werden kann. Wenn dies geleistet wird, führt prinzipielle Homiletik nicht zu einem übersteigerten Predigtbegriff, dessen Beziehung zur Wirk36 So die Formulierung von Drehsen, Predigtlegitimation, 233. 37 Rössler, Problem, 180. 38 Barth, Homiletik, 30.
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lichkeit fraglich ist. Die prinzipielle Homiletik ist dann in ihrer theoretischen Entfaltung zugleich praktisch orientierend für die Predigtarbeit. Im Grunde ist es eine Selbstverständlichkeit, dass eine theologische Bestimmung dessen, was die Predigt ist und wirkt, die Voraussetzung für die Predigtarbeit ist. Es ist die Aufgabe der Theorie, dass sie dem Handelnden sein eigenes Tun und das, was von ihm zu leisten ist, durchsichtig und verständlich macht und ihm so ein reflektiertes und begründetes Vorgehen ermöglicht. Die so verstandene prinzipielle Homiletik richtet die Aufmerksamkeit des Predigers auf die entscheidenden Punkte und hilft ihm verstehen, was mit ihrer Bearbeitung gefordert ist. Die These ist, dass die prinzipielle Homiletik die Aufgabe einer anthropologischen und damit verbundenen ontologischen Explikation ihrer theologischen Bestimmungen hat. Der eingeschlagene Weg, dies mit Bezug auf Marcel und Buber zu tun, ist eine Möglichkeit zu versuchen, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Ich halte sie für eine plausible und fruchtbare Möglichkeit, weil sie zum einen der Anforderung nach Erfahrungsnähe und einer damit verbundenen differenzierenden Erweiterung des Erfahrungsbegriffs gerecht wird, und zum anderen ihre anthropologischen und ontologischen Bestimmungen der Auslegung des Predigtbegriffs dienen können. Dies sei an Hand der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium noch einmal rekapituliert.
5.2.1.1 Gesetz Die theologische Reflexion hat das Gesetz als Gesetz der Lebenswirklichkeit bestimmt. Es ist im Wesentlichen durch zwei Bestimmungen gekennzeichnet. Den zentralen und fundamentalen Bezug zu Gott, und der Bestimmung der Erfüllung des Seins mit dem Begriff Liebe. Beides bestätigt sich und tritt in aller Klarheit angesichts des Kreuzes zu Tage: das Entscheidende am Leben ist das Nichtsichtbare, das nicht den Gesetzen der physischen Dingnatur unterliegt, wie dies sowohl für den Gottesbezug, als auch für die Liebe wesentlich ist. Dies ist zugleich aber auch das Wesentliche in den ontologischen und anthropologischen Überlegungen Bubers und Marcels. Auch bei ihnen steht als tragendes Fundament im Zentrum der Gottesbezug, von dem her das gefährdete Leben der Liebe – die Begegnung und Unmittelbarkeit im Sinne Bubers, die empfindende Teilhabe und das Mit-Sein im Sinne Marcels – erneuert und gestärkt werden kann. Ein wesentlicher Teil ihrer Bemühungen besteht darin, die von der Dingnatur und ihren Gesetzen streng zu unterscheidende Eigenart der mit Gott und der Liebe zusammenhängenden Lebensphänomene aufzuzeigen, die sie als das eigentliche Sein verstehen. Auf diese Weise helfen sie, die sich als selbstverständlich anbietenden Vorstellungen und Deute-Kategorien, die am Sein der Dinge orientiert sind, in ihrer Unangemessenheit zu durchschauen, und damit auch die von ihnen ausgehende Anfechtung für den Glauben zu beseitigen. Was von der Theologie her
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als Gesetz der Lebenswirklichkeit zu bestimmen ist, kann in Bezugnahme auf Buber und Marcel als das Leben der Menschen treffend und in seiner Wahrheit erfahrungsnah plausibel gemacht werden. Gleiches trifft für die theologische Einsicht zu, dass der Mensch zur Erlangung des vollen Lebens oder Seins der Gnade Gottes bedarf, und die Erreichung dieses Ziels allein über den Weg des an Erkenntnissen sich orientierenden Handelns unmöglich ist. 5.2.1.2 Evangelium Die verstehende Auslegung des Gesetzes als „Gesetz der Lebenswirklichkeit“ ist zugleich die Voraussetzung für das Verständnis dessen, was unter dem Evangelium verstanden werden kann. Der Sinn des Evangeliums bezieht sich unmittelbar auf das Gesetz und ist daher zugleich mit dem Sinn des Gesetzes plausibel. Freilich ist das Evangelium als Ereignis des uneingeschränkten Zusammenseins von Gott und Mensch in Jesus Christus aus den Beschreibungen der Lebenswirklichkeit nach Buber und Marcel nicht ableitbar, was ja auch weder notwendig ist, noch sinnvoll wäre. Es geht ja allein um das Verstehen-Können dessen, was im Evangelium Ereignis wird. Ereignis wird darin nicht eine Veränderung des Gesetzes der Wirklichkeit, sondern die dem Menschen von sich aus unmögliche Erfüllung, in einer Weise, die dem Menschen an dieser Erfüllung Teil gibt. Gerade für dieses Teilgeben als dem Wirklich-Werden des Heils beim Menschen in der Wechselbeziehung von Wort und Glaube bietet wiederum die Philosophie Marcels gute VerstehensVoraussetzungen. Indem sie das Mit-Sein im qualifizierten Sinn und die SeinsVerbundenheit an Phänomenen des menschlichen Lebens herausarbeitet, bereitet sie den notwendigen Resonanzboden, der die Rede vom Mit, vom für dich und vom wechselseitigen In bezüglich der Beziehung vom Glaubendem und Jesus Christus aus der Isolation einer Sondersprache befreit. Nicht dass es überhaupt Seins-Verbundenheit gibt, ist ja das Evangelium, sondern dass wir in der Seins-Verbundenheit mit Jesus Christus an seinem Zusammensein mit Gott Anteil haben. Auch im nur Zwischenmenschlichen schafft das für dich, das Ausdruck mittragender Liebe ist, wenn man es annimmt und für sich gelten lässt, Seins-Verbundenheit. Dem für dich der uneingeschränkten Hingabe Jesu entspricht dann die uneingeschränkte, den ganzen Menschen umfassende Teilgabe am Sein Jesu.
5.2.2 Materielle Homiletik Die Frage nach dem Inhalt der Predigt erhält durch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zwei das Material ordnende Kriterien: die Lebenswirklichkeit des Menschen als zentral vom Gottesbezug und ihrer Erfüllung in der Liebe bestimmt, und Jesus Christus als das Wort des Evangeliums. In
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Abwandlung der Formulierung Langes könnte man sagen, der Inhalt der Predigt ist, mit dem Hörer über sein Leben in seinem Gottesbezug zu reden und ihm das Evangelium von Jesus Christus in diesem Rahmen verständlich zu machen und zuzusprechen. Die Überlegungen zu Buber und Marcel legen es nahe, die Lebenswirklichkeit in ihrem Gottesbezug an Hand des Ineinanders der drei Relationen Selbstbezug, Bezug zum Mitmenschen und Gottesbezug zu erschließen. Entsprechend der inneren Zusammengehörigkeit dieser drei Relationen kann man an jedem Punkt einsteigen und zu den jeweils anderen Relationen übergehen. Innerhalb dieses Orientierungsrahmens kann gleichermaßen die Erfahrung des Gelingens und des Scheiterns angesprochen werden und somit die Ambivalenz der Lebenserfahrung auf- und ernstgenommen werden. Das Durchhalten der Ambivalenz und das Aufzeigen dessen, was dem Glauben widerstreitet, sind entscheidend für Wirklichkeitsnähe und Glaubwürdigkeit der Predigt. Innerhalb des Orientierungsrahmens können die in die eine oder andere Richtung ziehenden Kräfte als Auslegung der Glaubenssprache von Sünde, Hybris, Demut, Glaube, Hoffnung, Liebe etc. angesprochen werden. Dieser Orientierungsrahmen ist m. E. kein nivellierender Universalschüssel, sondern ein Instrument, das die Fülle der Lebensphänomene, die sich in diesen drei Relationen abspielen, erschließen hilft. Dies ist eine Behauptung, die freilich nur die konkrete Anwendung verifizieren kann. In jedem Fall ist durch die drei Relationen in ihrer Ambivalenz von Gelingen und Scheitern ein umfassenderer Rahmen gegeben als durch die Sinnfrage, die im Selbstverhältnis als Selbstverständnis enthalten ist. Dieser Orientierungsrahmen kann gleichermaßen als Hilfe bei der Beschreibung der den Hörer angehenden Wirklichkeit als auch bei der Erschließung des Predigttextes dienen. In den Erzählungen von Jesus und in den im Neuen Testament enthaltenen Selbstreflexionen und Selbstaussagen des Glaubens kommt in besonderer Weise das Gelingen der drei Relationen zum Ausdruck, wobei dies gleichzeitig als Befreiung aus dem Verstrickt-Sein ins Scheitern ausgedrückt und verständlich wird. Während im Verhältnis der drei Relationen untereinander der Tendenz nach bei der Beschreibung der heutigen Wirklichkeit der Akzent auf dem Selbstverhältnis und dem Verhältnis zum Anderen liegen wird, nicht ohne den darin implizierten Gottesbezug aufzuzeigen, steht in der Sprache des Neuen Testaments der Gottesbezug selbstverständlicher im Zentrum, so dass u. U. die Beziehung zum Selbstverhältnis und zum mitmenschlichen Verhältnis aufzuzeigen ist. Die Bedeutung der Predigttexte liegt freilich entsprechend der Bestimmung des Evangeliums nicht ausschließlich im Anschaulich-Machen und in der Selbstauslegung des im Glauben sich von Gott her empfangenden Lebens, etwa entsprechend der ästhetisch praktisch-theologischen Maxime, den Hörer in das Reich Gottes hinein zu imaginieren. Dies allein wäre eine gesetzliche Predigt des Evangeliums. Entscheidend ist, dass im Verweis auf Jesus Christus das für dich als den Hörer meinend zur Sprache kommt. So wie die drei Relationen der strukturierende Orientierungsrahmen für die Predigt des
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Entwurf einer hermeneutischen Homiletik
Gesetzes sind, ist das für dich im Leben und Sterben Jesu der konzentrierende Orientierungspunkt, der alle damit zusammenhängenden vielfältigen Aspekte der Predigttexte erschließen hilft. Die prinzipielle Homiletik erweist sich damit als geeignet, bezüglich eines vorgegeben Predigttextes und der heute begegnenden Wirklichkeit die ihr angemessenen Inhalte hinsichtlich des Unterscheidungsgeschehens von Gesetz und Evangelium zu erschließen. 5.2.3 Formale Aspekte Die prinzipielle und materielle Homiletik können als die theologisch notwendige Vorarbeit verstanden werden, auf der verschiedene rhetorische Konzepte, wie z. B. die Theorie der ambiguitären Predigt aufbauen können. Dies gilt insoweit, als sie den sich aus den prinzipiellen Überlegungen ergebenden formalen Kriterien nicht widersprechen. Diese sind folgende:
5.2.3.1 Zum Sprachgebrauch Pointiert am Phänomen des Biologismus wurde gezeigt, wie das menschliche Leben in Vorstellung und Sprache der Dingnatur angeglichen wird. Dies führte zu der These, dass eine Sprache heute kaum ausgebildet ist, die den Unterschied zwischen dinglichen Bezügen und den das menschliche Leben ausmachenden Lebensphänomenen selbstverständlich kennt und damit der Sprache des Glaubens als Resonanzboden dienen kann. Von daher gilt für den Prediger die kritische und selbstkritische Distanz zu den gängigen, sich aufdrängenden Kategorien und Vorstellungen in der Beschreibung menschlichen Lebens, die durch die Einsichten in die fundamentalen Unterschiede zwischen dinglichen Bezügen und den Bezügen der Anrede ermöglicht wird. Die an der Dingwelt orientierten Vorstellungen sind nicht unvermittelt mit einer Gegenwelt des Glaubens zu konfrontieren, in der andere Gesetze gelten. Sie sind behutsam aufzubrechen, wobei die Veränderung sich an der Erfahrung ausweisen lassen können muss. Sie muss als die angemessenere Beschreibung menschlicher Erfahrung plausibel sein.
5.2.3.2 Zur Rolle der Reflexion Die Berechtigung, einen Unterschied zu machen hinsichtlich der gängigen Vorstellungen und Kategorien dessen, was Leben ist, und wie es angemessener zum Ausdruck kommt, ist aber auch ins Bewusstsein zu heben. Jeglicher Spaltung in einen verständig reflektierenden und einen glaubenden Teil des Menschen ist nach Möglichkeit vorzubeugen. Ein Modell für die Vorgehensweise in dieser gedanklichen Auseinandersetzung ist die sekundäre Reflexion
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Marcels, die freilich nicht zu philosophisch anspruchsvollen Ausführungen in der Predigt führen darf. M.E. dürfte aber das gezielte In-Frage-Stellen von selbstverständlich genommenen Voraussetzungen, wiederum in Kombination mit der strikten Orientierung an der menschlichen Erfahrung, in der Predigt sinnvoll handhabbar sein.
5.2.3.3 Überwindung des Zweischritts „Explikation und Anwendung“ Gemeinsam ist den beiden ersten Punkten der konkrete, an der Erfahrung orientierte Gedankengang. Formal zielt er auf eine grundsätzliche Überwindung des Zweischritts von Explikation und Anwendung, theoretischer Erörterung und Veranschaulichung. Einsicht wird am angemessensten am konkreten Beispiel gewonnen. Der Ausweis an der Erfahrung verleiht unter heutigen Bedingungen des Denkens der theoretischen Erklärung erst ihre Plausibilität. Die Selbstauslegung des Glaubens ist dabei generell als Selbstauslegung im gegenwärtigen Denk- und Erfahrungskontext zu vollziehen, und nicht historisch referierend.
5.2.3.4 Formale Aspekte bezüglich des Evangeliums Gibt es auch formale Konsequenzen aus der Zentralstellung des für dich in der Verkündigung des Evangeliums? Auch hier gilt, dass die allgemeinmenschliche Bedeutung des für dich an der Erfahrung aufzuzeigen ist. Hinzu kommt der beschreibende Hinweis auf die liebende Hingabe Jesu, die ihrem Wesen nach vorbehaltlos und unbedingt allen Menschen gilt.
5.3 Einordnung in die homiletische Diskussion in Orientierung an der Frage des Erfahrungsbezugs als eines spezifischen Problems von Glaube und Theologie in der Neuzeit 5.3.1 Verhältnisbestimmung zu W. Gräbs Konzept einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht Die Einordnung meines Versuchs einer hermeneutischen Homiletik in die homiletische Diskussion hat vor allem nach dem Verhältnis zu Wilhelm Gräbs Habilitationsschrift Predigt als Mitteilung des Glaubens zu fragen, die in gleicher Weise nach einer prinzipiellen Homiletik fragt, welche die praktische Predigtarbeit zu orientieren vermag. Völlige Übereinstimmung zwischen Gräb und mir besteht in der Einschätzung, dass das Auseinanderfallen von
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prinzipieller Homiletik und die praktische Predigtarbeit orientierender Theoriebildung nur von der prinzipiellen Homiletik aus und über die Änderung ihrer Gestalt möglich und sinnvoll ist, und darüber hinaus in der Ansicht, dass eine theologische Orientierung der Predigtarbeit unverzichtbar ist, da andernfalls die Vermittlungskonzepte, bezüglich dessen, was sie vermitteln wollen, im Unklaren bleiben.39 Gräb sieht die Antwort für die Aufgabe einer Neufassung der prinzipiellen Homiletik darin, sie als Selbstkonzept des Predigers zu explizieren. Bevor ich auf die daraus sich ergebenden Unterschiede zu meinem Antwortversuch eingehe, möchte ich eine Verhältnisbestimmung zur Theologie Schleiermachers vornehmen, der im theologischen Denken Gräbs eine prominente Stellung zukommt.
5.3.1.1 Verhältnisbestimmung zu Schleiermachers Verortung des Glaubens im menschlichen Gemüte Die Verhältnisbestimmung zu Schleiermachers Theologie ist nicht nur deshalb sinnvoll, weil sie für die Konzeption Gräbs mit entscheidend ist,40 sondern weil Schleiermachers Theologie der Forderung entspricht, dass der Glaube anthropologisch ausweisbar sein müsse. Die Anerkennung dieser Forderung liegt ja auch meinem Versuch zu Grunde, dies mit Bezugnahme auf Buber und Marcel zu leisten. Daher sollen hier rekapitulierend die entscheidenden Differenzpunkte zu Schleiermacher genannt werden. Schleiermacher macht Religion bzw. Frömmigkeit und damit die Gottesbeziehung nicht an der Begegnung mit dem Du im Gegensatz zum gegenständlich bestimmten Bewusstsein, sondern an der Erfahrung des „unmittelbaren Selbstbewußtseins“41 im Unterschied zum gegenständlich bestimmten Selbstbewusstsein fest. Um die Umittelbarkeit und Ungegenständlichkeit, die als solche zugleich Nicht-Weltlichkeit ist, gegen die gegenständlichen und damit weltlich vermittelten Bezüge des Wissens und Handelns abzugrenzen, weist er dem unmittelbaren Selbstbewusstsein neben Tun und Wissen das Gefühl als Ort im Gemüte zu. Gefühl meint damit die spezielle Erfahrungsweise der von aller gegenständlichen Vermittlung zu unterscheidenden Unmittelbarkeit. Die Plausibilität des Konzeptes Schleiermachers hängt nicht unwesentlich daran, dass das Phänomen der weltlichen Nicht-Vermitteltheit, 39 Gräb, Predigt, 11. 40 Die Bedeutung Schleiermachers für Gräb zeigt sich an anderer Stelle vor allem in Gräb, Lebensgeschichten, 63ff, wenn er den anthropologischen Ort der Religion mit Schleiermacher in der „unmittelbaren Selbstvertrautheit“ indentifiziert. Erstaunlicherweise greift Gräb in diesem Buch seine Arbeit zur prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht nicht weiterführend auf, sondern orientiert das Kapitel über die Predigt an Ernst Lange. 41 Schleiermacher, Glaube I, 14: „§ 3: Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaft ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins.“
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der dann die schlechthinnige Abhängigkeit im Gegensatz zur prinzipiell partiellen Abhängigkeit in den weltlichen Verhältnissen zugeordnet werden kann, für ihn anthropologisch ausschließlich im unmittelbaren Selbstbewusstsein begegnet. Schleiermacher schreibt: „Der Satz scheint vorauszusetzen, es gebe kein Viertes zu Wissen, Tun und Gefühl“, was untersucht werden müsse, um „uns zu überzeugen, ob noch ein anderer Ort vorhanden ist, den man der Frömmigkeit anweisen könnte“.42 Schleiermacher stellt sodann fest, dass bezüglich der Anthropologie nichts in „allgemein anerkannte[r] Weise dargetan“ sei, um dann als „Geliehenes aus der Seelenlehre“ die seinem Konzept zugrunde liegende Auffassung des menschlichen Lebens in folgendem Satz zum Ausdruck zu bringen: „Das Leben ist aufzufassen als ein Wechsel von Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjekts.“43 Zu diesen Dreien, Wissen, Tun und Gefühl, und zu diesen Zweien, Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjekts gibt es nach Auffassung Schleiermachers kein Drittes und Viertes, womit für ihn seine Zuordnung der Frömmigkeit und des Gottesbezugs zum unmittelbaren Selbstbewusstsein anthropologisch ausgewiesen ist. Die Beschreibung des menschlichen Lebens als Wechsel von Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjekts zeigt deutlich die vom Subjekt ausgehende Auffassung Schleiermachers, die gleichzeitig die Stärke seiner Theoriebildung in einer von Subjektivität gekennzeichneten Zeit und seine Grenze ist.44 Von Buber und Marcel ausgehend ist das „Dritte“ und Grundlegende neben Insichbleiben und Aussichherausgehen des Subjekts die Begegnung und das Zusammen-Sein. Genau genommen gesellt es sich nicht einfach als Drittes dazu, sondern beansprucht als das „Zwischen“ oder der „intersubjektive Nexus“ der Grund des Selbst an Stelle des im unmittelbaren Selbstbewusstsein begegnenden Phänomens des Sich-gegeben-Seins zu sein. Anthropologischer und ontologischer Ausgangspunkt ist nicht das Subjekt, sondern das Zusammen-Sein, nicht das Ich, sondern das Wir. Alles, was bei Schleiermacher dem „unmittelbaren Selbstbewusstsein“ im Unterschied zum gegenständlich vermittelten Weltverhältnis an besonderen Qualitäten zukommt begegnet bei Buber und Marcel in der Intersubjektivität. Bei Schleiermacher steht dem „unmittelbaren Selbstbewusstsein“, dem das Gottesverhältnis zugeordnet ist, der Weltbezug mit seinem kausal bestimmten Zugleich von Freiheit und Abhängigkeit gegenüber. Bei Buber und Marcel ist der Weltbezug nach dem Ich-Du und dem Ich-Es Verhältnis differenziert, wobei die Gottesbeziehung dem Du zugeordnet ist. Die daraus sich ergebenden 42 Ebd., 17 f. Mit „Der Satz“ ist der Leitsatz zu §3 gemeint. 43 Ebd., 18. 44 Vgl. Wenz, Schleiermacher, 37: „indem er [Schleiermacher] die religiöse Sprache und theologische Begriffsbildung auf das fromme Selbstbewußtsein zurückführt, in welchem der Mensch des Grundes seiner selbst und seiner Welt fühlend inne wird, macht Schleiermacher Religion und Theologie anschlussfähig für Subjektivität als epochales Paradigma der Neuzeit. Vor allem um dieser Anlage willen ist seine Religionstheologie schulbildend geworden.“
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Unterschiede können an Hand des Selbstverhältnisses, der Intersubjektivität und des Gottesverhältnisses, die alle drei davon betroffen sind, wie Sein grundsätzlich verstanden wird, in ihren wichtigsten Aspekten zusammengefasst werden. Selbstverhältnis Sowohl bei Schleiermacher als auch bei Marcel begegnet im Selbstverhältnis eine Aufspaltung des Ich oder Selbst. Zwischen Gräb und Marcel besteht die Gemeinsamkeit, dass diese Aufspaltung im Horizont der Frage nach meiner Identität erscheint. Bei Schleiermacher ist die Aufspaltung die Unterscheidung zwischen dem alles Selbstbewusstsein begleitenden unmittelbaren Selbstbewusstsein und dem gegenständlich vermittelten Selbstbewusstsein, in dem man eine „Vorstellung von sich selbst“45 hat. Gräb deutet dies hinsichtlich der Identitäsfrage als die „Paradoxie, dass wir um unserer Identität wissen und gleichwohl unaufhörlich nach ihr suchen müssen“:46 das „unmittelbare Selbstbewusstsein“ lässt uns unserer Identität gewiss sein, was es aber um unsere Identität konkret ist, können wir immer nur deutend annäherungsweise und vorläufig bestimmen. Das im „unmittelbaren Selbstbewusstsein“ als gegeben erfahrene Ich bleibt transzendent. Bei Marcel begegnet die Aufspaltung des Selbst im Horizont der Identitätsfrage in charakteristisch anderer Form. Dem, der ich momentan in meinen Handlungen und Seins-Äußerungen bin, steht der gegenüber, der ich sein sollte bzw. in meinem Innersten bin. Die entscheidende, im Zeitlichen nicht überbrückbare Differenz besteht zwischen meinem eigentlichen Sein und meiner momentanen Existenz, und nicht zwischen der „unmittelbaren Selbstvertrautheit“ und Vorstellungen bzw. Deutungen von mir selbst. Deutlich und z. T. geradezu gegensätzlich ist der Unterschied in der Erfahrung. Einmal ziehe ich mich aus meiner Situation und dem mir Begegnenden auf mich selbst zurück, um mich im Gefühl der „unmittelbaren Selbstvertrautheit“47 meiner Identität und meines „absoluten Gegründet- und Gehaltenseins“48 zu vergewissern. Das andere Mal kommt es gerade darauf an, in der Situation dem mir Begegnenden und mich Angehenden standzuhalten, genauer : es als zu mir gehörig in kontemplativer Weise in meine Innenheit mit hinein zu nehmen. Die Erfahrung ist dann nicht Bestätigung der Identität, sondern im Gegenteil kritische Stellungnahme gegenüber mir selbst. Es ist Erfahrung der Selbsterkenntnis, des Getroffen-Seins von der Wahrheit, die mir den Unterschied aufdeckt zwischen meiner aktuellen Existenz und dem, was ich sein sollte und in meinem Innersten bin. Beide Male geht es um Vergewisserung, doch auf sehr unterschiedliche Weise. Einmal hat die vergewissernde Erfahrung, die dann als religiös gedeutet wird, 45 46 47 48
Schleiermacher, Glaube, 16. Gräb, Lebensgeschichten, 65. Ebd., 64. Ebd., 67.
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ihren Schwerpunkt in der Beruhigung und Distanzierung vom unmittelbar Angehenden: sie entrückt mich den verwirrenden Erfahrungen, „wenn mir mein Leben gleichsam zwischen den Händen zu zerrinnen scheint“ und dem, „was andere mir als meine Identität wohl oder übel zuschreiben wollen“49 in ein von der Situation abstrahierendes absolutes Gegründet-Sein. Das andere Mal erfahre ich Vergewisserung meines Lebenssinns und meiner eigentlichen Identität gerade im und aus dem Sein in der Situation, im Angegangen-Sein und Betroffen-Sein. Die in der Situation erkannte Wahrheit über mich und die damit u. U. verbundene Berufung ist immer konkret und inhaltlich gefüllt, während die Vergewisserung des sich bleibend gegebenen Seins formal und hinsichtlich der Identitätsfrage leer ist. „»Wer bin ich« Diese Frage bleibt.“50 Man kann auch so sagen: der Rückbezug auf das unmittelbare Selbstbewusstsein verhält sich zur Sinnmitte des Lebens neutral. Der Deutungsaufgabe steht als Lebensakt die gelebte Antwort auf einen Anruf gegenüber. Dieser Anruf oder die Berufung ist es nach Marcel gerade, die bewirken, dass ich mich in meinem Leben zurechtfinde und Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden kann.51 Meine gelebte Antwort auf den Anruf ist gewiss nicht ohne Deutung, aber sie ist es, welcher der Deutung die Richtung gibt. Man könnte einwenden, dass die religiöse Erfahrung des absoluten Gegründet-Seins nicht gegen die Erfahrung der Selbsterkenntnis in der Begegnung ausgespielt werden sollte. Dies ist sicherlich richtig, darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass gerade das Gegründet-Sein in beiden Fällen unterschiedlich verstanden wird. Dies geht letztlich darauf zurück, dass bereits das Phänomen der Unmittelbarkeit im Selbstverhältnis unterschiedlich bestimmt wird. Schleiermacher sieht die Unmittelbarkeit im unmittelbaren Selbstbewusstsein, das zwar immer mit gegenständlichem Bewusstsein vermischt ist, von diesem aber letztlich unberührt bleibt. Zwischen beiden steht die Grenze, die zwischen partieller Abhängigkeit und unbedingter Abhängigkeit liegt. Dagegen drängt sich der Begriff des nicht mediatisierbaren Unmittelbaren bei Marcel als Notwendigkeit auf bei der Untersuchung des Phänomens mein Körper und dem damit verbundenen Empfinden, das nicht als Übertragung einer Botschaft aufgefasst werden kann. Die unzerlegbare 49 Ebd. 50 Ebd., 69. 51 Ob die Vergewisserung der eigenen Identität im „unmittelbaren Selbstbewußtsein“ für einen Menschen, der sich in seinem Leben nicht zurechtfindet, hilfreich ist, scheint mir demgegenüber fragwürdig. Nicht zu wissen, was mit dem unzweifelhaft gegebenen Sein anzufangen ist, kann ja gerade der Kern des Problems sein, der durch die Bestätigung des Sich-gegeben-Seins keine Lösung erfährt. Im Bezug auf Schleiermacher wird die das Leben ordnende Funktion des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit darin zu sehen sein, dass das Vereinzelte auf das Ganze bezogen wird, wie dies in seinen Reden über die Religion zum Ausdruck kommt, demgemäß die religiöse Anschauung „alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen“ (zitiert nach Wenz, Schleiermacher, 23) wahrnimmt. Letztlich ist aber der Bezug auf das Ganze genauso von der konkreten Situation abstrahierend wie der Rückgang auf das unmittelbare Selbstbewusstsein.
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Aussage „ich existiere“ kann nicht als „eine Art Kern subjektiver Gewißheit“52 betrachtet werden, auf den ich mich aus der Betroffenheit in der Situation heraus zurückziehen kann. Dem entspricht, dass in der Kontemplation das der Existenz zugrunde liegende Sein als Zusammen-Sein erfahren wird. Und zwar in der Weise, dass „die Umstandsbedingungen, die mich als empirisches Subjekt erstellen“, nicht „als kontingent in Bezug auf ein abstraktes Subjekt“53 betrachtet werden können. Die Kontingenz dessen, was uns begegnet, bezüglich des unmittelbaren und unverfügbaren Grundes unserer Selbst im unmittelbaren Selbstbewusstsein ist ja aber gerade das, was Gräb mit Bezugnahme auf Schleiermacher als das spezifisch Religiöse der Selbstdeutung bezeichnet.54 Aus der Sicht Marcels ist solch ein Rückzug auf ein vom Sein in der Situation abstrahierendes absolutes Gegründet-Sein ein Rückzug ins Nirgendwo. Gegründet ist der Mensch im Zusammensein, das ohne Angegangen-Sein in der Situation jeglichen Sinn verliert. Nicht das unmittelbare Selbstbewusstsein, sondern der intersubjektive Nexus ist die Bedingung dafür, dass mir etwas gegeben ist und mich anspricht, wobei das AngesprochenWerden entscheidend für die Konstitution meines Seins als Zusammensein ist. Dem entspricht bei Buber das Hervorgehen von Ich und Du aus dem Zwischen. Das Verhältnis zum Anderen Hinsichtlich des Verhältnisses zum Anderen und zur Welt überhaupt ergibt sich auf der Grundlage des Seins als Zusammensein die Polarität des Ich-Es und des Ich-Du-Verhältnisses, während bei Schleiermacher alles Begegnende als Welt im Sinne partieller Abhängigkeit und Freiheit aufgefasst wird. In der Kontemplation geht es darum, das Entgegenstehen des gegenständlichen Bezugs zu überwinden. Anders gesagt: Die Nicht-Intentionalität begegnet nicht nur im unmittelbaren Selbstbewusstsein, sondern auch und gerade in der Begegnung mit dem Anderen. Hinsichtlich der Identitätsfrage ist dies der Übergang von den Gedanken und Urteilen der anderen über mich hin zum Angeredet-Sein durch den Anderen, durch das ich allererst im Maße meiner schöpferischen Antwort zu meiner Identität finden und mir näher kommen kann. Bei Gräb kann als Antwort auf die Gedanken der anderen über mich wiederum nur der Rückzug auf die unmittelbare Selbstvertrautheit erfolgen. Dem von der Situation abstrahierenden Rückzug auf sich selbst steht als Möglichkeit gegenüber, im Sich-zur-Verfügung-Stellen in der Situation gemeinsam miteinander auf dem Weg zu sein. Der Andere teilt daher nicht nur im Allgemeinen mein Schicksal und kann als gleichermaßen absolut gegründet angesehen und geachtet werden. Er teilt auch mein konkretes Schicksal und kann zu meinem Weggefährten werden, mit dem ich das Leben 52 Marcel, Geheimnis, 154. 53 Ebd. 54 Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, 66 f.
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teile. Im Hin und Her von Anrede und gelebter Antwort wächst überhaupt erst, was unser Sein als Person und unsere Identität ausmacht. Ich und Du sind daher keine streng voneinander zu unterscheidenden Kerne. Das Selbstbewusstsein ist „hetero-zentrisch“.55 Gerade in dem, was unser Sein ausmacht, wenn es nicht im empirischen Bestimmt-Sein aufgehen soll, sind wir auf den Anderen angewiesen. Im Übrigen scheint mir auch sehr fraglich, ob ein Mensch in einer akuten Sinn- und Identitätskrise durch die Erfahrung der unmittelbaren Selbstvertrautheit und den damit verbundenen Gedanken eines absoluten Gegründet-Seins getröstet wird. Gottesverhältnis Dem Unterschied in der Verortung der Unmittelbarkeit und damit des nichtweltlichen Bezugs im Selbstverhältnis oder im Du entspricht schließlich eine unterschiedliche Bestimmung des Gottesverhältnisses. Bei Buber und Marcel ist Gott das absolute Du, das vom innerweltlich begegnenden Du zu unterscheiden ist, gleichwohl aber in diesem begegnet. Im Verhältnis zum Du liegen die Erfahrungen der Gnade und der Freiheit beschlossen, wobei Vollzug der Freiheit Antwort auf die Anrede meint. Das Zusammenwirken von Gnade und Freiheit ist ein Zusammenhang, in dem Aktivität und Passivität einander nicht wechselseitig begrenzen, sondern ineinander fallen. Demgegenüber ist das Weltverhältnis bei Schleiermacher grundsätzlich durch die gegenseitig sich begrenzenden Aspekte partieller Abhängigkeit und Freiheit bestimmt, wobei Freiheit selbsttätige Ursächlichkeit im Sinne des Subjekt-Objekt Verhältnisses meint. Unter dieser Bedingung kann Gott nur dem unmittelbaren Selbstbewusstsein zugeordnet werden. Er begegnet nicht als gegenwärtig machendes Du, sondern die Gottesbeziehung wird im §4 dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit gleichgesetzt, eben weil hier allein schlechthinnige Abhängigkeit und Nicht-Weltlichkeit begegnen:56 „das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daß wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig, oder was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind.“57 Diese Zuordnung ist für Schleiermacher grundlegend und exklusiv in dem Sinne, dass „jeder anderweitige Inhalt dieser Vorstellung [Gott] aus dem angegebenen Grundgehalt [Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit im Sinne Schleiermachers] entwickelt werden muss.“58 Schlechthinnige Abhängigkeit meint dabei die Erfahrung des faktischen Gegeben-Seins unseres Dasein, das wir 55 Marcel, Geheimnis, 303. Ähnlich auch Bonhoeffer, Widerstand, 63: In Nachtstunden, in denen man wisse, dass Menschen, die einem nahe stehen, Fliegerangriffen ausgesetzt sind, spüre man deutlicher „wie verwoben das eigene Leben mit dem Leben anderer Menschen ist, ja, wie das Zentrum des eigenen Lebens außerhalb seiner selbst liegt und wie wenig man ein Einzelner ist.“ 56 Während bei Buber Gott rechtmäßig nur angesprochen, nicht aber ausgesagt werden kann, ist bei Schleiermacher die Aussage das Primäre. 57 Schleiermacher, Glaube, 23. 58 Ebd., 30.
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immer schon vorfinden, so dass wir uns nicht im Sinne partieller Freiheit dazu verhalten können. Das Woher dieses Daseins setzt Schleiermacher mit Gott gleich: „Wenn aber schlechthinnige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott in unserem Satze gleichgestellt wird: so ist dies so zu verstehen, daß eben das in diesem Selbstverhältnis mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll, und dieses für uns die wahrhaft ursprüngliche Bedeutung desselben ist.“59 Erfahrung von Gnade ereignet sich bei Schleiermacher im Rückgang auf das unmittelbare Selbstverhältnis, nach Buber und Marcel unverfügbar in der Begegnung des Anderen. Die Plausibilität der Gleichsetzung des Woher unseres Daseins mit Gott beruht auf der Nicht-Weltlichkeit des unmittelbaren Selbstbewusstseins und der Erfahrung schlechthinniger Abhängigkeit. Was aber rechtfertigt den Fortgang vom Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit zu Gott? Wir wissen, dass die Faktizität und Geworfenheit menschlichen Daseins oder die Unvordenklichkeit des Seins, oder wie immer man den Umstand des von uns nicht beeinflussbaren Gegeben-Seins unseres Daseins bezeichnen will, keineswegs grundsätzlich dazu veranlasst, von Gott zu sprechen. Letztlich besteht ja auch keine Notwendigkeit, über die im unmittelbaren Selbstverhältnis erfahrene Eigentümlichkeit der Struktur menschlichen Seins als Sich-Gegeben-Sein hinaus zu gehen. Die Erfahrung der unmittelbaren Selbstvertrautheit ist bei Schleierrmacher bereits die ganze religiöse Erfahrung, die lediglich hinsichtlich ihrer Dauerhaftigkeit entwicklungsbedürftig ist. Demgegenüber gibt es Gründe für den Fortgang von der innerweltlichen Erfahrung des Du zum absoluten Du Gottes und damit auch Gründe, die damit gegeben Phänomene menschlichen Lebens mit Gott in Verbindung zu bringen. Das Phänomen der Anrede und der darin begegnenden Gnade ist daran gebunden, dass der Andere mich nicht seinem Entwurf des Daseins unterwirft und mich nicht zum Mittel macht. Das bedeutet aber, dass seine Anrede frei ist von jeder IchBezogenheit, dass er im Anreden ganz mich meint. Die Freiheit von IchBezogenheit kann im rein zwischenmenschlichen Rahmen immer nur annäherungsweise vollzogen werden und bleibt der Ambivalenz ausgesetzt. Darum verweist die erfahrene Gnade immer über das einzeln seiende Du hinaus auf das absolute Du, in dem die Gnade und die Freiheit von Ich-Bezogenheit allein gründen kann. Denn das absolute Du bedarf des Anderen nicht, um Du zu sein. Es bedarf überhaupt nichts und gibt frei ohne jede Ich-Bezogenheit. Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist demgegenüber der Ambivalenz des Zwischenmenschlichen immer schon enthoben und bedarf nicht, dass man über es hinaus geht. Zur Erfahrung der Gnade hinzu kommt vor allem die Erfahrung der Unbeständigkeit des Du in der Welt, die zum Fortgang zum absoluten Du drängt. Was in der Erfahrung der Gnade als Fülle des Seins und eigentliche Wirklichkeit erfahren wird, ist im Widerspruch dazu in der Welt unbeständig. 59 Ebd., 28 f.
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Die Kontinuität und Beständigkeit des als eigentliche Wirklichkeit Erfahrenen kann nur in Gott liegen. Gott ist der Ort, in dem die Du-Welt Bestand und Wesen hat. Das unmittelbare Selbstbewusstsein findet demgegenüber Bestand in sich selbst. Eine dritte Erfahrung, die mich nötigt, von Gott als absolutem Du zu sprechen, ist die Frage nach meiner Identität und meinem Wert. Die Frage „wer bin ich?“ und die damit verbundene Frage „was bin ich wert?“ ist, wie Marcel gezeigt hat, im Menschlichen unlösbar. Dies hängt damit zusammen, dass unser Sein ein Sein in der Situation und Unterwegssein ist, aus dem ich nie heraustreten kann, um die Gesamtheit der begegnenden Herausforderungen zu überblicken, die meine Antworten hervorrufen und so im Zusammen von Schicksal und Freiheit im Sinne Bubers mein Leben ausmachen. Ich kann mein Leben nicht anhalten und einen absoluten Standpunkt einnehmen. Die Frage nach meiner Identität und meinem Wert kann daher nur im Gegenüber des absoluten Du Gottes zur Ruhe kommen. Gott kennt mich und weiß, was mir bestimmt ist zu tun. In diesem Zusammenhang ist das DuSein Gottes konstitutiv, da ich nur einem Du vertrauen kann, indem ich mich ihm so zur Verfügung stelle, dass nicht nur mein Haben, sondern mein Sein davon betroffen ist. In diesem Zur-Verfügung-Stellen und Vertrauen auf Gott, das über meine momentane Situation und mein irdisches Leben hinausreicht, kommt die Frage nach meiner Identität zur Ruhe. Aufgrund dieses Zusammenhangs meine ich, dass Gräb sich zu Unrecht auf Bonhoeffer und sein Gedicht „Wer bin ich?“ beruft, um die unmittelbare Selbstvertrautheit als zentral für die Identitätsfrage zu veranschaulichen.60 In einer Situation des Widerstehens und Bekennens, die zugleich eine Situation der Machtlosigkeit und des Leids ist, erfährt Bonhoeffer in irritierender Weise die Diskrepanz von seiner Wirkung auf andere und dem, wie er sich in sich selbst fühlt. Beides kann er nicht zur Deckung bringen und beides tendiert angesichts seiner Machtlosigkeit zur Selbstanklage: „Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlicher wehleidiger Schwächling?“ Dieses Ringen um sich selbst, um das, was er ist und zu tun hat in dieser Situation, treibt ihn schließlich von sich und seinen Gedanken weg zu Gott: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“61 Im Vertrauen auf Gott, der allein weiß und wissen kann, wer Bonhoeffer ist, kommt sein Fragen zur Ruhe. Gräb deutet diesen Gottesbezug im Sinne der unmittelbaren Selbstvertrautheit,62 die m. E. in dieser Situation in 60 Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, 70 ff. 61 Bonhoeffer, wer bin ich?, zitiert nach Gräb, Lebensgeschichten, 70. 62 Ebd., 71: „Da bleibt eine letzte Dunkelheit, die meinem Selbstverhältnis innewohnt, eine letzte Unzugänglichkeit zu jenem Ich, das ich – unmittelbar nicht wissend – gleichwohl zu sein in Anspruch nehme. Aus der Dunkelheit entspringt paradoxerweise jedoch zugleich ein Licht, die Einheit meines Ichs. Sie läßt mich auch widersprüchliche Selbstdeutungen auf mich beziehen. Aber sie ist dennoch mit keiner dieser Selbstdeutungen einfach zur Deckung zu bringen. Wir stehen hier wieder vor dieser unmittelbaren Selbstvertrautheit, vor dieser wissenden Selbst-
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keiner Weise Erleichterung und Lösung bringen kann, denn diese Selbstvertrautheit ist neutral gegenüber dem, was in dieser Situation von mir gefordert ist und in Frage steht. Hinsichtlich der Folgen des aufgezeigten Unterschieds zu Schleiermacher für die Entfaltung des christlichen Glaubens seien noch zwei charakteristische Punkte genannt. Die Trinitätslehre als Ausdruck einer wesenhaften Relationalität des Seins, oder einer „Metaphysik des Wir“ wird von Schleiermacher im Anhang seiner Glaubenslehre behandelt. Hinsichtlich der Soteriologie stellt er fest, dass bei ihm „das Leiden Christi gar nicht zur Sprache kommt“,63 das als Ausdruck des für dich64 m. E. von zentraler Bedeutung ist.65 5.3.1.2 Verhältnisbestimmung zur Interpretation der prinzipiellen Homiletik als Selbstkonzept des Predigers Die an Schleiermacher ausgerichtete subjekt-theoretische Grundausrichtung steht zumindest auch im Hintergrund, wenn Gräb davon ausgeht, dass eine prinzipielle Homiletik in praktischer Absicht ausschließlich in der Form des Selbstkonzepts des Predigers gelingen kann: „weil es das Selbstkonzept des Predigers ist, in dessen Horizont die Frage, was sein Unternehmen zur Predigt macht, ihre Antwort finden muß, verlieren dogmatische Sätze, Predigtdefinitionen, die sich nicht in die Gestalt eines solchen Selbstkonzeptes transformieren lassen, ebenfalls ihren Funktionswert.“66 Für Gräb gilt: „Der Prediger rückt ins Zentrum.“67 Dies scheint mir eine Zentrierung des Problems zu sein, die den Blick unnötig verengt. Die Probleme der Zeitgenossenschaft der Predigt, d. h. des Dialogs der Glaubenssprache mit der Sprache der Zeit, ohne den die Glaubenssprache aufhört Glaubenssprache zu sein, geraten so nur
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beziehung, von der wir herkommen, die wir immer schon in Anspruch nehmen, die uns in allem Denken und Tun begleitet, […]. Bonhoeffer redet im gleichen Sinne von Gott.“ Schleiermacher, Glaube, § 101.4, 101. Dabei ist die Bedeutung des Leidens Christi ausschließlich im Sinne des „für dich“ zu verstehen, nicht im Sinne einer stellvertretend zu leistenden Sühneleistung. Bei Gräb erscheint das Kreuz, wiederum in Anknüpfung an Bonhoeffer und dessen Programm einer weltlichen Interpretation des Glaubens, als Zeichen dafür, dass Gott in der Weise mit uns ist, dass er uns verlässt, auf dass wir eigenverantwortlich handeln (können). Unabhängig von der Frage, wie dies bei Bonhoeffer zu verstehen ist, scheint mir hier der „humanen Evidenz“ der unmittelbaren Selbstvertrautheit keine Plausibilität und Notwendigkeit zur Seite zu stehen, zusätzlich zur säkularen Erfahrung des Mit-sich-allein-Seins von Gott zu sprechen. Wenn der Mensch mit sich allein bleibt und seine unmittelbare Selbstvertrautheit ihm der einzige Trost ist, was sollte ihn dazu bewegen zu sagen, dass Gott da ist? Warum eigentlich sollte die unmittelbare Selbstvertrautheit dazu führen zu sagen: „Wir sind nie allein. Gott ist mit uns, auch wenn es gar nicht danach aussieht“ (Gräb, Lebensgeschichten, 75)? Die Option, sich allein auf sich selbst zu verlassen und im eigenen Entwurf sein Heil zu suchen und suchen zu müssen, liegt mindestens ebenso nahe. Gräb, Predigt, 240. Hervorhebung von mir, ML. Ebd., 241.
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noch indirekt in den Blick, insofern der Prediger eben selbst Zeitgenosse ist. Gewiss kann die Problematik aus der Perspektive des Predigers entfaltet werden, das eigentliche Zentrum der Problematik ist m. E. aber nicht der Prediger, sondern die Frage, wie Gottes Wort heute als das Leben bestimmend und verändernd erfahrbar ist. Dies ist letztlich das Problem, für das der Prediger die angemessenen Kategorien braucht, auch wenn er seine Auseinandersetzung mit dem Text und sein Betroffen-Sein vom Wort für sich reflektiert. Es ist die Problematik der Sondersprache des Glaubens, d. h. des Resonanzverlustes der Glaubenssprache durch die Dominanz des wissenschaftlichen Weltbildes und den dadurch bedingten verengten Erfahrungsbegriff, die einer theologischen Bearbeitung bedarf. Die allgemein unserer Zeit betreffende Problematik kommt so als eine theologische Antwort bedürfende in den Blick und verschwindet nicht in der vom Prediger zu leistenden Auseinandersetzung mit dem Text. Der Ansatz bei der aktuellen Erfahrbarkeit ist zudem insgesamt weiter angelegt: Die drei Relationen von Selbstverhältnis, Verhältnis zum Anderen und Gottesverhältnis in der Fülle ihrer Abwandlungen und Variationen bringen weit mehr aktuelle Wirklichkeitserfahrung in den Blick als die vom Prediger in seiner Situation erfahrene Begegnung mit Gottes Wort. Es ist aber nicht nur die subjekt-theoretische Grundausrichtung Gräbs, die den Prediger ins Zentrum rückt und für Gräbs Entwurf einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht bestimmend ist. Eine ebenso zentrale Rolle spielt die von Barth eingebrachte und betonte Problematik, dass es in der Homiletik um die „menschliche Machbarkeit des menschlich Nicht-Machbaren“68 geht, die Gräb als ein, wenn nicht die zentrale Problematik der Predigtlehre anerkennt.69 Seine zusammen mit Korsch vorgenommene subjektivitäts-theoretische Reformulierung von Luthers Rechtfertigungslehre dient gerade dazu, den Beitrag der Handlung des Subjekts im Rechfertigungsgeschehen in der Anerkennung des den Glauben hervorrufenden Inhalts des Evangeliums zu erweisen. In dieser Perspektive ist es das Rechtfertigungsgeschehen, das den Prediger „zu sich und seiner Handlungsfähigkeit“70 als Zeuge des Glaubens bringt. Gräb erkennt die von Barth eingebrachte Problematik an, obwohl er an Bohren selbst darstellt, welch hoher Aufwand an Energie und Theorie letztlich zu dem mageren Ergebnis führt, dass die Mitwirkung des Menschen erlaubt bzw. pneumatologisch-theologisch legitim ist, ohne dass ausgelegt würde, wie das Handeln Gottes am Menschen auch anthropologisch, d. h. an der menschlichen Erfahrung ausweisbar, verstanden werden kann. Die Pneumatologie bleibt „dogmatische Prämisse“ nach der, so Bohren, „alles 68 Ebd., 26. 69 Die im unmittelbaren Kontext stehende Aussage, dass das theologische Problem der Predigtlehre genau darin gipfelt, kann zwar als Referat Bohrens gelesen werden. Im weiteren Duktus der Arbeit ist aber durchaus erkennbar, dass Gräb das zentrale Recht dieser Frage anerkennt. 70 Gräb, Predigt, 33.
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Machbare auch wunderbar“ ist, eine „Hermeneutik des Predigtvollzugs“ hat Bohren „nicht in Angriff genommen.“71 Wäre es nicht an der Zeit, sich von der selbstverständlichen Geltung der Position Barths zu verabschieden, um diese energie- und theorieaufwendigen Scheinproblematik loszuwerden? Bei der Bearbeitung dieses Problems kommt ja am Ende doch immer nur die zu einem Allgemeinplatz gewordene Auskunft heraus, dass der Mensch tun müsse, was in seiner Macht steht, in dem Wissen und Bewusstsein, dass letztlich nur Gott den Glauben wirken kann. Wäre es nicht besser, Barths Formulierung des Problems zurechtzurücken, um Anderes und Wichtigeres als zentrale theologische Fragen der Homiletik in den Blick zu bekommen? Die Problemformulierung, dass es in der Predigt „um die Machbarkeit dessen geht, was sich gar nicht machen läßt“,72 zieht in unnötiger Weise das, was außerhalb des Predigers liegt und unverfügbar ist – sowohl auf Seiten Gottes als Evangelium, als auch auf Seiten der Hörer als Antwort des Glaubens – in das Aufgabenfeld des Predigers hinein. Dieser soll und kann das als Evangelium Erfahrene bezeugen und weitergeben. Dazu gehört, dass er, von dem im Glauben Empfangenen ausgehend, die Zusammenhänge von Glaube und Leben reflektiert, damit er das Evangelium möglichst als das bezeugen und aussagen kann, was es ist: ein die jeweilige Situation der Menschen treffendes und veränderndes Wort. Das soll und kann er, ohne Gott ins Handwerk zu pfuschen. In seinem Nachdenken ist der Prediger an das gewiesen, was er nur empfangen kann, wie er überhaupt weitergibt und bezeugt, was er empfängt. Ob der Hörer seine Worte als Wort Gottes hört und ob er auf sie mit Glauben antwortet, liegt nicht in seiner Zuständigkeit. Es ist daher m. E. völlig unnötig von der „Machbarkeit dessen, was sich nicht machen läßt“ im Bezug auf die Aufgabe des Predigers zu sprechen.73 Dies führt dazu, dass sich die theologische Reflexion an dem von vorne herein problemlosen Erlaubt-Sein des Handelns des Predigers abarbeitet, und sich ihr Ergebnis in eben diesem Erlaubt-Sein weitgehend erschöpft. Die Pneumatologie oder das Inkarnationsargument steht dann als Klammer vor dem Tun des Predigers, ohne dass dieses Tun theologische Orientierung erhält. Das zentrale theologische Problem der Homiletik ist daher nicht, ob, wie und warum der Prediger überhaupt handeln kann, das zentrale theologische Problem ist im selbstverständlich vom Prediger zu leistenden Aufgabenfeld zu suchen. Zu diesem Aufgabenfeld gehört die Reflexion, wie das im Evangelium Empfangene heute sachgemäß laut werden kann, d. h. so, dass die Sprache des Glaubens die Sprache der Menschen trifft, in der ihnen ihre Wirklichkeit 71 Ebd., 28. Hervorhebung im Original. 72 Ebd., 23. 73 Einzig im Hinblick auf die Versuchung rhetorischer Manipulation scheint mir die Formulierung der Problemstellung sinnvoll. Aber auch diese Versuchung findet ihre bessere Antwort in der theologischen Reflexion dessen, was der Prediger zu leisten hat, als im Appell an eine bestimmte Haltung, der das vom Prediger zu Leistende unreflektiert lässt. Die Versuchung zur Effekthascherei entsteht ja doch erst, wenn man nicht von und an der Sache orientiert ist.
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erschlossen ist. Anders gesagt: Im Zentrum steht die Frage der Erfahrbarkeit des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium. Dies ist ja letztlich auch die eigentliche pneumatologische Frage, wie das, was von Jesus Christus ausgeht, bei uns Menschen ankommt und wirkt. Wenn dies richtig ist, dann ist nicht Barth der entscheidende Orientierungspunkt der homiletischen Diskussion, der in Zustimmung und Abgrenzung die Theoriebildung bestimmt. Der entscheidende theologische Orientierungspunkt ist die neuzeitliche Verengung des Erfahrungsbegriffs im Sinne des Empirismus mit all seinen negativen Folgen für die Plausibilität des Glaubens und den Resonanzraum der Glaubenssprache. Es lohnt sich, diese Verengung genauer in den Blick zu nehmen und von dort aus die inhaltliche Verwendung und Funktion des Erfahrungs- und Empirie-Begriffs in der homiletischen Diskussion zu betrachten.
5.3.2 Orientierung der Homiletik am Erfahrungsbezug als spezifisches Problem von Glaube und Theologie in der Neuzeit 5.3.2.1 Die Verengung des Erfahrungsbegriffs in der Neuzeit Für das moderne und derzeitige Welt- und Lebensgefühl ist vor allem der empiristische Erfahrungsbegriff von bedeutendem Einfluss, der sowohl der Methode der Naturwissenschaften als auch der empirischen Sozialwissenschaften zu Grunde liegt. An den entscheidenden Grundmerkmalen hat sich dabei durch die Weiterentwicklungen im logischen Empirismus bei Carnap oder im kritischen Rationalismus Poppers nichts geändert.74 Diese Merkmale sind: (1) Die ausschließliche Kopplung der Erfahrung an die sinnliche Wahrnehmung.75 Bei allen erkenntnistheoretischen Unterschieden gilt dies auch für Kant.76 (2) Der darauf aufbauende methodische Umgang mit der Erfahrung, der im Experiment vom Lebensbezug und der Situation abstrahiert.77 Grundlage dessen ist, dass Erfahrung als sinnliche Wahrnehmung messbar ist. (3) Rationale Erkenntnis ist an Erfahrung im Sinne sinnlicher Wahrnehmung gebunden. Religion und Glaube geraten dadurch in den Be74 Kambartel, Erfahrung, 611 ff. 75 Bereits bei Locke ist die Berufung auf die Erfahrung mit der Berufung auf die Wahrnehmung identisch. Genauso liefern bei Carnap die Sinne das Material der Erkenntnis. Ebd., 612 f. 76 Im Unterschied zum Empirismus betont Kant bezüglich der problematischen Verhältnisbestimmung von Besonderem und Allgemeinem, dass jede Wahrnehmung des Besonderen bereits nach einer allgemeinen Regel, den Kategorien, synthetisiert wird. Mit dem Empirismus geht er davon aus, dass Erkenntnis nur möglich ist, wenn sie einen Anhalt an der Erfahrung im Sinne sinnlicher Wahrnehmung hat. Vgl. Kessler u. a., Erfahrung, 377 f. 77 Diese Entwicklung beginnt mit Bacons Begriff der experientia ordinata. Die dadurch ermöglichte Beherrschung der Natur und der Siegeszug der Technik tragen wesentlich zur Plausibilität des empiristischen Erfahrungsbegriffs bei.
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reich des Irrationalen oder doch zumindest des Nichtwissens. Auch dies gilt für den Empirismus und Kant gleichermaßen.78 Die Glaubenstradition des Christentums, die Erfahrung Gottes nicht als sinnliche und gegenständliche Erfahrung versteht, ist dadurch mit einem Erfahrungsbegriff konfrontiert, der Erfahrung exklusiv an Sinnlichkeit bindet.79 Es ist dies ein Erfahrungsbegriff, der auf Grund der sinnfälligen Erfolge der Technik hohe Plausibilität hat, und die Rede von Gott ins Ungewisse und Irrationale abdrängt. Die Geschichte des Atheismus zeigt: Wenn Religion und Glaube sich nicht mehr auf Vernunft und Erfahrung berufen können, gelten Glaube und Religion umso weniger, je mehr wir in Folge empirischer Forschung wissen und unser Tun rational geleitet wird.80 Die Dominanz der empirischen Methode auch noch in den Humanwissenschaften „scheint für Gott keinen Raum mehr zu lassen“.81 Der Glaube kann aus dieser Perspektive allein auf psychologische und gesellschaftliche Prozesse zurückgeführt werden. Es kommt, so Ebeling in der Beschreibung der Folgen dieser Entwicklung, zu einem „tiefen Riß zwischen der Sache der Theologie und der Welt der Erfahrung“, bis hin zum „Eindruck völliger Kontaktlosigkeit“.82 Für unsere Zeit ist es selbstverständlich, strikt zwischen Welterfahrung und Gotteserfahrung zu trennen. Damit wird der Rede von Gott die Erfahrungsgrundlage entzogen. Die Gotteserfahrung wird eine „isolierte innere Erfahrung“,83 eine Sondererfahrung, deren Status als Erfahrung fraglich ist. Dem korrespondiert das oben behandelte Problem der Glaubenssprache als Sondersprache: wenn die Erfahrung, der die Glaubenssprache und Glaubenstradition entspringt, ihren Status als anerkannte Erfahrung verliert, wird diese Überlieferung und Sprache unverständlich. Ebeling unternimmt nun angesichts dieser von ihm diagnostizierten Problematik nicht den Versuch, einen vom empiristischen Erfahrungsbegriff unterschiedenen Erfahrungsbegriff zu definieren, sondern schreitet „Problemstrukturen von Erfahrung“ ab, die auf eine von der äußeren sinnlichen 78 Dieser dritte Punkt ist neuerdings von Leidhold betont worden. Er bezieht sich dabei vor allem auf Kants Unterscheidung von Wissen und Glauben und sein Bemühen, dem Glauben Platz zu machen, indem er das Wissen aufhebt. Wissen und Wahrheit müssen nach Kant entweder empirisch oder rational sein, d. h. sich entweder auf Erfahrung oder die Vernunft gründen. Vgl. Leidhold, Gegenwart, 3.18 u. ö. 79 Der neben dem empiristischen Erfahrungsbegriff begegnende Begriff der Erfahrung bei Hegel ändert nichts am Problem. Sein Einwand gegenüber Kant betrifft nicht die Bindung an die sinnliche Wahrnehmung, sondern die Veränderung der Beziehung zwischen Wissen und Gegenstand, die in der dialektischen Umkehrbewegung zum Ausdruck kommt. Letztlich zielt bei ihm der dialektische Prozess auf die Selbstgewissheit des Subjekts, das allein auf Grund seiner Kritik, die den dialektischen Prozess vorantreibt, zum Absoluten vordringt. Ein prinzipielle Offenheit gegenüber dem Anderen oder eine Angewiesenheit auf Gott als Gegenüber ist darin nicht zu denken. Vgl. Vgl. Kessler u. a., Erfahrung, 381 ff. 80 Leidhold, Gegenwart, 5. 81 Ebeling, Erfahrungsdefizit, 5. 82 Ebd., 16. 83 Ebd., 22.
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Wahrnehmung zu unterscheidende „innere Erfahrung“ verweisen, die sich zwar „der exakten Feststellbarkeit entzieht“, aber dennoch mitteilbar und zumutbar ist.84 Die entscheidenden Punkte konvergieren dabei mit dem, was uns bei Marcel und Buber begegnet ist: (1) Im Lebensbezug der Erfahrung steht in Frage, was über das Leben letztlich entscheidet (vgl. das Problem des Biologismus). (2) Im Geschichtsbezug der Erfahrung geht es um das, was unbedingt angeht und in Anspruch nimmt (Vgl. das Problem des Historismus). (3) Im Wirklichkeitsbezug geht es um das, was das Einzelne mit dem Ganzen verbindet. (4) Im Wahrnehmungsbezug darum, wie das von außen Kommende im Innersten trifft.85 Dem Lebens- und Geschichtsbezug entspricht bei Marcel die Betonung des Seins in der Situation und des Lebens als Wanderschaft, die der Abstraktion im Experiment entgegenstehen. Ebenso sind die Verbundenheit des Einzelnen mit dem Ganzen und die Unterscheidung äußerlich bleibender Beobachtung und ins Innere hinein-nehmender Kontemplation entscheidende Punkte bei Marcel.86 Obwohl Ebeling an Hand dieser vier Problemstrukturen im Feld der Erfahrung auf das hinweist, was als Erfahrung mitteilbar und zumutbar ist und den Rahmen des empiristischen Erfahrungsbegriffs sprengt, entfaltet sein Lösungsweg, mit der beschriebenen schwierigen Situation für Glaube und Theologie umzugehen, nicht positiv die Zusammenhänge der angedeuteten Phänomene. Damit etabliert er nicht in Abgrenzung vom empiristischen Erfahrungsbegriff einen anderen Begriff der Erfahrung, wie ich dies in Aufnahme von Buber und Marcel versucht habe. Ebeling geht stattdessen den Weg über die Grenzen und Krisen der am empiristischen Erfahrungsbegriff orientierten profanen Erfahrung. Er will die „profane Welterfahrung beim Erfahrungsaspekt behaften. Und zwar genauer : bei der Erfahrung mit der profanen Erfahrung.“87 Es geht dabei um die „Erfahrung der Grenzen des Machbaren“, wie sie in verschiedenen Krisen in den Bereichen Umwelt, Energie, Wachstum und Wirtschaft zu Tage treten. Ebeling spricht zwar auch die positiven Werte an, die durch die profane Erfahrung gefährdet werden, wie „Freiheit, Verantwortung, Wahrhaftigkeit und Vertrauen“,88 dennoch zielt er nicht primär auf eine Stärkung dieser Gegenerfahrungen, welche die Mangelhaftigkeit des empiristischen Erfahrungsbegriffs erweisen, sondern auf ein Tiefer-Eindringen und Standhalten in der profanen Erfahrung, welche die „fundamentalen Probleme des Menschseins mit verstärkter Wucht auf uns zukommen“ lässt: „Diese treiben gerade dann über die profane Welterfahrung 84 Ebd., 20. 85 Ebd., 17 – 20. 86 Gemeinsam mit Ebeling ist auch, dass die innere Betroffenheit zwar strikt von der äußeren Wahrnehmung zu unterscheiden ist, aber nicht von dieser getrennt ist. Ebeling betont, dass dasselbe auf verschiedene Weise erfahren werden kann, die äußere Erfahrung kann zur inneren Erfahrung werden (Ebd., 19 f). Dafür finden sich bei Marcel viele Beispiele. 87 Ebd., 22. Hervorhebung im Original. 88 Ebd., 23.
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hinaus, wenn man dem standhält, was Grundmomente der Profanität zu denken geben: Relativität und Endlichkeit, Kontingenz und Geschichtlichkeit.“89 Wenn ich den anderen Weg der Stärkung der immer schon mit dem Leben auch gegenwärtigen Gegenerfahrungen, der zu Ebeling kein Gegensatz ist, sondern ergänzt, für sinnvoller und heute dringend notwendig halte, hat dies auch mit Veränderung durch Entwicklungen der letzten vierzig Jahre zu tun. Am Beginn des Bewusstwerdens der Umweltkrise und der Wachstumsprobleme war es angezeigt und an der Zeit, die Menschen diesen Problemen auszusetzen und sie zu drängen, diesen Problemen stand zu halten, um ihnen die Folgen ihres Tuns und damit auch die Beschränktheit ihres Selbstbildes bewusst zu machen. Zeitlos richtig und heute genauso gültig daran ist, dass es Aufgabe der Kirche und des Glaubens ist, sich dahin zu begeben, wo Leid und Krisen sind, dem stand zu halten und sich dem auszusetzen, im Vertrauen auf die Veränderungen, die von Gott her möglich sind und von Gott gegeben werden. Nur kann man dies recht eigentlich nur zumuten, wenn auch die Erfahrung lebendig ist, dass im Standhalten im Leid neue schöpferische Kräfte lebendig werden können. Anders gesagt: das positive Andere muss als reale Möglichkeit glaubhaft und plausibel sein, damit man die Kraft hat, sich der Krise auszusetzen und tiefer in sie einzudringen, und das Standhalten in der Krise nicht die Form eines resignativen weiter so aus Mangel an Alternativen erhält. Liegt das Lähmende in der heutigen an Problemen und Krisen nicht gerade armen Zeit nicht darin, dass viele von der Zukunft nichts mehr zu hoffen wagen? Anders gesagt: das Behaften bei der Verantwortung treibt weniger in die Umkehr oder durchs Standhalten hindurch zu Gott als in die Resignation, weil es fundamentale Alternativen nicht zu geben scheint. Daher ist es m. E. heute dringend geboten, die Alternative eines Lebens wieder freizulegen und stark zu machen, das letztlich in allen seinen Äußerungen auf Gott verweist und mit Gott zusammenhängt, ohne dass dies mit Abkehr von der Welt zu tun hätte. Je stärker und lebendiger dieses Leben ist, desto eher kann man wieder zur Verantwortung rufen, nicht nur für begangene Taten, sondern v. a. auch für die Zukunft, desto höher sind die Chancen, dass das Standhalten in der Krise kein weiter so, sondern ein Hineinbegeben ist, das zu schöpferischen Neuorientierungen führt. Wesentliches Element zur Freilegung dieses Lebens ist die Etablierung eines vom empiristischen unterschiedenen Erfahrungsbegriffs.90 89 Ebd., 23 f. 90 Dass dies heute an der Zeit ist, sehe ich bestätigt in dem jüngst erschienenen Buch „Gegenwart, Zur Logik der religiösen Erfahrung“ des Kölner Politikwissenschaftlers Wolfgang Leidhold, auf das ich bereits mehrfach verwiesen habe. Leidhold betont die Notwendigkeit, den Begriff der Erfahrung zu erweitern: „Wenn wir wieder einen Grund in das Denken von Gott bekommen wollen, dann wird uns das nicht über Glauben, Offenbarung und Autorität gelingen. Stattdessen werden wir versuchen, den möglicherweise zu engen Horizont im modernen Begriff der Erfahrung zu erweitern.“ (Leidhold, Gegenwart, 23). Dabei kommt er zu ähnlichen Ergebnissen wie Buber und Marcel, wenn er den Gottesbezug vom intentionalen Bezug unterscheidet: „Das
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5.3.2.2 Die homiletische Diskussion unter dem Blickwinkel der Erfahrungsproblematik Was als Auseinanderfallen von prinzipieller Homiletik und praktischer Predigtarbeit schon mehrfach beschrieben wurde, rück in Hinsicht auf das Erfahrungsproblem noch einmal unter eine neue Perspektive. Der Gesichtspunkt der Erfahrung zeigt, wie und warum die Vertreter der Dialektischen Theologie auf der einen Seite und diejenigen der Modernen Predigt und der Empirischen Wende auf der anderen in einen letztlich unfruchtbaren Konflikt geraten. Unfruchtbar deshalb, weil die jeweiligen Positionen so beschaffen sind, dass von ihnen kein vermittelnder Weg zur Aufgabe eines theologisch geführten Streits um den Erfahrungsbegriff führt. Die Vertreter der Modernen Predigt und der Empirischen Wende insistieren zu Recht auf dem, was erfahrbar ist. Sie fordern die Zeitgenossenschaft der Predigt ein. Im Gegenüber zur Dialektischen Theologie ist dann die ernst zu nehmende Erfahrung die der Sprachlosigkeit, die Erfahrung, dass sich das Wort Gottes versagt. Sie insistieren zu Recht auf dem, was erfahrbar ist und erfahren wird, suchen aber die Lösung in der Hinwendung zur Empirie im Sinne der empirischen Methoden der Humanwissenschaften. Damit suchen sie aber den Ausgleich des Erfahrungsmangels an der falschen Stelle.91 Die Dialektische Theologie auf der anderen Seite betont zu Recht, dass die Theologie Ausgangspunkt und Zentrum der Theoriebildung und des Streits um die Wirklichkeit sein muss. Andererseits aber weigert sie sich, das, was sich im Glauben unanschaulich ereignet als menschliche Erfahrung auszulegen, weil sie darin zu Unrecht die Bewußtsein ist hierbei [bei der sachlichen Erfahrung] immer intentional auf eine Sache gerichtet, die uns in der Bezugnahme präsent wird. In der religiösen Erfahrung wird aber weder ein Gegenstand, noch eine Imagination, noch unser Bewußtsein oder eine Ordnung präsent, sondern eigentlich gar keine ,Sache‘. Gegenwart taucht nicht wie eine Sache auf. Dennoch erfahren wir eine Bezugnahme.“ (ebd., 30). Und: „Dabei unterscheiden wir Erfahrungen, in denen wir uns intentional auf Sachen beziehen, und solche, in denen keine Sache intentional erfaßbar ist, sondern nur die Bezugnahme, die von einem transzendenten Pol ausgeht.“ (ebd.) Diese Erfahrung bezeichnet Leidhold als „abwesende Präsenz“. Im Unterschied zu meinem Versuch im Anschluss an Buber und Marcel konzentriert sich Leidhold auf die Gottesbeziehung als solche, ohne ihre Verbundenheit mit der Beziehung zu mir selbst und zum Anderen zu reflektieren. Zudem spielt für ihn die Anrede keine besondere Rolle, wiewohl er feststellt: „Merkwürdig bleibt, wie im Laufe der Zeit zwar alle Arten sinnlicher oder imaginativer Vergegenwärtigung des Numinosen ausgeschlossen werden, zuletzt jedoch das Hören eines Wortes überdauert, was immerhin auch ein sinnliches Vermögen erfordert. Dieses Hören wird freilich öfters auch als eine ,innere Stimme‘ gedeutet, um auch den letzten Rest an Sinnlichkeit zu entfernen.“ (ebd., 44). 91 Ebeling spricht in diesem Zusammenhang von „schlechter Theologie, die den Erfahrungsbezug deshalb verfehlt, weil sie ihn theologisch unsachgemäß ins Spiel bringt. So wird gegebenenfalls gerade durch eine betonte Berufung auf Erfahrung verdeckt und zugleich offenkundig, daß man davon, wie Erfahrung in der Theologie in Betracht kommen muß, keine Ahnung hat.“ Ebeling, Erfahrungsdefizit, 15.
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Gefahr sieht, dass der Glaube und Gott dem Menschen verfügbar gemacht werden. Die Folgen dieser Konstellation sind: (1) Die liberale Theologie am Anfang des 20. Jh. und die Theologie der kritischen Distanzierung von der Dialektischen Theologie übernehmen zum Teil die Argumentation, die sich vom Empirismus aus gegen Theologie und Glaube richtet. Die Ausweisbarkeit an dem, was als wirklich gelten kann, wird eingefordert,92 bis hin zum Ideologieverdacht gegen eine als spekulativ und abstrakt eingeschätzte systematische Theologie. (2) Der darin implizit oder explizit erhobene Ideologieverdacht besteht nicht ganz zu Unrecht. Die Weigerung, Glauben als menschliche Erfahrung auszuweisen, führt zwangsläufig zu selbstbezüglichen Sprachspielen, die, wie Engemann gezeigt hat, ein Einbringen der eigenen Erfahrung verhindern, die dadurch geweitet und verwandelt werden könnten. (3) Im Ergebnis steht ein spekulativer theologischer Begriff unverbunden neben empirischen Untersuchungen zu Prediger, Hörer und Predigtvorgang. Das, was dringend nötig wäre, der theologische Streit um den Erfahrungsbegriff, geschieht gerade nicht. 5.3.3 Plädoyer für die Seele als anthropologischen Ort des Gottesbezugs des Menschen Wesentliches Ziel dieser Arbeit ist, die Erfahrbarkeit dessen zu fördern, was der Glaube im Unterschied zum biologistischen Verständnis unter Leben versteht. Dieses Leben kann in seiner Entfaltung als Freiheit, Hingabe, Liebe und in seiner Qualität als Fülle, Freude und Friede beschrieben werden. Es bedarf aber darüber hinaus auch eines anthropologischen Ausdrucks, an dem man die Bezogenheit des Lebens auf Gott festmachen kann. Für Ebeling ist dies der Begriff des Gewissens,93 der eng mit der Rede von der Verantwortung des Menschen verknüpft ist. Ebeling fügt dem aber sogleich hinzu, dass der Gewissensbegriff „aus den gängigen Fehlinterpretationen herauszulösen und so gegen Mißverständnisse zu sichern“ wäre.94 Diese Fehlinterpretation besteht darin, dass er im humanistischen Verständnis zum „unangreifbaren 92 Der Verweis auf die Wirklichkeit begegnet dabei zentral und meist mit besonderer Emphase. Als Vertreter der „Modernen Predigt“ sei hier auf Niebergall verwiesen: „Wir dürsten nach Wirklichkeit“, oder : „Die Wirklichkeit hat […] Recht gegen alle Theorie. Darum muss sich die Theorie immer wieder nach der Wirklichkeit richten“ (zitiert nach Dober, Predigt, S. 162, Anm. 6). Zur Abgrenzung gegen die Dialektische Theologie siehe den bereits zitierten Rössler, der in Bezug auf deren Predigtbegriff von der „abstrakten und nirgendwo realen ,Verkündigung der Kirche‘“ spricht, und die Frage stellt: „Was tut er [der Prediger], wenn nichts von alledem im Horizont seiner Erfahrung für ihn Wirklichkeit wird?“ Rössler, Problem, 180 f. 93 Ebeling, Dogmatik I, 107: „Wenn man einen anthropologischen Begriff für die Ortsbestimmung des Glaubens in Dienst nehmen will, so wäre m. E. dafür am ehesten der Begriff des Gewissens geeignet.“ 94 Ebd.
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Reduit innerster Unversehrtheit und Autonomie des Menschen“95 geworden ist, d. h. dass er im gebräuchlichen Sinne gerade nicht geeignet ist, ein Menschenbild auf der Grundlage einer relationalen Ontologie zu stärken. Zu den oben genannten Bedenken gegen eine Betonung von Verantwortung und Gewissen kommt also noch hinzu,96 dass der Gewissensbegriff heute vornehmlich nicht im gewollten Sinne gehört wird. Ein Argumentieren gegen und Aufbrechen von selbstverständlich vollzogenen Zuschreibungen ist aber ein mühsames Geschäft. So mag es zwar richtig sein, dass nach Ebeling der Gewissensbegriff für die theologische Diskussion unverzichtbar ist,97 für die Predigt eignet er sich aber m. E. nicht als Orientierungspunkt für die anzusprechende Verbundenheit von Gott und Mensch auf Seiten des Menschen, weil das moralisierende Missverständnis nahe liegt, welches die subjektorientierte Anthropologie stärkt und den sich so Verstehenden eher in die Ausweglosigkeit treibt, als ihm die Alternative des Glaubens zu erschließen. Im Gegensatz zum Gewissensbegriff ist der Begriff der Seele nicht nur nicht vom neuzeitlichen Menschenbild besetzt, sondern seine Verdrängung ist geradezu eine Folge dieses Menschenbildes.98 Der Begriff Seele wird weder mit dem empiristisch verengten Erfahrungsbegriff assoziiert, noch mit dem Denken im Kausalschema, das mit der Zweiheit Körper und Geist und ihren Wechselwirkungen auskommt. Das Wort Seele kann daher als Platzhalter und anthropologischer Ort dienen für alle Lebensphänomene, die vom empiristischen Erfahrungsbegriff zu unterscheiden sind. Anders als der Gewissensbegriff kann das Wort Seele zudem direkt auf die traditionelle Frömmigkeitssprache und die Liturgie bezogen werden.99 Die Aufnahme des Wortes Seele scheint aber aufgrund seiner Geschichte nicht unproblematisch. Ich meine aber, dass die nötigen Abgrenzungen für einen heutigen Gebrauch relativ problemlos zu leisten sind, wie sich in einer Gegenüberstellung von drei Weisen, von der Seele zu reden, zeigen lässt. (1) In der platonischen Tradition und über diese und die neuplatonische Tradition vermittelt in abgewandelter Form auch in der Theologie der Kirchenväter und des Mittelalters begegnet der Dualismus von Leib und Seele. Das entscheidende Merkmal der Seele in dieser Auffassung ist ihre Einfachheit. Weil sie einfache Substanz ist, ist sie für Platon unerschaffen und unsterblich. In der christlichen Rezeption bleibt 95 Ebeling, Dogmatik III, 115. 96 Ebeling bestätigt diese, wenn er es als Illusion bezeichnet, „durch den bloßen Appell an das Gewissen, durch Schärfung der Verantwortung dem Menschen und damit der Welt heute Rettung bringen“ zu wollen. Ebeling, Gewissen, 446. 97 Aber auch diesbezüglich gebe ich zu bedenken, dass der entscheidende Punkt, den Ebeling bezüglich des Gewissens in diesem Zusammenhang entfaltet, die Zweiheit des Menschen in sich selbst, seine Struktur als Gegenübersein, von dem aus erst die Lebensphänomene der Wahrheit und Freiheit erschlossen werden können, genau in diesem Sinne von Marcel ohne den Gewissensbegriff entfaltet wird. Vgl. Ebd., 440 ff. 98 Am Beginn dieser Entwicklung steht Descartes, für den der Geist des Menschen „für die ganze Seele steht“. Vgl. Seidel, Seele, 753. 99 Beispielhaft sei hier nur Ps 103 und das Lied „Du meine Seele singe“ genannt.
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davon die Unsterblichkeit übrig, die ebenfalls auf die Einfachheit zurückgeführt wird.100 (2) Mit dem Übergang zur Neuzeit wird die Seele mit dem Denken gleichgesetzt und letztlich Seele und Geist synonym gebraucht beziehungsweise Seele durch Geist verdrängt. Dies ist die für uns bestimmende Situation. (3) Von diesen beiden Auffassungen kann eine dritte unterschieden werden. Die Seele ist durch das Wort geschaffen, sie ist ins Sein gerufen, d. h. sie ist von Anfang an der nicht-empiristischen Erfahrungsweise zugeordnet. Sie ist nicht unsterblich aufgrund ihres Charakters als einfache Substanz, sondern insofern sie glaubt und sich in Liebe hingibt. Das Leben des Glaubens, das in der Liebe lebt, oder mit Buber zu sprechen „die Welt des Du“, hat in Gott seinen Zusammenhalt und bleibt vom Tod unberührt.101 In dem dritten genannten Sinne ist das Wort Seele geeignet, Inbegriff des nicht-biologistischen Lebensbegriffs zu sein. Die Gefahr der Verwechslung mit dem platonischen Seelenverständnis scheint mir relativ gering. Gelegentlich begegnet einem z. B. bei Beerdingungsgesprächen zwar die Vorstellung des Überlebens der Seele, kaum aber im Sinne der Begründung ihrer substanziellen Einfachheit. Die Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele ist zur Deutung im dritten genannten Sinne als Unzerstörbarkeit der Gottesbeziehung durch den Tod hin offen. Da heute höchst fraglich ist, was unter Seele im Unterschied zu Körper und Geist sinnvoller Weise verstanden werden kann,102 sei über das unter (3) Gesagte hinaus eine kurze Näherbestimmung der Seele in Anschluss an Rosenstock-Huessy gegeben, dessen Konzept ich in freier Aufnahme auf die Überlegungen dieser Arbeit beziehe.103 (1) Die Seele unterscheidet sich von Körper und Geist hinsichtlich der für sie relevanten Zeiteinheit. Dem Körper ist die kurze Zeitspanne der täglichen Bedürfnisse zugeordnet. Ein Leben, das in der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse sein Zentrum hat, ist ein Leben von Tag zu Tag. Die Seele dagegen bezieht sich auf das Leben als Ganzes. Sie hat zu tun mit der Frage nach unserer Identität, mit den Aufgaben, zu denen wir gerufen sind, mit den Menschen, mit denen wir unser Leben teilen, Schicksalsschlägen etc. Der Geist wiederum geht zeitlich, aber auch räumlich über das einzelne Leben hinaus. Er ist überindividuell und verbindet Gruppen und Generationen. Dementsprechend haben wir nicht eigentlich Geist, sondern sind begeistert. 100 Vgl. Eckl, Seele, 364 ff. 101 Genau in diesem Sinne hält Luther an der Unsterblichkeit der Seele fest, „die nicht in der metaphysischen Qualität des unzerstörbaren Vernunftwesens, sondern in der schöpferischen Lebendigkeit des Geistes Gottes gründet“. Stock, Seele, 761. 102 Vgl. Ebd., 760: „Eine konkrete Bestimmung der ursprünglichen Gegebenheit ,Seele‘ stellt sich nun allerdings in der gegenwärtigen Lage des allgemeinen theoretischen Diskurses als eine schwierige Aufgabe dar. Symptom dieser Schwierigkeit ist die Tatsache, daß das Lexem ,Seele‘ seit der Mitte des 19. Jh. aus der wissenschaftlichen Sprache verschwindet […] bzw. im philosophischen Diskurs über die Einheit von Leibe und Seele als Synonym für das Lexem Geist (im Sinne des kognitiven und reflexiven Bewußtseins) verwendet wird.“ 103 Vgl. Rosenstock-Huessy, Seelenkunde, 739 – 810.
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(2) Die Seele lebt in der Spannung von Hoffnung und Furcht und ist darin auf die Zukunft ausgespannt. Sie lebt umso mehr, als sie sich zu etwas sie Angehendem berufen weiß. Um auf den Ruf zu antworten und somit ihre Freiheit zu betätigen, braucht sie zum einen Mut und zum anderen Hilfe und Unterstützung aus der Gemeinschaft mit anderen Seelen, mit denen sie Leben und Aufgaben teilt. Dies ist als das qualifizierte Mit-Sein im Sinne Marcels zu verstehen. Rosenstock-Huessy betont, dass die Gemeinschaft der Seelen und das Wachstum der Seele den Schutzraum der Scham bedürfen,104 was der die Intersubjektivität zerstörenden Wirkung des beobachtenden Blicks entspricht. (3) Die Seele lebt im Hören, Angesprochen-Sein und im Ansprechen. Darum ist ihr Sein und Leben unanschaulich. Ihr Leben gehorcht nicht den Gesetzen von Ursache und Wirkung, weshalb sie den Methoden der Wissenschaft nicht zugänglich ist. Sprachlicher Natur im Sinne des Anspruchs sind auch ihre Kontaktstellen zu Körper und Geist. Abschließend sei noch angemerkt, dass dieses Verständnis von Seele dem biblischen Sprachgebrauch auch vieler Predigtperikopen entspricht. Das griechische Wort für Seele, Psyche, wird zwar oft mit Leben übersetzt, es hat dabei aber oft erkennbar den spezifischen Sinn von Leben im nicht-biologistischen Sinn. Dies gilt besonders für alle Stellen, in denen von Hingabe der Seele bzw. des Lebens und von der Nachfolge die Rede ist.105 Zentral ist hier die Stelle Mk 8,35 par : Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.
104 Ebd., 778. 105 Vgl. Dautzenberg, Art. Seele, 745 f, sowie: Schweizer, Art. xuwg, 636.
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