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German Pages 317 Year 2010
Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Band 53
Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts Eine Darstellung der Haftungsdogmatik vor dem Hintergrund der dynamischen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes
Von
Daniel Tietjen
a Duncker & Humblot · Berlin
DANIEL TIETJEN
Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Herausgegeben von Thomas Bruha, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen †, Rainer Lagoni, Gert Nicolaysen, Stefan Oeter
Band 53
Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts Eine Darstellung der Haftungsdogmatik vor dem Hintergrund der dynamischen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes
Von
Daniel Tietjen
a Duncker & Humblot · Berlin
Die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2009 als Dissertation angenommen.
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Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0945-2435 ISBN 978-3-428-13338-3 (Print) ISBN 978-3-428-53338-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83338-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2008 der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als Dissertation vorgelegt. Am 1. Juli 2009 fand die mündliche Doktorprüfung statt. Literatur und Rechtsprechung befinden sich auf dem Stand vom 19. Juli 2009. Im Rahmen der Arbeit ist insbesondere auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 24. März 2009 in der Rechtssache „Danske Slagterier“ berücksichtigt worden. Die Arbeit ist auf der Grundlage des bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 geltenden Rechts geschrieben worden. Trotz der Änderungen des Rechts der Europäischen Union ist die Arbeit nach wie vor aktuell, beschäftigt sie sich doch mit dem im Rahmen der Rechtsfortbildung des EuGH entwickelten gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrecht, das als nicht kodifiziertes Richterrecht keine Änderung durch den Vertrag von Lissabon erfahren hat. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Stefan Oeter, der meine Arbeit stets hilfreich, aufgeschlossen und unterstützend betreut hat. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Professor Dr. Armin Hatje für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Schließlich danke ich allen, die mir während der Anfertigung der Arbeit mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben, allen voran meinen Eltern und meiner langjährigen Freundin Sina Pott. Hamburg, im Mai 2010
Daniel Tietjen
Inhaltsverzeichnis 1. Teil Einleitung
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A. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Teil Die historische Entwicklung einer Haftung für hoheitliches Unrecht in Europa
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3. Teil Die Judikatur des EuGH zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung
25
A. Die Rechtsprechung des EuGH bis zum Urteil „Francovich u. a.“ . . . . . .
26
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“ . . . . . I. Legislatives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlegende Urteile des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Urteil „Francovich u. a.“ von 1991 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Urteil „Wagner Miret“ von 1993 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Urteil „Faccini Dori“ von 1994 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Urteil „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ von 1996 (Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nationaler Rechtsvorschriften) . . e) Das Urteil „British Telecommunications“ von 1996 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Das Urteil „Dillenkofer u. a.“ von 1996 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Das Urteil „Denkavit u. a.“ von 1996 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Das Urteil „Sutton“ von 1997 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 30 30 30 35 37 38 47 49 53 54
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Inhaltsverzeichnis i) Das Urteil „Bonifaci u. a.“ von 1997 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 j) Das Urteil „Palmisani“ von 1997 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 k) Das Urteil „Konle“ von 1999 (Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nationaler Rechtsvorschriften) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 l) Das Urteil „Rechberger u. a.“ von 1999 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 m) Das Urteil „Stockholm Lindöpark“ von 2001 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 n) Das Urteil „Metallgesellschaft u. a.“ von 2001 (Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nationaler Rechtsvorschriften) . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 o) Das Urteil „Paul u. a.“ von 2004 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 p) Das Urteil „Adeneler u. a.“ von 2006 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 q) Das Urteil „Test Claimants“ von 2006 (Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nationaler Rechtsvorschriften) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 r) Das Urteil „Robins u. a.“ von 2007 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 s) Das Urteil „Danske Slagterier“ von 2009 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2. Weitere Urteile des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 a) Nichtumsetzung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Fehlerhafte Richtlinienumsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 c) Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nationaler Rechtsvorschriften . . . . 90 II. Exekutives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1. Grundlegende Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 a) Das Urteil „Hedley Lomas“ von 1996 (Gemeinschaftsrechtswidrige Verweigerung einer Ausfuhrgenehmigung) . . . . . . . . . . . . . 92 b) Das Urteil „Comateb u. a.“ von 1997 (Gemeinschaftsrechtswidrige Abgabenerhebung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 c) Das Urteil „Norbrook Laboratories“ von 1998 (Aufstellen gemeinschaftsrechtswidriger Genehmigungsvoraussetzungen) . . . . . . 95 d) Das Urteil „Brinkmann I“ von 1998 (Fehlerhafte Auslegung des Gemeinschaftsrechts) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 e) Das Urteil „Haim II“ von 2000 (Gemeinschaftsrechtswidrige Verweigerung einer Registereintragung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 f) Das Urteil „Gervais Larsy“ von 2001 (Gemeinschaftsrechtswidrige Rentenkürzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 g) Das Urteil „A.G.M.-COS.MET“ von 2007 (Gemeinschaftsrechtswidrige Äußerungen eines Beamten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Weitere Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
Inhaltsverzeichnis
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III. Judikatives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1. Das Urteil „Köbler“ von 2003 (Gemeinschaftsrechtsverstoß eines letztinstanzlichen Gerichts) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Das Urteil „Traghetti del Mediterraneo“ von 2006 (Gemeinschaftsrechtsverstoß eines letztinstanzlichen Gerichts) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
4. Teil Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
118
A. Die Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts . . I. Die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das systemwidrige Regelungsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Sanktionsdefizit im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das gemeinschaftliche Rechtsschutzdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Beseitigung des Regelungsdefizits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Methodik des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Argumentation des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prinzip der praktischen Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundsatz der Gemeinschaftstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Grundsatz der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft . . . . f) Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Allgemeines Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Akzeptanz der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsqualität der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung . . . . . 3. Die Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . a) Horizontale und vertikale Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundsatz der Gemeinschaftstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Wesentlichkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Gebot der richterlichen Zurückhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Dringlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Begründungserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118 119 121 122 123 125 125 127 128 129 130 131 132
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die rechtliche Grundlage des Staatshaftungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gemeinschaftsrechtlicher Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147 148 148 148
133 134 135 135 136 136 138 140 141 144 145 145 146 147
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Inhaltsverzeichnis b) Nationalrechtlicher Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Subsidiärer gemeinschaftsrechtlicher Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konkrete Anspruchsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die haftungsbegründenden Vorgaben des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm bezweckt die Verleihung subjektiver Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verhalten eines mitgliedstaatlichen Organs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abgrenzung zum Verhalten von Organen und Bediensteten der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abgrenzung zum Verhalten Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gemeinschaftsrechtsverstöße Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verstöße gegen staatliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . b) Gemeinschaftsrechtsverstoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Arten von Gemeinschaftsrechtsverstößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Legislatives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verstöße gegen die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Ablauf der Umsetzungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Unmittelbare Wirkung der verletzten Richtlinienbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Verstöße gegen die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Die Vereinbarkeit nationaler Gesetze mit den Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Unmittelbare Anwendbarkeit und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . (c) Sonstige Gemeinschaftsrechtsverstöße . . . . . . . . . . . . . (2) Exekutives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verstöße gegen primäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . (b) Verstöße gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht . . . . (3) Judikatives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Letztinstanzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Verstöße gegen primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gemeinschaftsrechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Feststellung der Rechtswidrigkeit beim Unterlassen (2) Die Haftung für rechtmäßiges Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gemengelagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verhältnis von Primär- und Sekundärrechtsverstößen . . . . . . .
149 151 152 153 154 155 155 155 157 158 159 160 161 161 161 163 164 166 170 171 173 174 175 176 176 177 177 180 180 180 181 183 184
Inhaltsverzeichnis c) Verleihung subjektiver Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Subjektive Rechte bei Verstößen gegen die Umsetzungspflicht des Art. 249 Abs. 3 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Subjektive Rechte bei sonstigen Gemeinschaftsrechtsverstößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verstöße gegen primäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . (2) Verstöße gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . d) Zurechenbarkeit des Gemeinschaftsrechtsverstoßes . . . . . . . . . . . . 2. Hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß . . . . . . . . . . . . a) Legislatives und exekutives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Judikatives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unmittelbarer Kausalzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Transformationsrechte und -pflichten der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . IV. Der Vorrang der gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben . . . . . . . . . 1. Kollision von nationalem Recht mit den gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts . . . 3. Unmittelbare Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Ausgestaltung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die haftungsausfüllenden Vorgaben des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Ausgestaltung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das deutsche Staatshaftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Anspruchsgrundlage der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Staatshaftungsansprüche des deutschen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anspruchskonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Anwendbarkeit deutscher Rechtsvorschriften im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Anwendbarkeit materiellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Erfordernis der Drittbezogenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Verschuldenserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Subsidiaritätsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Richterprivilegien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Richterprivileg des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB . . . . . . . (2) Das ungeschriebene Richterprivileg . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 186 187 188 188 189 190 191 193 196 197 197 198 200 202 203 203 204 204 204 206 206 209 209 210 211 213 215 215 215 216 218 219 220 221
12
Inhaltsverzeichnis ee) Die Vorrangklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vorrang des Rechtsschutzes durch die Fachgerichte . . . . (2) Vorrang außerordentlicher Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . (a) Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Individualbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Wiederaufgreifens- und Wiederaufnahmeverfahren . . (d) Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Die Schadensersatzregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Art des Schadensersatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Umfang des Schadensersatzes / Zinsen . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Die Mitverschuldensregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Die Verjährungsregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Anwendbarkeit der §§ 195, 199 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . (2) Verjährungsbeginn bei Gemeinschaftsrechtsverstößen . . . (3) Hemmung und Unterbrechung der Verjährung . . . . . . . . . ii) Sonstige Haftungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Anwendbarkeit formellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Regelung der Aktivlegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Regelung der Passivlegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Rechtswegbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Zuständigkeitsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Anwendbarkeit von Regressvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Regress des Gesamtstaates beim verantwortlichen Verwaltungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Regressansprüche des Bundes gegen die Länder . . . . . . . (2) Regressansprüche des Bundes gegen sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Regress beim verantwortlichen Amtsträger . . . . . . . . . . . . III. Die Ausgestaltung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in anderen Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
222 225 227 228 230 231 236 236 236 239 241 242 242 244 245 246 246 246 247 249 251 252
D. Reformbedarf in den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Pflicht zur Anpassung des deutschen Staatshaftungsrechts . . . . . . . . . . 2. Kodifikation eines speziellen Haftungstatbestands für Gemeinschaftsrechtsverstöße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Andere Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
264 264 265
252 253 255 259 261 261 262
266 269
Inhaltsverzeichnis
13
5. Teil Rechtsprechungsentwicklungen in Deutschland
271
A. Aktuelle Urteile deutscher Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 B. Die „Schrottimmobilien“-Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
6. Teil Schlussbetrachtung
282
A. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 B. Prüfungsschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
1. Teil
Einleitung Die nationalen Rechtsstrukturen und Dogmatiken geraten im Rahmen des Europäisierungsprozesses zunehmend in die Abhängigkeit des Gemeinschaftsrechts1. Besonders deutlich wird die Verzahnung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht bei der gemeinschaftsrechtlichen Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht, denn das „Ob“ einer solchen Haftung ist auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen, das „Wie“ hingegen auf der Basis des nationalen Rechts. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung wurde vom EuGH im Jahr 1991 in der Rechtssache „Francovich u. a.“2 ausdrücklich anerkannt. Im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung ist das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts seither entwickelt worden. Der Gerichtshof hat konkrete Haftungsvoraussetzungen festgelegt, die in nachfolgenden Urteilen präzisiert worden sind. Eine Kodifikation dieser ungeschriebenen Voraussetzungen hat bislang weder auf Gemeinschaftsebene noch in den Mitgliedstaaten stattgefunden, weshalb das vom EuGH geschaffene Richterrecht nach wie vor den alleinigen Maßstab bildet. Gerade im Bereich des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts hat sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs als besonders dynamisch erwiesen. Ein letzter Höhepunkt ist die Anerkennung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht in der Rechtssache „Köbler“3 im Jahr 2003 gewesen. Der Schlussstein im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts ist damit jedoch nicht gesetzt worden. Vielmehr entwickelt der EuGH das System stetig fort. Beispielsweise hat er jüngst in dem Urteil „A.G.M.-COS.MET“4 die Möglichkeit einer Haftung des Staates für gemeinschaftsrechtswidrige Äußerungen eines Beamten anerkannt. 1 Im Rahmen der Arbeit soll die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) unberücksichtigt bleiben. Sofern nachfolgend der Terminus „Gemeinschaft“ verwandt wird, bezieht sich dies auf die Europäische Gemeinschaft (EG). 2 EuGH v. 19. November 1991, Rs. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357. 3 EuGH v. 30. September 2003, Rs. C-224/01 (Köbler), Slg. 2003, I-10239. 4 EuGH v. 17. April 2007, Rs. C-470/03 (A.G.M.-COS.MET), zu finden unter http://curia.europa.eu. Dazu: Weiß, EuZW 2008, 74; Kohte/Irion, ZESAR 2008, 29.
16
1. Teil: Einleitung
Es ist Aufgabe des Schrifttums, Licht in das Dunkel des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts zu bringen, um auf diesem Weg einen Beitrag für mehr Rechtsklarheit und -sicherheit zu leisten. Diesem Ziel dient auch die vorliegende Arbeit. Ausgangspunkt für eine eingehende Auseinandersetzung mit dem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrecht kann nur die Judikatur des EuGH sein. In Anbetracht dessen werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit die ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofs analysiert und systematisch erfasst. Auf der Grundlage der Rechtsprechung soll der Tatbestand der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung herausgearbeitet werden. Dieser umfasst nicht nur die vom EuGH determinierten haftungsbegründenden Voraussetzungen, sondern auch haftungsausfüllende Voraussetzungen des nationalen Rechts, sofern diese mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren sind. Vor diesem Hintergrund wird untersucht, welche Regelungen des deutschen Staatshaftungsrechts Anwendung finden können. Praxisrelevante Probleme wie das der Reichweite vom Vorrang des Primärrechtsschutzes sollen dabei erörtert werden. Nicht ausgeklammert werden soll schließlich auch die viel diskutierte Frage nach der Anspruchsgrundlage der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung. Das Gleiche gilt für Fragen der prozessualen Durchsetzung des Haftungsanspruchs und des Regresses. Was die Rechtslage in den anderen Mitgliedstaaten angeht, so kann im Rahmen dieser Arbeit nur am Rande darauf eingegangen werden. Letztlich handelt es sich bei der Arbeit auch um ein weiteres Plädoyer für eine Reform des deutschen Staatshaftungsrechts5. Angesichts der Vorgaben des Gemeinschaftsrechts sollte diese vom deutschen Gesetzgeber nicht weiter aufgeschoben werden.
A. Gang der Darstellung Zu Beginn der Arbeit werden die zentralen Begrifflichkeiten geklärt, um den Ausführungen zum Thema ein terminologisches Fundament zu bereiten6. Im Anschluss daran wird einführend auf den Grundsatz einer Haftung für hoheitliches Unrecht eingegangen und die historische Entwicklung der Staatshaftung in Europa aufgezeigt7. Da das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht Ergebnis richterlicher Rechtsfortbildung des EuGH ist, wird sodann die Judikatur des Gerichtshofs zur Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße eingehend analysiert8. Das System der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, das sich daraus ergibt, wird danach 5 6 7 8
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
diesbezüglich die Ausführungen von Ossenbühl, S. 438 ff. 1. Teil, B. 2. Teil. 3. Teil.
B. Terminologie
17
ausführlich beschrieben. Zunächst soll aufgezeigt werden, wie der EuGH dieses System entwickelt hat9, um sodann die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung zu erläutern10. In diesem Zusammenhang werden die vom EuGH vorgegebenen haftungsbegründenden Voraussetzungen näher vorgestellt. Anschließend wird die Ausgestaltung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in den Mitgliedstaaten beleuchtet11, wobei dies vornehmlich am Beispiel Deutschlands geschieht. Es soll insbesondere untersucht werden, welche Regelungen des deutschen Staatshaftungsrechts im Rahmen der Haftungsausfüllung angewendet werden können und wie der Haftungsanspruch durchgesetzt werden kann12. Des Weiteren sollen der Reformbedarf in den Mitgliedstaaten ermittelt und aktuelle Rechtsprechungsentwicklungen aufgezeigt werden13. Im Rahmen der Schlussbetrachtung werden schließlich die Ergebnisse der Arbeit präsentiert14 und die Prüfung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in Deutschland anhand eines Prüfungsschemas veranschaulicht15.
B. Terminologie Bevor mit den Ausführungen zum Thema begonnen wird, soll dargestellt werden, welches terminologische Verständnis der Arbeit zugrunde liegt. Eine besondere Bedeutung für das Verständnis dieser Arbeit hat der Terminus „Staatshaftung“. Im Kontext der deutschen Rechtsordnung ist umstritten, welche Bedeutung diesem Begriff zukommt. Der Streit konzentriert sich dabei nicht auf das Begriffselement „Staat“, da weitgehend Einigkeit darüber herrscht, dass nicht nur der Bund als „Staat“ anzusehen ist, sondern auch andere Hoheitsträger wie die Länder oder sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts16. Auslöser für das uneinheitliche Begriffsverständnis ist vielmehr das Element „Haftung“. So ist umstritten, wie weit die Einstandspflicht des Staates reicht. Die Vertreter17 einer engen Interpretation des Begriffs „Staatshaftung“ sind der Auffassung, es bestehe nur bezüglich der Folgen rechtswidrigen, hoheitlichen Handelns eine Einstandspflicht des Staates. Andere18 interpretieren den Begriff „Staatshaftung“ weniger eng. 9
Vgl. 4. Teil, A. Vgl. 4. Teil, B. 11 Vgl. 4. Teil, C. 12 Vgl. 4. Teil, C., II. 13 Vgl. 4. Teil, D.; 5. Teil. 14 Vgl. 6. Teil, A. 15 Vgl. 6. Teil, B. 16 Windthorst, in: Detterbeck/Windthorst/Sproll, S. 3, Rn. 4. 17 Bettermann, DÖV 1954, 299. 18 Windthorst, in: Detterbeck/Windthorst/Sproll, S. 4 f., Rn. 9. 10
18
1. Teil: Einleitung
Ihrer Ansicht nach habe der Staat für Rechtseinbußen infolge der Ausübung öffentlicher Gewalt einzustehen, ohne dass es darauf ankomme, ob das Verhalten rechtswidrig oder gar schuldhaft ist. Die weiteste Interpretation des Begriffs „Staatshaftung“ kommt demgegenüber zum Ergebnis, dass den Staat unabhängig davon, ob er rechtswidrig oder rechtmäßig, öffentlichrechtlich oder privatrechtlich gehandelt hat, eine Einstandspflicht trifft19. Welche Ansicht vorzuziehen ist, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben, denn der Begriff „Staatshaftung“ wird im Rahmen der Arbeit vornehmlich im Kontext des Gemeinschaftsrechts verwandt. Da die Bedeutung eines Begriffs von der Rechtsordnung abhängt, in deren Kontext er verwandt wird, ist eine autonome Bestimmung gemeinschaftsrechtlicher Begrifflichkeiten angezeigt20. Bislang hat der EuGH eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nur in Fällen hoheitlichen Unrechts, d.h. bei rechtswidrigem Verhalten der Mitgliedstaaten, anerkannt. In Anbetracht dessen wird der Begriff „Staatshaftung“ grundsätzlich nur im Zusammenhang mit rechtswidrigem, öffentlich-rechtlichem Handeln eines Mitgliedstaates verwandt21. Die Begrifflichkeit „Gemeinschaftsrechtliches Staatshaftungsrecht“ ist mithin als Inbegriff der geschriebenen und ungeschriebenen Normen zu definieren, welche die Restitutions- und Kompensationspflichten der Mitgliedstaaten bei gemeinschaftsrechtswidriger Ausübung öffentlicher Gewalt regeln22. Ausgehend von dem Gewaltenteilungsgrundsatz, der sich auf Gemeinschaftsebene im institutionellen Gleichgewicht niedergeschlagen hat23, soll im Rahmen der Arbeit zwischen „legislativem Unrecht“, „exekutivem Unrecht“ und „judikativem Unrecht“ der Mitgliedstaaten differenziert werden. Welche Unrechtsform vorliegt, hängt davon ab, welcher Gewalt der Gemeinschaftsrechtsverstoß vorwiegend zugerechnet werden kann. Von „normativem Unrecht“24 oder „administrativem Unrecht“25 soll hingegen nicht die Rede sein, da diese speziellen Unrechtsformen Ausprägungen exekutiven Unrechts sind. 19
Bender, S. 1, Rn. 1. Vgl. Kühling/Lieth, EuR 2003, 371 (375); Streinz, S. 214, Rn. 572. 21 Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung kommt allerdings auch bei rechtmäßigem Verhalten in Betracht, vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), bb), (2). 22 Vgl. die herkömmliche Definition des Begriffs „Staatshaftungsrecht“ bei: Ossenbühl, S. 1. 23 Vgl. Streinz, in: Streinz, Art. 7 EGV, Rn. 3. 24 Normatives Unrecht ist anzunehmen, wenn Rechtsverordnungen, Satzungen oder Verwaltungsvorschriften gegen geltendes Recht verstoßen, vgl. Ossenbühl, S. 104. 25 Von administrativem Unrecht ist auszugehen, wenn die Verwaltung gegen geltendes Recht verstößt. Daneben ist aber auch gubernatives Unrecht denkbar, wenn beispielsweisweise ein Regierungsmitglied rufschädigende Äußerungen tätigen würde, vgl. insoweit EuGH, Fn. 4. 20
2. Teil
Die historische Entwicklung einer Haftung für hoheitliches Unrecht in Europa Der Grundsatz einer Haftung des Staates für hoheitliches Unrecht ist vornehmlich eine Schöpfung der Moderne. Seine Entwicklung hing mit der wissenschaftlichen Erfassung des Staates als selbständiger Rechtspersönlichkeit zusammen. In der Antike wurde den Staatswesen keine juristische Persönlichkeit beigemessen. Die antiken Griechen gingen davon aus, dass es sich bei dem Staat um die Gesamtheit der in der Bürgerversammlung vereinigten Bürger und nicht um eine selbständige rechtliche Korporation handelt1. Eine Haftung des Staates für hoheitliches Unrecht war ihnen folglich fremd. Für Schädigungen in Ausübung der Staatsgewalt mussten die handelnden Amtspersonen selbst einstehen2. Ausgehend von der Staatsauffassung der Griechen begriffen auch die antiken Römer ihren Staat als eine organisierte Gesamtheit der Bürger3. Eine eigene juristische Persönlichkeit des Staates kannten sie nicht, obgleich sich im Zivilrecht die Vorstellung einer juristischen Person zu entwickeln begann4. Angesichts der Größe und Machtfülle war eine Abstraktion der res publica hin zu einer Staatspersönlichkeit jedoch nicht vorstellbar5. Den antiken Römern war eine Haftung des Staates für seine Amtsträger infolgedessen unbekannt. Die handelnden Beamten wurden für Verletzungen ihres Mandats, dem rechtlichen Verhältnis des Beamten zur res publica, selbst zur Verantwortung gezogen6. Mit dem Bedeutungszuwachs der Kaiser im Römischen Reich erlangte schließlich auch der Gedanke, dass der Kaiser und damit auch der Staat über Schuld und Strafe erhaben ist, mehr und mehr an Gewicht7. Hieran anknüpfend entwickelte sich später der neuzeitliche Absolutismus8. 1 v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 12 ff.; Kohl, S. 7 f.; Rehm, S. 32 f., 42, 76 ff.; Bernatzik, S. 7, 9; Häfelin, S. 5 ff. 2 Kohl, S. 8. 3 Rehm, S. 150; Jhering, S. 209 ff.; Mommsen, Bd. III/1, S. 3 ff. 4 Häfelin, S. 8 ff.; v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 34 ff., 50; v. Lübtow, S. 469 ff. 5 Kohl, S. 11. 6 Mommsen, Bd. I, 698 ff.; Loening, S. 7 ff. 7 Pfab, S. 5. 8 Vgl. Mommsen, Bd. II/2, S. 752.
20
2. Teil: Die Haftung für hoheitliches Unrecht in Europa
In Deutschland herrschten bis zum Mittelalter germanische Rechtsauffassungen vor. Danach bestand zwischen dem Herrscher und dem Volk ein vertragsähnliches Treueverhältnis. Wurde dieses Verhältnis durch den Herrscher verletzt, war das Volk berechtigt, ihn abzusetzen oder gar zu töten (Widerstandsrecht)9. Im Mittelalter fand die Vorstellung, der Herrscher sei rechtlich gebunden und verantwortlich für sein Handeln, in der Haftung der Verbände für das rechtswidrige Handeln ihrer Organe und Vertreter Niederschlag10. Die Verbände mussten sich das Verhalten des einzelnen Verbandsmitglieds zurechnen lassen. Eine Gemeinde etwa hatte für einen Gemeindebeamten einzustehen, wenn dieser Abgaben erhob und sodann veruntreute11. Eine Haftung für hoheitliches Unrecht gab es insofern also bereits. Der genossenschaftliche Zurechnungs- und Haftungsgedanke konnte in Deutschland auch nicht durch die Rezeption des römischen Rechts verdrängt werden12. Letztlich fand er jedoch keinen Eingang in die mittelalterliche Staatsrechtslehre, da der Staat unter dem Einfluss antiker Staatsvorstellungen mit dem sichtbaren Souverän identifiziert wurde13. Im Spätmittelalter gewann schließlich auch der Satz „princeps legibus solutus est“ des römischen Kaisers Ulpian an Bedeutung. Die Landesfürsten des Reiches versuchten sich dem germanischen Widerstandsrecht zu entziehen, indem sie erklärten, sie treffe aufgrund ihrer göttlichen Einsetzung keine Verantwortung14. Mit dem Beginn der Neuzeit im 16. Jahrhundert hielt in der Staatsrechtslehre die naturrechtliche Theorie vom Staats- bzw. Gesellschaftsvertrag Einzug, auf deren Grundlage die Bildung des souveränen Staates erklärt wurde. Eine umfassende Rechtspersönlichkeit des Staates wurde jedoch weiterhin nicht anerkannt15. Die Diskussion konzentrierte sich vielmehr auf die Frage, ob der Herrscher oder das Volk Träger der souveränen Staatsgewalt ist16. Das Dienstverhältnis zwischen den Landesherren und ihren Beamten wurde rein privatrechtlich als Mandatskontrakt begriffen, was zur Folge hatte, dass die landesfürstlichen Beamten für rechtswidriges Verhalten selbst verantwortlich waren (Mandatstheorie)17. Rechtsschutz gegenüber dem Staat konnte mit der Zeit nur bei „Justizsachen“, d.h. Streitigkeiten über private Rechte, erlangt werden (Fiskustheorie)18. Sowohl die Mandatstheorie als 9
Vgl. Kern, S. 121 ff.; Mitteis/Lieberich, S. 35. Vgl. Loening, S. 26 ff. 11 Kohl, S. 17. 12 v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 343 ff.; Loening, S. 35 ff. 13 Kohl, S. 21. 14 Vgl. Kern, S. 201 ff. 15 Häfelin, S. 26, 60 ff. 16 Vgl. v. Gierke, S. 315 ff.; Häfelin, S. 63; Kohl, S. 26 f. 17 Loening, S. 43; Zachariä, ZgStW 1863, 582 (591, 595 ff.). 18 Kohl, S. 85. 10
2. Teil: Die Haftung für hoheitliches Unrecht in Europa
21
auch die Fiskustheorie wurden bei der Konzeption des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794 maßgeblich berücksichtigt19. Im 19. Jahrhundert wurden die naturrechtlichen Vorstellungen von den organischen Staatslehren abgelöst. Otto von Gierke entwickelte die Theorie von der realen Verbandspersönlichkeit, die von der Prämisse ausging, dass menschliche Verbände wie der Staat ebenso wie Einzelpersonen reale Wesenseinheiten sind, die juristisch als Rechtspersönlichkeiten anerkannt werden müssen20. Auf der Grundlage dieser Theorie erschien es möglich, dem Staat rechtswidrige unerlaubte Handlungen seiner Organe unmittelbar zuzurechnen. Georg Jellinek und Hans Kelsen gingen später zwar ebenfalls von einer eigenen Rechtspersönlichkeit des Staates aus21, eine Pflicht des Staates zur Haftung für hoheitliches Unrecht lehnten sie allerdings grundsätzlich ab. Ihrer Ansicht nach ergebe sich eine solche Pflicht nicht aus der Rechtsnatur des Staates, sondern müsse positiv-rechtlich normiert werden, wenn der Staat die zivilrechtliche Verbindlichkeit des Beamten übernehmen wolle22. Unter dem Einfluss des Rechtspositivismus wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert die Frage nach einer Pflicht des Staates zur Haftung für hoheitliches Unrecht überwiegend als rechtspolitische angesehen23. Allerdings wurde die Schaffung eines entsprechenden Tatbestandes zunächst für nicht notwendig gehalten, da unklar blieb, weshalb der Staat für rechtswidrige Handlungen eines Amtsträgers haften sollte24. Im Bürgerlichen Gesetzbuch, das zum 1. Januar 1900 in Kraft trat, wurde lediglich die Haftung der verfassungsmäßigen Vertreter öffentlich-rechtlicher Körperschaften gemäß § 89 i. V. m. § 31 BGB und die Haftung des Beamten nach § 839 BGB geregelt. Eine Staatshaftung konnte mangels Kompetenz des Reichsgesetzgebers nicht geregelt werden. Dies blieb gemäß Art. 3, 77 EGBGB Sache der Länder25. Allmählich wurde jedoch erkannt, dass der Bürger auf Dauer nicht auf die unzureichende Beamtenhaftung verwiesen werden konnte, da die Beamten oftmals nicht leistungsfähig waren. Darüber hinaus förderte die persönliche Haftpflicht der Beamten nicht gerade deren Entschlussfreudigkeit und Einsatzbereitschaft. Infolgedessen wurde in Art. 131 der Weimarer Reichsverfassung eine Haftungs19
Vgl. Pfab, S. 6 f. v. Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts, S. 98. 21 Vgl. Jellinek, S. 169; Kelsen, S. 296. 22 Vgl. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 245; Kelsen, GrünhutsZ 40 (1914), 1 (110). 23 Kohl, S. 95. 24 Vgl. v. Stein, S. 369. 25 Der Großteil der Länder führte keine Staatshaftungsregelungen ein, vgl. Delius, S. 15 f., 103 ff. 20
22
2. Teil: Die Haftung für hoheitliches Unrecht in Europa
übernahme des Staates kodifiziert26. Diese Regelung fand später in Art. 34 GG ihre Entsprechung27. In anderen europäischen Ländern wurde eine Haftung des Staates für hoheitliches Unrecht ebenfalls eingeführt28. Während im Vereinigten Königreich eine Staatshaftung zunächst an dem Grundsatz „the king can do no wrong“ scheiterte, ermöglichte der „Crown Proceedings Act“ von 1947 erstmals eine direkte Inanspruchnahme der „Krone“ bei hoheitlichem Unrecht29. Zuvor bestand für den Geschädigten nur die Möglichkeit, auf dem Gnadenwege die gerichtliche Feststellung eines Anspruchs gegen den König zu erreichen30. Allerdings konnten schon früh die von der „Krone“ unabhängigen „local authorities“, die einen Großteil der Verwaltungstätigkeiten im Staat übernahmen, in Anspruch genommen werden31. In Frankreich wurde eine Staatshaftung im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung geschaffen. Grundlegend war das Urteil „Blanco“ des Tribunal des Conflits aus dem Jahre 1873, in dem die Notwendigkeit der Schaffung von Staatshaftungsregelungen zutage trat32. Die Eigenhaftung des Beamten wurde jedoch nicht ausgeschlossen. Vielmehr wurde dem Geschädigten für den Fall, dass zweifelhaft ist, ob die Verwaltung oder der Beamte selbst für das begangene Unrecht verantwortlich ist, ein Wahlrecht zugestanden33. Durch den am 1. November 1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht wurde schließlich die Europäische Union gegründet, der seit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien am 1. Januar 2007 insgesamt 27 europäische Staaten angehören. Auf Unionsebene hat der Grundsatz einer Haftung für hoheitliches Unrecht – abgesehen von der gemeinschaftsrechtlichen Haftung der Mitgliedstaaten – vor allem in der außervertraglichen Haftung der Europäischen Gemeinschaft gemäß Art. 288 Abs. 2 EG Niederschlag gefunden. Bei ihr handelt es sich um eine rechtlich selbständige Internationale Organisation, die durch den Vertrag über die Europäische Union mit Formen der intergouvernementalen Zusammenarbeit verbunden wurde34. Eine Verschmelzung der Europäischen Gemeinschaften zur EU hat nicht statt26
Näheres zur Schaffung der Regelung des Art. 131 WRV: Pfab, S. 11 ff. Zu den in diesem Zusammenhang geführten Auseinandersetzungen im Parlamentarischen Rat: Pfab, S. 15 ff. 28 Eingehend zum Staatshaftungsrecht anderer EU-Mitgliedstaaten: Pfab, S. 172 ff. 29 Pfab, S. 173. 30 Kohl, S. 46 f. 31 Pfab, S. 173. 32 Das Gericht verneinte die Anwendbarkeit des code civil auf die Verantwortlichkeit des Staates für Schädigungen Einzelner durch seine Angestellten. Vgl. insoweit Pfab, S. 176; Magnus/Wurmnest, S. 60. 33 Pfab, S. 176. 34 Vgl. Art. 1 Abs. 3 EU. 27
2. Teil: Die Haftung für hoheitliches Unrecht in Europa
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gefunden35. Vielmehr hat der EU-Vertrag die Gründungsverträge von EG, EGKS und EAG weitgehend unberührt gelassen36. Die Europäischen Gemeinschaften blieben selbständige, mit Rechtspersönlichkeit sowie Rechtsund Geschäftsfähigkeit ausgestattete Rechtssubjekte. Gemeinschaftsrechtsverstöße der Organe und Bediensteten der EG werden daher nicht der EU, sondern nach wie vor der Gemeinschaft selbst zugerechnet, die dafür gemäß Art. 288 Abs. 2 EG zu haften hat. Die Voraussetzungen dieser außervertraglichen Haftung sind im EG-Vertrag nicht explizit geregelt. Die Regelung des Art. 288 Abs. 2 EG verweist vor allem auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Der EuGH hat auf der Grundlage seiner Zuständigkeit gemäß Art. 235 EG nach und nach diese allgemeinen Rechtsgrundsätze und damit die Voraussetzungen des Haftungsanspruchs bestimmt. Nach ständiger Rechtsprechung setzt die außervertragliche Haftung der EG voraus, dass die Amtstätigkeit eines Organs oder Bediensteten einen Tatbestand erfüllt, dessen Merkmale die Rechtswidrigkeit des zur Last gelegten Verhaltens, das Vorliegen eines Schadens und das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem geltend gemachten Schaden sind37. Am 13. Dezember 2007 ist der Vertrag von Lissabon38 unterzeichnet worden, der noch von den Mitgliedstaaten zu ratifizieren ist39. Anders als beim Verfassungsvertrag der EU40, dessen Ratifikation bekanntlich gescheitert ist, soll der EG-Vertrag durch den Vertrag von Lissabon nicht mit dem EU-Vertrag fusioniert werden. Vielmehr würden beide Verträge in modifizierter Form bestehen bleiben41, der EG-Vertrag allerdings unter dem Namen „Vertrag über die Arbeitsweise der EU“ (AEUV). Die Euro35
A. A. v. Bogdandy/Nettesheim, EuR 1996, 3 (23 ff.). Vgl. Art. 47 EU. 37 EuG v. 4. Oktober 2006, Rs. T-193/04 (Tillack), Rn. 116; zu finden unter http://curia.europa.eu. 38 „Vertrag zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“. Der auch als Reformvertrag titulierte Vertrag wird nachfolgend mit VvL abgekürzt. 39 Der Bundestag hat dem Vertrag von Lissabon am 24. April 2008 zugestimmt. Das BVerfG hat in seinem „Lissabon“-Urteil vom 30. Juni 2009 (Az.: 2 BvE 2/08; 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 182/09, abrufbar über http://www.bverfg.de) entschieden, dass der Vertrag von Lissabon und das deutsche Zustimmungsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Allerdings hat es das deutsche Begleitgesetz insoweit für verfassungswidrig erklärt, als Beteiligungsrechte des Bundestages und des Bundesrates nicht im erforderlichen Umfang ausgestaltet worden seien. Die europäische Vereinigung dürfe nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. 40 Vgl. Art. IV-438 Abs. 1 des Verfassungsvertrages. 41 Vgl. Art. 1 und 2 VvL. 36
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2. Teil: Die Haftung für hoheitliches Unrecht in Europa
päische Gemeinschaft bliebe – im Gegensatz zur Europäischen Atomgemeinschaft42 – jedoch kein eigenständiges Rechtssubjekt, denn die Regelung des Art. 281 EG würde aufgehoben43. Stattdessen würde die EU durch einen neuen Artikel 32 im EU-Vertrag mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit ausgestattet44. Vor diesem Hintergrund wäre auch nicht mehr die Rede von „Europäischer Gemeinschaft“, sondern nur noch von „Union“45. Diese Union hätte gemäß der Regelung Art. 288 Abs. 2 AEUV für hoheitliches Unrecht zu haften46. Eine Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Unionsrecht sieht der Vertrag von Lissabon allerdings ebenso wenig vor wie zuvor der Verfassungsvertrag. Zwar müsste nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon von einer „unionsrechtlichen Staatshaftung“ gesprochen werden, Maßstab für eine solche Haftung bliebe aber nach wie vor die Judikatur des EuGH.
42 So wird die Regelung des Art. 184 EA über die Rechtspersönlichkeit der EAG durch das Protokoll Nr. 12 des Vertrags von Lissabon nicht geändert. 43 Vgl. Art. 2 VvL, Rn. 279. 44 Vgl. Art. 1 VvL, Rn. 54. 45 Vgl. Art. 2 VvL, Rn. 3 (a). 46 Der Vertrag von Lissabon sieht keine Änderung des Art. 288 Abs. 2 EG vor.
3. Teil
Die Judikatur des EuGH zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Gemäß Art. 220 EG sichert der Europäische Gerichtshof die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EG-Vertrages. Er folgt einer dynamischen Interpretationsmethode, die an den Vertragszielen und der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts („effet utile“) orientiert ist1. Da der EuGH die Ermächtigungsgrundlagen des EG-Vertrages in der Regel weit auslegt und das Gemeinschaftsrecht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung ständig weiter entwickelt, wird er auch als „Motor der Europäischen Integration“ bezeichnet2. Auch das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht beruht auf der richterlichen Rechtsfortbildung des EuGH. Da eine Kodifikation bislang nicht stattgefunden hat, bilden die Vorgaben des Gerichtshofs nach wie vor das Fundament für jede eingehende Auseinandersetzung mit diesem Haftungsinstitut. Es ist deshalb außerordentlich wichtig, die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs zum gemeinschafsrechtlichen Staatshaftungsrecht mit all ihren Aussagen zu erfassen. Sie muss Ausgangspunkt für jede anzustellende Überlegung oder Schlussfolgerung sein. Im Folgenden werden daher die Entwicklungen in der Judikatur des EuGH aufgezeigt. Berücksichtigt werden alle Entscheidungen, die das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht geprägt haben. Der Darstellung der Judikatur liegt eine Sortierung nach der Unrechtsform und der Bedeutung für das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts zugrunde. Abgesehen davon wird die Chronologie der Entscheidungen eingehalten. Angesichts der Vielzahl der mittlerweile bereits verkündeten Urteile kann auf die Entscheidungen zum Teil nur in groben Zügen eingegangen werden. Lediglich die Entscheidungen, die einen besonders wichtigen Beitrag für die Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts geleistet haben, können ausführlich behandelt werden. Einen besonderen Stellenwert nimmt die „Francovich u. a.“-Entscheidung3 ein, da der Europäische Gerichtshof in dieser Entscheidung erstmals Haftungsvoraussetzungen für den Fall eines mitgliedstaatlichen Versto1 2 3
Fischer, S. 158, Rn. 9. Schweitzer/Hummer, S. 134, Rn. 445. EuGH, S. 15, Fn. 2.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
ßes gegen das Gemeinschaftsrecht festgelegt hat. Sie bildet auf dem Gebiet des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts gewissermaßen den „leading case“. Bevor auf „Francovich u. a.“ und die nachfolgenden Urteile eingegangen wird, ist jedoch zu klären, welche Rolle die zuvor ergangenen Entscheidungen des EuGH bei der Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts gespielt haben.
A. Die Rechtsprechung des EuGH bis zum Urteil „Francovich u. a.“ Durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache „Francovich u. a.“ wurde die Literatur mit einem neuartigen Rechtsinstitut konfrontiert, dem der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung. Während sich die einen davon überrascht zeigten4, verwiesen andere auf die bisherige Judikatur des EuGH, in welcher der Grundsatz einer Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht bereits Niederschlag gefunden habe5. In der Tat hatte der EuGH schon vor „Francovich u. a.“ den Grundsatz einer Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht anerkannt. Allerdings blieb es bei der Anerkennung dieses Grundsatzes. Der Gerichtshof bestimmte weder die einzelnen Voraussetzungen einer mitgliedstaatlichen Haftung noch das konkrete Haftungsverfahren. Vielmehr überließ er den Mitgliedstaaten die Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Haftung. Diese Rechtsprechungslinie beruhte auf dem Dualismus von materiellem Gemeinschaftsrecht und nationalem Vollzugsrecht6. Da Vollzugskompetenzen der Gemeinschaft weitgehend fehlen, muss das Gemeinschaftsrecht in der Regel indirekt auf der Grundlage des nationalen Rechts vollzogen werden7. Es gilt der Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten8. Dieser besagt, dass im Fall eines indirekten Vollzuges von Gemeinschaftsrecht die Kompetenz zur Bestimmung von Form, Verfahren und Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten liegt. Die Mitgliedstaaten haben anhand des materiellen innerstaatlichen Rechts zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für den Vollzug gegeben sind9. Die Mitgliedstaaten können also weitgehend autonom darüber befin4 Ossenbühl bezeichnete die Entscheidung des EuGH als „überraschenden Kraftakt“, vgl. DVBl. 1992, 993 (997). 5 Geiger DVBl. 1993, 465 (466); Mögele, BayVBl. 1993, 129 (132); Schockweiler, EuR 1993, 107 (110). 6 Cornils, S. 43. 7 Fastenrath/Müller-Gerbes, S. 222, Rn. 414 ff. 8 Epiney, in: Bieber/Epiney/Haag, S. 208, Rn. 11. 9 Cornils, S. 44.
A. Die Rechtsprechung des EuGH bis zum Urteil „Francovich u. a.“
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den, ob und wie das Gemeinschaftsrecht vollzogen wird. Zwischen der Autonomie der Mitgliedstaaten und deren Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht besteht ein Spannungsverhältnis10. In den ersten Entscheidungen, die sich mit den Folgen von Verstößen der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht befassten, urteilte der EuGH zugunsten der Autonomie der Mitgliedstaaten. Im Jahr 1960 entschied er in der Rechtssache „Humblet“, dass ein Staat nach Art. 86 des EGKS-Vertrags11 – der mit Art. 10 EG fast inhaltsgleich war – verpflichtet sei, einen gemeinschaftsrechtswidrigen Akt und die durch ihn verursachten Folgen zu beseitigen12. Es blieb jedoch bei dieser abstrakten Verpflichtung. Der EuGH legte nicht fest, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Verfahren die Folgenbeseitigung in den Mitgliedstaaten erfolgen soll. Ein erster Schritt in Richtung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts war gleichwohl getan. Auch die „Salgoil“-Entscheidung von 196813 führte im Ergebnis nicht zu einer Einschränkung der autonomen Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten. Der EuGH befand lediglich, dass für den Fall einer Verletzung unmittelbar drittwirkender Vorschriften des Gemeinschaftsrechts die Behörden und zuständigen Gerichte der Mitgliedstaaten einen unmittelbaren und sofortigen Rechtsschutz gewähren müssten14. Wie der Rechtsschutz im Einzelnen ausgestaltet werden sollte, blieb offen15. In einem Verfahren gegen die Italienische Republik entschied der Gerichtshof im Jahr 1973, dass ein Vertragsverletzungsurteil gemäß Art. 171 EWGV (Art. 228 EG) die Grundlage für eine Haftung abgeben könne, die möglicherweise einen Mitgliedstaat infolge der Pflichtverletzung gegenüber anderen Mitgliedstaaten, der Gemeinschaft oder Einzelnen treffe16. In späteren Verfahren wurde hierauf wiederholt Bezug genommen17. Prima facie scheint der EuGH in dieser Entscheidung die Rechtsgrundlage einer mitgliedstaatlichen Haftung für Gemeinschaftsrechtsverstöße geschaffen zu haben. Bei genauerer Betrachtung ist jedoch festzustellen, dass der Gerichtshof lediglich verdeutlichen wollte, dass die in einem Vertragsverletzungsverfahren fest10
Cornils, S. 44. Dieser Vertrag ist im Jahr 2002 außer Kraft getreten. 12 EuGH v. 16. Dezember 1960, Rs. 6/60 (Humblet), Slg. 1960, 1163 (1168). 13 EuGH v. 19. Dezember 1968, Rs. 13/68 (Salgoil), Slg. 1968, S. 680. 14 EuGH, Fn. 13, S. 693. 15 Vgl. Green/Barav, Y.E.L. 6 (1986), 55 (59); Cornils, S. 43. 16 EuGH v. 7. Februar 1973, Rs. 39/72 (Kommission/Italien), Slg. 1973, 101 (2. Leitsatz). 17 EuGH v. 20. Februar 1986, Rs. 309/84 (Kommission/Italien), Slg. 1986, 599 (609); EuGH v. 18. Januar 1990, Rs. C-287/87 (Kommission/Griechenland), Slg. 1990, I-125; EuGH v. 19. März 1991, Rs. C-249/88 (Kommission/Belgien), Slg. 1991, I-1275 (1318). 11
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
gestellte Rechtswidrigkeit eines mitgliedstaatlichen Verhaltens auch nach Erledigung des Verfahrens im Rahmen nationaler Haftungsprozesse zugrunde gelegt werden kann18. Ihm ging es nicht darum, einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch zu begründen. Die Prüfung, ob der Mitgliedstaat für einen Gemeinschaftsrechtsverstoß zu haften hat, orientierte sich damit weiterhin am nationalen Recht. Die „Russo“-Entscheidung von 1976 änderte im Ergebnis daran zwar nichts, in ihr brachte der EuGH die Schadensersatzersatzverpflichtung der Mitgliedstaaten allerdings erstmals auf den Punkt: „Ist ein solcher Schaden infolge der Verletzung des Gemeinschaftsrechts entstanden, so ist der betreffende Staat verpflichtet, gegenüber dem Geschädigten im Rahmen der Bestimmungen des nationalen Rechts über die Staatshaftung die Folgen zu tragen19.“
Die zitierte Passage bringt deutlich zum Ausdruck, dass der EuGH schon vor „Francovich u. a.“ von einer Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverletzungen ausging. Ihr kann jedoch auch entnommen werden, dass die Haftung nicht gemeinschaftsrechtlicher Natur war, sondern sich gänzlich nach den Bestimmungen des nationalen Rechts richtete. In diesem Sinne entschied der EuGH auch in nachfolgenden Urteilen20. Erst 1991 wurde mit dem „Francovich u. a.“-Urteil21 ein Staatshaftungsrecht geschaffen, das seine Grundlage im Gemeinschaftsrecht findet. Im Jahr 1989 konnte der EuGH in der Rechtssache „Enichem“22 die Frage einer gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzpflicht der Mitgliedstaaten noch offen lassen, da es an einem Gemeinschaftsrechtsverstoß fehlte. Wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, wurde bis zur „Francovich u. a.“-Entscheidung die institutionelle und verfahrensmäßige Autonomie der Mitgliedstaaten gewahrt. Diesen wurde lediglich die Pflicht auferlegt, für den Fall einer Verletzung von Gemeinschaftsrecht auch sekundären Rechtsschutz zu gewährleisten. Die Rechtsprechung des EuGH auf dem verwandten Gebiet des Erstattungsrechts war dagegen schon restriktiver. Zwar beließ es der Gerichtshof bei der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten, er beschränkte diese jedoch durch ein Diskriminierungsverbot und ein Effizienzgebot („effet utile“). Beide Schranken 18
Cornils, S. 54. EuGH v. 22. Januar 1976, Rs. 60/75 (Russo), Slg. 1976, 45 (56, Rn. 7 u. 9). 20 Vgl. EuGH v. 13. Februar 1979, Rs. 101/78 (Granaria), Slg. 1979, 623; EuGH v. 10. Juni 1982, Rs. 217/81 (Interagra), Slg. 1982, S. 2233; EuGH v. 27. September 1988, Rs. 106 bis 120/87 (Asteris), Slg. 1988, 5515; EuGH v. 12. Juli 1990, Rs. C-188/89 (Foster), Slg. 1990, I-3313. 21 EuGH, S. 15, Fn. 2. 22 EuGH v. 13. Juli 1989, Rs. 380/87 (Enichem), Slg. 1989, 2491. 19
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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sind aus den EuGH-Urteilen „Rewe“23 und „Comet“24 von 1976 hervorgegangen. Aus dem Effizienzgebot folgt, dass die Mitgliedstaaten ihre Rechtsordnungen so gestalten müssen, dass die Geltendmachung von Erstattungsansprüchen bezüglich gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben nicht praktisch unmöglich ist25. Das Diskriminierungsverbot soll hingegen sicherstellen, dass bei Erstattungsklagen, die auf einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts beruhen, keine ungünstigeren Voraussetzungen gelten als bei entsprechenden, nur nationales Recht betreffenden Klagen26.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“ Mit der Entscheidung in der Rechtssache „Francovich u. a.“27 hat der EuGH den Grundstein für ein gemeinschaftsrechtliches Staatshaftungsrecht gelegt, da erstmals Voraussetzungen aufgestellt worden sind, unter denen die Mitgliedstaaten für Verletzungen des Gemeinschaftsrechts zu haften haben. Die Entscheidung über das „Ob“ einer Haftung blieb damit nicht länger den Mitgliedstaaten vorbehalten. Ausgehend von „Francovich u. a.“ hat der Gerichtshof ein System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts entwickelt, das er in zahlreichen Urteilen ausgebaut und verfeinert hat. Die nachfolgende Rechtsprechungsanalyse dokumentiert, wie dies geschehen ist und auf welchem Stand sich die Judikatur des EuGH derzeit befindet. Die analysierten Urteile des EuGH sind allesamt im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG ergangen. Vorabentscheidungen des EuGH entfalten in erster Linie eine sog. „inter partes“-Wirkung. Außer dem vorlegenden Gericht ist jedes andere Gericht, das in dem betreffenden Rechtsstreit noch eine Entscheidung zu treffen hat, an eine solche Entscheidung gebunden28. Das BVerfG hat diese Bindungswirkung anerkannt29. Ob einer Vorabentscheidung auch außerhalb des Ausgangsverfahrens eine sog. „erga-omnes“-Wirkung zukommt, ist unklar. Für eine solche Wirkung spricht indes, dass die letztinstanzlichen Gerichte der Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht zur Vorlage verpflichtet sind, wenn die gleiche Streitfrage in einem Parallelverfahren Gegenstand einer Vorabent23 24 25 26 27 28 29
EuGH v. 16. Dezember 1976, Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989. EuGH v. 16. Dezember 1976, Rs. 45/76 (Comet), Slg. 1976, 2043. EuGH, Fn. 23, S. 1998, Rn. 5. EuGH, Fn. 24, S. 2053, Rn. 11/18. EuGH, S. 15, Fn. 2. Fischer, S. 173, Rn. 67. BVerfGE 45, 142 (162); 52, 187 (201); 73, 339 (370); 75, 223 (234).
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
scheidung gewesen ist30. Nur wenn sie ein Urteil verabschieden wollen, das sich mit einer Vorabentscheidung des EuGH nicht vereinbaren lässt, besteht die Vorlagepflicht31. Hinzu kommt, dass die offenkundige Verkennung einer Vorabentscheidung des EuGH durch ein letztinstanzliches Gericht auch eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung32 oder ein Vertragsverletzungsverfahren33 nach sich ziehen kann. Schließlich geht auch Art. 68 Abs. 3 S. 2 EG von einer Bindung der Gerichte an die Auslegungsentscheidung des EuGH aus34. Vorabentscheidungen des EuGH entfalten somit durchaus auch außerhalb des Ausgangsverfahrens eine Bindungswirkung35. Davon erfasst werden nicht nur die letztinstanzlichen Gerichte, sondern auch die unteren Gerichtsinstanzen. So gebietet das Gemeinschaftsrecht die Zulassung eines Rechtsmittels, wenn die Rechtsprechung eines unterinstanzlichen Gerichts von einem Vorabentscheidungsurteil abweicht36.
I. Legislatives Unrecht 1. Grundlegende Urteile des EuGH a) Das Urteil „Francovich u. a.“ von 1991 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) Auf die zentrale Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Francovich u. a.“37 wurde in den bisherigen Ausführungen schon mehrfach Bezug genommen. Damit ihre grundlegende Bedeutung für das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht vollständig erfasst werden kann, wird sie nun im Detail besprochen. In „Francovich u. a.“ hatte der EuGH über mehrere Fragen hinsichtlich der Auslegung des Art. 189 Abs. 3 EWG-Vertrag (Art. 249 Abs. 3 EG) und der Richtlinie 80/987/EWG38 zu befinden. Die Fragen stellten sich im Rahmen zweier, an der Pretura Vicenza und der Pretura 30 Vgl. EuGH v. 6. Oktober 1982, Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T.), Slg. 1982, 3415 (3429, Rn. 14); EuGH v. 27. März 1980, Rs. 66, 127 u. 128/79 (Salumi), Slg. 1980, 1237 (1260, Rn. 9). 31 Fastenrath/Müller-Gerbes, S. 265, Rn. 520. 32 EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10312, Rn. 56. 33 Vgl. EuGH v. 9. Dezember 2003, Rs. 129/00 (Kommission/Italien), Slg. 2003, I-14637 (I-14686, Rn. 30). 34 Fastenrath/Müller-Gerbes, S. 266, Rn. 520. 35 So auch Vorwerk, FS Thode, 645 (648); Grune, BayVBl. 2004, 673 (677). 36 Vgl. 4. Teil, C., 4., a), ee), (1). 37 EuGH, S. 15, Fn. 2. 38 Richtlinie des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. L 283, S. 23.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
31
Bassano del Grappa anhängiger Gerichtsverfahren, die Rechtsstreitigkeiten zwischen italienischen Staatsbürgern (Andrea Francovich, Danila Bonifaci u. a.) und der italienischen Republik zum Gegenstand hatten. Ausgelöst wurden die Rechtsstreitigkeiten durch die Zahlungsunfähigkeit der Unternehmen „CDN Elettronica SnC“ und „Gaia Confezioni Srl“. Angesichts der Richtlinie 80/987/EWG verlangten Andrea Francovich und die anderen Kläger, dass der italienische Staat anstelle der zahlungsunfähigen Unternehmen zumindest in Höhe von drei Monatslöhnen das ihnen zustehende Arbeitsentgelt zahlt bzw. Schadensersatz leistet. Problematisch war allerdings, dass in Italien die Richtlinie 80/987 nicht umgesetzt worden war, obwohl die italienische Republik verpflichtet gewesen ist, dies bis zum 23. Oktober 1983 zu tun39. Nachdem der EuGH diesbezüglich schon am 2. Februar 1989 eine Vertragsverletzung Italiens festgestellt hatte40, musste er sich mit der Frage auseinandersetzen, ob die hinsichtlich der Zahlungsbegehren einschlägigen Regelungen der Richtlinie überhaupt von einem Bürger gegenüber einem Staat geltend gemacht werden können. Eine solche unmittelbare Anwendbarkeit setzt zum einen voraus, dass die Umsetzungsfrist abgelaufen ist41. Zum anderen müssen die betreffenden Richtlinienbestimmungen subjektive Rechte gegenüber dem Staat verleihen42 sowie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau gefasst sein43. In der Rechtssache „Francovich u. a.“ war, wie soeben erwähnt wurde, die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen. Zudem stellte der EuGH fest, dass die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 80/987 inhaltlich unbedingt und hinreichend genau seien.44. Hingegen verneinte er, dass die Richtlinie 80/987 subjektiv-öffentliche Rechte enthält, weil ihr nicht zu entnehmen sei, dass der Staat als Schuldner der Zahlungsansprüche angesehen werden muss45. Eine unmittelbare Anwendbarkeit der einschlägigen Richtlinienbestimmungen ergab sich folglich nicht. Die Kläger konnten sich somit nicht auf die in der Richtlinie geregelten Garantieansprüche berufen46. Nach der Verneinung einer unmittelbaren Wirkung hatte der EuGH zu klären, ob ein Mitgliedstaat für Schäden zu haften hat, die dem Einzelnen dadurch entstanden sind, dass eine Richt39 Die Pflicht eines Mitgliedstaates zur Umsetzung einer Richtlinie ergibt sich aus Art. 249 Abs. 3 EG in Verbindung mit der konkret erlassenen Richtlinie und Art. 10 Abs. 1 EG, vgl. Schütz/Bruha/König, S. 129. 40 EuGH v. 2. Februar 1989, Rs. 22/87 (Kommission/Italien), Slg. 1989, 143. 41 EuGH v. 5. April 1979, Rs. 148/78 (Ratti), Slg. 1979, 1629 (1630, 1. Leitsatz). 42 EuGH v. 4. Dezember 1974, Rs. 41/74 (van Duyn), Slg. 1974, 1337 (1348, Rn. 12). 43 EuGH v. 19. Januar 1982 (Becker), Slg. 1982, 53 (71, Rn. 25). 44 EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5411, Rn. 22. 45 EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5412, Rn. 25 f. 46 EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5412, Rn. 27.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
linie nicht umgesetzt worden ist. Der Gerichtshof ging in diesem Zusammenhang zunächst auf den Grundsatz der mitgliedstaatlichen Haftung für Gemeinschaftsrechtsverstöße ein. Er befand: „Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wäre beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der Einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, dass seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Mitgliedstaat zuzurechnen ist“47.
Diese Argumentation des EuGH beruht auf einer teleologischen, am Prinzip des „effet utile“ (Prinzip der praktischen Wirksamkeit) orientierten Auslegung des Gemeinschaftsrechts48. Diese Auslegungsmethode ist eng mit der Aufgabe des Gerichtshofs verknüpft, das Gemeinschaftsrecht zu wahren. So impliziert die Aufgabe der Wahrung des Gemeinschaftsrechts die Pflicht des EuGH, für eine praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu sorgen. Gerade weil das Gemeinschaftsrecht in vielen Bereichen nicht unmittelbar gilt, sondern in den Mitgliedstaaten erst umgesetzt werden muss, ist eine Ausrichtung der Rechtsprechung am „effet utile“-Prinzip notwendig. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, weshalb der Gerichtshof in der folgenden Passage mit dem Prinzip der praktischen Wirksamkeit begründet hat, warum im Fall der Nichtumsetzung einer Richtlinie die Mitgliedstaaten für entstandene Schäden zu haften haben: „Die Möglichkeit einer Entschädigung durch den Mitgliedstaat ist vor allem dann unerlässlich, wenn die volle Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wie im vorliegenden Fall davon abhängt, dass der Staat tätig wird, und der Einzelne deshalb im Falle einer Untätigkeit des Staates die ihm durch das Gemeinschaftsrecht zuerkannten Rechte vor den nationalen Gerichten nicht geltend machen kann“49.
Zur Begründung einer Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße hat der EuGH zudem auf Art. 5 EWG-Vertrag (Art. 10 EG) verwiesen: „Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Ersatz dieser Schäden findet auch in Artikel 5 EWG-Vertrag eine Stütze, nach dem die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht zu treffen haben. Zu diesen Verpflichtungen gehört auch diejenige, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beheben (zu der ähnlichen Bestimmung des Artikels 86 EGKSVertrag s. das Urteil vom 16. Dezember 1960 in der Rechtssache 6/60, Humblet, Slg. 1960, 1163)“50. 47 48 49 50
EuGH, Vgl. 4. EuGH, EuGH,
S. 15, Fn. 2, I-5414, Rn. 33. Teil, A., III., 1. S. 15, Fn. 2, I-5414, Rn. 34. S. 15, Fn. 2, I-5414, Rn. 36.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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Obwohl der EuGH den Grundsatz einer Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße schon vor „Francovich u. a.“ anerkannt hatte51, hielt er in einem abschließenden, alle bestehenden Zweifel aus dem Weg räumenden Satz fest, dass die Mitgliedstaaten für entstandene Schäden zu haften hätten, wenn sie Gemeinschaftsrecht verletzen: „Es ist nach alledem ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind“52.
Ohne Zweifel ist es wichtig gewesen, dass durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Francovich u. a.“ klargestellt wurde, dass Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße zu haften haben. Die besondere Bedeutung dieser Entscheidung beruht jedoch vielmehr darauf, dass erstmals konkrete Voraussetzungen aufgestellt wurden, unter denen eine Haftung der Mitgliedstaaten zu erfolgen hat. Bezüglich des Falls, dass ein Mitgliedstaat der sich aus Art. 249 Abs. 3 EG ergebenden Verpflichtung zur Umsetzung einer Richtlinie nicht nachkommt, wurden folgende Haftungsvoraussetzungen festgelegt: „Erstens muss das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an Einzelne beinhalten. Zweitens muss der Inhalt dieser Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden können. Drittens muss ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat auferlegte Verpflichtung und dem den Geschädigten entstandenen Schaden bestehen“53.
In diesem Zusammenhang stellte der EuGH allerdings fest: „Die Voraussetzungen, unter denen diese gemeinschaftsrechtlich gebotene Staatshaftung einen Entschädigungsanspruch eröffnet, hängen von der Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht ab, der dem verursachten Schaden zugrunde liegt“54.
Der Gerichtshof folgte nicht dem Vorschlag des Generalanwalts Mischo, der vorgesehen hatte, dass die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung unter den gleichen Bedingungen erfolgen solle wie die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft, damit die Mitgliedstaaten nicht in Fällen haften müssten, in denen eine Haftung der Gemeinschaft nicht gegeben wäre55. Abgesehen von der Festlegung der genannten Haftungsvoraussetzungen blieb die Ausgestaltung des Haftungsrechts aber Sache der Mitgliedstaaten. Ihre Auto51 52 53 54 55
Vgl. 3. Teil, A. EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5415, Rn. 37. EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5415, Rn. 40. EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5415, Rn. 38. GA Mischo, S. 15, Fn. 2, I-5395, Rn. 71.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
nomie reduzierte sich damit vor allem auf die Entscheidung über das „Wie“ einer Haftung. Der EuGH brachte dies folgendermaßen zum Ausdruck: „Hiervon abgesehen hat der Staat die Folgen des verursachten Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben. Mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung ist es nämlich Sache der nationalen Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und das Verfahren für die Klagen auszugestalten, die den vollen Schutz der dem einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen (Urteile vom 22. Januar 1976 in der Rechtssache 60/75, Russo, Slg. 1976, 45, vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache 33/76, Rewe, Slg. 1976, 1989, und vom 7. Juli 1981 in der Rechtssache 185/80, Rewe, Slg. 1981, 1805)“56.
Der Gerichtshof bezog sich an dieser Stelle direkt auf die Urteile in den Rechtssachen „Russo“57 und „Rewe“58, die schon kurz erläutert wurden59. An der Autonomie der Mitgliedstaaten, die Zuständigkeit der Gerichte zu bestimmen und das Verfahren für die Klagen auszugestalten, war in beiden Entscheidungen festgehalten worden. Im „Rewe“-Urteil, in dem es um die Erstattung gemeinschaftsrechtswidriger Abgaben ging, hatte der EuGH die Autonomie allerdings durch ein Diskriminierungsverbot und ein Effizienzgebot beschränkt. Diese Schranken hat der EuGH in „Francovich u. a.“ auf den Bereich der Haftung von Staaten für Gemeinschaftsrechtsverletzungen übertragen: „Auch dürfen die im Schadensersatzrecht der einzelnen Mitgliedstaaten festgelegten materiellen und formellen Voraussetzungen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht betreffen, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie es praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, die Entschädigung zu erlangen (zu dem ähnlichen Bereich der Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben s. insbesondere das Urteil vom 9. November 1983 in der Rechtssache 199/82, San Gorgio, Slg. 1983, 3595)“60.
Die „Francovich u. a.“-Entscheidung des EuGH hat im europäischen Schrifttum sehr viel Aufmerksamkeit gefunden61, da durch sie das Gemeinschaftsrecht entscheidend fortentwickelt worden ist. Ihr kommt eine ähnlich 56
EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5415 f., Rn. 42. EuGH, Fn. 19. 58 EuGH, Fn. 23. 59 Vgl. 3. Teil, A. 60 EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5416, Rn. 43. 61 Vgl. Fischer, EuZW 1992, 41; Meier, RIW 1992, 245; Schlemmer-Schulte/ Ukrow, EuR 1992, 82; dies., RIW 1992, 411; Karl, RIW 1992, 440; Triantafyllou, DÖV 1992, 564; Häde, BayVBl. 1992, 449; Pieper, NJW 1992, 2454; Nettesheim, DÖV 1992, 999; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733; Prieß, NVwZ 1993, 118; Geiger, DVBl. 1993, 465; Ewert, RIW 1993, 881; Gellermann, EuR 1994, 342; Magnus/ Wurmnest, S. 56. 57
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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hohe Bedeutung zu wie den Urteilen „van Gend & Loos“62 und „Costa/ E.N.E.L.“63, in denen der Gerichtshof die unmittelbare Anwendbarkeit und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts festgestellt hat. Sie hat dazu geführt, dass sich die Frage der Haftung eines Mitgliedstaates für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nicht mehr ausschließlich nach nationalem Recht beurteilt. Vielmehr findet die Haftung seither ihre Grundlage im Gemeinschaftsrecht. Von einem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrecht kann daher gesprochen werden. Die Durchsetzung des Ersatzanspruchs vollzieht sich jedoch im Rahmen des nationalen Haftungsrechts. Das Diskriminierungsverbot und das Effizienzgebot sind dabei zu berücksichtigen. Obwohl der EuGH in „Francovich u. a.“ die Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für die Nichtumsetzung einer Richtlinie anerkannt hatte, erhielten die Kläger vom italienischen Staat letztlich keinen Schadensersatz. Im Fall von Herrn Francovich scheiterte die Klage daran, dass hinsichtlich seines ehemaligen Arbeitgebers eine Ausnahmeregelung Anwendung fand, die der italienische Gesetzgeber im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 80/987/EWG im Jahr 1992 zulässigerweise erlassen hatte. Danach waren bestimmte Unternehmensformen vom Konkursverfahren ausgeschlossen64. Auch die Klage von Frau Palmisani, die auch zu den Klägern zählte, hatte keinen Erfolg, da ihre Ansprüche zum Zeitpunkt der Geltendmachung verjährt waren65. b) Das Urteil „Wagner Miret“ von 1993 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) Der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Wagner Miret“66 lag ein Sachverhalt zugrunde, der dem des „Francovich u. a.“-Urteils ähnelte. So ging es in dem Vorabentscheidungsverfahren ebenfalls um die Richtlinie 80/987/EWG und deren Umsetzung in einem Mitgliedstaat. Der spanische Staatsbürger Teodoro Wagner Miret hatte sich nach der Insolvenz seines Arbeitgebers auf die in der Richtlinie vorgesehenen Garantien berufen, um ausstehende Bezüge zu erhalten. Das die Richtlinie umsetzende Gesetz über die Zahlungsunfähigkeit von Arbeitnehmern bezog sich allerdings nicht auf leitende Angestellte wie Herrn Wagner Miret. Zwar bestand gemäß Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie die Möglichkeit, einzelne Berufsgruppen von ihrem 62
EuGH v. 5. Februar 1963, Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1. EuGH v. 15. Juli 1964, Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1251 ff. 64 EuGH v. 9. November 1995, Rs. C-479/93 (Francovich II), Slg. 1995, I-3843. 65 EuGH v. 10. Juli 1997, Rs. C-261/95 (Palmisani), Slg. 1997, I-4025. 66 EuGH v. 16. Dezember 1993, Rs. C-334/92 (Wagner Miret), Slg. 1993, I-6911 ff. Dazu: Bröhmer, EuZW 1994, 184; Abele, ZeuP 1995, 109; Kroll, S. 168 ff.; Cornils, S. 34 ff.; Geiger, S. 95 f. 63
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
Geltungsbereich auszuschließen, der spanische Staat hatte davon jedoch nur bezüglich Hausangestellter, die von einer natürlichen Person beschäftigt werden, Gebrauch gemacht. Der EuGH hat daher auch geurteilt, dass leitende Angestellte vom Geltungsbereich der Richtlinie erfasst werden. Die Umsetzung der Richtlinie ist mithin fehlerhaft gewesen. Die Herstellung der erforderlichen Richtlinienkonformität konnte nur noch im Wege einer entsprechenden Auslegung des nationalen Rechts geschehen. Hierzu nahm der EuGH wie folgt Stellung: „Wie der Gerichtshof im Urteil vom 13. November 1990 in der Rechtssache C-106/89 (Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Randnr. 8) entschieden hat, muss das nationale Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit dieser verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Abs. 3 EWG-Vertrag nachzukommen“67.
Schließlich ging der Gerichtshof auf das Verhältnis von richtlinienkonformer Auslegung und gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftung ein: „Dem Vorlagebeschluss scheint sich entnehmen zu lassen, dass die nationalen Vorschriften nicht in einem der Richtlinie über die Zahlungsunfähigkeit von Arbeitgebern konformen Sinne ausgelegt werden und daher nicht sicherstellen können, dass den leitenden Angestellten die in der Richtlinie vorgesehenen Garantien zugute kommen. Für diesen Fall ergibt sich aus dem Urteil Francovich u. a. (a. a. O.), dass der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet ist, leitenden Angestellten die Schäden zu ersetzen, die ihnen dadurch entstanden sind, dass die Richtlinie in Bezug auf sie nicht durchgeführt worden ist“68.
In der Anerkennung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für den Fall einer fehlerhaften Richtlinienumsetzung liegt die Bedeutung der „Wagner Miret“-Entscheidung69. Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung blieb nicht länger auf den Fall der Nichtumsetzung einer Richtlinie beschränkt. Das Urteil in der Rechtssache „Wagner Miret“ hat zudem verdeutlicht, dass eine gemeinschaftsrechtliche Haftung der Mitgliedstaaten grundsätzlich erst dann in Betracht kommt, wenn das innerstaatliche Recht nicht in gemeinschaftsrechtskonformer Weise ausgelegt werden kann70.
67 68 69 70
EuGH, Fn. 66, I-6932, Rn. 20. EuGH, Fn. 66, I-6932, Rn. 22. Vgl. Kroll, S. 171. Vgl. Geiger, S. 96; Cornils, S. 34.
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c) Das Urteil „Faccini Dori“ von 1994 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) In der Rechtssache „Faccini Dori“71 hatte sich der Gerichtshof vornehmlich mit der Frage zu befassen, ob Richtlinienbestimmungen eine horizontale Wirkung zwischen den Bürgern entfalten können. Die Klägerin Paola Faccini Dori hatte sich nämlich gegenüber einem privaten Unternehmen, der Beklagten Recreb Srl, auf das in der vom italienischen Staat zum damaligen Zeitpunkt noch nicht umgesetzten Richtlinie 85/577/EWG72 geregelte Widerrufsrecht berufen. Im Ergebnis verneinte der EuGH wie schon zuvor in seiner „Marshall I“-Entscheidung73 eine horizontale Wirkung, da eine Richtlinie für den Einzelnen keine Verpflichtungen begründen könne. Nach der Verneinung einer unmittelbaren Direktwirkung kam der Gerichtshof erneut auf den Grundsatz einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zu sprechen. In diesem Zusammenhang wies er auch auf die Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung hin: „Für den Fall, dass das von der Richtlinie vorgeschriebene Ziel nicht im Wege der Auslegung erreicht werden kann, ist außerdem darauf hinzuweisen, dass das Gemeinschaftsrecht gemäß dem Urteil vom 19. November 1991 in den verbundenen Rechtssachen C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357, Randnr. 39) die Mitgliedstaaten zum Ersatz der den Bürgern durch die Nichtumsetzung einer Richtlinie verursachten Schäden verpflichtet, sofern drei Voraussetzungen vorliegen. Zunächst muss Ziel der Richtlinie die Verleihung von Rechten an Bürger sein. Sodann muss der Inhalt dieser Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden können. Schließlich muss ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat auferlegte Verpflichtung und dem entstandenen Schaden bestehen“74.
Nachdem der EuGH festgestellt hatte, dass die Richtlinie 85/577 die Verleihung von Rechten zum Ziel habe und der Mindestinhalt dieser Rechte allein auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden könne, befand er: „Läge also ein Schaden vor und wäre dieser Schaden durch den Verstoß gegen die dem Mitgliedstaat auferlegte Verpflichtung verursacht worden, so hätte das vorlegende Gericht den Anspruch der geschädigten Verbraucher auf Schadensersatz im Rahmen des nationalen Haftungsrechts sicherzustellen“75. 71
EuGH v. 14. Juli 1994, Rs. 91/92 (Faccini Dori), Slg. 1994, I-3325. Dazu: Ukrow, NJW 1994, 2469; Herber, ZeuP 1996, 121; Kroll, S. 172 ff.; Geiger, S. 96 ff.; Cornils, S. 36 ff. 72 Richtlinie des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Fall von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. L 372, S. 31. 73 EuGH v. 26. Februar 1986, Rs. 152/84 (Marshall I), Slg. 1986, 723. 74 EuGH, Fn. 71, I-3357, Rn. 27. 75 EuGH, Fn. 71, I-3357, Rn. 29.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
Der Gerichtshof hat mit dem Urteil „Faccini Dori“ klargestellt, dass eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung möglich sei, wenn die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen an einer horizontalen Rechtsbeziehung scheitert. Insofern wurde eine Lücke im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem geschlossen76. Zudem hat der EuGH in „Faccini Dori“ – wie zuvor in „Wagner Miret“ – auf die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung verwiesen, bevor er die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung thematisierte. Damit hat er zum Ausdruck gebracht, dass die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung von der Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung grundsätzlich abhängig ist77. Im Übrigen ist anzumerken, dass der EuGH auch in „Faccini Dori“ noch davon ausging, dass bloße Kausalität ausreicht, um eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung bejahen zu können. d) Das Urteil „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ von 1996 (Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nationaler Rechtsvorschriften) Bis zur Entscheidung des EuGH in den verbundenen Rechtssachen „Brasserie du pêcheur u. Factortame“78 blieb das Institut der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung auf Fälle beschränkt, in denen der Gemeinschaftsrechtsverstoß darauf beruhte, dass eine Richtlinie fehlerhaft oder überhaupt nicht umgesetzt worden war. Im Urteil „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ entschied der Gerichtshof dann, dass die Mitgliedstaaten auch für Verstöße nationaler Gesetze gegen das Gemeinschaftsrecht zu haften hätten. In der Rechtssache „Brasserie du pêcheur“ verlangte die gleichnamige französische Brauerei von der Bundesrepublik Deutschland Ersatz des Schadens, der ihr infolge einer gesetzlich verankerten Einfuhrbeschränkung79 in der Zeit von 1981 bis 1987 entstanden war. Die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit dieser Einfuhrbeschränkung war zuvor in einem Vertragsverletzungsverfahren vom EuGH festgestellt worden80. Der Rechtssache „Factortame“ lag ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde. Die Kläger – Factortame Ltd. und 76
Vgl. Kroll, S. 177. Geiger, S. 102; Cornils, S. 37. 78 EuGH v. 5. März 1996, Rs. C-46/93 u. C-48/93 (Brasserie du pêcheur u. Factortame), Slg. 1996, I-1029. Dazu: Brödermann, MDR 1996, 347; Streinz, EuZW 1996, 201; Ehlers, JZ 1996, 776; Beul, EuZW 1996, 748; Finke, DZWir 1996, 361; Böhm, JZ 1997, 53; Magnus/Wurmnest, S. 187 ff.; Link, S. 7 ff.; Kroll, S. 179 ff.; Geiger, S. 152 ff.; Eilmansberger, S. 30 ff. 79 Die Einfuhrbeschränkung ergab sich aus den §§ 9 und 10 des deutschen Biersteuergesetzes. 80 EuGH v. 12. März 1987, Rs. 187/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1227. Der Gerichtshof stellte einen Verstoß der Einfuhrbeschränkung gegen Art. 28 EG und damit gegen die Warenverkehrsfreiheit fest. 77
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andere britische Unternehmen – begehrten ebenfalls wegen gemeinschaftsrechtswidriger Regelungen eines Gesetzes81 Schadensersatz. Der EuGH hatte die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der betreffenden Regelungen sowohl in einem Vorabentscheidungsverfahren82 als auch in einem Vertragsverletzungsverfahren83 im Grundsatz bejaht. Zu Beginn der „Brasserie du pêcheur u. Factortame“-Entscheidung ging der EuGH auf die Frage ein, ob der Grundsatz einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung auch dann gilt, wenn Regelungen des Gemeinschaftsrechts, gegen die verstoßen wird, unmittelbar anwendbar sind, da sich der Kläger in einem solchen Fall vor nationalen Gerichten direkt auf sie berufen kann. Gerade dies war in den Rechtssachen „Francovich u. a.“, „Wagner Miret“ und „Faccini Dori“ jedoch nicht möglich. Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung trat als Instrument in Erscheinung, das dem Geschädigten einen sekundären Rechtsschutz bietet, wenn primärer Rechtsschutz aufgrund einer unmittelbaren Anwendbarkeit der jeweiligen Richtlinienbestimmung oder einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts nicht erlangt werden kann. Der EuGH entschied indes, dass die Möglichkeit, sich vor nationalen Gerichten auf unmittelbare Vertragsvorschriften zu berufen, nur eine Mindestgarantie darstelle und nicht in allen Fällen geeignet sei, „dem Einzelnen die Inanspruchnahme der Rechte zu sichern, die ihm das Gemeinschaftsrecht verleiht, und insbesondere zu verhindern, dass er aufgrund eines einem Mitgliedstaat zuzurechnenden Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht einen Schaden erleidet. Wie sich aus dem Urteil Francovich u. a. [. . .; a. a. O.] ergibt, wäre die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts aber in Frage gestellt, wenn der Einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall, dass seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt worden sind, eine Entschädigung zu erlangen“84. „Dies gilt auch im Fall der Verletzung eines unmittelbar durch eine Gemeinschaftsnorm verliehenen Rechts, auf das sich der Einzelne vor den nationalen Gerichten berufen kann. In diesem Fall stellt der Entschädigungsanspruch die notwendige Ergänzung der unmittelbaren Wirkung dar, die den Gemeinschaftsvorschriften zukommt, auf deren Verletzung der entstandene Schaden beruht“85. 81 Die betreffenden Regelungen standen in Teil II des Merchant Shipping Act 1988 (Seehandelsgesetz von 1988). 82 EuGH v. 25. Juli 1991, Rs. C-221/89 (Factortame), Slg. 1991, I-3905. Der Gerichtshof stellte eine Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von Regelungen fest, die gewisse Erfordernisse in Bezug auf Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsort und Domizil der Eigentümer und Manager von Fischereifahrzeugen vorsahen. 83 EuGH v. 4. Oktober 1991, Rs. C-246/89 (Kommission/Vereinigtes Königreich), Slg. 1991, I-4585. Der EuGH bejahte einen Verstoß der Regelungen gegen Art. 43 und 294 EG sowie den mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 aufgehobenen Art. 7 EGV. 84 EuGH, Fn. 78, I-1142, Rn. 20. 85 EuGH, Fn. 78, I-1143, Rn. 22.
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Die unmittelbare Anwendbarkeit der in den Rechtssachen betroffenen Bestimmungen der Art. 28 und 43 EG standen einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung somit nicht entgegen. Seitens der deutschen Regierung wurde jedoch bezweifelt, ob der EuGH überhaupt die Kompetenz zur Schaffung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts besitzt86. Der Gerichtshof befand in diesem Zusammenhang: „Soweit der Vertrag keine Vorschriften enthält, die die Folgen von Verstößen der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht ausdrücklich und genau regeln, hat der Gerichtshof in Erfüllung der ihm durch Artikel 164 des Vertrages [Art. 220 EG] übertragenen Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern, über eine solche Frage nach den allgemein anerkannten Auslegungsmethoden zu entscheiden, insbesondere indem er auf die Grundprinzipien der Gemeinschaftsrechtsordnung und gegebenenfalls auf allgemeine Grundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, zurückgreift“87.
Der EuGH hat die Kompetenz zur Schaffung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts also aus seiner in Art. 220 EG statuierten Pflicht zur Wahrung des Gemeinschaftsrechts bei der Auslegung und Anwendung des EG-Vertrages abgeleitet. Überdies wies er auf das Staatshaftungsrecht der Mitgliedstaaten hin, das selbst entscheidend durch Richterrecht entwickelt worden sei88. Der Gerichtshof stellte zudem klar, dass der Grundsatz einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung „für jeden Fall des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen das Gemeinschaftsrecht unabhängig davon gilt, welches mitgliedstaatliche Organ durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß begangen hat“89.
Er begründete dies mit dem Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts und dem Völkerrecht, in welchem der Staat als Einheit betrachtet werde, ohne dass danach unterschieden werde, ob der schadensverursachende Verstoß der Legislative, der Judikative oder der Exekutive zuzurechnen ist90. Für die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung spielt es mithin keine Rolle, ob legislatives, judikatives oder exekutives Unrecht vorliegt. Überdies ist unerheblich, ob das staatliche Verhalten in einem Handeln oder Unterlassen liegt. Schließlich bezog sich der EuGH auf die Voraussetzungen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung. Die Voraussetzungen, die er in „Francovich u. a.“ aufgestellt hatte, konnten allerdings nicht wieder herangezogen 86 87 88 89 90
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.
78, 78, 78, 78, 78,
I-1144, I-1144, I-1144, I-1145, I-1145,
Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.
24. 27. 30. 32. 33 f.
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werden, da sie auf den Fall eines Verstoßes gegen Art. 249 Abs. 3 EG zugeschnitten sind. Vor diesem Hintergrund bekräftigte der Gerichtshof, dass die Voraussetzungen von der Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht abhängen würden91. Unter Berücksichtigung von Art. 5 EWG (Art. 10 EG), dem „effet utile“ des Gemeinschaftsrechts sowie dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes92 bestimmte der EuGH sodann in Anlehnung an die Rechtsprechung zur außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft gemäß Art. 288 Abs. 2 EG, dass folgende drei Haftungsvoraussetzungen erfüllt sein müssten, „nämlich dass die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, dass der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und schließlich dass zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht“93.
Mit der Festlegung dieser Haftungsvoraussetzungen entsprach der Gerichtshof der schon in den Schlussanträgen zu der Rechtssache „Francovich u. a.“ vom Generalanwalt Mischo vorgebrachten Forderung nach einer Kohärenz der Voraussetzungen von gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftung und außervertraglicher Haftung der Gemeinschaft94. So befand der EuGH auch, dass „sich die Voraussetzungen für die Begründung der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, nicht ohne besonderen Grund von den Voraussetzungen unterscheiden [dürfen], die für die Haftung der Gemeinschaft unter vergleichbaren Umständen gelten. Der Schutz der Rechte, die der Einzelne aus dem Gemeinschaftsrecht herleitet, kann nämlich nicht unterschiedlich sein, je nachdem, ob die Stelle, die den Schaden verursacht hat, nationalen oder Gemeinschaftscharakter hat“95.
Hinter beiden Haftungsinstituten stehen die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätze, an denen sich die Ausgestaltung der Haftungstatbestände zu orientieren hat96. Sie bilden den gemeinsamen Nenner, der die Institute miteinander verknüpft und eine parallele Ausgestaltung der Tatbestände erforderlich macht. Da die Systematik der außervertraglichen Gemeinschaftshaftung anlässlich des Verstoßes eines Rechtsetzungsaktes entwickelt worden ist97, hat es auch Sinn gemacht, dass sich der EuGH gerade im Fall „Brasserie du pêcheur u. Factor91 92 93 94 95 96 97
EuGH, Fn. 78, I-1146, Rn. EuGH, Fn. 78, I-1146, Rn. EuGH, Fn. 78, I-1149, Rn. GA Mischo, Fn. 55. EuGH, Fn. 78, I-1147, Rn. Vgl. Art. 288 Abs. 2 EG. EuGH, Fn. 78, I-1147, Rn.
38. 39. 51. 42. 43 ff.
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tame“ daran orientierte. So wird in gebührender Weise das weite Ermessen berücksichtigt, das der Gesetzgeber beim Erlass von Rechtsakten zumeist hat. Eine Haftung der Gemeinschaft für Gemeinschaftsrechtsverstöße von Rechtsakten kommt nur in Betracht, wenn das betreffende Organ die Grenzen seiner Befugnisse offenkundig und erheblich überschritten hat und damit ein hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß anzunehmen ist98. Diese Rechtsprechung hat der EuGH in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ auf den Fall übertragen, dass ein nationaler Rechtsakt gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt99. Handelt der nationale Gesetzgeber auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts, kann sich sein Ermessen jedoch reduzieren. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, ist dies der Fall, „wenn der Mitgliedstaat, wie es unter den im Urteil Francovich u. a. genannten Umständen der Fall war, gemäß Artikel 189 des Vertrages [Art. 249 EG] verpflichtet ist, innerhalb einer bestimmten Frist alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um das von einer Richtlinie vorgeschriebene Ergebnis zu erreichen. In diesem Fall ist es für die Begründung der Haftung des Mitgliedstaats wegen Nichtumsetzung der Richtlinie irrelevant, dass die zu ergreifenden Maßnahmen dem nationalen Gesetzgeber obliegen“100.
Bezüglich der Rechtssachen „Brasserie du pêcheur“ und „Factortame“ hat der Gerichtshof allerdings ein weites Ermessen der nationalen Gesetzgeber anerkannt101. Es stellte sich folglich die Frage, ob die nationalen Gesetzgeber die Grenzen ihrer Befugnisse offenkundig und erheblich überschritten hatten. Eine verbindliche Antwort konnte der EuGH darauf jedoch nicht geben, da die Mitgliedstaaten für die Feststellung des Sachverhalts der Ausgangsverfahren und die Qualifizierung der betreffenden Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht zuständig sind102. Er nahm es sich jedoch nicht, auf bestimmte Umstände hinzuweisen. So nannte der Gerichtshof folgende, vom zuständigen mitgliedstaatlichen Gericht gegebenenfalls zu berücksichtigende Gesichtspunkte: „Das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen oder Gemeinschaftsbehörden belässt, die Frage, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen oder der Schaden vorsätzlich oder nicht vorsätzlich zugefügt wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und der Umstand, dass die Verhaltensweisen eines Gemeinschaftsorgans möglicherweise dazu beigetragen haben, dass nationale Maßnahmen und Prakti98 Vgl. EuGH v. 19. Mai 1992, Rs. C-104/89 u. C-37/90 (Mulder u. a.), Slg. 1992, I-3061 (3131, Rn. 12). 99 EuGH, Fn. 78, I-1150, Rn. 55. 100 EuGH, Fn. 78, I-1148, Rn. 46. 101 Vgl. EuGH, Fn. 78, I-1148, Rn. 48 f. 102 Vgl. EuGH, Fn. 78, I-1151, Rn. 58.
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ken in gemeinschaftswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden“103.
Darüber hinaus befand der EuGH, dass ein offenkundiger Gemeinschaftsrechtsverstoß gegeben sei, wenn der Verstoß „trotz des Erlasses eines Urteils, in dem der zur Last gelegte Verstoß festgestellt wird, oder eines Urteils im Vorabentscheidungsverfahren oder aber einer gefestigten einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, aus denen sich die Pflichtwidrigkeit des fraglichen Verhaltens ergibt, fortbestanden hat“104.
Hinsichtlich der Rechtssache „Brasserie du pêcheur“ bemerkte der Gerichtshof, dass die Aufrechterhaltung der Bestimmungen des BierStG, nach denen das Inverkehrbringen von in anderen Mitgliedstaaten nach anderen Verfahren rechtmäßig hergestelltem Bier unter der Bezeichnung „Bier“ verboten war, im Lichte der Rechtsprechung des EuGH, insbesondere der Urteile in den Rechtssachen „Cassis de Dijon“105 und „Kommission/Italien“106, offenkundig gegen Art. 28 EG verstoße107. In der Aufrechterhaltung der Bestimmungen des BierStG, nach denen die Einfuhr von Bieren mit Zusatzstoffen verboten war, einen Gemeinschaftsrechtsverstoß zu erblicken, sei dagegen vor dem Hintergrund der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH bis zum Urteil im Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland108 weniger offenkundig gewesen109. Hinsichtlich der Rechtssache „Factortame“ befand der Gerichtshof, dass die Regelungen des Merchant Shipping Act 1988, welche die Registrierung von Fischereifahrzeugen von einem Staatsangehörigkeitserfordernis abhängig gemacht hatten, offenkundig gegen das Gemeinschaftsrecht verstießen110. Die Frage, ob der Gemeinschaftsrechtsverstoß durch die Bestimmungen des Merchant Shipping Act 1988, die Voraussetzungen in Bezug auf Aufenthaltsort und Domizil der Eigentümer und Manager der Fischereifahrzeuge vorsahen, ebenfalls offenkundig ist, ließ der EuGH hingegen offen. Er wies das vorlegende Gericht lediglich auf verschiedene Aspekte hin, die für die Beurteilung der Frage relevant waren111. Nachdem der EuGH geurteilt hatte, dass eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung einen unmittelbaren 103 104 105 106
EuGH, Fn. 78, I-1150, Rn. 56. EuGH, Fn. 78, I-1150, Rn. 57. EuGH v. 20. Februar 1979, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649. EuGH v. 9. Dezember 1981, Rs. 193/80 (Kommission/Italien), Slg. 1981,
3019. 107 108 109 110 111
EuGH, Fn. 78, I-1151, Rn. 59. EuGH, Fn. 80. Vgl. EuGH, Fn. 78, I-1151, Rn. 59. Vgl. EuGH, Fn. 78, I-1151, Rn. 61. Vgl. EuGH, Fn. 78, I-1152, Rn. 63 f.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
Kausalzusammenhang zwischen Verstoß und Schaden voraussetze112, stellte er klar, dass die Haftung des Staates auf der Grundlage des nationalen Rechts auch unter weniger einschränkenden Voraussetzungen ausgelöst werden könne113. Zugunsten des Bürgers darf also von dem durch den Gerichtshof vorgegebenen Rechtsschutzniveau abgewichen werden. Wie schon im Urteil „Francovich u. a.“114 betonte der Gerichtshof zudem, dass der sich ergebende Entschädigungsanspruch gegen den Staat seine Grundlage unmittelbar im Gemeinschaftsrecht finde und nach nationalem Haftungsrecht unter Berücksichtigung des Diskriminierungsverbotes und des Effizienzgebots vollzogen werden müsse115. Bezüglich von Haftungsbeschränkungen des nationalen Rechts, die zwar auch bei innerstaatlichen Ansprüchen Anwendung finden, mit dem Prinzip der praktischen Wirksamkeit jedoch nicht zu vereinbaren sind, urteilte der EuGH, dass diese im Fall einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung außer Acht bleiben müssten116. Konkret bezog sich der Gerichtshof dabei auf das Kriterium der Drittbezogenheit im deutschen Amtshaftungsrecht117 und die Voraussetzung des englischen Staatshaftungsrechts, dass ein Amtsmissbrauch in Ausübung einer hoheitlichen Befugnis (misfeasance in public office) grundsätzlich nachgewiesen werden muss118. Des Weiteren antwortete der EuGH dem vorlegenden Gericht, „dass es im Rahmen des von ihm angewandten nationalen Rechts den Ersatz des Schadens nicht davon abhängig machen kann, dass den staatlichen Amtsträger, dem der Verstoß zuzurechnen ist, ein Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) trifft, das über den hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht hinausgeht“119.
Liegt ein hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß vor, kann die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung also nicht mangels eines Verschuldens des Amtsträgers ausscheiden. Hinsichtlich des materiellen Umfangs der Entschädigung befand der Gerichtshof, „dass der Ersatz der Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, dem erlittenen Schaden angemessen sein muss, so dass ein effektiver Schutz der Rechte des Einzelnen gewährleistet ist“120. 112 113 114 115 116 117 118 119 120
EuGH, EuGH, Vgl. 3. EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
Fn. 78, I-1152, Rn. Fn. 78, I-1153, Rn. Teil, B., I., 1., a). Fn. 78, I-1153, Rn. Fn. 78, I-1153, Rn. Fn. 78, I-1154, Rn. Fn. 78, I-1154, Rn. Fn. 78, I-1156, Rn. Fn. 78, I-1156, Rn.
65. 66. 67. 70 ff. 71 f; vgl. auch 4. Teil, C., II., 4., a), aa). 73. 80. 82.
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Was den Umfang der Entschädigung angeht, so hat der EuGH erklärt, dass die Kriterien vorbehaltlich einschlägiger gemeinschaftsrechtlicher Regelungen in den nationalen Rechtsordnungen festzulegen seien121. Danach ging er auf die Frage ein, inwiefern nationale Gerichte prüfen können, ob sich der Geschädigte in angemessener Form um die Verhinderung des Schadenseintritts oder um die Begrenzung des Schadensumfangs bemüht hat und ob er insbesondere rechtzeitig von allen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch gemacht hat. Der Gerichtshof erklärte: „Nach einem allgemeinen, den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsatz muss sich nämlich der Geschädigte in angemessener Form um die Begrenzung des Schadensumfangs bemühen, wenn er nicht Gefahr laufen will, den Schaden selbst tragen zu müssen (vgl. Urteil vom 19. Mai 1992 in den Rechtssachen C-104/89 und C-37/90, Mulder u. a./Rat und Kommission, Slg. 1992, I-3061, Randnr. 33)“122.
Sodann urteilte der EuGH, dass der zu zahlende Schadensersatz grundsätzlich auch den entgangenen Gewinn abdecken müsse. „Dazu ist zu bemerken, dass es nicht zulässig sein kann, den entgangenen Gewinn bei einem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vollständig vom ersatzfähigen Schaden auszuschließen. Insbesondere bei Rechtsstreitigkeiten wirtschaftlicher oder kommerzieller Natur ist nämlich ein solcher vollständiger Ausschluss des entgangenen Gewinns geeignet, den Ersatz des Schadens tatsächlich unmöglich zu machen“123.
Der Gerichtshof erklärte zudem, dass die Gewährung eines „exemplarischen Schadensersatzes“ (exemplary damages) ebenfalls nicht ausscheide124. Danach nahm der Gerichtshof zu der Frage Stellung, ob auch die Schäden ersetzt werden müssen, die vor Erlass eines Urteils des Gerichtshofes entstanden sind, in dem das Vorliegen eines Verstoßes festgestellt wird. Er entschied, dass ein solches Urteil kein unbedingt notwendiges Kriterium für die Annahme einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung sei125, da dies darauf hinauslaufen würde, dass der in der Gemeinschafsrechtsordnung anerkannte Entschädigungsanspruch in Frage gestellt wäre126. „Würde außerdem der Schadensersatz davon abhängig gemacht, dass der Gerichtshof zuvor einen einem Mitgliedstaat zuzurechnenden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht feststellt, so stünde dies im Widerspruch zum Grundsatz der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, da dadurch jeder Entschädigungsanspruch 121 122 123 124 125 126
EuGH, Fn. 78, I-1157, Rn. 83. EuGH, Fn. 78, I-1157, Rn. 84 f. EuGH, Fn. 78, I-1157, Rn. 87. EuGH, Fn. 78, I-1158, Rn. 89. Vgl. EuGH, Fn. 78, I-1159, Rn. 93. EuGH, Fn. 78, I-1159, Rn. 94.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
ausgeschlossen wäre, solange der mutmaßliche Verstoß nicht Gegenstand einer Klage der Kommission nach Artikel 169 des Vertrages [Art. 226 EG] und einer Verurteilung durch den Gerichtshof geworden ist. Die dem Einzelnen zustehenden Rechte aus den Gemeinschaftsvorschriften, die in der nationalen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung haben, können aber weder davon abhängen, dass die Kommission es für zweckmäßig hält, gemäß Artikel 169 des Vertrages [Art. 226 EG] gegen einen Mitgliedstaat vorzugehen, noch davon, dass der Gerichtshof gegebenenfalls einen Verstoß in einem Urteil feststellt (vgl. Urteil vom 14. Dezember 1982 in den Rechtssachen 314/81, 315/81, 316/81 und 83/82, Waterkeyn u. a., Slg. 1982, 4337, Randnr. 16)“127.
Der Antrag der deutschen Regierung auf eine zeitliche Beschränkung des Urteils, der wegen der finanziellen Folgen für die Bundesrepublik Deutschland gestellt worden war, wurde vom EuGH mit der Begründung zurückgewiesen, die im Schadensersatzrecht der Mitgliedstaaten festgelegten materiellen und formellen Voraussetzungen könnten den Erfordernissen des Grundsatzes der Rechtssicherheit Rechnung tragen128. Hierdurch ist unmissverständlich klargestellt worden, dass im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts auch materielle und formelle Voraussetzungen des nationalen Rechts Anwendung finden können. Mit dem Urteil „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ hat der EuGH anerkannt, dass auch bei Verstößen nationaler Rechtsakte gegen das primäre Gemeinschaftsrecht eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung möglich ist. Allerdings hätte der EuGH zumindest in der Rechtssache „Brasserie du pêcheur“ auch auf einen exekutiven Gemeinschaftsrechtsverstoß abstellen können129. Schließlich hatten es die deutschen Behörden unterlassen, die Bestimmung des Art. 28 EG unmittelbar anzuwenden bzw. das nationale Recht gemeinschaftsrechtskonform auszulegen. Wäre dies geschehen, hätte der Schaden vermutlich abgewendet werden können. Bei einer solchen Gemengelage kann jedoch sowohl am Verhalten der Legislative als auch an dem der Exekutive angeknüpft werden130. Die Voraussetzung des unmittelbaren Kausalzusammenhangs, von der die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ erstmals abhängig gemacht worden ist131, liegt in beiden Fällen vor132. Das Kriterium der Unmittelbarkeit war zuvor nur bei der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft 127
EuGH, Fn. 78, I-1159, Rn. 95. EuGH, Fn. 78, I-1160, Rn. 98. 129 Vgl. Geiger, S. 154 ff. 130 Vgl. 4. Teil, B., II., b), cc). 131 Vgl. insoweit Geiger, S. 164 ff. 132 Anders verhält es sich, wenn das Gemeinschaftsrecht von der Exekutive fehlerhaft unmittelbar angewandt wird, vgl. EuGH v. 24. September 1998, Rs. C-319/96 (Brinkmann I), Slg. 1999, I-5255. 128
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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herangezogen worden133. Auch insofern hat der EuGH also die Kohärenz von außervertraglicher Gemeinschaftshaftung und gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftung forciert. Durch die parallele Ausgestaltung der Haftungsinstitute wurde den Mitgliedstaaten vermittelt, dass von ihnen nicht mehr verlangt wird als von der Europäischen Gemeinschaft134. e) Das Urteil „British Telecommunications“ von 1996 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) Bevor der EuGH in „British Telecommunications“135 die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung thematisieren konnte, musste er über die Frage befinden, ob Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 90/531/EWG136 im Vereinigten Königreich ordnungsgemäß umgesetzt worden war. Der EuGH verneinte dies mit der Begründung, dass ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung der Richtlinie nicht bestimmen dürfe, welche Telekommunikationsdienste vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind137. Wie bei dem Urteil in der Rechtssache „Wagner Miret“138 lag also eine fehlerhafte Richtlinienumsetzung vor. Im Unterschied zu jenem Urteil wurden jedoch nicht die „Francovich u. a.“-Kriterien herangezogen, sondern die Voraussetzungen, die zuvor in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ aufgestellt worden waren. Der Gerichtshof erklärte dies folgendermaßen: „Diese Voraussetzungen gelten auch für den dem Gerichtshof von dem nationalen Gericht vorgelegten Fall, dass ein Mitgliedstaat eine Gemeinschaftsrichtlinie nicht ordnungsgemäß in sein innerstaatliches Recht umsetzt. Enge Voraussetzungen für die Haftung des Mitgliedstaats sind in diesem Fall aus den Gründen gerechtfertigt, die der Gerichtshof bereits zur Rechtfertigung einer engen Konzeption der außervertraglichen Haftung der Organe oder der Mitgliedstaaten wegen der Wahrnehmung ihrer Rechtsetzungstätigkeit in Bereichen, die unter das Gemeinschaftsrecht fallen und in denen sie über ein weites Ermessen verfügen, entwickelt hat; hierzu gehört die Erwägung, dass die Wahrnehmung dieser Rechtsetzungstätigkeit nicht jedes Mal durch die Möglichkeit von Schadensersatzklagen behindert werden darf, wenn das allgemeine Interesse den Erlass von Maßnahmen, die die Interessen des Einzelnen beeinträchtigen können, durch diese Organe oder Mitgliedstaaten gebie133 Vgl. EuGH v. 4. Oktober 1979, Rs. 64 und 113/76, 167, und 239/78, 27, 28 und 45/79 (Dumortier Frères), Slg. 1979, 3091 (3117, Rn. 21). 134 Kroll, S. 192. 135 EuGH v. 26. März 1996, Rs. C-392/93 (British Telecommunications), Slg. 1996, I-1631. Dazu: Kroll, S. 193 ff; Geiger, S. 166 ff.; Eilmansberger, S. 33. 136 Richtlinie des Rates vom 17. September 1990 betreffend die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor, ABl. L 297, S. 1. 137 EuGH, Fn. 135, I-1665, Rn. 29. 138 Vgl. EuGH, Fn. 66.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
tet (vgl. insbesondere Urteil vom 25. Mai 1978 in den Rechtssachen 83/76, 94/76, 4/77, 15/77 und 40/77, HNL u. a./Rat und Kommission, Slg. 1978, 1209, Randnrn. 5 und 6, und Urteil Brasserie du Pêcheur und Factortame, Randnr. 45)“139.
Die Ausführungen des EuGH belegen die Übertragung der „Brasserie du pêcheur u. Factortame“-Rechtsprechung auf den Fall einer fehlerhaften Richtlinienumsetzung. Für die fehlerhafte Transformation einer Richtlinie in nationales Recht müssen die Mitgliedstaaten somit ebenfalls nur dann haften, wenn der Gemeinschaftsrechtsverstoß hinreichend qualifiziert ist. Das Kriterium des hinreichend qualifizierten Verstoßes ermöglicht eine flexible Einordnung des mitgliedstaatlichen Verhaltens. Seine Prüfung obliegt, wie der EuGH erneut zum Ausdruck brachte, den nationalen Gerichten140. Da der Gerichtshof in der Rechtssache „British Telecommunications“ über alle Informationen verfügte, konnte er selbst beurteilten, ob ein hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß gegeben ist. In diesem Zusammenhang erklärte er: „Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass Artikel 8 Absatz 1 der Richtlinie ungenau ist und dass neben der vom Gerichtshof in diesem Urteil vorgenommenen Auslegung auch die Auslegung vertretbar war, zu der das Vereinigte Königreich in gutem Glauben aufgrund von Erwägungen gekommen ist, die nicht völlig von der Hand zu weisen sind (siehe oben, Randnrn. 20 bis 22). Diese Auslegung, die auch von anderen Mitgliedstaaten befürwortet worden ist, stand nicht in einem offenkundigen Widerspruch zu Wortlaut und Zielsetzung der Richtlinie“141. Zudem konnte das Vereinigte Königreich der Rechtsprechung des Gerichtshofes nichts zur Auslegung der fraglichen Vorschrift entnehmen, zu der sich auch die Kommission bei Erlass der Regulations 1992 nicht geäußert hat“142.
Da das Verhalten des Vereinigten Königreichs somit entschuldbar gewesen ist, ergab sich eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nicht. Der EuGH hat dadurch, dass er selbst die Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes geprüft hat, den Mitgliedstaaten aufgezeigt, wie die im Urteil „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ festgelegten Prüfungsvoraussetzungen143 im Einzelfall anzuwenden sind. Zugleich ist den Mitgliedstaaten verdeutlicht worden, dass sie sich unter Umständen durch die Erhebung eines „bona fide“-Einwands exkulpieren können144.
139 140 141 142 143 144
EuGH, Fn. 135, I-1668, Rn. 40. EuGH, Fn. 135, I-1668, Rn. 41. EuGH, Fn. 135, I-1669, Rn. 43. EuGH, Fn. 135, I-1669, Rn. 44. Vgl. EuGH, Fn. 78, I-1146, Rn. 37 ff. Vgl. insoweit Kroll, S. 198.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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f) Das Urteil „Dillenkofer u. a.“ von 1996 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) In den vor dem Urteil „Dillenkofer u. a.“145 ergangenen Entscheidungen hatte der EuGH zu einzelnen Fragen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Stellung bezogen. Ein System war bis dato jedoch nur schemenhaft zu erkennen. Insbesondere die Frage, welche Voraussetzungen im Einzelfall anzuwenden sind, wurde in den Urteilen nur unzureichend beantwortet, da der Gerichtshof stets bemerkte, dass die Voraussetzungen von der Art des Gemeinschaftsrechtsverstoßes abhängen würden. Ungeklärt war unter anderem auch, ob im Fall der Nichtumsetzung einer Richtlinie die Haftungsvoraussetzungen des „Francovich u. a.“-Urteils oder die der „Brasserie du pêcheur u. Factortame“-Entscheidung anzuwenden sind. Für Letzteres sprach zwar das zuvor ergangene Urteil in der Rechtssache „British Telecommunications“, dieses bezog sich jedoch auf den Fall der fehlerhaften Umsetzung einer Richtlinie. Angesichts der verschiedenen Unklarheiten war der Gerichtshof gefordert, für mehr Rechtsklarheit zu sorgen. Das Urteil in der Rechtssache „Dillenkofer u. a.“ trug dazu in erheblichem Umfang bei. In dem zugrunde liegenden Sachverhalt ging es um eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland, die Erich Dillenkofer u. a. wegen der Schäden, die ihnen infolge der nicht fristgerechten Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie146 entstanden waren, erhoben hatten. Die Richtlinie sieht vor, dass für den Fall der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses des Reiseveranstalters die Erstattung gezahlter Beträge und die Rückreise des Verbrauchers sichergestellt sind147. In Deutschland war sie jedoch nicht fristgemäß bis zum 31. Dezember 1992, sondern erst mit dem Gesetz vom 24. Juni 1994148 umgesetzt worden. Zu diesem Zeitpunkt waren die in der Klage geltend gemachten Schäden bereits entstanden. Die Konkurse zweier Reiseveranstalter im Jahre 1993 hatten nämlich dazu geführt, dass die Kläger die von ihnen gebuchten Reisen nicht antreten konnten bzw. auf eigene Kosten von ihrem Ferienort zurückkehren mussten. Die im Hinblick auf die Reise gezahlten Beträge bzw. die Kosten für die Rückreise waren nicht erstattet worden. In seinem Urteil äußerte sich der EuGH zunächst zu den Voraussetzungen der 145 EuGH v. 8. Oktober 1996, Rs. C-178/94, C-179/94 und C-188/94 – C-190/94 (Dillenkofer u. a.), Slg. 1996, I-4845. Dazu: Tonner, EWiR 1996, 221; Papier/Dengler, EWiR 1996, 1027; Streinz/Leible, ZIP 1996, 1931; Huff, NJW 1996, 3190; Reich, EuZW 1996, 709; Eidenmüller, JZ 1997, 201; Kroll, S. 203 ff.; Eilmansberger, S. 34; Strickrodt, S. 1 ff. 146 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, ABl. L 158, S. 59. 147 Vgl. Art. 7 der Richtlinie 90/314/EWG. 148 Gesetz zur Durchführung der Richtlinie des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, BGBl. I S. 1322, in Kraft getreten am 1. Juli 1994.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung. Nachdem er an die in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ festgelegten Voraussetzungen erinnert hatte149, bezog er sich auf die „Francovich u. a.“-Entscheidung, in der für den Fall der Nichtumsetzung einer Richtlinie andere Voraussetzungen aufgestellt worden waren150. Der Gerichtshof befand in diesem Zusammenhang: „Die Voraussetzungen, die in diesen Urteilen entwickelt wurden, sind im Wesentlichen die gleichen, da die Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes zwar im Urteil Francovich u. a. nicht erwähnt worden ist, aber unter den gegebenen Umständen offenkundig vorlag“151.
Der EuGH hat hiermit zum Ausdruck gebracht, dass sich die in den Urteilen „Francovich u. a.“ und „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ aufgestellten Voraussetzungen im Ergebnis nicht unterscheiden, da eine hinreichende Qualifizierung des Gemeinschaftsrechtsverstoßes in jedem Fall gegeben sein muss. Vor diesem Hintergrund kombinierte er für den Fall, dass eine Richtlinie nicht fristgemäß umgesetzt wurde, die in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ aufgestellten Voraussetzungen mit denen der „Francovich u. a.“-Entscheidung. So urteilte er, dass, „wenn keine Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie innerhalb der dafür festgesetzten Frist getroffen worden sind, um das durch diese Richtlinie vorgeschriebene Ziel zu erreichen, dieser Umstand als solcher einen qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht darstellt und daher einen Entschädigungsanspruch für die Geschädigten begründet, soweit das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an den einzelnen umfasst, deren Inhalt bestimmbar ist, und ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat auferlegte Verpflichtung und dem entstandenen Schaden besteht“152.
Wie sich aus diesen Ausführungen ergibt, setzt die gemeinschaftsrechtliche Haftung der Mitgliedstaaten für die Nichtumsetzung einer Richtlinie voraus, dass das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an den Einzelnen mit umfasst. Anders als zuvor in „Faccini Dori“ verlangte der EuGH nicht, dass die Richtlinie als Ziel die Verleihung von Rechten an Einzelne haben müsse. Damit wurde klargestellt, dass es ausreicht, wenn eines von mehreren Zielen der Richtlinie die Verleihung von Rechten an den Einzelnen ist. Im weiteren Verlauf des Urteils konkretisierte der Gerichtshof seine Position, indem er befand, dass die Tatsache, dass die Pauschalreiserichtlinie neben dem Ziel des Verbraucherschutzes noch anderen Zielen dient, nicht ausschließe, dass ihre Bestimmungen auch auf den Schutz des Verbrauchers abzielen153. Unklar ist, warum der EuGH 149 150 151 152 153
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.
145, 145, 145, 145, 145,
I-4878, I-4879, I-4879, I-4880, I-4882,
Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.
21. 22. 23. 29. 39.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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trotz seiner „Brasserie du pêcheur u. Factortame“-Rechtsprechung nicht explizit eine Unmittelbarkeit des Kausalzusammenhangs gefordert hat, sondern wie in „Francovich u. a.“ den bloßen Kausalzusammenhang ausreichen ließ. In Anbetracht der nachfolgenden Rechtsprechung154 ist dies allerdings auf eine Nachlässigkeit des Gerichtshofs zurückzuführen. Der oben zitierten Urteilspassage kann weiterhin entnommen werden, dass die Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes gegeben ist, sobald ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht innerhalb der dafür vorgesehenen Frist umgesetzt hat. Begründet hat der EuGH dies folgendermaßen: „Trifft also ein Mitgliedstaat – wie in der Rechtssache Francovich u. a. – unter Verstoß gegen Artikel 189 Absatz 3 [Art. 249 Abs. 3 EG] des Vertrages innerhalb der in einer Richtlinie festgesetzten Frist keinerlei Maßnahmen, obwohl dies zur Erreichung des durch diese Richtlinie vorgeschriebenen Ziels erforderlich wäre, so überschreitet er offenkundig und erheblich die Grenzen, die der Ausübung seiner Befugnisse gesetzt sind“155.
Der Gerichtshof ging im Urteil „Dillenkofer u.a“ auch auf die Bedeutung seiner Feststellung ein, dass die Voraussetzungen, unter denen ein Entschädigungsanspruch besteht, von der Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht abhängen würden. Er erklärte diesbezüglich: „Mit seiner Feststellung, dass die Voraussetzungen, unter denen ein Entschädigungsanspruch besteht, von der Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht abhängen, der dem verursachten Schaden zugrunde liegt, geht der Gerichtshof in der Sache davon aus, dass diese Voraussetzungen je nach Fallgestaltung zu beurteilen sind“156.
Diese Deutung verwundert ein wenig, da der Wortlaut der in Rede stehenden Feststellung eine andere Interpretation nahe legt. So spricht der Wortlaut dafür, dass sich die Voraussetzungen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung je nach Gemeinschaftsrechtsverstoß unterscheiden. Diese Interpretation konnte jedoch nicht mit dem Bestreben des EuGH vereinbart werden, das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht zu vereinheitlichen. Vor diesem Hintergrund ist nachzuvollziehen, dass der Gerichtshof der Feststellung eine andere Deutung beigelegt hat. Bevor der EuGH in „Dillenkofer u. a.“ geprüft hat, ob das durch die Pauschalreiserichtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von inhaltlich bestimmbaren Rechten umfasst, wiederholte er, dass die Entschädigung nicht davon abhängig gemacht werden dürfe, dass der Gerichtshof zuvor einen dem Staat zuzurechnenden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht feststellt oder den staatlichen Amtsträger, dem der Verstoß zuzurechnen ist, ein Ver154 155 156
Vgl. insbesondere EuGH, Fn. 132. EuGH, Fn. 145, I-4880, Rn. 26. EuGH, Fn. 145, I-4879, Rn. 24.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
schulden trifft157. Die Prüfung des Individualbezugs der Richtlinie ergab schließlich, dass das durch Art. 7 der Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung eines Rechts an den Pauschalreisenden umfasst, mit dem die Erstattung der von diesem gezahlten Beträge und seine Rückreise im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses des Veranstalters sichergestellt werden, und dass der Inhalt dieses Rechts hinreichend bestimmt ist158. Im Anschluss daran äußerte sich der EuGH zu den für die Gewährleistung einer korrekten Umsetzung der Richtlinie erforderlichen Maßnahmen. Er bezog sich in diesem Zusammenhang auf seine ständige Rechtsprechung159, wonach die Vorschriften einer Richtlinie in der Weise umgesetzt werden müssten, dass sie unzweifelhaft verbindlich und so konkret, bestimmt und klar sind, dass sie dem Erfordernis der Rechtssicherheit genügen160. Des Weiteren ging der Gerichtshof auf das Vorbringen der deutschen Regierung ein, dass die für die Umsetzung der Richtlinie vorgesehene Frist zu kurz gewesen sei. Er verwies darauf, dass sich ein Mitgliedstaat nach gefestigter Rechtsprechung161 nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen könne, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen162. Im Übrigen bestehe für den Fall, „dass sich die Frist für die Umsetzung einer Richtlinie als zu kurz erweist, der einzige mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbarende Weg für den betreffenden Mitgliedstaat darin, die geeigneten Schritte auf Gemeinschaftsebene zu unternehmen, um das zuständige Gemeinschaftsorgan zu der notwendigen Verlängerung der Frist zu veranlassen (vgl. Urteil vom 26. Februar 1976 in der Rechtssache 52/75, Kommission/Italien, Slg. 1976, 277, Randnr. 12)“163.
Nach diesen Ausführungen beantwortete der Gerichtshof spezielle Fragen zur Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie. Hierauf wird mangels Relevanz für das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht nicht weiter eingegangen. Einzig die Bekräftigung des Gerichtshofs, dass das nationale Gericht bei der Bestimmung des ersatzfähigen Schadens stets prüfen könne, ob sich der Geschädigte in angemessener Form um die Verhinderung des Schadenseintritts oder um die Begrenzung des Schadensumfangs bemüht hat164, soll noch erwähnt werden165. 157
EuGH, Fn. 145, I-4880, Rn. 28. EuGH, Fn. 145, I-4884, Rn. 46. 159 Vgl. EuGH v. 30. Mai 1991, Rs. C-59/89 (Kommission/Deutschland), Slg. 1991, I-2607, Rn. 24. 160 EuGH, Fn. 145, I-4884, Rn. 48. 161 Vgl. EuGH v. 21. Juni 1988, Rs. 283/86 (Kommission/Belgien), Slg. 1988, 3271, Rn. 24. 162 EuGH, Fn. 145, I-4885 f., Rn. 53. 163 EuGH, Fn. 145, I-4886, Rn. 54. 158
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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g) Das Urteil „Denkavit u. a.“ von 1996 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) Das Urteil des EuGH in den verbundenen Rechtssachen „Denkavit u. a.“166 erging anlässlich von Rechtsstreitigkeiten der niederländischen Gesellschaften Denkavit International BV, VITIC Amsterdam BV und Voormeer BV mit dem deutschen Bundesamt für Finanzen, in denen es um die Gewährung von Steuervergünstigungen bezüglich der Gewinnausschüttung von deutschen Tochtergesellschaften ging. Das Bundesamt hatte diese nicht gewährt, da nach § 44 d des deutschen Einkommenssteuergesetzes (EStG) Muttergesellschaften vor der Gewinnausschüttung über einen Mindestzeitraum von 12 Monaten Anteile von wenigstens 25 % an den Tochtergesellschaften gehalten haben mussten. Die klagenden Gesellschaften beriefen sich in diesem Zusammenhang auf Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG167, die in Deutschland durch § 44 d EStG umgesetzt worden war. Der EuGH stellte fest, dass die Umsetzung nicht ordnungsgemäß erfolgt sei, weil die Mitgliedstaaten die Gewährung der in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehenen Steuervergünstigung nicht davon abhängig machen dürften, dass die Muttergesellschaft im Zeitpunkt der Gewinnausschüttung mindestens so lange, wie es der Dauer des von ihm nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie festgesetzten Mindestzeitraums entspricht, einen Anteil von wenigstens 25 % am Kapital der Tochtergesellschaft besessen hat168. Anschließend befand der Gerichtshof, dass die Gesellschaften sich unmittelbar auf die Art. 5 Abs. 1 und 3 der Richtlinie berufen könnten169. Im Unterschied zu den Rechtssachen „Francovich u. a.“, „Faccini Dori“ oder „El Corte Inglés“ war also eine unmittelbare Anwendbarkeit der einschlägigen Richtlinienbestimmung möglich. Trotzdem bezog sich der EuGH auf die Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung. Dadurch wurde bekräftigt, dass die unmittelbare Anwendbarkeit einer Richtlinienbestimmung kein Ausschlusskriterium für eine mitgliedstaatliche Haftung ist. Zunächst zeigte der Gerichtshof auf, unter welchen Voraussetzungen sich eine solche Haftung ergeben kann170, um sodann aufgrund der ihm zur Verfügung ste164
EuGH, Fn. 145, I-4890, Rn. 72. Vgl. auch EuGH, Fn. 145, I-1157, Rn. 84. 166 EuGH v. 17. Oktober 1996, Rs. C-283/94, C-291/94 u. C-292/94 (Denkavit u. a.), Slg. 1996, I-5063. Dazu: Saß, Der Betrieb 1996, 2316; Haarmann/Schüppen, Der Betrieb 1996, 2569; Höfner, RiW 1997, 53; Lausterer, EWiR 1997, 163; Kroll, S. 210 ff. 167 Richtlinie des Rates v. 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl. L 225, S. 6. 168 EuGH, Fn. 166, I-5098, Rn. 36. 169 EuGH, Fn. 166, I-5098, Rn. 40. 170 EuGH, Fn. 166, I-5101, Rn. 48. 165
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
henden Informationen selbst zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen gegeben sind. Mangels eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes schied eine gemeinschaftsrechtliche Haftung der Bundesrepublik Deutschland allerdings aus. Insoweit stellte der EuGH fest: „Im vorliegenden Fall ist in Bezug auf die Voraussetzung, dass die Mindestbeteiligungszeit im Zeitpunkt der Gewährung der Steuervergünstigung bereits zurückgelegt sein muss, festzustellen, dass nahezu alle Mitgliedstaaten, die von der Ausnahmebefugnis Gebrauch gemacht haben, die gleiche Auslegung wie die Bundesrepublik Deutschland zugrunde gelegt haben. Diese Mitgliedstaaten glaubten anscheinend aufgrund der Beratungen im Rat zu einer solchen Auslegung berechtigt zu sein. Insoweit ist insbesondere zu beachten, dass sich Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie ausdrücklich auf die Bekämpfung von Missbräuchen bezieht“171. „Da die vorliegende Rechtssache außerdem die erste ist, die die Richtlinie betrifft, ergab sich für die Bundesrepublik Deutschland aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes kein Hinweis darauf, wie die fragliche Vorschrift auszulegen ist“172.
Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, hat der EuGH wie in „British Telecommunications“ die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung an dem „guten Glauben“ des betreffenden Mitgliedstaats scheitern lassen. Damit wurde unterstrichen, dass die Erhebung des „bona fide“-Einwands zu einem Haftungsausschluss führen kann173. h) Das Urteil „Sutton“ von 1997 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) Ausgangspunkt für das Verfahren in der Rechtssache „Sutton“174 war der Antrag der Klägerin Eunice Sutton auf Invalidenpflegebeihilfe (Invalid Care Allowance – ICA). Dieser wurde von der zuständigen Behörde mit der Begründung abgelehnt, die Klägerin befinde sich mit 63 Jahren im Rentenalter. Letzteres traf auch zu, denn das Rentenalter für Frauen begann im Vereinigten Königreich seinerzeit mit 60 Jahren. Da das Rentenalter für Männer hingegen erst mit 65 Jahren erreicht war, machte Frau Sutton einen Verstoß gegen die Richtlinie 79/7/EWG175 geltend. Sie trug vor, dass ihr aufgrund ihres Alters Leistungen der sozialen Sicherheit vorenthalten wür171
EuGH, Fn. 166, I-5102, Rn. 51. EuGH, Fn. 166, I-5102, Rn. 52. 173 Vgl. Kroll, S. 214. 174 EuGH v. 22. April 1997, Rs. 66/95 (Sutton), Slg. 1997, I-2163. Dazu: van Casteren, CMLR 1998, 481. 175 Richtlinie des Rates v. 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, ABl. 1979, L 6, S. 24. 172
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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den, auf die ein Mann gleichen Alters Anspruch hätte. Nach Einlegung verschiedener Rechtsbehelfe entschied der Social Security Commissioner unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Thomas“176, dass die Klägerin einen Anspruch auf ICA hat. Rückständige ICA wurden der Klägerin in Höhe von 5.588,60 UKL gezahlt. Diese begehrte jedoch darüber hinaus auch Zinsen auf den ihr zuerkannten, rückständigen Betrag. Vom Secretary of State for Social Security wurde die Zahlung von Zinsen allerdings abgelehnt. Infolgedessen hatte sich der Gerichtshof mit der Frage auseinanderzusetzen, ob das Gemeinschaftsrecht eine Zahlung der Zinsen verlangt. Er befand, aus der Richtlinie 79/7/EWG folge nicht, dass ein Einzelner Zinszahlungen auf Beträge erhalten kann, die als rückständige Leistungen der sozialen Sicherheit wie die ICA gezahlt worden sind, wenn die verspätete Zahlung der Leistungen auf eine Diskriminierung zurückgeht, die nach derselben Richtlinie verboten ist177. Fraglich blieb hingegen, ob sich der Anspruch auf Zahlung von Zinsen aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts ergeben kann. Die Klägerin berief sich in diesem Zusammenhang darauf, dass das Vereinigte Königreich die Richtlinie 79/7/EWG nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe178. Der Gerichtshof beantwortete letztlich nicht, ob ein Anspruch auf Zahlung von Zinsen besteht, sondern zeigte bloß auf, unter welchen Voraussetzungen sich ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch ergeben kann179. Die Beurteilung der Voraussetzungen überließ er dem vorlegenden Gericht. So befand er: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, anhand des Vorstehenden zu beurteilen, ob in dem Rechtsstreit, mit dem es befasst ist, und in dem nationalen Verfahren die Klägerin einen Anspruch auf Ersatz eines Schadens hat, den sie dadurch erlitten hat, dass ein Mitgliedstaat gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hat, und gegebenenfalls den Betrag dieser Entschädigung festzusetzen“180.
Der EuGH hat somit nicht ausgeschlossen, dass der Einzelne im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts Zinsen als Schaden geltend machen kann. Hierin liegt auch die Bedeutung des Urteils „Sutton“.
176 177 178 179 180
EuGH v. 30. März 1993, Rs. C-328/91 (Thomas), Slg. 1993, I-1247. EuGH, Fn. 174, I-2191, Rn. 35. EuGH, Fn. 174, I-2190, Rn. 29. EuGH, Fn. 174, I-2190, Rn. 31 ff. EuGH, Fn. 174, I-2191, Rn. 34.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
i) Das Urteil „Bonifaci u. a.“ von 1997 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) Das Urteil des EuGH in der Rechtssache „Bonifaci u. a.“181 beruhte wie schon die „Francovich u. a.“-Entscheidung auf dem Umstand, dass die Umsetzung der Richtlinie 80/987/EWG in Italien nicht in der dafür vorgesehenen Frist erfolgt war. Nachdem der EuGH im Rahmen des „Francovich u. a.“-Urteils festgestellt hatte, dass die Mitgliedstaaten für Schäden zu haften hätten, die infolge der Nichtumsetzung einer Richtlinie entstanden sind, wurde die Richtlinie 80/987/EWG mit Erlass des Decreto legislativo Nr. 80 vom 27. Januar 1992 auch in Italien umgesetzt. Die Schäden, die auf die nicht rechtzeitig erfolgte Umsetzung der Richtlinie 80/987/EWG zurückzuführen waren, konnten gemäß Art. 2 Abs. 7 des Dekrets innerhalb eines Jahres nach dessen Inkrafttreten gegenüber dem Instituto nazionale della previdenza sociale (INPS) geltend gemacht werden, das in diesem Zusammenhang passiv legitimiert war. Danila Bonifaci, Wanda Berto u. a. verklagten daraufhin das INPS auf Schadensersatz. Dem zuständigen Gericht, der Pretura circondariale Bassano del Grappa, kamen diesbezüglich Zweifel, ob ein Mitgliedstaat im Rahmen des Ersatzes des Schadens, der Arbeitnehmern durch die verspätete Umsetzung der Richtlinie entstanden ist, die verspätet erlassenen Durchführungsmaßnahmen einschließlich der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Einschränkungen rückwirkend anwenden kann. Infolgedessen wurde der EuGH mit diesem Problem konfrontiert. Der Gerichtshof entschied hierzu Folgendes: „Die rückwirkende vollständige Anwendung der Maßnahmen zur Durchführung der Richtlinie auf Arbeitnehmer, die die verspätete Umsetzung geschädigt hat, ermöglicht, sofern die Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt worden ist, grundsätzlich die Behebung des Schadens, der durch eine solche Vertragsverletzung entstanden ist. Diese Anwendung müsste nämlich den Arbeitnehmern die Rechte garantieren, die ihnen zugestanden hätten, wenn die Richtlinie fristgerecht umgesetzt worden wäre (siehe auch Urteil vom heutigen Tag, Maso u. a., a. a. O., Randnrn. 36 bis 39)“182.
Der durch die Nichtumsetzung einer Richtlinie entstandene Schaden kann also behoben werden, indem die Richtlinie im Rahmen ihrer Transformation in das nationale Recht rückwirkend zur Anwendung gebracht wird. Dadurch wird der von der Nichtumsetzung betroffene Bürger rechtlich so gestellt, als wäre die Richtlinie rechtzeitig umgesetzt worden. Der Staat ist also berechtigt, im Wege der rückwirkenden Anwendung der Richtlinie die 181 EuGH v. 10. Juli 1997, Rs. C-94/95 u. C-95/95 (Bonifaci u. a.), Slg. 1997, I-3969. Dazu: Wimmer, ZIP 1997, 1635; Krause, ZIP 1998, 56; Oetker, EWiR 1998, 229. 182 EuGH, Fn. 181, I-4022, Rn. 51.
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entstandenen Schäden zu kompensieren183. Dies bedeutet allerdings, dass richtlinienkonforme Regelungen im Umsetzungsgesetz, deren Anwendung im Ergebnis zu einer Beschränkung des Anspruchs auf Schadensersatz führt, ebenfalls anzuwenden sind184. Der EuGH hat jedoch klargestellt, dass das nationale Gericht darauf zu achten habe, dass der den Betroffenen entstandene Schaden angemessen wiedergutgemacht wird185. Nur dann sei ein effektiver Schutz der Rechte des Bürgers gewährleistet186. In diesem Zusammenhang erklärte der Gerichtshof: „Eine rückwirkende, ordnungsgemäße und vollständige Anwendung der Maßnahmen zur Durchführung der Richtlinie genügt hierfür, sofern die Betroffenen nicht dartun, dass sie zusätzliche Einbußen dadurch erlitten haben, dass sie nicht rechtzeitig in den Genuss der von der Richtlinie garantierten finanziellen Vergünstigungen kommen konnten; für diese wären sie ebenfalls zu entschädigen“187.
Kann der Einzelne zusätzliche Schäden geltend machen, muss der jeweilige Staat also trotz der rückwirkenden Anwendung der Richtlinie ggf. Schadensersatz leisten. j) Das Urteil „Palmisani“ von 1997 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) Der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Palmisani“188 lag ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde wie dem Urteil „Bonifaci u. a.“. Die Klägerin, Rosalba Palmisani, forderte vom INPS ebenfalls Schadensersatz wegen der Nichtumsetzung der Richtlinie 80/987/EWG. Sie hatte die Forderung jedoch nicht innerhalb der Jahresfrist geltend gemacht, die Art. 2 Abs. 7 des Decreto legislativo Nr. 80/92 vorsieht. Der Gerichtshof musste sich vor diesem Hintergrund mit der Frage auseinandersetzen, ob das Gemeinschaftsrecht einen Mitgliedstaat hindert, für die Einreichung einer Klage auf Ersatz des durch die verspätete Umsetzung der Richtlinie entstandenen Schadens eine Ausschlussfrist von einem Jahr nach der Umsetzung in seine nationale Rechtsordnung festzusetzen. Der Gerichtshof befand insoweit: „Eine Ausschlussfrist, wie sie im Dekret vorgesehen ist, ist mit dem Grundsatz der Effektivität des Gemeinschaftsrechts vereinbar, weil die Festsetzung angemessener Rechtsbehelfsfristen in Form von Ausschlussfristen ein Anwendungsfall des 183 184 185 186 187 188
Vgl. 4. Teil, C., II., 4., a), ff), (1). Vgl. EuGH, Fn. 181, I-4023, Rn. 52. EuGH, Fn. 181, I-4023, Rn. 53. Vgl. EuGH, Fn. 181, I-4022, Rn. 48. EuGH, Fn. 181, I-4023, Rn. 53. EuGH, Fn. 65. Dazu: Odman, CMLR 1998, 1395.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit ist (vgl. insbesondere Urteil Rewe, a. a. O., Randnr. 5)“189. „Zudem gestaltet eine Frist von einem Jahr, die mit dem Inkrafttreten der Maßnahme zur Umsetzung der Richtlinie in die nationale Rechtsordnung beginnt und die nicht nur die Begünstigten in die Lage versetzt, ihre Rechte in vollem Umfang zu erkennen, sondern auch die Voraussetzungen für den Ersatz des durch die verspätete Umsetzung entstandenen Schadens genau angibt, die Einreichung der Schadensersatzklage nicht besonders schwierig und macht sie schon gar nicht in der Praxis unmöglich“190.
Die Bedeutung des Urteils „Palmisani“ liegt in der Anerkennung, dass eine Rechtsbehelfsfrist von einem Jahr durchaus mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist. Allerdings ist davon auszugehen, dass eine solch kurze Frist nur zulässig ist, wenn der jeweilige Rechtsbehelf nicht an besondere Voraussetzungen geknüpft ist, die dem Einzelnen die Erlangung von Schadensersatz erschweren (Effizienzgebot). Außerdem darf die Frist nicht kürzer sein als bei vergleichbaren, rein innerstaatlichen Sachverhalten (Diskriminierungsverbot)191. k) Das Urteil „Konle“ von 1999 (Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nationaler Rechtsvorschriften) Die „Konle“-Entscheidung192 des EuGH erging anlässlich einer Klage von Herrn Konle gegen die Republik Österreich. Herr Konle hatte diese mit der Begründung erhoben, die Republik Österreich hafte für die Gemeinschaftsrechtsverstöße aufgrund des Tiroler Grundverkehrsgesetzes von 1993 (TGVG 1993)193 und des Tiroler Grundverkehrsgesetzes von 1996 (TGVG 1996)194. Der EuGH hatte infolgedessen die beiden Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht zu überprüfen. Die Überprüfung ergab, dass das TGVG 1993 nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstieß195. Dem TGVG 1996 wurde demgegenüber eine Gemeinschaftsrechtswidrigkeit attestiert, da Art. 73 b EGV (Art. 56 EG) und Art. 70 der Beitrittsakte entgegenstünden196. Eine gemeinschaftsrechtliche Haftung kam somit in Betracht. Ob deren Voraussetzungen gegeben waren, blieb jedoch offen. Der 189
EuGH, Fn. 65, I-4046, Rn. 28. EuGH, Fn. 65, I-4046, Rn. 29. 191 EuGH, Fn. 65, I-4046, Rn. 32. 192 EuGH v. 1. Juni 1999, Rs. C-302/97 (Konle), Slg. 1999, I-3099. Dazu: Weber, NVwZ 2001, 287. 193 Tiroler LGBl. 1993/82. 194 Tiroler LGBl. 1996/61. 195 EuGH, Fn. 192, I-3133, Rn. 31. 196 EuGH, Fn. 192, I-3138, Rn. 56. 190
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EuGH bekräftigte in diesem Zusammenhang, dass die Anwendung der die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung betreffenden Kriterien grundsätzlich den nationalen Gerichten obliege197. Schließlich bezog der Gerichtshof zu der Frage des vorlegenden Gerichts Stellung, ob ein bundesstaatlich aufgebauter Mitgliedstaat seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nur erfüllt, wenn der Gesamtstaat den Ersatz der dem Einzelnen durch gemeinschaftsrechtswidrige innerstaatliche Maßnahmen entstandenen Schäden sicherstellt. Er befand: „Jeder Mitgliedstaat muss sicherstellen, dass dem Einzelnen der Schaden ersetzt wird, der ihm durch einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht entstanden ist, gleichgültig, welche staatliche Stelle diesen Verstoß begangen hat und welche Stelle nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats diesen Schadensersatz grundsätzlich zu leisten hat. Ein Mitgliedstaat kann sich daher seiner Haftung nicht dadurch entziehen, dass er auf die Aufteilung der Zuständigkeit und der Haftung auf Körperschaften verweist, die nach seiner Rechtsordnung bestehen“198. „Unter diesem Vorbehalt verpflichtet das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten nicht dazu, die Aufteilung der Zuständigkeit und der Haftung auf die öffentlichen Körperschaften in ihrem Gebiet zu ändern. Den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts ist genügt, wenn die innerstaatlichen Verfahrensregelungen einen wirksamen Schutz der Rechte, die dem Einzelnen aufgrund Gemeinschaftsrechts zustehen, ermöglichen und die Geltendmachung dieser Rechte nicht gegenüber derjenigen solcher Rechte erschwert ist, die dem Einzelnen nach innerstaatlichem Recht zustehen“199.
Demnach genügt es, wenn ein Land eines bundesstaatlich aufgebauten Mitgliedstaats im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Schadensersatz leistet. Neben dem Gesamtstaat sind somit auch die Länder passiv legitimiert. Eine Änderung der Aufteilung von Zuständigkeiten und Haftung ist nicht erforderlich. Allerdings ist auch zur Kenntnis zu nehmen, dass sich der Gesamtstaat der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung nicht unter Hinweis auf die innerstaatliche Aufteilung der Zuständigkeit und der Haftung entziehen kann. l) Das Urteil „Rechberger u. a.“ von 1999 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) Das Urteil „Rechberger u. a.“200 betraf wie die „Dillenkofer u. a.“-Entscheidung die Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie201. In Österreich war 197
EuGH, Fn. 192, I-3139, Rn. 58. EuGH, Fn. 192, I-3140, Rn. 62. 199 EuGH, Fn. 192, I-3140, Rn. 63. 200 EuGH v. 15. Juni 1999, Rs. C-140/97 (Rechberger u. a.), Slg. 1999, I-3499. Dazu: Magnus/Wurmnest, S. 224 ff.; Ott, EuZW 2000, 293. 198
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
sie zwar rechtzeitig zum 1. Januar 1995202 erfolgt, nach § 6 der ReisebüroSicherungsverordnung (RSV)203, die der Richtlinienumsetzung diente, wurden jedoch nur Pauschalreisen von der Verordnung erfasst, die frühestens am 1. Mai 1995 beginnen sollten. Der EuGH attestierte dieser Regelung eine Gemeinschaftsrechtswidrigkeit, da die durch Art. 7 der Richtlinie eingeführten Sicherheiten alle Pauschalreiseverträge erfassen müssten, die nach dem 1. Januar 1995 für nach diesem Zeitpunkt durchzuführende Reisen geschlossen worden waren204. Ein solcher Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht sei zudem auch hinreichend qualifiziert, weil den Mitgliedstaaten kein Ermessensspielraum hinsichtlich des Beginns der Anwendung des Art. 7 der Richtlinie in ihren Rechtsordnungen zustehe, so dass die Beschränkung des in Art. 7 der Richtlinie vorgeschriebenen Schutzes auf Reisen, die frühestens am 1. Mai 1995 angetreten wurden, offensichtlich mit den Verpflichtungen aus der Richtlinie unvereinbar sei205. Neben der Regelung des § 6 RSV war auch die des § 3 Abs. 2 RSV problematisch. Danach musste die Versicherungssumme des vom Reiseveranstalter gemäß § 3 Abs. 1 RSV abzuschließenden Versicherungsvertrags mindestens 5 % des Umsatzes aus der Veranstaltertätigkeit im entsprechenden Quartal des vorangegangenen Kalenderjahres betragen. Im Fall einer Insolvenz oder Zahlungsunfähigkeit des Reiseveranstalters sollten mit dieser Summe die den Verbrauchern entstandenen Schäden ersetzt werden. Vorliegend hatte sich aufgrund dieser Regelung jedoch eine unzureichende Deckungssumme ergeben. So belief sich die Deckungsquote bloß auf 25,38 % des für die gebuchte Reise gezahlten Betrags. Der EuGH entschied daher, dass diese Regelung von ihrer Struktur nicht fähig sei, einem in dem betreffenden Wirtschaftssektor eintretenden Ereignis wie einem im Vergleich zum Vorjahresumsatz erheblichen Anstieg der Buchungen Rechnung zu tragen206. Sie verstieß also wie die des § 6 RSV gegen das Gemeinschaftsrecht. Die Republik Österreich hatte die Pauschalreiserichtlinie also nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Eine gemeinschaftsrechtliche Haftung Österreichs für die fehlerhafte Umsetzung der Richtlinie kam jedoch nur bezüglich eines Teils der erhobenen Klagen in Betracht. In drei 201 Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, ABl. L 158, S. 59. 202 Abweichend von Art. 9 der Richtlinie, nach der die Umsetzung in den Mitgliedstaaten bis zum 31. Dezember 1992 erfolgen sollte, hatte die Republik Österreich die Richtlinie nach der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21 u. ABl. 1995, L 1, S. 1) bis zum 1. Januar 1995 umzusetzen. 203 BGBl. 1994/881 v. 15. November 1994. 204 EuGH, Fn. 200, I-3539, Rn. 45. 205 EuGH, Fn. 200, I-3540, Rn. 51. 206 EuGH, Fn. 200, I-3543, Rn. 62.
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von sechs Fällen waren die Pauschalreisen schon vor dem 1. Januar 1995, also vor dem EU-Beitritt Österreichs, gebucht worden. Der Gerichtshof lehnte es ab, den Schutz, den die Pauschalreiserichtlinie gewährt, auf diese Fälle auszudehnen207. In Frage kam allerdings eine Haftung Österreichs nach dem EWR-Abkommen. Unter Verweis auf das Urteil „Andersson“208 erklärte der EuGH jedoch, nicht für die Auslegung des EWR-Abkommens zuständig zu sein209. Schließlich äußerte sich der Gerichtshof zu der Frage des vorlegenden Gerichts nach einem unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Staates, der die Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, und dem entstandenen Schaden, wenn nachgewiesen wird, dass der Reiseveranstalter fahrlässig gehandelt hat oder außergewöhnliche bzw. unvorhersehbare Ereignisse eingetreten sind. Die Republik Österreich hatte insoweit geltend gemacht, ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehe nicht, da Zeitpunkt und Umfang der Umsetzungsmaßnahmen nur infolge einer ganz außergewöhnlichen und unvorhersehbaren Verkettung von Umständen zum Schadensbeitritt beigetragen hätten210. Der EuGH sah dies jedoch anders. Er bejahte einen unmittelbaren Kausalzusammenhang mit der Begründung, dass Art. 7 der Richtlinie die Erfolgspflicht aufstelle, den Pauschalreisenden für den Fall der Zahlungsunfähigkeit oder der Insolvenz des Reiseveranstalters ein Recht auf Erstattung gezahlter Beträge und auf Rückreise zu verleihen. Diese Garantie sei speziell dazu bestimmt, den Verbraucher – unabhängig von den Ursachen – zu schützen211. In diesem Zusammenhang stellte der EuGH fest: „Aufgrund dessen kann die Haftung des Mitgliedstaats wegen Verstoßes gegen Artikel 7 der Richtlinie nicht durch fahrlässiges Verhalten des Reiseveranstalters oder Eintritt außergewöhnlicher oder unvorhergesehener Ereignisse ausgeschlossen werden“212. „Solche Umstände sind nämlich nicht geeignet, einen unmittelbaren Kausalzusammenhang auszuschließen, soweit sie nicht auch dann der Erstattung der gezahlten Beträge und der Rückreise des Verbrauchers entgegengestanden hätten, wenn die Ausgestaltung der Garantieregelung mit Artikel 7 der Richtlinie vereinbar gewesen wäre“213.
Der EuGH hat an dieser Stelle die Haftungsvoraussetzung des unmittelbaren Kausalzusammenhangs präzisiert. Zuvor hatte er dieser Voraussetzung 207
EuGH, Fn. 200, I-3539, Rn. EuGH v. 15. Juni 1999, Rs. Rn. 28 ff.). 209 EuGH, Fn. 200, I-3537, Rn. 210 EuGH, Fn. 200, I-3537, Rn. 211 EuGH, Fn. 200, I-3546, Rn. 212 EuGH, Fn. 200, I-3546, Rn. 213 EuGH, Fn. 200, I-3546, Rn. 208
46. C-321/97 (Andersson), Slg. 1999, I-3551 (I-3591, 38. 69. 74. 75. 76.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
kaum Aufmerksamkeit geschenkt214. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass außergewöhnliche Umstände und das Dazwischentreten Dritter die Haftung des Mitgliedstaats grundsätzlich nicht ausschließen. m) Das Urteil „Stockholm Lindöpark“ von 2001 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Stockholm Lindöpark“215 betraf einen Rechtsstreit zwischen dem schwedischen Staat und dem Unternehmen Stockholm Lindöpark AB. Letzteres forderte Schadensersatz, da es ihm wegen der fehlerhaften Umsetzung der Richtlinie 77/388/EWG216 nicht möglich gewesen sei, in der Zeit vom 1. Januar 1995 bis zum 31. Dezember 1996 einen Vorsteuerabzug vorzunehmen. Nach dem schwedischen Mehrwertsteuergesetz in seiner bis zum 1. Januar 1997 geltenden Fassung war die Zurverfügungstellung von Räumen und anderen Anlagen sowie die Überlassung von Geräten oder anderen Einrichtungen für die Ausübung von Sport und die Körperertüchtigung einschließlich der von Einrichtungen mit Gewinnstreben erbrachten Dienstleistungen von der Mehrwertsteuer befreit. Ein Vorsteuerabzug konnte daher nicht erfolgen. Der EuGH befand, dass eine solche Befreiung von der Mehrwertsteuer grundsätzlich nicht mit der Richtlinie 77/388/EWG vereinbart werden könne217. Im vorliegenden Fall stellte sich allerdings die Frage, ob nicht die Ausnahmevorschrift des Art. 13 Teil B lit. b der Richtlinie Anwendung findet. Der EuGH überließ die Beantwortung der Frage allerdings dem vorlegenden Gericht. Er wies es aber auf einige zu berücksichtigende Aspekte hin218. Diese Hinweise legten die Feststellung nahe, dass Art. 13 Teil B lit. b der Richtlinie nicht einschlägig ist. Nachdem der Gerichtshof im weiteren Verlauf der Entscheidung die Frage bejahte, ob sich ein Einzelner gegenüber einem Mitgliedstaat auf Bestimmungen der Richtlinie 77/388/EWG berufen kann219, äußerte er sich zu der Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung. Zunächst stellte er jedoch fest: „Folglich kann Lindöpark die Forderungen, die sie zu haben glaubt, gegen den schwedischen Staat für die Vergangenheit geltend machen und sich dafür unmit214
Vgl. Magnus/Wurmnest, S. 225. EuGH v. 18. Januar 2001, Rs. 150/99 (Stockholm Lindöpark), Slg. 2001, I-493. Dazu: Lohse, BB 2001, 1028. 216 Sechste Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. L 145, S. 1. 217 EuGH, Fn. 215, I-532, Rn. 23. 218 EuGH, Fn. 215, I-532, Rn. 24 ff. 219 EuGH, Fn. 215, I-534, Rn. 29 ff. 215
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telbar auf die ihr günstigen Vorschriften der Sechsten Richtlinie stützen. Eine auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Haftung der Mitgliedstaaten wegen Verletzung des Gemeinschaftsrechts gestützte Schadensersatzklage scheint daher auf den ersten Blick nicht erforderlich“220.
Der EuGH hat an dieser Stelle klargestellt, dass es einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung grundsätzlich nicht bedarf, wenn die Richtlinie unmittelbar angewendet werden kann. Der Vorrang des primären Rechtsschutzes wurde insoweit betont. Gleichwohl ging er auf das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht ein. In Bezug auf die Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes befand der Gerichtshof: „Angesichts des eindeutigen Wortlauts dieser Richtlinie hatte der Mitgliedstaat keine gesetzgeberische Wahlmöglichkeit und verfügte nur über einen erheblich oder gar auf Null reduzierten Ermessensspielraum. Unter diesen Umständen kann die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts genügen, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß zu begründen (vgl. Urteile vom 23. Mai 1996 in der Rechtssache C-5/94, Hedley Lomas, Slg. 1996, I-2553, Randnr. 28, und Dillenkofer u. a., Randnr. 25). Im Übrigen zeigt der Umstand, dass die im Ausgangsrechtsstreit fragliche nationale Regelung mit Wirkung vom 1. Januar 1997, also zwei Jahre nach dem Beitritt, aufgehoben wurde, dass der schwedische Gesetzgeber diese Unvereinbarkeit erkannt hatte“221.
Wie sich hieraus ergibt, hat der EuGH zum einen das Ermessen des Mitgliedstaats bei der Umsetzung der Richtlinie berücksichtigt, zum anderen aber auch den Umstand, dass der schwedische Gesetzgeber die Unvereinbarkeit der in Rede stehenden nationalen Regelung bereits selbst erkannt und deshalb aufgehoben hat. Der Gerichtshof wertete dies also als eine Art Schuldanerkenntnis. Vor diesem Hintergrund wies er auch das Vorbringen des schwedischen Staats zurück, eine etwaige Verletzung des Gemeinschaftsrechtsrechts sei mangels einschlägiger Rechtsprechung des EuGH entschuldbar222. n) Das Urteil „Metallgesellschaft u. a.“ von 2001 (Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nationaler Rechtsvorschriften) Das Urteil „Metallgesellschaft u. a.“223 erging anlässlich von Rechtsstreitigkeiten über die Verpflichtung von im Vereinigten Königreich ansässigen Gesellschaften, eine Körperschaftssteuer auf die den Muttergesellschaften gezahlten Dividenden im Voraus zu entrichten, wenn die betreffende Mut220
EuGH, Fn. 215, I-535, Rn. 35. EuGH, Fn. 215, I-537, Rn. 40. 222 EuGH, Fn. 215, I-537, Rn. 41. 223 EuGH v. 8. März 2001, Rs. C-397/98 u. C-410/98 (Metallgesellschaft u. a.), Slg. 2001, I-1727. Dazu: Hummel, EWS 2001, 323; Eicker/Müller, RIW 2001, 438. 221
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
tergesellschaft ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat. Der EuGH entschied, dass eine solche Verpflichtung gegen Art. 52 EG-Vertrag (Art. 43 EG) verstoße, da die Niederlassungsfreiheit der betroffenen Unternehmen in einer nicht zu rechtfertigenden Weise beschränkt werde224. Sodann ging er auf die Frage ein, ob die betroffenen Unternehmen bezüglich der entrichteten Steuern gemäß Art. 52 EG-Vertrag (Art. 43 EG) einen Anspruch auf Zahlung von Zinsen haben. Insoweit kam eine Erstattung oder Entschädigung in Betracht. Der Gerichtshof stellte diesbezüglich jedoch klar: „Es ist nicht Sache des Gerichtshofes, die Klagen, die die Klägerinnen beim vorlegenden Gericht erhoben haben, rechtlich einzuordnen. Im vorliegenden Fall obliegt es den Klägerinnen, Wesen und Grundlage ihrer Klagen (Erstattungsklage oder Schadensersatzklage) unter Aufsicht des vorlegenden Gerichts näher darzulegen“225.
Hinsichtlich des möglicherweise gegebenen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs bekräftigte er, der entgangene Gewinn dürfe bei einem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht nicht vollständig vom ersatzfähigen Schaden ausgeschlossen werden, da anderenfalls insbesondere bei Rechtsstreitigkeiten wirtschaftlicher oder kommerzieller Natur ein Ersatz des Schadens tatsächlich unmöglich werden könnte226. Sodann brachte der EuGH zum Ausdruck, dass die Klägerinnen im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts auch Zinsen verlangen können, indem er erklärte: „Zwar hat der Gerichtshof im Urteil Sutton entschieden, dass die Gemeinschaftsrichtlinie, um die es damals ging, nur einen Anspruch auf Zahlung der Leistungen gebe, auf die der Betroffene ohne die Diskriminierung Anspruch gehabt hätte, und dass die Zahlung von Zinsen auf verspätet gezahlte rückständige Leistungen kein wesentlicher Bestandteil dieses Rechts sei. In den Ausgangsverfahren sind es jedoch gerade die Zinsen, über die die Klägerinnen bei Gleichbehandlung verfügt hätten, und die den wesentlichen Bestandteil des ihnen zuerkannten Anspruchs darstellen“227. „In den Randnummern 23 bis 25 des Urteils Sutton hat der Gerichtshof im Übrigen zwischen dem damaligen Sachverhalt und demjenigen unterschieden, der dem Urteil vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-271/91 (Marshall, Slg. 1993, I-4367, Urteil Marshall II) zugrunde lag. In der letztgenannten Rechtssache, die die Zuerkennung von Zinsen auf Beträge betraf, die als Ersatz des durch eine diskriminierende Entlassung entstandenen Schadens zu zahlen waren, hat der Gerichtshof entschieden, dass für die völlige Wiedergutmachung des Schadens nicht von Umständen abgesehen werden könne, die, wie der Zeitablauf, den Wert der Wiedergutmachung verringern könnten, und dass die Zuerkennung 224 225 226 227
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
Fn. Fn. Fn. Fn.
223, 223, 223, 223,
I-1772, I-1772, I-1787, I-1787,
Rn. Rn. Rn. Rn.
35 ff. 81. 91. 93.
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von Zinsen ein unerlässlicher Bestandteil einer Entschädigung sei, die die tatsächliche Gleichbehandlung wiederherstellen solle (Urteil Marshall II, Randnrn. 24 bis 32). Zinsen waren danach als unerlässlicher Bestandteil der gemeinschaftsrechtlich im Fall einer diskriminierenden Entlassung geforderten Entschädigung angesehen worden“228. „Unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren ist die Zuerkennung von Zinsen daher für den Ersatz des durch den Verstoß gegen Artikel 52 EG-Vertrag entstandenen Schadens unerlässlich“229.
Wie sich hieraus ergibt, sind Zinsen in jedem Fall dann zu zahlen, wenn ihre Zuerkennung für den Ersatz des entstandenen Schadens unerlässlich ist. In „Metallgesellschaft u. a.“ musste sich der EuGH zudem mit der Frage nach dem Vorrang des Primärrechtsschutzes auseinandersetzen. Seitens des Vereinigten Königreiches war den Klägerinnen vorgehalten worden, dass sie nicht die erforderliche Sorgfalt gezeigt hätten, weil sie nicht sofort für die Besteuerung des Gruppeneinkommens optiert hatten. Dies hätte ihnen ermöglicht, gegen die Ablehnung durch die Steuerbehörden vorzugehen und sich auf den Vorrang und die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts zu berufen, um insbesondere so rasch wie möglich eine Vorabentscheidungsvorlage zum Gerichtshof zu erwirken230. Der EuGH stellte diesbezüglich fest, „dass das Gemeinschaftsrecht es dem nationalen Gericht verbietet, einen Anspruch, den eine gebietsansässige Tochtergesellschaft und ihre gebietsfremde Muttergesellschaft bei ihm auf Erstattung oder Entschädigung für die finanzielle Einbuße geltend gemacht haben, die sie wegen der Körperschaftsteuer-Vorauszahlung der Tochtergesellschaft erlitten haben, allein deshalb zurückzuweisen oder zu kürzen, weil diese Gesellschaften bei den Steuerbehörden die Anwendung der Besteuerungsregelung, kraft deren die Tochtergesellschaft von der Verpflichtung zur Vorauszahlung befreit gewesen wäre, nicht beantragt und somit die ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten nicht ausgeschöpft haben, um unter Berufung auf den Vorrang und die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts gegen die ablehnenden Entscheidungen der Steuerbehörden vorzugehen, obwohl das nationale Recht die gebietsansässigen Tochtergesellschaften und ihre gebietsfremden Muttergesellschaften sowieso von dieser Besteuerungsregelung ausschloss“231.
Diese Aussage hat der EuGH vor dem Hintergrund getätigt, dass den Vorlagebeschlüssen zu entnehmen war, dass die Tochtergesellschaften ohnehin für alle von ihnen gezahlten Dividenden Körperschaftsteuer-Vorauszahlungen hätten leisten müssen. Falls einem eingelegten Rechtsbehelf stattgegeben worden wäre, hätten ihnen die Vorauszahlungen nicht erstattet wer228 229 230 231
EuGH, Fn. 223, EuGH, Fn. 223, Vgl. EuGH, Fn. EuGH, Fn. 223,
I-1787, Rn. 94. I-1788, Rn. 95. 223, I-1790, Rn. 99. I-1792, Rn. 107.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
den können, da es einen solchen Anspruch im englischen Recht nicht gegeben hat. Hätten die Tochtergesellschaften vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf für die von ihnen gezahlten Dividenden keine Körperschaftsteuer-Vorauszahlung entrichtet, wäre gleichwohl eine Vorauszahlung von ihnen verlangt worden, hätten sie Zinsen auf die betreffenden Beträge zahlen müssen und wäre ihnen möglicherweise eine Geldstrafe auferlegt worden, wenn ihr Verhalten als ohne triftigen Grund säumig angesehen worden wäre232. Effektiven primären Rechtsschutz hätten die Klägerinnen demnach nicht erlangen können. In Anbetracht dessen hat der EuGH folgerichtig entschieden, dass die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nicht präkludiert ist. Der Grundsatz vom Vorrang des primären Rechtsschutzes, den der EuGH in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ anerkannt hat233, wurde jedoch nicht in Frage gestellt. So ist davon auszugehen, dass die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung präkludiert ist, wenn der Einzelne die Möglichkeit hat, effektiven primären Rechtsschutz zu erlangen, diese Möglichkeit aber nicht nutzt, sondern sich sogleich auf den Grundsatz der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung beruft. o) Das Urteil „Paul u. a.“ von 2004 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) In der Rechtssache „Paul u. a.“234 hatte der EuGH über die Frage zu befinden, ob die Bundesrepublik Deutschland für Schäden zu haften hat, die entstanden sind, weil die Richtlinie 94/19/EG235 nicht rechtzeitig zum 1. Juli 1995, sondern erst mit Wirkung zum 1. August 1998 umgesetzt worden war. Die Kläger hatten geltend gemacht, sie hätten das Geld, das sie bei der insolventen BVH Bank angelegt hatten, nicht verloren, wenn die Richtlinie rechtzeitig umgesetzt worden wäre, denn dann hätte das Bundesaufsichtsamt bereits zu einem Zeitpunkt Aufsichtsmaßnahmen gegenüber der Bank getroffen, zu dem sie noch keine Einzahlungen getätigt hätten. Das LG Bonn hatte in erster Instanz entschieden, dass die verspätete Umsetzung der Richtlinie einen qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht darstelle, für den die Bundesrepublik Deutschland zu haften habe. Im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie wurde den Klägern Schadensersatz in Höhe von 39.540 DM zuzüglich Zinsen zugesprochen236. Das OLG Köln 232
EuGH, Fn. 223, I-1791, Rn. 104. EuGH, Fn. 78, I-1157, Rn. 84 f. 234 EuGH v. 12. Oktober 2004, Rs. C-222/02 (Paul u. a.), Slg. 2004, I-9425. Dazu: Kilgus, BB 2004, 2431; Häde, EuZW 2005, 39; Grote, VersR 2005, 103. 235 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30. Mai 1994 über Einlagensicherungssysteme, ABl. L 135, S. 5. 236 EuGH, Fn. 234, I-9469, Rn. 16. 233
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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bestätigte diese Rechtsprechung. Die Kläger verlangten jedoch einen höheren Betrag, da die Behörden Aufsichtsmaßnahmen im Interesse der Anleger unterlassen oder zu spät ergriffen hätten. Gemäß der seinerzeit geltenden Regelung des § 6 Abs. 4 KWG hatte das Bundesaufsichtsamt die ihm nach dem KWG und nach anderen Gesetzen zugewiesenen Aufgaben jedoch nur im öffentlichen Interesse wahrgenommen. Von einer Dritten gegenüber obliegenden Amtspflicht im Sinne von Art. 34 GG und § 839 Abs. 1 S. 1 BGB war also nicht auszugehen237. Fraglich war mithin, ob die Regelung des § 6 Abs. 4 KWG mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist. Der BGH, der sich im Rahmen des Revisionsverfahrens mit dieser Frage zu befassen hatte, reichte diesbezüglich ein Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH ein. Neben der gemeinschaftsrechtlichen Haftung der Bundesrepublik Deutschland für die verspätete Umsetzung der Richtlinie kam eine Haftung wegen einer unzureichenden Aufsicht der nationalen Behörden, also exekutiven Unrechts, in Betracht. Der Gerichtshof prüfte, ob die Regelung des § 6 Abs. 4 KWG mit sekundärem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist. Er kam zu dem Ergebnis, dass dies der Fall sei238. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung wegen einer unzureichenden Aufsicht der nationalen Behörden schied folglich aus. Im Übrigen war die erste Haftungsvoraussetzung nicht gegeben. So befand der EuGH: „Aus den Antworten auf die ersten beiden Fragen geht aber hervor, dass die Richtlinien 94/19, 77/80, 89/299 und 89/646 den Einlegern im Fall der Nichtverfügbarkeit ihrer Einlagen aufgrund einer unzureichenden Aufsicht der zuständigen nationalen Behörden keine Rechte gewähren, wenn die in der Richtlinie 94/19 vorgesehene Entschädigung der Einleger gewährleistet ist“239.
Wie sich hieraus ergibt, konnten die Kläger nur die in der Richtlinie 94/19 vorgesehene Entschädigung verlangen, die ihnen das LG Bonn bereits in erster Instanz zugesprochen hatte. Darüber hinausgehender Schadensersatz wegen einer unzureichenden Aufsicht der deutschen Behörden war nicht zu zahlen. p) Das Urteil „Adeneler u. a.“ von 2006 (Nichtumsetzung einer Richtlinie) Im Urteil „Adeneler u. a.“240 hat sich der EuGH unter anderem mit der Frage auseinandergesetzt, ob nationale Gerichte das nationale Recht im Fall der nicht rechtzeitig erfolgten Richtlinienumsetzung von dem Zeitpunkt an 237
EuGH, Fn. 234, I-9469, Rn. 17. EuGH, Fn. 234, I-9476, Rn. 32 u. I-9479, Rn. 47. 239 EuGH, Fn. 234, I-9480, Rn. 50. 240 EuGH v. 4. Juli 2006, Rs. C-212/04 (Adeneler), abrufbar über http://curia. europa.eu. Dazu: Auer, NJW 2007, 1106; Junker/Aldea, EuZW 2007, 13. 238
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
richtlinienkonform auszulegen haben, in dem die Richtlinie in Kraft gesetzt worden ist, oder von dem Zeitpunkt an, in dem die Frist für die Umsetzung der Richtlinie im nationalen Recht ungenutzt abgelaufen ist, oder von dem Zeitpunkt an, in dem die nationale Umsetzungsmaßnahme in Kraft getreten ist. Die Frage stellte sich vor dem Hintergrund, dass in Griechenland die Richtlinie 1999/70241 nicht fristgemäß bis zum 10. Juli 2002, sondern erst im April 2003 umgesetzt worden war. Die Kläger des Ausgangsverfahrens, die ab Mai 2001 und damit vor Ende der Umsetzungsfrist für Probenahmen zuständig gewesen sind oder als Sekretärinnen, Techniker oder Veterinäre gearbeitet haben, hatten sich in einer arbeitsrechtlichen Angelegenheit auf diese Richtlinie berufen. Der EuGH antwortete, „dass die nationalen Gerichte bei verspäteter Umsetzung einer Richtlinie in die Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats und bei Fehlen unmittelbarer Wirkung ihrer einschlägigen Bestimmungen verpflichtet sind, das innerstaatliche Recht ab dem Ablauf der Umsetzungsfrist so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und des Zweckes der betreffenden Richtlinie auszulegen, um die mit ihr verfolgten Ergebnisse zu erreichen, indem sie die diesem Zweck am besten entsprechende Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften wählen und damit zu einer mit den Bestimmungen dieser Richtlinie vereinbaren Lösung gelangen“242.
Der EuGH betonte allerdings, dass während der Umsetzungsfrist alle Träger öffentlicher Gewalt und damit auch die nationalen Gerichte keine Maßnahmen ergreifen dürften, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich zu gefährden243. Diese Unterlassungspflicht wird in der Literatur auch als Frustrationsverbot bezeichnet244. Der Gerichtshof hat mit seiner Entscheidung den Streit über die Frage beendet, ob eine Richtlinie bei noch nicht erfolgter Umsetzung bereits mit ihrem Inkrafttreten die Auslegung nationaler Vorschriften leitet245. Nunmehr steht fest, dass eine richtlinienkonforme Auslegung erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist geboten ist. Der Gerichtshof bezog sich in „Adeneler u. a.“ schließlich auch auf die Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung. So stellte er erneut klar: „Kann das von einer Richtlinie vorgeschriebene Ziel nicht im Wege der Auslegung erreicht werden, verpflichtet das Gemeinschaftsrecht gemäß dem Urteil 241
Richtlinie des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, ABl. L 175, S. 43. 242 EuGH, Fn. 240, Rn. 124. 243 EuGH, Fn. 240, Rn. 121 f. 244 So etwa Kühling, DVBl. 2006, 857 (858); Weiß, DVBl. 1998, 568 (572 f.). 245 So zuvor GA Kokott, Schlussanträge v. 27.10.2005, Rs. C-212/04 (Adeneler), Rn. 46 ff., abrufbar über http://curia.europa.eu; Däubler, EuZW 1997, 613 (616). A. A.: BGHZ, 138, 55 (60 ff.); Götz, NJW 1992, 1849 (1854); Langenfeld, DÖV 1992, 955 (964).
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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vom 19. November 1991 in den verbundenen Rechtssachen C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357, Randnr. 39) die Mitgliedstaaten zum Ersatz der den Bürgern durch die Nichtumsetzung dieser Richtlinie verursachten Schäden, sofern drei Voraussetzungen vorliegen. Zunächst muss Ziel der Richtlinie die Verleihung von Rechten an Einzelne sein. Sodann muss der Inhalt dieser Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden können. Schließlich muss ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem Mitgliedstaat auferlegte Verpflichtung und dem entstandenen Schaden bestehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, Randnr. 27)“246.
Von dem Erfordernis eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes ist allerdings nicht die Rede gewesen. Hintergrund ist wohl, dass in der beschriebenen Fallkonstellation der Gemeinschaftsrechtsverstoß offenkundig vorliegt, so dass von einem hinreichend qualifizierten Verstoß ohne weiteres ausgegangen werden kann247. Eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des EuGH ist insoweit also nicht anzunehmen. Gleiches gilt für die Unmittelbarkeit des Kausalzusammenhangs, die der EuGH nicht explizit gefordert hat. Wie schon in „Dillenkofer u. a.“ ist es auf eine Nachlässigkeit des Gerichtshofs zurückzuführen, dass dieses Erfordernis keine Erwähnung fand248. Zum Verhältnis von gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts und unmittelbarer Wirkung des Gemeinschaftsrechts urteilte der EuGH sodann: „Im Hinblick auf die genauere Bestimmung des Zeitpunkts, ab dem die nationalen Gerichte verpflichtet sind, den Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung anzuwenden, ist darauf hinzuweisen, dass diese sich aus den Artikeln 10 Absatz 2 EG und 249 Absatz 3 EG sowie der betreffenden Richtlinie selbst ergebende Verpflichtung insbesondere dann zum Tragen kommt, wenn die einschlägige Richtlinienbestimmung keine unmittelbare Wirkung entfaltet, weil sie dafür nicht klar, genau und unbedingt genug ist oder weil es sich um einen Rechtsstreit handelt, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen“249.
Für die nationalen Gerichte bedeutet dies, dass sie insbesondere dann über eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nachzudenken haben, wenn keine unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts anzunehmen ist. Da der EuGH in „Adeneler u. a.“ zudem festgestellt hat, dass eine umfassende Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist bestehe, ergibt sich folgender Dreischritt. Erstens haben die nationalen Gerichte bei vermeintlichen Verstößen gegen die Umsetzungsfrist des Art. 249 Abs. 2 EG zu prüfen, ob die Um246 247 248 249
EuGH, Fn. 240, Vgl. EuGH, Fn. Vgl. EuGH, Fn. EuGH, Fn. 240,
Rn. 112. 145, I-4879, Rn. 23. 145, I-4880, Rn. 29. Rn. 113.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
setzungsfrist abgelaufen ist. Ist dies der Fall, muss zweitens die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts eruiert werden. Wenn sich herausstellt, dass die Möglichkeit einer unmittelbaren Anwendung nicht besteht, ist drittens zu prüfen, ob im Wege der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts primärer Rechtsschutz gewährt werden kann. Sekundärer Rechtsschutz auf der Grundlage des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts kommt grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn die Dreischritt-Prüfung erfolglos verlaufen ist250. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist gilt lediglich das Frustrationsverbot. Anders verhält es sich allenfalls dann, wenn der Gesetzgeber eine Richtlinie vorzeitig umgesetzt hat251. q) Das Urteil „Test Claimants“ von 2006 (Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nationaler Rechtsvorschriften) Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Test Claimants“252 erging in einer steuerrechtlichen Angelegenheit. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens verlangten Erstattung von Zahlungen und/oder Ausgleich von Einbußen, die sich aus der Anwendung von im Vereinigten Königreich geltenden steuerrechtlichen Vorschriften ergeben hatten. Der EuGH stellte in diesem Zusammenhang verschiedene Verstöße gegen Art. 43 EG und Art. 56 EG fest. Vor diesem Hintergrund ergab sich für das vorlegende Gericht die Frage, ob die Klagen, die zur Beseitigung der Folgen der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit eingereicht worden waren, als Klagen auf Erstattung zu Unrecht erhobener Beträge oder Gewährung zu Unrecht versagter Vergünstigungen oder vielmehr als Klagen auf Ersatz eines erlittenen Schadens zu qualifizieren sind. Der EuGH befand insoweit wie schon zuvor in „Metallgesellschaft u. a.“, dass es nicht seine Sache sei, die erhobenen Klagen rechtlich einzuordnen253. Im Anschluss daran folgten Ausführungen zu der Möglichkeit einer Erstattung der zu Unrecht erhobenen Beträge254. Schließlich äußerte sich der Gerichtshof zu der Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung. Zunächst zeigte er – wie üblich – auf, unter welchen Voraussetzungen eine solche Haftung in Betracht kommt255, um sodann in deren Prüfung einzusteigen. Die erste Voraussetzung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung sah der EuGH als gegeben an, da 250
Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (1), (a). Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (1), (a), (aa). 252 EuGH v. 12. Dezember 2006, Rs. C-446/04 (Test Claimants), abrufbar über http://curia.europa.eu. 253 EuGH, Fn. 252, Rn. 201. 254 EuGH, Fn. 252, Rn. 202 ff. 255 EuGH, Fn. 252, Rn. 209. 251
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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Art. 43 EG und Art. 56 EG dem Einzelnen Rechte verleihen würden256. Bezüglich der zweiten Voraussetzung stellte er fest: „Im vorliegenden Fall muss das nationale Gericht bei der Beurteilung, ob ein vom betroffenen Mitgliedstaat begangener Verstoß gegen Artikel 43 EG hinreichend qualifiziert ist, berücksichtigen, dass sich die Folgen, die sich aus den durch den EG-Vertrag gewährleisteten Verkehrsfreiheiten ergeben, in einem Bereich wie der direkten Besteuerung erst nach und nach deutlich geworden sind, u. a. durch die vom Gerichtshof seit seinem Urteil vom 28. Januar 1986 (Kommission/Frankreich) entwickelten Grundsätze. Was die Besteuerung von Dividenden angeht, die gebietsansässige Gesellschaften von gebietsfremden Gesellschaften erhalten haben, hatte der Gerichtshof außerdem erst in den Urteilen Verkooijen, Lenz und Manninen Gelegenheit, die Anforderungen zu erläutern, die sich aus diesen Verkehrsfreiheiten insbesondere in Bezug auf den freien Kapitalverkehr ergeben“257. „Das Gemeinschaftsrecht verpflichtete einen Mitgliedstaat nämlich außerhalb der von der Richtlinie 90/435 erfassten Fälle nicht ausdrücklich, für eine gleichwertige Behandlung der von gebietsansässigen Gesellschaften und von gebietsfremden Gesellschaften an Gebietsansässige gezahlten Dividenden im Rahmen der Mechanismen zur Vermeidung oder Abschwächung der mehrfachen Belastung oder wirtschaftlichen Doppelbesteuerung zu sorgen. Das im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfene Problem ist somit bis zu den Urteilen Verkooijen, Lenz und Manninen in der Rechtsprechung des Gerichtshofes noch nicht als solches behandelt worden“258.
Sodann wies er das vorlegende Gericht darauf hin, dass es im Lichte dieser Erwägungen die vom EuGH vorgegebenen Gesichtspunkte beurteilen müsse, insbesondere das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschriften und die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit etwaiger Rechtsirrtümer259. In Bezug auf die dritte Voraussetzung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung befand der EuGH, dass das vorlegende Gericht zu prüfen habe, „ob sich der behauptete Schaden mit hinreichender Unmittelbarkeit aus dem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ergibt, um den Mitgliedstaat zu dessen Ersatz zu verpflichten (vgl. in diesem Sinne hinsichtlich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft Urteil vom 4. Oktober 1979 in den Rechtssachen 64/76, 113/76, 167/78, 239/78, 27/79, 28/79 und 45/79, Dumortier frères u. a./Rat, Slg. 1979, 3091, Randnr. 21)“260.
Der EuGH hat zur Erläuterung des unmittelbaren Kausalzusammenhangs erstmals auf seine Rechtsprechung zur außervertraglichen Gemeinschafts256 257 258 259 260
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.
252, 252, 252, 252, 252,
Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.
211. 215. 216. 217. 218.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
haftung verwiesen. Damit wurde klargestellt, dass sich eine national-rechtliche Interpretation dieser Voraussetzung verbietet. Vielmehr muss sie gemeinschaftsautonom im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zur außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft ausgelegt werden. Nach alledem tenorierte der EuGH, dass die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von Gerichtsverfahren, die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte sicherstellen sollen, einschließlich der Qualifizierung der von den geschädigten Personen bei den nationalen Gerichten erhobenen Klagen mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung Aufgaben des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten seien. Es müsse jedoch gewährleistet sein, dass die Einzelnen über einen effektiven Rechtsbehelf verfügen, der es ihnen ermöglicht, die zu Unrecht erhobene Steuer und die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Steuer an den betreffenden Mitgliedstaat gezahlten oder von diesem einbehaltenen Beträge zurückzuerlangen. Sonstige Schäden, die einer Person aufgrund eines einem Mitgliedstaat zuzurechnenden Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, müsse dieser unter den im Urteil „Brasserie du pêcheur und Factortame“ aufgeführten Voraussetzungen261 ersetzen, was jedoch nicht ausschließe, dass die Haftung des Staates auf der Grundlage des nationalen Rechts unter weniger strengen Voraussetzungen ausgelöst werden kann262. r) Das Urteil „Robins u. a.“ von 2007 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) Hintergrund der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Robins u. a.“263 war ein Rechtsstreit zwischen Frau Robins sowie 835 weiteren Mitgliedern zweier betrieblicher Altersversorgungssysteme und dem Secretary of State for Work and Pensions, der im Vereinigten Königreich für Fragen der Beschäftigung und Altersversorgung zuständig ist. Dabei ging es um die Kürzung der Ansprüche der Kläger auf Leistungen im Alter infolge der Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers. Da die Kläger der Ansicht waren, dass die im Vereinigten Königreich geltenden Vorschriften ihnen nicht das in Art. 8 der Richtlinie 80/987/EWG264 vorgeschriebene Schutzniveau verschaffen würden, verklagten sie das Vereinigte Königreich in der Person 261
EuGH, Fn. 78, I-1149, Rn. 51. EuGH, Fn. 252, Rn. 220. 263 EuGH v. 25. Januar 2007, Rs. C-278/05 (Robins u. a.), abrufbar über http://curia.europa.eu. Dazu: Streinz, JuS 2007, 763. 264 Richtlinie des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. L 283, S. 23. 262
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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des „Secretary of State for Work and Pensions“ auf Ersatz des entstandenen Schadens. Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass Art. 8 der Richtlinie dem Schutzsystem entgegenstehe, das im Vereinigten Königreich geschaffen worden war265. Sodann bezog er sich auf die Frage des vorlegenden Gerichts, ob im Fall einer nicht ordnungsgemäßen Umsetzung von Art. 8 der Richtlinie die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung schon aufgrund dieses Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht ausgelöst wird oder ob sie von der Feststellung abhängt, dass dieser Staat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt waren, offenkundig und erheblich überschritten hat. Der Gerichtshof erklärte erneut, ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht setze voraus, dass der Mitgliedstaat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat, wobei zu den insoweit zu berücksichtigenden Gesichtspunkten insbesondere das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift sowie der Umfang des Ermessensspielraums gehörten, den die verletzte Vorschrift den nationalen Behörden belässt266. Sofern der Mitgliedstaat keine Wahl zwischen verschiedenen gesetzgeberischen Möglichkeiten habe und über einen erheblich verringerten oder gar auf Null reduzierten Ermessensspielraum verfüge, könne die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts genügen, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß zu begründen267. Der EuGH unterstrich anschließend: „Der Ermessensspielraum des Mitgliedstaats stellt somit ein wichtiges Kriterium für die Feststellung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht dar. Dieser Ermessensspielraum hängt weitgehend vom Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift ab“268.
Im Hinblick auf den vorliegenden Fall stellte der Gerichtshof fest, dass Art. 8 der Richtlinie den Mitgliedstaaten wegen seines allgemein gehaltenen Wortlauts einen weiten Ermessensspielraum bezüglich der Festlegung des Niveaus für den Schutz der Leistungsansprüche einräume269. Folglich hänge die Haftung eines Mitgliedstaats wegen nicht ordnungsgemäßer Umsetzung dieser Bestimmung von der Feststellung ab, dass dieser Staat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt waren, offenkundig und erheblich überschritten hat270. Letztlich stellte der EuGH jedoch fest, dass weder die Kläger noch die Mitgliedstaaten oder die Kommission in der Lage gewesen seien, genau anzugeben, welches Mindestmaß an Schutz die Richtlinie verlangt271. 265 266 267 268 269 270 271
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
Fn. Fn. Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.
263, 263, 263, 263, 263, 263, 263,
Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.
62. 70. 71. 72 f. 74. 75. 79.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
Keine Vorschrift der Richtlinie enthalte Anhaltspunkte, anhand deren sich das genaue Mindestniveau bestimmen lässt, das für den Schutz von Ansprüchen auf Leistungen verlangt wird272. Das vorlegende Gericht könne zudem den im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften nicht veröffentlichten Bericht KOM(95) 164 endg. der Kommission vom 15. Juni 1995 über die Umsetzung der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten berücksichtigen, auf den in den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen verwiesen worden sei und in dem die Kommission auf S. 45 festgestellt habe: „Mit den [vom Vereinigten Königreich erlassenen] Bestimmungen dürfte dem Art. 8 Genüge getan werden“. Denn wie die Generalanwältin in Nr. 98 ihrer Schlussanträge ausgeführt habe, sei diese Formulierung, auch wenn sie sehr vorsichtig ausgefallen sei, geeignet gewesen, den betreffenden Mitgliedstaat in seiner Auffassung hinsichtlich der Umsetzung der Richtlinie zu bestärken273. Der EuGH hat dem vorlegenden Gericht demnach zu Verstehen gegeben, dass ein offenkundiger und erheblicher Gemeinschaftsrechtsverstoß nicht in Betracht kommt, eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung mithin ausscheidet. s) Das Urteil „Danske Slagterier“ von 2009 (Fehlerhafte Richtlinienumsetzung) Dem Urteil in der Rechtssache „Danske Slagterier“274 aus dem Jahr 2009 kommt innerhalb der Rechtsprechung des EuGH zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung eine große Bedeutung zu, denn der Gerichtshof hat zahlreiche Fragen zur Haftungsdogmatik beantwortet. Bei der Klägerin des Ausgangsrechtsstreits (Danske Slagterier) handelte es sich um eine Organisation dänischer Schweinezüchter und Schlachtereien, die Schadensersatz von der Bundesrepublik Deutschland verlangte, da für die Zeit von Anfang 1993 bis April 1999 unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht faktisch ein Importverbot für das Fleisch nicht kastrierter männlicher Schweine aus Dänemark verhängt worden sei. Hintergrund war, dass die Richtlinie 64/433/EWG275 in Deutschland Anfang 1993 fehlerhaft umgesetzt worden ist. Dies hat der EuGH anlässlich einer Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland am 12. November 1998 272
EuGH, Fn. 263, Rn. 80. EuGH, Fn. 263, Rn. 81. 274 EuGH v. 24. März 2009, Rs. C-445/06 (Danske Slagterier), abrufbar über http://curia.europa.eu. Dazu: de Weerth, DStR 2009, 707. 275 Richtlinie des Rates vom 26. Juni 1964 über die gesundheitlichen Bedingungen für die Gewinnung und das Inverkehrbringen von frischem Fleisch (ABl. 1964, Nr. 121, S. 2012) in der durch die Richtlinie 91/497/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 (ABl. L 268, S. 69) geänderten Fassung. 273
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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festgestellt276. Der Import von Fleisch männlicher, nicht kastrierter Schweine war in Deutschland davon abhängig gemacht worden, dass bei den Schweinen ein Wert von 0,5 μg/g des Hormons Androstenon nicht überschritten wird. Erst ab April 1999 standen die deutschen Hygienevorschriften im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht. Die Klägerin behauptete, die dänischen Schweinezüchter und Schlachthofgesellschaften hätten im Hinblick auf das gemeinschaftsrechtswidrige Verhalten der Bundesrepublik Deutschland die Produktion nicht kastrierter Schweine bereits im Laufe des Jahres 1993 nahezu vollkommen eingestellt. Da die Produktion nicht kastrierter Schweine mit Kosteneinsparungen verbunden sei, hätten sich Einbußen in Höhe von mindestens 280.000,– DM ergeben. Sowohl das LG Bonn als auch das OLG Köln haben der Schadensersatzklage der Klägerin dem Grunde nach stattgegeben. Während das OLG Köln eine Verjährung der geltend gemachten Ansprüche verneinte, ging das LG Bonn im Hinblick auf die Beantragung eines Mahnbescheids am 6. Dezember 1996 indes davon aus, dass die in dem Zeitraum davor entstandenen Ansprüche verjährt seien. Die Bundesrepublik Deutschland hat gegen das Urteil des OLG Köln die zugelassene Revision eingelegt. Der BGH hat dem EuGH in diesem Zusammenhang verschiedene Fragen zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung vorgelegt. Im Rahmen seiner Entscheidung hatte sich der EuGH mit der Frage zu befassen, ob sich Einzelne, die durch Fehler bei der Umsetzung und Anwendung von Richtlinien geschädigt wurden, für die Auslösung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung auf die Warenverkehrsfreiheit, also auf primäres Gemeinschaftsrecht, berufen können. Nach Ansicht des BGH sei ein Rückgriff auf individualschützendes Primärrecht sogar in dem Fall möglich, dass die einschlägigen Richtlinien keine subjektiven Rechte beinhalten. In der Literatur wird dies mit der Begründung abgelehnt, die haftungsbeschränkende Voraussetzung der Verleihung subjektiver Rechte würde de facto gegenstandslos277. Ob auf individualschützendes Primärrecht zurückgegriffen werden kann, wenn die Richtlinien keine subjektiven Rechte beinhalten, bleibt allerdings auch nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache „Danske Slagterier“ unklar, denn der Gerichtshof hat einen individualschützenden Charakter der Richtlinien 64/433 und 89/662 anerkannt: „Wie sich u. a. aus Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 89/662 ergibt, können sich die Mitgliedstaaten einer Einfuhr von frischem Fleisch nur widersetzen, wenn die Ware die Bedingungen der Gemeinschaftsrichtlinien nicht erfüllt, oder unter ganz besonderen Umständen wie z. B. während einer Epidemie. Dass den Mitgliedstaaten untersagt ist, die Einfuhr zu verhindern, verleiht dem Einzelnen 276 EuGH v. 12. November 1998, Rs. C-102/96 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland), Slg. 1998, I-6871. 277 Giesberts/Eickelberg, EuZW 2005, 231 (235).
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
das Recht, frisches Fleisch, das den Anforderungen der Gemeinschaft entspricht, in einem anderen Mitgliedstaat zu vermarkten“278.
Zu dem Verhältnis der Richtlinien und der Warenverkehrsfreiheit äußerte sich der EuGH wie folgt: „Somit ist der freie Warenverkehr eines der Ziele dieser Richtlinien, die darauf gerichtet sind, den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr durch die Beseitigung der derzeitigen Unterschiede zwischen den Gesundheitsvorschriften der Mitgliedstaaten für frisches Fleisch zu fördern. Das Recht aus Art. 28 EG wird also durch diese Richtlinien präzisiert und konkretisiert“279.
Vor diesem Hintergrund tenorierte der EuGH, dass sich Einzelne auf das Recht auf freien Warenverkehr berufen können, wenn sie durch Fehler bei der Umsetzung oder Anwendung der Richtlinien 64/433 und 89/662 geschädigt wurden280. Des Weiteren befasste sich der EuGH mit den Auswirkungen eines Vertragsverletzungsverfahren auf die Verjährung des Staatshaftungsanspruchs. Nachdem er bereits in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ entschieden hatte, es stünde im Widerspruch zum Prinzip der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, wenn der Schadensersatz von einem Urteil in einem Vertragsverletzungsverfahren abhängig gemacht würde281, verwundert es nicht, dass der Gerichtshof folgendermaßen tenorierte: „Das Gemeinschaftsrecht verlangt nicht, dass die in der nationalen Regelung vorgesehene Verjährung des Staatshaftungsanspruchs wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht während eines von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften nach Art. 226 EG anhängig gemachten Vertragsverletzungsverfahrens unterbrochen oder gehemmt wird“282.
Der EuGH zeigte in diesem Zusammenhang die Besonderheiten des Vertragsverletzungsverfahrens auf: „Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Kommission im Rahmen der Zuständigkeiten, die ihr durch Art. 226 EG eingeräumt sind, kein Rechtsschutzinteresse nachzuweisen braucht (vgl. Urteile vom 4. April 1974, Kommission/Frankreich, 167/73, Slg. 1974, 359, Randnr. 15, und vom 10. April 2003, Kommission/ Deutschland, C-20/01 und C-28/01, Slg. 2003, I-3609, Randnr. 29). Der Kommission fällt nämlich kraft ihres Amtes die Aufgabe zu, die Ausführung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten im allgemeinen Interesse zu überwachen und etwaige Verstöße gegen die sich hieraus ergebenden Verpflichtungen feststellen zu lassen, damit sie abgestellt werden (vgl. Urteile Kommission/Frankreich, Randnr. 15, und vom 10. April 2003, Kommission/Deutschland, Randnr. 29)“283. 278 279 280 281 282
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.
274, Rn. 24. 274, Rn. 23. 274, Rn. 70. 78, I-1159, Rn. 95. 274, Rn. 70.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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„Art. 226 EG soll also nicht die eigenen Rechte der Kommission schützen. Ihr allein obliegt die Entscheidung, ob es angebracht ist, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, und gegebenenfalls wegen welcher Handlung oder Unterlassung dieses Verfahren einzuleiten ist (Urteil vom 2. Juni 2005, Kommission/Griechenland, C-394/02, Slg. 2005, I-4713, Randnr. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Kommission verfügt demnach in dieser Hinsicht über ein Ermessen, das ein Recht Einzelner, von ihr eine Stellungnahme in einem bestimmten Sinn zu verlangen, ausschließt (vgl. Urteil vom 14. Februar 1989, Star Fruit/Kommission, 247/87, Slg. 1989, 291, Randnr. 11)“284.
Der EuGH befasste sich auch mit der Anwendbarkeit der deutschen Regelung des § 852 Abs. 1 BGB a. F., die eine dreijährige Verjährungsfrist vorsah. Er bekräftigte insoweit, dass die Mitgliedstaaten die Folgen des entstandenen Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts unter Beachtung des Diskriminierungsverbots und des Effizienzgebots zu beheben hätten285. Darüber hinaus erklärte er: „Zum Effektivitätsgrundsatz hat der Gerichtshof entschieden, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützt, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist (vgl. Urteil vom 17. November 1998, Aprile, C-228/96, Slg. 1998, I-7141, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). Solche Fristen sind nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint eine nationale Verjährungsfrist von drei Jahren angemessen (vgl. u. a. Urteile Aprile, Randnr. 19, und vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer, C-62/00, Slg. 2002, I-6325, Randnr. 35“286.
Eine dreijährige Verjährungsfrist wie die des § 852 Abs. 1 BGB a. F. ist demnach angemessen. Die aktuelle Verjährungsregelung des § 195 BGB dürfte somit gemeinschaftsrechtskonform sein287, da sie ebenfalls eine Frist von 3 Jahren vorsieht. Offen ist allerdings geblieben, ob die analoge Anwendung des § 852 Abs. 1 BGB a. F. für die Geschädigten hinreichend vorhersehbar war. Der EuGH stellte diesbezüglich nur fest: „Aus Randnr. 39 des Urteils Marks & Spencer ergibt sich gleichwohl auch, dass eine Verjährungsfrist im Voraus festgelegt werden muss, um ihren Zweck, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, zu erfüllen. Eine durch erhebliche Rechtsunsicherheit geprägte Situation kann einen Verstoß gegen den Grundsatz der Effektivität darstellen, da der Ersatz von Schäden, die Einzelnen durch einem Mitgliedstaat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, 283 284 285 286 287
EuGH, Fn. 274, Rn. 43. EuGH, Fn. 274, Rn. 43. EuGH, Fn. 274, Rn. 31. EuGH, Fn. 274, Rn. 32. So auch de Weerth, DStR 2009, 707 (708).
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
außerordentlich erschwert werden könnte, wenn diese nicht in der Lage wären, die anwendbare Verjährungsfrist mit hinreichender Sicherheit zu ermitteln“288.
Auf die Frage des BGH nach dem Beginn des Laufes der Verjährungsfrist antwortete der EuGH: „Das Gemeinschaftsrecht verwehrt es nicht, die Verjährungsfrist für einen Staatshaftungsanspruch wegen fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie zu dem Zeitpunkt in Lauf zu setzen, in dem die ersten Schadensfolgen der fehlerhaften Umsetzung eingetreten und weitere Schadensfolgen absehbar sind, selbst wenn dieser Zeitpunkt vor der ordnungsgemäßen Umsetzung dieser Richtlinie liegt“289.
In diesem Zusammenhang stellte der Gerichtshof klar, dass es anders als in der Rechtssache „Manfredi u. a.“290 nicht möglich sei, dass die betreffende Verjährungsfrist zu laufen beginnt oder sogar schon abgelaufen ist, ohne dass der Verletzte von dem erlittenen Schaden Kenntnis hat, denn die Frist könne erst dann zu laufen beginnen, wenn er vom Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt291. Zudem stellte der EuGH fest, dass die Verjährungsfrist im Gegensatz zu der Rechtssache „Emmot“292 nicht dazu führen würde, dass den Geschädigten jegliche Möglichkeit genommen wird, ihre Ansprüche vor den nationalen Gerichten geltend zu machen293. Daher könne der Lauf der Verjährungsfrist bereits vor der vollständigen Umsetzung der fraglichen Richtlinie beginnen294. Schließlich hatte sich der EuGH auch mit der Frage zu beschäftigen, ob das Gemeinschaftsrecht einer Regelung wie in § 839 Abs. 3 BGB entgegensteht, wonach ein Einzelner keinen Ersatz für einen Schaden verlangen kann, bei dem er es vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, ihn durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden. Wie zu erwarten war, hat der EuGH bei der Beantwortung der Frage zunächst auf sein Urteil in den Rechtssachen „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ Bezug genommen. So wiederholte er, dass das nationale Gericht prüfen könne, ob sich der Geschädigte in angemessener Form um die Verhinderung des Schadenseintritts 288
EuGH, Fn. 274, Rn. 33. EuGH, Fn. 274, Rn. 70. 290 EuGH v. 13. Juli 2006, Rs. C-295/04 bis C-298/04 (Manfredi u. a.), Slg. 2006, I-6619. 291 EuGH, Fn. 274, Rn. 52. 292 EuGH v. 25. Juli 1991, Rs. C-208/90 (Emmott), Slg. 1991, I-4269. In dem Urteil in der Rechtssache „Emmott“ hat der EuGH in Anbetracht der besonderen Umstände des Falls entschieden, dass sich der säumige Mitgliedstaat bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie nicht auf die Verspätung einer Klage berufen kann, die ein Einzelner zum Schutz der ihm durch diese Richtlinie verliehenen Rechte gegen ihn erhoben hat, und dass eine Klagefrist des nationalen Rechts erst zu diesem Zeitpunkt beginnen kann. 293 EuGH, Fn. 274, Rn. 55. 294 Vgl. EuGH, Fn. 274, Rn. 53. 289
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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oder um die Begrenzung des Schadensumfangs bemüht hat und ob er insbesondere rechtzeitig von allen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch gemacht hat. Nach einem allgemeinen, den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsatz müsse sich nämlich der Geschädigte in angemessener Form um die Begrenzung des Schadensumfangs bemühen, wenn er nicht Gefahr laufen will, den Schaden selbst tragen zu müssen295. Anschließend stellte der Gerichtshof allerdings Folgendes unter Bezugnahme auf seine Entscheidung in der Rechtssache „Metallgesellschaft u. a.“ klar: „Jedoch widerspräche es dem Grundsatz der Effektivität, von den Geschädigten zu verlangen, systematisch von allen ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch zu machen, selbst wenn dies zu übermäßigen Schwierigkeiten führen würde oder ihnen nicht zugemutet werden könnte“296.
Zusammenfassend hielt der EuGH fest: „Somit ergibt sich, dass das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer nationalen Regelung wie in § 839 Abs. 3 BGB dann nicht entgegensteht, wenn der Gebrauch des fraglichen Rechtsmittels dem Geschädigten zumutbar ist. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, anhand aller Umstände des Ausgangsrechtsstreits zu prüfen, ob das der Fall ist“297.
Sodann äußerte sich der Gerichtshof zu der Frage, ob der Gebrauch eines Rechtsmittels zumutbar ist, wenn es aller Wahrscheinlichkeit zu einem Vorabentscheidungsersuchen kommt oder ein Vertragsverletzungsverfahren anhängig ist. Was die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 234 EG betrifft, so hat der EuGH Folgendes erklärt: „Eine große Wahrscheinlichkeit, dass ein Rechtsmittel Anlass zu einem Vorabentscheidungsersuchen gibt, lässt demnach für sich genommen nicht den Schluss zu, dass der Gebrauch dieses Rechtsmittels unzumutbar ist“298.
Der EuGH erinnerte in diesem Zusammenhang daran, „dass nach ständiger Rechtsprechung das mit Art. 234 EG eingerichtete Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (vgl. Urteile vom 16. Juli 1992, Meilicke, C-83/91, Slg. 1992, I-4871, Randnr. 22, und vom 5. Februar 2004, Schneider, C-380/01, Slg. 2004, I-1389, Randnr. 20). Die dadurch erhaltenen Hinweise können dem nationalen Gericht also die Anwendung des Gemeinschaftsrechts erleichtern, so dass der Rückgriff auf dieses Instrument der Zusammenarbeit keineswegs dazu beiträgt, dem Einzelnen die Ausübung der ihm durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen 295 296 297 298
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
Fn. Fn. Fn. Fn.
274, 274, 274, 274,
Rn. Rn. Rn. Rn.
60 f. 62. 64. 66.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
Rechte übermäßig zu erschweren. Daher wäre es nicht sinnvoll, von einem Rechtsmittel allein deshalb keinen Gebrauch zu machen, weil dieses möglicherweise Anlass zu einem Vorabentscheidungsersuchen gibt“299.
Abschließend hat sich der Gerichtshof dazu geäußert, ob der Gebrauch eines Rechtsmittels im Fall eines anhängigen Vertragsverletzungsverfahrens zumutbar ist: „Zur Zumutbarkeit der Verpflichtung, von den zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch zu machen, obwohl eine Vertragsverletzungsklage beim Gerichtshof anhängig ist, genügt die Feststellung, dass das Verfahren nach Art. 226 EG völlig unabhängig von den nationalen Verfahren ist und diese nicht ersetzt. Wie bei der Beantwortung der dritten Frage ausgeführt, stellt eine Vertragsverletzungsklage nämlich eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle im Allgemeininteresse dar. Auch wenn das Ergebnis einer solchen Klage Individualinteressen dienen kann, bleibt es für den Einzelnen gleichwohl zumutbar, den Schaden mit Hilfe aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel, also auch durch die Inanspruchnahme der verfügbaren Rechtsschutzmöglichkeiten, abzuwenden“300.
Nach alledem ist davon auszugehen, dass die Regelung des § 839 Abs. 3 BGB mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist301. Dem steht nicht entgegen, dass der EuGH eine Zumutbarkeit des Rechtsmittelgebrauchs fordert, denn soweit im Einzelfall eine Unzumutbarkeit gegeben wäre, würde die Regelung des § 839 Abs. 3 BGB ohnehin keine Anwendung finden302. 2. Weitere Urteile des EuGH Nachfolgend soll in der gebotenen Kürze auf Urteile eingegangen werden, die nur einen geringen Beitrag bei der Entwicklung des Systems des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts geleistet haben. In diesem Zusammenhang bietet es sich an, Fallgruppen zu bilden. a) Nichtumsetzung von Richtlinien Im Urteil „El Corte Inglés“ von 1996303 hatte der EuGH wie schon zuvor in „Faccini Dori“304 über die Frage einer horizontalen Direktwirkung von Richtlinien zu befinden. Die Frage stellte sich anlässlich eines Verfahrens, in dem zu prüfen war, ob Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 299
EuGH, Fn. 274, Rn. 65. EuGH, Fn. 274, Rn. 67. 301 A. A.: de Weerth, DStR 2009, 707 (708). 302 Vgl. die Ausführungen hierzu: 4. Teil, C., II., 4., a), ee), vor (1). 303 EuGH v. 7. März 1996, Rs. C-192/94 (El Corte Inglés), Slg. 1996, I-1281. Dazu: Finke, DZWir 1996, 361. 304 EuGH, Fn. 71. 300
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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87/102/EWG305 der Klägerin Frau Blázquez Rivero das Recht verleiht, die Finanzierungsgesellschaft El Corte Inglés zu verklagen. Nachdem der EuGH eine unmittelbare Direktwirkung erneut abgelehnt hatte, erinnerte er an seine Rechtsprechung zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung306. Bemerkenswert ist, dass der EuGH nicht auf die Haftungsvoraussetzungen zurückgegriffen hat, die er nur zwei Tage zuvor in seiner „Brasserie du pêcheur u. Factortame“-Entscheidung für den Fall des Gemeinschaftsrechtsverstoßes eines Gesetzes festgelegt hatte. Der Grund hierfür könnte gewesen sein, dass der Gerichtshof seinerzeit noch die Ansicht vertreten hat, die anzuwendenden Voraussetzungen würden von der Art des Gemeinschaftsrechtsverstoßes abhängen307. Das Urteil „Maso u. a.“ von 1997308 betraf die Frage, ob das italienische Instituto nazionale della previdenza sociale (INPS) Schadensersatz wegen der Nichtumsetzung der Richtlinie 80/987/EWG leisten muss. Der EuGH befand wie in „Bonifaci u. a.“, die durch die Nichtumsetzung der Richtlinie entstandenen Schäden könnten dadurch behoben werden, dass die Richtlinie rückwirkend, ordnungsgemäß und vollständig zur Anwendung gebracht wird. Würde dies geschehen, könnten allerdings auch Regelungen angewandt werden, die den Anspruch auf Schadensersatz im Ergebnis beschränken309. Des Weiteren wiederholte der Gerichtshof, es sei Sache des nationalen Gerichts, darauf zu achten, dass der den Betroffenen entstandene Schaden angemessen wieder gutgemacht wird310. Im Urteil „Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft“ von 1997311 ging der EuGH am Rande auch auf das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht ein. In erster Linie nahm er jedoch zu der Frage Stellung, ob sich aus Art. 41 der Richtlinie 92/50312 ergibt, dass die zur Nachprüfung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bau- und Lieferaufträge zuständigen Instanzen auch 305 Richtlinie des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987, L 42, S. 48. 306 EuGH, Fn. 303, I-1304, Rn. 22. 307 Vgl. EuGH, Fn. 78, I-1146, Rn. 38. 308 EuGH v. 10. Juli 1997, Rs. 373/95 (Maso u. a.), Slg. 1997, I-4051. Dazu: Wimmer, ZIP 1997, 1635; Krause, ZIP 1998, 56; Peters-Lange, EwiR 1998, 241; Odman, CMLR 1998, 1395. 309 EuGH, Fn. 308, I-4074, Rn. 40. 310 EuGH, Fn. 308, I-4075, Rn. 41. 311 EuGH v. 17. September 1997, Rs. C-54/96 (Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft), Slg. 1997, I-4961. Dazu: Dreher, EWiR 1997, 987; Fischer, JA 1998, 456; Kamann/Sennekamp, JuS 1999, 438; Pietzcker, NVwZ 1997, 1186; Gröning, ZIP 1998, 370. 312 Richtlinie des Rates vom 18. Juli 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge, ABl. L 209, S. 1.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
zur Nachprüfung von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge befugt sind. Nationales Recht war in diesem Zusammenhang nicht einschlägig, da die Richtlinie in Deutschland nicht rechtzeitig umgesetzt worden war. Der Gerichtshof befand, dass sich aus Art. 41 der Richtlinie nicht ergebe, welche nationale Instanz für die Nachprüfung der Vergabe öffentlicher Dienstleistungen zuständig ist. Die Mitgliedstaaten seien jedoch nach dieser Vorschrift verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um eine wirksame Nachprüfung auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge sicherzustellen313. Vor diesem Hintergrund äußerte sich der EuGH zum Gebot der richtlinienkonformen Auslegung und zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien314. Schließlich thematisierte der EuGH auch das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht. So bekräftigte er, dass die Betroffenen, wenn die nationalen Vorschriften nicht in einer der Richtlinie entsprechenden Weise ausgelegt werden können, im Rahmen der geeigneten Verfahren des nationalen Rechts den Ersatz des Schadens verlangen könnten, der ihnen dadurch entstanden ist, dass die Richtlinie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist umgesetzt worden ist315. Das Urteil „Tögel“ von 1998316 betraf die Auslegung der Richtlinien 89/665/EWG317 und 92/50/EWG318. Letztere war schon in der Rechtssache „Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft“ Auslegungsgegenstand gewesen. Es stellte sich die Frage, ob Art. 1 Abs. 1 u. 2, Art. 2 Abs. 1 oder andere Bestimmungen der Richtlinie 89/665/EWG so auszulegen sind, dass die mitgliedstaatlichen Stellen, die für Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge zuständig sind, auch befugt sind, Nachprüfungsverfahren im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge durchzuführen, wenn die Richtlinie 92/50/EWG nicht rechtzeitig umgesetzt worden ist. Der Gerichtshof verneinte diese Frage319. Es sei Sache der Mitgliedstaaten, zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zuständig ist, in denen es um individuelle, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Rechte geht320. Im Anschluss an diese Feststellung ging der EuGH vor dem Hin313
EuGH, Fn. 311, I-4996, Rn. 41. Vgl. EuGH, Fn. 311, I-4997, Rn. 43 f. 315 EuGH, Fn. 311, I-4998, Rn. 45. 316 EuGH v. 24. September 1998, Rs. C-76/97 (Tögel), Slg. 1998, I-5357. Dazu: Benedict, EuZW 1999, 77. 317 Richtlinie des Rates v. 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, ABl. L 395, S. 33. 318 Richtlinie des Rates v. 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge, ABl. L 209, S. 1. 319 EuGH, Fn. 316, I-5399, Rn. 28. 314
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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tergrund, dass die Richtlinie 92/50/EWG in Österreich nicht rechtzeitig umgesetzt worden war, auf die Pflicht zur richtlinienkonformen Anwendung321, die Möglichkeit einer unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen322 und schließlich auch auf die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ein. Diesbezüglich wurde unterstrichen, dass eine solche Haftung grundsätzlich nur dann in Betracht komme, wenn die nationalen Vorschriften nicht in einer der Richtlinie 92/50/EWG entsprechenden Weise ausgelegt werden können323. Im Rahmen des Urteils „EvoBus Austria“ von 1998324 musste sich der EuGH mit der Frage auseinandersetzen, ob der in Österreich nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie 92/13/EWG325 entnommen werden kann, dass die zur Nachprüfung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bau- und Lieferaufträge zuständigen Instanzen der Mitgliedstaaten auch zur Nachprüfung von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor befugt sind. Wie in „Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft“ und „Tögel“ stellte der Gerichtshof klar, dass es Sache der Mitgliedstaaten sei, zu bestimmen, welche Gerichte für Rechtsstreitigkeiten zuständig sind, in denen es um individuelle, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Rechte geht326. Anschließend verdeutlichte er, dass das nationale Recht richtlinienkonform ausgelegt werden müsse327. Ist dies nicht möglich, könnten die Betroffenen im Rahmen der geeigneten Verfahren des nationalen Rechts den Ersatz des Schadens verlangen, der ihnen dadurch entstanden ist, dass die Richtlinie nicht fristgerecht umgesetzt worden ist. Diesbezüglich verwies der Gerichtshof auf die einschlägigen Entscheidungen zum gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrecht328. Im Urteil „Carbonari u. a.“ von 1999329 stellte sich die Frage, ob die Kläger aufgrund der Richtlinie 82/76/EWG330 für die Zeit ihrer Weiterbil320
EuGH, Fn. 316, I-5399, Rn. 22. EuGH, Fn. 316, I-5399, Rn. 25. 322 EuGH, Fn. 316, I-5400, Rn. 26. 323 EuGH, Fn. 316, I-5400, Rn. 27. 324 EuGH v. 24. September 1998, Rs. C-111/97 (EvoBus Austria), Slg. 1998, I-5411. 325 Richtlinie des Rates v. 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor, ABl. L 76, S. 14. 326 EuGH, Fn. 324, I-5436, Rn. 15. 327 EuGH, Fn. 324, I-5437, Rn. 18 f. 328 EuGH, Fn. 324, I-5438, Rn. 21. 329 EuGH v. 25. Februar 1999, Rs. C-131/97 (Carbonari u. a.), Slg. 1999, I-1103. 321
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
dung zum Facharzt einen Anspruch auf eine „angemessene Vergütung“ haben. Auf nationale Vorschriften konnten sie sich in diesem Zusammenhang nicht berufen, denn die Richtlinie war in Italien nicht umgesetzt worden. Die einschlägigen Richtlinienbestimmungen konnten ebenfalls nicht geltend gemacht werden, da eine unmittelbare Anwendung nicht möglich war. So fehlte es an der inhaltlichen Unbedingtheit331. Der EuGH betonte allerdings, dass ein mitgliedstaatliches Gericht die nationalen Vorschriften richtlinienkonform auszulegen habe332. Wie zuvor in der „EvoBus Austria“-Entscheidung wies er darauf hin, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz der den Bürgern durch die Nichtumsetzung einer Richtlinie verursachten Schäden verpflichtet seien, wenn das nationale Recht nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann333. Unter Bezugnahme auf das Urteil „Bonifaci u. a.“ äußerte er hierzu, dass eine rückwirkende, ordnungsgemäße und vollständige Anwendung der Maßnahmen zur Durchführung der Richtlinie genügen könne, um den entstandenen Schaden angemessen wiedergutzumachen334. Im Rahmen des Urteils „Hospital Ingenieure Krankenhaustechnik Planungs-Gesellschaft“ von 1999335 hatte der EuGH zu prüfen, ob Art. 2 Abs. 8 oder andere Bestimmungen der Richtlinie 89/665/EWG336 dahingehend auszulegen sind, dass im Fall der Nichtumsetzung der Richtlinie 92/50/EWG337 die für Verfahren zur Nachprüfung der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten auch zur Entscheidung in Verfahren zur Nachprüfung der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge befugt sind. Bei der Beantwortung dieser Frage konnte der EuGH auf das Urteil „Tögel“ verweisen, in dem er diese Frage schon verneint hatte338. An330
Richtlinie des Rates v. 26. Januar 1982 zur Änderung der Richtlinie 75/362/EWG für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung der Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr sowie der Richtlinie 75/363/EWG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes, ABl. L 43, S. 21. 331 EuGH, Fn. 329, I-1134, Rn. 47. 332 EuGH, Fn. 329, I-1134, Rn. 48 f. 333 EuGH, Fn. 329, I-1135, Rn. 52. 334 Vgl. EuGH, Fn. 329, I-1135, Rn. 53. 335 EuGH v. 4. März 1999, Rs. C-258/97 (Hospital Ingenieure Krankenhaustechnik Planungs-Gesellschaft), Slg. 1999, I-1405. 336 Richtlinie des Rates v. 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, ABl. L 395, S. 33. 337 Richtlinie des Rates v. 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge, ABl. L 209, S. 1. 338 EuGH, Fn. 316.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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gesichts der Verpflichtung Österreichs, die Ziele der nicht rechtzeitig umgesetzten Richtlinie 92/50/EWG zu erreichen, verdeutlichte er, dass eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts geboten sei339, die Möglichkeit einer unmittelbaren Anwendbarkeit bestehe340 und für den Fall, dass das nationale Recht nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann, eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Betracht komme341. Im Urteil „Gozza u. a.“ von 2000342 hatte der EuGH über die Frage zu befinden, ob die Bestimmungen der Richtlinie 82/76/EWG343, welche die Verpflichtung betreffen, die Weiterbildung auf Voll- und Teilzeitbasis angemessen zu vergüten, unmittelbar anwendbar sind und welches die Kriterien für die Festsetzung der angemessenen Vergütung sind. Der Gerichtshof verwies diesbezüglich auf seine Entscheidung in der Rechtssache „Carbonari u. a.“344. Den nationalen Gerichten sei alles für die Entscheidung dieser Art von Rechtsstreit Erforderliche an die Hand gegeben worden345. Gleichwohl wiederholte der EuGH, dass die Italienische Republik gegenüber den Bürgern zum Ersatz der verursachten Schäden verpflichtet sei, wenn das mit der Koordinierungsrichtlinie angestrebte Ziel nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung erreicht werden kann. Der Gerichtshof machte deutlich, unter welchen Voraussetzungen sich eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ergeben kann346. Schließlich bekräftigte er, dass eine rückwirkende, ordnungsgemäße und vollständige Anwendung der Maßnahmen zur Durchführung der Richtlinie genügen könne, um den entstandenen Schaden angemessen wiedergutzumachen347.
339
EuGH, Fn. 335, I-1433, Rn. 25. EuGH, Fn. 335, I-1434, Rn. 26. 341 EuGH, Fn. 335, I-1434, Rn. 27. 342 EuGH v. 3. Oktober 2000, Rs. C-371/97 (Gozza u. a.), Slg. 2000, I-7881. 343 Richtlinie 82/76/EWG des Rates vom 26. Januar 1982 zur Änderung der Richtlinie 75/362/EWG für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr sowie der Richtlinie 75/363/EWG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes, ABl. L 43, S. 21. 344 EuGH, Fn. 329. 345 EuGH, Fn. 342, I-7910, Rn. 33. 346 EuGH, Fn. 342, I-7912, Rn. 38. 347 EuGH, Fn. 342, I-7912, Rn. 39. 340
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
b) Fehlerhafte Richtlinienumsetzung Das Urteil „Daihatsu“ von 1997348 des EuGH erging anlässlich eines vom Verband deutscher Daihatsu-Händler e. V. eingeleiteten Verfahrens. Der Verband hatte beim Amtsgericht Kempen den Antrag gestellt, der Daihatsu-Deutschland GmbH unter Androhung von Zwangsmitteln aufzugeben, ihre Jahresbilanzen vorzulegen. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt, da nach der Regelung des § 335 HGB, die der Umsetzung von Art. 6 der Richtlinie 68/151/EWG349 diente, Verfahren mit Maßnahmen zur Erzwingung einer Offenlegung des Jahresabschlusses nur auf Antrag eines Gesellschafters, Gläubigers oder des Gesamtbetriebsrats bzw. Betriebsrats eingeleitet werden konnten. Es stellte sich jedoch die Frage, ob Art. 6 der Richtlinie 68/151/EWG350 durch § 335 HGB überhaupt korrekt umgesetzt worden war. Der EuGH befand, dass dies nicht geschehen sei351. Er trug damit dem Bestreben des Rates Rechnung, durch den Erlass der Richtlinie dafür zu sorgen, dass die in Jahresabschlüssen enthaltenen Informationen jeder interessierten Person zugänglich gemacht werden352. Der Gerichtshof prüfte, ob Art. 6 der Richtlinie gegenüber der Daihatsu-Deutschland GmbH unmittelbar angewandt werden kann. Wie schon in „Faccini Dori“ und „El Corte Inglés“ kam der EuGH auch in der Rechtssache „Daihatsu“ zu dem Ergebnis, dass Richtlinien keine horizontale Direktwirkung entfalten353. Er stellte jedoch klar, dass dieses Ergebnis der Anwendbarkeit des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts nicht entgegenstehe354. In dem Urteil „Andersson“ von 1999355 stellte sich für den EuGH die Frage, ob die Haftung des schwedischen Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch die nicht ordnungsgemäße Umsetzung einer Richtlinie entstan348 EuGH v. 4. Dezember 1997, Rs. C-97/96 (Daihatsu), Slg. 1997, I-6843. Dazu: de Weerth, BB 1998, 366; Wilken, DStR 1998, 215; Lenenbach, DZWir 1998, 265; Luttermann, EuZW 1998, 264; Schön, JZ 1998, 194; Hirte, NJW 1999, 36; Nassall, WM 1999, 657. 349 Richtlinie des Rates v. 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Art. 58 Abs. 2 (Art. 48 Abs. 2 EG) des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. L 65, S. 8. 350 Richtlinie des Rates v. 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Art. 58 Abs. 2 (Art. 48 Abs. 2 EG) des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. L 65, S. 8. 351 EuGH, Fn. 348, I-6865, Rn. 23. 352 Vgl. EuGH, Fn. 348, I-6865, Rn. 22. 353 EuGH, Fn. 348, I-6865, Rn. 24. 354 EuGH, Fn. 348, I-6866, Rn. 25. 355 EuGH, Fn. 208.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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den sind, ausgelöst werden kann, wenn die im Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse in der Zeit vor dem Beitritt des ehemaligen EFTAStaates Schwedens zur Europäischen Union stattgefunden haben. Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass dies nicht möglich sei, denn die Ereignisse, durch die die in der Richtlinie vorgesehene Garantie ausgelöst wird, hätten vor dem Zeitpunkt des EU-Beitritts gelegen356. Im Rahmen des Urteils „Alcatel Austria“ von 1999357 war wie schon zuvor in den Rechtssachen „Tögel“358 und „Hospital Ingenieure Krankenhaus Planungs-Gesellschaft“359 die Richtlinie 89/665/EWG360 der Auslegungsgegenstand. Das vorlegende Gericht wollte wissen, ob Art. 2 Abs. 1 lit. a u. b i. V. m. Abs. 6 UAbs. 2 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die einem Vertragsschluss vorangehende Entscheidung des Auftraggebers darüber, mit welchem Bieter eines Vergabeverfahrens er den Vertrag schließt, einem besonderen Nachprüfungsverfahren zugänglich zu machen. Der EuGH befand, dass eine solche Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Art. 2 Abs. 1 lit. a u. b i. V. m. Abs. 6 UAbs. 2 der Richtlinie bestehe361. Nach österreichischem Recht war die Entscheidung über die Auftragsvergabe jedoch nicht anfechtbar, da es sich um eine im inneren Organisationssystem des Auftraggebers getroffene Entscheidung ohne Außenwirkung handelte. Die Richtlinie 89/665/EWG war also nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden. Zudem war zweifelhaft, ob das nationale Recht richtlinienkonform ausgelegt werden kann. Der Gerichtshof verwies vor diesem Hintergrund auf das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht, nach dem der Ersatz der Schäden verlangt werden könne, die dadurch entstanden sind, dass die Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurde362. Das Urteil „Evans“ von 2003363 betraf die Frage, ob die Richtlinie 84/5/EWG364 im Vereinigten Königreich ordnungsgemäß umgesetzt worden 356
EuGH, Fn. 208, I-3595, Rn. 46. EuGH v. 28. Oktober 1999, Rs. C-81/98 (Alcatel Austria), Slg. 1999, I-7671. Dazu: Hausmann, EuZW 1999, 762; Brinker, JZ 2000, 462. 358 EuGH, Fn. 316. 359 EuGH, Fn. 335. 360 Richtlinie des Rates v. 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, ABl. L 395, S. 33. 361 EuGH, Fn. 357, I-7708, Rn. 43. 362 EuGH, Fn. 357, I-7710, Rn. 49. 363 EuGH v. 4. Dezember 2003, Rs. C-63/01 (Evans), Slg. 2003, I-14447. 364 Zweite Richtlinie des Rates v. 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, ABl. L 8, S. 17. 357
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
ist. Im Ausgangsverfahren hatte Samuel Sidney Evans geltend gemacht, dass ihm durch Mängel bei der Richtlinienumsetzung ein Schaden entstanden sei und dass diese Mängel einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht begründeten, aufgrund dessen er Schadensersatz verlangen könne. Der EuGH ließ allerdings offen, ob die Richtlinie tatsächlich fehlerhaft umgesetzt worden ist. Die Prüfung dessen sollte vielmehr vom vorlegenden Gericht vorgenommen werden. Auch die gegebenenfalls zu treffende Entscheidung über eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung wurde dem nationalen Gericht überlassen. Der EuGH zeigte lediglich auf, unter welchen Voraussetzungen ein Mitgliedstaat für die fehlerhafte Umsetzung einer Richtlinie zu haften hat365. Im Rahmen der Entscheidung wies der EuGH das vorlegende Gericht allerdings auf bestimmte Umstände hin, die bei der Prüfung, ob tatsächlich Umsetzungsfehler vorliegen, zu berücksichtigen waren366. Das Urteil „Farrell“ von 2007367 erging anlässlich eines Vorabentscheidungsersuchens des irischen High Court. Die Klägerin Frau Farrell hatte geltend gemacht, die dritte Richtlinie 90/232/EWG368 sei nicht ordnungsgemäß in das nationale Recht transformiert worden. Hintergrund des Rechtsstreits war ein Straßenverkehrsunfall am 26. Januar 1996, bei dem sich Frau Farrell Verletzungen zugezogen hatte. Zum Zeitpunkt des Unfalls saß sie im hinteren Teil eines Lieferwagens auf dem Boden, da der Wagen dort nicht mit Sitzgelegenheiten ausgestattet war. Der Eigentümer und Fahrzeugführer Herr Whitty war allerdings nicht versichert, weshalb sich Frau Farrell direkt an das „Motor Insurers Bureau of Ireland“ (MIBI) wandte, das aufgrund einer nationalen Vereinbarung dazu verpflichtet war, Verkehrsunfallopfern Schadensersatz zu leisten, wenn ein beteiligter Fahrzeugführer nicht die im Road Traffic Act 1961 vorgeschriebene Haftpflichtversicherung abgeschlossen hat. Das MIBI weigerte sich jedoch, Schadensersatz zu leisten, da der hintere Teil des Lieferwagens mit Sitzgelegenheiten weder konstruiert noch gebaut sei. Der EuGH urteilte in diesem Zusammenhang, Art. 1 der Dritten Richtlinie sei dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegenstehe, nach der die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung die Haftung für Personenschäden von Einzelpersonen nicht deckt, die in einem Teil eines Kraftfahrzeugs mitfahren, der mit Sitzgelegenheiten für Mitfahrer weder konstruiert noch gebaut ist369. Der EuGH ließ offen, ob 365
EuGH, Fn. 363, I-14523, Rn. 83. EuGH, Fn. 363, I-14506, Rn. 20 ff. 367 EuGH v. 19. April 2007, Rs. C-356/05 (Farrell), abrufbar über http://curia. europa.eu. Dazu: Ebers, VuR 2007, 269. 368 Richtlinie des Rates v. 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, ABl. L 129, S. 33. 369 EuGH, Fn. 367, Rn. 36. 366
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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die Dritte Richtlinie gegenüber dem MIBI eine unmittelbare Drittwirkung entfaltet, da das vorlegende Gericht insoweit keine ausreichenden Angaben gemacht hatte370. Er stellte allerdings unter Bezugnahme auf das Urteil „Francovich u. a.“ klar, dass die Republik Irland jedenfalls verpflichtet sein könnte, den durch die nicht ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie entstandenen Schaden zu ersetzen371. Das Urteil „Jonkman u. a.“ von 2007372 betraf die Auslegung der Richtlinie 79/7/EWG373. Die Klägerinnen, zu denen Frau Jonkman gehörte, waren Flugbegleiterinnen der belgischen Fluggesellschaft Sabena SA und hatten in den 1990er Jahren ihre Rentenansprüche geltend gemacht. In diesem Zusammenhang stellte sich heraus, dass die berücksichtigten Beträge bei Flugbegleiterinnen deutlich geringer waren als bei Flugbegleitern, obwohl ihre Grundgehälter keine Unterschiede aufwiesen. Nach verschiedenen Urteilen des EuGH374 wurde das nationale Recht dahingehend korrigiert, dass Flugbegleiterinnen, die diese Tätigkeit in der Zeit vom 1. Januar 1964 bis 31. Dezember 1980 ausgeübt hatten, fortan Anspruch auf eine Altersrente hatten, die nach denselben Modalitäten wie bei den Flugbegleitern berechnet wurde, sofern sie im Wege der Einmalzahlung die für die Berichtigung erforderlichen Beiträge zuzüglich Zinsen in Höhe von 10 % pro Jahr eingezahlt hatten. Die Berichtigungsbeiträge bestanden im Wesentlichen aus der Differenz zwischen den von den Flugbegleiterinnen in der Zeit vom 1. Januar 1964 bis 31. Dezember 1980 entrichteten Beiträgen und den von den Flugbegleitern im selben Zeitraum entrichteten höheren Beiträgen. Der EuGH stellte fest, dass das Erfordernis der Zahlung eines Berichtigungsbeitrags als solches nicht diskriminierend sei375. Allerdings erklärte der Gerichtshof, die Richtlinie 79/7/EWG schließe es aus, dass ein Mitgliedstaat, wenn er eine Regelung erlässt, mit der ursprünglich diskriminierten Personen eines bestimmten Geschlechts die Möglichkeit gegeben werden soll, in den Genuss des für die Personen des anderen Geschlechts geltenden Rentensystems zu kommen, verlangt, dass zuzüglich zu den Berichtigungsbeiträgen andere als die zum Ausgleich der Geldentwertung bestimmten Zin370
EuGH, Fn. 367, Rn. 41. EuGH, Fn. 367, Rn. 43. 372 EuGH v. 21. Juni 2007, Rs. C-231/06 bis C-233/06 (Jonkman u. a.), abrufbar über http://curia.europa.eu. 373 Richtlinie des Rates v. 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, ABl. 1979, L 6, S. 24. 374 EuGH v. 25. Mai 1971, Rs. 80/70 (Defrenne I), Slg. 1971, 445; EuGH v. 8. April 1976, Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455; EuGH v. 15. Juni 1978, Rs. 149/77 (Defrenne III), Slg. 1978, 1365. 375 EuGH, Fn. 372, Rn. 21 f. 371
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
sen gezahlt werden. Die Richtlinie schließe es auch aus, dass diese Zahlung als Einmalzahlung verlangt wird, wenn durch diese Voraussetzung die beabsichtigte Berichtigung praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert wird. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn der zu zahlende Betrag die Jahresrente des Betroffenen übersteigt376. Anlässlich der Frage des vorlegenden Gerichts nach den Verpflichtungen eines Mitgliedstaats, die sich aus einem Vorabentscheidungsurteil ergeben, wies der Gerichtshof schließlich auch auf das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht hin. Er unterstrich, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet sei, die Schäden zu ersetzen, die dem Einzelnen durch den Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind. Sind die Voraussetzungen einer solchen Verpflichtung erfüllt, sei es Sache des nationalen Gerichts, die sich aus diesem Grundsatz ergebenden Konsequenzen zu ziehen377. c) Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nationaler Rechtsvorschriften Im Urteil „Petrie u. a. I“ von 1997378 hatte der EuGH darüber zu befinden, ob die Art. 5 u. 48 EWG-Vertrag (Art. 10 u. 39 EG) und die Art. 1 u. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 dahingehend auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaates entgegenstehen, nach der Lehraufträge für akademische Lehrveranstaltungen, auch wenn sie nur vertretungsweise abgehalten werden, ausschließlich an beamtete Professoren und bestätigte wissenschaftliche Mitarbeiter vergeben werden können. Der Gerichtshof urteilte, dass eine solche Regelung nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße379. Er bekräftigte jedoch, dass es gegen Art. 48 EWG (Art. 39 EG) verstoßen habe, dass nach einem bis zum 7. Februar 1994 geltenden italienischen Gesetz der Besitz der italienischen Staatsangehörigkeit die Voraussetzung dafür war, eine Stelle als beamteter Professor oder bestätigter wissenschaftlicher Mitarbeiter zu bekommen380. Diesbezüglich kam auch eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Betracht. Daher wies der EuGH darauf hin, dass die Betroffenen vor den zuständigen Gerichten im Rahmen der geeigneten Verfahren des nationalen Rechts und unter den in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ vorgesehenen Voraussetzungen381 auf den Ersatz des Schadens klagen könnten, der ihnen
376 377 378 379 380 381
EuGH, Fn. 372, Rn. 35. EuGH, Fn. 372, Rn. 40. EuGH v. 20. November 1997, Rs. C-90/96 (Petrie u. a. I), Slg. 1997, I-6527. EuGH, Fn. 378, I-6559, Rn. 57. EuGH, Fn. 378, I-6552, Rn. 30. EuGH, Fn. 78, I-1149, Rn. 51.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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durch die Auferlegung der gemeinschaftsrechtswidrigen Voraussetzung entstanden ist382. Das Urteil „N“ von 2006383 erging anlässlich eines Vorabentscheidungsersuchens des Gerichtshofs Arnheim (Niederlande). Hintergrund des dort anhängigen Rechtsstreits war, dass Herr N. am 22. Januar 1997 seinen ständigen Wohnsitz von den Niederlanden in das Vereinigte Königreich verlegt und in diesem Zusammenhang die Stundung der Steuerforderungen für das Jahr 1997 beantragt hatte. Das Steuerrecht der Niederlande sah seinerzeit vor, dass der Wertzuwachs besteuert wird, wenn ein Steuerpflichtiger in einen anderen Staat umzieht, ohne dass Wertminderungen, die möglicherweise nach der Verlegung des Wohnsitzes eintreten, berücksichtigt worden wären. Die Stundung der Steuerforderungen war davon abhängig gemacht worden, dass Sicherheiten geleistet werden. Herr N. war deshalb gezwungen, Anteile an einer seiner drei niederländischen Gesellschaften zu verpfänden. Der EuGH befand, dass Artikel 43 EG der niederländischen Steuerregelung entgegenstehe, da sie nicht verhältnismäßig sei384. Im weiteren Verlauf der Urteilsbegründung bezog sich der Gerichtshof schließlich auch auf das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht. Bezüglich der Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes befand er, dass es sich bei den betroffenen Normen des Gemeinschaftsrechts um Bestimmungen des Vertrages handele, die schon lange vor dem im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt gegolten hätten und unmittelbar anwendbar gewesen seien. Allerdings habe es am 1. Januar 1997, als die streitige Besteuerungsregelung in Kraft trat, noch nicht das Urteil „De Lasteyrie du Saillant“385 gegeben, in dem erstmals entschieden worden ist, dass die Verpflichtung, als Voraussetzung für die Stundung Sicherheiten zu leisten, gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt386. Damit hat der EuGH das vorlegende Gericht darauf hingewiesen, dass der Gemeinschaftsrechtsverstoß des niederländischen Gesetzgebers entschuldbar gewesen ist.
382
EuGH, Fn. 378, I-6553, Rn. 31. EuGH v. 7. September 2006, Rs. C-470/04 (N), zu finden unter http://curia. europa.eu. Dazu: Köhler/Eicker, DStR 2006, 1871. 384 EuGH, Fn. 383, Rn. 54 f. 385 EuGH v. 11. März 2004, Rs. C-9/02 (De Lasteyrie du Saillant), Slg. 2004, I-2409. 386 EuGH, Fn. 383, Rn. 66. 383
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
II. Exekutives Unrecht 1. Grundlegende Urteile a) Das Urteil „Hedley Lomas“ von 1996 (Gemeinschaftsrechtswidrige Verweigerung einer Ausfuhrgenehmigung) In der Rechtssache „Hedley Lomas“387 hatte der EuGH erstmals über die Frage zu befinden, ob ein Mitgliedstaat für einen Gemeinschaftsrechtsverstoß der Exekutive zu haften hat. Kläger in dem Ausgangsrechtsstreit war das irische Unternehmen Hedley Lomas Ltd., das sich gegen die Weigerung des Ministeriums für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung von England und Wales wandte, eine am 7. Oktober 1992 beantragte Genehmigung für die Ausfuhr von lebenden Schafen nach Spanien zu erteilen. Das Ministerium hatte seine Haltung damit begründet, dass die Tiere in den spanischen Schlachtbetrieben auf eine Weise behandelt würden, die der Richtlinie 74/577/EWG388 zuwiderlaufe389. Zwar verfügte es über keine umfassenden Beweise für die Gesamtsituation in den spanischen Schlachthöfen, es konnte sich allerdings auf Auskünfte des spanischen Tierschutzverbandes stützen390. Der Gerichtshof entschied diesbezüglich, dass die Verweigerung der Ausfuhrgenehmigung eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung darstelle, die nach Art. 29 EG verboten sei und auch nicht gemäß Art. 30 EG gerechtfertigt werden könne. Ein Rückgriff auf Art. 30 EG sei nämlich nicht möglich, wenn Richtlinien der Gemeinschaft die Harmonisierung der Maßnahmen vorsehen, die zur Verwirklichung des jeweiligen Ziels, das durch den Rückgriff auf Art. 30 EG erreicht werden soll, erforderlich sind391. Hinsichtlich der Frage, ob das Vereinigte Königreich für den Gemeinschaftsrechtsverstoß des Ministeriums haften muss, urteilte der EuGH, dass die in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ aufgestellten Haftungsvoraussetzungen392 auch in der Rechtssache „Hedley Lomas“ gelten würden393. Damit hat er klargestellt, dass die Haftungsvoraussetzungen nicht 387 EuGH v. 23. Mai 1996, Rs. C-5/94 (Hedley Lomas), Slg. 1996, I-2553. Dazu: Emiliou, ELR 1996, 399; Kroll, S. 199 ff.; Magnus/Wurmnest, S. 207 ff.; Geiger, S. 173 ff. 388 Richtlinie des Rates vom 18. November 1974 über die Betäubung von Tieren vor dem Schlachten, ABl. L 316, S. 10. 389 Vgl. EuGH, Fn. 387, I-2606, Rn. 3. 390 Vgl. EuGH, Fn. 387, I-2607, Rn. 7. 391 EuGH, Fn. 387, I-2611, Rn. 18. 392 Vgl. EuGH, Fn. 78, I-1149, Rn. 51. 393 EuGH, Fn. 387, I-2613, Rn. 26.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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nur bei legislativen Gemeinschaftsrechtsverstößen Anwendung finden, sondern auch bei exekutiven. Dies war angesichts der im Urteil „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ erfolgten Feststellung, dass es nicht darauf ankomme, welches mitgliedstaatliche Organ gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hat394, konsequent. Die erneute Heranziehung der in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“-Rechtsprechung festgelegten Voraussetzungen hat zudem das Bestreben des Gerichtshofs offenbart, die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung unabhängig von der konkreten Fallgestaltung unter jeweils gleichen Bedingungen eintreten zu lassen. Zwar wiederholte der Gerichtshof, dass die Voraussetzungen, unter denen die Staatshaftung einen Entschädigungsanspruch eröffnet, von der Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht abhängen würden395, doch kann dies nicht darüber hinweg täuschen, dass sich der EuGH um Einheitlichkeit im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts bemüht hat. In der Rechtssache „Hedley Lomas“ beschränkte sich der Gerichtshof auf die Prüfung der ersten beiden Haftungsvoraussetzungen. Die dritte Voraussetzung sollte vom vorlegenden Gericht geprüft werden396. Das Vorliegen der ersten Voraussetzung bejahte der EuGH, da Art. 29 EG dem Einzelnen Rechte verleihe, welche die Gerichte der Mitgliedstaaten zu wahren hätten397. Bezüglich der zweiten Voraussetzung führte er aus, dass „die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat, der zum Zeitpunkt dieser Rechtsverletzung nicht zwischen verschiedenen gesetzgeberischen Möglichkeiten zu wählen hatte und über einen erheblich verringerten oder gar auf Null reduzierten Gestaltungsraum verfügte, ausreichen [kann], um einen hinreichend qualifizierten Verstoß anzunehmen“398.
Ist das Ermessen stark reduziert, kann also regelmäßig von einer hinreichenden Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes ausgegangen werden399. Ergibt sich ein Staatshaftungsanspruch, muss dieser, wie der EuGH abschließend auch in „Hedley Lomas“ betonte, unter Berücksichtigung des Diskriminierungsverbotes und des Effizienzgebotes nach nationalem Recht vollzogen werden400.
394 395 396 397 398 399 400
EuGH, Fn. 78, I-1145, Rn. 32. EuGH, Fn. 387, I-2612, Rn. 24. EuGH, Fn. 387, I-2614, Rn. 30. EuGH, Fn. 387, I-2613, Rn. 27. EuGH, Fn. 387, I-2613, Rn. 28. Vgl. Magnus/Wurmnest, S. 208. EuGH, Fn. 387, I-2614, Rn. 31.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
b) Das Urteil „Comateb u. a.“ von 1997 (Gemeinschaftsrechtswidrige Abgabenerhebung) Das Urteil „Comateb u. a.“401 muss dem Schwerpunkt nach der Erstattungsrechtsprechung des EuGH zugeordnet werden. Der Gerichtshof ging jedoch auch auf die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ein. Dem Ausgangsrechtsstreit lagen die Klagen von Importeuren zugrunde, die den „octroi de mer“ auf Waren in der Zeit vom 17. Juli bis 31. Dezember 1992 auf Waren entrichtet hatten, die aus anderen Mitgliedstaaten oder einem anderen Teil des französischen Hoheitsgebietes nach Guadeloupe eingeführt worden waren. Rechtsgrundlage für die Erhebung des „octroi de mer“ waren Dekrete von 1947 und ein Gesetz von 1984. Im Hinblick auf die in den Entscheidungen „Legros“402 und „Lancry u. a.“403 festgestellte Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer solchen Abgabe hatten die Kläger die Erstattung der erhobenen Abgaben verlangt. Die Regelung des Art. 352bis des Code des douanes bestimmte jedoch, dass eine Erstattung nicht möglich ist, wenn die gezahlten Abgaben auf den Abnehmer abgewälzt worden sind. Der EuGH befand diesbezüglich, dass der Abgabenpflichtige trotz einer Abwälzung der Abgaben auf den Abnehmer einen Nachteil haben könne, da die durch die Abwälzung der Abgabe bewirkte Erhöhung des Preises zu einer Verringerung seines Absatzes führe. Eine aus der Erstattung der erhobenen Abgaben resultierende ungerechtfertigte Bereicherung sei in dem Fall ganz oder teilweise ausgeschlossen404. Soweit der Abgabenpflichtige nach innerstaatlichem Recht einen Nachteil geltend machen könne, sei es Sache des nationalen Rechts, ihn zu beseitigen405. Nach diesen Ausführungen äußerte sich der EuGH zu der Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung: „Im Übrigen steht es dem Abgabenpflichtigen frei, bei den zuständigen Gerichten nach den einschlägigen Verfahren des nationalen Rechts und unter den im Urteil vom 5. März 1996 in den verbundenen Rechtssachen C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029) genannten Voraussetzungen unabhängig von der Frage der Abwälzung dieser Abgabe den Ersatz des wegen der ohne Rechtsgrund erfolgten Erhebung der Abgabe erlittenen Schadens zu fordern“406. 401 EuGH v. 14. Januar 1997, Rs. C-192/95 bis C-218/95 (Comateb u. a.), Slg. 1997, S. I-165. Dazu: Schilling, EuZW 1997, 118. 402 EuGH v. 16. Juli 1992, Rs. C-163/90 (Legros), Slg. 1992, I-4625. 403 EuGH v. 9. August 1994, Rs. C-363/93 u. C-407/93 bis C-411/93 (Lancry u. a.), Slg. 1994, I-3957. 404 EuGH, Fn. 401, I-191, Rn. 32. 405 EuGH, Fn. 401, I-191, Rn. 33. 406 EuGH, Fn. 401, I-192, Rn. 34.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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Der EuGH hat durch diese Ausführungen klargestellt, dass im Fall gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben nicht nur eine Erstattung in Betracht kommt, sondern auch eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung. Hierin liegt die Bedeutung der „Comateb u. a.“-Entscheidung. Schadensersatz kann der Abgabenpflichtige indes nur verlangen, wenn er auch einen Schaden erlitten hat. Der Nachweis eines solchen gelingt allerdings nur schwerlich, wenn der Abgabenpflichtige die Abgaben auf den Abnehmer abgewälzt hat. Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung auf die Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung wegen der gemeinschaftsrechtswidrigen Abgabenerhebung, also exekutiven Unrechts, hingewiesen. Ebenso hätte er aber auch auf legislatives Unrecht abstellen können. Schließlich wurde der „octroi de mer“ auf der Grundlage gemeinschaftsrechtswidriger Rechtsvorschriften erhoben. c) Das Urteil „Norbrook Laboratories“ von 1998 (Aufstellen gemeinschaftsrechtswidriger Genehmigungsvoraussetzungen) Die „Norbrook Laboratories“-Entscheidung407 des EuGH betraf einen Rechtsstreit zwischen dem Unternehmen Norbrook Laboratories Ltd. und dem Ministerium für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung des Vereinigten Königreiches. Das Ministerium hatte die Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Tierarzneimittels von bestimmten Voraussetzungen abhängig gemacht. Der Gerichtshof prüfte, ob die Voraussetzungen mit den Richtlinien 81/851/EWG408 und 81/852/EWG409 zu vereinbaren sind. Die Prüfung ergab, dass mehrere Voraussetzungen gegen die Richtlinien verstießen und daher nicht hätten aufgestellt werden dürfen410. In diesem Zusammenhang hatte der EuGH darüber zu befinden, ob das Vereinigte Königreich die Schäden ersetzen muss, die dadurch entstanden sind, dass die Erteilung der Genehmigung von gemeinschaftsrechtswidrigen Voraussetzungen abhängig gemacht worden war. Zunächst zeigte der Gerichtshof auf, unter welchen Voraussetzungen sich eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ergeben kann411. Im Hinblick auf die erste Voraussetzung dieses Anspruchs erklärte er dann, 407
EuGH v. 2. April 1998, Rs. C-127/95 (Norbrook Laboratories), Slg. 1998, I-1531. 408 Richtlinie des Rates v. 28. September 1981 zur Angleichung der Rechtsvorschriften über Tierarzneimittel, ABl. L 317, S. 1. 409 Richtlinie des Rates v. 28. September 1981 über die analytischen, toxikologisch-pharmakologischen und tierärztlichen oder klinischen Vorschriften und Nachweise über Versuche mit Tierarzneimitteln, ABl. L 317, S. 16. 410 EuGH, Fn. 407, I-1589, Rn. 71. 411 EuGH, Fn. 407, I-1598, Rn. 106 f.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
„dass die Richtlinie 81/851, indem sie vorschreibt, dass der Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen nur aus den in ihr aufgeführten Gründen abgelehnt werden kann, dem Einzelnen das Recht verleiht, eine Genehmigung zu erhalten, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Voraussetzungen sind, wie im vorliegenden Urteil festgestellt, in den Richtlinien 81/851 und 81/852 genau und abschließend festgelegt. Der Inhalt des Rechts, das demjenigen verliehen wird, der eine Genehmigung für das Inverkehrbringen beantragt, kann daher auf der Grundlage dieser Richtlinie bestimmt werden“412.
Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, verleiht die Richtlinie 81/851 Rechte an Einzelne. Dies wäre nicht so, wenn die Richtlinie im Vereinigten Königreich nicht umgesetzt worden wäre. Dann hätte sich allenfalls über die Vorschrift des Art. 249 Abs. 3 EG, welche die Verleihung subjektiver Rechte durch die Richtlinie bezweckt, eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ergeben können. Erstmals hatte der EuGH also über einen Verstoß gegen eine in nationales Recht transformierte Richtlinie zu befinden. Damit hat der EuGH klargestellt, dass auch Verstöße gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nach sich ziehen können. Bezüglich der zweiten Haftungsvoraussetzung wies er erneut darauf hin, dass die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat, der zum Zeitpunkt dieser Rechtsverletzung nicht zwischen verschiedenen gesetzgeberischen Möglichkeiten zu wählen hatte und über einen erheblich verringerten oder gar auf Null reduzierten Gestaltungsspielraum verfügte, ausreichen könne, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß anzunehmen413. Die Prüfung dieser Voraussetzung überlies er aber den nationalen Gerichten. Das Gleiche gilt auch für die dritte Voraussetzung. So verdeutlichte er nur, dass es eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs bedürfe414. d) Das Urteil „Brinkmann I“ von 1998 (Fehlerhafte Auslegung des Gemeinschaftsrechts) In der Rechtssache „Brinkmann I“415 hatte der EuGH über die Frage zu befinden, ob ein Tabakerzeugnis, das aus einer Tabakrolle besteht, die zum Rauchen mit Zigarettenpapier umhüllt werden muss, eine Zigarette oder Rauchtabak im Sinne der Richtlinie 79/32/EWG416 darstellt. Das Momsnævn, die höchste dänische Steuerbehörde, hatte zuvor entschieden, dass die 412
EuGH, Fn. 407, I-1599, Rn. 108. EuGH, Fn. 407, I-1599, Rn. 109. 414 EuGH, Fn. 407, I-1600, Rn. 110. 415 EuGH, Fn. 132. 416 Richtlinie des Rates v. 18. Dezember 1978 über die anderen Verbrauchsteuern auf Tabakwaren als die Umsatzsteuer, ABl. 1979, L 10, S. 8. 413
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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Tabakrollen zum gleichen Satz wie Zigaretten zu besteuern seien. Da die Richtlinie 79/32/EWG bis zum damaligen Zeitpunkt nicht vollständig in das dänische Recht transformiert worden war, stützte sich das Momsnævn bei seiner Entscheidung unmittelbar auf die Vorschriften der Richtlinie, die genaue Definitionen für Tabakwaren enthielten. Der EuGH stellte jedoch fest, dass das Tabakerzeugnis als Rauchtabak anzusehen sei, da die betreffende Tabakrolle als solche nicht geraucht werden könne, sondern entweder in eine Zigarettenhülse hinein geschoben oder mit gewöhnlichem Zigarettenpapier umhüllt werden müsse417. Die Auslegung der Richtlinienbestimmungen durch das Momsnævn ist also fehlerhaft gewesen. Neben legislativem Unrecht, dass sich infolge der fehlerhaften Umsetzung der Richtlinie 79/32/EWG ergeben hatte, lag also auch exekutives vor. Folgerichtig bezog sich der EuGH im Rahmen seiner Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine gemeinschaftsrechtliche Haftung des dänischen Staates gegeben sind, auf beide Gemeinschaftsrechtsverstöße. Nachdem der Gerichtshof auf die Grundlagen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts eingegangen war, prüfte er zunächst, ob sich aufgrund der fehlerhaften Umsetzung der Richtlinie eine gemeinschaftsrechtliche Haftung Dänemarks ergibt. Er kam zu dem Ergebnis, dass der dänische Staat nicht für die fehlerhafte Umsetzung der Richtlinie haften müsse. Dies begründete er folgendermaßen: „Im vorliegenden Fall besteht jedoch kein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht und dem der Firma Brinkmann angeblich entstandenen Schaden. Denn die dänischen Behörden haben unmittelbar die einschlägigen Vorschriften der Zweiten Richtlinie angewendet, die genaue Definitionen für Tabakwaren enthalten. Der Umstand, dass die Definitionen der Zweiten Richtlinie nicht durch ministerielle Vorschriften umgesetzt worden sind, löst daher als solcher keine Haftung des Staates aus“418.
Diese Begründung ist nachvollziehbar, denn unmittelbar kausal für den geltend gemachten Schaden ist in der Tat die fehlerhafte Auslegung des Momsnævn gewesen. Wäre die Richtlinie ordnungsgemäß in nationales Recht transformiert worden, hätte die Auslegung des Momsnævn vermutlich nichts anderes ergeben. Der EuGH verneinte eine gemeinschaftsrechtliche Haftung Dänemarks jedoch auch in Bezug auf die fehlerhafte Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch das Momsnævn. Allerdings ließ er die Haftung nicht erst am Erfordernis eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs scheitern, sondern schon an der Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes. So befand der EuGH, dass das fragliche Tabakerzeugnis Westpoint nicht völlig genau der einen oder der anderen Definition der Richtlinie entspreche. 417 418
EuGH, Fn. 132, I-5279, Rn. 17 ff. EuGH, Fn. 132, I-5281, Rn. 29.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
„Es handelt sich vielmehr um ein Erzeugnis, das es bei Erlass der Zweiten Richtlinie noch nicht gab und mit dem den Verbrauchern die Vorteile einer Zigarette geboten und gleichzeitig die niedrigere Besteuerung des Rauchtabaks genutzt werden sollte. Unter diesen Voraussetzungen stand die Auslegung, die die dänischen Behörden den einschlägigen Definitionen gegeben haben, nicht offensichtlich im Widerspruch zum Wortlaut der Zweiten Richtlinie und insbesondere nicht zu dem mit dieser verfolgten Ziel, um so mehr als die finnische Regierung und die Kommission für eine solche Auslegung eingetreten sind“419.
Die gemeinschaftsrechtswidrige Auslegung des Momsnævn ist also entschuldbar gewesen. Trotz legislativen und exekutiven Unrechts ist eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung somit ausgeschieden. Die Bedeutung des Urteils „Brinkmann I“ beruht auf dem Umstand, dass der EuGH erstmals über eine Gemengelage entschieden hat. Bei genauerer Betrachtung ist festzustellen, dass auch in anderen Fällen Gemengelagen vorgelegen haben. In „Comateb u. a.“ etwa verstieß die Abgabenerhebung gegen das Gemeinschaftsrecht, weil eine gemeinschaftsrechtswidrige Vorschrift des nationalen Rechts angewendet worden war420. In solchen Fällen kommt es jedoch regelmäßig nicht darauf an, ob am Verhalten der Legislative oder dem der Exekutive angeknüpft wird421. e) Das Urteil „Haim II“ von 2000 (Gemeinschaftsrechtswidrige Verweigerung einer Registereintragung) Das Urteil „Haim II“422 erging anlässlich eines Verfahrens, in dem der italienische Staatsangehörige Salomone Haim von der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVN) Ersatz der Schäden verlangt hat, die entstanden waren, weil die KVN die Eintragung des Klägers in das Zahnarztregister mit der Begründung verweigerte hatte, der Kläger habe nicht die zweijährige Vorbereitungszeit nach § 3 ZOK abgeleistet. Wie der EuGH im Rahmen der Entscheidung „Haim I“423 festgestellt hatte, verstieß diese Weigerung gegen Art. 43 EG. Offen war jedoch geblieben, ob in dem Fall, dass ein nationaler Beamter entweder gegen Gemeinschaftsrecht verstoßendes nationales Recht anwendet oder nationales Recht nicht gemeinschaftsrechtskonform auslegt, ein hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß anzunehmen ist. Der EuGH stellte in „Haim II“ insoweit klar, dass die 419
EuGH, Fn. 132, I-5282, Rn. 31. EuGH, Fn. 401. 421 Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), cc). 422 EuGH v. 4. Juli 2000, Rs. C-424/97 (Haim II), Slg. 2000, I-5123. Dazu: Voigtländer, EWiR 2001, 227; Streinz, JuS 2001, 285. 423 EuGH v. 9. Februar 1994, Rs. C-319/92 (Haim I), Slg. 1994, I-425. 420
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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Voraussetzungen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung sowohl erfüllt sein müssen, „wenn die Schäden, deren Ersatz begehrt wird, auf eine Untätigkeit des Mitgliedstaats zurückgehen, z. B. bei der Nichtumsetzung einer Gemeinschaftsrichtlinie, als auch dann, wenn sie auf den Erlass eines gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßenden Gesetzgebungs- oder Verwaltungsakts zurückgehen, unabhängig davon, ob dieser vom Mitgliedstaat selbst oder von einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung erlassen wurde, die vom Staat rechtlich unabhängig ist“424.
Die Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes prüfte der EuGH allerdings nicht selbst, da dies den nationalen Gerichten unter Beachtung der vom EuGH entwickelten Leitlinien obliege425. Hinsichtlich des Gestaltungsspielraumes der Mitgliedstaaten erklärte er aber Folgendes: „Ob und in welchem Umfang er vorliegt, bestimmt sich nach Gemeinschaftsrecht und nicht nach nationalem Recht. Insoweit ist ein dem Beamten oder der Stelle, die den Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht begangen haben, gegebenenfalls nach nationalem Recht eingeräumtes Ermessen unbeachtlich“426.
Zudem wies der Gerichtshof das vorlegende Gericht darauf hin, „dass es sich bei der betreffenden Vorschrift des Gemeinschaftsrechts um eine Vertragsbestimmung handelt, die seit dem – lange vor dem streiterheblichen Zeitpunkt eingetretenen – Ablauf der im Vertrag vorgesehenen Übergangszeit unmittelbar anwendbar ist“427. „Als der deutsche Gesetzgeber § 3 ZOK erließ und die KVN sodann die Eintragung des Klägers in das Zahnarztregister ablehnte, hatte der Gerichtshof jedoch noch nicht das Urteil Vlassopoulou erlassen, in dessen Randnummer 16 er erstmals entschied, dass ein Mitgliedstaat, bei dem die Zulassung zu einem Beruf beantragt wird, dessen Aufnahme nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation abhängt, die Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, die der Betroffene erworben hat, um den gleichen Beruf in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, in der Weise zu berücksichtigen hat, dass er die durch diese Diplome bescheinigten Fachkenntnisse mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleicht“428.
Der EuGH ist somit von einer Entschuldbarkeit des Gemeinschaftsrechtsverstoßes ausgegangen. Unter Bezugnahme auf die „Konle“-Entscheidung429 befand der EuGH in „Haim II“ schließlich, dass jeder Mitgliedstaat 424 425 426 427 428 429
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
Fn. Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.
422, 422, 422, 422, 422, 192.
I-5161, I-5163, I-5162, I-5163, I-5163,
Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.
37. 44. 40. 45. 46.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
sicherstellen müsse, dass dem Einzelnen der Schaden ersetzt wird, der ihm durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden ist, gleichgültig, welche staatliche Stelle diesen Verstoß begangen hat und welche Stelle nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats diesen Schadensersatz grundsätzlich zu leisten hat430. Sodann stellte der Gerichtshof klar: „Die Mitgliedstaaten können sich dieser Haftung mithin nicht dadurch entziehen, dass sie auf die interne Verteilung der Zuständigkeiten und der Haftung auf Körperschaften verweisen, die nach ihrer Rechtsordnung bestehen, oder dass sie geltend machen, der staatlichen Stelle, die den Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht begangen habe, hätten nicht die erforderlichen Befugnisse, Kenntnisse oder Mittel zur Verfügung gestanden“431.
Des Weiteren führte er aus, dass Mitgliedstaaten, in denen – unabhängig davon, ob sie bundesstaatlich aufgebaut sind oder nicht – bestimmte Gesetzgebungs- oder Verwaltungsaufgaben dezentralisiert von öffentlich-rechtlichen Einrichtungen wahrgenommen werden, ihre gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nicht zwangsläufig dadurch erfüllen müssten, dass der Gesamtstaat den Ersatz des durch den Gemeinschaftsrechtsverstoß entstandenen Schadens sicherstellt. Der EuGH erklärte diesbezüglich: „In diesen Mitgliedstaaten können die Schäden, die dem Einzelnen durch innerstaatliche Maßnahmen entstanden sind, die eine öffentlich-rechtliche Einrichtung unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht getroffen hat, daher von dieser ersetzt werden“432. „Gemeinschaftsrechtlich ist es auch nicht zu beanstanden, wenn die Haftung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft auf Ersatz des Schadens, der einem Einzelnen durch von ihr unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht getroffene Maßnahmen entstanden ist, neben derjenigen des Mitgliedstaats selbst gegeben ist“433.
f) Das Urteil „Gervais Larsy“ von 2001 (Gemeinschaftsrechtswidrige Rentenkürzung) Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Gervais Larsy“434 betraf die Altersrente von Gervais Larsy, einem belgischen Staatsangehörigen, der während seiner beruflichen Laufbahn sowohl in Belgien als auch in Frankreich tätig gewesen war und in beiden Ländern Sozialversicherungsbeiträge entrichtet hatte. Neben der belgischen Altersrente erhielt Herr Larsy infolgedessen auch von französischen Rententrägern eine Rente. Im Hinblick auf diese Zahlungen kürzte das belgische Institut national d’assu430 431 432 433 434
EuGH, Fn. 422, I-5159, Rn. 27. EuGH, Fn. 422, I-5159, Rn. 28. EuGH, Fn. 422, I-5160, Rn. 31. EuGH, Fn. 422, I-5160, Rn. 32. EuGH v. 28. Juni 2001, Rs. C-118/00 (Gervais Larsy), Slg. 2001, I-5063.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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rances sociales pour travailleurs indépendants (Inasti) die Herrn Larsy in Belgien zustehende Altersrente. In einer ähnlichen Situation befand sich auch der Bruder von Herrn Larsy, Marius Larsy. Mit dessen Fall hatte sich der EuGH ebenfalls im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens auseinanderzusetzen435. In diesem hatte er geurteilt, dass Art. 43 Abs. 3 der Verordnung 1408/71/EWG436 so auszulegen sei, dass eine darin enthaltene Antikumulierungsvorschrift insoweit nicht anwendbar ist, als eine Person während desselben Zeitraums in zwei Mitgliedstaaten gearbeitet hat und während dieses Zeitraums verpflichtet war, Beiträge zur Altersversicherung in diesen Mitgliedstaaten zu entrichten. Die Herabsetzung der belgischen Altersrente, die auch im Fall Marius Larsy anlässlich französischer Rentenzahlungen erfolgt war, verstieß somit gegen das Gemeinschaftsrecht. Vor dem Hintergrund dieses Urteils beantragte Gervais Larsy beim Inasti die Bewilligung einer ungekürzten Altersrente. Das Inasti gab dem Antrag zwar statt, die Rentenkürzung wurde jedoch nur für die Zeit ab dem 1. Juli 1994 zurückgenommen, da der Antrag außerhalb der in Art. 95 a Abs. 5 der Verordnung 1408/71/EWG vorgesehenen Frist gestellt worden sei. Herr Larsy, dessen Altersrente schon zum 1. März 1987 gekürzt worden war, forderte daraufhin bei dem zuständigen Gericht den Ersatz der Schäden, die ihm infolge der Rentenkürzung entstanden waren. Insofern kam eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Betracht. Ob das Inasti dadurch gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hat, dass es die Rentenkürzung nur für die Zeit ab dem 1. Juli 1994 zurücknahm, war allerdings unklar. Zur Klärung dessen wurde der EuGH eingeschaltet. Dieser stellte einen Gemeinschaftsrechtsverstoß fest, da Art. 95 a der Verordnung 1408/71/EWG keine Anwendung finde437. Anschließend ging er auf die Frage ein, ob ein hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß vorliegt. Dabei bezog sich der Gerichtshof nicht nur auf den Gemeinschaftsrechtsverstoß, der durch die Rücknahme der Rentenkürzung für die Zeit ab dem 1. Juli 1994 verursacht worden war, sondern auch auf den Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht, der darin lag, dass das Inasti die Altersrente von Herrn Larsy überhaupt gekürzt hatte438. Bezüglich des letztgenannten Verstoßes bekräftigte der EuGH, dass ein Gemeinschaftsrechtsverstoß offenkundig qualifiziert sei, wenn er trotz eines Urteils des Gerichtshofes in einem Vorabent435
EuGH v. 2. August 1993, Rs. C-31/92 (Marius Larsy), Slg. 1993, I-4543. Verordnung des Rates v. 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung 2001/83/EWG des Rates v. 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung 1248/92/EWG des Rates v. 30. April 1992 (ABl. L 136, S. 7). 437 EuGH, Fn. 434, I-5095, Rn. 24 ff. 438 EuGH, Fn. 434, I-5095, Rn. 42. 436
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
scheidungsverfahren, aus dem sich die Pflichtwidrigkeit des fraglichen Verhaltens ergibt, fortbestanden hat439. Daraufhin stellte er fest: „Der zuständige Träger hat dadurch, dass er den Antrag des Klägers ablehnte, seine Altersrente wie die seines Bruders auf der Grundlage von 45/45 zu berechnen, nicht alle Konsequenzen aus einem Urteil des Gerichtshofes gezogen, in dem durch Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71, die für die Situation der beiden Betroffenen gleichermaßen galten, die Fragen, die sich dem zuständigen Träger stellten, klar beantwortet wurden“440.
Von einem hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoß ist der EuGH also ausgegangen. Auch die Rücknahme der Rentenkürzung für die Zeit ab dem 1. Juli 1994 stellte nach Ansicht des Gerichtshofs einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht dar, weil vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Viva“441 nicht hätte zweifelhaft sein dürfen, dass Art. 95 a der Verordnung 1408/71/EWG nicht anwendbar ist442. Die Versuche des Inasti, den Gemeinschaftsrechtsverstoß zu rechtfertigen, konnten den EuGH nicht überzeugen443. Die Bedeutung des Urteils „Gervais Larsy“ liegt vornehmlich darin, dass der EuGH eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung erstmals im Fall eines Verstoßes gegen eine Verordnung nach Art. 249 Abs. 2 EG geprüft hat. g) Das Urteil „A.G.M.-COS.MET“ von 2007 (Gemeinschaftsrechtswidrige Äußerungen eines Beamten) Das Urteil des EuGH in der Rechtssache „A.G.M.-COS.MET“444 erging aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens eines finnischen Gerichts (Tampereen käräjäoikeus). Anlass des dort anhängigen Rechtsstreits waren Äußerungen von Herrn Lehtinen, einem Beamten des finnischen Sozialund Gesundheitsministeriums. Dieser war als Sachverständiger in einem laufenden Marktkontrollverfahren vor der Entscheidung der Sache in der Hauptnachrichtensendung eines staatlichen Fernsehsenders aufgetreten und hatte sich sowohl dort als auch in bekannten Tageszeitungen sowie gegenüber Organisationen des Handels und des Arbeitsmarkts dahingehend geäußert, dass von Hebebühnen des italienischen Unternehmens A.G.M.COS.MET Srl. eine unmittelbare Gefahr ausgehe, da unter der angehobenen 439 440 441 442 443 444
EuGH, Fn. 434, I-5101, Rn. 44. EuGH, Fn. 434, I-5101, Rn. 45. EuGH v. 4. Mai 1988, Rs. 83/87 (Viva), Slg. 1988, 2521. EuGH, Fn. 434, I-5101, Rn. 46 ff. EuGH, Fn. 434, I-5102, Rn. 50 ff. EuGH, S. 15, Fn. 4.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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Last gearbeitet werde. Der Gerichtshof stellte fest, dass diesen Hebebühnen die Konformitätsvermutung des Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 98/37/EG445 zugute komme446. Sodann urteilte er, dass die Äußerungen von Herrn Lehtinen geeignet seien, zumindest mittelbar und potentiell das Inverkehrbringen der Hebebühnen zu behindern447. Fraglich war indes, ob dem finnischen Staat die Äußerungen auch zugerechnet werden können. Der EuGH kam zu dem Ergebnis, „dass die Äußerungen eines Beamten dem Staat zurechenbar sind, wenn aufgrund ihrer Form und der Umstände bei den Empfängern der Äußerungen der Eindruck entsteht, dass es sich um offizielle staatliche Verlautbarungen und nicht um die private Meinung des Beamten handelt. Um Äußerungen eines Beamten dem Staat zurechnen zu können, kommt es entscheidend darauf an, ob die Empfänger dieser Äußerungen den Umständen nach annehmen dürfen, dass der Beamte diese Äußerungen mit Amtsautorität macht“448.
Der EuGH erklärte insoweit, dass das vorlegende Gericht insbesondere zu würdigen habe, ob – „der Beamte im Allgemeinen für den betroffenen Bereich zuständig ist, – der Beamte seine schriftlichen Äußerungen unter Verwendung des offiziellen Briefkopfs der zuständigen Stelle abgibt, – der Beamte Fernsehinterviews in den Räumen seiner Dienststelle gibt, – der Beamte nicht auf den privaten Charakter seiner Äußerungen und deren Abweichung von der offiziellen Position der zuständigen Stelle hinweist und – die zuständigen staatlichen Stellen nicht so schnell wie möglich die notwendigen Schritte unternehmen, um bei den Empfängern der Äußerungen des Beamten den Eindruck zu zerstreuen, dass es sich um offizielle staatliche Verlautbarungen handelt“449.
Für den Fall einer Zurechenbarkeit der Äußerungen von Herrn Lehtinen erklärte der Gerichtshof, dass eine Verletzung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/37/EG anzunehmen sei. Eine Rechtfertigung des Gemeinschaftsrechtsverstoßes aus Gründen des Gesundheitsschutzes oder der Meinungsfreiheit lehnte der EuGH ab450. Schließlich äußerte sich der Gerichtshof auch zur Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung. Hinsichtlich der ersten Haftungsvoraussetzung urteilte er, dass die maßgebliche 445 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.06.1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Maschinen, ABl. L 207, S. 1. 446 EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 61. 447 EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 65. 448 EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 66. 449 EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 58. 450 EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 68 ff.
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Regelung des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/37/EG einzelnen Marktteilnehmern Rechte verleihen solle, die sie gegenüber den Mitgliedstaaten einfordern könnten451. In Bezug auf die zweite Haftungsvoraussetzung führte der EuGH aus: „Die Verpflichtungen in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie räumen den Mitgliedstaaten keinen Gestaltungsspielraum ein. Nur Art. 7 der Richtlinie berücksichtigt nämlich das Auftreten späterer Zweifel, ob eine Maschine, deren Übereinstimmung mit den Anforderungen der Richtlinie vermutet wurde, diesen entspricht, und sieht angemessene Maßnahmen vor, ihnen zu begegnen. Folglich ist ein Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie durch Äußerungen wie den im Ausgangsverfahren streitigen, wenn sie dem Mitgliedstaat zugerechnet werden können, als hinreichend qualifiziert anzusehen“452.
Was die dritte Haftungsvoraussetzung betrifft, so ließ es sich der Gerichtshof nicht nehmen, zu bekunden, dass die in Rede stehenden Äußerungen offensichtlich zu einem Rückgang der Umsätze der A.G.M.-COS.MET Srl. von 2000 bis 2002 sowie zu einem Rückgang ihrer Gewinnspanne in den Jahren 2001 und 2002 geführt hätten453. Sodann folgte eine längst überfällige Klarstellung. Der EuGH erklärte, „dass die im Gemeinschaftsrecht begründete Haftung eines Mitgliedstaats nicht der Abschreckung oder als Sanktion dient, sondern auf den Ersatz der Schäden gerichtet ist, die Einzelnen durch Verstöße der Mitgliedstaaten gegen Gemeinschaftsrecht entstehen“454.
Damit steht fest, dass die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung den Individualrechtsschutz bezweckt. Des Weiteren bekräftigte der EuGH, dass das Gemeinschaftsrecht eine effektive Entschädigung verlange und keine zusätzlichen Voraussetzungen aus mitgliedstaatlichem Recht dulde, die ein Erlangen von Schadensersatz oder von bestimmten Schadensersatzarten übermäßig erschweren455. Im Hinblick auf den Umstand, dass die A.G.M.COS.MET Srl. auf der Grundlage des finnischen Rechts nur schwerlich Schadensersatz verlangen konnte456, befand der Gerichtshof: „In diesem Fall entsteht ein Entschädigungsanspruch, wenn nachgewiesen ist, dass die verletzte Rechtsvorschrift bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, und zwischen dem geltend gemachten hinreichend qualifizierten Verstoß und dem dem Betroffenen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht, da diese drei Voraussetzungen erforderlich und ausreichend sind, um einen Entschädigungsanspruch des Einzelnen zu begründen [. . .]“457. 451 452 453 454 455 456
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
S. S. S. S. S. S.
15, 15, 15, 15, 15, 15,
Fn. Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.
4, 4, 4, 4, 4, 4,
Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.
79. 82. 84. 88. 90. 91.
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Hierdurch ist zum Ausdruck gebracht worden, dass der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch zu etwaigen nationalen Haftungsansprüchen in einem Subsidiaritätsverhältnis steht. Auf den subsidiären gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch kann erst dann zurückgegriffen werden, wenn eine Anwendung nationaler Haftungsinstitute ausgeschlossen ist. In diesem Zusammenhang betonte der EuGH, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass eine hinreichend qualifizierte Verletzung des Gemeinschaftsrechts auf ein diesem Staat zurechenbares Verhalten zurückzuführen ist, das nicht unter einen der im betreffenden nationalen Recht abschließend geregelten Tatbestände fällt458. Nachdem der Gerichtshof an die weiteren Bedingungen einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung erinnert hatte459, äußerte er sich zu der Frage, ob es das Gemeinschaftsrecht zulässt oder gar verlangt, die persönliche Haftung eines Beamten vorzusehen, der einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht begangen hat. Unter Bezugnahme auf das Urteil in der Rechtssache „Haim II“460 befand er insoweit, dass es gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn die Haftung eines anderen Rechtssubjekts als eines Mitgliedstaats für die Schäden, die einem Einzelnen durch von diesem Rechtssubjekt unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht getroffene Maßnahmen entstanden sind, neben derjenigen des Mitgliedstaats selbst gegeben ist461. Abschließend stellte der EuGH allerdings klar, „dass im Fall eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht dieses der Möglichkeit der Haftung eines Beamten neben derjenigen des Mitgliedstaats nicht entgegensteht, sie aber nicht verlangt“462.
Der EuGH hat somit eine Beamtenhaftung neben der Staatshaftung für zulässig erachtet. Zugleich hat er jedoch zum Ausdruck gebracht, dass sich eine Beamtenhaftung anstelle der Staatshaftung nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbaren ließe. Eine solche Haftung wäre mit dem Prinzip der praktischen Wirksamkeit auch nicht zu vereinbaren, denn die mitunter beträchtlichen Schadensersatzsummen könnten von einem einzelnen Beamten nicht geleistet werden.
457 458 459 460 461 462
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
S. 15, Fn. S. 15, Fn. S. 15, Fn. Fn. 422. S. 15, Fn. S. 15, Fn.
4, Rn. 92. 4, Rn. 93. 4, Rn. 94 f. 4, Rn. 98. 4, Rn. 99.
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2. Weitere Urteile In dem Urteil „GT-Link A/S“ von 1997 (Gemeinschaftsrechtswidrige Abgabenerhebung)463 ging es wie in der Rechtssache „Comateb u. a.“464 um die Frage der Erstattung gemeinschaftsrechtswidriger Abgaben. Die Aktiengesellschaft GT-Link A/S, die seit 1987 Fährverbindungen zwischen dem Hafen in Gedser (Dänemark) und deutschen Häfen in Travemünde und Rostock betrieb, hatte gegen die dänische Staatsbahn De Danske Statsbaner (DSB) auf Erstattung der erhobenen Schiffs- und Warenabgaben geklagt, da die Erhebung dieser Abgaben ihrer Ansicht nach gegen das Gemeinschaftsrecht verstieß. Die Schiffe der DSB und der Deutschen Fährgesellschaft Ostsee mbH (DFO), in deren Häfen für die Schiffe der DSB keine Abgaben entrichtet werden mussten, waren von der Zahlung der Hafenabgaben befreit. Hinsichtlich der Einfuhr ausländischer Waren verlangte die DSB in den Häfen einen Zuschlag von 40% der allgemeinen Warenabgabe. Der EuGH hatte in dem Urteil „Haahr Petroleum“465 die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer solchen Abgabe festgestellt. Sie sei nicht mit Art. 90 EG zu vereinbaren466. In der Rechtssache „GT-Link A/S“ verwies der Gerichtshof auf diese Entscheidung467. Darüber hinaus erklärte er, Art. 86 Abs. 1 i. V. m. Art. 82 EG verbiete es, dass ein Unternehmen wie die DSB aufgrund einer nationalen Regelung unangemessene Hafenabgaben erhebt oder von seiner eigenen Fährlinie und auf der Basis der Gegenseitigkeit von der Fährlinie seiner Geschäftspartner nicht erhebt, soweit derartige Befreiungen die Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen mit sich bringen würden468. Bezüglich der Erstattung der erhobenen Abgaben bekräftigte er, dass ein Mitgliedstaat grundsätzlich verpflichtet sei, die unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben zu erstatten, außer wenn feststehe, dass die zur Zahlung dieser Abgaben herangezogenen Personen sie tatsächlich auf andere abgewälzt haben469. Dies gelte auch, wenn nicht der Staat, sondern ein öffentliches Unternehmen, das dem Verkehrsministerium untersteht und dessen Haushalt im Haushaltsgesetz enthalten ist, die Abgaben erhoben hat470. Abschließend wies der EuGH auch auf die Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung hin. So bekräftigte er, dass die Abgabenpflichtigen nicht daran gehin463 464 465 466 467 468 469 470
EuGH v. 17. Juli 1997, Rs. C-242/95 (GT-Link A/S), Slg. 1997, I-4449. EuGH, Fn. 401. EuGH v. 17. Juli 1997, Rs. C-90/94 (Haahr Petroleum), Slg. 1997, I-4085. EuGH, Fn. 465, I-4156, Rn. 44. EuGH, Fn. 463, I-4467, Rn. 46. EuGH, Fn. 463, I-4461, Rn. 20. EuGH, Fn. 463, I-4471, Rn. 58. EuGH, Fn. 463, I-4471, Rn. 59.
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dert seien, bei den zuständigen Gerichten nach den einschlägigen Verfahren des nationalen Rechts und unter den im Urteil „Brasserie du pêcheur und Factortame“ genannten Voraussetzungen471 unabhängig von der Frage der Abwälzung der Abgabe Ersatz des Schadens zu verlangen, den sie wegen der Erhebung der nicht geschuldeten Abgaben erlitten haben472. In dem Urteil „Dounias“ von 2000 (Gemeinschaftsrechtswidrige Festsetzung eines überhöhten Handelswertes)473 hatte der EuGH über einen Rechtsstreit zu befinden, der die Festsetzung eines überhöhten Handelswertes durch griechische Behörden betraf. Diese hatten für aus Deutschland nach Griechenland eingeführte Fotokopiergeräte einen Handelswert festgesetzt, der höher war als in den Rechnungen ausgewiesen und nach dem sich die Steuerlast des Empfängers richtete. In diesem Zusammenhang hatte der EuGH unter anderem die Frage zu beantworten, ob das Gemeinschaftsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der bei Staatshaftungsklagen ein Zeugenbeweis nur in Ausnahmefällen möglich ist. Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass dies nicht der Fall sei474. Einen Verstoß gegen das Effizienzgebot oder das Diskriminierungsverbot konnte er nicht feststellen475. Das Urteil „Eman u. Sevinger“ von 2006 (Gemeinschaftsrechtswidrige Ablehnung der Eintragung in ein Wählerverzeichnis)476 erging anlässlich eines Rechtsstreits vor dem Raad van State des Königreichs der Niederlande. Die Kläger des Ausgangsverfahrens hatten sich dagegen gewandt, dass ihre Eintragung in das Wählerverzeichnis für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments wegen ihres Wohnsitzes auf Aruba abgelehnt worden war. Der Gerichtshof befand insoweit, dass es beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts zulässig sei, wenn die Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für das aktive und passive Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parlament unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts nach dem Kriterium des Wohnsitzes in dem Hoheitsgebiet, in dem die Wahlen abgehalten werden, festlegen. Zugleich wurde aber erklärt, der Grundsatz der Gleichbehandlung verbiete es, dass die gewählten Kriterien eine Ungleichbehandlung von Staatsangehörigen bewirken, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden, ohne dass diese Ungleichbehandlung objektiv gerechtfertigt ist477. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, wie die 471
EuGH, Fn. 78, I-1149, Rn. 51. EuGH, Fn. 463, I-4471, Rn. 60. 473 EuGH v. 3. Februar 2000, Rs. C-228/98 (Dounias), Slg. 2000, I-577. 474 EuGH, Fn. 473, I-624, Rn. 72. 475 Vgl. EuGH, Fn. 473, I-624, Rn. 70 f. 476 EuGH v. 12. September 2006, Rs. C-300/04 (Eman u. Sevinger), abrufbar über http://curia.europa.eu. 477 EuGH, Fn. 476, Rn. 61. 472
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
Rechte einer Person, der aufgrund einer gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Vorschrift die Eintragung in das Wählerverzeichnis für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments verweigert worden ist, wiederhergestellt werden können. Diesbezüglich erinnerte der EuGH an die Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung478. Allerdings ist fraglich, welcher Schaden Bürgern entstehen soll, wenn sie aufgrund von gemeinschaftsrechtswidrigen Vorschriften von der Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments ausgeschlossen sind.
III. Judikatives Unrecht 1. Das Urteil „Köbler“ von 2003 (Gemeinschaftsrechtsverstoß eines letztinstanzlichen Gerichts) Mit dem Urteil „Köbler“479 hat der EuGH ein neues Kapitel auf dem Gebiet des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts aufgeschlagen. Erstmals stellte er ausdrücklich fest, dass die Mitgliedstaaten auch für judikative Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht zu haften hätten. Die zuvor ergangenen Entscheidungen indizierten diese Position lediglich. So hatte der Gerichtshof in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“480, „Konle“481 und „Haim II“482 entschieden, dass es für eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nicht darauf ankomme, welches mitgliedstaatliche Organ gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hat. Die Gelegenheit, die nicht abschließend geklärte Frage einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht zu beantworten, ergab sich anlässlich eines Verfahrens vor dem Landgericht für Zivilrechtssachen Wien. Herr Köbler, ein ordentlicher Professor der Universität Innsbruck, verlangte von der Republik Österreich Ersatz des ihm durch die Nichtauszahlung einer besonderen Dienstalterszulage entstandenen Schadens, da das Urteil des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes vom 24. Juni 1998 den unmittelbar anwendbaren Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts widerspreche, die der EuGH in seinen Urteilen 478
EuGH, Fn. 476, Rn. 69 f. EuGH, S. 15, Fn. 3. Dazu: Breuer, BayVBl. 2003, 586; Obwexer, EuZW 2003, 726; Frenz, DVBl. 2003, 1522; Schwarzenegger, ZfRV 2003, 236; Sensburg, NVwZ 2004, 179; Wegener, EuR 2004, 84; v. Danwitz, JZ 2004, 301; Gundel, EWS 2004, 8; Kluth, DVBl. 2004; 393; Hakenberg, DRiZ 2004, 113; Storr, DÖV 2005, 545; Classen, CMLR 2004, 813; Schulze, ZeuP 2004, 1049; Radermacher, NVwZ 2004, 1415; Wattel, CMLR 2004, 177; Wolf, WM 2005, 1345; Krieger, JuS 2004, 855; Kiethe, WRP 2006, 29; Wegener/Held, Jura 2004, 479. 480 Vgl. EuGH, Fn. 78, I-1145, Rn. 32. 481 Vgl. EuGH, Fn. 192, I-3099, Rn. 62. 482 Vgl. EuGH, Fn. 422, I-5159, Rn. 27. 479
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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dahingehend ausgelegt habe, dass eine besondere Dienstalterszulage keine Treueprämie darstelle. In dem besagten Urteil hatte der Verwaltungsgerichtshof in letzter Instanz entschieden, dass Herrn Köbler keine Dienstalterszulage nach § 50 a GG zustehe, weil es sich bei ihr um eine Treueprämie handele, die eine bestimmte Dauer der Dienstleistung als ordentlicher Professor an österreichischen Universitäten voraussetze. Ein Vorabentscheidungsersuchen, das der Verwaltungsgerichtshof in dieser Angelegenheit beim EuGH eingereicht hatte, wurde am gleichen Tag zurückgenommen. Dies alles geschah in Kenntnis des Urteils „Schöning-Kougebetopoulou“483, in dem der EuGH festgestellt hatte, dass eine Regelung, die für Bedienstete des öffentlichen Dienstes einen Zeitaufstieg nach achtjähriger Tätigkeit in einer bestimmten Vergütungsgruppe dieses Tarifvertrags vorsieht und Beschäftigungszeiten außer Betracht lässt, die zuvor in einem vergleichbaren Betätigungsfeld im öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind, gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße484. Die Ansicht der deutschen Regierung, bei der Dienstalterszulage handele es sich um eine Treueprämie, hatte der Gerichtshof nicht geteilt485. Auch in der Rechtssache „Österreichischer Gewerkschaftsbund“486 hatte der EuGH in einer Dienstalterszulage keine Treueprämie erblickt487. Vor dem Hintergrund dieser Entscheidungen war fraglich, ob das Urteil des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juni 1998 nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt. Das Landgericht Wien ersuchte den EuGH in diesem Zusammenhang um Vorabentscheidung. Der Gerichtshof ging zunächst auf die Frage ein, ob die Mitgliedstaaten für judikative Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht zu haften haben. Nachdem er bekräftigt hatte, dass der Grundsatz einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung aus dem Wesen des EG-Vertrages folge488, wurde betont, dass dieser Grundsatz unabhängig davon gelte, welches mitgliedstaatliche Organ durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß begangen hat. Dabei bezog er sich wie schon in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ auf das Völkerrecht489. Dort werde der Staat, dessen Haftung wegen Verstoßes gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung ausgelöst wird, als Einheit betrachtet, ohne zu unterscheiden, ob der schadensverursachende 483 EuGH v. 15. Januar 1998, Rs. C-15/96 (Schöning-Kougebetopoulou), Slg. 1998, I-47. 484 EuGH, Fn. 483, I-69, Rn. 28. 485 EuGH, Fn. 483, I-69, Rn. 27. 486 EuGH v. 30. November 2000, Rs. C-195/98 (Österreichischer Gewerkschaftsbund), Slg. 2000, I-10497. 487 EuGH, Fn. 486, I-10551, Rn. 49. 488 EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10305, Rn. 30. 489 Vgl. EuGH, Fn. 78, I-1145, Rn. 34.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
Verstoß der Legislative, der Judikative oder der Exekutive zuzurechnen ist. Dasselbe müsse erst recht in der Gemeinschaftsrechtsordnung gelten, da alle staatlichen Instanzen einschließlich der Legislative bei der Erfüllung ihrer Aufgaben die vom Gemeinschaftsrecht vorgeschriebenen Normen, die die Situation des Einzelnen unmittelbar regeln, zu beachten hätten490. Sodann urteilte er: „In Anbetracht der entscheidenden Rolle, die die Judikative beim Schutz der dem Einzelnen aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zustehenden Rechte spielt, wäre die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der Einzelne unter bestimmten Voraussetzungen dann keine Entschädigung erlangen könnte, wenn seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats zuzurechnen ist“491.
Wie sich aus diesen Ausführungen ergibt, argumentierte der EuGH mit dem Prinzip der praktischen Wirksamkeit und dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes. Hinsichtlich dieses Grundsatzes befand der Gerichtshof zudem, dass dem Einzelnen nicht die Befugnis genommen werden dürfe, den Staat haftbar zu machen, um auf diesem Weg den gerichtlichen Schutz der ihm aufgrund des Gemeinschaftsrecht zustehenden Rechte zu erlangen, da eine durch eine rechtskräftige Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts erfolgte Verletzung dieser Rechte nicht rückgängig gemacht werden könne492. Im Übrigen sei ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, insbesondere deshalb nach Artikel 234 EG zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet, um zu verhindern, dass dem Einzelnen durch das Gemeinschaftsrecht verliehene Rechte verletzt werden493. Nach alledem kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Mitgliedstaaten für judikative Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht zu haften hätten. Im Anschluss daran ging er auf Erklärungen ein, die Regierungen der Mitgliedstaaten im Rahmen des Verfahrens beim EuGH eingereicht hatten. Zunächst stellte er fest: „Die Anerkennung des Grundsatzes der Staatshaftung für Entscheidungen letztinstanzlicher Gerichte stellt jedoch die Rechtskraft einer solchen Entscheidung nicht in Frage. Ein Verfahren zur Feststellung der Haftung des Staates hat nicht denselben Gegenstand und nicht zwangsläufig dieselben Parteien wie das Verfahren, das zur rechtskräftigen Entscheidung geführt hat. Obsiegt nämlich der Kläger mit einer Haftungsklage gegen den Staat, so erlangt er dessen Verurteilung zum 490 491 492 493
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
S. S. S. S.
15, 15, 15, 15,
Fn. Fn. Fn. Fn.
3, 3, 3, 3,
I-10305, I-10306, I-10306, I-10306,
Rn. Rn. Rn. Rn.
31 f. 33. 34. 35.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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Ersatz des entstandenen Schadens, aber nicht zwangsläufig die Aufhebung der Rechtskraft der Gerichtsentscheidung, die den Schaden verursacht hat. Jedenfalls verlangt der der Gemeinschaftsrechtsordnung innewohnende Grundsatz der Staatshaftung eine solche Entschädigung, nicht aber die Abänderung der schadensbegründenden Gerichtsentscheidung“494.
Nachdem er hiermit zum Ausdruck gebracht hatte, dass der Grundsatz der Rechtskraft einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht nicht entgegensteht, äußerte er sich zu der Ansicht, die richterliche Unabhängigkeit werde durch eine solche Haftung beschränkt: „Was die richterliche Unabhängigkeit betrifft, so geht es bei dem genannten Haftungsgrundsatz nicht um die persönliche Haftung des Richters, sondern um die des Staates. Es ist nicht ersichtlich, dass die Unabhängigkeit eines letztinstanzlichen Gerichts durch die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen die Haftung des Staates für gemeinschaftsrechtswidrige Gerichtsentscheidungen feststellen zu lassen, gefährdet würde“495.
Der Gerichtshof wies auch den Einwand zurück, die Autorität eines letztinstanzlichen Gerichts könnte dadurch geschmälert werden, dass seine rechtskräftigen Entscheidungen implizit in einem Verfahren gerügt werden könnten, das die Feststellung einer Haftung des Staates für diese Entscheidungen ermöglicht. Das Bestehen eines Rechtswegs, der unter bestimmten Voraussetzungen die Wiedergutmachung der nachteiligen Auswirkungen einer fehlerhaften Gerichtsentscheidung ermöglicht, könne nämlich auch als Bekräftigung der Qualität einer Rechtsordnung und damit schließlich auch der Autorität der Judikative angesehen werden496. Hinsichtlich des Vorbringens mehrerer Regierungen, es sei schwierig, ein Gericht zu bestimmen, das für Rechtsstreitigkeiten über den Ersatz von aufgrund von Entscheidungen eines letztinstanzlichen Gerichts entstandenen Schäden zuständig ist, erklärte der EuGH schließlich, dass es nicht seine Aufgabe sei, bei der Lösung von Zuständigkeitsfragen mitzuwirken, die die Qualifizierung einer bestimmten, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhenden Rechtslage im Bereich der nationalen Gerichtsbarkeit aufwirft. Es sei Sache der Mitgliedstaaten, den Betroffenen einen geeigneten Rechtsweg zur Verfügung zu stellen, damit die sich auf den Grundsatz einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung berufen könnten497. Nach diesen Ausführungen verwies er auf die Mitgliedstaaten, denen die Geltung des Grundsatzes der Staatshaftung für Gerichtsentscheidungen in der einen oder anderen Form bekannt sei, wenn auch unter engen und verschiedenartigen Voraussetzungen498. Unter Bezug494 495 496 497 498
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
S. S. S. S. S.
15, 15, 15, 15, 15,
Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.
3, 3, 3, 3, 3,
I-10307, I-10308, I-10308, I-10309, I-10310,
Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.
39. 42. 43. 45. 48.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
nahme auf das Urteil des EGMR in der Rechtssache „Dulaurans“499 zeigte der EuGH zudem auf, dass auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Staat, der ein Grundrecht verletzt hat, zur Entschädigung der verletzten Partei verpflichten kann, wenn die Verletzung auf der Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts beruht500. In einem nächsten Schritt legte der Gerichtshof dar, unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße letztinstanzlicher Gerichte haften. Er befand, dass dieselben Voraussetzungen heranzuziehen seien, die hinsichtlich der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für legislatives bzw. exekutives Unrecht festgelegt worden sind. Eine gemeinschaftsrechtliche Haftung der Mitgliedstaaten für judikatives Unrecht setzt also ebenfalls voraus, dass die verletzte Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Gemeinschaftsrechtsverstoß hinreichend qualifiziert ist und ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden besteht. In Anbetracht der Besonderheit der richterlichen Funktion sowie des Grundsatzes der Rechtssicherheit stellte der EuGH jedoch klar: „Der Staat haftet für eine solche gemeinschaftsrechtswidrige Entscheidung nur in dem Ausnahmefall, dass das Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat“501.
Von einem hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoß kann demnach ausgegangen werden, wenn der Verstoß des letztinstanzlichen Gerichts offenkundig ist. Anders als in zuvor ergangenen Entscheidungen verlangte der Gerichtshof neben der Offenkundigkeit allerdings keine Erheblichkeit des Verstoßes502. Der offenkundige Verstoß eines letztinstanzlichen Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht ist in der Regel jedoch auch erheblich, so dass der Gerichtshof darauf verzichten konnte, das Kriterium der Erheblichkeit ausdrücklich zu erwähnen. Den nationalen Gerichten, die über eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung zu entscheiden haben, verdeutlichte der Gerichtshof, dass sie alle Gesichtspunkte des Einzelfalls zu berücksichtigen hätten, um feststellen zu können, ob ein hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß vorliegt503. Zur Erläuterung dessen fügte er hinzu: „Zu diesen Gesichtspunkten gehören u. a. das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes, die Entschuldbarkeit des 499 EGMR v. 21. März 2000, Rs. 34553/97 (Dulaurans/France), abrufbar über http://www.echr.coe.int/echr. 500 EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10310, Rn. 49. 501 EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10311, Rn. 53. 502 Vgl. etwa EuGH, Fn. 78, I-1150, Rn. 55. 503 EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10311, Rn. 54.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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Rechtsirrtums, gegebenenfalls die Stellungnahme eines Gemeinschaftsorgans sowie die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG durch das in Rede stehende Gericht“504. „Ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes offenkundig verkennt (vgl. in diesem Sinne Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame, Randnr. 57)“505.
Im Anschluss an die allgemeinen Feststellungen zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht, bezog sich der EuGH auf den konkreten Fall. Er hatte über die Frage zu befinden, ob das Gemeinschaftsrecht es untersagt, eine besondere Dienstalterszulage, die nach der vom Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil vom 24. Juni 1998 vertretenen Auslegung eine Treueprämie darstellt, nach Maßgabe einer Bestimmung wie der des § 50 a GG zu gewähren. Er erklärte, dass eine Maßnahme wie die Gewährung der besonderen Dienstalterszulage nach § 50 a GG die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beeinträchtige und in diesem Zusammenhang gegen Art. 39 EG und Art. 7 der Verordnung Nr. 1612/68 verstoße, weil Dienstzeiten, die ein Universitätsprofessor in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Österreich geleistet hat, nicht berücksichtigt würden506. Dieser Gemeinschaftsrechtsverstoß ist nach Ansicht des Gerichtshofs auch nicht gerechtfertigt gewesen507. Die Dienstalterszulage bewirke nicht nur eine Honorierung der Treue des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber, sondern führe auch zu einer Abschottung des Arbeitsmarkts für Universitätsprofessoren in Österreich508. Schließlich hatte der EuGH darüber zu befinden, ob der österreichische Staat für die Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juni 1998 haften muss. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass über eine solche Frage grundsätzlich die nationalen Gerichte zu entscheiden hätten509. Da der Gerichtshof jedoch über alle Angaben verfügte, um feststellen zu können, ob die Haftungsvoraussetzungen gegeben sind, prüfte er diese selbst. Hinsichtlich der ersten Voraussetzung stellte er fest, dass die in Rede stehenden Gemeinschaftsrechtsnormen der Art. 39 EG und 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1612/68 bezweckten, dem Einzelnen Rechte zu verleihen510. Die erste Haftungsvoraussetzung war also gegeben. Ob auch die zweite Haftungsvoraussetzung er504 505 506 507 508 509 510
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
S. S. S. S. S. S. S.
15, 15, 15, 15, 15, 15, 15,
Fn. Fn. Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.
3, 3, 3, 3, 3, 3, 3,
I-10311, I-10312, I-10316, I-10320, I-10320, I-10324, I-10324,
Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.
55. 56. 70 ff. 87. 86. 100. 102 f.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
füllt ist, war hingegen fraglich. Nach Auffassung des Gerichtshofs sei der Gemeinschaftsrechtsverstoß des Verwaltungsgerichtshofs mangels Offenkundigkeit nicht hinreichend qualifiziert gewesen511. Er begründete dies folgendermaßen: „Das Gemeinschaftsrecht regelt nämlich die Frage, ob eine Maßnahme wie eine Treueprämie, die den Arbeitnehmer an seinen Arbeitgeber bindet, aber zugleich die Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigt, gerechtfertigt und somit mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sein kann, nicht ausdrücklich. Diese Frage war auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofes noch nicht beantwortet worden. Darüber hinaus lag die Antwort nicht auf der Hand“512.
Sodann erklärte der EuGH allerdings, dass diesem Ergebnis die Verpflichtung des Verwaltungsgerichtshofs, sein Vorabentscheidungsverfahren aufrechtzuerhalten, nicht entgegenstehe, da der Verwaltungsgerichtshof die Rücknahme des Vorabentscheidungsersuchens in der Annahme beschlossen hatte, dass die Antwort auf die zu entscheidende Frage bereits im EuGHUrteil „Schöning-Kougebetopoulou“ gegeben worden sei513. In diesem Zusammenhang stellte er klar, dass die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG zu den bei der Prüfung der hinreichenden Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes zu berücksichtigenden Gesichtspunkten gehört514. Die Verletzung der Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG kann also durchaus eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nach sich ziehen, wenngleich die offensichtliche Verletzung der Vorlagepflicht als solche im Ergebnis keine haftungsbegründende Wirkung haben dürfte515. Der Generalanwalt Léger hatte dies in seinen Schlussanträgen allerdings anders gesehen516. Im Gegensatz zum EuGH war der Generalanwalt im Übrigen davon ausgegangen, dass der vom Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf Bedeutung und Tragweite des Art. 39 EG begangene Fehler unentschuldbar sei und somit die Haftung des Staates auslösen könne517. 2. Das Urteil „Traghetti del Mediterraneo“ von 2006 (Gemeinschaftsrechtsverstoß eines letztinstanzlichen Gerichts) Im Urteil „Traghetti del Mediterraneo“518 hat sich der EuGH erneut mit der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht auseinander gesetzt. Das Tribunale Genua hatte dem Gerichtshof zwei Fragen 511 512 513 514 515 516 517
EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10325, Rn. 104 ff. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10329, Rn. 122. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10329, Rn. 123. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10311, Rn. 55. Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (3), (a). GA Leger, S. 15, Fn. 3, I-10280, Rn. 148. GA Leger, S. 15, Fn. 3, I-10288, Rn. 174.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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zur Vorabentscheidung vorgelegt. Da sich die erste mit dem Urteil in der Rechtssache „Köbler“ erledigt hatte, wurde das Vorabentscheidungsersuchen auf die zweite Vorlagefrage beschränkt. Fraglich blieb, ob die italienischen Rechtsvorschriften über die Staatshaftung für von Richtern begangene Fehler einer gemeinschaftsrechtlichen Haftung der Mitgliedstaaten für judikatives Unrecht entgegenstehen. Die Regelung des Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 117/88519 sah vor, dass die Auslegung der Rechtsvorschriften und die Sachverhalts- und Beweiswürdigung im Rahmen der Ausübung der Rechtsprechungsaufgaben keine Haftung für judikatives Unrecht auslösen können. Des Weiteren folgte aus Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 117/88, dass eine solche Haftung nur im Fall vorsätzlichen oder grob fehlerhaften Verhaltens des Richters möglich ist520. Im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 117/88 erklärte der Gerichtshof nationale Rechtsvorschriften für gemeinschaftsrechtswidrig, die allgemein die Haftung des Mitgliedstaates für Schäden ausschließen, die dem Einzelnen dadurch entstanden sind, dass ein letztinstanzliches Gericht bei der Auslegung von Rechtsvorschriften oder der Sachverhalts- und Beweiswürdigung gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hat521. Der Gerichtshof wies zwar zunächst auf die Besonderheit der richterlichen Funktion sowie die Belange der Rechtssicherheit hin522, sodann stellte er allerdings klar, dass die Notwendigkeit, dem Einzelnen einen effektiven gerichtlichen Schutz der ihm aufgrund des Gemeinschaftsrechts zustehenden Rechte zu gewährleisten, es nicht zulasse, dass der Staat allein deshalb nicht haftbar gemacht werden kann, weil sich ein einem letztinstanzlichen nationalen Gericht zuzurechnender Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht aus der Auslegung von Rechtsvorschriften durch dieses Gericht ergibt523:
518 EuGH v. 13. Juni 2006, Rs. C-173/03 (Traghetti del Mediterraneo), zu finden unter http://curia.europa.eu. Dazu: Seegers, EuZW 2006, 564; Tietjen, EWS 2007, 14; Haratsch, JZ 2006, 1176. 519 Legge nº 117 [sul] risarcimento dei danni cagionati nell’esercizio delle funzioni giudiziarie e responsabilità civile dei magistrati, GURI Nr. 88 vom 15. April 1988, S. 3. 520 Gemäß Art. 2 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 117/88 liegt grob fehlerhaftes Verhalten vor bei: 1. Einem schwerwiegenden Gesetzesverstoß aufgrund unentschuldbarer Fahrlässigkeit; 2. Der Bejahung eines nach den Verfahrensakten unbestreitbar ausgeschlossenen Umstands aufgrund unentschuldbarer Fahrlässigkeit; 3. Der Verneinung eines aus den Verfahrensakten unbestreitbar hervorgehenden Umstands aufgrund unentschuldbarer Fahrlässigkeit; 4. Dem Erlass von Verfügungen über die Freiheit der Person außerhalb der gesetzlich vorgesehenen Fälle oder ohne Begründung. 521 EuGH, Fn. 518, Rn. 46. 522 EuGH, Fn. 518, Rn. 32. 523 EuGH, Fn. 518, Rn. 33.
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3. Teil: Die Judikatur des EuGH zur Staatshaftung
„Zum einen gehört nämlich die Auslegung von Rechtsvorschriften gerade zum Wesen der Rechtsprechungstätigkeit, da der Richter, um welchen Tätigkeitsbereich es auch immer gehen mag, wenn ihm voneinander abweichende oder einander widersprechende Ansichten vorgetragen werden, gewöhnlich die einschlägigen – nationalen und/oder gemeinschaftlichen – Rechtsvorschriften auslegen muss, um den ihm vorliegenden Rechtsstreit zu entscheiden. Zum anderen lässt sich nicht ausschließen, dass es gerade bei der Ausübung einer solchen Auslegungstätigkeit zu einem offenkundigen Verstoß gegen das geltende Gemeinschaftsrecht kommt, etwa wenn der Richter einer materiellen oder verfahrensrechtlichen Gemeinschaftsbestimmung, insbesondere im Hinblick auf die jeweils einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes, eine offensichtlich falsche Bedeutung zumisst (vgl. in diesem Sinne Urteil Köbler, Randnr. 56) oder das nationale Recht auf eine Weise auslegt, die in der Praxis zu einem Verstoß gegen das geltende Gemeinschaftsrecht führt“524.
Der EuGH befand zudem, dass die Möglichkeit einer Haftung des Staates nicht schon deswegen ausgeschlossen werden dürfe, weil der dem nationalen Gericht vorgeworfene Verstoß die von diesem vorgenommene Sachverhalts- oder Beweiswürdigung betrifft525: „Zum einen stellt diese Würdigung nämlich ebenso wie die Auslegung von Rechtsvorschriften einen weiteren wesentlichen Aspekt der Rechtsprechungstätigkeit dar, weil die Anwendung der Rechtsvorschriften auf den jeweiligen Fall unabhängig von der Auslegung, der der mit einer bestimmten Rechtssache befasste nationale Richter folgt, oft davon abhängen wird, wie dieser Richter den Sachverhalt sowie den Wert und die Relevanz der von den Parteien des Rechtsstreits zu diesem Zweck beigebrachten Beweise würdigt. Zum anderen kann auch eine solche Würdigung – für die manchmal komplexe Prüfungen erforderlich sind – in bestimmten Fällen zu einem offenkundigen Verstoß gegen das geltende Recht führen, ob sie nun im Rahmen der Anwendung der besonderen Vorschriften über die Beweislast, den Wert der betreffenden Beweise oder die Zulässigkeit der Beweisarten oder im Rahmen der Anwendung von Vorschriften, die eine rechtliche Qualifizierung des Sachverhalts erfordern, durchgeführt wird“526.
Hinsichtlich Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 117/88 tenorierte der Gerichtshof, dass das Gemeinschaftsrecht nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, die diese Haftung auf Fälle von Vorsatz oder grob fehlerhaftem Verhalten des Richters begrenzen, sofern diese Begrenzung dazu führe, dass die Haftung des betreffenden Mitgliedstaates in weiteren Fällen ausgeschlossen ist, in denen ein offenkundiger Verstoß gegen das anwendbare Recht begangen wurde527. Zur Begründung führte er an, es könne „zwar nicht ausgeschlossen werden, dass das nationale Recht die Kriterien hinsichtlich der Natur oder des Grades des Verstoßes festlegt, die erfüllt sein müssen, 524 525 526 527
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
Fn. Fn. Fn. Fn.
518, 518, 518, 518,
Rn. Rn. Rn. Rn.
34 u. 35. 37, 40. 39. 46.
B. Die Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil „Francovich u. a.“
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damit der Staat für einen einem letztinstanzlichen nationalen Gericht zuzurechnenden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht haftet, doch können mit diesen Kriterien auf keinen Fall strengere Anforderungen aufgestellt werden, als sie sich aus der Voraussetzung eines offenkundigen Verstoßes gegen das geltende Recht ergeben, wie sie in den Randnummern 53 bis 56 des Urteils Köbler beschrieben ist“528.
Der EuGH hat sich in seinem Urteil nicht dazu geäußert, ob die von der Klägerin reklamierten Verstöße tatsächlich als Gemeinschaftsrechtsverstöße anzusehen sind529. Er hat sich darauf beschränkt, die offene Frage des Tribunale Genua zu beantworten. Anders als Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 117/88 hat der Gerichtshof die Regelung des Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 117/88 nicht vorbehaltlos für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt. Vielmehr hat er die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Bestimmung davon abhängig gemacht, dass der Gemeinschaftsrechtsverstoß des letztinstanzlichen Gerichts offenkundig ist. Nur wenn ein offenkundiger Gemeinschaftsrechtsverstoß vorliegt, steht der Grundsatz einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht der Anwendbarkeit des in Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 117/88 kodifizierten Richterprivilegs entgegen. Eine eigenständige Bedeutung im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts kommt der Haftungsbeschränkung des Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 117/88 gleichwohl nicht zu. So scheitert eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung entweder mangels eines offenkundigen Gemeinschaftsrechtsverstoßes oder die Regelung des Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 117/88 darf nicht angewandt werden.
528
EuGH, Fn. 518, Rn. 44. Angesichts der Entscheidung der Kommission vom 21. Juni 2001 über eine staatliche Beihilfe Italiens zugunsten der Seeverkehrsgesellschaft Tirrenia di Navigazione (ABl. L 318, S. 9), in der die in Rede stehende Beihilfe für gemeinschaftsrechtmäßig erklärt wurde, kann bezweifelt werden, dass die Corte suprema di cassazione das Gemeinschaftsrecht falsch ausgelegt und dadurch gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hat. Allenfalls könnte ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EG angenommen werden. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung kommt insofern jedoch nicht in Betracht. Zum einen vermittelt die prozessuale Regelung des Art. 234 Abs. 3 EG keine subjektiven Rechte des Einzelnen (vgl. Wegener, EuR 2004, 84, 89 f.), zum anderen wäre der unmittelbare Kausalzusammenhang nur schwerlich nachzuweisen. 529
4. Teil
Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts Ausgehend von der Entscheidung „Francovich u. a.“ hat der EuGH im Rahmen seiner Rechtsprechung ein Staatshaftungsrecht entwickelt, das unmittelbar im Gemeinschaftsrecht begründet ist1. Nachfolgend soll das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts und die rechtlichen Hintergründe seiner Entwicklung eingehend erläutert werden.
A. Die Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts Die Entwicklung von Rechtsinstituten durch die Judikative ist nicht nur eine Erscheinung des Gemeinschaftsrechts. Auch auf nationaler Ebene gibt es immer wieder Rechtsprechungsentwicklungen, die zur Entstehung von Richterrecht führen2. Die richterliche Rechtsfortbildung ist allerdings nur innerhalb bestimmter Grenzen zulässig. Während die Judikative vornehmlich zur Rechtsanwendung berufen ist, obliegt es grundsätzlich der Legislative, Rechtsakte zur Fortbildung des bestehenden Rechts zu erlassen. Ist die Legislative dieser Aufgabe jedoch nicht oder nicht in ausreichendem Maße nachgekommen, kann es ausnahmsweise zulässig sein, dass die Gerichte selbst rechtsschöpfend tätig werden. Wenngleich der Grundsatz einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in den Mitgliedstaaten mittlerweile Anerkennung gefunden hat, soll nicht darauf verzichtet werden, seine Entwicklung im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung zu beleuchten. Schließlich stieß die Schaffung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts gerade in Deutschland auf heftige Kritik3.
1
Vgl. EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5415, Rn. 41. Bestes Beispiel sind die im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung geschaffenen Institute des deutschen Staatshaftungsrechts, vgl. 4. Teil, C., II., 1. 3 Vgl. etwa Ukrow, S. 307 ff.; v. Danwitz, JZ 1994, 335 (338 ff.). 2
A. Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
119
I. Die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH Der EuGH hat das Gemeinschaftsrecht durch seine kontinuierliche Rechtsprechungstätigkeit in vielen Bereichen fortentwickelt. In Anbetracht dessen drängt sich die Frage nach seiner Kompetenz4 auf. Gemäß Art. 220 EG hat der Gerichtshof die Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EG-Vertrages zu sichern. Der Terminus „Recht“ in Art. 220 EG umfasst alle verbindlichen Normen einer weit verstandenen Gemeinschaftsrechtsordnung5. Insoweit folgt aus Art. 220 EG eine Abkehr vom Rechtspositivismus6. Die Tätigkeit des Gerichtshofs ist nicht auf die Anwendung des geschriebenen primären und sekundären Gemeinschaftsrechts beschränkt7. So zählen zum „Recht“ im Sinne des Art. 220 EG auch das Gemeinschaftsgewohnheitsrecht, die allgemeinen Rechtsgrundsätze und Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, die Regeln des allgemeinen Völkerrechts und die völkerrechtlichen Verträge der Gemeinschaft8. Hinter alledem steht die Gerechtigkeitsidee der europäischen Verfassungskultur, die sich sowohl in den Verfassungen der Mitgliedstaaten als auch im Gemeinschaftsrecht niedergeschlagen hat9. Dieser Idee verpflichtet, erfüllt der EuGH die Aufgabe der Wahrung des Rechts im Sinne von Art. 220 EG. Er kontrolliert, ob das Handeln der Gemeinschaftsorgane und das der Mitgliedstaaten mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist. Allgemein anerkannt ist, dass ihm dabei eine Rechtsfortbildungskompetenz zusteht10. So ist das Gemeinschaftsrecht von seiner Konzeption her auf Wandel („dynamisch“) angelegt und lebt von der fortschreitenden Ausgestaltung und Konkretisierung11. Das ergibt sich schon aus der Präambel des EG-Vertrages („die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“) und aus Art. 1 Abs. 2 EU („Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“)12. Der EG-Vertrag enthält 4 Unter Kompetenz ist die gemeinschaftlichen Stellen und Organen eingeräumte und zugeteilte Handlungsmacht zu verstehen, in Verfolgung des gemeinschaftlichen Gemeinwohlauftrags und in Erfüllung zugewiesener gemeinschaftlicher Aufgaben hoheitliche Akte festgelegter und genau bezeichneter Art zu setzen, vgl. Cornils, S. 258; Stettner, S. 35. 5 Wegener, in: Callies/Ruffert, Art. 220 EG, Rn. 8. 6 Ukrow, S. 91 ff.; Sander, S. 46. 7 Zum primären Gemeinschaftsrecht zählen in erster Linie die Gründungsverträge von EG und EAG in der jeweils geltenden Fassung einschließlich der Protokolle. Das sekundäre Gemeinschaftsrecht beinhaltet die in Art. 249 EG vorgesehenen Rechtsakte, die von den Gemeinschaftsorganen erlassen wurden. 8 Vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 147, Rn. 374 ff. 9 Streinz, S. 140, Rn. 414. 10 BVerfGE 75, 223 (242, 244); Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 220, Rn. 42. 11 Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733 (734).
120
4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
zudem nur rudimentäre Regelungen über die Ausgestaltung des Gemeinschaftsrechts13. Das Fehlen konkretisierender Vorschriften (sog. „Normendefizit“) macht es erforderlich, dass der Gerichtshof im Einzelfall selbst konkretisierend und damit rechtsfortbildend tätig wird14. Ansonsten würde er sich dem Vorwurf der Rechtsverweigerung aussetzen15. Auf eine entsprechende Rechtsetzung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber kann sich der Gerichtshof nicht verlassen, da Rechtsetzungsverfahren auf Gemeinschaftsebene schwerfällig und komplex sind16. Gesetzesinitiativen der Kommission bleiben mitunter ohne Wirkung17. Nicht selten erschöpfen sich die im Ministerrat gefundenen Kompromisse in bloßen Formelkompromissen, die eine politische Entscheidungslücke übertünchen und deren Füllung mehr oder weniger bewusst auf die Judikative delegieren18. Vor diesem Hintergrund kann auf eine Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH nicht verzichtet werden. Die Europäische Integration wäre nicht so weit fortgeschritten, wenn sich der Gerichtshof nicht durch die punktuelle Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts als „Motor der Europäischen Integration“ erwiesen hätte19. Es ist allerdings festzustellen, dass sich der EuGH mit der fortschreitenden Europäischen Integration immer mehr auf die Rolle als Hüter und Bewahrer der Rechtsgemeinschaft beschränkt und dem Gemeinschaftsgesetzgeber die Rechtsfortbildung überlässt20. Mit dem Inkrafttreten des am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrags von Lissabon würde der Integrationsstand erneut angehoben. Dies hätte jedoch keine Auswirkungen auf die Rechtsfortbildungskompetenz des Gerichtshofs. Der EuGH wird auch in Zukunft davon Gebrauch machen können, soweit dies erforderlich ist. Die Befürchtung, durch die Rechtsfortbildung des EuGH könnten die übrigen Organe dazu eingeladen werden, sich bei dringenden, aber politisch schwierigen Regelungsfragen auf ein Tätigwerden des Gerichtshofes zu verlassen21, scheint indes nicht ganz unberechtigt zu sein.
12
Ukrow, S. 93; Claßen, S. 241. Everling, RabelsZ 50 (1986), 193 (206). 14 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, Art. 220, Rn. 57. 15 Vgl. EuGH v. 12. Juli 1957, Rs. 7/56 u. 5–7/57 (Algera u. a.), Slg. 1957, 85 (118). 16 Wechsler, S. 148. 17 Oftmals bleibt der Rat untätig oder lehnt den Vorschlag der Kommission ab. In der Regel werden die Vorschläge jedoch so lange abgeändert, bis die erforderliche Mehrheit erreicht ist, vgl. v. Buttlar, S. 50 ff. 18 Callies, Erbguth/Masing, 155 (186). 19 Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733 (734); Iglesias, EuR 1992, 225 (233); Folz, S. 214. 20 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, S. 42, Rn. 8. 21 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, Art. 220, Rn. 63. 13
A. Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
121
II. Das systemwidrige Regelungsdefizit Ausgangspunkt einer richterlichen Rechtsfortbildung ist sowohl auf Gemeinschaftsebene als auch auf nationaler Ebene ein systemwidriges Regelungsdefizit. Auf das Bild einer „planwidrigen Regelungslücke“ soll in diesem Zusammenhang nicht zurückgegriffen werden, da es den komplexen Strukturen einer Rechtsordnung nicht gerecht wird. Rechtsordnungen beruhen nämlich nicht auf einem detaillierten Plan, sondern bleiben stets unvollständig und fragmentarisch. Des Weiteren ist zu beachten, dass sich die gegenwärtige Gesamtrechtsordnung nicht mehr nur aus Normen des nationalen Gesetzgebers zusammensetzt, sondern auch aus solchen des Gemeinschaftsgesetzgebers. Ein hypothetischer Gesamtplan, bestehend aus den Einzelplänen der Gesetzgeber, eignet sich jedoch nicht als Maßstab. Dies wird insbesondere bei Normdivergenzen zwischen dem nationalen Recht und dem Gemeinschaftsrecht deutlich22. Gegen das Lücken-Theorem spricht überdies, dass Rechts- und Gesetzeslücken nicht so begründet werden können, dass sie sich nicht allein dem rechtspolitischen Unbehagen des Rechtsund Gesetzesanwenders verdanken23. Es ist kein Zufall, dass sich gerade da ausfüllungsbedürftige Lücken einstellen, wo der gesetzesunterworfene Richter dem Gesetz mittels Auslegung nur eine aus seiner rechtspolitischen Sicht unbefriedigende Antwort meint entnehmen zu können24. Der Rechtsprechung des EuGH lässt sich auch nicht entnehmen, dass die Rechtsfortbildung von einer planwidrigen Lücke abhängig ist25. Vielmehr ist zu akzeptieren, dass die Rechtsprechung nicht allein zur Rechtsanwendung befugt ist, sondern – ähnlich wie die Exekutive26 – innerhalb bestimmter Grenzen auch Recht setzen darf. Die Rechtsprechung ist eben nicht „la bouche de la loi“, sondern dazu berufen, Widersprüchlichkeiten in der Rechtsordnung zu beseitigen, um die „Einheit der Rechtsordnung“ zu wahren. Ob ein systemwidriges Regelungsdefizit vorliegt, beurteilt sich am Maßstab des inneren Systems der Gesamtrechtsordnung27. Der EuGH muss bei der Rechtsfortbildung prüfen, ob eine Fortbildung des Gemeinschaftsrechts im Hinblick auf den Stand der Europäischen Integration geboten ist. Auf 22
So auch Herresthal, EuZW 2007, 396 (399). Jestaedt, Erbguth/Masing, 25 (62). 24 Vgl. Jestaedt, Erbguth/Masing, 25 (61). 25 Von einer „Lücke“ ist nur in sehr wenigen Entscheidungen die Rede: Vgl. etwa EuGH v. 19. Juni 1979, Rs. 180/78 (Brouwer-Kaune) Slg. 1979, 2111 (2120 f., Rn. 8); EuGH v. 26. Mai 1982, Rs. 44/81 (Deuschland/Kommission), Slg. 1982, 1855 (1875, Rn. 7); EuGH v. 25. September 1984, Rs. 117/83, (Könecke), Slg. 1984, 3291 (3304, Rn. 16). 26 Dazu Jestaedt, Erbguth/Masing, 25 (75 ff.). 27 Herresthal, EuZW 2007, 396 (399). 23
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
den Willen der historischen Vertragsväter kommt es in diesem Zusammenhang schon im Hinblick auf den dynamischen Charakter des Gemeinschaftsrechts nicht an28. Bei aktuellen politischen Fragen ist indes das Gebot der richterlichen Zurückhaltung (judicial self-restraint) zu beachten29. 1. Das Sanktionsdefizit im Gemeinschaftsrecht In der Literatur wurde im Zusammenhang mit der Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts auf das Sanktionsdefizit im Gemeinschaftsrecht verwiesen30. Vor „Francovich u. a.“ enthielt der EG-Vertrag in der Tat keine ausreichenden Sanktionsmechanismen. Während der EGKS-Vertrag mit Art. 88 KS eine Regelung beinhaltete, die für den Fall von Vertragsverletzungen unter anderem die Aussetzung von Zahlungen an den betreffenden Mitgliedstaat als Rechtsfolge vorsah, erschöpfte sich die Regelung des Art. 228 EG seinerzeit in der bloßen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus einem die Vertragsverletzung feststellenden Urteil des Gerichtshofs ergeben31. Die Nichtbefolgung dieser Verpflichtung war mit keiner konkreten Sanktion verbunden. Eine entsprechende Regelung wurde erst mit dem Vertrag von Maastricht eingeführt32. Auf die Nichtbefolgung eines EuGH-Urteils im Sinne des Art. 228 Abs. 1 EG konnte die Kommission zuvor nur mit der Anstrengung eines neuen Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 226 EG reagieren33. Infolgedessen nahm die Zahl nicht befolgter Vertragsverletzungsurteile in den achtziger Jahren so stark zu, dass nach zwei Fällen im Jahr 1980 insgesamt 86 Fälle im Jahre 1990 zu verzeichnen waren34. Die Schaffung von Sanktionsmechanismen wurde deshalb notwendig. Ansonsten wäre die Glaubwürdigkeit und die Durchsetzungskraft der Gemeinschaftsrechtsordnung gefährdet worden35. Bevor mit Art. 171 Abs. 2 EGV (Art. 288 Abs. 2 EG) eine zentrale Sanktionsnorm eingeführt wurde, entwickelte der EuGH in „Francovich u. a.“ das Institut des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts. Zwar hatte der EuGH zuvor schon eine Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße bejaht, das „Ob“ und „Wie“ einer Haftung richtete sich jedoch nach nationalem Recht. Eine effektive Sanktionierung von Vertragsverletzungen stellte diese Haftung insbesondere des28 29 30 31 32 33 34 35
Ukrow, S. 104. Näheres dazu im 4. Teil, A., IV., 3., e). Binia, S. 9 ff.; Spannowsky, JZ 1994, 326 (332 f.). Vgl. Art. 228 Abs. 1 EG. Art. 171 Abs. 2 EGV (Art. 228 Abs. 2 EG). Schwarze, in: Schwarze, Art. 228 EGV, Rn. 7; Heidig, EuR 2000, 782. Ruffert/Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 228 EG-Vertrag, Rn. 8. Vgl. Binia, S. 9.
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halb nicht dar, weil die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zahlreiche Haftungsausschlüsse oder -beschränkungen vorsahen36. Erst die Schaffung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung brachte eine gewisse Sanktionierung und damit eine Minimierung des Sanktionsdefizits mit sich. Wohl auch deshalb ist die Zahl der nicht befolgten Vertragsverletzungsurteile in den neunziger Jahren kaum angestiegen37. Gleichwohl ist im Sanktionsdefizit nicht der Grund für die Schaffung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts zu sehen. In erster Linie kam es dem EuGH nämlich darauf an, die Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen für den Fall eines mitgliedstaatlichen Gemeinschaftsrechtsverstoßes zu verbessern, um so die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Die Sanktion ist also nur der entfernte Reflex einer anderen Zielsetzung38. Der Gerichtshof hat die Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs daher auch nicht mit dem gemeinschaftsrechtlichen Sanktionsdefizit begründet39. Vielmehr hat er in „A.G.M.-COS.MET“ klargestellt, dass die im Gemeinschaftsrecht begründete Haftung eines Mitgliedstaates nicht der Abschreckung oder als Sanktion diene, sondern auf den Ersatz der Schäden gerichtet sei, die Einzelnen durch Verstöße der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen40. Das gemeinschaftsrechtliche Sanktionsdefizit kann damit nicht als Ausgangspunkt für die Rechtsfortbildung des EuGH betrachtet werden41. 2. Das gemeinschaftliche Rechtsschutzdefizit Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „A.G.M.-COS.MET“ belegt, dass ein Regelungsdefizit im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem der Grund für die richterrechtliche Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts gewesen ist. Ein funktionierendes Rechtsschutzsystem gehört zu den wesensgemäßen Merkmalen von Rechtsgemeinschaften wie der Europäischen Gemeinschaft42. Daher muss auch auf Gemeinschaftsebene ein möglichst umfassender und effektiver Rechtsschutz gewährt werden. Kennzeichnend für das Rechtsschutzsystem der EG ist 36
Vgl. 3. Teil, A. Ende 1998 waren nur 84 im Vertragsverletzungsverfahren ergangene Urteile noch nicht umgesetzt, vgl. Schwarze, in: Schwarze, Art. 229 EGV, Rn. 11. 38 Wolf, S. 90. 39 Vgl. 4. Teil, A., III., 2. 40 EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 88. 41 A. A.: Weiß, EuZW 2008, 74 (79) – Verfasser geht trotz der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „A.G.M.-COS.MET“ von einem Sanktionscharakter der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung aus. 42 Vgl. Rengeling/Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, S. 5. 37
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
seine dualistische Struktur43. Zum einen stellt der EG-Vertrag verschiedene Verfahren bereit, die der Erlangung zentralen Rechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene dienen. Zum anderen findet auf nationaler Ebene ein dezentraler Rechtsschutz durch die innerstaatlichen Gerichte als sog. „Gemeinschaftsgerichte“ statt44. Zentrale und dezentrale Rechtsschutzmöglichkeiten sollen gemeinsam den Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes verwirklichen. Der EuGH spricht insoweit von einer Kohärenz des vom Vertrag geschaffenen Rechtsschutzsystems45. Nichtsdestotrotz können sich innerhalb dieses Systems Rechtsschutzdefizite auftun. Wie bereits ausgeführt, richtete sich die Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße vor „Francovich u. a.“ vollumfänglich nach nationalem Recht46. Dezentraler Individualrechtsschutz konnte jedoch aufgrund der zahlreichen Haftungsausschlüsse und -beschränkungen im Staatshaftungsrecht der Mitgliedstaaten regelmäßig nicht erlangt werden. So kennt das deutsche Staatshaftungsrecht beispielsweise keine Haftung für legislatives Unrecht. Ein systemwidriges Defizit im Rechtsschutzsystem des EG-Vertrags lag mithin vor. Dieses offenbarte sich insbesondere im Fall der Nichtumsetzung einer Richtlinie. Zwar war seinerzeit anerkannt, dass Richtlinien unmittelbar angewandt werden können und das nationale Recht richtlinienkonform ausgelegt werden muss, nicht immer konnte allerdings auf diesem Weg Primärrechtsschutz erlangt werden. Da der Einzelne in diesen Fällen zumindest sekundären Rechtsschutz erlangen können muss, entwickelte der EuGH in der Rechtssache „Francovich u. a.“ das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht. Zuvor hatte der Bürger nur die Möglichkeit einer Beschwerde bei der Kommission über die Nichtumsetzung der betreffenden Richtlinie. Effektiven Rechtsschutz konnte er hierdurch nicht erlangen, da entstandene Schäden in diesem Zusammenhang nicht ersetzt wurden. Mit der Schaffung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts blieben die nationalen Rechtsordnungen nicht weiter alleiniger Maßstab einer Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße. Das „Ob“ einer solchen Haftung richtet sich seither nach dem Gemeinschaftsrecht. Der EuGH hat das beschriebene Defizit im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem mithin beseitigt47.
43
Schulte, S. 24. Vgl. Nowak, EuR 2000, 724 (724 ff.). 45 EuGH v. 22. Oktober 1987, Rs. 314/85 (Foto-Frost), Slg. 1987, 4199 (4231, Rn. 16). 46 Vgl. 3. Teil, A. 47 So auch Wolf, S. 115; Geiger, S. 72. 44
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III. Die Beseitigung des Regelungsdefizits Der EuGH hat durch die Schaffung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts das systemwidrige Regelungsdefizit im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem geschlossen. Wie dies geschehen ist, soll nachfolgend aufgezeigt werden. 1. Die Methodik des EuGH Ausgehend von einem systemwidrigen Regelungsdefizit hat der EuGH das Gemeinschaftsrecht in vielen Bereichen fortgebildet. Dabei hat er versucht, mittels eines Methodenpluralismus der Entwicklungsoffenheit des Gemeinschaftsrechts auch in methodologischer Hinsicht gerecht zu werden48. Eine besondere Bedeutung kommt der Methode der Rechtsvergleichung zu49, deren Ergebnisse in eine systematisch-teleologische Auslegung des Gemeinschaftsrechts eingebunden werden, die letztlich den methodischen Weg zur Gewinnung von Richterrecht vorgibt50. Für den Vergleich der nationalen Rechtsordnungen ist am Gerichtshof eigens die Abteilung „Forschung und Dokumentation“ geschaffen worden51. Dort kann auf der Grundlage einer vorgegebenen Fragestellung eine sog. „note de recherche“ angefertigt werden. Darin wird die Rechtslage in den einzelnen Mitgliedstaaten und ausgewählten Drittländern dargestellt52. Die Anwendung der Recherche-Ergebnisse auf den konkreten Fall ist Aufgabe der Richter. Dabei kommt der Aspekt der personifizierten Rechtsvergleichung zum Tragen. So wird die Entscheidungsfindung bei einem international besetzten Richterkollegium wie dem des EuGH durch die unterschiedlichen juristischen Kulturen der Richter beeinflusst53. Die Rechtsvergleichung stellt in der Rechtsprechungspraxis des EuGH die notwendige Vorarbeit dar, um allgemeine Rechtsgrundsätze ermitteln zu können. Den Entscheidungen selbst lassen sich daher kaum rechtsvergleichende Ausführungen entnehmen54. In der Regel stellt der Gerichtshof unmittelbar auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz ab. Hinsichtlich der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze hat der EuGH früher gefordert, dass der betref48
Ukrow, S. 115. Näheres zur Methode der Rechtsvergleichung: Zweigert/Kötz, S. 31 ff. 50 Borchardt, S. 123, Rn. 287. 51 Es kann daher nicht mehr bestritten werden, dass der EuGH Rechtsvergleichung betreibt. So aber früher: Constantinesco, S. 816. 52 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 220, Rn. 28. 53 Wurmnest, S. 16. 54 Vgl. aber EuGH, Fn. 15, S. 118 ff. 49
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fende Rechtsgrundsatz in allen Mitgliedstaaten einheitlich gelten müsse55. In der heutigen Zeit werden allgemeine Rechtsgrundsätze nicht mehr auf der Grundlage der sog. „Theorie des kleinsten gemeinsamen Nenners“, sondern im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung entwickelt56. Die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sind wie auch die EMRK57 Rechtserkenntnisquellen, aus denen der EuGH unter Berücksichtigung spezifischer Gemeinschaftsinteressen autonom die allgemeinen Rechtsgrundsätze herleitet58. Ziel ist es, eine Lösung zu finden, die dem Gemeinschaftsrecht am besten entspricht59. Bei der Rechtsfortbildung greift der Gerichtshof aber nicht nur auf die Methode der Rechtsvergleichung zurück, sondern auch auf die allgemeinen Auslegungsmethoden60. Eine Differenzierung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung – wie sie die deutsche juristische Methodenlehre vorsieht – nimmt der EuGH nicht vor. Vielmehr wird wie im französischen Recht ausschließlich von „interprétation“ gesprochen61. Die Auslegungsmethoden des EuGH entsprechen im Wesentlichen denen, die auch in den Mitgliedstaaten und im Völkerrecht Anwendung finden. Auf Gemeinschaftsebene orientiert sich die Interpretation von Bestimmungen ebenfalls zunächst am Wortlaut. Allerdings wird ein spezifisch gemeinschaftsrechtlich geprägtes Begriffsverständnis zugrunde gelegt, das den zahlreichen Bedeutungsunterschieden, die sich aufgrund der Verschiedenheit der Sprachen der Mitgliedstaaten ergeben, Rechnung trägt62. Neben der grammatikalischen Auslegungsmethode wendet der Gerichtshof vor allem die systematische und die teleologische an. Der historischen Auslegungsmethode kommt demgegenüber keine eigenständige Bedeutung zu, da es keine Bindung an die subjektive Meinung der „Vertrags- oder Gesetzesväter“ gibt63. In der Argumentationspraxis des Gerichtshofes wird sie daher auch nur zur Hilfsbegründung herangezogen64. Eine größere Rolle spielt hingegen die systematische Auslegung, die darauf abzielt, den objektiven Sinn einer Norm aus dem Zusammenhang des Vertrages zu erforschen. Nicht selten greift der Gerichtshof dabei auf die 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64
Bleckmann, S. 225, Rn. 604. Ukrow, S. 50. Vgl. Art. 6 Abs. 2 EU. Streinz, S. 284, Rn. 761. Bleckmann, S. 225, Rn. 605. Calliess, Göttinger Online-Beiträge zum Europarecht, Nr. 28, S. 14 f. Buck, S. 51; Schulze/Seif, in: Schulze/Seif, S. 3. Vgl. Kühling/Lieth, EuR 2003, 371 (375). Oppermann, S. 209, Rn. 25. Calliess, Göttinger Online-Beiträge zum Europarecht, Nr. 28, S. 3.
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Rechtsgrundsätze des Primärrechts zurück. Die für die richterliche Rechtsfortbildung des EuGH bedeutendste Auslegungsmethode ist jedoch die teleologische. Bei dieser Methode wird auf den Sinn und Zweck einer Norm im Rechtssystem der EU abgestellt, der sog. ratio legis. Im Rahmen der teleologischen Auslegung bedient sich der EuGH spezieller Auslegungsgrundsätze und -lehren. Zu nennen ist insbesondere der Auslegungsgrundsatz des „effet utile“, wonach eine Norm ergiebig und mit größter Nutzwirkung auszulegen ist65. Im Rahmen der „interprétation“ verweist der EuGH aus Praktikabilitätsgründen auch auf die bisherige Judikatur, weshalb der Rechtsprechungsverweis mittlerweile als die am häufigsten verwandte Argumentationsform gilt66. Die Verweisung auf ergangene Entscheidungen verleiht der Rechtsprechung zwar den äußeren Eindruck dogmatischer Geschlossenheit und ist der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit zuträglich, mitunter werden jedoch gebotene Präzisierungen und Differenzierungen vernachlässigt67. Gleichwohl reicht ein Verweis auf die frühere Rechtsprechung grundsätzlich aus. Die richterliche Rechtsfortbildung stellt allerdings besondere Anforderungen an die Begründung. Der EuGH hat detailliert darzulegen, welches Recht gesetzt wird und aus welchen Gründen dies geschieht. 2. Die Argumentation des EuGH Die Schließung des systemwidrigen Regelungsdefizits im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem durch den EuGH vollzog sich unter Anwendung verschiedener Methoden und spiegelt damit den Methodenpluralismus wider, der die Rechtsfortbildung durch den EuGH kennzeichnet. Der Gerichtshof hat im Rahmen seiner Rechtsprechung zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung auf Art. 10 EG, Art. 288 EG, den allgemeinen Rechtsgrundsatz eines effektiven Rechtsschutzes und das allgemeine Völkerrecht rekurriert. Dies ist Ausdruck einer systematischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts gewesen. Die Argumentation mit dem Prinzip der praktischen Wirksamkeit und dem Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist hingegen das Ergebnis einer teleologischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Schließlich hat der EuGH im Rahmen seiner systematisch-teleologischen Ausführungen auch rechtsvergleichende Argumente vorgebracht. So hat er auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und die EMRK Bezug genommen. 65 66 67
Oppermann, S. 209, Rn. 24. Vgl. Dederichs, EuR 2004, 345 (347, 357 f.). Streinz, S. 215, Rn. 573.
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a) Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes Die Argumentation des EuGH mit dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes ist von besonderer Bedeutung, denn sie korrespondiert mit dem systemwidrigen Regelungsdefizit im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem, die es zu schließen galt. In „Francovich u. a.“ erklärte der EuGH, der Schutz der durch die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen begründeten Rechte wäre gemindert, wenn der Einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, dass seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschafsrecht verletzt werden68. Diese Argumentation überzeugt, denn in einem effektiven Rechtsschutzsystem muss zweifelsohne auch die Möglichkeit bestehen, sekundären Rechtsschutz zu erlangen. In Folgeentscheidungen hat der EuGH unterstrichen, dass die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung dazu dient, dem Einzelnen bei mitgliedstaatlichen Gemeinschaftsrechtsverstößen zu sekundärem Rechtsschutz zu verhelfen. In „A.G.M.-COS.MET“ bekräftigte der Gerichtshof, dass die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung auf den Ersatz der Schäden gerichtet sei, die Einzelnen durch Verstöße der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, und nicht der Abschreckung oder Sanktion diene69. Aus dem Urteil in der Rechtssache „Köbler“ ergibt sich, dass dem Einzelnen auch dann eine Entschädigung gewährt werden muss, wenn die Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt70. Auch bei judikativen Gemeinschaftsrechtsverstößen gebietet demnach der Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes, dass der Einzelne sekundären Rechtsschutz erlangen kann. Darüber hinaus stellte der EuGH in „Köbler“ fest, dass dem Einzelnen nicht die Befugnis genommen werden dürfe, den Staat haftbar zu machen, um auf diesem Wege den gerichtlichen Schutz seiner Rechte zu erlangen, weil eine durch die rechtskräftige Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts erfolgte Rechtsverletzung regelmäßig nicht rückgängig gemacht werden könne71. Die Problematik, die sich aus der Kollision des Grundsatzes der Rechtskraft eines letztinstanzlichen Urteils mit dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes ergibt, hat der EuGH also gelöst, indem er dem Einzelnen für den Fall, dass ein solches Urteil gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt, die Möglichkeit einräumt, über die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung sekundären Rechtsschutz zu erlangen. Auf diese Weise wird dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung getragen, ohne 68 69 70 71
EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5414, Rn. 33. EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 88. Vgl. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10306, Rn. 33. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10306, Rn. 34.
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den Grundsatz der Rechtskraft anzutasten72. Die Argumentation mit dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes beruht auf einer systematischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts, da es sich bei ihm um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts handelt73, der sich auch aus dem in Art. 6 Abs. 1 EU kodifizierten Rechtsstaatsprinzip ergibt74. b) Prinzip der praktischen Wirksamkeit Der Gerichtshof hat die Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts vor allem mit dem Prinzip der praktischen Wirksamkeit („effet utile“) begründet. Die Aussage im Urteil „Francovich u. a.“, wonach die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert wäre, wenn der Einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, dass seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden75, bezog sich auf die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 80/987/EWG, die in Italien nicht rechtzeitig umgesetzt worden war. Mangels einer unmittelbaren Wirkung konnten sich die Kläger nicht direkt auf die sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Rechte berufen76. Primärer Rechtsschutz ist also nicht möglich gewesen. Da dies auf das Fehlverhalten der italienischen Republik zurückzuführen war, sah sich der EuGH veranlasst, die praktische Wirksamkeit des Richtlinienrechts sicherzustellen, indem den Klägern mit der Schaffung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts sekundäre Rechtsschutzmöglichkeiten eröffnet wurden. Nach und nach erkannte der EuGH eine Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße auch in anderen Fallkonstellationen an77. In „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ griff er wiederum auf das Prinzip der praktischen Wirksamkeit zurück, um zu begründen, dass auch im Fall eines Verstoßes gegen unmittelbar wirkendes Gemeinschaftsrecht eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung möglich ist. Zunächst wiederholte er die „effet utile“-Argumentation der „Francovich u. a.“-Entscheidung78, um sodann auszuführen, dass dies auch im Fall der Verletzung eines unmittelbar durch eine Gemeinschaftsnorm verliehenen 72 Vgl. auch EuGH v. 16. März 2006, Rs. C-234/06 (Kapferer), Rn. 20 ff., abrufbar über http://curia.europa.eu. 73 Vgl. etwa EuGH v. 15. Oktober 1987, Rs. 222/86 (Heylens), Slg. 1987, 4097 (4117, Rn. 14 ff.). 74 Vgl. Pechstein, in: Streinz, Art. 6 EUV, Rn. 7. 75 EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5414, Rn. 33. 76 Vgl. 3. Teil, B., I., 1., a). 77 Vgl. insbesondere: EuGH, S. 92, Fn. 387; EuGH, Fn. 3. 78 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1143, Rn. 20.
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Rechts gelte, auf das sich der Einzelne vor den nationalen Gerichten berufen kann. In diesem Fall stelle der Entschädigungsanspruch die notwendige Ergänzung der unmittelbaren Wirkung dar, die den Gemeinschaftsvorschriften zukommt, auf deren Verletzung der entstandene Schaden beruht79. Auch in der „Köbler“-Entscheidung argumentierte der Gerichtshof mit dem „effet utile“. Er begründete damit die Notwendigkeit einer Haftung der Mitgliedstaaten für judikative Gemeinschaftsrechtsverstöße. So befand er, dass in Anbetracht der entscheidenden Rolle, welche die Judikative beim Schutz der dem Einzelnen aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zustehenden Rechte spielt, die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert wäre, wenn der Einzelne keinesfalls Entschädigung erlangen könnte, wenn seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats zuzurechnen ist80. Die Argumentation mit dem „effet utile“ ist Ausdruck einer teleologischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts81. Der Auslegungsgrundsatz des „effet utile“ darf jedoch nicht als Argument missverstanden oder missbraucht werden, mit dem sich alles, was der Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts dienen soll, ohne weitere Reflexion begründen ließe82. Dementsprechend hat der EuGH seine Begründung auch auf weitere Argumente gestützt. c) Grundsatz der Gemeinschaftstreue In der „Francovich u. a.“-Entscheidung erklärte der EuGH, die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Ersatz dieser Schäden finde auch in Artikel 5 EWG-Vertrag (Art. 10 EG) eine Stütze, nach dem die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht zu treffen haben. Zu diesen Verpflichtungen gehöre auch diejenige, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beheben83. Wie sich hieraus ergibt, hat der Gerichtshof die Schaffung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts auch mit dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue84 begründet. 79
EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1143, Rn. 22. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10306, Rn. 33. 81 Vgl. 4. Teil, A., III., 1. 82 Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 (462). 83 EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5414, Rn. 36. 84 Dieser Grundsatz wird in der deutschsprachigen Literatur auch als Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit bezeichnet (vgl. Middendorf, S. 91; Jarass, S. 6). Der EuGH verwendet unterschiedliche Termini, vgl. etwa EuGH v. 10. Dezember 1969, Rs. 6 u. 11/69 (Kommission/Frankreich), Slg. 1969, 523 (540, Rn. 14/17); 80
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Aus Art. 10 EG folgen wechselseitige Loyalitätspflichten zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft. Weiterhin ergibt sich daraus auch eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten untereinander85. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, im innerstaatlichen Recht die Konsequenzen aus der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft zu ziehen86. Rechtsgemeinschaften wie die EG sind auf eine vertragskonforme Durchführung ihres Rechts existentiell angewiesen87. Es dürfen keine Maßnahmen ergriffen oder aufrechterhalten werden, welche die praktische Wirksamkeit des Vertrages beeinträchtigen88. Die Mitgliedstaaten müssen daher auch alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art treffen, um die sich aus Art. 249 Abs. 3 EG ergebende Pflicht zur Richtlinienumsetzung zu erfüllen89. In der Nichtumsetzung einer Richtlinie ist mithin ein Verstoß gegen Art. 10 EG zu erblicken. Um dieser Regelung trotzdem gerecht werden zu können, müssen die Mitgliedstaaten in dem Fall zumindest die Folgen des gemeinschafsrechtswidrigen Handelns beseitigen, indem beispielsweise entstandene Schäden ersetzt werden. Die systematische Argumentation des EuGH mit Art. 10 EG kann also überzeugen. d) Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Bei der Begründung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung hat sich der EuGH auch auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gestützt. Nachdem er in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ zunächst klargestellt hatte, dass er im Rahmen einer Entscheidung auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, zurückgreifen könne90, wies er auf den in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geltenden Grundsatz hin, dass eine rechtswidrige Handlung oder Unterlassung die Verpflichtung zum Ersatz des verursachten Schadens nach sich zieht91. Der Gerichtshof hat sich also auf einen allgemeinen EuGH v. 10. Februar 1983, Rs. 230/81 (Luxemburg/Parlament), Slg. 1983, 255 (287, Rn. 37 ff.). 85 Vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 82, Rn. 193. 86 Vgl. EuGH v. 8. Februar 1973, Rs. 30/72 (Kommission/Italien), Slg. 1973, 161 (171, Rn. 11). 87 Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 8. 88 Vgl. EuGH v. 13. Februar 1969, Rs. 14/68 (Walt Wilhelm), Slg. 1969, 1 (14, Rn. 6). 89 Vgl. EuGH v. 10. April 1984, Rs. 14/83 (von Colson und Kamann), Slg. 1984, 1891 (1909, Rn. 26); EuGH v. 15. Mai 1986, Rs. 222/84 (Johnston), Slg. 1986, 1651 (1690, Rn. 53). 90 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1144, Rn. 27 f.
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Rechtsgrundsatz berufen, der sich aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ergibt und auch Grundlage der außervertraglichen Gemeinschaftshaftung gemäß Art. 288 Abs. 2 EG ist. Des Weiteren führte der EuGH aus, dass in einer großen Anzahl von nationalen Rechtsordnungen das Staatshaftungsrecht entscheidend im Wege der Rechtsprechung entwickelt worden sei92. In „Köbler“ verwies er ebenfalls auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, indem er befand, dass die Geltung des Grundsatzes der Staatshaftung für Gerichtsentscheidungen in der einen oder anderen Form in den meisten Mitgliedstaaten bekannt sei, wenn auch unter engen und verschiedenartigen Voraussetzungen93. Die systematisch-teleologische Argumentation mit den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ist das Ergebnis einer wertenden Rechtsvergleichung. Im Hinblick auf die Akzeptanz der richterlichen Rechtsfortbildung in den Mitgliedstaaten ist es zu begrüßen, dass die rechtsvergleichenden Überlegungen unmittelbar zum Ausdruck gebracht worden sind, zumal der Gerichtshof in der Regel auf die Wiedergabe der rechtsvergleichenden Äußerungen in den Entscheidungsgründen verzichtet94. e) Grundsatz der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft In „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ hat der EuGH schließlich auch Art. 288 Abs. 2 EG zur Begründung der richterlichen Rechtsfortbildung herangezogen. So stellte er fest, dass dieser Vorschrift die Verpflichtung der öffentlichen Stellen zu entnehmen sei, den in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden zu ersetzen95. Durch diese systematische Argumentation hat der Gerichtshof aufgezeigt, dass die Gemeinschaft selbst ebenfalls für hoheitliches Unrecht haften muss. Zugleich wurde die Kohärenz von außervertraglicher Gemeinschaftshaftung und gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftung postuliert. Vor dem Hintergrund, dass beide Haftungsinstitute auf denselben allgemeinen Rechtsgrundsatz zurückzuführen sind, wäre es auch kaum plausibel, wenn die Gemeinschafts- und die Mitgliedstaatshaftung völlig unterschiedlichen Haftungsregimes unterworfen wären96.
91 92 93 94 95 96
EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1144, Rn. 29. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1144, Rn. 30. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10310, Rn. 48. Borchardt, S. 123, Rn. 287. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1144, Rn. 29. Herdegen/Rensmann, ZHR 161 (1997), 522 (535).
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f) Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts In „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ griff der EuGH schließlich auch auf den Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts97 zurück. So befand er, dass in Anbetracht des Grunderfordernisses der Gemeinschaftsrechtsordnung, das die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts darstelle, die Verpflichtung zum Ersatz der dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstandenen Schäden nicht von den internen Vorschriften über die Verteilung der Zuständigkeiten auf die Verfassungsorgane abhänge98. Diese Argumentation überzeugt, denn ansonsten bestünde die Möglichkeit, dass sich die Mitgliedstaaten durch die rechtliche Gestaltung der Zuständigkeitsvorschriften der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung entziehen. In der Tat wäre dann die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht gewährleistet. Der Grundsatz der einheitlichen Anwendung, wonach alle Normen des Gemeinschaftsrechts im gesamten Gemeinschaftsgebiet einheitlich ausgelegt werden sollen, kann als verfassungsrechtliches Leitprinzip des Gemeinschaftsrechts angesehen werden99. Zwar nehmen die Verträge auch uneinheitliches Recht in Kauf, gleichwohl bleibt der Grundsatz der einheitlichen Anwendung ein Ideal des Gemeinschaftsrechts, das auch der EuGH anzustreben hat. Die Rekurrierung auf den Grundsatz der einheitlichen Anwendung geschieht im Rahmen der teleologischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Sinn und Zweck einer Regelung auf Gemeinschaftsebene ist nämlich, dass ein bestimmter Sachverhalt für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen verbindlich geregelt wird. Würde die einheitliche Anwendung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung nicht gewährleistet, ergäben sich in den Mitgliedstaaten trotz einer Regelung auf Gemeinschaftsebene unterschiedliche Rechtsniveaus. Der Sinn einer solchen Regelung ginge verloren, da eine Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Rechts ausbliebe. Die Grundlage für die Forderung nach gleichem Recht für alle Rechtssubjekte des EG-Vertrages bildet letztlich der allgemeine Gleichheitssatz100. Danach muss wesentlich Gleiches gleich, wesentlich Ungleiches hingegen verschieden behandelt werden. Schon vor diesem Hintergrund ist eine einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts geboten. Spezielle Ausformungen des Grundsatzes der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts sind unter anderem der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts und 97 Teilweise wird dieser Grundsatz auch als Uniformitätsprinzip bezeichnet, vgl. Schroeder, S. 427 ff. 98 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1145, Rn. 33. 99 Schroeder, S. 427. 100 Nettesheim, GS Grabitz, 447 (448 ff.).
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das Diskriminierungsverbot101. Der EuGH greift im Rahmen seiner Rechtsprechung regelmäßig direkt auf diese Rechtsinstitute zurück. Ihm bleibt es aber unbenommen, sich bei der Begründung einer Entscheidung, wie in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ geschehen, ganz allgemein auf den Grundsatz der einheitlichen Anwendung zu stützen102. g) Allgemeines Völkerrecht Der EuGH hat bei der Schaffung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts auch auf das allgemeine Völkerrecht Bezug genommen. In „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ erklärte er, dass im Völkerrecht der Staat, dessen Haftung wegen Verstoßes gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung ausgelöst wird, ebenfalls als Einheit betrachtet werde, ohne dass es darauf ankomme, ob der schadensverursachende Verstoß der Legislative, der Judikative oder der Exekutive zuzurechnen ist103. In „Köbler“ wiederholte er diese Ausführungen104, um erneut klarzustellen, dass die Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße eines jeden Organs zu haften hätten. Ob der Rückgriff auf das Völkerrecht zulässig war, ist jedoch fraglich. Überwiegend105 wird vertreten, dass ein unmittelbarer Rückgriff auf völkerrechtliche Wertungen zur Beseitigung bestehender Regelungsdefizite möglich sei, da die EU weiterhin an einem „völkerrechtlichen Lebensfaden“ hänge. Anderer Ansicht106 nach ist eine unmittelbare Rekurrierung auf das Völkerrecht nicht zulässig, weil die EU-Verfassung als geschlossene Ordnung angesehen werden müsse, deren Recht auf jede potentielle Rechtsfrage eine Antwort gibt. Diese Ansicht ist jedoch zurückzuweisen. Das allgemeine Völkerrecht bildet nach wie vor eine Rechtsquelle des Gemeinschaftsrechts107. Zwar verdrängt das Gemeinschaftsrecht im innergemeinschaftsrechtlichen Rechtsraum grundsätzlich die Wertungen des Völkerrechts, soweit ein Regelungsdefizit besteht, muss das allgemeine Völkerrecht aber Anwendung finden. Diese Notwendigkeit offenbart sich insbesondere dann, wenn es um die Möglichkeit des Austritts eines Mitgliedstaates aus der EU geht. Da ein Austritt in den Verträgen nicht vorgesehen ist, muss sich der betreffende Mitgliedstaat auf die allgemeinen 101
Nettesheim, GS Grabitz, 447 (454 f.); Schroeder, S. 430. Vgl. Schroeder, S. 431. 103 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1145, Rn. 34. 104 EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10305, Rn. 32. 105 Oppermann, S. 145, Rn. 24; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 249 EGV, Rn. 10. 106 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 249 EGV, Rn. 57. Vgl. auch Wegener, EuR 2004, 84, 86. 107 Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 149, Rn. 380 ff. 102
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Regeln des Völkerrechts berufen können108. Schließlich handelt es sich bei ihm nach wie vor um ein souveränes Völkerrechtssubjekt. Der Rückgriff des EuGH auf das allgemeine Völkerrecht im Rahmen der systematischen Auslegung ist somit als zulässig zu erachten. h) Europäische Menschenrechtskonvention Ein weiterer Anknüpfungspunkt für die Argumentation des EuGH bildete die Europäische Menschenrechtskonvention. Diesbezüglich stellte der Gerichtshof in „Köbler“ fest, dass der EGMR einen Staat, der ein Grundrecht verletzt hat, insbesondere nach Art. 41 EMRK zur Entschädigung der verletzten Partei verpflichten könne. Nach der Rechtsprechung dieses Gerichtshofs in der Rechtssache „Dulaurans“109 könne eine solche Entschädigung auch zugesprochen werden, wenn die Verletzung auf einer Entscheidung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts beruht110. Im Hinblick auf die EMRK hat der EuGH also die gemeinschaftsrechtliche Haftung der Mitgliedstaaten für judikatives Unrecht begründet. Ein rechtsvergleichender Rückgriff auf die EMRK ist auch zulässig, da es sich bei ihr um eine Rechtserkenntnisquelle handelt, auf die sich der EuGH bei der Fortbildung des Gemeinschaftsrechts stützen kann111. Der Hinweis auf die EMRK eignet sich jedoch nur bedingt als Beleg für die allgemeine Anerkennung einer Haftung für judikatives Unrecht, denn im Urteil „Dulaurans“ des EGMR ging es allein um die Zuerkennung einer billigen Entschädigung durch ein völkervertragsrechtlich konstituiertes oberstes Kontrollgericht. Der EGMR hat hingegen nicht entschieden, dass die Mitgliedstaaten des Europarates dazu verpflichtet sind, Haftungsklagen bei judikativem Unrecht zuzulassen112.
IV. Die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung Den vorstehenden Ausführungen ist zu entnehmen, wie der EuGH die Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts begründet hat. Ob die Rechtsfortbildung auch zulässig war, soll im Folgenden geprüft werden.
108 109 110 111 112
Schweitzer/Hummer, S. 314, Rn. 1023. EGMR, S. 112, Fn. 499. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10310, Rn. 49. Vgl. 4. Teil, A., III., 1. Wegener, EuR 2004, 84 (87).
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1. Die Akzeptanz der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in den Mitgliedstaaten Die Frage nach der Zulässigkeit der Rechtsfortbildung könnte jedoch aufgrund der Akzeptanz der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in den Mitgliedstaaten obsolet geworden sein. Während anfangs noch unsicher gewesen ist, ob das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht akzeptiert würde113, hat dieses Rechtsinstitut mittlerweile eine breite Akzeptanz in den Mitgliedstaaten gefunden114. Zwar wird der EuGH weiterhin mit Vorabentscheidungsersuchen mitgliedstaatlicher Gerichte zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung konfrontiert, diese betreffen jedoch in der Regel Detailfragen. Der Grundsatz einer Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße wird nicht in Frage gestellt. Vielmehr haben die mitgliedstaatlichen Gerichte bereits in zahlreichen Fällen über eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung geurteilt. Auch der Umstand, dass keiner der Mitgliedstaaten eine ultra vires-Einrede erhoben hat, ist ein weiterer Beleg für die Akzeptanz der richterlichen Rechtsfortbildung. Für die Mitgliedstaaten bestand zudem die Möglichkeit, sich im Rahmen einer Protokollerklärung von der Rechtsprechung des EuGH zu distanzieren. Davon haben sie jedoch keinen Gebrauch gemacht. Im Zusammenhang mit dem Abschluss des Unionsvertrages haben sie lediglich die „Barber“-Entscheidung des EuGH115 durch eine Protokollerklärung zu Art. 119 EGV (Art. 141 EG) korrigiert. Nach alledem kann an der Anerkennung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts durch die Mitgliedstaaten nicht gezweifelt werden. Die Frage nach der Zulässigkeit der Rechtsfortbildung durch den EuGH kann jedoch nur dann unbeantwortet gelassen werden, wenn aufgrund der Akzeptanz in den Mitgliedstaaten von einer gewohnheitsrechtlichen Verfestigung des Haftungsanspruchs auszugehen wäre116. 2. Die Rechtsqualität der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Durch die fortdauernde und betätigte Akzeptanz durch die Rechtsanwender und Rechtsunterworfenen in den Mitgliedstaaten könnte also Gemeinschaftsgewohnheitsrecht entstanden sein. In diesem Fall käme es auf die Frage, ob die Rechtsfortbildung des EuGH ursprünglich unzulässig gewesen ist, nicht mehr an. Voraussetzung für die Entstehung von Gewohnheitsrecht ist, dass über einen gewissen Zeitraum eine ständige oder allgemeine 113 114 115 116
Vgl. Cornils, S. 327 f. Vgl. Schoißwohl, S. 84. EuGH v. 17. Mai 1990 (Barber), Slg. 1990, I-1889. Vgl. Bertelmann, S. 71.
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Übung (longa consuetudo) mit einer entsprechenden, allgemeinen Rechtsüberzeugung (opinio iuris) vorherrscht117. Gerichtsurteile können Gewohnheitsrecht begründen, soweit sich eine ständige Rechtsprechung des jeweiligen Gerichts herausbildet, die auf einer allgemeinen, sich im Schrifttum und der Rechtsprechung widerspiegelnden Rechtsüberzeugung beruht118. Teilweise wird jedoch vertreten, der Rechtsprechung des EuGH fehle wegen der beschränkten Bindungswirkung die Normqualität und könne daher kein Gewohnheitsrecht begründen119. Wie bereits ausgeführt, ist jedoch sehr wohl von einer umfassenden Bindungswirkung der Urteile des EuGH auszugehen120. Abgesehen davon ist zu berücksichtigen, dass sich die mitgliedstaatlichen Gerichte bislang nicht über die Vorgaben des EuGH zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung hinweggesetzt haben. Eine gewohnheitsrechtliche Verfestigung der Staatshaftungsjudikatur des EuGH ist also keineswegs ausgeschlossen. Allerdings ist die für die Entstehung von Gewohnheitsrecht erforderliche zeitliche Komponente nicht gegeben. Seit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Francovich u. a.“ sind mittlerweile zwar rund 18 Jahre vergangen, das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht hat jedoch im Laufe der Zeit erhebliche Präzisierungen erfahren, zuletzt im Jahr 2003 durch die Anerkennung einer Staatshaftung für judikative Gemeinschaftsrechtsverstöße in der Rechtssache „Köbler“. Solch fundamentale Rechtsentwicklungen können nicht unberücksichtigt bleiben121, zumal abzuwarten bleibt, wie die Rechtsprechung des EuGH zur Haftung für judikatives Unrecht in den Mitgliedstaaten rezipiert wird. Überdies ist anzunehmen, dass es auch in Zukunft weitere Präzisierungen des Gerichtshofs geben wird, die der Entstehung von Gewohnheitsrecht entgegenstehen könnten. Da das Gemeinschaftsrecht anders als das allgemeine Völkerrecht kein „instant customary law“ kennt122, reicht ein kurzer Zeitraum jedenfalls nicht aus, um von Gewohnheitsrecht ausgehen zu können. Zudem ist zweifelhaft, ob sich bereits eine allgemeine Rechtsüberzeugung in den Mitgliedstaaten herausgebildet hat. Die grundsätzliche Anerkennung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in der nationalen Rechtsprechung genügt insoweit nicht. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass es noch zahlreiche Unklarheiten im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts gibt, über die im nationalen Schrifttum gestrit117 118 119 120 121 122
Bleckmann, NVwZ 1993, 824 (827). Vgl. Bertelmann, S. 68; Möllers, EuR 1998, 20 (30). Ostertun, S. 87. Vgl. 3. Teil, B., vor I. Bertelmann, S. 69. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 249, Rn. 9; Bertelmann, S. 69.
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ten wird und welche die nationalen Gerichte regelmäßig dazu veranlassen, den EuGH um Vorabentscheidung zu ersuchen. Des Weiteren darf nicht vergessen werden, dass sich die Regierungen einiger Mitgliedstaaten noch in der Rechtssache „Köbler“ gegen eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für judikatives Unrecht ausgesprochen haben123. Von einer allgemeinen Rechtsüberzeugung in den Mitgliedstaaten kann mithin noch nicht ausgegangen werden. Die Staatshaftungsjudikatur des EuGH wurde somit nicht gewohnheitsrechtlich verfestigt. Fest steht allerdings, dass der Gerichtshof mit der Anerkennung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung neues, ungeschriebenes Primärrecht geschaffen hat124. Um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz handelt es sich hierbei jedoch nicht. Zwar hat der EuGH im Sinne des Art. 6 Abs. 2 EU auch auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sowie die EMRK rekurriert, in erster Linie wurde das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht jedoch im Wege einer systematisch-teleologischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts geschaffen125. Hinzu kommt, dass der EuGH konkrete Haftungsvoraussetzungen bestimmt hat. Es spricht somit vieles dafür, dass die Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße ebenso wie der Vorrang oder die unmittelbare Anwendbarkeit gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts zu zählen ist126. Diese dienen der Sicherung des Unionsrechts und bilden einen Bestandteil des primären Gemeinschaftsrechts127. 3. Die Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH Die Schaffung neuen primären Gemeinschaftsrechts obliegt grundsätzlich den Mitgliedstaaten128. Diese können im Wege eines Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 EU die Änderung des EG-Vertrags herbeiführen und dadurch Regelungsdefizite im primären Gemeinschaftsrecht beseitigen. Ausnahmsweise kann der EuGH aufgrund seiner Rechtsfortbildungskompetenz jedoch auch das primäre Gemeinschaftsrecht fortbilden. Schließlich zählt das primäre Gemeinschaftsrecht ebenfalls zum „Recht“ im Sinne des Art. 220 EG, dessen Wahrung der EuGH bei der Auslegung und Anwen123 Die Regierungen Österreichs, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs lehnten eine solche Haftung ab, vgl. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10301, Rn. 20. 124 Vgl. Wolf, S. 88. 125 Vgl. 4. Teil, III., 1. 126 Streinz, S. 137, Rn. 417. 127 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 249 EGV, Rn. 11; Streinz, S. 141, Rn. 417; Lecheler, S. 115. 128 Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 130, Rn. 323.
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dung des EG-Vertrages zu sichern hat129. Zudem folgt aus der Justizgewährungspflicht, dass der EuGH eine Art legislative Notkompetenz besitzt. Um sich nicht dem Vorwurf der Rechtsverweigerung auszusetzen, muss es dem Gerichtshof im Einzelfall möglich sein, systemwidrige Regelungsdefizite im primären Gemeinschaftsrecht zu schließen. Ansonsten wäre ein effektiver Rechtsschutz ebenso wenig gewährleistet wie die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts. So hätte der EuGH in „Francovich u. a.“ trotz des Gemeinschaftsrechtsverstoßes Italiens Rechtsschutz versagen müssen, wenn er das Regelungsdefizit im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem nicht hätte schließen dürfen. Dieses Ergebnis entspricht auch dem Wesen des Gemeinschaftsrechts als einer auf dynamische Weiterentwicklung angelegten Rechtsordnung. Würden nur die Mitgliedstaaten das primäre Gemeinschaftsrecht fortentwickeln können, wäre eine Erlahmung des Integrationsprozesses zu befürchten. Divergierende Interessen der Mitgliedstaaten führen nämlich nicht selten dazu, dass im Rahmen eines Vertragsänderungsverfahrens gemäß Art. 48 EU nur ein Minimalkonsens erzielt wird. Rechtspolitisch heikle, aber aus rechtsstaatlichen Gründen notwendige Schritte wie die Kodifikation einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung werden im Zweifel nicht eingeleitet. Dem EuGH muss es daher möglich sein, das primäre Gemeinschaftsrecht weiterzuentwickeln, damit auf diese Weise der Integrationsprozess vorangetrieben wird, zumal die grundlegenden Verträge der EU auch keine statische Verfassung bilden, sondern die materielle Grundlage dafür, das vertraglich definierte Ziel einer „immer engeren Union der Völker Europas“ zu erreichen. Die Funktionsfähigkeit der EU hängt nicht zuletzt davon ab, dass der EuGH rechtsetzend tätig wird, wenn der Erlass primären Gemeinschaftsrechts notwendig ist, die Mitgliedstaaten jedoch untätig bleiben. Zudem wollten die Mitgliedstaaten bei der Gründung der EU eine funktionsfähige Union bilden. Insofern liegt es auch in ihrem Interesse, dass der EuGH die Funktionsfähigkeit der EU sicherstellt, indem er systemwidrige Regelungsdefizite im primären Gemeinschaftsrecht schließt. Vor dem Hintergrund, dass eine solche richterliche Rechtsfortbildung nur ausnahmsweise zulässig ist, müssen jedoch bei der Beseitigung des Regelungsdefizits verschiedene Aspekte beachtet werden. Ob dies bei der Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts geschehen ist, soll nachfolgend erörtert werden. Letztlich geht es in diesem Zusammenhang um die Frage nach den Grenzen der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH, der Ewigkeitsfrage der Jurisprudenz130.
129 130
Vgl. 4. Teil, A., I. Hatje, EuR 1997, 297 (301).
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a) Horizontale und vertikale Kompetenzverteilung Der EuGH hat bei der Beseitigung des Regelungsdefizits die horizontale und vertikale Kompetenzverteilung zu beachten. In horizontaler Hinsicht ist die Rechtsfortbildungskompetenz durch das institutionelle Gleichgewicht der Gemeinschaft begrenzt, in dem der Gerichtshof als Gegengewicht zu den Rechtsetzungsorganen Rat und Kommission fungiert. Zum Schutz der Rechtsunterworfenen als auch der Rechtseinheit in der Gemeinschaft kontrolliert er ihre Entscheidungen auf die Einhaltung der Kompetenznormen und des Verfahrens sowie auf die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht131. Zwar verfügt der EuGH im Verhältnis zum Gemeinschaftsgesetzgeber über ausgesprochen umfangreiche Kompetenzen, die originäre Zuständigkeit für die Rechtsetzung liegt jedoch nicht bei ihm, sondern beim Gemeinschaftsgesetzgeber. In vertikaler Hinsicht bildet die Verbandskompetenz der Gemeinschaft eine Grenze. Diese Kompetenz beinhaltet Zuständigkeiten, die der Gemeinschaft durch den EG-Vertrag ausdrücklich oder implizit („implied powers“) übertragen worden sind132. Unter die Verbandskompetenz fällt auch die Vertragslückenschließungskompetenz der Gemeinschaft gemäß Art. 308 EG. Für die Verbandskompetenz ist das Prinzip der begrenzten Ermächtigung133 maßgebend134. Danach kann die Gemeinschaft nur solche Materien regeln, die ihr in den Gemeinschaftsverträgen zugewiesen sind. Fehlen ausdrückliche Befugnisse, kann auf die „implied powers“ abgestellt werden. Diese impliziten Gemeinschaftskompetenzen entsprechen den aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten Zuständigkeiten kraft Sachzusammenhang135. Der EuGH geht von einer impliziten Zuständigkeit aus, wenn ohne sie die ausdrückliche Kompetenz einer Gemeinschaft sinnlos wäre oder nicht in vernünftiger und zweckmäßiger Weise zur Anwendung gelangen könnte136. 131
Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 220, Rn. 9 ff. Das BVerfG hat sich im „Lissabon“-Urteil das Recht vorbehalten, zu prüfen, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Ermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten. Darüber hinaus hat das BVerfG geprüft, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist (vgl. BVerfG, S. 23, Fn. 39, Rn. 240). 133 Teilweise wird auch vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gesprochen, vgl. etwa König/Haratsch/Pechstein, S. 72, Rn. 166. Die Verwendung dieses Terminus suggeriert jedoch, dass die Kompetenzen der Gemeinschaft enumerativ sind. Dies ist aber wegen Art. 308 EG nicht der Fall. Deshalb sollte besser vom Prinzip der begrenzten Ermächtigung die Rede sein, vgl. Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf, Art. 249 EGV, Rn. 60. 134 Vgl. Art. 5 EU, Art. 5 Abs. 1, 7 Abs. 1 S. 2 EG. 135 Zuleeg, in: Groeben/Schwarze, Art. 5 EG, Rn. 3. 132
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Nur wenn weder eine ausdrückliche noch eine implizite Gemeinschaftskompetenz in Betracht kommt, kann ausnahmsweise auf die Regelung des Art. 308 EG zurückgegriffen werden137. Neben den Rechtsetzungskompetenzen umfasst die Verbandskompetenz eines Staates auch die Verwaltungskompetenzen. Auf Gemeinschaftsebene entspricht die Verbandskompetenz dagegen weitgehend den Rechtsetzungskompetenzen138, da die Gemeinschaft nur über wenig eigene Verwaltungskompetenzen verfügt139. Die Verbandskompetenz der Gemeinschaft findet also im Prinzip dort ihre Grenze, wo die Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaft enden. Die Verbandskompetenz und das institutionelle Gleichgewicht begrenzen die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH jedoch nur in Bezug auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht. So kann der Gemeinschaftsgesetzgeber aufgrund der Verbandskompetenz gerade kein primäres Gemeinschaftsrecht erlassen. Auf die Belange des Gemeinschaftsgesetzgebers kommt es bei der Beseitigung primärrechtlicher Regelungsdefizite daher auch nicht an. Vielmehr sind allein die Belange der Mitgliedstaaten zu beachten, denen es grundsätzlich obliegt, systemwidrige Regelungsdefizite im primären Gemeinschaftsrecht im Wege eines Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 EU zu beseitigen. Da mit der Anerkennung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung ein Regelungsdefizit im primären und nicht im sekundären Gemeinschaftsrecht beseitigt worden ist, kam es mithin nicht auf die Einhaltung des institutionellen Gleichgewicht und der Verbandskompetenz an. Vorschriften, die das kompetenzielle Verhältnis von EuGH und Mitgliedstaaten konkret regeln, gibt es allerdings nach wie vor nicht. Allgemeine Schranken wie das Subsidiaritätsprinzip finden in diesem Verhältnis jedoch durchaus Anwendung. b) Grundsatz der Gemeinschaftstreue Eine Schranke ergibt sich auch aus dem in Art. 10 EG verankerten Grundsatz der Gemeinschaftstreue. In der Literatur ist insoweit vorgebracht worden, dieser Grundsatz sei bei der Beseitigung des Regelungsdefizits vom EuGH nicht hinreichend beachtet worden140. Danach sind nicht nur die Mitgliedstaaten zur Loyalität gegenüber der Gemeinschaft verpflichtet, 136 Ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. etwa EuGH v. 16. Juli 1956, Rs. 8/55 (Fédération Charbonnière de Belgique), Slg. 1955/1956, 197 (311 ff.). 137 Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 308, Rn. 1. 138 Cornils, S. 267. 139 Die EG verfügt insbesondere im Kartellrecht über eigene Verwaltungskompetenzen (vgl. Art. 85, 86 Abs. 3 EG). 140 Ukrow, S. 333 f.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
sondern über den Wortlaut der beiden Vorschriften hinaus auch die Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten141. Der Regelung des Art. 10 EG kommt die schwierige Aufgabe zu, die in vertikaler Hinsicht bestehende Machtbalance zu gewährleisten142. Insofern stellt sie wie Art. 5 Abs. 2 EG (Subsidiaritätsprinzip) eine Kompetenzausübungsregel dar143. Gemeinschaftsorgane wie der EuGH sind verpflichtet, bei der Kompetenzausübung auf elementare Interessen und die nationale Identität der Mitgliedstaaten Rücksicht zu nehmen (Rücksichtnahmegebot)144. Die Beachtung solch elementarer Interessen dient der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft, da deren Kompetenzordnung auf dem Zusammenwirken mit den Mitgliedstaaten basiert145. Die Achtung der nationalen Identität bezieht sich nicht nur auf die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten, sondern auch auf alle identitätsprägenden verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen146. Solche Grundentscheidungen sind zum Beispiel die durch Art. 79 Abs. 3 GG vor Verfassungsänderungen geschützten Prinzipien des Grundgesetzes147. Nicht jede nationale Besonderheit, auch wenn sie verfassungsrechtlich determiniert ist, kann jedoch als identitätsprägende verfassungsrechtliche Grundentscheidung angesehen werden. So ist beispielsweise der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung nicht identitätsprägend148. In jedem Fall müssen die Gemeinschaftsorgane auf verfassungsrechtliche Grundentscheidungen wie das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip Rücksicht nehmen, da diese gemäß Art. 6 Abs. 1 EU zugleich Verfassungsprinzipien der Europäischen Union darstellen. Das Rücksichtnahmegebot verpflichtet die Gemeinschaft grundsätzlich nur dazu, einen schonenden Ausgleich zwischen dem gemeinschaftsrechtlich verfolgten Ziel und den Besonderheiten des nationalen Verfassungsrechts zu suchen. Nur wenn das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten zu Änderungen in solchen Bestandteilen ihrer Verfassungen zwingen würde, die sich aus der Sicht der jeweiligen Verfassung als grundlegend und unverzichtbar dar141 EuGH v. 13. Juli 1990, Rs. C-2/88 (Zwartveld), Slg. 1990, I-3365; Epiney, EuR 1994, 301 (312). 142 Lück, S. 156. 143 Epiney, EuR 1994, 301 (314). 144 Das Rücksichtnahmegebot hat in Art. 6 Abs. 3 EU Niederschlag gefunden. Diese Regelung stellt insofern eine Ausprägung des Grundsatzes der Gemeinschaftstreue dar, vgl. Streinz, in: Streinz, Art. 10 EGV, Rn. 48. 145 Streinz, in: Streinz, Art. 10 EGV, Rn. 51. 146 Vgl. BVerfGE 89, 155 (174); Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EG-Vertrag, Rn. 52; Streinz, in: Streinz, Art. 10 EGV, Rn. 48; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV, Rn. 82. 147 Hierzu gehören insbesondere das Rechtsstaatsprinzip, das Demokratieprinzip, das Prinzip der Republik, das Sozialstaatsprinzip und das Bundesstaatsprinzip. 148 Vgl. Kadelbach, S. 252; Blanke, DVBl. 1993, 819 (826).
A. Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
143
stellen, erstarkt die Kompetenzausübungsregel des Art. 10 EG zu einer Kompetenzausübungsschranke. Der EuGH muss somit bei der Fortbildung des Gemeinschaftsrechts Rücksicht auf die elementaren Interessen und nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten nehmen. Die Schaffung neuen Gemeinschaftsrechts darf also nicht nur den Gemeinschaftsinteressen geschuldet sein, sondern muss auch mit mitgliedstaatlichen Belangen in Einklang gebracht werden149. Mit der Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs ging jedoch keine Gefährdung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten einher. Weder die Staatlichkeit noch die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen der Mitgliedstaaten wurden in Frage gestellt. Vielmehr entspringt die Staatshaftung für Gemeinschaftsrechtsverstöße einem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Mitgliedstaaten, dem Rechtsstaatsprinzip. Es stellt sich jedoch die Frage, ob einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung nicht elementare Interessen der Mitgliedstaaten entgegenstehen, auf die der EuGH nicht ausreichend Rücksicht genommen hat. In Betracht kommt das elementare Interesse der Mitgliedstaaten an einem ausgewogenen Staatshaushalt. Zweifelsohne kann die Haftung eines Mitgliedstaates erhebliche Belastungen für den jeweiligen Haushalt mit sich bringen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die abstrakte Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung die mitgliedstaatlichen Haushalte nicht belastet. Erst der Gemeinschaftsrechtsverstoß eines Mitgliedstaates begründet die Staatshaftung. Es liegt also in der Hand der Mitgliedstaaten, ob ihre Haushalte belastet werden oder nicht. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die Mitgliedstaaten selbst staatshaftungsrechtliche Institute geschaffen haben, die ihre Haushalte regelmäßig belasten150. Die Rücksichtnahme des EuGH auf die Belange der Mitgliedstaaten spiegelt sich auch in seinen rechtsvergleichenden Ausführungen wider151. Zudem hat er ausdrücklich auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen rekurriert, wonach eine rechtswidrige Handlung oder Unterlassung die Verpflichtung zum Ersatz des verursachten Schadens nach sich zieht152. Vor diesem Hintergrund kann ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gemeinschaftstreue nicht angenommen werden. Die Schaffung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts war vielmehr gerade deswegen erforderlich, weil die Mitgliedstaaten ihren aus dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue ebenfalls erwachsenden Loyalitätspflichten oftmals nicht nachgekommen sind153. 149 150 151 152
Vgl. Art. 6 Abs. 3 EU. Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1144, Rn. 30. Vgl. 4. Teil., A., III., 2., g) und h). EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1144, Rn. 29.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
c) Subsidiaritätsprinzip Auch das Subsidiaritätsprinzip begrenzt die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH. Dieses auf die katholische Soziallehre sowie liberale Staatslehren zurückzuführende154 Prinzip wurde in Art. 5 Abs. 2 EG kodifiziert155 und bezieht sich auf die Kompetenzausübung innerhalb des Gemeinschaftsrechts156. Es besagt, dass die Europäische Gemeinschaft nur dann tätig werden kann, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht (Negativkriterium) und sie wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene verwirklicht werden können (Positivkriterium). Sowohl das Negativkriterium als auch das Positivkriterium müssen kumulativ erfüllt sein, damit das Handeln der Gemeinschaft dem Subsidiaritätsprinzip entspricht. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass vor „Francovich u. a.“ eine Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht in der Regel nicht möglich war, da sich die Frage des „Ob“ einer Haftung ausschließlich nach nationalem Recht richtete, das vielfach Haftungsbeschränkungen und -ausschlüsse vorsieht. Auf der Ebene der Mitgliedstaaten konnte das Ziel eines effektiven Individualrechtsschutzes also nicht in ausreichendem Maße erreicht werden. Das Negativkriterium war somit gegeben. Darüber hinaus lag auch das Positivkriterium vor. Effektiver Individualrechtsschutz kann nämlich besser erreicht werden, wenn das „Ob“ einer Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße nur auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen ist. So kann der Einzelne prüfen, ob eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Betracht kommt, ohne sich mit der Rechtsordnung des jeweiligen Mitgliedstaats auseinandersetzen zu müssen. Schließlich ist zur Kenntnis zu nehmen, dass es der EuGH bewusst dabei belassen hat, nur den Grundtatbestand einer mitgliedstaatlichen Haftung für Gemeinschaftsrechtsverstöße vorzugeben. Eine detaillierte Staatshaftungsregelung mit allen in Betracht kommenden Voraussetzungen ist gerade nicht geschaffen worden. Hinzu kommt, dass die Anspruchsgrundlage der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, wie noch gezeigt wird157, vorrangig im nationalen Recht zu suchen ist. Nur wenn dort keine geeignete 153
Vgl. 4. Teil, A., III., 2., c). Lecheler, Subsidiaritätsprinzip, S. 29 ff.; Calliess, S. 25; Pieper, S. 33 ff. 155 Vgl. auch den 12. Erwägungsgrund der Präambel des EU-Vertrages, Art. 2 Abs. 2 EU und Art. 23 GG. 156 Der Begriff „Subsidiaritätsprinzip“ ist für sich genommen weitgehend inhaltsleer. Erst wenn er in Beziehung zu einer bestimmten Materie gesetzt wird, lässt sich sein Inhalt bestimmen, vgl. Pieper, S. 31. 157 Vgl. 4. Teil, B., I., 1. 154
A. Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
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Rechtsgrundlage existiert, kann auf den insoweit subsidiären gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch zurückgegriffen werden. Dieses Ergebnis trägt dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung158. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass für einen eigenständigen, originär gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch kein Raum ist, wenn eine mitgliedstaatliche Staatshaftungsregelung bei gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung zur gemeinschaftsrechtlichen Zielverwirklichung ausreicht159. Die Schließung des systemwidrigen Regelungsdefizits im Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft verstieß somit nicht gegen das Subsidiaritätsprinzip. d) Wesentlichkeitsgrundsatz Darüber hinaus muss der EuGH bei der Fortbildung des Gemeinschaftsrechts den Wesentlichkeitsgrundsatz beachten. Danach bleibt es den Mitgliedstaaten vorbehalten, wesentliche Änderungen des in den Verträgen angelegten Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigungen herbeizuführen160. Mit der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung hat der Gerichtshof zwar Primärrecht geschaffen, eine wesentliche Änderung des in den Verträgen angelegten Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigungen ist damit aber nicht verbunden gewesen. Die Aufgaben und Ziele der EU wurden nicht tangiert und eine Kompetenzerweiterung brachte die Fortbildung des Gemeinschaftsrechts auch nicht mit sich161. Ein Verstoß gegen den Wesentlichkeitsgrundsatz scheidet mithin aus. e) Gebot der richterlichen Zurückhaltung Das Gebot der richterlichen Zurückhaltung (judicial self-restraint) könnte der Schaffung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts allerdings entgegengestanden haben. Danach müssen sich die Richter des EuGH insbesondere bei politischen Fragen zurückhalten, da insoweit die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten als den Herren der Verträge berührt ist162. Auf einer parallel zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Francovich u. a.“ tagenden Regierungskonferenz ist seinerzeit über Maßnahmen zur Sanktionierung von Vertragsverletzungen diskutiert worden. Es wurde beschlossen, die Regelung des Art. 171 Abs. 2 EGV (Art. 288 Abs. 2 EG) zu erlassen. Von einer Unzulässigkeit der Rechtsfortbildung durch den EuGH 158 159 160 161 162
Vgl. insoweit Preiß-Jankowski, S. 259. Säuberlich, EuR 2004, 954 (969). Ukrow, S. 212; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733 (737). So auch Ukrow, S. 328. Vgl. Streinz, S. 213, Rn. 569.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
ist gleichwohl nicht auszugehen. Zum einen hat der EuGH das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht, wie bereits ausgeführt, nicht als Reaktion auf das Sanktionsdefizit im Gemeinschaftsrecht entwickelt163. Zum anderen ist auf der Regierungskonferenz der Vorschlag der deutschen Seite, eine Staatshaftungsregelung als dritten Absatz in Art. 5 EG-Vertrag (Art. 10 EG) aufzunehmen164, gerade nicht angenommen worden. Im Übrigen ist es auch nicht wahrscheinlich gewesen, dass die Mitgliedstaaten sich tatsächlich zu einer Staatshaftungsregelung durchringen würden, da mit einer solchen Regelung das Risiko hoher finanzieller Einbußen einhergeht165. Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht bislang noch nicht kodifiziert worden ist. Die Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts diente letztlich der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft und entsprach deshalb auch den Interessen der Mitgliedstaaten, die bei der Gründung der EG eine funktionsfähige Gemeinschaft bilden wollten166. Der Gemeinschaftsgesetzgeber konnte das Regelungsdefizit nicht beseitigen, da es im primären Gemeinschaftsrecht zu verorten ist und deshalb ein Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 EU erforderlich gewesen wäre167. Nur der EuGH kann systemwidrige Regelungsdefizite im Primärrecht ausnahmsweise innerhalb bestimmter Grenzen schließen168. f) Dringlichkeit Die Entwicklung primären Gemeinschaftsrechts durch den EuGH setzt schließlich eine gewisse Dringlichkeit voraus. In der Literatur wird vorgebracht, die Rechtsfortbildung des EuGH in „Francovich u. a.“ sei nicht dringlich gewesen, da den berechtigten Interessen der Marktbürger an einer Richtlinienumsetzung schon durch die Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien ausreichend entsprochen worden sei. Ein Rechtsnotstand habe folglich nicht vorgelegen169. Diese Auffassung verkennt jedoch die Dimension des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs als Instrument des sekundären Rechtsschutzes. Die Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung zielt hingegen auf die Gewährung primären Rechtsschutzes ab. Kann der Einzelne trotz dieser Rechtsprechung keinen primä163 164 165 166 167 168 169
Vgl. 4. Teil, A., II., 1. Vgl. Claßen, S. 257, Fn. 125. Claßen, S. 257; Henrichs, S. 184. Vgl. Claßen, S. 257 f. Vgl. 4. Teil, II., vor 1. Vgl. 4. Teil, IV., 3. Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733 (741).
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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ren Rechtsschutz erlangen, muss es in einem rechtsstaatlichen Gemeinwesen möglich sein, sekundären Rechtsschutz zu beanspruchen. Vor dem Hintergrund, dass die Staatshaftung ein zentrales Element des Rechtsstaatsprinzips darstellt, wird deutlich, dass die Schaffung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs notwendig gewesen ist. Auf die Kodifikation eines solchen Anspruchs konnte der Gerichtshof nicht warten, denn dies hätte in „Francovich u. a.“ zur Konsequenz gehabt, dass den Klägern Rechtsschutz versagt worden wäre. Die Inanspruchnahme der Gesetzgebungs-Notkompetenz ist also sehr wohl dringlich gewesen. g) Begründungserfordernis Des Weiteren ist bei der Rechtsfortbildung durch den EuGH eine ausreichende und plausible Begründung angezeigt. Die Anforderungen an die Begründungspflicht steigen umso mehr, je stärker sich die Rechtsfortbildung von der Auslegung in Richtung auf eine am Maßstab der Gesamtrechtsordnung orientierte Beseitigung von Regelungsdefiziten bewegt170. Die Begründung der Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts vollzog sich vornehmlich im Rahmen der EuGH-Urteile „Francovich u. a.“, „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ und „Köbler“171. Obgleich die Begründung zunächst noch zu wünschen übrig ließ172, kann sie spätestens seit „Köbler“ nicht mehr als zu knapp erachtet werden. Auch die Plausibilität der Argumente kann nicht in Zweifel gezogen werden. Nach alledem ist davon auszugehen, dass der EuGH die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung nicht überschritten hat. Die Beseitigung des systemwidrigen Regelungsdefizits im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem ist somit zulässig gewesen.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung Nachdem die Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts durch den EuGH erläutert worden ist, soll nunmehr auf die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung eingegangen werden.
170 171 172
Ukrow, S. 175. Vgl. 4. Teil, A., III., 2. Vgl. Ukrow, S. 326 ff.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
I. Die rechtliche Grundlage des Staatshaftungsanspruchs Im Vorfeld ist jedoch die umstrittene Frage zu klären, ob der Haftungsanspruch im nationalen Recht oder im Gemeinschaftsrecht zu verorten ist. 1. Rechtsnatur Zum Teil wird der dogmatischen Verortung des Staatshaftungsanspruchs nur eine geringe Bedeutung beigemessen173. Dieser Einschätzung kann jedoch nicht gefolgt werden. Für die allgemeine Akzeptanz und das Verständnis des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts ist die Bestimmung der rechtlichen Grundlage unerlässlich174. Der Rechtsanwender, sei es der betroffene Bürger oder der nationale Richter, muss wissen, ob die Grundlage des Staatshaftungsanspruchs im Gemeinschaftsrecht oder im nationalen Recht zu suchen ist175. Der Rechsprechung des EuGH lassen sich insoweit allerdings keine eindeutigen Aussagen entnehmen. Der Gerichtshof erklärt zwar in ständiger Rechtsprechung, dass der Schadensersatzanspruch seine Grundlage unmittelbar im Gemeinschaftsrecht finde, sodann folgt jedoch stets die Aussage, dass die Folgen des verursachten Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben seien176. Die Einordnung dieser abstrakten Ausführungen bleibt Aufgabe der mitgliedstaatlichen Gerichte und nicht zuletzt der Literatur. Wenngleich schon seit langer Zeit über die Rechtsnatur des Staatshaftungsanspruchs gestritten wird, ist dieser Streit noch nicht ausgestanden177. a) Gemeinschaftsrechtlicher Anspruch Nicht wenige Vertreter178 gehen von einem Staatshaftungsanspruch aus, dessen Grundlage unmittelbar und ausschließlich im Gemeinschaftsrecht zu verorten sei. So wird vorgebracht, der EuGH habe ein eigenständiges Staatshaftungsinstitut geschaffen, das neben die nationalen Haftungsansprüche trete und von diesen grundsätzlich zu trennen sei. Das nationale Recht finde bloß bezüglich der Rechtsfolgen und der prozessualen Durchsetzung des Anspruchs Anwendung. Zur Begründung wird regelmäßig auf die Aus173
Vgl. Bertelmann, S. 51. Vgl. Strickrodt, S. 29. 175 Vgl. Beljin, S. 218 f. 176 Vgl. nur EuGH, S. 70, Fn. 252, Rn. 219. 177 So auch Bertelmann, S. 50; Säuberlich, S. 157; ders., EuR 2004, 954 (970). 178 BGHZ 134, 30 (36); Ossenbühl, S. 524 f.; Beljin, 218 ff.; Cornils, S. 122; Geiger, S. 84 ff.; Hatje, EuR 1997, 297 (303). 174
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
149
sage des Urteils „Francovich u. a.“ verwiesen, wonach die aufgestellten Voraussetzungen ausreichten, um dem Einzelnen einen Anspruch auf Entschädigung zu geben, der unmittelbar im Gemeinschaftsrecht begründet sei179. Der EuGH drückt sich mittlerweile zwar anders aus, wenn er feststellt dass der Entschädigungsanspruch bei Erfüllung der Voraussetzungen seine Grundlage unmittelbar im Gemeinschaftsrecht habe180, inhaltlich ist er damit jedoch nicht von seiner ursprünglichen Aussage abgerückt. Würde der EuGH nicht stets erklären, dass der Staat die Folgen des verursachten Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben habe181, spräche in der Tat vieles für die Annahme eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs. Jene Erklärung legt jedoch den Schluss nahe, dass die Haftung auf der Basis einer nationalen Anspruchsgrundlage erfolgt182. Andererseits hat der Gerichtshof in „Francovich u. a.“ auch ausgeführt, es sei Sache der nationalen Rechtsordnungen, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und das Verfahren für die Klagen auszugestalten183. Die Feststellungen des EuGH zur Anwendbarkeit des nationalen Rechts könnten sich in Anbetracht dessen vornehmlich auf die prozessuale Durchsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung beziehen. Der Annahme eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs stünde dann nichts entgegen. b) Nationalrechtlicher Anspruch Des Weiteren wird vertreten184, der Staatshaftungsanspruch habe seine Grundlage ausschließlich im nationalen Recht. In „Francovich u. a.“ sei bloß die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung eines nationalen Staatshaftungsanspruchs nach Maßgabe gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben begründet worden. Die vorhandenen Staatshaftungsinstitute der Mitgliedstaaten müssten im Kollisionsfall gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt bzw. angepasst werden. Der Tatbestand des Staatshaftungsanspruchs setze sich aus den vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen und denen des einschlägigen nationalen Staatshaftungsinstituts zusammen, soweit diese mit den Vorgaben des EuGH zu vereinbaren sind. Bezüglich der Rechtsfolgen und der prozessualen Durchsetzung sei dagegen ausschließlich das nationale Recht anzuwenden. Die Mitgliedstaaten hätten dabei allerdings darauf zu 179 180 181 182 183 184
EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5415, Rn. 41. Vgl. EuGH, S. 70, Fn. 252, Rn. 219. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10312, Rn. 58. Vgl. Bertelmann, S. 53. EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5415, Rn. 42. Bertelmann, S. 56 ff; Claßen, S. 99 ff.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
achten, dass nicht gegen das Diskriminierungsverbot oder das Effizienzgebot verstoßen wird. Gegen diese Ansicht wird vorgebracht, die Vollziehung der gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben erscheine technisch einfacher, wenn auf einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch abgestellt wird185. Die bestehenden Staatshaftungsinstitute des nationalen Rechts müssten nicht gemeinschaftsrechtskonform modifiziert werden, um eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung zu ermöglichen, sondern könnten unangetastet bleiben. So sei etwa das deutsche Staatshaftungsrecht ohnehin schon kompliziert genug. Dem kann zwar im Grundsatz zugestimmt werden, die Antastung nationaler Rechtsinstitute muss jedoch von den Mitgliedstaaten der EU hingenommen werden, wenn sie an der Europäischen Integration festhalten wollen. Der Europäisierungsprozess macht es erforderlich, dass das nationale Recht den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben methodisch und dogmatisch angepasst wird. Wenn die Implementation der Vorgaben des EuGH in das bestehende Staatshaftungsrecht eines bestimmten Mitgliedstaates technisch zu kompliziert erscheint, muss dort ein eigenständiges Rechtsinstitut geschaffen werden, das den Vorgaben gerecht wird. Solange dies nicht geschieht, bleiben die mitgliedstaatlichen Gerichte dazu verpflichtet, das nationale Staatshaftungsrecht im Kollisionsfall gemeinschaftsrechtskonform auszulegen. Die Verzahnung von nationalem und supranationalem Recht im Bereich des Staatshaftungsrechts muss als systemimmanente Erscheinung des Gemeinschaftsrechts begriffen werden. Insofern erscheint es auch vermessen, allein aufgrund der Tatsache, dass die Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße auf Vorgaben des EuGH beruht, von einem gemeinschaftsrechtlichen Haftungsanspruch auszugehen. Der EuGH hat vielmehr erklärt, dass die Staaten nach nationalem Recht auch unter weniger strengen Voraussetzungen haften könnten186. Dies wäre aber nicht möglich, wenn die vom EuGH festgelegten Haftungsvoraussetzungen zwangsläufig zu prüfen wären. Der EuGH scheint also davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich nach Maßgabe des nationalen Rechts für Gemeinschaftsrechtsverstöße haften. Die Haftungsvoraussetzungen des EuGH müssen in diesen Fällen als gemeinschaftsrechtliche Mindestvorgaben für die Anwendung des nationalen Staatshaftungsrechts begriffen werden. Die Aussage des EuGH, dass der Entschädigungsanspruch bei Erfüllung der Voraussetzungen seine Grundlage unmittelbar im Gemeinschaftsrecht habe187, wird nicht in Frage gestellt, wenn auf einen nationalrechtlichen 185 186 187
Beljin, S. 227 f. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1153, Rn. 66; EuGH, Fn. 3, I-10312, Rn. 57. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10312, Rn. 58.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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Anspruch abgestellt wird. Schließlich ist nicht von einer „Anspruchsgrundlage“ oder „Rechtsgrundlage“ die Rede, sondern lediglich von einer „Grundlage“. Hierdurch wird nur der Umstand beschrieben, dass sich der Entschädigungsanspruch aus dem Wesen der europäischen Rechtsordnung deduzieren lässt188. In der Literatur wird schließlich auch ein Vergleich mit der Erstattungsrechtsprechung gezogen189. So sei allgemein anerkannt, dass der EuGH im Rahmen dieser Rechtsprechung keinen Rückforderungstatbestand geschaffen, sondern bloß Vorgaben gemacht hat, wie die Rückforderung nach nationalem Recht vonstatten gehen soll. Der Vergleich mit der Erstattungsrechtsprechung kann jedoch nicht überzeugen, denn es liegt näher, einen Vergleich mit der Rechtsprechung des EuGH zur außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft gemäß Art. 288 Abs. 2 EG zu ziehen, zumal der Gerichtshof die Kohärenz von gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftung und außervertraglicher Gemeinschaftshaftung forciert hat190. Bei der Gemeinschaftshaftung steht es jedoch außer Frage, dass der Haftungsanspruch im Gemeinschaftsrecht fußt. Die „Konle“-Entscheidung191 kann entgegen einer Ansicht in der Literatur192 ebenfalls nicht als Indiz für einen nationalrechtlichen Staatshaftungsanspruch gewertet werden. Die Feststellung des Gerichtshofs, dass der Gegner des Staatshaftungsanspruchs auf der Grundlage des nationalen Rechts zu bestimmen sei193, betrifft letztlich nicht das „Ob“ einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, sondern das „Wie“, also die Frage der Anspruchsdurchsetzung, die ohnehin auf der Grundlage des nationalen Rechts zu beurteilen ist. Aus Sicht des Gemeinschaftsrechts ist es unerheblich, ob der Gesamtstaat selbst oder stattdessen andere nationale Stellen haften, solange die Haftung sichergestellt ist194. c) Subsidiärer gemeinschaftsrechtlicher Anspruch Ein Teil der Literatur195 hält zwar weiterhin an einem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch fest, letztlich wird jedoch davon ausgegangen, 188
Säuberlich, EuR 2004, 954 (956). Bertelmann, S. 53; Seltenreich, S. 75. 190 Näheres dazu: 4. Teil, B., II., 2., vor a). 191 Vgl. EuGH, S. 58, Fn. 192. 192 Lecheler, S. 177; Bertelmann, S. 53. 193 Vgl. EuGH, S. 58, Fn. 192, I-3140, Rn. 62 f. 194 Vgl. Kischel, EuR 2005, 441 (450 f.). 195 Oppermann, S. 62, Rn. 23; Weber, NVwZ 2001, 287 (288 f.); Gundel, DVBl. 2001, 95 ff.; Säuberlich, EuR 2004, 954 ff. 189
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
dass dieser in einem Subsidiaritätsverhältnis zum nationalen Staatshaftungsrecht steht. Nur wenn die nationale Rechtsordnung keine Staatshaftung vorsieht oder wenn das nationale Staatshaftungsrecht nicht gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden kann, komme eine unmittelbare Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs in Betracht. Für diese Ansicht spricht, dass der Einzelne auch dann sekundären Rechtsschutz erlangen können muss, wenn das nationale Recht keine geeigneten Anspruchsgrundlagen bereithält. Wurde das Recht eines Mitgliedstaates schon nicht gemeinschaftsrechtskonform ausgestaltet, muss erst recht die Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung bestehen. Im Hinblick auf das Prinzip der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts und den Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes kann nichts anderes gelten. d) Stellungnahme Im Ergebnis erscheint die letztgenannte Ansicht vorzugswürdig, da im Unterschied zu der zweiten Ansicht ein lückenloser Individualrechtsschutz bei Gemeinschaftsrechtsverstößen gewährleistet ist. Der ersten Ansicht kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip zu bezweifeln ist, dass der EuGH zur Kreation eines ausschließlich gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs befugt wäre196. Überdies deutet die jüngste Rechtsprechung des EuGH darauf hin, dass von einer Subsidiarität des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs auszugehen ist. In „A.G.M.-COS.MET“ hat der Gerichtshof aufgrund der Angaben des vorlegenden Gerichts festgestellt, dass die klägerische Gesellschaft A.G.M.-COS.MET Srl im Rahmen des finnischen Rechts nur schwerlich Schadensersatz erlangen kann197. Sodann befand er, dass in diesem Fall ein Entschädigungsanspruch entstehe, wenn nachgewiesen ist, dass die Voraussetzungen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung gegeben sind198. Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch entsteht somit, wenn auf der Grundlage des nationalen Staatshaftungsrechts kein Schadensersatz erlangt werden kann. Zunächst ist die Anspruchsgrundlage also im nationalen Recht zu suchen. Nur wenn diese Suche erfolglos bleibt, weil das Recht des jeweiligen Mitgliedstaats keine Staatshaftung vorsieht oder eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationaler Staatshaftungsinstitute nicht möglich ist, müssen die nationalen Gerichte direkt auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch mit seinen haftungsbegründenden Voraussetzungen 196 197 198
Vgl. 4. Teil, A., IV., 3., c). EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 91. EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 92.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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rekurrieren. In diesem Fall ist nämlich von einer direkten Kollision des nationalen Recht mit dem Gemeinschaftsrecht auszugehen, die den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auslöst199. Der Grundsatz einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung nimmt dann die Gestalt eines eigenständigen Haftungsanspruchs an. 2. Konkrete Anspruchsgrundlagen Wie den vorstehenden Ausführungen zu entnehmen ist, ergibt sich die Anspruchsgrundlage der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung grundsätzlich aus dem nationalen Recht. Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch selbst ist insoweit subsidiär. Wurde auf nationaler Ebene kein eigenständiges Haftungsinstitut nach den Vorgaben des EuGH geschaffen, muss versucht werden, die bestehenden Regelungen des nationalen Staatshaftungsrechts im Wege einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zur Anwendung zu bringen. In Deutschland hat der Gesetzgeber bislang noch kein spezielles Rechtsinstitut zur Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben entwickelt. Daher muss das Staatshaftungsrecht in seiner bisherigen Form herangezogen werden. In Betracht kommen verschiedene Ansprüche, wobei dem Amtshaftungsanspruch gemäß Art. 34 S. 1 GG i. V. m. § 839 BGB die größte Bedeutung zukommt. Soweit eine taugliche Anspruchsgrundlage im nationalen Recht existiert, sollte diese jedenfalls in Verbindung mit dem Grundsatz der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung zitiert werden, da so zum Ausdruck gebracht wird, dass das jeweilige Rechtsinstitut in gemeinschaftsrechtskonformer Weise angewandt wird. Hält das nationale Recht keine geeigneten Anspruchsgrundlagen bereit, muss auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch rekurriert werden. In der Literatur wird darüber diskutiert, welche konkrete Anspruchsgrundlage in diesem Zusammenhang heranzuziehen ist. Genannt werden unter anderem die vertraglichen Vorschriften der Art. 10 EG, Art. 288 Abs. 2 EG und Art. 228 Abs. 1 EG200. Im Ergebnis erscheint es jedoch vorzugswürdig, keine konkrete Anspruchsgrundlage heranzuziehen. Der EuGH hat bewusst keine Anspruchsgrundlage für die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung festgelegt. Eine Rekurrierung auf Vertragsvorschriften wie Art. 10 EG ist auch nicht angezeigt, denn der Gerichtshof hat das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht nicht nur wegen des Grundsat199 200
lagen.
Vgl. die näheren Ausführungen: 4. Teil, B. IV. Vgl. Bertelmann, S. 59 ff. – Verfasser prüft noch weitere Anspruchsgrund-
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
zes der Gemeinschaftstreue entwickelt201. Die konkrete Anspruchsgrundlage ergibt sich somit allein aus dem geschaffenen Richterrecht. Es liegt in der Natur von Richterrecht, dass keine Anspruchsgrundlage vorhanden ist. Im Übrigen ist die Festlegung einer konkreten Anspruchsgrundlage auch deswegen nicht zwingend erforderlich, weil die Anspruchsgrundlagen des nationalen Staatshaftungsrechts, wie soeben erläutert wurde, ohnehin vorrangig Anwendung finden.
II. Die haftungsbegründenden Vorgaben des EuGH Den Entscheidungen des EuGH lassen sich verschiedene Vorgaben entnehmen, durch die das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht präzisiert wird. Zu differenzieren ist zwischen haftungsbegründenden („Ob“) und haftungsausfüllenden Vorgaben („Wie“) des EuGH. Bei der Ausgestaltung und Anwendung des nationalen Staatshaftungsrechts in den Mitgliedstaaten müssen diese Vorgaben beachtet werden. Zunächst soll der Fokus auf die haftungsbegründenden Vorgaben des EuGH gelegt werden. Sie finden unmittelbar Anwendung, wenn das nationale Recht keine geeigneten Anspruchsgrundlagen bereithält202. Der Gerichtshof hat drei zentrale Voraussetzungen bestimmt, unter denen die Mitgliedstaaten für Verletzungen des Gemeinschaftsrechts zu haften haben203: • Verletzte Norm des Gemeinschaftsrechts bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, • Hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß, • Unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß und dem Schaden. Es handelt sich bei diesen Voraussetzungen um Mindestvoraussetzungen, von denen zugunsten des Einzelnen abgewichen werden darf204. Im Übrigen ist zu beachten, dass es von der Art des Gemeinschaftsrechtsverstoßes abhängt, wie die vom EuGH festgelegten Haftungsvoraussetzungen zu beurteilen sind205.
201 202 203 204 205
Vgl. 4. Vgl. 4. EuGH, EuGH, EuGH,
Teil, A., III., 2. Teil, B., IV. S. 15, Fn. 3, I-10310, Rn. 51. S. 38, Fn. 78, I-1154, Rn. 66. S. 49, Fn. 145, I-4879, Rn. 24.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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1. Verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm bezweckt die Verleihung subjektiver Rechte Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung setzt zunächst voraus, dass die verletzte Norm des Gemeinschaftsrechts bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Es muss also ein Verstoß gegen eine individualschützende Norm des Gemeinschaftsrechts vorliegen. a) Verhalten eines mitgliedstaatlichen Organs Ausgangspunkt für eine Haftung ist das Verhalten eines mitgliedstaatlichen Organs. Ob es sich dabei um eine Handlung oder ein Unterlassen handelt, ist unerheblich206. Da das Gemeinschaftsrecht vom völkerrechtlichen Staatsbegriff ausgeht, kommt es auch nicht darauf an, ob der haftungsbegründende Verstoß der Legislative, der Exekutive oder der Judikative zuzurechnen ist, zumal alle staatlichen Instanzen einschließlich der Legislative bei der Erfüllung ihrer Aufgaben die vom Gemeinschaftsrecht vorgegebenen Normen, aufgrund der die Situation des Einzelnen unmittelbar geregelt wird, zu beachten haben207. aa) Abgrenzung zum Verhalten von Organen und Bediensteten der Gemeinschaft Ist der entstandene Schaden auf das Verhalten von Organen oder Bediensteten der Gemeinschaft zurückzuführen, greift nicht die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung, sondern die außervertragliche Gemeinschaftshaftung gemäß Art. 288 Abs. 2 EG. Eine eindeutige Zuordnung der Schäden fällt jedoch insbesondere dann nicht leicht, wenn Organe oder Bedienstete der Gemeinschaft und mitgliedstaatliche Stellen in sog. Gemengelagen in einer Art Arbeitsteilung zusammenwirken. Gemengelagen sind dadurch gekennzeichnet, dass mindestens zwei Rechtsträger jeweils einen kausalen Schadensbeitrag leisten, der ihrem eigenen Interesse dient208. Wird das Gemeinschaftsrecht durch mitgliedstaatliche Behörden vollzogen oder umgesetzt, kann sich eine solche Gemengelage ergeben. In einem solchen Fall ist fraglich, ob die Gemeinschaft oder der jeweilige Mitgliedstaat für den entstandenen Schaden zu haften hat. Nach welchen Kriterien die Haftungszurechnung zu erfolgen hat, ist jedoch unklar. Es sind verschiedene Möglichkeiten denkbar209. 206 207 208
EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1145, Rn. 32. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1145, Rn. 34. Vgl. U. Säuberlich, S. 35.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
In der Literatur wird die Ansicht vertreten, die nationalen Stellen handelten beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts als Gemeinschaftsorgane210. Zur Begründung wird auf die Theorie des „dédoublement fonctionnel“ rekurriert, wonach nicht auf die formelle organisationsrechtliche Zuordnung zu einem Rechtsträger abzustellen ist, sondern eine funktionelle Betrachtungsweise zugrunde zu legen ist. Die Haftung müsste nach dieser Ansicht der Gemeinschaft zugerechnet werden. Letztlich ist diese Ansicht jedoch zurückzuweisen, denn sie wird der Komplexität der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht gerecht211. Die Mitgliedstaaten sind selbst für die Rechtmäßigkeit der Handlungen ihrer Behörden zuständig und müssen deshalb auch auf diese einwirken212. Auch die Ansichten in der Literatur, dass bei der Haftungszurechnung an den ersten bzw. letzten schädigenden Akt anzuknüpfen sei213, vermögen nicht zu überzeugen. Zwar würde es die Haftungszurechnung erleichtern, wenn stets der erste bzw. letzte Akt maßgebend wäre, die Besonderheiten des Einzelfalls blieben jedoch unberücksichtigt. Die Anknüpfung an den letzten schädigenden Akte hätte etwa zur Folge, dass beim Vollzug rechtswidrigen Gemeinschaftsrechts durch nationale Behörden selbst dann der Mitgliedstaat zu haften hätte, wenn sich der kausale Schadensbeitrag im bloßen Vollzug erschöpft, zu dem der Mitgliedstaat im Übrigen auch bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit verpflichtet ist214. Bei der Anknüpfung an den ersten schädigenden Akt würde hingegen regelmäßig die Gemeinschaft haften, da kausale Schadensbeiträge der Mitgliedstaaten keine Berücksichtigung fänden. Vor diesem Hintergrund bedarf es eines flexibleren Kriteriums, das den Umständen des Einzelfalls besser gerecht wird. Im Schrifttum wird daher zu Recht vorgeschlagen, die Haftungszurechnung in Abhängigkeit von der rechtlichen Gestaltungsmacht zu beurteilen215. Nur wenn ein Rechtsträger über einen rechtlichen Gestaltungsspielraum verfügt, dessen gemeinschaftsrechtswidrige Ausübung zu einem Schaden geführt hat, trifft ihn die Haftung. Neben das Kriterium der Kausalität des Gemeinschaftsrechtsverstoßes tritt demnach das der rechtlichen Gestaltungsmacht. Dabei kommt es vor allem darauf an, wem die Befugnis zur Gestaltung der Rechtsposition zugewiesen war216. 209
Vgl. insoweit die eingehenden Ausführungen von U. Säuberlich, S. 79 ff. Ophüls, FS Carl Heymanns Verlag, 519 (546). 211 Bünten, S. 39; U. Säuberlich, S. 79. 212 U. Säuberlich, S. 79 f. 213 Vgl. U. Säuberlich, S. 81 ff. 214 Vgl. EuGH v. 13. Februar 1979, Rs. 101/78 (Granaria), Slg. 1979, 623 (637, Rn. 9). 215 U. Säuberlich, S. 86 ff. 216 U. Säuberlich, S. 122 f. 210
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Beim Vollzug rechtswidrigen Gemeinschaftsrechts durch mitgliedstaatliche Stellen fehlt es regelmäßig an einer rechtlichen Gestaltungsmacht, da dem jeweiligen Mitgliedstaat kein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum zusteht. In dem Fall hat die Gemeinschaft zu haften, da ihre Organe in Ausübung rechtlicher Gestaltungsmacht das rechtswidrige Gemeinschaftsrecht erlassen haben217. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung kommt allenfalls dann in Betracht, wenn eine mitgliedstaatliche Stelle offenkundig fehlerhaftes Gemeinschaftsrecht trotz entsprechender Möglichkeit nicht gemeinschaftsrechtskonform auslegt und dadurch einen Schaden verursacht218. Das Kriterium der rechtlichen Gestaltungsmacht ermöglicht somit eine eindeutige Haftungszurechnung. Faktische Einflussnahmen von Gemeinschaftsorganen auf den Gemeinschaftsrechtsvollzug in den Mitgliedstaaten müssen nach der Rechtsprechung des EuGH unberücksichtigt bleiben219. Das Problem der Konkurrenz von Haftungsansprüchen gegen einen Mitgliedstaat einerseits und die Gemeinschaft andererseits stellt sich somit nicht220. Damit bleibt bei einer Gemengelage von Mitgliedstaat und Gemeinschaft für eine kumulative Haftung als Gesamtschuldner grundsätzlich kein Raum221. Eine solche gesamtschuldnerische Haftung kommt nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn Kontroll- und Aufsichtspflichten der Kommission über die Rechtmäßigkeit mitgliedstaatlichen Verhaltens verletzt werden222. bb) Abgrenzung zum Verhalten Privater Ist der Gemeinschaftsrechtsverstoß nicht auf das Verhalten eines mitgliedstaatlichen Organs zurückzuführen, sondern auf das einer Privatperson, ist fraglich, ob das Institut der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Anwendung finden kann.
217 Vgl. insoweit auch EuGH v. 27. September 1988, Rs. 106 bis 120/87 (Asteris), Slg. 1988, 5515 (5562, Rn. 18); Beljin, S. 3. 218 U. Säuberlich, S. 99. 219 Dazu U. Säuberlich, S. 90 ff. Vgl. auch EuGH v. 26. November 1975, Rs. 99/74 (Grands Moulins des Antilles) Slg. 1975, 1531 (1539, Rn. 16/17 ff.); EuGH v. 2. März 1978, Rs. 12,18 u. 21/77 (Debayser) Slg. 1978, 553 (567, Rn. 10 ff.); EuGH v. 13. Juni 1991, Rs. C-50/90 (Sunzest), Slg. 1991, I-2917 (2921, Rn. 6 ff.). 220 Vgl. die eingehenden Ausführungen zu diesem Problem von U. Säuberlich, S. 97 ff. 221 A. A.: Aubin, S. 244 ff.; Czaja, S. 200; Fuß, EuR 1968, 353 (366); Renzenbrink, S. 170. 222 Vgl. EuGH v. 14. Juli 1967, Rs. 5, 7 u. 13 bis 24/66 (Kampffmeyer), Slg. 1967, 331; EuGH v. 30. November 1967, Rs. 30/66 (Becher), Slg. 1967, 385; U. Säuberlich, S. 239 ff.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
(1) Gemeinschaftsrechtsverstöße Privater Bei Verstößen Privater gegen das Gemeinschaftsrecht ist eine Haftung nur dann denkbar, wenn es sich um horizontal wirkendes Gemeinschaftsrecht handelt. Eine unmittelbare Drittwirkung entfalten insbesondere die Art. 81 und 82 EG223. Aber auch andere Regelungen des primären Gemeinschaftsrechts und Verordnungen sind grundsätzlich geeignet, Private zu verpflichten224. Der EuGH hat eine gemeinschaftsrechtliche Haftung Privater bislang jedoch nicht ausdrücklich anerkannt. In der Rechtssache „Courage/ Crehan“ stellte er vor dem Hintergrund eines Verstoßes gegen Art. 81 EG allerdings fest, es dürfe nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, dass eine Schadensersatzklage von einer Partei eines gegen die Wettbewerbsregeln verstoßenden Vertrages erhoben wird225. Teilweise wird diese Aussage dahingehend interpretiert, dass der Einzelne gemeinschaftsrechtlich verpflichtet sei, einer anderen Privatperson den durch den Verstoß gegen horizontal wirkendes Gemeinschaftsrecht entstandenen Schaden zu ersetzen226. Diese Ansicht kann jedoch nicht überzeugen. So hat der EuGH die haftungsbegründenden Voraussetzungen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung gerade nicht herangezogen, sondern „mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung“ auf das nationale Recht verwiesen227. Hinzu kommt, dass das EuG in der nach „Courage/Crehan“ ergangenen Entscheidung in der Rechtssache „Atlantic Container Line“ festgestellt hat, dass es Sache des nationalen Rechts sei, die mit einer Verletzung des Art. 81 EG verbundenen zivilrechtlichen Folgen festzulegen228. Das „Ob“ und „Wie“ einer Haftung Privater ist derzeit also auf der Grundlage des nationalen Rechts zu beurteilen229. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass der EuGH in Zukunft eine gemeinschaftsrechtliche Haftung Privater anerkennen wird. Vor „Francovich u. a.“ ist der EuGH schließlich auch nur von einer abstrakten Haftungsverpflichtung ausgegangen, ohne den Mitgliedstaaten insoweit konkrete Vorgaben zu machen230. Gegen eine gemeinschaftsrechtliche Haf223 Vgl. EuGH v. 30. Januar 1974, Rs. 127/73 (BRT/SABAM), Slg. 1974, 51, (62, Rn. 15/17). 224 Vgl. insoweit die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten: Fn. 333. 225 EuGH v. 20. September 2001, Rs. C-453/99 (Courage/Crehan), Slg. 2001, I-6297, (6323, Rn. 26 ff.). 226 Kremer, EuR 2003, 696 (699); Nowak, EuZW 2001, 717 (718); Weyer, ZeuP 2003, 318; Komninos, CMLR 2002, 447. 227 EuGH, Fn. 225, I-6324, Rn. 29. 228 EuG v. 28. Februar 2002, Rs. T-395/94 (Atlantic Container Line), Slg. 2002, II-875 (999, Rn. 414). 229 Vgl. Micklitz, EWiR 2001, 1141 (1142). 230 Vgl. 3. Teil, A.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
159
tung Privater kann nicht eingewendet werden, das Institut der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung könne aufgrund seines Sanktionscharakters bei Verstößen Privater keine entsprechende Anwendung finden231. So dient die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung gerade nicht der Abschreckung oder als Sanktion, sondern ist auf den Ersatz der Schäden gerichtet, die Einzelnen durch Verstöße der Mitgliedstaaten gegen Gemeinschafsrecht entstehen232. Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, dass der Gerichtshof eine gemeinschaftsrechtliche Haftung Privater in nächster Zeit anerkennen wird, zumal nicht auszuschließen ist, dass in Anbetracht der Möglichkeit einer solchen Haftung, die im Einzelfall ein existenzbedrohendes Ausmaß annehmen kann, der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr gehemmt wird. (2) Verstöße gegen staatliche Schutzpflichten Bei Verstößen Privater kommt allerdings eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Betracht, wenn das Nichteinschreiten eines Mitgliedstaats als Verstoß gegen die staatlichen Schutzpflichten zu werten ist. Ansatzpunkt ist also nicht das privatautonome Verhalten selbst, sondern das Unterlassen des Mitgliedstaates, gegen die davon ausgehenden Gemeinschaftsrechtsverstöße einzuschreiten233. Staatliche Schutzpflichten können sich zum einen aus den Gemeinschaftsgrundrechten ergeben. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ist insoweit jedoch kaum möglich, denn regelmäßig wird es an einem hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoß fehlen, da den Mitgliedstaaten zur Erfüllung der ihnen obliegenden grundrechtlichen Schutzpflichten ein weiter Gestaltungsspielraum zugestanden werden muss234. Zum anderen können staatliche Schutzpflichten aber auch aus den Grundfreiheiten des EG-Vertrages resultieren. Der EuGH hat in seiner „Agrarblockaden“-Entscheidung235 implizit anerkannt, dass Schutzpflichten der Mitgliedstaaten aus der Warenverkehrsfreiheit abgeleitet werden können. Hintergrund der Entscheidung war, dass französische Bauern Transporte von Agrarprodukten aus Spanien mehrfach blockiert hatten. Der Gerichtshof befand insoweit, Art. 28 EG verbiete nicht nur Maßnahmen, die auf den Staat zurückzuführen sind und selbst Beschränkungen für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten schaffen, sondern könne auch dann Anwendung finden, wenn ein Mitgliedstaat keine Maßnahmen ergriffen hat, 231
So aber Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 288, Rn. 53. EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 88. 233 Vgl. Körber, EuR 2000, 932 (951). 234 U. Säuberlich, S. 228; Jaeckel, S. 276 f. Vgl. auch Suerbaum, EuR 2003, 390, 415. 235 EuGH v. 9. Dezember 1997, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, I-6959. 232
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
um gegen Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs einzuschreiten, deren Ursachen nicht auf den Staat zurückzuführen sind236. Die „Agrarblockaden“-Entscheidung des EuGH erging jedoch in einem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Frankreich, so dass sich die Frage nach einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung nicht stellte. Anders verhielt es sich in der Rechtssache „Schmidberger“237. Der Gerichtshof wurde im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des Oberlandesgerichts Innsbruck erstmals mit der Frage konfrontiert, ob ein Mitgliedstaat zu haften hat, wenn von Privaten ausgehende Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit nicht untersagt werden. Anlass des Rechtsstreits war eine Versammlung auf der Brenner-Autobahn in Österreich (A 13), die in der Zeit von Freitag, 12. Juni 1998 (11 Uhr) bis Samstag, 13. Juni 1998 (15 Uhr) stattfand und zu einer völligen Blockade des Verkehrs führte. Der EuGH ging letztlich jedoch davon aus, dass die Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit gerechtfertigt waren238, so dass er über eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung Österreichs nicht befinden musste239. Es ist allerdings davon auszugehen, dass er eine solche Haftung geprüft hätte, wenn keine Rechtfertigung möglich gewesen wäre. Jedenfalls hat der EuGH in der Konstellation, dass die Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht vordergründig von Privaten ausgehen, eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nicht ausgeschlossen. Bei Verletzungen staatlicher Schutzpflichten aus den Grundfreiheiten kommt eine mitgliedstaatliche Haftung somit in Betracht240. Anknüpfungspunkt für die Haftung ist jedoch auch in diesem Fall nicht das Verhalten Privater, sondern das Verhalten eines mitgliedstaatlichen Organs, das es unterlassen hat, gegen die Gemeinschaftsrechtsverstöße Privater vorzugehen. b) Gemeinschaftsrechtsverstoß Die Haftung der Mitgliedstaaten setzt einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht voraus. Verstöße gegen das Unionsrecht können dagegen keine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung begründen, da es sich insoweit um intergouvernementales Recht handelt, das keine unmittelbare Anwendbarkeit genießt und somit keinen das nationale Recht der Mitgliedstaaten verdrängenden Anwendungsvorrang241. Anfangs sind es legislative Verstöße 236
EuGH, Fn. 235, I-6998, Rn. 30. Vgl. EuGH v. 12. Juni 2003, Rs. C-112/00 (Schmidberger), I-5659. 238 Vgl. EuGH, Fn. 237, I-5715, Rn. 65 ff. 239 Vgl. EuGH, Fn. 237, I-5724, Rn. 95 f. 240 Vgl. auch Kling, Jura 2005, 298 (300); Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 224, Rn. 552; Bertelmann, S. 81. 241 Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 223, Rn. 549 u. S. 35, Rn. 83. 237
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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gewesen, die eine mitgliedstaatliche Haftung auslösten. In „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ stellte der EuGH jedoch klar, dass es nicht darauf ankomme, auf welches mitgliedstaatliche Organ der Verstoß zurückzuführen ist. Infolgedessen wurde in „Hedley Lomas“ auch eine Haftung für exekutives Unrecht anerkannt. In „Köbler“ nahm der Gerichtshof schließlich die Möglichkeit wahr, der Aussage seiner „Brasserie du pêcheur u. Factortame“-Entscheidung letztes Gewicht zu verleihen. Er erkannte eine Haftung für judikatives Unrecht ebenfalls an. Unabhängig davon, welcher Gewalt der Gemeinschaftsrechtsverstoß zuzuordnen ist, hat der Staat also für hoheitliches Unrecht zu haften. Darüber hinaus spielt es keine Rolle, ob gegen primäres oder sekundäres Gemeinschaftsrecht verstoßen worden ist. In beiden Fällen kann sich eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ergeben. aa) Arten von Gemeinschaftsrechtsverstößen Nachfolgend sollen Gemeinschaftsrechtsverstöße vorgestellt werden, die eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung auslösen können. Zu differenzieren ist zwischen legislativen, exekutiven und judikativen Verstößen. (1) Legislatives Unrecht Überwiegend stellt sich die Frage nach einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in Fällen legislativen Unrechts. In solchen Fällen verstoßen die nationalen Gesetzgeber gegen das Gemeinschaftsrecht. (a) Verstöße gegen die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG In der Mehrzahl der vom EuGH entschiedenen Fälle legislativen Unrechts betraf der Gemeinschaftsrechtsverstoß die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG. Entweder war die Richtlinie nicht innerhalb der Umsetzungsfrist242 oder fehlerhaft243 in nationales Recht transformiert worden. Über die Frage, auf welchen haftungsbegründenden Rechtsverstoß in den vorbezeichneten Fällen abgestellt werden soll, ist sich die Literatur uneins. Einer Ansicht244 nach stellt die Verletzung der maßgeblichen Richtlinienbestimmung den haftungsbegründenden Rechtsverstoß dar. Insofern sei der daraus resultierende Staatshaftungsanspruch eine Fortentwicklung der Kategorie der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien. Anderer An242 243 244
Vgl. etwa EuGH, S. 15, Fn. 2 u. EuGH, S. 49, Fn. 145. Vgl. etwa EuGH, S. 47, Fn. 135 u. EuGH, S. 53, Fn. 166. Triantafyllou, DÖV 1992, 564 (567).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
sicht245 nach muss der haftungsbegründende Rechtsverstoß in der Verletzung von Art. 249 Abs. 3 EG in Verbindung mit der jeweiligen Richtlinienbestimmung erblickt werden. Die Individualisierung erfolge über die Einbeziehung des Richtlinieninhalts in die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG. Diese Ansicht überzeugt. Entfaltet eine Richtlinienbestimmung innerstaatlich keine Wirkung, weil es der Gesetzgeber versäumt hat, sie rechtzeitig ordnungsgemäß umzusetzen, kommt als haftungsbegründender Rechtsverstoß in der Tat nur die Verletzung des Art. 249 Abs. 3 EG und nicht die Verletzung der einschlägigen Richtlinienbestimmung in Betracht, denn der Vorwurf an den Mitgliedstaat besteht darin, dass dieser die Richtlinie innerhalb der Umsetzungsfrist nicht ordnungsgemäß in das nationale Recht transformiert hat. Konsequenterweise hat der EuGH in „Francovich u. a.“ auf einen Verstoß gegen Art. 189 Abs. 3 EGV (Art. 249 Abs. 3 EG) abgestellt246. In „Dillenkofer u. a.“ befand er schließlich, dass ein solcher Verstoß für den Einzelnen einen Entschädigungsanspruch begründe, wenn das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an ihn umfasst247. Ausgangspunkt einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung ist somit ein Verstoß gegen die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG. Sodann muss geprüft werden, ob das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an Einzelne umfasst. Ist dies der Fall, steht insoweit auch fest, dass Art. 249 Abs. 3 EG die Verleihung subjektiver Rechte an Einzelne bezweckt. Bei Verstößen gegen die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG kommt eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in der Regel nur dann in Betracht, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen ist248. Des Weiteren muss geprüft werden, ob die betreffende Richtlinienbestimmung eine unmittelbare Wirkung entfaltet und das nationale Recht richtlinienkonform ausgelegt werden kann249. Hintergrund ist der Vorrang des Primärrechtsschutzes. Ist die Richtlinienbestimmung unmittelbar anwendbar oder besteht die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts, kann der Einzelne von der Richtlinie profitieren, obwohl diese nicht in nationales Recht umgesetzt worden ist. Ein Schaden kann somit schon im Wege des Primärrechtsschutzes abgewendet werden. Entsteht dem Einzelnen trotzdem ein Schaden, etwa aufgrund des Zeitverzugs, den die gerichtliche Klärung der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinienbestimmung mit sich gebracht hat250, stellt sich jedoch nach wie vor die Frage nach Sekun245 246 247 248 249 250
Vgl. U. Säuberlich, S. 265 ff. EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5415, Rn. 39. EuGH, S. 49, Fn. 145, I-4880, Rn. 27. Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (1), (a), (aa). Vgl. Kroll, S. 172. Vgl. Karl, RIW 1992, 440 (446 f.); Nettesheim, DÖV 1992, 999 (1002).
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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därrechtsschutz im Wege der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung. Der Gerichtshof hat diesbezüglich in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ erklärt, die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts wäre in Frage gestellt, wenn der Einzelne nicht die Möglichkeit hätte, im Fall der Verletzung eines unmittelbar durch eine Gemeinschaftsrechtsnorm verliehenen Rechts, auf das sich der Einzelne vor den nationalen Gerichten berufen kann, Schadensersatz zu erlangen. In diesem Fall stelle der Entschädigungsanspruch die notwendige Ergänzung der unmittelbaren Wirkung dar, die den Gemeinschaftsvorschriften zukommt, auf deren Verletzung der entstandene Schaden beruht251. Konsequenterweise hat der EuGH in „Denkavit u. a.“ die Voraussetzungen einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung geprüft, obwohl die betreffende Richtlinienbestimmung unmittelbar anwendbar war252. Somit kann sich trotz der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie und der Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für legislatives Unrecht ergeben253. Nichtsdestotrotz ist bei Verstößen gegen die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG zunächst zu prüfen, ob die jeweilige Richtlinienbestimmung eine unmittelbare Wirkung entfaltet und eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts möglich ist. Schließlich hat der EuGH in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ ebenfalls entschieden, dass das nationale Gericht bei der Bestimmung des ersatzfähigen Schadens prüfen könne, ob sich der Geschädigte in angemessener Form um die Verhinderung des Schadenseintritts oder um die Begrenzung des Schadensumfangs bemüht hat und ob er insbesondere rechtzeitig von allen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch gemacht hat254. So ist davon auszugehen, dass die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung präkludiert ist, wenn sich ein Einzelner gerade deswegen nicht auf die unmittelbare Wirkung der Richtlinienbestimmung beruft, weil er Schadensersatz in Geld zugesprochen haben möchte. (aa) Ablauf der Umsetzungsfrist Ein Verstoß gegen die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG kann, wie bereits erwähnt wurde, im Grundsatz nur dann eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung auslösen, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen ist. Unerheblich ist der Grund der fehlenden Umsetzung oder die Tatsache, dass andere Staaten ebenfalls die Umsetzung versäumt haben. Vor Ab251 252 253 254
EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1142, Rn. 20 ff. Vgl. 3. Teil, B., I., 1., g). Strickrodt, S. 61. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1157, Rn. 84 f.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
lauf der Umsetzungsfrist kommt eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nur ausnahmsweise in Betracht. Dies ist der Fall, wenn eine Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist fehlerhaft in nationales Recht umgesetzt worden ist. Entsteht auf Seiten des Bürgers ein Schaden, weil das fehlerhafte Umsetzungsgesetz vor Ablauf der Umsetzungsfrist angewandt worden ist, gebietet der Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes, dass eine Entschädigung nicht ausgeschlossen ist. Zwar muss dem Mitgliedstaat zugutegehalten werden, dass er bestrebt gewesen ist, das nationale Recht frühzeitig auf den Stand des Gemeinschaftsrechts zu bringen, die vorzeitige Umsetzung der Richtlinie darf jedoch nicht zu Lasten des Bürgers gehen. In diesem Fall entfaltet die Richtlinie ausnahmsweise auch eine unmittelbare Wirkung und die nationalen Gerichte sind zur richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet255. Die „Adeneler u. a.“-Rechtsprechung, wonach die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung erst ab Ablauf der Umsetzungsfrist greift, ist nicht einschlägig, denn das Urteil in der Rechtssache „Adeneler u. a.“ erging in einem Fall, in dem die Richtlinie erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist umgesetzt worden war256. Kann der Gemeinschaftsrechtsverstoß nicht über die unmittelbare Wirkung der Richtlinie oder im Wege der richtlinienkonformen Auslegung beseitigt werden, ist somit eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ausnahmsweise auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist möglich. (bb) Unmittelbare Wirkung der verletzten Richtlinienbestimmung Steht fest, dass die Umsetzungsfrist abgelaufen ist, so muss geprüft werden, ob die Richtlinienbestimmung eine unmittelbare Wirkung entfaltet. Zwar sind Adressaten der Richtlinie nicht die einzelnen Bürger, sondern die Mitgliedstaaten, die gemäß Art. 249 Abs. 3 und Art. 10 EG zur Umsetzung verpflichtet sind, da die Wirkung von Richtlinien jedoch nicht dadurch abgeschwächt oder verhindert werden soll („effet utile“)257, dass sich Mitgliedstaaten der Umsetzungspflicht entziehen, kommt unter bestimmten Voraussetzungen eine unmittelbare Wirkung in Betracht. Nach der Rechtsprechung des EuGH258, die das BVerfG als zulässige Rechtsfortbildung anerkannt hat259, kann sich der Einzelne gegenüber dem durch die Richt255 Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507 (2508); Sack, WRP 1998, 241 (242); Roth, ZIP 1992, 1054 (1056); Jarass, EuR 1991, 211 (221); Ehricke, EuZW 1999, 553 (554). 256 Vgl. Junker/Aldea, EuZW 2007, 13 (16). 257 EuGH, S. 31, Fn. 42, S. 1348, Rn. 12; EuGH, S. 31, Fn. 41, S. 1641, Rn. 18 ff.; EuGH, S. 31, Fn. 43, S. 70, Rn. 17 ff. 258 EuGH, S. 31, Fn. 43. 259 BVerfGE 75, 223.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
165
linie verpflichteten Staat auf deren Bestimmungen berufen, wenn die Umsetzungsfrist der Richtlinie abgelaufen ist und deren Inhalt unbedingt und hinreichend genau ist. Darüber hinaus dürfen die Richtlinienbestimmungen keine Verpflichtungen gegenüber Privaten enthalten260. Zunächst ist also der Ablauf der Umsetzungsfrist erforderlich, um eine Richtlinienbestimmung unmittelbar anwenden zu können. Davor kann eine Richtlinie nur ausnahmsweise eine unmittelbare Wirkung entfalten261. Des Weiteren muss der Inhalt der jeweiligen Bestimmung unbedingt und hinreichend genau sein. Inhaltlich unbedingt ist eine Richtlinie, wenn sie weder mit einem Vorbehalt noch mit einer Bedingung versehen ist und ihrem Wesen nach keiner weiteren Maßnahme der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf262. Verbleibt den Mitgliedstaaten ein gewisser Gestaltungs-, Ermessens- oder Beurteilungsspielraum, dann ist nicht von einer inhaltlichen Unbedingtheit der Richtlinie auszugehen, es sei denn, die Richtlinie gibt einen Mindeststandard vor. In diesem Fall kann sich die unmittelbare Wirkung auf den Mindeststandard erstrecken263. Eine hinreichende Bestimmtheit der Richtlinie ist gegeben, wenn sie allgemeine und unzweideutige Regelungen enthält264. Die Richtlinie muss so ausgestaltet sein, dass sich ihre Umsetzung mehr oder minder in einem Abschreiben des Inhalts der Richtlinie erschöpfen müsste265 oder wenn sie zumindest einen individuellen Anspruch des Einzelnen erkennen lässt266. Die Bestimmtheit der Richtlinie kann sich sowohl auf das zu erreichende Ziel als auch auf die zu ergreifenden Mittel beziehen267. Weiterhin dürfen die maßgeblichen Richtlinienbestimmungen keine Verpflichtungen gegenüber Privaten enthalten, da sie ansonsten keine unmittelbare Wirkung entfalten können. Hintergrund ist, dass über Art. 249 Abs. 3 EG nur Mitgliedstaaten verpflichtet werden können, nicht aber Einzelne268. Aus diesem Grund können Richtlinien auch keine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten begründen (horizontale Wirkung)269. Einzelne können 260
Schroeder, in: Streinz, Art. 249 EG, Rn. 106 ff. Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (1), (a), (aa). 262 Vgl. EuGH, S. 31, Fn. 42, S. 1349, Rn. 13/14. 263 Eisenkolb, GRUR 2007, 387 (383). 264 Vgl. EuGH, S. 31, Fn. 43, S. 71, Rn. 25; EuGH v. 4. Dezember 1986, Rs. 71/85 (Niederlande/Federatie), Slg. 1986, 3855 (3876, Rn. 21). 265 Oppermann, S. 168, Rn. 92. 266 Schroeder, in: Streinz, Art. 249, Rn. 108. 267 Jarass, NJW 1990, 2420 (2424). 268 EuGH, S. 37, Fn. 73, S. 749, Rn. 48; EuGH, S. 37, Fn. 71, I-3356, Rn. 22 f.; EuGH v. 16. Juli 1998, Rs. C-355/96 (Silhouette International Schmied), Slg. 1998, I-4799 (4834, Rn. 36); Herrmann, S. 61 f.; Oppermann, S. 169, Rn. 93. 261
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
sich nur gegenüber einem Mitgliedstaat auf die Geltung einer Richtlinie berufen (vertikale Wirkung)270. Die Frage, ob Richtlinien mit Doppelwirkung in sog. Dreiecksverhältnissen eine unmittelbare Wirkung entfalten können, ist nach wie vor offen. Der EuGH hat diesbezüglich noch keine Stellung bezogen. Richtlinien mit Doppelwirkung sind dadurch gekennzeichnet, dass sie normativ zwar Mitgliedstaaten verpflichten und begünstigend für den Einzelnen wirken, faktisch jedoch zu der Belastung eines Dritten führen271. In der Literatur werden mannigfaltige Ansichten vertreten. Einerseits wird die Möglichkeit einer unmittelbaren Wirkung von Richtlinien mit Doppelwirkung wegen des Prinzips der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts bejaht272, andererseits kategorisch abgelehnt273. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll dahingestellt bleiben, welcher Ansicht letztlich zu folgen ist. Fest steht allerdings, dass begünstigende Richtlinienbestimmungen häufig für irgendeinen Dritten belastende Effekte haben274. In Anbetracht dessen erscheint die generelle Ablehnung einer unmittelbaren Wirkung von Richtlinien mit Doppelwirkung fragwürdig. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sich der Einzelne nicht auf die unmittelbare Wirkung einer Richtlinienbestimmung berufen muss275, sondern diese von Amts wegen zugunsten des Bürgers zu berücksichtigen ist276. Dies gilt auch dann, wenn die Richtlinie keine individuellen Rechte des Bürgers begründet, sondern lediglich objektiv-rechtliche Wirkung hat277. (cc) Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts Auch wenn eine nicht umgesetzte Richtlinie keine unmittelbare Wirkung entfaltet, kann sie auf nationaler Ebene Beachtung finden. So muss das nationale Recht im Sinne der effektiven Erreichung der Ziele der Richtlinie 269 Steindorff, in: FS Everling, 1995, S. 1455 (1455 ff.); Langenfeld, DÖV 1992, 955 (959); Royla/Lackhoff, DVBl 1998, 1116 (1118 f.). 270 EuGH, S. 31, Fn. 43, S. 70, Rn. 17 ff.; Schroeder, in: Streinz, Art. 249 EG, Rn. 114. 271 Eisenkolb, GRUR 2007, 387 (388). 272 Schroeder, in: Streinz, Art. 249 EG, Rn. 118; Jarass, NJW 1991, 2665 (2667 f.); Albin, NuR 1997, 29 (32); Epiney, DVBl 1996, 409 (413). 273 Scherzberg, Jura 1993, 225 (228); Gundel, EuZW 2001, 143 (144). 274 Jarass, NJW 1991, 2665 (2667 f.). 275 So aber Rupp, ZRP 1990, 1. 276 Jarass, NJW 1991, 2665 (2668); Scherzberg, Jura 1993, 225 (226). 277 EuGH v. 11. August 1995, Rs. 431/92 („Großkrotzenburg“), Slg. 1995, I-2189; Fastenrath/Müller-Gerbes, S. 186, Rn. 331.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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ausgelegt werden. Eine solche richtlinienkonforme Auslegung kann allerdings nicht nur in dem Fall vorgenommen werden, dass die Richtlinie keine unmittelbare Wirkung entfaltet, sondern auch dann, wenn sie unmittelbar wirkt278. Bei der richtlinienkonformen Auslegung wird die belastende Wirkung anders als bei der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie nicht als Ausschlusskriterium gesehen, denn der Einzelne wird durch das nationale Recht und nicht unmittelbar durch die Richtlinie belastet279. Folglich kann die richtlinienkonforme Auslegung im Verhältnis zwischen Privaten einer unzulässigen horizontalen Wirkung recht nahe kommen280. Ist nach Ablauf der Umsetzungsfrist eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich und entfaltet die Richtlinie keine unmittelbare Wirkung, kann sich bei Verstößen gegen die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für legislatives Unrecht ergeben281. Da primärer Rechtsschutz in dem Fall nicht erlangt werden kann, scheidet eine Präklusion aufgrund des Vorrangs des Primärrechtsschutzes aus. Teilweise282 ist die Ansicht vertreten worden, die Nichtumsetzung privatrechtsgestaltender Richtlinien könne keine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung auslösen, denn eine solche Richtlinie bezwecke lediglich die Begründung von Rechten gegenüber Dritten. Diese Ansicht ist jedoch zurückzuweisen283. Der EuGH hat in „Faccini Dori“284, „El Corte Inglés“285 und „Daihatsu“286 klar zum Ausdruck gebracht, dass das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht auch bei privatrechtsgestaltenden Richtlinien Anwendung finden kann. Der Staatshaftungsanspruch dient vielmehr ebenso wie die richtlinienkonforme Auslegung als funktionales Äquivalent der von der Rechtsprechung eindeutig ausgeschlossenen horizontalen Richtlinienwirkung287. Die nationalen Stellen sind grundsätzlich erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist zur richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet288. Davor kann sie nur ausnahmsweise diese Pflicht treffen289. Inwiefern sie vor Ablauf der 278
Eisenkolb, GRUR 2007, 387 (389). EuGH v. 13. November 1990, Rs. C-106/89 (Marleasing), Slg. 1990, I-4135 (4158, Rn. 6 ff.). 280 Fastenrath/Müller-Gerbes, S. 188, Rn. 335. 281 Vgl. auch Eisenkolb, GRUR 2007, 387 (389). 282 Bahlmann, DZWir 1992, 61 (63 f.). 283 Vgl. auch U. Säuberlich, S. 268; Albers, S. 143. 284 EuGH, S. 37, Fn. 71, I-3355, Rn. 20. 285 EuGH, S. 80, Fn. 303, I-1303, Rn. 15. 286 EuGH, S. 86, Fn. 348, I-6866, Rn. 25. 287 Vgl. U. Säuberlich, S. 269. 288 Vgl. EuGH, S. 67, Fn. 240, Rn. 124. 289 Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (1), (a), (aa). 279
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
Umsetzungsfrist dazu berechtigt sind, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen, ist unklar. Zwar haben der BGH290 und auch der österreichische OGH291 eine solche Berechtigung für sich in Anspruch genommen, soweit die Richtlinie nicht vorzeitig umgesetzt worden ist, spricht jedoch gegen eine Berechtigung zur richtlinienkonformen Auslegung, dass die Handlungsprärogative des Gesetzgebers beschnitten würde, da sich dessen Handlungsspielraum nicht nur auf die inhaltliche Ausgestaltung des nationalen Rechts, sondern auch auf das „Wann“ der Umsetzung erstreckt292. Auch das Zuwarten mit der Umsetzung einer Richtlinie stellt einen Ausdruck des gesetzgeberischen Willens dar, nämlich dass die bisherige nationale Rechtslage vorerst fortbestehen soll. Wenn ein Gericht das nationale Recht trotzdem richtlinienkonform auslegt, verstößt es gegen seine Kompetenz, weil es den Anwendungsbefehl des nationalen Rechts nicht befolgt und die gesetzgeberische Entscheidung zur einstweiligen Passivität missachtet293. Nach Ansicht des EuGH soll die Auslegung des nationalen Rechts so weit wie möglich und unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausgerichtet werden294. Im Urteil „Adeneler u. a.“ hat er insoweit bekräftigt, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung ihrer Auslegungsmethoden alles tun müssten, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel übereinstimmt295. Allerdings wies er auch darauf hin, dass die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit sowie das Rückwirkungsverbot beschränkt werde. Zudem dürfe sie nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem dienen296. Durch die explizite Nennung der Contra-legem-Grenze in „Adeneler u. a.“ wurde klargestellt, dass die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nur innerhalb der Grenzen der nationalen Methodenlehre besteht297. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Wortlautgrenze zu290
BGHZ, 138, 55 (60 ff.). OGH v. 29. September 1998 – 4 Ob 235/98, GRUR Int. 1999, 794 (795). 292 Junker/Aldea, EuZW 2007, 13 (16). 293 Vgl. Ehricke, EuZW 1999, 553 (556). 294 EuGH v. 10. April 1984, Rs. 14/83 (von Colson und Kamann), Slg. 1984, 1891 (1909, Rn. 26). 295 EuGH, S. 67, Fn. 240, Rn. 111. 296 EuGH, S. 67, Fn. 240, Rn. 110. Zu den Konsequenzen des Überschreitens der Contra-legem-Grenze Gödicke, WM 2008, 1621 (1628). 297 Auer, NJW 2007, 1106 (1107). 291
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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kommt298. Im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens in der Rechtssache „Quelle“ hat der BGH erklärt, er sehe keine Möglichkeit, die Wertersatzregelung gemäß § 439 Abs. 4 i. V. m. § 346 Abs. 1 u. 2 Nr. 1 BGB im Wege der richtlinienkonformen Auslegung zu korrigieren. Eine Auslegung widerspreche nämlich dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen des BGB sowie dem zum Ausdruck gebrachten eindeutigen Willen des Gesetzgebers und sei nach Art. 20 Abs. 3 GG, wonach die Rechtsprechung an Recht und Gesetz gebunden ist, unzulässig. Nach dem Vorabentscheidungsurteil des EuGH, indem die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Wertersatzregelung festgestellt worden war299, setzte sich der BGH allerdings doch über den eindeutigen Wortlaut der Bestimmungen hinweg300. Unter Verweis auf den Umstand, dass der EuGH nicht zwischen Auslegung und Fortbildung des Rechts differenziert301, urteilte der BGH, dass der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung auch fordere, nationales Recht, wo dies nötig und möglich ist, richtlinienkonform fortzubilden. Insoweit stellte er zu Recht fest, dass sich die vom EuGH in „Adeneler u. a.“ formulierte Contralegem-Grenze nicht auf die Wortlautgrenze beziehe und der Begriff des Contra-legem-Judizierens den Bereich bezeichne, in dem eine richterliche Rechtsfindung nach nationalen Methoden unzulässig ist302. Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung erfolgte schließlich durch eine teleologische Reduktion des § 439 Abs. 4 BGB auf einen mit Art. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie303 zu vereinbarenden Inhalt. Nachdem der BGH betont hatte, dass eine Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraussetze304, stellte er eine solche Regelungslücke mit der Begründung fest, die Verweisung in § 439 Abs. 4 BGB enthalte keine Einschränkung für den Anwendungsbereich der Richtlinie und stehe deshalb nicht mit dieser im Einklang. Die Planwidrigkeit der Regelungslücke ergebe sich daraus, dass der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung ausdrücklich seine Absicht bekundet habe, auch und gerade hinsichtlich des Nutzungsersatzes eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen305. Der BGH hat 298
Zur Theorie der Wortlautgrenze: Klatt, S. 1 ff. EuGH v. 17. April 2008, Rs. C-404/06 (Quelle), abrufbar über http://curia. europa.eu. Dazu: Herresthal, NJW 2008, 2475. 300 BGH v. 26. November 2008, Az.: VIII ZR 200/05, abrufbar über http://www. bundesgerichtshof.de. 301 Vgl. 4. Teil, A., III., 1. 302 BGH, Fn. 300, Rn. 21. 303 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. EG Nr. L 171, S. 12. 304 BGH, Fn. 300, Rn. 22. Vgl. die kritischen Anmerkungen zur Rechtsfigur der „planwidrigen Regelungslücke“ im 4. Teil, A., II., vor 1. 299
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
mit dem Urteil klargestellt, dass es auf der Grundlage der deutschen Methodenlehre möglich ist, den eindeutigen Wortlaut einer Vorschrift im Wege der richtlinienkonformen Auslegung zu überwinden. Der Contra-LegemGrenze kommt demnach nur eine beschränkte Bedeutung zu306. Lässt sich der Wortlaut einer Vorschrift einmal nicht überwinden, kommt eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Betracht. Zu Vermeidung dieser Konsequenz wird in der Literatur vorgeschlagen, es müsse im EGBGB ein Art. 2 a eingeführt werden, der lauten könnte: „Jeder hat mindestens diejenigen bürgerlichen Rechte, die ihm das EG-Recht verschaffen will“307. (b) Verstöße gegen die Grundfreiheiten Auch legislative Verstöße gegen die Grundfreiheiten des EG-Vertrags können eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung auslösen. Im Sinne der Art. 3 Abs. 1 lit. c und 14 Abs. 2 EG zählen zu den vier Grundfreiheiten die Warenverkehrsfreiheit308, die Personenverkehrsfreiheit, bestehend aus der Freizügigkeit der Arbeitnehmer309 und der Niederlassungsfreiheit310, die Dienstleistungsfreiheit311 sowie die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit312. Sie enthalten sowohl ein Diskriminierungs- als auch ein Beschränkungsverbot313. Im Urteil „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ hat der EuGH erstmals bei legislativen Verstößen gegen die Grundfreiheiten eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung anerkannt. Konkret ging es um Verstöße gegen die Warenverkehrsfreiheit und die Niederlassungsfreiheit314. Auch den Rechtssachen „Metallgesellschaft u. a.“315, „Test Claimants“316 und „N“317 lagen 305 BGH, Fn. 300, Rn. 25. Der deutsche Gesetzgeber hat mittlerweile reagiert und hat die Regelung des § 474 Abs. 2 S. 1 BGB eingefügt, die lautet: „Auf die in diesem Untertitel geregelten Kaufverträge ist § 439 Abs. 4 mit der Maßgabe anzuwenden, dass Nutzungen nicht herauszugeben oder durch ihren Wert zu ersetzen sind.“ 306 Vgl. insoweit auch die Ausführungen von Auer, NJW 2007, 1106 (1108); dies., Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, 78 (97). 307 So auch Pfeiffer, NJW 2009, 412 (413). 308 Vgl. Art. 23 ff. EG. 309 Vgl. Art. 39 ff. EG. 310 Vgl. Art. 43 ff. EG. 311 Vgl. Art. 49 ff. EG. 312 Vgl. Art. 56 Abs. 1 u. 2 EG. 313 Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 285, Rn. 697 f. 314 Vgl. 3. Teil, B., I., 1., d). 315 Vgl. 3. Teil, B., I., 1., n). 316 Vgl. 3. Teil, B., I., 1., q). 317 Vgl. 3. Teil, B., I., 2., c).
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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legislative Verstöße gegen die Niederlassungsfreiheit zugrunde. In der Rechtssache „Test Claimants“ stellte der EuGH darüber hinaus einen legislativen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit fest. Ein solcher Verstoß ist auch Anlass für die „Konle“-Entscheidung des EuGH gewesen318. Hintergrund des Urteils in der Rechtssache „Petrie u. a. I“319 war hingegen ein legislativer Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. (aa) Die Vereinbarkeit nationaler Gesetze mit den Grundfreiheiten Die Prüfung, ob ein nationales Gesetz mit den Grundfreiheiten zu vereinbaren ist, kann sich mitunter recht schwierig gestalten. In Anbetracht dessen soll an dieser Stelle skizziert werden, wie sich die Prüfung vollzieht. Die weitgehende Konvergenz der Grundfreiheiten ermöglicht es dabei, ein einheitliches Prüfungsschema zugrunde zu legen320. Vor der Prüfung eines Verstoßes gegen die Grundfreiheiten ist jedoch zu ermitteln, ob nicht Sekundärrecht vorliegt, das den Schutzbereich der jeweiligen Grundfreiheit konkretisiert und daher vorrangig bzw. in Verbindung mit der Grundfreiheit anzuwenden ist321. Bei der Grundfreiheitsprüfung ist sodann zu bestimmen, ob der Schutzbereich der Grundfreiheit eröffnet ist. Dies muss in sachlicher, persönlicher, räumlicher und temporaler Hinsicht der Fall sein. In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob der Sachverhalt einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist, denn die Grundfreiheiten zielen nur auf die Optimierung des gemeinschaftsweiten Wirtschaftsprozesses durch die Liberalisierung der Verkehrsströme ab322. Ist der Anwendungsbereich der Grundfreiheit eröffnet, muss das Vorliegen eines Eingriffs durch den Mitgliedstaat, der das jeweilige Gesetz erlassen hat, geprüft werden. Dabei kann der Eingriff die Struktur einer Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit oder einer unterschiedslos wirkenden Beschränkung haben. Die Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten erfassen sowohl offene als auch versteckte Diskriminierungen. Welche Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten als unterschiedslos wirkende Beschränkungen anzusehen sind, hängt von der Grundfreiheit ab. Bei der Warenverkehrsfreiheit etwa bestimmt sich dies auf der Grundlage der „Dassonville“-Formel, wonach jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine men318 319 320 321 322
Vgl. 3. Teil, B., I., 1., k). Vgl. 3. Teil, B., I., 2., c). Vgl. das Prüfungsschema bei Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 290, Rn. 705. Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 283, Rn. 692. Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 283, Rn. 693.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
genmäßige Beschränkung anzusehen ist323. Der EuGH hat allerdings in der Rechtssache „Keck u. Mithouard“ Verkaufsmodalitäten ausgeklammert, die unterschiedslos für alle Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben und den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren324. Von einem Eingriff ist bei diesen Verkaufsmodalitäten also nicht auszugehen. Bei zu ungewissen oder zu indirekten Wirkungen auf die Grundfreiheiten (fehlende Nähebeziehung) scheidet die Annahme eines Eingriffs ebenfalls aus325. Wenn nach alledem ein Eingriff anzunehmen ist, stellt sich die Frage nach dessen Rechtfertigung. Zunächst ist zu ermitteln, ob geschriebene Rechtfertigungsgründe des EG-Vertrags einschlägig sind, beispielsweise bei der Warenverkehrsfreiheit der in Art. 30 EG kodifizierte Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Ist dies nicht der Fall, muss auf die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe zurückgegriffen werden. Der EuGH hat in „Cassis de Dijon“ bezüglich unterschiedslos wirkender Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit die Möglichkeit einer Rechtfertigung aufgrund zwingender Erfordernisse des Allgemeinwohls anerkannt326. Die sog. „Cassis-Formel“ findet mittlerweile auch bei den anderen Grundfreiheiten Anwendung327. Eine Rechtfertigung kann schließlich auch auf die ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte gestützt werden. Zugleich wirken die Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken328. So sind die geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte auszulegen. Eine weitere Schranken-Schranke bildet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der unabhängig davon zu beachten ist, ob bei der Rechtfertigung auf geschriebene oder ungeschriebene Rechtfertigungsgründe abgestellt wird.
323
EuGH v. 11. Juli 1974, Rs. 8/74 (Dassonville), Slg. 1974, 837 (852, Rn. 5). EuGH v. 24. November 1993, C-268/91 und C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993, I-6097 (6131, Rn. 16 f.). 325 EuGH v. 13. Oktober 1993, Rs. C-93/92 (Yamaha), Slg. 1993, I-5009 (5021, Rn. 12); EuGH v. 27. Januar 2000, Rs. C-190/98 (Graf), Slg. 2000, I-493 (523, Rn. 25). 326 EuGH v. 20. Februar 1979, Rs. 120/78 (Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 649 (661, Rn. 8). 327 Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 288, Rn. 702. 328 EuGH v. 18. Juni 1991, Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 (2964, Rn. 43). 324
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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(bb) Unmittelbare Anwendbarkeit und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung Nach heutigem Verständnis stellen die Grundfreiheiten subjektiv-öffentliche Rechte dar, die von Privatpersonen gegenüber den Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaft geltend gemacht werden können329. Grundlegend war insoweit die „van Gent & Loos“-Entscheidung aus dem Jahr 1963330. Der EuGH hat seinerzeit klargestellt, dass auch Einzelne Rechtssubjekte von Regelungen des primären Gemeinschaftsrechts sein können, deren Wortlaut sich nur auf die Mitgliedstaaten bezieht. Seither ist von einer unmittelbaren Anwendbarkeit primären Gemeinschaftsrechts auszugehen, wenn die betreffende Bestimmung eine klare sowie unbedingte Verpflichtung an die Mitgliedstaaten zu einem Tun oder Unterlassen begründet und die Durchführung oder Wirksamkeit keiner weiteren Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf331. Sind diese Voraussetzungen gegeben, ist die Bestimmung vollständig und rechtlich vollkommen. Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundfreiheiten nach und nach anerkannt332. Der Einzelne kann sich allerdings nicht nur gegenüber dem Staat auf die Grundfreiheiten berufen, sondern auch gegenüber Privaten. So ist mittlerweile davon auszugehen, dass sämtliche Grundfreiheiten eine unmittelbare Drittwirkung entfalten333. In den Mitgliedstaaten muss die unmittelbare Anwendbarkeit bzw. Drittwirkung der Grundfreiheiten beachtet werden. Darüber hinaus muss das nationale Recht gemeinschaftsrechtskonform im Sinne der Grundfreiheiten ausgelegt werden. Im Hinblick auf den Vorrang des Primärrechtsschutzes muss bei legislativen Verstößen gegen die Grundfreiheiten zunächst versucht werden, über die unmittelbare Anwendbarkeit bzw. Drittwirkung sowie die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts die Entstehung von Schäden abzuwenden. Gleichwohl können jedoch Schäden entstehen, beispielsweise aufgrund des Zeitverzugs, 329
Walter, in: Ehlers, S. 15, Rn. 37. EuGH, S. 35, Fn. 62. 331 Fastenrath/Müller-Gerbes, S. 168, Rn. 299. 332 Vgl. EuGH v. 29. November 1978, Rs. 83/78 (Pigs Marketing Board), Slg. 1978, 2347, (2374, Rn. 66 f.); EuGH v. 3. Dezember 1974, Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, 1299 (1311, Rn. 24, 26); EuGH v. 21. Juni 1974, Rs. 2/74 (Reyners), Slg. 1974, 631 (653, Rn. 32); EuGH, S. 31, Fn. 42, S. 1347, Rn. 5, 7; EuGH v. 14. Dezember 1995, Rs. C-163/94, C-165/94, C-250/94 (Sanz de Lera), Slg. 1995, I-4821, (4841 f., Rn. 41, 47 f.). 333 Vgl. EuGH v. 6. Juni 2000, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139; EuGH v. 9. Juni 1977, Rs. 90/76 (van Ameyde), Slg. 1977, 1091; EuGH v. 12. Dezember 1974, Rs. 36/74 (Walrave u. Koch), Slg. 1974, 1405; EuGH v. 14. Juli 1976, Rs. 13/76 (Graetano Donà), Slg. 1976, 1333. 330
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
der mit der gerichtlichen Feststellung einhergeht, dass das einschlägige nationale Gesetz gegen eine der Grundfreiheiten verstößt. In solchen Fällen muss der Einzelne Schadensersatz erlangen können. Entgegen der Ansicht der Regierungen von Deutschland, Irland und der Niederlande hat der EuGH daher in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ erklärt, die dem Einzelnen eingeräumte Möglichkeit, sich vor den nationalen Gerichten auf unmittelbar anwendbare Vertragsvorschriften zu berufen, stelle nur eine Mindestgarantie dar und reiche für sich allein nicht aus, um die uneingeschränkte Anwendung des Vertrages zu gewährleisten. Diese Möglichkeit, die der Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften den Vorrang gegenüber nationalen Vorschriften verschaffen solle, sei nicht in allen Fällen geeignet, dem Einzelnen die Inanspruchnahme der Rechte zu sichern, die ihm das Gemeinschaftsrecht verleiht, und insbesondere zu verhindern, dass er aufgrund eines einem Mitgliedstaat zuzurechnenden Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht einen Schaden erleidet334. Auf die weitere Aussage des Gerichtshofs, dass der Entschädigungsanspruch die notwendige Ergänzung der unmittelbaren Wirkung darstelle, wurde bereits eingegangen335. Ein Vorgehen nach dem Grundsatz „Dulde und liquidiere“ scheidet jedoch auch bei Verstößen gegen die Grundfreiheiten aus, denn die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ist präkludiert, wenn sich der Geschädigte nicht in angemessener Form um die Verhinderung des Schadenseintritts oder um die Begrenzung des Schadensumfangs bemüht hat336. Würde es der Einzelne bewusst unterlassen, sich auf eine Grundfreiheit zu berufen, um Schadensersatz geltend machen zu können, wäre beispielsweise von einer Präklusion auszugehen. (c) Sonstige Gemeinschaftsrechtsverstöße In der Regel sind es Verstöße gegen die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG oder gegen die Grundfreiheiten, die eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für legislatives Unrecht nach sich ziehen. Bei Verstößen gegen andere Vorschriften des primären Gemeinschaftsrechts kommt eine Haftung der Mitgliedstaaten aber ebenso in Betracht. Der Entscheidung „Konle“ lag beispielsweise nicht nur ein Verstoß gegen Art. 56 EG zugrunde, sondern auch einer gegen Art. 70 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge, die ebenfalls zum Primärrecht zu zählen ist. Ob bei 334 335 336
EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1142, Rn. 20. Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (1), (a), vor (aa). Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1157, 84 f.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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legislativen Verstößen gegen Verordnungen oder Entscheidungen eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung möglich ist, hat der EuGH bislang nicht entschieden. Es ist aber denkbar, dass eine solche Haftung in Betracht kommt, wenn nationales Recht zur Anwendung gebracht wird, das mit einer Verordnung oder Entscheidung nicht in Einklang gebracht werden kann337. (2) Exekutives Unrecht Das Handeln der Verwaltung ist in weiten Teilen Gesetzesvollzug. Angesichts dieser engen Verknüpfung von Exekutive und Legislative fällt es bisweilen nicht leicht, Gemeinschaftsrechtsverstöße einer dieser beiden Gewalten zuzuordnen. Wird ein gemeinschaftsrechtswidriges Gesetz von der Verwaltung angewandt, ohne gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt zu werden, liegt sowohl ein legislativer als auch ein exekutiver Gemeinschaftsrechtsverstoß vor. In einer solchen Gemengelage kann die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung grundsätzlich an jeden dieser Verstöße geknüpft werden338. Beim gemeinschaftsrechtswidrigen Vollzug eines Gesetzes, das mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist, handelt es sich hingegen eindeutig um exekutives Unrecht. Insbesondere begründet auch die gemeinschaftsrechtswidrige Ausübung des der Verwaltung typischerweise zustehenden Ermessens exekutives Unrecht. Schließlich kann exekutives Unrecht aber auch daraus resultieren, dass die Verwaltung normativ tätig wird, indem beispielsweise gemeinschaftsrechtswidrige Rechtsverordnungen erlassen werden. Werden gemeinschaftsrechtswidrige Gesetze, die nicht gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden können, von der Verwaltung vollzogen, liegt dagegen kein exekutives, sondern legislatives Unrecht vor. So kann die Exekutive in diesem Zusammenhang nicht für den Gemeinschaftsrechtsverstoß verantwortlich gemacht werden, da sie bezüglich gemeinschaftsrechtswidriger Gesetze keine Verwerfungspflicht trifft339. Im Fall der Nichtumsetzung einer Richtlinie kann sich exekutives Unrecht allerdings dann ergeben, wenn die Richtlinie auf eine gemeinschaftsrechtswidrige Art und Weise unmittelbar angewandt wird. Legislatives Unrecht liegt hingegen mangels eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs nicht vor340. Anders verhält es sich jedoch, wenn von einer nationalen Behörde ein Gesetz, dass mangels Richtlinienumsetzung nicht gemeinschaftsrechtskonform ausgestaltet ist, ohne Rücksicht auf eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie oder die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung angewendet wird. In einem sol337 338 339 340
Vgl. Fischer, JA 2000, 348 (350). Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), cc). Böhm, JZ 1997, 53 (55 f.). EuGH, S. 46, Fn. 132, I-5281, Rn. 29.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
chen Fall ist davon auszugehen, dass sowohl am legislativen als auch am exekutiven Fehlverhalten angeknüpft werden kann. Die Tatsache, dass das legislative Unrecht auf dem Weg des Verwaltungsvollzugs noch hätte ausgeglichen werden können, entlastet den Gesetzgeber jedenfalls nicht341. (a) Verstöße gegen primäres Gemeinschaftsrecht Der EuGH hat eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für exekutives Unrecht zum ersten Mal in „Hedley Lomas“ anerkannt. Dieser Rechtssache lag ein exekutiver Verstoß gegen das primäre Gemeinschaftsrecht zugrunde. So verstieß die Weigerung des Ministeriums für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung von England und Wales, eine Ausfuhrgenehmigung zu erteilen, gegen das in Art. 29 EG geregelte Beschränkungsverbot der Warenverkehrsfreiheit342. In „Comateb u. a.“ verstieß die Erhebung einer Abgabe gegen Art. 28 EG343 und in „Haim II“ die Verweigerung einer Registereintragung gegen Art. 43 EG.344 Wie sich die Prüfung von Verstößen gegen die Grundfreiheiten vollzieht, ist bereits aufgezeigt worden345. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für exekutives Unrecht kommt allerdings nicht nur bei Verstößen gegen die Grundfreiheiten in Betracht. So wies der EuGH in „GT-Link/AS“ in Anbetracht eines Verstoßes gegen Art. 90 EG und Art. 86 Abs. 1 i. V. m. Art. 82 EG auf die Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung hin346. Der Rechtssache „Eman u. Sevinger“ lag ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz zugrunde347, bei dem es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts handelt348. (b) Verstöße gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht Bei exekutiven Verstößen gegen das sekundäre Gemeinschaftsrecht ist eine Haftung der Mitgliedstaaten ebenfalls möglich. In Betracht kommen Verstöße der Exekutive gegen Verordnungen, Richtlinien oder auch Entscheidungen. Bislang hat der EuGH allerdings noch nicht über den Fall eines exekutiven Verstoßes gegen eine Entscheidung entschieden. In der 341 342 343 344 345 346 347 348
Gundel, DVBl. 2001, 95 (100). Vgl. 3. Teil, B., II., 1., a) Vgl. 3. Teil, B., II., 1., b) Vgl. 3. Teil, B., II., 1., e) Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (1), (b), (aa). Vgl. 3. Teil, B., II., 2. Vgl. 3. Teil, B., II., 2. EuGH, S. 107, Fn. 476, Rn. 57.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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Rechtssache „Gervais Larsy“ stellte sich die Frage nach einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, weil ein belgisches Institut im Zusammenhang mit Rentenzahlungen die Verordnung 1408/71/EWG falsch ausgelegt hatte349. In den übrigen Entscheidungen des Gerichtshofs zu exekutiven Verstößen gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht betrafen die Gemeinschaftsrechtsverstöße dagegen keine Verordnungen, sondern Richtlinien. In der Rechtssache „Brinkmann I“ hatte die oberste dänische Steuerbehörde die Richtlinie 79/32/EWG, die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht in dänisches Recht transformiert worden war, zwar unmittelbar angewandt, allerdings nicht in richtlinienkonformer Weise350. Im Unterschied dazu verstieß in „Norbrook Laboratories“ ein Ministerium des Vereinigten Königreichs gegen die bereits in nationales Recht transformierten Richtlinien 81/851/EWG und 81/852/EWG351. Der Rechtssache „A.G.M.-COS.MET“ lag schließlich ein Verstoß gegen die Richtlinie 98/37/EG zugrunde, der durch rufschädigende Äußerungen eines finnischen Beamten ausgelöst worden war352. (3) Judikatives Unrecht Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für judikatives Unrecht kann sich ebenfalls im Zusammenhang mit Verstößen gegen das primäre oder sekundäre Gemeinschaftsrecht ergeben. (a) Letztinstanzlichkeit Voraussetzung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht ist allerdings, dass ein mitgliedstaatliches Gericht in letzter Instanz gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hat353. Diese Voraussetzung korrespondiert mit der Vorlagepflicht eines letztinstanzlichen Gerichts gemäß Art. 234 Abs. 3 EG. Danach sind mitgliedstaatliche Gerichte immer dann zur Vorlage verpflichtet, wenn ihre Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können. Als letztinstanzliche Gerichte sind nicht nur solche anzusehen, die an der Spitze der Gerichtshierarchie stehen und deren Entscheidungen generell unanfechtbar sind (abstrakte Betrachtungsweise)354. Vielmehr kommt es allein darauf 349 350 351 352 353 354
Vgl. 3. Teil, B., II., 1., f). Vgl. 3. Teil, B., II., 1., d). Vgl. 3. Teil, B., II., 1., c). Vgl. 3. Teil, B., II., 1., g). Vgl. auch OLG Frankfurt am Main v. 13. März 2008, Az.: 1 U 244/07, Rn. 17. Vgl. Dauses, S. 110 f.; Bleckmann, S. 323, Rn. 921.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
an, ob gegen die Entscheidung des mit dem Rechtsstreit befassten Gerichts noch ein Rechtsmittel zur Verfügung steht (konkrete Betrachtungsweise)355. In Deutschland können daher auch Amtsgerichte letztinstanzliche Gerichte sein, wenn die Berufungssumme nicht erreicht ist. Entscheidend ist mithin, dass der Rechtszug endet und das Urteil in Rechtskraft erwächst. Der Verstoß gegen die Vorlagepflicht kann für sich genommen allerdings wohl kaum eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung auslösen. Unproblematisch ist indes, dass die Regelung des Art. 234 Abs. 3 EG als prozessuale Regelung dem Einzelnen keine subjektiven Rechte vermittelt, weil kein Recht des Einzelnen vorgesehen ist, eine Vorlage an den EuGH zu erzwingen356. Im Fall einer Nichtvorlage ist nämlich zugleich das Recht des Einzelnen auf den gesetzlichen Richter verletzt, das in Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta niedergelegt und angesichts seiner Verbürgung in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts ist357. Ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die Vorlagepflicht und dem entstandenen Schaden dürfte allerdings nur schwerlich nachzuweisen sein, denn es müsste belegt werden, dass im Fall einer Vorabentscheidung des EuGH kein Schaden entstanden wäre. Schließlich besteht auch die Möglichkeit, dass ein letztinstanzliches Gericht zwar gegen seine Vorlagepflicht verstößt, das Gemeinschaftsrecht jedoch korrekt auslegt. Neben einem Verstoß gegen die Verpflichtung aus Art. 234 Abs. 3 EG muss also auch ein sonstiger Verstoß gegen primäres oder sekundäres Gemeinschaftsrecht vorliegen, damit eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung möglich ist358. Folgerichtig hat der EuGH die Verletzung der Vorlagepflicht lediglich als ein Kriterium eingestuft, dass es bei dem Haftungserfordernis der hinreichenden Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes zu berücksichtigen gilt359. Hintergrund der Haftung für judikatives Unrecht letztinstanzlicher Gerichte ist, dass in Rechtskraft erwachsene Urteile in den Mitgliedstaaten grundsätzlich auch dann nicht aufgehoben werden können, wenn sie gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen. Die Feststellung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit in einem nachfolgenden Urteil des EuGH hat insoweit keine Auswirkungen360. 355 EuGH v. 4. Juni 2002, Rs. C-99/00 (Lyckeskog), Slg. 2002, I-4839 (4883, Rn. 10 ff.); Solar, S. 63 ff; vgl. auch OLG Frankfurt, Fn. 353. 356 Wegener, EuR 2004, 84, 89 f. 357 Haratsch, EuR 2008, 81 (96). 358 Vgl. Wegener, EuR 2004, 84 (90). 359 EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10312, Rn. 56. 360 Vgl. Poelzig, JZ 2007, 858; Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 38, Rn. 73.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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Auf den ersten Blick scheint dieses Ergebnis im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht zu stehen, da den Erfordernissen des Prinzips der praktischen Wirksamkeit nicht Genüge getan wird. Der EuGH hat die Bedeutung des Grundsatzes der Rechtskraft für die Gemeinschaftsrechtsordnung jedoch ausdrücklich anerkannt. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollten nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können361. Das Gemeinschaftsrecht gebiete es einem nationalen Gericht selbst dann nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund derer eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen das Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte362. Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung stellt die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung allerdings auch nicht unmittelbar in Frage. Der EuGH hat zu Recht entschieden, dass ein Verfahren zur Feststellung der Haftung des Staates nicht denselben Gegenstand und nicht zwangsläufig dieselben Parteien wie das Verfahren habe, das zur rechtskräftigen Entscheidung geführt hat363. Die Rechtskraft gilt in allen ihren Ausprägungen nur zwischen den am Ausgangsverfahren beteiligten Parteien, die auf die Entscheidung Einfluss nehmen könnten364. Durch die Anerkennung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht letztinstanzlicher Gerichte wird die Rechtskraft allenfalls mittelbar in Frage gestellt, da das rechtskräftige Urteil in einem Haftungsprozess zum Gegenstand richterlicher Begutachtung gemacht wird365. Rechtsfolge einer solchen Haftung ist nicht die Aufhebung des rechtskräftigen Urteils, sondern pekuniärer Schadensersatz366. Der Einzelne kann somit trotz Rechtskraft des letztinstanzlichen Urteils Rechtsschutz erlangen. Ob auch eine Aufhebung rechtskräftiger Urteile im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich geboten ist, soll an anderer Stelle erläutert werden367. Grundsätzlich handelt es sich hierbei jedoch um eine Frage des nationalen Rechts, da sich die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten auf die Regelung der Beendigung von nationalen Prozessen und insbesondere auch auf die Anordnung der Rechtskraft eines Urteils er361
EuGH, Fn. 72, Rn. 20. EuGH, Fn. 72, Rn. 21. 363 EuGH, Fn. 72, Rn. 39. 364 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 155, Rn. 1. A. A.: Schwab, ZZP 77 (1964), 124 (160); Martens, ZZP 79 (1966), 404 (428 f.). 365 Poelzig, JZ 2007, 858 (860). 366 Vgl. 4. Teil, C., II., 4., ff), (1). 367 Vgl. 4. Teil, C., II., 4., ee) (2), (c). 362
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
streckt368. Auf die Letztinstanzlichkeit eines Gerichts hat es jedoch keine Auswirkungen, wenn dem Einzelnen die Möglichkeit eingeräumt wird, im Wege eines Wiederaufnahmeverfahrens die Rechtskraft eines gemeinschaftsrechtswidrigen Urteils anzugreifen369. (b) Verstöße gegen primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht Den bisher ergangenen Entscheidungen des EuGH zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht lagen Verstöße gegen das primäre- und sekundäre Gemeinschaftsrecht zugrunde. Während der Gerichtshof in der Rechtssache „Köbler“ über die Verstöße eines letztinstanzlichen Gerichts gegen Art. 39 EG und die Verordnung Nr. 1612/68 zu befinden hatte370, ging es in „Traghetti del Mediterraneo“ um einen Verstoß gegen die Regelungen der Art. 81, 82 EG und Art. 86, 87 EG371. Zudem war von Seiten der Klägerin ein Verstoß gegen die Vorlageverpflichtung aus Art. 234 Abs. 3 EG geltend gemacht worden372. Wie soeben erwähnt wurde, ist ein solcher Gemeinschaftsrechtsverstoß für sich genommen jedoch nicht geeignet, eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung auszulösen. bb) Gemeinschaftsrechtswidrigkeit Verstöße von Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht können nur dann eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nach sich ziehen, wenn das jeweilige mitgliedstaatliche Verhalten nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbart werden kann, d.h. gemeinschaftsrechtswidrig ist. Sofern das mitgliedstaatliche Verhalten gerechtfertigt werden kann, ist dies beispielsweise nicht der Fall373. (1) Die Feststellung der Rechtswidrigkeit beim Unterlassen Während die Rechtswidrigkeit bei der Haftung für ein Tun offenkundig ist, kann beim Unterlassen die Feststellung der Rechtswidrigkeit problematisch sein, denn es muss eine Pflicht des Staates zum Handeln bestehen374. 368 Vgl. EuGH v. 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 (Eco Swiss), Slg. 1999, I-3055 (3095, Rn. 46). 369 Vgl. 4. Teil, C., II., 4., ee) (2), (c). 370 Vgl. 3. Teil, B. III., 1. 371 Vgl. 3. Teil, B., III., 2. 372 Vgl. EuGH, S. 115, Fn. 518, Rn. 16. 373 Vgl. insoweit die Ausführungen zur Möglichkeit einer Rechtfertigung von Verstößen gegen die Grundfreiheiten: 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (1), (b), (aa).
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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Dies gilt vor allem im Fall der Verletzung staatlicher Schutzpflichten375. Den Anspruchssteller trifft insoweit die Darlegungs- und Beweislast. Die Erbringung des Nachweises der Rechtswidrigkeit kann allerdings Schwierigkeiten bereiten, wenn einem Mitgliedstaat mehrere Möglichkeiten der Schadensverhinderung zustehen. Hinzu kommt, dass von dem Mitgliedstaat nur die Anwendung der notwendigen Sorgfalt (obligation de moyens) und nicht die Erreichung eines bestimmten Erfolgs (obligation de résultat) verlangt werden kann. Von einer obligation de résultat ist nicht auszugehen, denn eine Haftung trotz fehlender Möglichkeit der Schadensabwendung käme einer hoheitlichen Schadensversicherung gleich, die zu einer Schwächung der Eigenverantwortung der Bürger führen würde376. (2) Die Haftung für rechtmäßiges Verhalten Schließlich stellt sich die Frage, ob eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nur bei gemeinschaftsrechtswidrigem Verhalten möglich ist oder auch dann, wenn das Verhalten eines mitgliedstaatlichen Organs mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist. Der EuGH hat eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung bei rechtmäßigem Verhalten bislang noch nicht anerkannt. In „Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft/Rat u. Kommission“377 hat er jedoch geurteilt, dass eine außervertragliche Haftung der Gemeinschaft bei rechtmäßigem Handeln in Betracht komme. So hat der Gerichtshof erklärt, dass, soweit der Grundsatz der Haftung der Gemeinschaft für rechtmäßiges Handeln im Gemeinschaftsrecht anerkannt sein sollte, die Auslösung einer solchen Haftung nach der einschlägigen Rechtsprechung jedenfalls das Vorliegen eines außergewöhnlichen und besonderen Schadens voraussetzen würde378. Die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft für rechtmäßiges Handeln könne nur ausgelöst werden, wenn drei Voraussetzungen nebeneinander erfüllt sind, nämlich das tatsächliche Vorliegen des angeblich entstandenen Schadens, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Schaden und dem den Gemeinschaftsorganen zur Last gelegten Handeln sowie die Qualifikation des behaupteten Schadens als außergewöhnlicher und besonderer Schaden379. In der Rechtssache „Masdar“ hat das EuG insoweit festgestellt, dass es sich um einen außergewöhnlichen Schaden handele, wenn er die Grenzen der wirtschaftlichen Risiken, die der 374
Vgl. U. Säuberlich, S. 232. Vgl. 4. Teil, B., II., 1., a), aa). 376 U. Säuberlich, S. 234. 377 EuGH v. 15. Juni 2000, Rs. C-237/98 P (Dorsch Consult/Rat und Kommission), Slg. 2000, I-4549. 378 EuGH, Fn. 377, I-4574, Rn. 19. 379 EuGH, Fn. 377, I-4581, Rn. 53. 375
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
Tätigkeit in dem betroffenen Sektor innewohnen, überschreitet, und um einen besonderen Schaden, wenn er eine besondere Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern gegenüber den Anderen unverhältnismäßig belastet380. Die Judikatur von EuGH und EuG zur Haftung der Gemeinschaft trotz rechtmäßigen Verhaltens ist in der Literatur auf ein geteiltes Echo gestoßen. Einerseits wurde diese Rechtsprechungsentwicklung mit Skepsis bewertet381, andererseits hat sie aber auch Zustimmung gefunden382. Für die in Rede stehende Gemeinschaftshaftung spricht, dass nicht nur rechtswidrige, sondern auch rechtmäßige Akte der Gemeinschaft die Rechtspositionen der Unionsbürger auf schwerwiegende Weise beeinträchtigen können. In einer Rechtsgemeinschaft bedürfen Sonderopfer, die Einzelnen zugunsten des allgemeinen Interesses in rechtmäßiger Weise aufgebürdet werden, der Kompensation383. Nichts anderes kann für rechtmäßige Akte der Mitgliedstaaten gelten. Beispielsweise kann eine mitgliedstaatliche Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 28 EG, die gemäß Art. 30 EG oder augrund zwingender Erfordernisse des Gemeinwohls gerechtfertigt ist, unter Umständen für ein Unternehmen zu schweren wirtschaftlichen und gegebenenfalls auch existenzbedrohenden Einbußen führen. In solchen Fällen würde eine Rechtsschutzlücke bestehen, wenn für das betroffene Unternehmen die Möglichkeit versperrt wäre, Schadensersatz und damit Rechtsschutz zu erlangen. Für eine Haftung des Staates trotz rechtmäßigen Verhaltens spricht im Übrigen, dass eine solche Haftung in zahlreichen Mitgliedstaaten möglich ist. In Deutschland etwa kann bei rechtmäßigen Eingriffen des Staates in Rechtspositionen Einzelner über den Aufopferungsanspruch oder das Haftungsinstitut des enteignenden Eingriffs Schadensersatz verlangt werden, wenn die Eingriffe besonders schwere Auswirkungen auf eine bestimmte Anzahl von Betroffenen haben und diesen im Vergleich zur Allgemeinheit ein Sonderopfer auferlegen (Sonderopfertheorie). Auch in anderen Mitgliedstaaten ist eine Haftung des Staates trotz rechtmäßigen Verhaltens anerkannt384. Die Erstreckung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung auf Fälle rechtmäßigen Verhaltens ist somit angezeigt. Allerdings muss die oben beschriebene restriktive Rechtsprechung des EuGH und des EuG insoweit übertragen werden. Eine gemeinschaftsrecht380 EuG v. 16. November 2006, Rs. T-333/03 (Masdar), Rn. 66, abrufbar über http://curia.europa.eu. 381 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 288 EG, Rn. 25. 382 Vgl. Schmahl, ZeuS 1999, 415 (425 ff.); Detterbeck, AöR 125 (2000), 202 (223). 383 Schmahl, ZeuS 1999, 415 (428). 384 Zu der Rechtslage in Frankreich, Spanien, Belgien, Griechenland und Luxemburg: Schmahl, ZeuS 1999, 415 (427).
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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liche Staatshaftung käme bei rechtmäßigem Verhalten somit nur dann in Betracht, wenn der behauptete Schaden als außergewöhnlicher und besonderer Schaden qualifiziert werden kann. Diesbezüglich wäre zu prüfen, ob die Grenzen der wirtschaftlichen Risiken, die der Tätigkeit in dem betroffenen Sektor innewohnen, überschritten worden sind und ob eine besondere Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern gegenüber den Anderen unverhältnismäßig belastet worden ist. Nur im Ausnahmefall wäre eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung mithin möglich. Vor diesem Hintergrund ist auch nicht anzunehmen, dass die Anerkennung einer Haftung der Mitgliedstaaten für rechtmäßiges Verhalten durch den EuGH zu einer Hemmung der wirtschaftspolitischen Aktivitäten der Mitgliedstaaten führen würde. Eine solche Anerkennung wäre im Übrigen auch in Anbetracht der vom Gerichtshof selbst forcierten Kohärenz von gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftung und außervertraglicher Gemeinschaftshaftung sinnvoll. cc) Gemengelagen Nicht nur zwischen einem Mitgliedstaat und der Gemeinschaft kann sich eine Gemengelage ergeben385, sondern auch auf nationaler Ebene zwischen den beteiligten Gewalten. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der nationale Gesetzgeber ein gemeinschaftsrechtswidriges Gesetz erlässt, das von einer nationalen Behörde angewandt wird, ohne es gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, und dieses gemeinschaftsrechtswidrige Verhalten der Behörde in letzter Instanz von einem nationalen Gericht bestätigt wird. In einem solchen Fall ist von drei eigenständigen Gemeinschaftsrechtsverstößen auszugehen. Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung kann grundsätzlich an jeden dieser Verstöße geknüpft werden386. Es gilt allerdings zu beachten, dass die Voraussetzungen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung je nach Fallgestaltung zu beurteilen sind387. Bei judikativem Unrecht kann etwa bereits dann ein hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß angenommen werden, wenn dieser offenkundig ist, während bei legislativen oder exekutiven Gemeinschaftsrechtsverstößen neben der Offenkundigkeit noch die Erheblichkeit zu prüfen ist388. Die fallbezogene Beurteilung der Haftungsvoraussetzungen kann dazu führen, dass einzelne Gemeinschaftsrechtsverstöße einer Gemengelage letztlich doch keine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung begründen können. Hinzu kommt, dass die 385
Vgl. 4. Teil, B., II., 1., a), aa). Vgl. Gundel, DVBl. 2001, 95 (99 f.); Kadelbach, S. 179; Brocke, S. 144, 160; Hoppe, S. 285. 387 EuGH, S. 49, Fn. 145, I-4879, Rn. 24. 388 Vgl. 4. Teil, B., II., 2., b). 386
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
Voraussetzung eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen dem Gemeinschaftsrechtsverstoß und dem entstandenen Schaden bei einzelnen Gemeinschaftsrechtsverstößen möglicherweise nicht erfüllt ist389. Trotz einer Gemengelage kann also unter Umständen nur einer der Gemeinschaftsrechtsverstöße haftungsbegründend sein390. Vor Erhebung einer Haftungsklage sollte der Geschädigte daher genau prüfen, auf welchen Gemeinschaftsrechtsverstoß die Klage zu stützen ist. Im Zweifel sollte bei einer Klage zumindest hilfsweise auf alle in Betracht kommenden Verstöße abgestellt werden391. dd) Verhältnis von Primär- und Sekundärrechtsverstößen Nicht selten geht mit der Verletzung sekundären Gemeinschaftsrechts auch ein Verstoß gegen das Primärrecht – insbesondere gegen die Grundfreiheiten – einher. Insoweit stellt sich allerdings die Frage, ob es dem Einzelnen nicht verwehrt ist, sich auf individualschützendes Primärrecht zu berufen. Dafür spricht, dass der EuGH bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer staatlichen Maßnahme ausschließlich auf das harmonisierende Sekundärrecht und gerade nicht auf das primäre Gemeinschaftsrecht zurückgreift392. Dementsprechend hat der EuGH in „Hedley Lomas“ zum Ausdruck gebracht, auf die Ausnahmebestimmung des Art. 30 EG dürfe nicht zurückgegriffen werden, wenn eine Richtlinie die Harmonisierung einer der Maßnahmen vorsieht, bei denen Art. 30 EG greift393. Dem Urteil des EuGH in der Rechtssache „Danske Slagterier“ lässt sich allerdings entnehmen, dass sich der Einzelne bei Verstößen gegen das sekundäre Gemeinschaftsrecht auch auf individualschützendes Primärrecht berufen kann. So hat der Gerichtshof festgestellt, die Produzenten und Vermarkter von Schweinefleisch könnten sich zur Begründung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung bei einer gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßenden Umsetzung und Anwendung der Richtlinien 64/433 und 89/662 auch auf eine Verletzung von Art. 28 EG berufen. Er wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Richtlinien das individualschüt389 Vgl. insoweit die Ausführungen des EuGH in der Rechtssache „Brinkmann I“, S. 46, Fn. 132, I-5281, Rn. 29. 390 Vgl. Hoppe, S. 285. 391 Beruft sich der Kläger nur auf legislatives Unrecht, obwohl auch ein exekutiver Gemeinschaftsrechtsverstoß in Betracht kommt, prüft das Gericht in der Regel nicht, ob unter dem Gesichtspunkt exekutiven Unrechts eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung gegeben ist, vgl. insoweit LG Berlin, Fn. 15, Rn. 27. 392 Vgl. Giesberts/Eickelberg, EuZW 2005, 231 (232). 393 EuGH, S. 92, Fn. 387, I-2610, Rn. 14 ff.; vgl. auch das Urteil des EuGH in der Rechtssache „Danske Slagterier“, S. 74, Fn. 274, Rn. 25.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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zende Recht aus Art. 28 EG präzisierten und konkretisierten394. Des Weiteren brachte der Gerichtshof zum Ausdruck, dass die Richtlinien dem Einzelnen das Recht verleihen würden, frisches Fleisch, das den Anforderungen der Gemeinschaft entspricht, in einem anderen Mitgliedstaat zu vermarkten395. Ein subjektives Recht des Einzelnen ergibt sich mithin bereits aus den Richtlinien. Eine Rekurrierung auf Art. 28 EG wäre somit nicht zwingend erforderlich gewesen, um eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung begründen zu können. Die Produzenten und Vermarkter von Schweinefleisch hätten sich auch ausschließlich auf eine Verletzung des subjektiven Vermarktungsrechts berufen können. Damit steht fest, dass Einzelne die Verletzung von sekundärem und primärem Gemeinschaftsrecht grundsätzlich auch alternativ geltend machen können. Eine kumulative Geltendmachung ist ebenfalls möglich. Dies belegt das Urteil in der Rechtssache „Köbler“, in dessen Rahmen der EuGH nicht nur am Maßstab des sekundären Gemeinschaftsrechts geprüft hat, ob die Gewährung einer besonderen Alterszulage gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt, sondern auch an dem des primären Gemeinschaftsrechts. So kam er zu dem Ergebnis, dass die beanstandete Maßnahme gegen Art. 39 EG und Art. 7 Abs. 1 VO Nr. 1612/68 verstoße396. Überdies stellte er fest, dass diese Vorschriften unbestreitbar bezweckten, dem Einzelnen Rechte zu verleihen397. Unklar ist jedoch weiterhin, ob sich Einzelne auf individualschützendes Primärrecht berufen können, wenn das Sekundärrecht, gegen das verstoßen wurde, keine subjektiven Rechte verleiht. Wäre der Rückgriff auf individualschützendes Primärrecht – insbesondere auf die Grundfreiheiten – für den Einzelnen nicht möglich, hätte dies zur Folge, dass die staatlichen Maßnahmen sanktionslos blieben. In nicht harmonisierten Bereichen könnte sich der Einzelne hingegen unproblematisch auf die Grundfreiheiten berufen, wenn ein entsprechender Verstoß vorliegt. Durch die Harmonisierung würden die Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen also beschränkt. Dieses Ergebnis erscheint jedoch zumindest im Fall der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie mit einem rein objektiven Inhalt sachgerecht. Wird eine Richtlinie erlassen, ohne einzelnen Bürgern subjektive Rechte zuzubilligen, liegt es nämlich auf der Hand, dass einzelne Bürger auch keine Schadensersatzansprüche geltend machen können sollten, wenn die Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden ist398. Dementsprechend verlangt der EuGH in einem solchen Fall, das durch die Richtlinie 394 395 396 397 398
EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 23. EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 23. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10321, Rn. 88. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10324, Rn. 102 f. So auch Giesberts/Eickelberg, EuZW 2005, 231 (234).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
vorgeschriebene Ziel müsse die Verleihung von Rechten an Einzelne umfassen399. Diese Haftungsbeschränkung würde jedoch de facto gegenstandslos, wenn auf das Primärrecht – insbesondere auf die individualschützenden Grundfreiheiten – rekurriert werden könnte. Zudem wäre der Kreis der Anspruchsberechtigten unübersehbar groß und die Haushaltsprärogative der nationalen Gesetzgeber gefährdet400. c) Verleihung subjektiver Rechte Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ist ein Instrument des subjektiven Rechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene. Der Individualbezug kommt insbesondere dadurch zum Ausdruck, dass die Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße einen Verstoß gegen eine individualschützende Rechtsnorm voraussetzt. Die verletzte Norm des primären oder sekundären Gemeinschaftsrechts muss dem Einzelnen subjektive Rechte verleihen bzw. zumindest deren Verleihung bezwecken. Ein subjektives Recht ist eine Rechtsstellung, die einem Rechtssubjekt zur Durchsetzung seiner Interessen nach seinem Belieben eingeräumt wird401. Der gemeinschaftsrechtliche Begriff des subjektiven Rechts ist weiter gefasst als der aus dem deutschen Verwaltungsrecht bekannte Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts402, da die aus dem Gemeinschaftsrecht fließenden subjektiven Rechte – anders als subjektiv-öffentliche Rechte403 – zum Teil auch das Verhältnis von Privatpersonen untereinander betreffen404. Ob eine Norm subjektive Rechte verleiht, ist anhand der klassischen Auslegungsmethoden zu ermitteln405. Die im deutschen Recht entwickelte Schutznormtheorie findet in diesem Zusammenhang keine Anwendung. Vielmehr reicht es schon aus, wenn die betreffende Norm gemeinschaftsrechtlich geschützten Indivi399
Vgl. EuGH, S. 49, Fn. 145, I-4880, Rn. 27; EuGH, S. 67, Fn. 240, Rn. 112. Giesberts/Eickelberg, EuZW 2005, 231 (235). 401 Vgl. Larenz, S. 22 f., 30 f., 199, 465. 402 Kling, Jura 2005, 298 (302); Wurmnest, S. 50. 403 Ein subjektiv-öffentliches Recht ist die dem Einzelnen kraft öffentlichen Rechts verliehene Rechtsmacht, vom Staat zur Verfolgung eigener Interessen ein bestimmtes Verhalten verlangen zu können. Subjektiv-öffentliche Rechte bestehen demnach im Verhältnis Bürger-Staat. Sie können allerdings auch im Verhältnis Staat-Bürger oder im Verhältnis juristischer Personen des öffentlichen Rechts untereinander bestehen, nicht aber im Verhältnis Bürger-Bürger (vgl. Maurer, S. 164, Rn. 2). 404 Vgl. in diesem Zusammenhang: EuGH, S. 37, Fn. 71, I-3357, Rn. 28. Der Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts sollte somit nicht im Zusammenhang mit der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung verwandt werden, so aber Giesberts/Eickelberg, EuZW 2005, 231 (233 f.). 405 Kling, Jura 2005, 298 (302). 400
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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dualinteressen dient. Das Erfordernis eines subjektiven Rechts dient der Eingrenzung einer ansonsten uferlosen Haftung der Mitgliedstaaten406. Die Mitgliedstaaten haben ein schützenswertes Interesse daran, dass Gemeinschaftsrechtsverstöße – insbesondere die der Legislative – keine unabsehbaren haftungsrechtlichen Folgen mit sich bringen. aa) Subjektive Rechte bei Verstößen gegen die Umsetzungspflicht des Art. 249 Abs. 3 EG Bestimmungen einer Richtlinie, die in einem Mitgliedstaat nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden ist, können nur dann subjektive Rechte an Einzelne verleihen, wenn sie unmittelbar anwendbar sind407. In diesem Fall steht die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung jedoch unter dem Vorbehalt des Vorrangs des Primärrechtsschutzes. Der Einzelne muss sich grundsätzlich auf die unmittelbare Wirkung der Richtlinienbestimmung berufen, um auf diesem Wege die Entstehung von Schäden abzuwenden408. Richtlinien, die nicht in nationales Recht transformiert worden sind, beinhalten jedoch teilweise Regelungen, die zwar nicht unmittelbar angewandt werden können, aber gleichwohl darauf abzielen, dem Einzelnen subjektive Rechte zu verleihen. Solche Regelungen verleihen mangels Transformation zwar nicht selbst subjektive Rechte, die Vorschrift des Art. 249 Abs. 3 EG, gegen die insoweit verstoßen worden ist, bezweckt allerdings die Verleihung von subjektiven Rechten durch diese Regelungen. Abgesehen davon, dass das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an Einzelne umfassen muss, ist jedoch zu fordern, dass der Inhalt dieser Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden kann409. Die Bedeutung des Bestimmtheitserfordernisses liegt darin, dass Richtlinien mitunter zwar das Ziel der Verleihung von subjektiven Rechten beinhalten, der Inhalt dieser Rechte jedoch nur oberflächlich, gleichsam ohne inhaltliche Substanz ausgestaltet ist, so dass erst durch die Transformation der Richtlinie konkrete Rechte für den Einzelnen begründet werden410. An die Bestimmtheit einer Richtlinienbestimmung sind bei der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung ähnliche Anforderungen zu stellen wie bei der Prüfung der unmittelbaren Wirkung. Während es für die unmittelbare Wirkung einer Richtlinienbestimmung allerdings erforderlich ist, dass diese 406
Giesberts/Eickelberg, EuZW 2005, 231 (234). Vgl. die Ausführungen zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen: 4. Teil, B., II., b), aa), (1), (a), (bb). 408 Näheres zum Vorrang des Primärrechtsschutzes: 4. Teil, C., II., 4., a), ee). 409 Vgl. EuGH, S. 49, Fn. 145, I-4880, Rn. 27; EuGH, S. 67, Fn. 240, Rn. 112. 410 Strickrodt, S. 103. 407
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
ohne weitere Konkretisierung durch Gerichte und Behörden angewandt werden kann, kommt es bei der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung beispielsweise nicht darauf an, dass sich die Person des Verpflichteten aus der Richtlinie eindeutig ergibt411. Zudem ist es nicht notwendig, dass sich das Richtlinienrecht gegen den Staat richtet412. Gleichwohl bedarf es einer hinreichenden Bestimmbarkeit der subjektiven Rechte. Dem objektiven Betrachter der Richtlinie muss klar werden, dass die jeweilige Richtlinienbestimmung auf die Verleihung subjektiver Rechte abzielt. Eine eigenständige Prüfungsvoraussetzung stellt das Bestimmtheitserfordernis nur bei Verstößen gegen Art. 249 Abs. 3 EG dar413. Bei allen anderen Gemeinschaftsrechtsverstößen findet die Bestimmtheit der verletzten Vorschrift im Rahmen der Prüfung der hinreichenden Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes Beachtung414. So handelt es sich bei dem Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift sowie dem Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen oder Gemeinschaftsbehörden belässt, um Gesichtspunkte, die nach der Rechtsprechung des EuGH bei der Prüfung der hinreichenden Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes zu berücksichtigen sind415. Lässt der Wortlaut der verletzten Bestimmung keine ausreichende Klarheit und Genauigkeit erkennen bzw. belässt sie dem nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung oder Ausgestaltung einen weiten Ermessensspielraum, ohne konkrete Ergebnis-, Verhaltens- oder Unterlassenspflichten aufzugeben, scheidet die Annahme eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes aus. bb) Subjektive Rechte bei sonstigen Gemeinschaftsrechtsverstößen Bei sonstigen Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht ist zu prüfen, ob die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm subjektive Rechte verleiht oder dieses zumindest bezweckt. (1) Verstöße gegen primäres Gemeinschaftsrecht Bei einem Verstoß gegen die Umsetzungsverpflichtung aus Art. 249 Abs. 3 EG ergeben sich die subjektiven Rechte mittelbar aus der nicht umgesetzten Richtlinie. Subjektive Rechte des Einzelnen können sich aller411 An diesem Punkt scheiterte die Annahme einer unmittelbaren Richtlinienwirkung in der Rechtssache „Francovich u. a.“, vgl. EuGH, S. 15, Fn. 2. 412 Cornils, S. 125. 413 Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 225, Rn. 555. 414 Geiger, S. 152; Strickrodt, S. 106 ff. 415 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1150, Rn. 56.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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dings auch unmittelbar aus dem primären Gemeinschaftsrecht ergeben. Ganz überwiegend richten sich die Bestimmungen des EG-Vertrages jedoch nicht an den Einzelnen, sondern an die Mitgliedstaaten. Der EuGH hat allerdings schon früh anerkannt, dass solche Bestimmungen unter bestimmten Voraussetzungen von Einzelnen unmittelbar angewandt werden können und damit auch subjektive Rechte verleihen416. Sind Regelungen des primären Gemeinschaftsrechts unmittelbar anwendbar, kann eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung jedoch am Vorrang des Primärrechtsschutzes scheitern. Die unmittelbare Anwendbarkeit einer Vertragsvorschrift ist aber kein Ausschlusskriterium für eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung417. Bedeutsame subjektive Rechte des primären Gemeinschaftsrechts ergeben sich aus den unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten des EG-Vertrags418. Subjektive Rechte des Einzelnen können allerdings auch aus Bestimmungen wie Art. 23 EG oder Art. 90 EG abgeleitet werden, die zwar keine unmittelbare Wirkung entfalten, den Mitgliedstaaten jedoch klare und eindeutige Verpflichtungen auferlegen, die von ihnen unmittelbar, d.h. ohne weitere Ausführungsakte zu erfüllen sind419. Die prozessuale Bestimmung des Art. 234 Abs. 3 EG ist hingegen nicht geeignet, subjektive Rechte zu verleihen420. (2) Verstöße gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht Nicht nur Richtlinien beinhalten subjektive Rechte des Einzelnen, sondern auch Verordnungen und Entscheidungen421. Im Unterschied zu Richtlinien können Verordnungen und Entscheidungen subjektive Rechte an Einzelne verleihen, ohne dass es einer Transformation in das nationale Recht bedarf. Entscheidungen, die nicht an Individuen, sondern an Mitgliedstaaten gerichtet sind, entfalten jedoch nur dann eine individualschützende Wirkung, soweit sie unmittelbar anwendbar sind. Dies ist nach der Rechtsprechung des EuGH der Fall, wenn die Entscheidung einen Mitgliedstaat verpflichtet, den Individuen bestimmte Rechte einzuräumen, diese auferlegte Pflicht klar und eindeutig ist, nicht von einer Bedingung abhängt und dem Mitgliedstaat keinen Ermessensspielraum zu ihrer Umsetzung lässt422.
416
EuGH, S. 35, Fn. 62. Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (1), (b), (bb). 418 Vgl. Walter, in: Ehlers, S. 15, Rn. 37. 419 Fischer, JA 2000, 348 (350). 420 Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (3), (a). 421 Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 225, Rn. 555. 422 EuGH v. 6. Oktober 1970, Rs. 9/70 (Leberpfennig), Slg. 1970, 825, (838, Rn. 5 f.). 417
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
d) Zurechenbarkeit des Gemeinschaftsrechtsverstoßes Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung setzt schließlich voraus, dass der Gemeinschaftsrechtsverstoß auf ein Verhalten zurückzuführen ist, das dem Staat unmittelbar zugerechnet werden kann423. Der EuGH hat insoweit festgestellt, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind424. Die Zurechenbarkeit des Gemeinschaftsrechtsverstoßes ist eine Voraussetzung, die in der Literatur regelmäßig übergangen wird425. Für die Haftungsbegründung ist ihr Vorliegen jedoch zwingend erforderlich. Ob außergewöhnliche Gegebenheiten gemeinschaftsrechtlicher, innerstaatlicher oder volkswirtschaftlicher Art der Zurechenbarkeit des Gemeinschaftsrechtsverstoßes entgegenstehen können, ist indes fragwürdig. Fest steht jedenfalls, dass die Zurechenbarkeit nicht von den internen Vorschriften über die Verteilung der Zuständigkeiten auf die Verfassungsorgane abhängt426. Der Gemeinschaftsrechtsverstoß kann dem Mitgliedstaat folglich zugerechnet werden, ohne dass es darauf ankommt, ob er von der Legislative, der Exekutive oder der Judikative verursacht worden ist427. Bei föderalistischen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland ist überdies gleichgültig, welche staatliche Stelle den Gemeinschaftsrechtsverstoß begangen und nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats den Schadensersatz zu leisten hat428. Letztlich können an die Zurechenbarkeit eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden, da ansonsten eine Exkulpation der Mitgliedstaaten zu leicht möglich wäre429. In „A.G.M.-COS.MET“ hat sich der EuGH speziell zu der Frage geäußert, ob das Verhalten eines Beamten, das durch rufschädigende öffentliche Erklärungen gekennzeichnet ist, dem Staat zugerechnet werden kann, für den der Beamte tätig ist. Insoweit stellte er fest, dass die Äußerungen eines Beamten dem Staat zurechenbar seien, wenn aufgrund ihrer Form und der Umstände bei den Empfängern der Äußerungen der Eindruck entsteht, dass es sich um offizielle staatliche Verlautbarungen und nicht um die private Meinung des Beamten handelt. Um Äußerungen eines Beamten dem Staat zurechnen zu können, komme es entscheidend darauf an, ob die Empfänger 423
Strickrodt, S. 70. EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5415, Rn. 37; EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1141, Rn. 17; EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10305, Rn. 30. 425 Vgl. Strickrodt, S. 69. 426 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1145, Rn. 33. 427 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1145, Rn. 34; Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 223, Rn. 550. 428 EuGH, S. 58, Fn. 192, I-3140, Rn. 62. 429 Vgl. Strickrodt, S. 148. 424
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
191
dieser Äußerungen den Umständen nach annehmen dürfen, dass der Beamte diese Äußerungen mit Amtsautorität macht430. Der Gerichtshof hat dem vorlegenden Gericht, das letztlich über die Zurechenbarkeit der Äußerungen zu befinden hatte, verschiedene Kriterien an die Hand gegeben, die es zu berücksichtigen galt. So sei zu würdigen, ob der Beamte im Allgemeinen für den betroffenen Bereich zuständig ist, der Beamte seine schriftlichen Äußerungen unter Verwendung des offiziellen Briefkopfs der zuständigen Stelle abgibt, der Beamte Fernsehinterviews in den Räumen seiner Dienststelle gibt, der Beamte nicht auf den privaten Charakter seiner Äußerungen und deren Abweichung von der offiziellen Position der zuständigen Stelle hinweist und die zuständigen staatlichen Stellen nicht so schnell wie möglich die notwendigen Schritte unternehmen, um bei den Empfängern der Äußerungen des Beamten den Eindruck zu zerstreuen, dass es sich um offizielle staatliche Verlautbarungen handelt431. Insbesondere der letzte Aspekt rechtfertigt die Zurechnung der Äußerungen an den Staat. Unter bestimmten Umständen kann sich somit auch bei Äußerungen eines Beamten eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ergeben. 2. Hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß Die zentrale Voraussetzung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung ist die des hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht. In „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ hat der EuGH die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung erstmalig von dieser Voraussetzung abhängig gemacht. Damit wurde – wie in der Literatur gefordert432 – eine gewisse Kohärenz zur außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft nach Art. 288 Abs. 2 EG geschaffen. So hat der EuGH schon früh erklärt, dass eine Haftung der Gemeinschaft für legislatives Unrecht nur unter der Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes in Betracht kommt433. In „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ betonte der Gerichtshof, dass sich die Voraussetzungen für die Begründung der Haftung eines Mitgliedstaates für Schäden, die dem Einzelnen wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, nicht ohne besonderen Grund von den Voraussetzungen unterscheiden dürften, die für die Haftung der Gemeinschaft unter vergleichbaren Umständen gelten. Der Schutz der Rechte, die der Einzelne aus dem Gemeinschaftsrecht herleitet, könne nämlich nicht unterschiedlich sein, je nachdem, ob die Stelle, 430
EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 66. EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 58. 432 Vgl. etwa Caranta, CMLR 1995, 703 (724 ff.). 433 EuGH v. 2. Dezember 1971, Rs. 5/71 (Schöppenstedt), Slg. 1971, 975 (984, Rn. 11). 431
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
die den Schaden verursacht hat, nationalen oder Gemeinschaftscharakter hat434. Die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft setzte allerdings nur bei legislativen Verstößen einen hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoß voraus. Zudem wurde die Verletzung einer höherrangigen Schutznorm gefordert435. Demgegenüber griff der EuGH bei der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung auch in Fällen exekutiven Unrechts auf das Kriterium eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes zurück436. Überdies musste ein Verstoß gegen eine Norm des Gemeinschaftsrechts vorliegen, die dem Einzelnen subjektive Rechte verleiht oder deren Verleihung bezweckt. Angesichts dieser Diskrepanzen hat der EuGH in der Rechtssache „Bergaderm“437 dem Kohärenzpostulat aus „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ entsprochen und das Rechtsinstitut der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft dem der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung angepasst. So hat er zum Ausdruck gebracht, dass der Gemeinschaftsrechtsverstoß unabhängig davon, ob er der Legislative oder Exekutive vorzuwerfen ist, hinreichend qualifiziert sein muss438. Von dem Erfordernis der Verletzung einer höherrangigen Schutznorm war nicht mehr die Rede439. Vielmehr hat der EuGH die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft ebenfalls unter die Bedingung gestellt, dass ein Verstoß gegen eine Norm des Gemeinschaftsrechts vorliegt, die subjektive Rechte verleiht oder deren Verleihung bezweckt440. Wenngleich durch das Urteil in der Rechtssache „Bergaderm“ die Kohärenz der in Rede stehenden Haftungsinstitute forciert worden ist, bleibt zu konstatieren, dass die Gemeinschaftshaftung im Vergleich zur Haftung der Mitgliedstaaten weniger streng ist. Dies liegt insbesondere daran, dass bei der außervertraglichen Gemeinschaftshaftung ein hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß letztlich nur dann anzunehmen ist, wenn ein Verstoß gegen eine Norm mit besonderer Bedeutung vorliegt, der Schaden bei einer klar umrissenen und abgegrenzten Gruppe von Personen eintritt und wenn der Schaden über die Grenzen des allgemeinen wirtschaftlichen Risikos hinausgeht441. In der Literatur wird daher auch eine Angleichung 434
EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1147, Rn. 42. EuGH, Fn. 433. 436 EuGH, S. 92, Fn. 387. 437 EuGH v. Juli 2000, Rs. C-352/98 (Bergaderm), Slg. 2000, I-5291. 438 Lageard, in: Lenz/Borchardt, Art. 288 EGV, Rn. 19. Vgl. auch EuGH, Fn. 437, I-5324, Rn. 43 ff.; EuGH v. 10. Dezember 2002, Rs. C-312/00 P (Camar), Slg. 2002, I-11355 (11421, Rn. 52 ff.). 439 In der Vorinstanz hatte das EuG noch wie üblich geprüft, ob eine höherrangige, den Einzelnen schützende Norm verletzt worden ist, vgl. EuG v. 16. Juli 1998, Rs. T-199/96 (Bergaderm), Slg. 1998, II-2805, Rn. 48, 50. 440 EuGH, Fn. 437, I-5324, Rn. 42. 435
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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der Haftungsmaßstäbe gefordert442. Angesichts des erheblich größeren Adressatenkreises von Rechtsakten auf Gemeinschaftsebene erscheint es jedoch sinnvoll, die Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane nicht mit unübersehbaren Haftungsrisiken zu belasten443. Die gegenwärtigen Maßstäbe der Unionsverfassung erfordern eine schöpferische Konkretisierung ohne das Risiko immenser finanzieller Folgen444. Die Forderung nach einer vollumfänglichen Kohärenz von außervertraglicher Gemeinschaftshaftung und gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftung muss vor dem Hintergrund dieser Aspekte zurückgewiesen werden. Gewisse Unterschiede in der Auslegung der haftungsbegründenden Voraussetzungen dieser beiden Rechtsinstitute sind unumgänglich und stellen deren grundsätzliche Kohärenz nicht in Frage. Der EuGH hat schließlich auch verdeutlicht, dass die Beurteilung der in Rede stehenden Voraussetzungen von der Art des Gemeinschaftsrechtsverstoßes abhängt445. Bei der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung werden die Voraussetzungen daher auch nicht stets gleich, sondern je nach Art des Gemeinschaftsrechtsverstoßes beurteilt. a) Legislatives und exekutives Unrecht Der EuGH hat festgestellt, dass ein legislativer Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht hinreichend qualifiziert ist, wenn ein Mitgliedstaat die Grenzen, die das Gemeinschaftsrecht seinen Handlungsbefugnissen setzt, offenkundig und erheblich überschritten hat446. Ob eine Offenkundigkeit und Erheblichkeit gegeben ist, muss anhand der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden447. Der EuGH hat folgende, objektive wie subjektive Gesichtspunkte genannt, die es insoweit zu berücksichtigen gilt448: • Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, • Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen oder Gemeinschaftsbehörden belässt, • Frage, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen oder der Schaden vorsätzlich oder nicht vorsätzlich zugefügt wurde, 441 EuGH v. 19. Mai 1992, Rs. C-104/89 u. C-37/90 (Mulder), Slg. 1992, I-3061 (3131, Rn. 12 f.); vgl. auch EuG v. 6. März 2003, Rs. T-57/00 (Dole Fresh Fruit), Slg. 2003, II-607 (630, Rn. 65 ff.). 442 Wathelet/van Raepenbusch, CDE 33 (1997), 13 (41). 443 So auch U. Säuberlich, S. 28. 444 Vgl. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 288, Rn. 90. 445 EuGH, S. 49, Fn. 145, I-4879, Rn. 24. 446 Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1150, Rn. 55. 447 EuGH, S. 72, Fn. 263, Rn. 76. 448 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1150, Rn. 56 f.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
• Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums, • Umstand, dass die Verhaltensweisen eines Gemeinschaftsorgans möglicherweise dazu beigetragen haben, dass nationale Maßnahmen oder Praktiken in gemeinschaftsrechtswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden, • Gemeinschaftsrechtsverstoß hat trotz des Erlasses eines Urteils, in dem der zur Last gelegte Verstoß festgestellt wird, oder eines Urteils im Vorabentscheidungsverfahren oder aber einer gefestigten einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, aus der sich die Pflichtwidrigkeit des fraglichen Verhaltens ergibt, fortbestanden. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann das Vorliegen eines der vorstehenden Gesichtspunkte ausreichen, um einen offenkundigen und erheblichen Gemeinschaftsrechtsverstoß annehmen zu können449. Da die Aufzählung der Gesichtspunkte nicht abschließend ist, kann eine Offenkundigkeit und Erheblichkeit des Verstoßes grundsätzlich auch anhand anderer, nicht genannter Gesichtspunkte begründet werden. In der Literatur wird vertreten, dass bereits der einfache Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht einen Schadensersatzanspruch auslösen könne, wenn dem Mitgliedstaat oder dem Organ kein Entscheidungsspielraum oder ein erheblich reduziertes Ermessen zusteht. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht innerhalb der vorgesehenen Frist umsetzt oder wenn ihm bei der Umsetzung der Richtlinie kein Entscheidungsspielraum verbleibt450. Von einem einfachen Verstoß kann in diesen Fällen jedoch nicht die Rede sein. Vielmehr handelt es sich gerade im Fall der Nichtumsetzung einer Richtlinie um einen offenkundigen und erheblichen Verstoß. Dies hat der EuGH ausdrücklich entschieden451. Daraus folgt, dass schon die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts – sei es durch die Legislative oder sei es durch die Exekutive – einen offenkundigen und erheblichen Gemeinschaftsrechtsverstoß begründen kann, wenn der Ermessensspielraum erheblich oder wie im Fall der Nichtumsetzung einer Richtlinie auf Null reduziert ist452. Ob und in welchem Umfang ein Gestaltungsraum der Mitgliedstaaten gegeben ist, bestimmt sich allein nach dem Gemeinschaftsrecht und nicht nach nationalem Recht453. Liegt Ermessen vor, kann ein offenkundiger und erheblicher Gemeinschaftsrechtsverstoß und damit eine hinreichende Qualifikation nur dann angenommen werden, wenn die Umstände des Einzelfalls dafür sprechen. Die 449 450 451 452 453
Gellermann, in: Streinz, Art. 288, Rn. 46. Rörig, VuR 2004, 3 (4). EuGH, S. 49, Fn. 145, I-4880, Rn. 26. Vgl. Dörr, DVBl. 2006, 598 (600). EuGH, S. 98, Fn. 422, I-5161, Rn. 38.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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oben aufgeführten Gesichtspunkte sind insoweit zu berücksichtigen. Die Kehrseite ist, dass den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einer Exkulpation eingeräumt wird, indem der EuGH einen „bona fide“-Einwand gelten lässt454. Soweit ein mitgliedstaatliches Organ aus vertretbaren Gründen eine andere Auslegung als der EuGH vorgenommen hat, scheidet eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung aus455. Letztendlich führt dies zu einer Beschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen, da indirekt ein Verschuldenserfordernis aufgestellt wird456. Diese Beschränkung ist jedoch gerechtfertigt, da Ermessensentscheidungen in den Mitgliedstaaten nicht unnötig mit Haftungsrisiken belastet werden dürfen. Wie der EuGH die hinreichende Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes im Einzelnen prüft, soll nunmehr aufgezeigt werden. In „British Telecommunications“ hat der EuGH zunächst befunden, dass die einschlägige Richtlinienbestimmung ungenau sei und die Auslegung vertretbar wäre, zu der das Vereinigte Königreich in gutem Glauben aufgrund von Erwägungen gekommen war, die nicht von der Hand zu weisen seien. Sodann wurde darauf hingewiesen, dass die Auslegung auch von anderen Mitgliedstaaten befürwortet worden sei und nicht im offenkundigen Widerspruch zu Wortlaut und Zielsetzung stehe457. Schließlich hat der Gerichtshof festgestellt, dass das Vereinigte Königreich seiner Rechtsprechung nichts zur Auslegung der betreffenden Vorschrift habe entnehmen können, zu der sich auch die Kommission bei Erlass des Umsetzungsgesetzes im Vereinigten Königreich nicht geäußert habe458. In „Denkavit u. a.“ hat der EuGH bei der Prüfung der hinreichenden Qualifikation ebenfalls auf die Praxis in anderen Mitgliedstaaten Bezug genommen. So stellte er fest, dass auch andere Mitgliedstaaten aufgrund von Beratungen im Rat geglaubt hätten, von der streitigen Ausnahmebefugnis Gebrauch machen zu können459. Überdies wurde wiederum der Umstand berücksichtigt, dass es noch keine einschlägige Rechtsprechung des EuGH gegeben hatte460. Auch in „Haim II“ hat der Gerichtshof auf diesen Umstand rekurriert. So befand er, dass zu der Zeit, als die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVN) die Eintragung in das Zahnarztregister abgelehnt hatte, das einschlägige Urteil in der Rechtssache „Vlassopoulou“461 noch nicht vorgelegen habe462. Ähnlich ar454
Vgl. Kroll, S. 198. Vgl. Reich, EuZW 1996, 709 (714). 456 Vgl. Link, S. 67; Kroll, S. 198; Böhm, JZ 1997, 53; Wehlau, DZWir 1997, 100; Herdegen/Rensmann, ZHR 161 (1997), 522 (542). 457 EuGH, S. 47, Fn. 135, I-1669, Rn. 43. 458 EuGH, S. 47, Fn. 135, I-1669, Rn. 44. 459 Vgl. EuGH, S. 53, Fn. 166, I-5102, Rn. 51. 460 Vgl. EuGH, S. 53, Fn. 166, I-5102, Rn. 52. 461 EuGH v. 7. Mai 1991, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Slg. 1991, I-2357. 455
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
gumentierte der EuGH in „Test Claimants“463 und „N“464. In „Gervais Larsy“ stellte der Gerichtshof hingegen fest, dass bereits seit dem Urteil in der Rechtssache „Viva“465 eine einschlägige Rechtsprechung existiere, weshalb von einem hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoß auszugehen sei466. In „Robins u. a.“ hat der EuGH auch auf einen Kommissionsbericht über die Umsetzung der einschlägigen Richtlinie durch die Mitgliedstaaten Bezug genommen, in dem die Kommission zu Unrecht festgestellt hatte, dass die vom Vereinigten Königreich erlassenen Bestimmungen richtlinienkonform sein dürften. Der Gerichtshof befand diesbezüglich, dass die Feststellung der Kommission geeignet gewesen sei, das Vereinigte Königreich in seiner Auffassung hinsichtlich der Umsetzung der Richtlinie zu bestärken467. b) Judikatives Unrecht Bei judikativen Gemeinschaftsrechtsverstößen muss die Voraussetzung des hinreichend qualifizierten Verstoßes etwas anders beurteilt werden als bei legislativen oder exekutiven Verstößen. Der EuGH hat im Urteil „Köbler“ erklärt, dass der Staat für eine gemeinschaftsrechtswidrige Entscheidung eines Höchstgerichts hafte, wenn das Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat468. Demnach kommt es allein auf die Offenkundigkeit des Verstoßes und nicht auf dessen Erheblichkeit an469. Aus der Perspektive der Unionsbürger scheint der EuGH also mildere Voraussetzungen an die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für judikatives Unrecht zu stellen, da die Haftungsbeschränkung der Erheblichkeit nicht zu prüfen ist. Der Gerichtshof hat indes betont, dass die Haftung des Staates für judikative Gemeinschaftsrechtsverstöße im Hinblick auf die Besonderheit der richterlichen Funktion sowie die berechtigten Belange der Rechtssicherheit eine Ausnahme bilde470. Hinzu kommt, dass der Gerichtshof in „Köbler“ viele von den Gesichtspunkten aufgegriffen hat, anhand der auch die Offenkundigkeit und Erheblichkeit legislativer und exekutiver Gemeinschaftsrechtsverstöße bestimmt wird. Nur der gerichtsspezifische Gesichtspunkt der Verletzung der Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG war zuvor 462 463 464 465 466 467 468 469 470
EuGH, S. 98, Fn. 422, I-5163, Rn. 46. EuGH, S. 70, Fn. 252, Rn. 215 f. EuGH, S. 91, Fn. 383, Rn. 66. EuGH, S. 102, Fn. 441. EuGH, S. 100, Fn. 434, I-5101, Rn. 48 f. EuGH, S. 72, Fn. 263, Rn. 81. Vgl. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10311, Rn. 53; EuGH, S. 115, Fn. 518, Rn. 32. Vgl. OLG Frankfurt am Main, Fn. 353, Rn. 20. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10311, Rn. 53.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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nicht genannt worden471. Vor diesem Hintergrund kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Haftungsmaßstab bei judikativem Unrecht milder ist als bei legislativen und exekutiven Verstößen. Die in „Köbler“ vorgenommene Maßstabsbildung kann vielmehr als konsistente Fortführung der bisherigen Rechtsfortbildung angesehen werden472. Es spricht vieles dafür, dass der EuGH auf das Kriterium der Erheblichkeit nicht rekurriert hat, weil bei einem Verstoß letztinstanzlicher Gerichte die Erheblichkeit auf der Hand liegt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei judikativem Unrecht immer dann von einer hinreichenden Qualifikation auszugehen ist, wenn und soweit die Entscheidung offen im erkennbaren Widerspruch zu einer ausdrücklichen Regelung des Gemeinschaftsrechts oder zu einer etablierten Rechtsprechung des Gerichtshofes steht und wenn es das nationale Gericht zugleich versäumt, seine abweichende Beurteilung dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen473. In „Köbler“ hat der EuGH einen offenkundigen und damit einen hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoß letztlich allerdings verneint, da das Gemeinschaftsrecht die Frage nicht ausdrücklich geregelt habe, ob eine Maßnahme wie eine Treueprämie, die den Arbeitnehmer an seinen Arbeitgeber bindet, aber zugleich die Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigt, gerechtfertigt und somit mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sein kann. Diese Frage sei auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofes noch nicht beantwortet worden. Darüber hinaus habe die Antwort nicht auf der Hand gelegen474. 3. Unmittelbarer Kausalzusammenhang Als letzte der haftungsbegründenden Voraussetzungen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung ist die des unmittelbaren Kausalzusammenhanges zu nennen. Der Kausalzusammenhang muss zwischen dem Gemeinschaftsrechtsverstoß und dem Schaden bestehen. a) Schaden Der EuGH sieht den Eintritt eines Schadens ebenso wie das Vorliegen eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes als Vorbedingung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung an. Nähere Ausführungen zu dem insoweit geltenden Schadensbegriff lassen sich der Judikatur des Gerichtshofs indes nicht entnehmen. Vielmehr wird in ständiger Rechtsprechung erklärt, dass der 471 472 473 474
Obwexer, EuZW 2003, 726 (727); Dörr, DVBl. 2006, 598 (601). Vgl. v. Danwitz, JZ 2004, 301 (302). Wegener, EuR 2004, 84 (90). EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10329, Rn. 122.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
Staat die Folgen des verursachten Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben habe475. Art und Umfang des Schadensersatzes sind somit anhand des nationalen Rechts zu bestimmen. Die Prüfung, ob ein Schaden vorliegt oder nicht, muss hingegen auf der Grundlage gemeinschaftsrechtlicher Kriterien erfolgen. Die Beurteilung der gemeinschaftsrechtlichen Voraussetzung des unmittelbaren Kausalzusammenhanges wäre ansonsten vom nationalen Recht abhängig. Es ist anzunehmen, dass der EuGH von einem weiten Schadensbegriff ausgeht, der dem entspricht, den er zur außervertraglichen Gemeinschaftshaftung nach Art. 288 Abs. 2 EG entwickelt hat. Danach umfasst der Schaden jede Einbuße, die der Betroffene durch ein bestimmtes Ereignis an seinem Vermögen oder an sonstigen Rechtsgütern erleidet476. Demnach können im Grundsatz sowohl materielle als auch immaterielle Schäden ersetzt verlangt werden477. Wird eine Richtlinie verspätet umgesetzt und erfolgt die Umsetzung mit rückwirkender Kraft, entfällt der eingetretene Schaden nicht478. Die rückwirkende und vollständige Anwendung der Maßnahmen zur Durchführung einer Richtlinie kann jedoch als angemessene Wiedergutmachung des Schadens genügen, sofern keine weiteren zusätzlichen Einbußen des Geschädigten vorliegen479. Ein zusätzlicher Schaden kann jedoch daraus resultieren, dass der Betroffene nicht rechtzeitig in den Genuss von den in der Richtlinie garantierten finanziellen Vergünstigungen gelangen kann480. b) Kausalität Liegt ein Schaden vor, ist zu prüfen, ob dessen Ursache in dem Gemeinschaftsrechtsverstoß zu sehen ist. Anfangs hat der EuGH eine einfache Kausalität ausreichen lassen481. Seit „Brasserie du pécheur u. Factortame“ wird jedoch ein unmittelbarer Kausalzusammenhang gefordert482. Das Erfordernis eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs muss ebenfalls gemeinschaftsautonom bestimmt werden. Ein Rückgriff auf das nationale Kausalitätsverständnis ist abzulehnen483, da dies die einheitliche Anwendung der haftungsbegründenden Vorgaben des EuGH in den Mitgliedstaaten gefähr475
Vgl. etwa EuGH, S. 92, Fn. 387, I-2614, Rn. 31. Geiger, EUV/EGV, Art. 288, Rn. 6. 477 Vgl. Detterbeck, in: Detterbeck/Windthorst/Sproll, S. 38, Rn. 35 f. 478 Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 227, Rn. 561. 479 Vgl. 4. Teil, C., II., 4., ff), (1). 480 Vgl. EuGH, S. 56, Fn. 181, I-4023, Rn. 53. 481 Vgl. EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5415, Rn. 40; EuGH, S. 37, Fn. 71, I-3357, Rn. 27. 482 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1149, Rn. 51 u. I-1152, Rn. 65. 483 So aber Schwarzenegger, ZfRV 2002, 32; Schoißwohl, S. 455; Deckert, in: EuR 1997, 203 (226 f.). 476
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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den würde484. Der EuGH hat nicht ohne Grund in „Test Claimants“ ausdrücklich auf seine Rechtsprechung zur außervertraglichen Gemeinschaftshaftung verwiesen485. Ein unmittelbarer Kausalzusammenhang ist daher zu verneinen, wenn der gleiche Schaden auch ohne die fehlerhafte Handlung auf dieselbe oder ähnliche Weise eingetreten wäre486. Handlungen der Mitgliedstaaten sind nur dann unmittelbar kausal, wenn sie nach der allgemeinen Lebenserfahrung typischerweise geeignet sind, einen Schaden wie den Eingetretenen zu verursachen. Das ist nicht der Fall, wenn der Eintritt des Schadens als Folge der Handlung völlig unwahrscheinlich war. Es ist der Maßstab der Adäquanzkausalität anzulegen487. Der BGH stützt sich somit zu Recht auf die Adäquanztheorie, wenn er über eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung zu befinden hat488. In der Rechtssache „Rechberger u. a.“ hatte sich der EuGH mit dem Einwand der Republik Österreich zu befassen, dass ein unmittelbarer Kausalzusammenhang nicht bestehen würde, wenn Zeitpunkt und Umfang der Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie nur infolge einer ganz außergewöhnlichen und unvorhersehbaren Verkettung von Umständen zum Schadensbeitritt beigetragen haben489. Der Gerichtshof stellte jedoch fest, dass die Haftung des Mitgliedstaats wegen des Verstoßes gegen die einschlägige Richtlinienbestimmung nicht durch fahrlässiges Verhalten des Reiseveranstalters oder Eintritt außergewöhnlicher oder unvorhergesehener Ereignisse ausgeschlossen werde490, da solche Umstände nicht geeignet seien, einen unmittelbaren Kausalzusammenhang auszuschließen, soweit sie nicht auch dann der Erstattung der gezahlten Beträge und der Rückreise des Verbrauchers entgegengestanden hätten, wenn die Ausgestaltung der Garantieregelung mit der Richtlinienbestimmung vereinbar gewesen wäre491. Damit scheidet die Annahme eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs aus, wenn Umstände wie das Dazwischentreten Dritter oder der Eintritt außergewöhnlicher bzw. unvorhergesehener Ereignisse auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Mitgliedstaates zu einem Schaden geführt hätten.
484
Magnus/Wurmnest, S. 225 f. EuGH, S. 70, Fn. 252, Rn. 218. 486 Vgl. EuG v. 6. Juli 1995, Rs. T-572/93 (Odigitria), Slg. 1995, II-2025 (2050, Rn. 65). 487 Haratsch/Koenig/Pechstein, S. 227, Rn. 560. 488 Vgl. BGHZ 134, 30 (40). 489 EuGH, S. 59, Fn. 200, I-3537, Rn. 69. 490 EuGH, S. 59, Fn. 200, I-3546, Rn. 75. 491 EuGH, S. 59, Fn. 200, I-3546, Rn. 76. 485
200
4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
III. Transformationsrechte und -pflichten der Mitgliedstaaten Wie bereits ausgeführt wurde, steht der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch mitsamt seiner haftungsbegründenden Voraussetzungen in einem Subsidiaritätsverhältnis zum nationalen Recht. Soweit dort Haftungsinstitute geschaffen worden sind, die den Vorgaben des EuGH gerecht werden, ist ein Rückgriff auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch nicht angezeigt. Vor diesem Hintergrund steht außer Frage, dass die Mitgliedstaaten dazu berechtigt sind, einen speziellen Haftungstatbestand zu kreieren, durch den die haftungsbegründenden Vorgaben des EuGH zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in innerstaatliches Recht transformiert werden492. Eine legislative Umsetzungssperre, wie es sie bei Verordnungen gibt493, ist insoweit nicht anzunehmen, denn es ist ein Bereich betroffen, in dem das Gemeinschaftsrecht mangels Vollständigkeit ergänzungsbedürftig ist und daher gemeinschaftsrechtliche und nationale Vorgaben zusammenspielen494. Hinzu kommt, dass der EuGH klargestellt hat, dass die Haftung des Staates auf der Grundlage des nationalen Rechts auch unter weniger einschränkenden Voraussetzungen ausgelöst werden kann495. Der nationale Gesetzgeber kann also sogar Haftungsvoraussetzungen festlegen, die weniger streng sind als diejenigen, die der EuGH determiniert hat. Demnach muss ihm auch die Befugnis zustehen, die haftungsbegründenden Vorgaben des EuGH in nationales Recht zu transformieren. In der Literatur wird zur Begründung eines Transformationsrechts der Mitgliedstaaten auch auf das vom EuGH aufgestellte Diskriminierungsverbot verwiesen496. Dieser Begründungsansatz kann jedoch nicht überzeugen, denn er vermag nicht zu begründen, warum der nationale Gesetzgeber über das Recht verfügen soll, einen eigenen haftungsbegründenden Tatbestand für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht zu kodifizieren. Schließlich bezieht sich das Diskriminierungsverbot nicht auf die Haftungsbegründung, sondern nur auf die Folgen der Haftung bei Vorliegen der vom Gerichtshof festgelegten haftungsbegründenden Voraussetzungen497. Ob die Mitgliedstaaten gemeinschaftsrechtlich verpflichtet sind, die Haftungsvorgaben des EuGH in nationales Recht zu gießen, ist indes fraglich. In der Judikatur des Gerichtshofs wird eine solche Pflicht nicht explizit ge492 493 494 495 496 497
Schwarzenegger, S. 236; Bertelmann, S. 194 f. Jarass, S. 64; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 249, Rn. 42. Bertelmann, S. 194; Beljin, S. 186 ff. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1153, Rn. 66. Bertelmann, S. 195; Beljin, S. 185. Vgl. 4. Teil, C., I.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
201
nannt498. Ein Umsetzungsbefehl könnte jedoch aus dem EG-Vertrag folgen. In der Literatur wird eine umfassende Pflicht der Mitgliedstaaten zur legislativen Umsetzung aus Art. 249 Abs. 3 EG abgeleitet, da die Rechtsprechung des EuGH zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung eine richtlinienähnliche Struktur habe499. Zwar kann Letzteres nicht von der Hand gewiesen werden, gleichwohl kann nicht auf die Vorschrift des Art. 249 Abs. 3 EG abgestellt werden, denn die sich daraus ergebende Umsetzungspflicht gilt ausschließlich für Richtlinien und nicht für Richterrecht500. Zum Teil wird im Schrifttum auch auf den in Art. 10 EG kodifizierten Grundsatz der Gemeinschaftstreue in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot und dem Effizienzgebot rekurriert501, da der EuGH in „Francovich u. a.“ zum Ausdruck gebracht habe, dass materielle Voraussetzungen des nationalen Rechts im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Anwendung finden können502. Diese Ansicht ist ebenfalls zurückzuweisen, denn es erscheint abwegig, eine umfassende Pflicht der Mitgliedstaaten zur legislativen Umsetzung bereits deshalb anzunehmen, weil der EuGH die Möglichkeit einer Anwendbarkeit materieller Regelungen des nationalen Rechts anerkannt hat503. Von einer Pflicht der Mitgliedstaaten zur legislativen Umsetzung kann somit nicht ausgegangen werden. Einen speziellen Haftungstatbestand für Gemeinschaftsrechtsverletzungen müssen die Mitgliedstaaten folglich nicht schaffen. Gleichwohl haben sie dafür zu sorgen, dass ihre Rechtsprechungsorgane die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts bei der Anwendung des nationalen Rechts beachten und so der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung im nationalen Recht zur praktischen Wirksamkeit verhelfen504. Ob die mitgliedstaatlichen Gerichte den subsidiären gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch heranziehen müssen oder taugliche Anspruchsgrundlagen des nationalen Rechts gemeinschaftsrechtskonform auszulegen haben, hängt von der Ausgestaltung der jeweiligen Rechtsordnung ab505. Eine Pflicht des nationalen Gesetzgebers zur Anpassung der eigenen Rechtsordnung an die Erfordernisse des Gemeinschaftsrechts kann nur ausnahmsweise angenommen werden506. Von einer „Bereinigungspflicht“ im Sinne des Art. 10 EG ist 498
Schoißwohl, S. 132; Seltenreich, S. 238 f. Vgl. Schoißwohl, S. 132; Wang, S. 189. 500 Cornils, S. 134 f. 501 Wang, S. 189. 502 EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5416, Rn. 43. 503 Vgl. Bertelmann, S. 197. 504 Diehr, S. 77; Bertelmann, S. 202. 505 Vgl. 4. Teil, C. 506 Vgl. insoweit EuGH v. 24. März 1988, Rs. 104/86 (Kommission/Italien), Slg. 1988, I-1799 (1817; Rn. 12); EuGH v. 11. Juni 1991, Rs. C-307/89 (Kommis499
202
4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
etwa auszugehen, wenn eine Kollision zwischen einer unmittelbar anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung und einer nationalen Rechtsvorschrift auftritt, die den „effet utile“ der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung erheblich beeinträchtigen würde507. Wäre in einem Mitgliedstaat die Haftung für legislatives und judikatives Unrecht ausdrücklich ausgeschlossen, ohne dass explizit darauf hingewiesen würde, dass bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht eine solche Haftung grundsätzlich möglich ist, müsste beispielsweise eine Korrektur durch den nationalen Gesetzgeber vorgenommen werden508.
IV. Der Vorrang der gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben Wurde in den Mitgliedstaaten kein spezieller Tatbestand nach Maßgabe der Haftungsvorgaben des EuGH geschaffen, stellt sich die Frage nach deren Vorrang. Hintergrund ist, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht keine wie auch immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen dürfen, da anderenfalls der Charakter des Gemeinschaftsrechts als übergeordneter Rechtsordnung und damit die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft in Frage gestellt würde509. Beim Vorrang des Gemeinschaftsrechts handelt es sich um einen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts510 und um die entscheidende Kollisionsregel für das Verhältnis zwischen gemeinschaftlichem und mitgliedstaatlichem Recht511. Vorrang bedeutet allerdings nicht, dass dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufendes nationales Recht nichtig ist (sog. Geltungsvorrang). Vielmehr ist das nationale Recht im Kollisionsfall unanwendbar, soweit und solange es der Geltung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben entgegensteht (sog. Anwendungsvorrang)512. Bei rein innerstaatlichen Sachverhalten bleibt es hingegen weiterhin anwendbar. Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts bewirkt letztlich eine Rechtsangleichung durch Verdrängung und Ersetzung, nicht durch Harmonisierung513. sion/Frankreich), Slg. 1991, I-2903 (2914, Rn. 13); EuGH v. 19. Januar 1993, Rs. C-101/91 (Kommission/Italien), Slg. 1993, I-191 (206, Rn. 24). 507 Schoißwohl, S. 134; Brocke, S. 42; Bertelmann, S. 198. 508 Bertelmann, S. 198; Schoißwohl, S. 134. 509 EuGH, S. 35, Fn. 63, S. 1269 ff. 510 Vgl. 4. Teil, A., IV., 2. 511 Zuleeg, VVDStRL 53, 154 (159 ff.). 512 EuGH v. 9. März 1978, Rs. 106/77 (Simmenthal II), Slg. 1978, 629 (644, Rn. 21/23); Arndt, S. 109 ff.; Borchardt, S. 50, Rn. 118 ff.; Fischer, S. 114, Rn. 58; Herdegen, S. 216, Rn. 3; Jarass, DVBl. 1995, 954 (958). 513 Kadelbach, S. 108.
B. Die gemeinschaftsrechtliche Haftungsbegründung
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1. Kollision von nationalem Recht mit den gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wird also relevant, wenn nationales Recht mit dem Gemeinschaftsrecht kollidiert. Zu differenzieren ist zwischen direkten und indirekten Kollisionen. Eine direkte Kollision ist anzunehmen, wenn Normen beider Rechtsordnungen auf den gleichen Sachverhalt anwendbar sind und somit die gleiche Frage regeln, jedoch unterschiedliche, bei gleichzeitiger Anwendung nicht miteinander vereinbare Rechtsfolgen angeordnet werden514. Eine indirekte Kollision liegt dagegen vor, wenn die Anwendung nationalen Rechts die Wirksamkeit von Gemeinschaftsrecht beeinträchtigt515. Die Abgrenzung zwischen den beiden Kollisionstypen ist allerdings schwierig und mit Unsicherheiten behaftet516. Entgegen einer Ansicht in der Literatur517 lösen jedoch sowohl direkte als auch indirekte Kollisionen den Anwendungsvorrang aus518. Unabhängig davon, ob die gemeinschaftsrechtliche Rechtsgewährung oder Rechtsrealisierung in den Mitgliedstaaten von der Kollision betroffen ist, hat der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch mit seinen haftungsbegründenden Voraussetzungen Vorrang vor kollidierenden Haftungsinstituten des nationalen Rechts. 2. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts Die nationalen Gerichte sind jedoch verpflichtet, bei der Auslegung des nationalen Staatshaftungsrechts die Auslegungsalternative zu wählen, die mit den Wertungen des Gemeinschaftsrechts übereinstimmt. Dadurch können bestehende Kollisionen aufgelöst werden519, so dass es eines Rückgriffs auf die gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben nicht bedarf. Erst wenn die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung an die Contra-Legem-Grenze stößt520, schlägt der Anwendungsvorrang mit der Folge der Unanwendbarkeit des nationalen Rechts durch.
514 Huber, S. 149, Rn. 1; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV, Rn. 35 f.; Niedobitek, VerwArch 92 (2001), 58 (73). 515 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV, Rn. 35 f. 516 Beljin, S. 217. 517 Huber, S. 156, Rn. 22. 518 Beljin, EuR 2002, 351 (357); Säuberlich, EuR 2004, 954 (966). 519 Säuberlich, EuR 2004, 954 (968). 520 Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (1), (a), (cc).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
3. Unmittelbare Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben Ist eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich, müssen die nationalen Gerichte den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch mit seinen Voraussetzungen unmittelbar anwenden, um die direkte Kollision des nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht aufzulösen. Eine unmittelbare Anwendbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben ist gegeben, denn diese sind sowohl inhaltlich unbedingt als auch hinreichend bestimmt. Der EuGH hat das Haftungsprinzip im Rahmen seiner Rechtsprechung konkretisiert und präzisiert, so dass der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch in Bezug auf den Tatbestand und die Rechtsfolge rechtlich vollkommen erscheint521.
C. Die Ausgestaltung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in den Mitgliedstaaten Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung vollzieht sich auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Nationale Gerichte haben vor dem Hintergrund der dynamischen Rechtsprechung des EuGH darüber zu befinden, ob die Voraussetzungen der Haftung gegeben sind. Ob dabei auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch oder nationalrechtliche Ansprüche abzustellen ist, hängt von der jeweiligen Rechtsordnung ab. Abgesehen davon stellt sich die Frage, welche materiellen und formellen Voraussetzungen des mitgliedstaatlichen Rechts im System der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Anwendung finden können. Nachfolgend soll daher die Ausgestaltung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in den Mitgliedstaaten am Beispiel Deutschlands aufgezeigt werden. Auf andere mitgliedstaatliche Rechtsordnungen wird nur kursorisch eingegangen522.
I. Die haftungsausfüllenden Vorgaben des EuGH Während das „Ob“ der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung durch die haftungsbegründenden Vorgaben des EuGH determiniert wird, ist das „Wie“ durch die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten gekennzeichnet. Die Durchsetzung des Haftungsanspruchs vollzieht sich mithin allein auf der Grundlage des nationalen Rechts. Der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind allerdings haftungsausfüllende Vorgaben zu entnehmen, die von den 521 522
Eingehend dazu Säuberlich, EuR 2004, 954 (961 ff.). Vgl. 4. Teil, C., III.
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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nationalen Gerichten bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts zu beachten sind. Der EuGH hat mittlerweile eine Vielzahl von haftungsausfüllenden Vorgaben festgelegt, auf die im Einzelnen noch eingegangen werden soll. So hat der EuGH in „Traghetti del Mediterraneo“ beispielsweise festgestellt, dass die Richterprivilegien des italienischen Rechts im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts keine Anwendung finden können523. Die zentralen haftungsausfüllenden Vorgaben des Gerichtshofs sind jedoch das Effizienzgebot und das Diskriminierungsverbot524. Sie bilden die zentralen Schranken der mitgliedstaatlichen Autonomie beim Vollzug der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung. Nach dem Diskriminierungsverbot dürfen die im Schadensersatzrecht der einzelnen Mitgliedstaaten festgelegten materiellen und formellen Voraussetzungen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht betreffen. Das Effizienzgebot verlangt demgegenüber, dass Bestimmungen des nationalen Rechts es nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, die Entschädigung zu erlangen525. Die Anwendbarkeit nationaler Bestimmungen hängt somit davon ab, ob sie sich mit dem Effizienzgebot und dem Diskriminierungsverbot vereinbaren lassen. Dies ist gerade bei materiellen Vorschriften des nationalen Rechts regelmäßig fraglich526. Im Einzelfall kann aufgrund des Diskriminierungsverbots allerdings auch eine zwingende Anwendung des nationalen Rechts angezeigt sein. Das Diskriminierungsverbot untersagt nämlich selbst dann eine vom nationalen Recht abweichende Behandlung, wenn die nationalen Haftungsregeln weit über das hinausgehen, was bei der sonst als Referenzpunkt dienenden außervertraglichen Gemeinschaftshaftung und nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen erforderlich wäre527. Daher müssen im Vereinigten Königreich bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht auch sog. exemplary damages gewährt werden, wenn sie auch bei rein nationalen Sachverhalten zugesprochen würden528. Solche Schadensersatzzahlungen, die bei unbilligem, willkürlichem oder verfassungswidrigem Verhalten öffentlicher Stellen über die Schadenskompensation hinausgehen und einen Strafcharakter annehmen, sind im außervertraglichen Haftungsrecht der Gemeinschaft ebenso wenig bekannt wie in vielen Mitgliedstaaten529.
523 524 525 526 527 528 529
Vgl. EuGH, S. 115, Fn. 518. Vgl. Kischel, EuR 2005, 441 (449). Vgl. EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5416, Rn. 43. Kischel, EuR 2005, 441 (449). Kischel, EuR 2005, 441 (454 f.). EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1029, Rn. 88 f. Vgl. Kischel, EuR 2005, 441 (445).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
II. Die Ausgestaltung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in Deutschland 1. Das deutsche Staatshaftungsrecht Das deutsche Staatshaftungsrecht stellt ein sehr komplexes und unübersichtliches Rechtsgebiet dar. Dies liegt insbesondere daran, dass es stark richterrechtlich geprägt ist. Die Rechtsgrundlagen der Haftungsinstitute sind vielfach nicht normiert, sondern ergeben sich aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung530. Auch die inhaltliche Ausgestaltung der einzelnen Tatbestände erfolgt vornehmlich im Rahmen von Gerichtsentscheidungen. Ohne die Kenntnis der einschlägigen Judikatur kann das Staatshaftungsrecht in seiner Gesamtheit nicht erfasst werden. Im Interesse von Rechtsklarheit und Rechtssicherheit wäre eine Kodifikation der ungeschriebenen Regelungen wünschenswert. Der Versuch im Jahr 1981, durch ein bundeseinheitliches Staatshaftungsgesetz für mehr Struktur und Transparenz auf dem Gebiet des Staatshaftungsrechts zu sorgen, scheiterte an der fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes531. Inzwischen sieht das Grundgesetz allerdings eine entsprechende Gesetzgebungskompetenz vor532. Trotzdem ist der Gesetzgeber bislang nicht tätig geworden. Die Befürchtung, der Erlass eines Staatshaftungsgesetzes könnte finanzielle Einbußen für den Bund bzw. die Länder zur Folge haben, ist wohl mit ein Grund hierfür. Nur auf Landesebene wurden teilweise Staatshaftungsgesetze erlassen533. Sie basieren auf dem Staatshaftungsgesetz der ehemaligen DDR von 1969. Wann es eine bundeseinheitliche und umfassende Kodifikation des Staatshaftungsrechts geben wird, ist nicht abzusehen. Bis auf weiteres bilden die geschriebenen und ungeschriebenen Regelungen des derzeitigen Rechts den Maßstab. Eine systematische Erfassung des geltenden Staatshaftungsrechts fällt nicht leicht. Es gibt eine Vielzahl von Haftungsinstituten, die ganz unterschiedlichen Zweckbestimmungen dienen. Das bedeutendste Institut des deutschen Staatshaftungsrechts ist allerdings das der Amtshaftung. Da der BGH die Regelungen der Amtshaftung – sofern sie mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren sind – entsprechend heranzieht, wenn er über eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung zu befinden hat534, soll dieses Institut hier näher vorgestellt werden. Es sieht eine Haftung des Staates für den 530 So verhält es sich etwa beim allgemeinen Aufopferungsanspruch, dem Institut des enteignungsgleichen Eingriffs und dem des enteignenden Eingriffs. 531 BVerfGE 61, 149. 532 Vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG. 533 Beispielsweise in Sachsen-Anhalt, vgl. Ossenbühl, S. 473. 534 Vgl. 4. Teil, C., II., 2., b).
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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Fall vor, dass jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt. Geschieht dies im öffentlich-rechtlichen Funktionskreis, haftet der Staat gemäß Art. 34 S. 1 GG i. V. m. § 839 BGB535. Nur in diesem Fall kann von einer Amtshaftung gesprochen werden. Ereignet sich die Amtspflichtverletzung hingegen im privatrechtlichen Funktionskreis, ist die Verfassungsnorm des Art. 34 S. 1 GG nach herrschender Meinung nicht anwendbar536. Vielmehr haftet der Beamte gemäß § 839 BGB persönlich. Über die Zurechnungsnormen der §§ 31, 89, 278 und 831 BGB kann sich aber auch eine Haftung des Staates ergeben. Je nach Zurechnungsnorm handelt es sich um eine privatrechtliche Organhaftung537 oder um eine delikts- bzw. vertragsrechtliche Geschäftsherrenhaftung538. Die Eigenhaftung des Beamten wird als Beamtenhaftung bezeichnet. Im Unterschied zur Amtshaftung ist nicht der Staat, sondern der Beamte selbst das Haftungssubjekt. Kennzeichnend für die Amtshaftung ist die spezifische Verknüpfung von Verfassungsrecht und Zivilrecht in Gestalt der Verbindung von Art. 34 S. 1 GG mit § 839 BGB. Sie ist das Ergebnis einer historischen Weiterentwicklung der zivilrechtlichen Beamtenhaftung hin zu einer verfassungsrechtlich gebotenen Staatshaftung. Die Regelung des Art. 34 GG fungiert als objektive Grundsatznorm der Staatshaftung mit institutioneller Gewährleistungswirkung539. Es handelt sich um eine Einrichtungsgarantie, die darauf abzielt, das Institut der Staatshaftung vor völliger Abschaffung oder wesentlichen Veränderungen durch den Gesetzgeber zu bewahren. Der in Art. 34 GG festgelegte Gewährleistungsinhalt darf bei der Rechtsetzung nicht unterschritten werden. Eine Überschreitung ist indes möglich, da Art. 34 GG nur eine Mindestgarantie enthält540. Dem Gesetzgeber steht es allerdings frei, den Gewährleistungsinhalt des Art. 34 GG im Wege einer Verfassungsänderung gemäß Art. 79 Abs. 2 GG zu modifizieren. Eine Abschaffung der Staatshaftung ist jedoch nicht möglich, da sie zum Kernbestand des Rechtsstaatsprinzips zu zählen ist und damit in den Anwendungsbereich der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG fällt541. 535 Ein Amtshaftungsanspruch kann sich unter Umständen auch gemäß Art. 34 S. 1 GG i. V. m. § 18 StVG ergeben. Die Regelung des § 18 StVG wird jedoch durch § 839 BGB verdrängt, vgl. BGHZ 118, 304 (311); BGHZ 121, 161 (167). 536 BGHZ 85, 393 (395); Papier, in: MüKo, § 839, Rn. 4; Küchenhoff/Hecker, in: Erman, § 839, Rn. 6; Sprau, in: Palandt, § 839, Rn. 2; A. A.: Defren, S. 55 ff. (Fn. 581). 537 Zurechnung über §§ 31, 89 BGB. 538 Zurechnung über §§ 831, 278 BGB. 539 Pfab, S. 58. 540 BVerfGE 61, 149 (198 f.); BVerfG, NJW 2003, 125; Lerche, JuS 1961, 237 (240 f.); Zimmermann, S. 9; Bryde, in: v. Münch/Kunig, Art. 34, Rn. 1 u. 29; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 34, Rn. 6.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
In der Literatur wird darüber gestritten, welche Funktion Art. 34 S. 1 GG im Rahmen der Amtshaftung zukommt. Einerseits542 wird vertreten, dass Art. 34 S. 1 GG eine haftungsverlagernde Funktion übernehme, während § 839 BGB der Haftungsbegründung diene. Andererseits543 wird angenommen, Art. 34 S. 1 GG fungiere als haftungsbegründende Vorschrift, die durch § 839 BGB bloß konkretisiert werde. Letztlich können beide Ansichten nicht überzeugen, da sie der Komplexität des dogmatischen Konstrukts der Amtshaftung nicht gerecht werden. Die spezifische Wirkung der Amtshaftung ergibt sich vielmehr erst aus dem Zusammenspiel von Art. 34 S. 1 GG und § 839 BGB, die gemeinsam die einheitliche Rechtsgrundlage der Amtshaftung bilden544. Zwischen den Vorschriften bestehen Wechselwirkungen, die insbesondere bei der Haftungsbegründung deutlich werden. Ausgangspunkt für die Haftungsbegründung bleibt § 839 BGB, der den Grundtatbestand der Amtshaftung enthält. Die Norm des Art. 34 S. 1 GG entfaltet jedoch insofern eine haftungsbegründende Wirkung, als sie abweichend von § 839 BGB bestimmte Haftungsvoraussetzungen regelt. Hinsichtlich der Person des Amtswalters ist dies der Fall. So bestimmt Art. 34 S. 1 GG im Unterschied zu § 839 BGB nicht, dass es sich bei der handelnden Person um einen Beamten handelt. Es reicht aus, wenn „jemand“ die Amtspflichtverletzung begeht. Da Regelungen des Verfassungsrechts Vorrang gegenüber formellem Bundesrecht haben, wird der statusrechtliche Beamtenbegriff des § 839 BGB von dem haftungsrechtlichen des Art. 34 S. 1 GG überlagert. Dies führt zu der haftungsbegründenden Wirkung des Art. 34 S. 1 GG. Die übrigen Tatbestandsmerkmale des Art. 34 S. 1 GG sind an der Haftungsbegründung nicht beteiligt, da sie keinen eigenständigen Regelungsgehalt aufweisen, sondern bloße Wiederholungen einzelner Tatbestandsmerkmale des § 839 BGB darstellen. Ihre Aufgabe beschränkt sich darauf, den Kerngehalt der Amtshaftung verfassungsrechtlich abzusichern. Trotz einer Beteiligung des Art. 34 S. 1 GG an der Haftungsbegründung bleibt es bei einer derivativen Haftung des Staates. So wird die Haftung weiterhin vor allem über § 839 BGB begründet. Die Haftungsverlagerung ist dagegen ausschließlich Sache des Art. 34 S. 1 GG. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Haftungsbegründung vorwiegend über § 839 BGB erfolgt, während Art. 34 S. 1 GG die Haftung auf den Staat verlagert. 541
Defren, S. 44 f.; a. A.: Dagtoglou, in: BK, Art. 34, Rn. 31. BVerfGE 61, 149 ff.; Bryde, in: v. Münch/Kunig, Art. 34, Rn. 11; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 34, Rn. 12 f. 543 Bettermann, DÖV 1954, 299 (300 ff.); Heydt, JR 1967, 169 (170); Bonk, in: Sachs, Art. 34, Rn. 53; Wieland, in: Dreier, Art. 34, Rn. 25; Lücke, AöR 104 (1979), 225 (229, 230); Bartlsperger, NJW 1968, 1697 (1700 ff.). 544 Maurer, S. 660, Rn. 7. 542
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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Neben der verfassungsrechtlichen und dogmatischen Funktion ist vor allem die Schutzfunktion des Art. 34 GG bedeutsam. Durch die Haftungsverlagerung auf den Staat wird in erster Linie der Geschädigte geschützt, indem ihm mit dem Staat ein solventer, leistungsfähiger Schuldner gegenübergestellt wird. Das Risiko der Zahlungsunfähigkeit des Beamten wird dem Geschädigten nicht mehr aufgebürdet545. Des Weiteren wird der Beamte geschützt, da dieser nicht Gefahr läuft, Schäden ausgleichen zu müssen, die durch leichte oder mittlere Fahrlässigkeit verursacht worden sind. Schließlich ist ein Innenregress gemäß Art. 34 S. 2 GG nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit möglich. Durch den Schutz des Beamten wird zugleich die Verwaltung in ihrer Gesamtheit geschützt. Die Effizienz des Verwaltungshandelns und der Verwaltungsablauf würden beeinträchtigt, wenn die Beamten ihr Haftungsrisiko vor einem Tätigwerden erst einmal einschätzen müssten546. 2. Die Anspruchsgrundlage der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in Deutschland Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Anspruchsgrundlage der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung vorrangig im nationalen Recht zu suchen ist. Da in Deutschland kein spezielles Haftungsinstitut nach den Vorgaben des EuGH kodifiziert worden ist, stellt sich die Frage, ob die bestehenden Institute des deutschen Staatshaftungsrechts gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden können, um eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung zu ermöglichen. Nur wenn dies nicht geschehen kann, muss auf den subsidiären gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch zurückgegriffen werden, um die direkte Kollision des nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht aufzulösen547. a) Staatshaftungsansprüche des deutschen Rechts Sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur wird befürwortet, als Anspruchsgrundlage einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung den Amtshaftungsanspruch gemäß Art. 34 S. 1 GG i. V. m. § 839 BGB heranzuziehen. Das LG Bonn ging etwa davon aus, dass den Geschädigten kein unmittelbar im Gemeinschaftsrecht begründeter Anspruch auf Schadensersatz zustehe, sondern dass sich dieser Anspruch nur im Rahmen des nationalen Amtshaftungsrechts ergeben könne548. Auch in Teilen des 545 546 547
Maurer, S. 659, Rn. 5. Ossenbühl, S. 9 f. Vgl. 4. Teil, B., I., 1., c) u. d).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
Schrifttums wird im Amtshaftungsanspruch die alleinige Rechtsgrundlage der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung gesehen549. Eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung sei möglich und auch geboten550. Zur Begründung werden regelmäßig die Argumente herangezogen, die üblicherweise gegen einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch vorgebracht werden551. Teilweise werden auch andere Haftungsinstitute des deutschen Staatshaftungsrechts als taugliche Grundlagen einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung angesehen. Vornehmlich wird auf den Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff552 abgestellt, aber auch der Folgenbeseitigungsanspruch553 und der allgemeine Aufopferungsanspruch werden herangezogen554. Im Hinblick auf eine mögliche Haftung der Mitgliedstaaten für rechtmäßiges Verhalten555 ist außerdem denkbar, dass der Anspruch aus enteignendem Eingriff die Rechtsgrundlage bilden kann. Gemeinsam haben diese Haftungsinstitute, dass sie im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung entwickelt und bislang nicht kodifiziert worden sind. b) Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch In der Rechtsprechung und in der Literatur wird ebenfalls vertreten, dass der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch als Anspruchsgrundlage herangezogen werden müsse. Der BGH etwa stellt in ständiger Rechtsprechung unmittelbar darauf ab556. Eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des Amtshaftungstatbestands findet nicht statt557. Allerdings werden die Regelungen der Amtshaftung entsprechend herangezogen, soweit sie 548
Vgl. LG Bonn, EuZW 1994, 442 (443); LG Bonn, NJW-RR 1997, 727 (728). Albers, S. 118 ff., 160 ff.; 175 ff.; Kroll, S. 241 ff.; Wehlau, S. 45; Pfab, S. 131 ff.; Zenner, S. 45; Jarass, S. 114; Ossenbühl, FS Everling, 1031 (1032); Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 34, Rn. 80; Schoch, Die Verwaltung 2001, 261 (277 f.); Kopp, DÖV 1994, 201 (205 f.); Nettesheim, DÖV 1992, 999 (1000, 1004); Deckert, EuR 1997, 203 (215); Pache, JR 1997, 328 (330); Kremer, Jura 2000, 235 (239 f.); Classen, JZ 2001, 458 (459); Saenger, JuS 1997, 865 (869); Ehlers, JZ 1996, 776 (778); Thalmaier, DStR 1996, 1975 (1977); Herdegen/Rensmann, ZHR 161 (1997), 522 (551 ff.). 550 Herdegen/Rensmann, ZHR 161 (1997), 522, (551). 551 Vgl. 4. Teil, B. I., 1., b). 552 Albers, S. 221 ff.; Triantafyllou, DÖV 1992, 564 (570); Bertelmann, S. 221 ff. 553 Detterbeck, AöR 125 (2000), 202 (249); Beljin, S. 28 f.; Bertelmann, S. 223. 554 Detterbeck, VerwArch 85 (1994), S. 159 (167 ff.). 555 Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), bb), (2). 556 Vgl. BGHZ 134, 30 (36); BGHZ 146, 153 (158); BGH, EuZW 2005, 30; BGH v. 2. Dezember 2004, Az.: III ZR 358/03; BGH DB 2005, 384. 557 Link, S. 281. 549
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren sind. Einen Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff hat der BGH in der Rechtssache „Brasserie du pêcheur“ ausdrücklich abgelehnt, da der Ausgleich von Nachteilen, die unmittelbar oder mittelbar durch ein gegen das europäische Gemeinschaftsrecht verstoßendes formelles Gesetz herbeigeführt werden, sich nicht mehr im Rahmen eines richterrechtlich geprägten und ausgestalteten Haftungsinstituts halte558. Im Schrifttum findet die Rechtsprechung des BGH Zustimmung. Zahlreiche Vertreter559 gehen ebenfalls von einem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch aus, der auf der Grundlage des deutschen Rechts durchgesetzt werden müsse. Gegen eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des Amtshaftungstatbestandes wird vorgebracht, dass es nicht erklärlich sei, weshalb ein und derselbe Haftungstatbestand unterschiedliche Haftungsvoraussetzungen aufweisen solle, je nachdem, ob gegen nationales Recht oder Gemeinschaftsrecht verstoßen worden ist560. Durch die Anerkennung eines eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs werde zudem dem Sinn und Zweck der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung entsprochen, denn diese wurzele unmittelbar im Gemeinschaftsrecht561. Für eine dualistische Konzeption, in der die nationalrechtlichen Haftungsinstitute und der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch eigenständig nebeneinander stehen, wird im Übrigen angeführt, dass dem nationalen Richter stets vor Augen geführt würde, dass sein Mandat zu Modifikationen des gemeinschaftsrechtlichen Anspruchs begrenzt ist und dem EuGH die dominante Rolle bei der Fortentwicklung zufällt562. c) Stellungnahme Wie den vorstehenden Ausführungen zu entnehmen ist, wird die Frage, auf welche Anspruchsgrundlage die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Deutschland zu stützen ist, sowohl im Schrifttum als auch in der Recht558
BGHZ 134, 30 (32 f.). Geiger, S. 86; Link, 290 ff.; Hidien, S. 16 f., 75 f.; Zimmermann, S. 11 ff.; 121 ff.; Beljin, S. 208 ff., 264; Kischel, EuR 2005, 441 (456 ff.); Ossenbühl, DVBl. 1992, 993 ff.; Cornils, S. 132 ff.; Brödermann, MDR 1996, 347; Meier, NVwZ 1996, 660; v. Danwitz, DVBl. 1997, 1 (3, 6); Hatje, EuR 1997, 297 (303); Cremer, JuS 2001, 643 (646); Hanten, EWiR 2002, 961 (962); Bebr, CMLR 1992, 557 (570 f.); Tomuschat, FS Everling, 1585 (1598 f.); Prieß, NVwZ 1993, 118 (119 f.). 560 Link, S. 304; Ossenbühl spricht insoweit von einer „Tatbestands-Schizophrenie“, vgl. S. 526. 561 Ossenbühl, S. 526. 562 Ossenbühl, S. 526; Cornils, S. 122; v. Danwitz, DVBl. 1997, 1 (6); Hatje, EuR 1997, 297 (303). 559
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
sprechung kontrovers beurteilt. Die Meinungsvielfalt spiegelt die Rechtsunsicherheit wider, die insoweit nach wie vor besteht. Der Gesetzgeber hat bislang keinen speziellen Staatshaftungsanspruch für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht im deutschen Recht verankert, so dass die Judikative weiterhin gefordert ist, für Transparenz auf dem Gebiet des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts zu sorgen. Der BGH ist dieser Aufgabe durch seine konsistente Rechtsprechung weitgehend gerecht geworden. In Anbetracht der Unzulänglichkeiten des deutschen Staatshaftungsrechts ist ihm nichts anderes übrig geblieben, als auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch zurückzugreifen. Zu Recht hat der BGH nicht auf ungeschriebene Haftungsinstitute wie das des enteignungsgleichen Eingriffs abgestellt, da durch die gemeinschaftsrechtskonforme Anwendung, die gerade bei legislativen Gemeinschaftsrechtsverstößen unumgänglich wäre, in der Tat der Rahmen dieser richterrechtlichen Institute gesprengt würde. Schließlich wurden sie zur Beseitigung ganz bestimmter Regelungsdefizite im nationalen Recht entwickelt. Um das Regelungsdefizit im nationalen Recht beseitigen zu können, das sich mit der Anerkennung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung offenbart hat, könnten die nationalen Gerichte allerdings im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung ein eigenständiges Haftungsinstitut entwickeln563. Der BGH hat richtigerweise auch nicht auf den in Art. 34 S. 1 GG i. V. m. § 839 BGB geregelten Amtshaftungsanspruch zurückgegriffen. Wie noch zu zeigen sein wird, lassen sich die Tatbestandsvoraussetzungen dieses Anspruchs überwiegend nicht mit dem Grundsatz einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung vereinbaren. Eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ist nur schwerlich möglich564. Auf den Amtshaftungsanspruch in seiner kodifizierten Form kann also nicht rekurriert werden. Da eine Anwendung nationalen Rechts somit nicht möglich ist, greift der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch565. Die nationalen Gerichte könnten den Amtshaftungsanspruch nur unter Außerachtlassung der gemeinschaftsrechtswidrigen Tatbestandsvoraussetzungen zur Anwendung bringen. Dies würde jedoch zu einer Problemschaffung statt zu einer Problemvermeidung führen, denn der Richter hätte stets zu prüfen, ob die ihm bekannten Anspruchsvoraussetzungen auch anwendbar sind566. Das Prinzip der Rechtsklarheit steht dem ebenfalls entgegen, da es sich mit ihm kaum vereinbaren ließe, wenn der Amtshaftungsanspruch 563 564 565 566
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Wehlau, S. 45. 4. Teil, C., II., 4., a). 4. Teil, B., I., 1., c) und d). Kischel, EuR 2005, 441 (457).
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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bei Gemeinschaftsrechtsverstößen anders anzuwenden wäre als bei Verstößen gegen nationales Recht. Dieses Prinzip wurde seit jeher bei Rechtsentwicklungen im Bereich des deutschen Staatshaftungsrechts beachtet. So wurden sämtliche verschuldensunabhängigen Ansprüche des deutschen Staathaftungsrechts außerhalb des § 839 BGB entwickelt567. Es ist nicht ersichtlich, warum mit dieser Rechtstradition gebrochen werden sollte. Die Verformung des Amtshaftungsanspruchs wäre allenfalls dann hinnehmbar, wenn es darum ginge, ein kohärentes und eingespieltes System des Staatshaftungsrechts aufrechtzuerhalten, das in der Praxis zu klaren und nachvollziehbaren Ergebnissen führen würde und in der Theorie sorgfältig durchdacht und konstruiert wäre568. Beim deutschen Staatshaftungsrecht handelt es sich jedoch gerade nicht um ein solches System, sondern eher um „gewachsenes Chaos“569. Eine richterrechtliche Anpassung des Amtshaftungsanspruchs an die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts570 würde schließlich die Notwendigkeit mit sich bringen, die haftungsbegründenden Vorgaben des EuGH zu implementieren, was nicht sonderlich praktikabel erscheint. Im Übrigen spricht schon gegen die Heranziehung des Amtshaftungsanspruchs, dass der Amtshaftungsanspruch an das Fehlverhalten eines Beamten im haftungsrechtlichen Sinn anknüpft und die Haftung auf den Staat übergeleitet wird571, während der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch in erster Linie den Mitgliedstaat selbst, nicht aber den handelnden Beamten in den Blick nimmt572. Nach alledem erscheint es vorzugswürdig, der Ansicht des BGH und von Teilen des Schrifttums zu folgen und den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch als Anspruchsgrundlage heranzuziehen. 3. Anspruchskonkurrenz Der BGH prüft den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch nicht exklusiv, sondern daneben auch den Amtshaftungsanspruch573. Bei exekutiven Gemeinschaftsrechtsverstößen etwa kann sich auch auf dieser Grundlage eine Haftung des Staates ergeben, weil weder das Erfordernis der Drittbezogenheit noch das Richterprivileg entgegensteht. Das Neben567 Link, S. 304 f.; vgl. auch Papier, in: MüKo, § 839, Rn. 25 ff., 54 ff., 78 ff.; Klein, in: Soergel, Anh. § 839, Rn. 170, 225 ff. 568 Kischel, EuR 2005, 441 (460). 569 Vgl. Ossenbühl, S. 2; Kischel, EuR 2005, 441 (460). 570 Dies wurde jedoch vielfach gefordert, vgl. Führich, EuZW 1993, 725 (727). 571 Vgl. 4. Teil, C., II., 1. 572 Dörr, DVBl. 2006, 598 (603); Kischel, EuR 2005, 441 (458 f.); Detterbeck, VerwArch 1994, 159 (188). 573 Vgl. BGHZ, 134, 30 (32); BGH DB 2005, 384.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
einander verschiedener Haftungsgrundlagen entspricht auch der deutschen Rechtstradition. Allerdings macht eine parallele Anwendung des Amtshaftungsanspruches nur Sinn, wenn der Staat auf der Grundlage des nationalen Rechts unter weniger strengen Voraussetzungen für Gemeinschaftsrechtsverstöße haftet574. Der EuGH hat ausdrücklich festgestellt, dass dies möglich sei575. Sollten die haftungsbegründenden Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs im Fall eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes verwirklicht sein, die des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs hingegen nicht, kann das zuständige Gericht also ohne weiteres zu einer Haftung des Staates gelangen. Gemeinschaftsrechtlich geboten ist dieses Ergebnis indes nicht, denn das Diskriminierungsverbot bezieht sich nicht auf die Haftungsbegründung, sondern nur auf die Folgen der Haftung bei Eingreifen des gemeinschaftsrechtlichen Haftungstatbestandes576. Innerstaatlich sollte es allerdings keinen Unterschied machen, ob der Amtsträger gegen deutsches Recht oder Gemeinschaftsrecht verstoßen hat. Um die insoweit bestehende Rechtsunsicherheit zu beseitigen, sollte der deutsche Gesetzgeber einen speziellen Staatshaftungsanspruch schaffen, der den Vorgaben des EuGH gerecht wird und bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht exklusiv geprüft werden muss. Auf den Amtshaftungsanspruch oder den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch kommt es dann nicht mehr an. Bis dahin bleibt es allerdings dabei, dass vorrangig der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch heranzuziehen und nach Maßgabe des deutschen Rechts durchzusetzen ist. Da der EuGH nur den haftungsbegründenden Rumpftatbestand vorgegeben hat, finden materielle und prozessuale Regelungen des nationalen Rechts ergänzend Anwendung. Wie bereits erwähnt wurde, wendet der BGH in diesem Zusammenhang die gemeinschafsrechtskonformen Regelungen der Amtshaftung entsprechend an577. Dem ist zuzustimmen, denn diese Regelungen sind im Gegensatz zu vielen anderen des deutschen Staatshaftungsrechts wenigstens kodifiziert. Insofern wird dem Prinzip der Rechtsklarheit und damit dem Rechtsstaatsprinzip Rechnung getragen. Letztlich kann Rechtsklarheit und Rechtssicherheit aber erst dadurch erreicht werden, dass ein umfassender Tatbestand vom deutschen Gesetzgeber geschaffen wird, dem die zentralen haftungsbegründenden und haftungsausfüllenden Voraussetzungen einer Haftung des Staates für Gemeinschaftsrechtsverstöße entnommen werden können.
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Vgl. Kischel, EuR 2005, 441 (463). EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1153, Rn. 66. 576 Kischel, EuR 2005, 441 (463). 577 So geht der BGH beispielsweise davon aus, dass § 839 Abs. 3 BGB im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts Anwendung finden kann, vgl. BGH, Beschluss v. 12. Oktober 2006, Az.: III ZR 144/05. 575
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4. Die Anwendbarkeit deutscher Rechtsvorschriften im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts Der EuGH hat in der Rechtssache „Francovich u. a.“ zum Ausdruck gebracht, dass materielle und formelle Voraussetzungen des nationalen Rechts im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Anwendung finden können, sofern sie sich mit dem Effizienzgebot und dem Diskriminierungsverbot vereinbaren lassen578. a) Die Anwendbarkeit materiellen Rechts Nichtsdestotrotz ist in der Literatur bestritten worden, dass materielle Regelungen des nationalen Rechts im System des gemeinschafsrechtlichen Staatshaftungsrechts angewandt werden können579. Diese Ansicht ist jedoch zurückzuweisen. Zwar stehen das Effizienzgebot und das Diskriminierungsverbot materiellen Rechtsvorschriften naturgemäß eher entgegen als formellen Rechtsvorschriften, gleichwohl kann im Einzelfall auch die Anwendbarkeit materiellen Rechts gegeben sein. Die nachfolgenden Ausführungen belegen dies. aa) Das Erfordernis der Drittbezogenheit Zunächst stellt sich die Frage, ob das in Art. 34 S. 1 GG und § 839 Abs. 1 S. 1 BGB kodifizierte Erfordernis der Drittbezogenheit im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts angewandt werden kann. Das würde bedeuten, dass nur bei der Verletzung einer einem Dritten gegenüber obliegenden Amtspflicht des Amtswalters eine Haftung des Mitgliedstaats in Betracht käme. In der Regel geht ein Verstoß gegen eine gemeinschaftsrechtlich verbürgte subjektive Rechtsposition auch mit einer Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht einher580. Der BGH judiziert jedoch in ständiger Rechtsprechung, dass bei legislativen Amtspflichtverletzungen das Erfordernis der Drittbezogenheit nicht erfüllt sei, weil Gesetze durchweg generelle und abstrakte Regelungen seien. Der Gesetzgeber nehme nur Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit, nicht aber gegenüber bestimmten Personen oder Personengruppen als „Dritten“ wahr581. Bei legislativen Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht kann sich mithin kein Amtshaftungsanspruch ergeben. In Anbetracht dieser Rechtsprechung hat 578 579 580 581
EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5416, Rn. 43. Karl, RIW 1992, 440 (446). Herdegen/Rensmann, ZHR 161 (1997), 522 (552). Vgl. etwa BGHZ 106, 323 (331); BGHZ 109, 163 (167 ff.); BGHZ 110, 1 (9).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
der EuGH in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ erklärt, dass das Erfordernis der Drittbezogenheit außer Acht bleiben müsse, da es der Verpflichtung der nationalen Gerichte entgegenstehe, die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu sichern und einen effektiven Schutz der Rechte des Einzelnen zu gewährleisten582. Teilweise wurde in der Literatur versucht, die restriktive und vielfach kritisierte Rechtsprechung des BGH583 mit der Pflicht des Staates zur gemeinschaftsrechtlichen Haftung für legislatives Unrecht zu vereinbaren. So wurde vertreten, die Tätigkeit der nationalen Parlamente bei der Umsetzung von Richtlinien ähnele dem Gesetzesvollzug der Verwaltung auf innerstaatlicher Ebene, weshalb von einer Drittbezogenheit auszugehen sei, wenn die Richtlinie die Schaffung individueller Rechte Einzelner hinsichtlich Personenkreis und Inhalt der Ansprüche hinreichend präzise und für den Mitgliedstaat verpflichtend vorschreibt584. Dieser Ansatz kann jedoch nicht überzeugen, denn auch bei der Transformation von Richtlinien werden Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit wahrgenommen. Im Schrifttum plädieren daher nicht wenige für eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des Merkmals der Drittbezogenheit durch den BGH, damit der Umweg über den Vergleich mit der Exekutivähnlichkeit nicht beschritten werden müsse585. Eine gemeinschaftsrechtkonforme Auslegung scheint vom Wortlaut her tatsächlich nicht ausgeschlossen zu sein. Gleichwohl hält der BGH an seiner restriktiven Rechtsprechung zum Drittbezogenheitserfordernis des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB fest und prüft stattdessen auf der Grundlage des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs die Verletzung einer individualschützenden Norm des Gemeinschaftsrechts. bb) Das Verschuldenserfordernis Fraglich ist, ob das Verschuldenserfordernis des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts angewandt werden kann. Durch dieses Erfordernis wird die Amtshaftung auf Fälle vorsätzlichen und fahrlässigen Unrechts beschränkt. Der EuGH hat in „Francovich u. a.“ die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nicht von einem Verschulden abhängig gemacht, weshalb im Schrifttum gefolgert wurde, eine verschuldensunabhängige Haftung sei postuliert worden586. Diese Ansicht 582
EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1154, Rn. 72. Vgl. etwa Schenke/Guttenberg, DÖV 1991, 945 (950). 584 Vgl. Geiger, DVBl. 1993, 465 (472); Hailbronner, JZ 1992, 284 (288); Streinz, EuZW 1993, 599 (602); Schimke, EuZW 1993, 698 (700); Kopp, DÖV 1994, 201 (205). 585 Vgl. Kemper, NJW 1993, 3293 (3296); Leible/Sosnitza, MDR 1993, 1159 (1160); Gellermann, EuR 1994, 343 (356); Khan, NJW 1993, 2646 (2648); Nettesheim, DÖV 1992, 999 (1004); Wehlau, S. 55 f. 583
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erwies sich nach dem Urteil in der Rechtssache „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ als unhaltbar, denn der Gerichtshof hatte zum Ausdruck gebracht, dass bestimmte Gesichtspunkte, die im Rahmen der nationalen Rechtsordnung mit dem Begriff des Verschuldens in Verbindung gebracht werden, im gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrecht sehr wohl Berücksichtigung finden587. Gemeint waren Gesichtspunkte wie die Entschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und die Frage, ob der Gemeinschaftsrechtsverstoß bzw. der Schaden vorsätzlich herbeigeführt worden ist588. Die Prüfung solcher Gesichtspunkte hat allerdings bereits bei der Beurteilung einer hinreichenden Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes zu erfolgen589. Das Verschuldenserfordernis des deutschen Rechts wird demnach durch die gemeinschaftsrechtliche Tatbestandsvoraussetzung des hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes ersetzt590. Nationale Verschuldenserfordernisse, die ihrem rechtlichen Gehalt nach über diese Voraussetzung hinausgehen, dürfen nicht angewandt werden, da sonst die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Frage gestellt würde591. Ob das Verschuldenserfordernis des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB dem rechtlichen Gehalt nach über die Tatbestandsvoraussetzung des hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes hinausgeht, kann bezweifelt werden, weil schon fahrlässiges Verhalten eine Staatshaftung auslösen kann. Letztlich kommt es darauf aber nicht an, denn eine Anwendung des Verschuldenserfordernisses scheidet ohnehin aus. Es macht nämlich keinen Sinn, eine Verschuldensprüfung gemäß § 839 Abs. 1 S. 1 BGB durchzuführen, wenn zuvor schon eine entsprechende Prüfung bei der Beurteilung der hinreichenden Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes stattgefunden hat. So ist davon auszugehen, dass die Verschuldensprüfungen gleich gelagert sind592. Bei der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung handelt es sich somit keineswegs um eine verschuldensunabhängige Haftung, sondern um eine gemeinschaftsrechtlich modifizierte Verschuldenshaftung593. Ein eigenständiges Tatbestandsmerkmal bildet das Verschuldenserfordernis indes nicht594. 586 Vgl. Ewert, RIW 1992, 881 (884); Führich, EuZW 1993, 725 (727); Hailbronner, JZ 1992, 284 (288); Karl, RIW 1992, 440 (445); Kopp, DÖV 1994, 201 (204); Nettesheim, DÖV 1992, 999 (1004); Prieß, NVwZ 1993, 118 (123); Schlemmer-Schulte/Ukrow, EuR 1992, 82 (93 f.). 587 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1155, Rn. 78. 588 Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1150, Rn. 56. 589 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1156, Rn. 79. 590 Mankowski, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, S. 752, Rn. 111; Tremml/ Karger, S. 278, Rn. 1179; Bertelmann, S. 211. 591 Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1156, Rn. 79. 592 Vgl. Bertelmann, S. 211; Detterbeck, AöR 125 (2000), 202 (241). 593 Detterbeck, in: Detterbeck/Windthorst/Sproll, S. 63, Rn. 52. 594 Detterbeck, AöR 125 (2000), 202 (241).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
cc) Die Subsidiaritätsklausel Ob die Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB Anwendung finden kann, ist ebenfalls zweifelhaft. Danach haftet der fahrlässig handelnde Beamte nur dann, wenn der Geschädigte nicht anderweitig Schadensersatz erlangen kann. Durch diese Regelung sollte ursprünglich der haftende Beamte privilegiert werden, seitdem die Beamtenhaftung gemäß Art. 34 S. 1 GG auf den Staat verlagert wird, ist in ihr jedoch ein nicht zu rechtfertigendes Fiskusprivileg zu sehen595. In Anbetracht des Anachronismus von § 839 Abs. 1 S. 2 BGB ist bei rein nationalen Sachverhalten nur eine teleologisch reduzierte Anwendung möglich596. Im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts kann die Norm hingegen keinesfalls angewandt werden597, denn der EuGH hat eine originäre Haftung der Mitgliedstaaten begründet und keine derivative, die am Fehlverhalten des Beamten anknüpft598. Gegen eine Anwendung des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB spricht zudem, dass der vom Geschädigten in Anspruch genommene private Mitschädiger599 keinen Ausgleichsanspruch gemäß den §§ 840 Abs. 1, 426 BGB gegen den mit verantwortlichen Hoheitsträger hätte600 und dem gemeinschaftsrechtsrechtlichen Staatshaftungsrecht eine Abstufung nach Verschuldensgraden fremd ist, wenn erst einmal die Hürde des qualifizierten Verstoßes genommen ist601. Hinzu kommt, dass sich der Staat nicht schon durch den bloßen Verweis auf private Mitschädiger seiner gemeinschaftsrechtlichen Haftungsverpflichtung entziehen können darf602. Abgesehen davon ist fraglich, ob es überhaupt einen Anwendungsbereich für das Verweisungsprivileg gäbe603. Gerade im Hinblick auf den Fall der Nichtumsetzung einer Richtlinie erscheint dies zweifelhaft. So sind inso595
Ossenbühl, S. 79. Eingehend zur teleologischen Reduktion der Subsidiaritätsklausel: Ossenbühl, S. 80 ff. 597 So auch Bertelmann, S. 212; Dörr, DVBl. 2006, 598 (603); Ossenbühl, S. 17 f.; Säuberlich, S. 184; Fischer, JA 348 (352). A. A.: Müller-Graff, From Francovich to Köbler, 153 (163) – Verfasser bejaht die Anwendbarkeit des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB unter der Bedingung, dass die Durchsetzung des Anspruchs nicht erheblich erschwert wird. 598 Vgl. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10308, Rn. 42. 599 Das Verweisungsprivileg greift nur in Bezug auf Private. Haften ausschließlich juristische Personen des öffentlichen Rechts, kann von ihm kein Gebrauch gemacht werden. Vgl. Ossenbühl, S. 84 f. 600 Bertelmann, S. 212. 601 Mankowski, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, S. 759, Rn. 130; vgl. insoweit 4. Teil, C., II., 4., a), bb) u. dd). 602 Vgl. Dörr, DVBl. 2006, 598 (603). 603 Vgl. Säuberlich, S. 183 f.; Mankowski, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, S. 759, Rn. 130. 596
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weit nur schwerlich Konstellationen vorstellbar, in denen ein Dritter neben dem Staat haftet604. dd) Die Richterprivilegien Ob die deutschen Richterprivilegien im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung zur Anwendung gebracht werden können, ist zweifelhaft. Zu unterscheiden sind das Richterprivileg des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB und das vom BGH entwickelte ungeschriebene Richterprivileg. Sie haben gemeinsam, dass sie die Haftung des Staates für judikatives Unrecht vom Grad des Fehlverhaltens abhängig machen. Während § 839 Abs. 2 S. 1 BGB eine strafbare Pflichtverletzung und damit Vorsatz erfordert605, reicht nach dem ungeschriebenen Richterprivileg bereits grob fahrlässiges Verhalten aus. Dieses ungeschriebene Haftungsprivileg findet immer dann Anwendung, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB nicht erfüllt sind606. Fahrlässiges Verhalten der Judikative kann also keinesfalls eine Haftung des Staates auslösen. Diese Privilegierung ist Ausfluss des Verfassungsgrundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 GG). Der Richter soll im Interesse seiner inneren Freiheit und Unbefangenheit nicht befürchten müssen, dass schon fahrlässiges Verhalten ihm als Fehlverhalten angelastet und zur Grundlage eines Ersatzanspruchs gemacht wird607. Aus Art. 97 GG folgt mithin ein unabdingbarer Schutzstandard. Die sich darüber hinaus aus § 839 Abs. 2 S. 1 BGB ergebende Privilegierung der Judikative bezweckt dagegen vorrangig den Schutz des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit608. Es soll verhindert werden, dass eine Rechtskraftwirkung, die bei gleich bleibender Sachlage eine erneute Befassung mit der Sache ausschließt, dadurch umgangen wird, dass durch Erhebung einer Amtshaftungsklage das Urteil und das Verhalten des Richters „bei dem Urteil“ zum Gegenstand der Nachprüfung in einem anderen Verfahren gemacht werden, ohne dass die engen Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen die Verfah604
Mankowski, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, S. 759, Rn. 130; vgl. in diesem Zusammenhang auch die eingehenden Ausführungen von Säuberlich, S. 183 f. 605 Die in Betracht kommenden Delikte des deutschen Strafrechts (Richterbestechlichkeit – § 332 Abs. 2 StGB, Rechtsbeugung – 339 StGB) setzen allesamt Vorsatz voraus, vgl. Storr, DÖV 2004, 545. 606 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Gericht eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme per einstweiliger Anordnung getroffen hat, BGHZ 155, 306. Solche Anordnungen stellen keine Urteile im Sinne des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB dar, da sie von vornherein weder bestimmt noch geeignet sind, eine „interimistische Befriedigungsfunktion“ für die Hauptsache zu entfalten oder gar eine Hauptsacheentscheidung entbehrlich zu machen, BGHZ 161, 298 (304). 607 Vgl. BGHZ 50, 14 (19 f.). 608 Vgl. insoweit Storr, DÖV 2004, 545.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
rensvorschriften die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens zulassen609. Der EuGH hat in „Traghetti del Mediterraneo“ im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 des italienischen Gesetzes Nr. 117/88610 entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, die allgemein die Haftung des Mitgliedstaats für Schäden ausschließen, die dem Einzelnen durch einen einem letztinstanzlichen Gericht zuzurechnenden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, wenn sich dieser Verstoß aus einer Auslegung von Rechtsvorschriften oder einer Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch dieses Gericht ergibt. Ferner stehe das Gemeinschaftsrecht nationalen Rechtsvorschriften wie Art. 2 Abs. 1 des italienischen Gesetzes Nr. 117/88 entgegen, die die Haftung auf Fälle von Vorsatz oder grob fehlerhaftem Verhalten des Richters begrenzen, sofern diese Begrenzung dazu führt, dass die Haftung des betreffenden Mitgliedstaats trotz eines offenkundigen Gemeinschaftsrechtsverstoßes ausgeschlossen ist611. Was dies für die Anwendbarkeit der deutschen Richterprivilegien im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts bedeutet, soll nunmehr aufgezeigt werden. (1) Das Richterprivileg des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB Wie bereits erwähnt, beschränkt die Regelung des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB die Haftung dahingehend, dass der Staat nur bei strafbaren, vorsätzlichen Handlungen der Justiz auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden kann. Bei grob fahrlässigem Verhalten ist eine Haftung somit ausgeschlossen. Ein grob fahrlässiges Verhalten letztinstanzlicher Gerichte ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die ständige Rechtsprechung des EuGH bei der Auslegung nationalen Rechts verkannt oder die Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EG missachtet wird. Vorsatz kann insoweit allerdings nur schwerlich nachgewiesen werden. In jenen Fällen ist aber von einem offenkundigen Gemeinschaftsrechtsverstoß auszugehen612. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung würde indes aufgrund des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB ausscheiden. Dieses Ergebnis lässt sich nicht mit dem Grundsatz einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht vereinbaren. Daher muss die Regelung des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB in den genannten Fällen – ganz im Sinne der „Traghetti del Mediterraneo“-Rechtsprechung – unangewandt bleiben. Eine gemeinschaftsrechtskon609
Wurm, in: Staudinger, §§ 839, 839a, Rn. 317; Kiethe, WRP 2006, 29 (30). Legge nº 117 [sul] risarcimento dei danni cagionati nell’esercizio delle funzioni giudiziarie e responsabilità civile dei magistrati, GURI Nr. 88 vom 15. April 1988, S. 3. 611 EuGH, S. 115, Fn. 518, Rn. 46. 612 Vgl. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10311, Rn. 55 f. 610
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forme Auslegung dürfte in Anbetracht des klaren Wortlauts der Regelung nur schwerlich möglich sein613. Wie die italienische Vorschrift des Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 117/88 kann auch die des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB ihre haftungsprivilegierende Wirkung nur dann entfalten, wenn kein offenkundiger Gemeinschaftsrechtsverstoß vorliegt. Mangels eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes kommt jedoch in dem Fall ohnehin keine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Betracht. (2) Das ungeschriebene Richterprivileg Das vom BGH auf der Grundlage von Art. 97 GG entwickelte ungeschriebene Richterprivileg wird, wie oben ausgeführt wurde, stets dann herangezogen, wenn § 839 Abs. 2 S. 1 BGB keine Anwendung findet614. Eine Rekurrierung auf dieses Haftungsprivileg kommt somit auch dann in Betracht, wenn die Regelung des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts keine Berücksichtigung finden darf. Die Anwendbarkeit des Richterprivilegs könnte nach dem Urteil des EuGH in „Traghetti del Mediterraneo“ jedoch ebenfalls davon abhängen, dass nicht offenkundig gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen wurde. Hierfür spricht, dass das ungeschriebene Richterprivileg ähnlich wie die italienische Regelung des Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 117/88 die Haftung auf vorsätzliches und grob fahrlässiges Verhalten beschränkt. Im italienischen Recht ist jedoch abschließend festgelegt, wann von einem grob fehlerhaften Verhalten auszugehen ist615. Die Gerichte können also nicht frei von gesetzlichen Vorgaben darüber befinden, ob ein Verhalten als grob fehlerhaft anzusehen ist. Der Spielraum für eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung von Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 117/88, deren Grenze maßgeblich durch den Wortlaut des Gesetzes bestimmt wird616, ist insofern recht eingeschränkt. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, dass offenkundige Gemeinschaftsrechtsverstöße von italienischen Gerichten nicht als grob fehlerhaft erachtet werden können. Der EuGH hat daher die Anwendung von Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 117/88 zu Recht davon abhängig gemacht, dass kein offenkundiger Gemeinschaftsrechtsverstoß vorliegt. In Deutschland verfügen die Gerichte dagegen über die Möglichkeit, einen grob fahrlässigen Verstoß in freier Würdigung des Sachverhalts anzunehmen. Einer gemeinschaftsrechtskonformen Anwendung des Haftungskrite613 Gundel, EWS 2004, 8 (16); Bertelmann, S. 214. A. A.: Kluth, DVBl. 2004, 393 (402). 614 Vgl. auch OLG Frankfurt am Main, Fn. 353, Rn. 29. 615 Vgl. S. 115, Fn. 520. 616 Vgl. Krieger, S. 297 ff.
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riums „grob fahrlässig“ stehen also keine gesetzlichen Vorgaben entgegen. Eine solche Anwendung ist insbesondere dann geboten, wenn ein offenkundiger Gemeinschaftsrechtsverstoß nicht eindeutig als grob fahrlässig qualifiziert werden kann. Im Zweifel muss der Verstoß als grob fahrlässig eingestuft werden, damit die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nicht an dem ungeschriebenen Richterprivileg scheitert. Angesichts der Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtskonformen Anwendung kann dieses Haftungsprivileg anders als Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 117/88 nicht per se als gemeinschaftsrechtswidrig im Sinne der „Traghetti del Mediterraneo“-Rechtsprechung erachtet werden617. Im Regelfall kommt es ohnehin nicht zu einer Kollision zwischen dem ungeschriebenen Richterprivileg und dem Grundsatz einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht. Bei fahrlässigen Verstößen kann nämlich zumeist nicht von einem offenkundigen Gemeinschaftsrechtsverstoß ausgegangen werden. Damit wird auch der deutsche Verfassungsgrundsatz der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 GG) nicht in Frage gestellt, der schließlich die Grundlage des ungeschriebenen Richterprivilegs bildet. Im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts kommt diesem Haftungsprivileg allerdings ebenfalls keine Bedeutung zu, denn seine Anwendung bleibt auf Fälle beschränkt, in denen sich mangels eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes keine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ergeben kann. ee) Die Vorrangklausel Des Weiteren ist zu klären, ob die Vorrangklausel des § 839 Abs. 3 BGB im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts Anwendung finden kann. In der Literatur wird dies teilweise abgelehnt, da der Rahmen des zulässigen Mitverschuldenseinwands gesprengt würde618. So tritt gemäß § 839 Abs. 3 BGB eine Präklusion der Staatshaftung ein, wenn es der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden. Die Regelung des § 839 Abs. 3 BGB setzt also Verschulden voraus619. Der Begriff des Rechtsmittels ist nach der Rechtsprechung des BGH weit auszulegen. Er umfasst alle förmlichen und formlosen Rechtsbehelfe, die sich unmittelbar gegen die schädigende Amtspflichtverletzung selbst richten und ihre Beseitigung bezwecken oder ermöglichen620. Bevor der Schaden eingetreten ist, muss sich der 617
Vgl. auch Gundel, EWS 2004, 8 (16). Mankowski, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, S. 757, Rn. 125; vgl. auch Hatje, EuR 1997, 297 (305). 619 Näheres dazu bei Ossenbühl, S. 96. 618
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Betroffene also im Wege des primären Rechtsschutzes um eine Schadensabwendung bemüht haben (Vorrang des Primärrechtsschutzes). Eine Wahlmöglichkeit zwischen der Abwehr rechtswidriger Hoheitseingriffe durch die Einlegung von Rechtsbehelfen und der freiwilligen Duldung rechtswidriger Hoheitsakte bei gleichzeitiger Liquidierung soll damit ausgeschlossen sein621. Der Haftungsausschluss des § 839 Abs. 3 BGB ist die schadensersatzrechtliche Sanktion für die Missachtung des Gebots, Primärrechtsschutz in Anspruch zu nehmen und hält die sekundäre Schadensersatzpflicht insoweit zurück622. Der EuGH hat in der Rechtssache „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ klargestellt, dass das nationale Gericht bei der Prüfung des ersatzfähigen Schadens prüfen könne, ob sich der Geschädigte in angemessener Form um die Verhinderung des Schadenseintritts oder um die Begrenzung des Schadensumfangs bemüht hat und ob er insbesondere rechtzeitig von allen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch gemacht hat. Nach einem allgemeinen, den Rechtsordnungen gemeinsamen Grundsatz müsse sich nämlich der Geschädigte in angemessener Form um die Begrenzung des Schadensumfangs bemühen, wenn er nicht Gefahr laufen will, den Schaden selbst tragen zu müssen623. Der Vorrang des Primärrechtsschutzes ist mithin anerkannt worden. In „Metallgesellschaft u. a.“ hat der Gerichtshof hingegen erklärt, dass das Gemeinschaftsrecht es einem nationalen Gericht verbiete, einen Schadensersatzanspruch allein deshalb zurückzuweisen oder zu kürzen, weil die zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeiten nicht ausgeschöpft wurden624. Der EuGH hat diese Aussage in der Rechtssache „Danske Slagterier“ präzisiert, indem er feststellte, dass es dem Grundsatz der Effektivität widerspräche, von den Geschädigten zu verlangen, systematisch von allen ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch zu machen, selbst wenn dies zu übermäßigen Schwierigkeiten führen würde oder ihnen nicht zugemutet werden könnte625. In der Rechtssache „Metallgesellschaft u. a.“ ist es den Geschädigten beispielsweise nicht zuzumuten gewesen, von den ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch zu machen, da sie zuvor eine KörperschaftssteuerVorauszahlung hätten entrichten müssen und, auch wenn das nationale Gericht die Vorauszahlung für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt hätte, hätten 620 BGHZ 28, 104 (106); BGHZ 123, 1 (7); BGHZ 137, 11 (23). Vgl. insoweit Ossenbühl, S. 95 – Verfasser spricht sich für eine engere Auslegung des Rechtsmittelbegriffs aus. 621 Wolf, WM 2005, 1345 (1349); Papier, in: MüKo, § 839, Rn. 330. 622 Ossenbühl, S. 92. 623 Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1157, Rn. 84 f. 624 EuGH, S. 63, Fn. 223, I-1792, Rn. 107. 625 EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 62.
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sie keine Zinsen für den betreffenden Betrag erhalten können und ihnen wäre möglicherweise eine Geldstrafe auferlegt worden626. Der EuGH hat vor diesem Hintergrund geurteilt, dass das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer nationalen Regelung wie in § 839 Abs. 3 BGB dann nicht entgegensteht, wenn der Gebrauch des fraglichen Rechtsmittels für den Betroffenen zumutbar ist627. Die Regelung des § 839 Abs. 3 BGB dürfte im Fall einer Unzumutbarkeit allerdings ohnehin nicht greifen, denn die Nichteinlegung des Rechtsmittels wäre dann nicht schuldhaft628. In „Danske Slagterier“ hatte der EuGH darüber zu befinden, ob der Gebrauch eines Rechtsmittels zumutbar ist, wenn das ergriffene Rechtsmittel möglicherweise Anlass zu einem Vorabentscheidungsersuchen gibt. Der Gerichtshof entschied, eine große Wahrscheinlichkeit, dass ein Rechtsmittel Anlass zu einem Vorabentscheidungsersuchen gibt, ließe für sich genommen nicht den Schluss zu, dass der Gebrauch dieses Rechtsmittels unzumutbar ist629. Er erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass das Verfahren gemäß Art. 234 EG ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen. Die dadurch erhaltenen Hinweise könnten dem nationalen Gericht also die Anwendung des Gemeinschaftsrechts erleichtern, so dass der Rückgriff auf dieses Instrument keineswegs dazu beitrage, dem Einzelnen die Ausübung der ihm durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte übermäßig zu erschweren. Daher wäre es nicht sinnvoll, von einem Rechtsmittel allein deshalb keinen Gebrauch zu machen, weil dieses möglicherweise Anlass zu einem Vorabentscheidungsverfahren gibt630. Trotz der Möglichkeit eines Vorabentscheidungsersuchens muss der Einzelne also von Rechtsmitteln Gebrauch machen. Das Gleiche gilt hinsichtlich eines beim EuGH anhängigen Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 226 EG. Der EuGH hat in „Danske Slagterier“ ausdrücklich erklärt, dass das Verfahren nach Art. 226 EG völlig unabhängig von den nationalen Verfahren sei und diese nicht ersetze. Eine Vertragsverletzungsklage stelle nämlich eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle im Allgemeininteresse dar. Auch wenn das Ergebnis einer solchen Klage Individualinteressen dienen könne, bliebe es für den Einzelnen gleichwohl zumutbar, den Schaden mit Hilfe aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel als auch durch die Inanspruchnahme der verfüg626 627 628 629 630
Vgl. EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 63; EuGH, Fn. 223, I-1791, Rn. 104. EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 64. Vgl. BGH NJW 2003, 1303 (1313); Sprau, in: Palandt, § 839, Rn. 77. EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 66. EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 65.
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baren Rechtsschutzmöglichkeiten abzuwenden631. Ein anhängiges Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 226 EG führt demnach nicht dazu, dass der Gebrauch von Rechtsmitteln unzumutbar wird. Was den Aspekt der Zumutbarkeit betrifft, so korrespondiert er im Übrigen auch mit der Forderung des EuGH, der Geschädigte müsse sich in „angemessener Form“ um primären Rechtsschutz bemühen. Dies impliziert nämlich bereits, dass im Einzelfall durchaus die Unzumutbarkeit des Primärrechtsschutzes angenommen werden kann632. Abgesehen von dem Fall der Unzumutbarkeit greift § 839 Abs. 3 BGB auch dann nicht, wenn das Einlegen des Rechtsmittels den Schaden nicht verhindert hätte633, denn zwischen der Nichteinlegung des Rechtsmittels und dem Eintritt des Schadens muss ein Kausalzusammenhang bestehen634. Die genannten Einschränkungen stellen nach alledem ein ausreichendes Korrektiv dar, so dass nicht davon auszugehen ist, dass mit der Anwendung des § 839 Abs. 3 BGB der Rahmen des zulässigen Mitverschuldenseinwands gesprengt würde635. Gegen eine grundsätzliche Anwendbarkeit des § 839 Abs. 3 BGB im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts lässt sich somit nichts einwenden636. (1) Vorrang des Rechtsschutzes durch die Fachgerichte Der Einzelne muss sich primär an die deutschen Fachgerichte wenden, um Rechtsschutz zu erlangen. Bei legislativen oder exekutiven Gemeinschaftsrechtsverstößen muss grundsätzlich der gesamte Instanzenzug beschritten werden, bevor eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Frage kommt. Verstoßen die Instanzgerichte in diesem Zusammenhang gegen Gemeinschaftsrecht, ergibt sich zudem judikatives Unrecht. Gemeinschaftsrechtswidrige Entscheidungen unterinstanzlicher Gerichte können jedoch noch durch die letzte Instanz korrigiert werden. Geschieht dies nicht, stellt sich auch die Frage nach einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht letztinstanzlicher Gerichte. In dem Fall sind nämlich die Möglichkeiten des Einzelnen begrenzt, das rechtskräftige Urteil anzufechten637. Die Beseitigung judikativen Unrechts durch ein letztinstanz631
EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 67. Vgl. Kroll, S. 248. 633 Detterbeck, in: Detterbeck/Windthorst/Sproll, S. 68, Rn. 70. 634 Ossenbühl, S. 95. 635 Vgl. Bertelmann, S. 206. 636 Vgl. insoweit auch BGHZ 156, 294 (298). 637 Der BGH hat bis zur ZPO-Reform eine außerordentliche Beschwerde gegen „greifbar gesetzeswidrige“ Gerichtsentscheidungen zugelassen. Nunmehr soll aller632
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liches Gericht setzt allerdings voraus, dass Rechtsmittel gegen die Entscheidung des unterinstanzlichen Gerichts eingelegt werden können. Besteht diese Möglichkeit nicht, ist in dem vermeintlich unterinstanzlichen Gericht bereits die letzte Instanz zu erblicken638. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ist mithin möglich. Ob der Staat für das begangene Unrecht zu haften hat oder ob es im Rahmen des Instanzenzuges beseitigt wird, hängt somit auch von der Ausgestaltung der Rechtsmittelvoraussetzungen ab. Je strikter sie sind, desto unwahrscheinlicher ist die Beseitigung des judikativen Unrechts durch oberinstanzliche Gerichte. Vor diesem Hintergrund wird eine erweiterte Auslegung der Rechtsmittelvoraussetzungen als Strategie zur Abwendung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung gesehen639. Gemäß § 543 Abs. 2 ZPO ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat oder wenn die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BGH erfordert. Ein offensichtlicher Rechtsfehler des Berufungsgerichts eröffnet nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH das Revisionsverfahren jedoch nicht, soweit die Schwelle der Willkür nicht überschritten wurde und keine Wiederholungsgefahr vorliegt640. Demgegenüber kann nach der Rechtsprechung des EuGH schon der offenkundige Verstoß eines Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht ausreichen, um eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für judikatives Unrecht auszulösen641. In Anbetracht dieser Diskrepanz ist zu fordern, dass bei einer Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 544 ZPO die Revision bereits dann zuzulassen ist, wenn aus der Perspektive des Revisionsgerichts das Berufungsgericht das Gemeinschaftsrecht falsch angewandt hat642. Nachdem sowohl das BVerwG643 als auch der BGH644 bereits festgestellt haben, dass die Zulassung der Revision geboten ist, wenn eine Vorabentscheidung des EuGH nach Art. 234 EG einzuholen ist645, sollte das zivilprozessuale Revisionsrecht auch insofern an die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts angepasst werden, als dass die Durchführung eines Revisionsverfahrens bei einem dings nur noch eine Gegenvorstellung möglich sein, vgl. Storr, DÖV 2004, 545 (551). 638 Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa), (3), (a). 639 Storr, DÖV 2004, 545 (551); Kiethe, WRP 2006, 29. 640 BGHZ 152, 182 (188 f.); BGH, NJW 2003, 754 (755); BGH, NJW 2003, 831; Wolf, WM 2005, 1345 (1350); Kiethe, WRP 2006, 29 (31); Vorwerk, FS Thode, 645 (655). 641 Vgl. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10312, Rn. 56. 642 So auch Vorwerk, FS Thode, 645 (656 f.); Wolf, WM 2005, 1345 (1350); Kiethe, WRP 2006, 29 (31). 643 BVerwG, NJW 1988, 664; BVerwG, NVwZ 1997, 178 f.; Kopp/Schenke, § 132, Rn. 10; Meier, EuZW 1991, 11 (12 f.); vgl. auch BVerfGE 82, 159 (196). 644 BGH, Beschluss v. 16. Januar 2003, Az.: I ZR 130/02.
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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offenkundigen Gemeinschaftsrechtsverstoß des Berufungsgerichts möglich ist646. Aus Sicht des Gemeinschaftsrechts verursacht eine erweiterte Auslegung des § 543 Abs. 2 ZPO zur Vermeidung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung keine Probleme. Schließlich hat der EuGH den Vorrang des Primärrechtsschutzes in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ ausdrücklich anerkannt647. Einen Ausbau der primären Rechtsschutzmöglichkeiten gebietet im Übrigen auch der „effet utile“ des Gemeinschaftsrechts. Mit ihm lässt es sich nämlich nur schwerlich vereinbaren, wenn judikative Gemeinschaftsrechtsverstöße eines Berufungsgerichts trotz Offenkundigkeit grundsätzlich folgenlos bleiben. Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung stellt insoweit einen Notbehelf dar, weil sie lediglich im Fall eines Schadens die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts sicherstellen kann. Für den Rechtsmittelkläger ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass er in jedem Einzelfall überprüfen muss, ob gemeinschaftsrechtliche Vorschriften verletzt worden sind. Hat schon das erstinstanzliche Gericht gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen, sollte der Gemeinschaftsrechtsverstoß bereits im Rahmen der Berufungsbegründung substantiiert gerügt werden648. Perpetuiert sich dieser Verstoß mangels Abhilfe in der Berufungsinstanz oder wird das Gemeinschaftsrecht erst dort verletzt, kommt das Rechtsmittel der Revision in Frage. Sofern das Berufungsgericht trotz eines entsprechenden Antrags die Revision nicht zulässt, empfiehlt sich die Erhebung einer Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH. Wie oben ausgeführt wurde, ist eine erweiterte Auslegung der Regelung des § 543 Abs. 2 ZPO geboten, so dass im Falle einer Offenkundigkeit des Gemeinschaftsrechtsverstoßes die Revision zuzulassen ist. Geschieht dies nicht, kann der Kläger auf das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht zurückgreifen, um zumindest sekundären Rechtsschutz erlangen zu können. (2) Vorrang außerordentlicher Rechtsbehelfe Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, muss sich der Einzelne bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht zunächst an die Fachge645 Die Rechtssache hat in dem Fall grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bzw. § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, vgl. Vorwerk, FS Thode, 645 (650). 646 Der einschlägige Zulassungsgrund ist die Sicherung der Einheit der Rechtsprechung (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO), vgl. Vorwerk, FS Thode, 645 (654 ff.). 647 Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1157, Rn. 84 f. 648 Die Rechtsprechung des BGH zu den Anforderungen an eine Berufungsbegründung im Sinne des § 520 Abs. 3 ZPO ist im Fluss, vgl. insoweit BGH, NJW 2003, 2531 f.; BGH, NJW 2004, 1876 ff.; Stackmann, NJW 2004, 1838; Lechner, NJW 2004, 3593; Kiethe, WRP 2006, 29 (31 ff.).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
richte wenden, um Rechtsschutz zu erlangen. Wird kein Primärrechtsschutz durch die Fachgerichte gewährt, stellt sich die Frage, ob nicht von außerordentlichen Rechtsbehelfen wie der Verfassungsbeschwerde Gebrauch gemacht werden muss, bevor eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung möglich ist. (a) Verfassungsbeschwerde Der BGH hat eine Subsumtion der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG und §§ 13 Nr. 8 a, 90 ff. BVerfGG kodifizierten Verfassungsbeschwerde unter § 839 Abs. 3 BGB bisher abgelehnt649. In der Literatur stößt diese Rechtsprechung jedoch auf Bedenken650. Vor dem Hintergrund, dass das BVerfG verfassungswidrige Urteile nach einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde aufhebt und die Sache ggf. an das zuständige Gericht zurückverweist651, wird vertreten, dass im Fall eines Verstoßes gegen die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG durch ein letztinstanzliches Gericht zunächst die Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) erhoben werden müsse652, bevor eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Betracht komme653. Da der Staat aus völkerrechtlicher bzw. gemeinschaftsrechtlicher Sicht alle seine Organe einschließlich des Bundesverfassungsgerichts einzusetzen habe, um das Gemeinschaftsrecht zu verwirklichen, sei auch die Verfassungsbeschwerde als – bezogen auf die Verletzung der Vorlageverpflichtung nach Art. 234 Abs. 3 EG – innerstaatlich vorrangiger Rechtsbehelf im Rahmen des § 839 Abs. 3 BGB zu berücksichtigen654. Die Anforderungen an eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde, die infolge der Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG erhoben wird, deckten sich zudem auch weitgehend mit den vom EuGH aufgestellten Kriterien für die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für judikatives Unrecht letztinstanzlicher Gerichte655. 649
BGHZ 30, 19 (28). Vgl. Gundel, EWS 2004, 8 (15); Wolf, WM 2005, 1345 (1349); Kiethe, WRP 2006, 29 (30 f.); Ehlers, JZ 1996, 776 (781). 651 Vgl. § 95 Abs. 2 BVerfGG. 652 Die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde ist insoweit möglich, da der EuGH gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist, vgl. BVerfGE 82, 159 (192); BVerfG, WM 2004, 2361 f. 653 Gundel, EWS 2004, 8 (15); Wolf, WM 2005, 1345 (1349); Kiethe, WRP 2006, 29 (30 f.). In der Literatur wird eine Vorschaltung der Verfassungsbeschwerde auch für den Fall eines legislativen Gemeinschaftsrechtsverstoßes gefordert, vgl. Ehlers, JZ 1996, 776 (781 ff.). 654 Kiethe, WRP 2006, 29 (30). 655 Wolf, WM 2005, 1345 (1349). 650
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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Zwar ist Letzteres nicht von der Hand zu weisen656, gleichwohl kann nicht verlangt werden, dass bei Verkennung der Vorlagepflicht zunächst die Verfassungsbeschwerde erhoben wird. Die Verfassungsbeschwerde fungiert mangels einer Einbindung in den Instanzenzug nämlich gerade nicht als Instrument des primären Rechtsschutzes657, sondern stellt einen außerordentlichen Rechtsbehelf dar, der nur subsidiär und als letztes Mittel zum speziellen Schutz der Grundrechte angewandt werden kann658. Gegen eine Vorschaltung der Verfassungsbeschwerde spricht zudem die lange Verfahrensdauer und die engen Zulässigkeitsvoraussetzungen659. Schließlich hat der EuGH festgestellt, dass die Modalitäten des nationalen Rechts nicht darauf hinauslaufen dürfen, dass die Verwirklichung der Staatshaftung übermäßig erschwert wird660. Hinzu kommt, dass sich die Verfahrensgegenstände von Verfassungsbeschwerde und gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftung unterscheiden661. Während für die Verfassungsbeschwerde schon ein bloßer Verstoß gegen die Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EG ausreicht, kommt eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für judikatives Unrecht nur dann in Betracht, wenn deren enge Haftungsvoraussetzungen gegeben sind. Die Missachtung der Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EG ist insoweit lediglich ein Gesichtspunkt, der bei der Prüfung der hinreichenden Qualifikation des Verstoßes zu berücksichtigen ist662. Eine Institutionalisierung des BVerfG als reguläres Kontrollgericht für letztinstanzliche Entscheidungen nationaler Fachgerichte scheidet somit aus663. Das Risiko einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung müssen die Fachgerichte folglich weiterhin selbst tragen. Dies macht auch Sinn, da die Fachgerichte durch das Haftungsrisiko dazu veranlasst werden, die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. Ohne ein solches Risiko bestünde die Gefahr, dass gemeinschaftsrechtliche Normenkollisionen nur anhand nationaler Maßstäbe geprüft werden664. Solange keine 656 Die Kriterien ähneln einander tatsächlich. So prüft das BVerfG, ob das letztinstanzliche Gericht die Vorlageverpflichtung grundsätzlich nicht in Betracht zieht, es bewusst von der Rechtsprechung des EuGH abweicht oder ob es seiner Vorlageverpflichtung nicht nachgekommen ist, obwohl die Rechtsprechung des EuGH die entscheidungserheblichen Fragen des Gemeinschaftsrechts noch nicht erschöpfend beantwortet hat, vgl. BVerfGE 82, 159 (195 f.). 657 Vgl. Schöndorf-Haubold, JuS 2006, 112 (115). 658 Maurer, Staatsrecht, S. 717, Rn. 120. 659 Problematisch ist insbesondere, dass Urteile nur innerhalb eines Monats angegriffen werden können, vgl. § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG. 660 Vgl. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10312, Rn. 58. 661 So auch Schöndorf-Haubold, JuS 2006, 112 (115). 662 EuGH, S. 15, Fn. 3, I-1150, Rn. 55. 663 So auch Storr, DÖV 2004, 545 (550).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
Nichtvorlagebeschwerde zum EuGH665 geschaffen wird, bleibt die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung unabdingbar für den Rechtsschutz des Einzelnen bei judikativen Gemeinschaftsrechtsverstößen letztinstanzlicher Gerichte. Dem Einzelnen steht es jedoch frei, alternativ oder kumulativ zur Staatshaftungsklage die Verfassungsbeschwerde zu erheben, um einen spezifischen Grundrechtsschutz zu erlangen. Überdies kann auf die Verfassungsbeschwerde zurückgegriffen werden, wenn eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung mangels eines Verstoßes gegen eine individualschützende Norm des Gemeinschaftsrechts ausscheiden würde. Soweit das BVerfG die gemeinschaftsrechtswidrige Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts wegen Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG aufhebt und die Sache an das letztinstanzliche Gericht zurückverweist, kann ein ggf. entstandener Schaden rückwirkend entfallen. Gleichwohl kommt eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Betracht, wenn die Nachteile, die aus der gemeinschaftsrechtswidrigen Entscheidung des letztinstanzlichen Gerichts resultieren, nicht angemessen behoben werden oder weitere zusätzliche Schäden auf Seiten des Betroffenen vorliegen666. Verstößt das BVerfG im Rahmen der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde selbst gegen das Gemeinschaftsrecht, kann dies gleichermaßen eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung auslösen667. So ist von einer Letztinstanzlichkeit auszugehen, da keine Rechtsmittel gegen ein Urteil des BVerfG eingelegt werden können668. Eine Vorlageverpflichtung gemäß Art. 234 Abs. 3 EG besteht folglich ebenfalls669. (b) Individualbeschwerde Verletzt ein letztinstanzliches Gericht die Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG, kommt auch eine Individualbeschwerde an den EGMR gemäß Art. 34 EMRK in Betracht. Nach Ansicht des EGMR kann die Weigerung eines letztinstanzlichen Gerichts, ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten, den Anspruch auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzen, insbesondere wenn sie willkürlich erscheint670. 664 Dies warf das BVerfG vor einigen Jahren dem BVerwG vor, vgl. BVerfG, DVBl. 2001, 720. 665 Dazu: Allkemper, S. 209 ff.; Mutke, DVBl. 1987, 403 (405). 666 Vgl. in diesem Zusammenhang EuGH, S. 56, Fn. 181, I-4023, Rn. 53. 667 Zur Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung bei Gemeinschaftsrechtsverstößen des BVerfG: Storr, DÖV 2004, 445 (552). 668 Vgl. Mayer, EuR 2002, 239 (252). 669 Mayer, EuR 2002, 239 (250 ff.); vgl. auch BVerfGE 37, 271 (281) („Solange I“) – das BVerfG rechnet sich selbst zum Kreis der vorlageverpflichteten Gerichte. A. A.: Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (634).
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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Willkür hat der EGMR bislang jedoch nicht annehmen können, weil die Gerichte die Vorlage jeweils diskutiert und mit nachvollziehbaren Gründen verweigert hatten. In Anbetracht dessen ist nicht davon auszugehen, dass im Falle eines Verstoßes gegen die Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG beim EGMR ein weitergehender Rechtsschutz zu erreichen ist als beim BVerfG671. Soweit der EGMR jedoch einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK feststellt, weil die Vorlagepflicht verletzt wurde, ist allerdings seit dem Inkrafttreten des § 580 Nr. 8 ZPO am 31. Dezember 2006672 die Wiederaufnahme eines zivilgerichtlichen Verfahrens möglich. Die Regelung des § 580 Nr. 8 ZPO wurde vom deutschen Gesetzgeber geschaffen, weil Entschädigungsansprüche und die Feststellung der Rechtsverletzung diese nicht in jedem Fall vollständig und befriedigend beheben können673. Die Individualbeschwerde mit der möglichen Konsequenz eines Wiederaufnahmeverfahrens kann letztlich aber ebenso wenig Vorrang vor der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung haben wie die Verfassungsbeschwerde. Es kann dem Geschädigten nicht zugemutet werden, bei Verstößen gegen die Vorlagepflicht eines letztinstanzlichen Gerichts zunächst den EGMR anzurufen, um sodann gegebenenfalls im Wege einer Restitutionsklage die Wiederaufnahme des zivilgerichtlichen Verfahrens erzwingen zu können, da angesichts der langen Verfahrensdauer von effektivem Rechtsschutz nicht die Rede sein kann. Vielmehr muss es dem Geschädigten frei stehen, die Individualbeschwerde alternativ oder kumulativ zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsklage zu erheben. (c) Wiederaufgreifens- und Wiederaufnahmeverfahren Entscheidungen von Verwaltungsbehörden und Gerichten werden nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder dem Ablauf von Rechtsmittelfristen bestands- bzw. rechtskräftig. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege ist es geboten, dass solche Entscheidungen nicht mehr angefochten werden können674. Bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht konfligiert die Bestands- und Rechtskraft allerdings mit dem Prinzip der praktischen Wirk670
Vgl. EGMR v. 23. März 1999, Rs. 41358/98 (Desmonts/Frankreich); EGMR v. 25. Januar 2000, Rs. 44861/98 (Peter Moosbrugger/Österreich); EGMR v. 4. Oktober 2001, Rs. 60350/00 (Nicolas Calena Santiago/Spanien). Abrufbar über http://www.echr.coe.int/echr. 671 Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (637). 672 Diese Regelung führte zur Angleichung der zivilprozessualen Rechtslage an den bereits zuvor in Kraft getretenen, gleich lautenden § 359 Nr. 6 StPO. 673 BT-Drucks. 16/3038, S. 39. 674 Vgl. EuGH, Fn. 72, Rn. 20.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
samkeit des Gemeinschaftsrechts675. Daher stellt sich die Frage, ob nicht ausnahmsweise eine Durchbrechung der Bestands- bzw. Rechtskraft im Wege eines Wiederaufgreifens- bzw. Wiederaufnahmeverfahrens möglich sein sollte und ob die Durchführung solcher Verfahren Vorrang vor der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung hat. Der EuGH hat die Bestands- und Rechtskraft gemeinschaftsrechtswidriger Entscheidungen von Verwaltungsbehörden und Gerichten in verschiedenen Entscheidungen beschränkt. Beispielsweise fordert er eine erleichterte Rücknehmbarkeit von gemeinschaftsrechtswidrigen Bescheiden über mitgliedstaatliche Beihilfen676. In der Rechtssache „Lucchini“677 hat der EuGH diese Rechtsprechung ergänzt. Anders als in den zuvor ergangenen Urteilen stand jedoch nicht die Bestandskraft eines Bewilligungsbescheids der Rückforderung der Beihilfe entgegen, sondern ein rechtskräftiges Zivilgerichtsurteil678. Der Gerichtshof erklärte, dass es trotz eines entgegenstehenden rechtskräftigen Zivilurteils möglich und geboten sei, eine gemeinschaftsrechtswidrige Beihilfe zurückzufordern679. In den Fällen zur Rückforderung von gemeinschaftsrechtswidrigen Beihilfen ging es indes stets um begünstigende Verwaltungsakte, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstießen. In „Kühne & Heitz“680 hat der EuGH allerdings geurteilt, dass eine nationale Verwaltungsbehörde auf Antrag des Betroffenen hin verpflichtet sein könne, eine bestandskräftige belastende Verwaltungsentscheidung, die mit dem Gemeinschaftsrecht nicht zu vereinbaren ist, zu überprüfen. Dies sei der Fall, wenn erstens die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, die Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, zweitens die Entscheidung infolge eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist, drittens das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 234 Abs. 3 EG erfüllt war, und viertens der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat681. Darüber hinaus dürften durch die Rücknahme die Belange Dritter nicht verletzt werden682. Liegen 675
Vgl. Kremer, EuR 2007, 470 (473). Vgl. EuGH v. 20. März 1997, Rs. C-24/95 (Alcan II), Slg. 1997, I-1591. 677 EuGH v. 18. Juli 2007, Rs. C-119/05 (Lucchini), Rn. 63, abrufbar über http://curia.europa.eu. 678 Kremer, EuR 2007, 470 (489). 679 EuGH, Fn. 677, Rn. 63. 680 EuGH v. 13. Januar 2004, Rs. C-453/00 (Kühne & Heitz), Slg. 2004, I-837. 681 EuGH, Fn. 680, I-869, Rn. 28. 682 EuGH, Fn. 680, I-869, Rn. 27. 676
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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diese Voraussetzungen vor, kommt ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 VwVfG in Betracht. In der Rechtssache „Kempter“ hat der EuGH zum Ausdruck gebracht, dass ein Wiederaufgreifen auch dann möglich ist, wenn sich der Betroffene im Rahmen des gerichtlichen Rechtsbehelfs des innerstaatlichen Rechts, den er gegen die Verwaltungsentscheidung eingelegt hatte, nicht auf das Gemeinschaftsrecht berufen hat683. Des Weiteren hat er erklärt, dass die Möglichkeit, einen Antrag auf Überprüfung einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung zu stellen, durch das Gemeinschaftsrecht in zeitlicher Hinsicht nicht beschränkt werde. Die Mitgliedstaaten könnten jedoch im Einklang mit den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen der Effektivität und der Äquivalenz angemessene Rechtsbehelfsfristen festlegen684. Der EuGH hat indes auch klargestellt, dass das Gemeinschaftsrecht nicht in jedem Fall die Rücknahme einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung verlange, denn die Bestandskraft trage zur Rechtssicherheit bei, die zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehöre685. Das Prinzip der Rechtssicherheit tritt jedoch gerade dann gegenüber dem Prinzip der Rechtmäßigkeit zurück, wenn die Bestandskraft aufgrund des Urteils eines letztinstanzlichen Gerichts eingetreten ist, in dem die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit verkannt worden ist, ohne den EuGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG um Vorabentscheidung zu ersuchen. In der Rechtssache „i-21 u. Arcor“686 hatte sich der Gerichtshof schließlich mit der Frage des BVerwG zu befassen, ob eine gemeinschaftsrechtswidrige Verwaltungsentscheidung, die vom Betroffenen zunächst nicht angefochten wurde, ebenfalls aufzuheben ist, wenn das nationale Recht dies zulässt, aber nicht fordert. Der EuGH befand vor dem Hintergrund des Diskriminierungsverbots, dass, wenn nach den für Rechtsbehelfe geltenden nationalen Vorschriften ein nach innerstaatlichem Recht rechtswidriger Verwaltungsakt nach dessen Unanfechtbarkeit zurückzunehmen ist, sofern seine Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ wäre, die gleiche Verpflichtung zur Rücknahme unter den selben Voraussetzungen im Fall eines Verwaltungsakts gelten müsse, der gegen Gemeinschaftsrecht verstößt687. Es muss also eine Rücknahmebefugnis der innerstaatlichen Stellen bestehen, damit eine Rücknahme bestandskräftiger Verwaltungsentscheidungen mög683 EuGH v. 12. Februar 2008, Rs. C-2/06 (Kempter), Rn. 46, abrufbar über http://curia.europa.eu. Dazu: Kanitz/Wendel, EuZW 2008, 231; Weiß, DÖV 2008, 477. 684 EuGH, Fn. 683, Rn. 60. 685 EuGH, Fn. 680, I-868, Rn. 24. 686 EuGH v. 19. September 2006, Rs. C-392/04 u. C-422/04 (i-21 u. Arcor), abrufbar über http://curia.europa.eu. 687 EuGH, Fn. 686, Rn. 63.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
lich ist. Insofern wird zwar der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten respektiert, zugleich wird aber auch die Möglichkeit einer Durchbrechung der Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsentscheidungen in das Belieben der mitgliedstaatlichen Legislative gestellt688. Aus dem Urteil in der Rechtssache „i-21 u. Arcor“ folgt somit, dass in Deutschland bei gemeinschaftsrechtswidrigen Verwaltungsakten, deren Aufrechterhaltung schlechthin unerträglich wäre689, ein Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahren möglich sein muss. In diesem Fall ist von einer Ermessensreduzierung auf „Null“ auszugehen. Ob der Betroffene auch einen Anspruch auf Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens hat, wenn das letztinstanzliche Gericht gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hat, ist dagegen unklar. In der Entscheidung „Kapferer“690 blieb offen, wie diese Frage zu beantworten ist. Nachdem der EuGH erneut auf die Bedeutung des Grundsatzes der Rechtskraft hingewiesen hatte691, wurde die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten betont692. Im Hinblick auf die in „Kühne & Heitz“ festgelegte Voraussetzung, dass die Behörde zur Rücknahme der Verwaltungsentscheidung nach nationalem Recht befugt sein muss, stellte er fest, dass diese Voraussetzung im vorliegenden Fall nicht erfüllt sei693. Nach alledem ist zu konstatieren, dass bei Gemeinschaftsrechtsverstößen eines letztinstanzlichen Gerichts ein Wiederaufnahmeverfahren nur dann durchgeführt werden kann, wenn im nationalen Recht die entsprechende Befugnis vorgesehen ist. Allerdings müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung des Verfahrens für die Klagen dafür sorgen, dass die betreffenden Modalitäten nicht ungünstiger sind als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen (Diskriminierungsverbot), und dass sie nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (Effizienzgebot)694. In Deutschland kann ein Wiederaufnahmeverfahren bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht somit nur auf der Grundlage des bestehenden Rechts eingeleitet werden. Seit dem 31. Dezember 2006 existiert die Regelung des § 580 Nr. 8 ZPO, wonach eine Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig ist, wenn der EGMR eine Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das rechtskräftige Urteil darauf beruht. Diese Regelung kann jedoch nicht dahingehend ausgelegt werden, dass eine Wiederaufnahme auch dann zulässig ist, wenn der 688 689 690 691 692 693 694
Vgl. Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (639). Vgl. BVerwGE 28, 122 (127 f.). EuGH, Fn. 72. EuGH, Fn. 72, Rn. 20. EuGH, Fn. 72, Rn. 21. EuGH, Fn. 72, Rn. 23. EuGH, Fn. 72, Rn. 22.
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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EuGH einen Gemeinschaftsrechtsverstoß feststellt695, da sie als Ausnahmeregelung, die zu einer Durchbrechung der Rechtskraft führt, restriktiv auszulegen ist. Der Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit muss grundsätzlich dem Gesetzgeber überlassen bleiben696. Das Gleiche gilt für die Regelung des § 580 Nr. 6 ZPO697. Eine Wiederaufnahme ist in Deutschland bei rechtskräftigen gemeinschaftsrechtswidrigen Urteilen somit nicht möglich. In den anderen Mitgliedstaaten ist die Wiederaufnahme allerdings ähnlich restriktiv geregelt698. Kann die Rechtskraft eines letztinstanzlichen Urteils nicht durchbrochen werden, obwohl dieses offenkundig gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt, besteht für den Betroffenen zumindest die Möglichkeit, im Wege der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung sekundären Rechtsschutz zu erlangen. Der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung kommt insofern also eine Art Auffangfunktion zu. Vor diesem Hintergrund konnte der EuGH in „Kapferer“ auch ohne weiteres die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten anerkennen. Ist es dem Betroffenen hingegen möglich, im Rahmen eines Wiederaufgreifens- oder Wiederaufnahmeverfahrens eine bestands- oder rechtskräftige Entscheidung anzufechten, stellt sich die Frage, ob alternativ nicht gleich auf das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht zurückgegriffen werden kann. Dagegen spricht jedoch der Umstand, dass im Wege eines Wiederaufgreifens- oder Wiederaufnahmeverfahrens das ursprüngliche Rechtsschutzziel noch erreicht werden kann. Von einem Vorrang dieser Verfahren kann gleichwohl nicht ausgegangen werden699. Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung kann nicht schon deswegen präkludiert sein, weil eine bestands- oder rechtskräftige Entscheidung des innerstaatlichen Rechts nicht mittels eines Wiederaufgreifens- oder Wiederaufnahmeantrags angegriffen wurde, da sich der Einzelne auf die Bestands- oder Rechtskraft einer Entscheidung verlassen darf. Ihm kann nicht vorgehalten werden, dass er die Möglichkeit des Wiederaufgreifens oder der Wiederaufnahme nicht genutzt hat. Vielmehr hat der Einzelne die Wahl zwischen einem Wiederaufgreifens- bzw. Wiederaufnahmeantrag und der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung.
695
Kremer, EuR 2007, 470 (479); Poelzig, JZ 2007, 858 (862 f.). Musielak, in: Musielak, § 578, Rn. 1. 697 Vgl. Schumann, NJW 1964, 753 (754); Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, § 578, Rn. 4. 698 Poelzig, JZ 2007, 858 (864). 699 Vgl. BGHZ 137, 11 (22). 696
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
(d) Vertragsverletzungsverfahren Auch ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß den Art. 226 ff. EG hat keinen Vorrang vor einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung700. Der EuGH hat dies in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ klargestellt. So erklärte er, dass es im Widerspruch zum Grundsatz der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts stünde, wenn der Schadensersatz davon abhängig gemacht würde, dass der Gerichtshof zuvor einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht feststellt. Ein Entschädigungsanspruch wäre nämlich ausgeschlossen, solange der mutmaßliche Verstoß nicht Gegenstand einer Verurteilung durch den Gerichtshof geworden ist701. Auch in „Danske Slagterier" hat der EuGH zum Ausdruck gebracht, dass ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 226 EG keinen Vorrang vor einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung hat702. Hinzu kommt, dass der Einzelne selbst nicht in der Lage ist, ein Vertragsverletzungsverfahren anzustrengen. Nur die Kommission und die Mitgliedstaaten sind hierzu gemäß Art. 226 und 227 EG befugt. Von einem außerordentlichen Rechtsbehelf des Einzelnen kann also keine Rede sein. Ein Urteil des Gerichtshofs in einem vorherigen Vertragsverletzungsverfahrens kann allerdings für die Annahme einer hinreichenden Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes von Bedeutung sein. So ist ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht offenkundig qualifiziert, wenn er trotz des Erlasses eines Feststellungsurteils gemäß Art. 228 Abs. 1 EG fortbestanden hat703. ff) Die Schadensersatzregelungen Zu prüfen ist weiterhin, ob die Schadensersatzregelungen der §§ 249 ff. BGB und der §§ 842 ff. BGB im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrecht Anwendung finden können. (1) Art des Schadensersatzes Gemäß § 249 Abs. 1 BGB hat der Schädiger im Rahmen des Schadensersatzes grundsätzlich Naturalrestitution zu leisten. Er hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Nur ausnahmsweise kann gemäß den §§ 249 700 Ossenbühl, DVBl. 1992, 996; Geiger, DVBl. 1993, 469; Kopp, DÖV 1994, 204; Jarass, NJW 1994, 882. 701 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1159, Rn. 95. 702 EuGH, S. 74, Fn. 274. 703 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1150, Rn. 57.
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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Abs. 2, 250 BGB auch Schadensersatz in Geld zu leisten sein. Im Rahmen des Amtshaftungsrechts wird eine Naturalrestitution dagegen unter Hinweis auf die Konstruktion des Amtshaftungsanspruchs als eine auf den Staat übergeleitete Beamtenhaftung abgelehnt704. Hintergrund ist, dass hoheitliches Handeln auf dem zu beschreitenden Zivilrechtsweg nicht erzwingbar ist705. Dieser Rechtsweg muss auch zur Durchsetzung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs eingeschlagen werden706. In Anbetracht dessen erscheint es äußerst fraglich, ob der deutsche Staat dazu verpflichtet werden kann, im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Naturalrestitution zu leisten. Im Schrifttum gibt es indes nicht wenige Vertreter, die hiervon ausgehen707. Zur Begründung wird auf die anzustrebende Kohärenz zur Gemeinschaftshaftung nach Art. 288 Abs. 2 EG verwiesen, in deren Rahmen Naturalrestitution zu gewähren sei708. Eine solche Begründung ist jedoch zurückzuweisen. Zum einen ist streitig, ob die Naturalrestitution bei einer Eigenhaftung der EG in Betracht kommt709, zum anderen bezieht sich das Kohärenzgebot710 nur auf den „Rumpftatbestand“ der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung und nicht auf die formellen und materiellen Haftungsregelungen des nationalen Rechts711, die im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts Anwendung finden können712. Für die Möglichkeit einer Naturalrestitution könnte allerdings sprechen, dass der EuGH in den Entscheidungen „Bonifaci u. a.“, „Palmisani“ und „Maso u. a.“ festgestellt hat, dass der entstandene Schaden durch eine rückwirkende, ordnungsgemäße und vollständige Anwendung der Maßnahmen zur Durchführung der Richtlinie angemessen wiedergutgemacht wird713. Dieser Judikatur lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass ein Staat auch verpflichtet sein kann, eine Wiedergutmachung durch die rückwirkende Umsetzung einer Richtlinie herbeizuführen. Die Entscheidungen ergingen viel704
Jarass, NJW 1994, 881 (884). Säuberlich, S. 188. 706 Näheres zum Rechtsweg bei der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung: 4. Teil, C., II., 4., b), cc). 707 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 288 EGV, Rn. 72; Detterbeck, in: Detterbeck/Windthorst/Sproll, S. 69, Rn. 72; Beljin, S. 70; Hidien, S. 65; Bertelmann, S. 216 f.; Binia, S. 108; Prieß, NVwZ 1993, 118 (123). 708 Bertelmann, S. 216 f. 709 Für eine Naturalrestitution sprechen sich aus: Berg, in: Schwarze, Art. 288 EG, Rn. 65; Wurmnest, S. 235; Detterbeck, AöR 125 (2000), 202 (217). A. A.: Gellermann, in: Streinz, Art. 288 EG, Rn. 29; Geiger, EUV/EGV, Art. 288 EGV, Rn. 15. 710 Vgl. die Ausführungen zur Kohärenz der Haftungssysteme: 4. Teil, B., II., 2. 711 Wurmnest, S. 90. 712 Vgl. EuGH, S. 15, Fn. 2, I-5415, Rn. 42 f. 713 EuGH, S. 56, Fn. 181, I-4022, Rn. 51 ff.; EuGH, S. 81, Fn. 308, I-4074, Rn. 39 ff.; EuGH, S. 35, Fn. 65, I-4048, Rn. 35. 705
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
mehr in Fällen, in denen der Staat eine nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie zum Zeitpunkt des EuGH-Urteils bereits in nationales Recht transformiert hatte. Der Gerichtshof hat diesbezüglich erklärt, dass der entstandene Schaden nur durch die rückwirkende Richtlinienumsetzung behoben wird, sofern keine zusätzlichen Schäden geltend gemacht werden714. Wird eine Richtlinie rückwirkend umgesetzt, wirkt sich dies also auf den Umfang des Schadensersatzes aus. Es sind allenfalls noch zusätzliche Schäden zu ersetzen. Über die Art des zu leistenden Schadensersatzes ist damit allerdings noch nichts gesagt715. Die in Rede stehende Rechtsprechung belegt somit nicht, dass im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Naturalrestitution zu gewähren ist. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die amtshaftungsrechtliche Beschränkung auf Schadensersatz in Geld vom EuGH für gemeinschaftsrechtsrechtswidrig erklärt wird716. So ist es der Effektivität des Rechtsschutzes nicht abträglich, wenn den Staat nur eine Geldleistungspflicht trifft. Vielmehr stellt die Geldleistung eine gleichwertige Schadensersatzart dar. Die Rechtsordnungen des „common law“ kennen eine Naturalrestitution nicht einmal717. Gegen die Gewährung von Naturalrestitution spricht schließlich auch, dass der Unterschied zwischen primärem und sekundärem Rechtsschutz verloren ginge. Die Naturalrestitution wirkt sich nämlich so aus, als hätte der Geschädigte primären Rechtsschutz erlangt. Bei judikativem Unrecht etwa würde der Geschädigte in den Zustand versetzt, der bei Ergehen eines gemeinschaftsrechtskonformen Gerichtsurteils bestehen würde (status quo ante)718. Die Rechtskraft des letztinstanzlichen Urteils würde dadurch unterlaufen. Dem steht jedoch die Feststellung des EuGH in „Köbler“ entgegen, wonach die Anerkennung des Grundsatzes der Staatshaftung für Entscheidung letztinstanzlicher Gerichte die Rechtskraft einer solchen Entscheidung nicht in Frage stelle. Zudem hat der EuGH klargestellt, dass der Kläger die Verurteilung des Staates zum Ersatz des entstandenen Schadens erlangt, wenn er mit einer Haftungsklage obsiegt, aber nicht zwangsläufig die Aufhebung der Rechtskraft der Gerichtsentscheidung, die den Schaden verursacht hat. Jedenfalls verlange der der Gemeinschaftsrechtsordnung innewohnende Grundsatz der Staatshaftung eine solche Entschädigung, nicht aber die Abänderung der schadensbegründenden Gerichtsentscheidung719. 714
EuGH, S. 56, Fn. 181, I-4023, Rn. 53. Vgl. Säuberlich, S. 189. 716 A. A.: Kling, Jura 2005, 298 (304) – Verfasser hält es für möglich, dass der EuGH das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht dahingehend entwickelt, dass im Einzelfall auch Naturalrestitution gewährt werden kann. 717 Wurmnest, S. 236. 718 Bertelmann, Fn. 1277. 719 EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10307, Rn. 39. 715
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Eine Aufhebung der Rechtskraft einer letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung kann grundsätzlich nur dann herbeigeführt werden, wenn das innerstaatliche Recht eine Wiederaufnahme bzw. ein Wiederaufgreifen des Verfahrens zulässt720. Der EuGH hat in „Kühne & Heitz“721 die insoweit bestehende Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten ausdrücklich anerkannt722. Diese Verfahrensautonomie würde konterkariert, wenn die Rechtskraft einer letztinstanzlichen Entscheidung im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung keine Beachtung fände. Daher ist es geboten, auch im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts auf die amtshaftungsrechtliche Beschränkung des Schadensersatzes auf Geldersatz abzustellen723. Bei der Anwendung der §§ 249 ff. und 842 ff. BGB ist dies zu berücksichtigen. (2) Umfang des Schadensersatzes / Zinsen Der EuGH hat sich in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ konkret zum Umfang des zu leistenden Schadensersatzes geäußert. Er befand, dass der Ersatz der Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, dem erlittenen Schaden angemessen sein müsse, so dass ein effektiver Schutz der Rechte des Einzelnen gewährleistet ist724. Es sei Sache der Mitgliedstaaten, unter Berücksichtigung des Diskriminierungsverbotes und Effizienzgebotes Kriterien festzulegen, anhand deren der Umfang der Entschädigung bestimmt werden kann725. In diesem Zusammenhang stellte der Gerichtshof auch fest, dass ein Mitverschulden des Geschädigten geprüft werden könne726. Des Weiteren wurde erklärt, dass es gerade im Hinblick auf Rechtsstreitigkeiten wirtschaftlicher oder kommerzieller Natur nicht zulässig sein könne, den entgangenen Gewinn bei einem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vollständig vom ersatzfähigen Schaden auszuschließen727. Eine Anwendung des § 252 BGB kommt demnach grundsätzlich in Betracht. Wollte der Geschädigte das vorenthaltene Geld gewinnbringend anlegen, kann er als entgangenen Gewinn die Zinsen er720 721 722
Vgl. 4. Teil, C., II., 4., a), ee), (2), (c). EuGH, Fn. 680. Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533 (541); zweifelnd Poelzig, JZ 2007, 858
(861). 723 Vgl. auch Müller-Graff, From Francovich to Köbler, 153 (163); Säuberlich, S. 188 f. 724 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1156, Rn. 82. 725 Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1157, Rn. 83. 726 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1157, Rn. 84 f.; Näheres dazu sogleich im 4. Teil, C., II., 4., a), gg). 727 EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1156, Rn. 87.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
setzt verlangen, die ihm ansonsten gezahlt worden wären728. Solche Ausgleichszinsen kennzeichnet, dass sie den Ersatz des aus dem Verzug resultierenden Vermögensschaden betreffen. Sie sind beispielsweise auch dann zu gewähren, wenn Zinsen für eine notwendig gewordene Kreditaufnahme zu entrichten waren729. Davon zu unterscheiden sind Verzugszinsen, die dem Geschädigten für die Zeit bis zur Leistung des geschuldeten Schadensersatzes gezahlt werden müssen, weil jener nicht über die Schadenssumme verfügen konnte. Die Höhe dieser Zinsen liegt gemäß § 288 BGB bei 5 % bzw. 8 % über dem Basiszinssatz. Zinseszinsen sind nach § 289 BGB nicht zu entrichten. Neben dem Anspruch auf Verzugszinsen kommt gemäß § 291 BGB auch ein Anspruch auf Prozesszinsen in Betracht, der mit Rechtshängigkeit der Klage entsteht. Allerdings können Verzugs- und Prozesszinsen nicht kumulativ geltend gemacht werden730. In der Rechtssache „Sutton“731 hatte sich der EuGH konkret mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich der Anspruch auf Zahlung von Verzugszinsen auf rückständige Leistungen der sozialen Sicherheit aus dem Grundsatz der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung ergeben kann. Der Gerichtshof beantwortete die Frage jedoch nicht, sondern zeigte bloß auf, unter welchen Voraussetzungen sich ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch ergeben kann732. Es sei Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob ein solcher Anspruch gegeben ist733. In der Entscheidung „Metallgesellschaft u. a.“734 ging es dagegen um Ausgleichszinsen. So stellte der EuGH fest, dass es anders als in der Rechtssache „Sutton“ gerade die Zinsen seien, die den wesentlichen Bestandteil des geltend gemachten Anspruchs darstellten735. Unter Berufung auf das Urteil „Marshall II“736 bekräftigte er sodann, dass die Zuerkennung von Zinsen ein unerlässlicher Bestandteil einer Entschädigung sei, die die tatsächliche Gleichbehandlung wiederherstellen solle737. In Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falls sei daher die Zuerkennung von Zinsen für den Ersatz des entstandenen Schadens unerlässlich738. Während die Gewährung von Ausgleichszinsen im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts unabdingbar scheint, können 728 729 730 731 732 733 734 735 736 737 738
Wurmnest, S. 244. Wurmnest, S. 253. RGZ 92, 283 (285); OLG Saarbrücken, NJW-RR 1987, 470 (471). EuGH, S. 54, Fn. 174. EuGH, S. 54, Fn. 174, I-2190, Rn. 31 ff. EuGH, S. 54, Fn. 174, I-2191, Rn. 34. EuGH, S. 63, Fn. 223. EuGH, S. 63, Fn. 223, I-1787, Rn. 93. EuGH v. 2. August 1993, Rs. C-271/91 (Marshall II), Slg. 1993, I-4367. EuGH, S. 63, Fn. 223, I-1787, Rn. 94. EuGH, S. 63, Fn. 223, I-1788, Rn. 95.
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Verzugs- oder Prozesszinsen also nur dann verlangt werden, wenn das nationale Recht entsprechende Regelungen vorsieht, es sei denn, der Ersatz der Schäden würde ohne jene Zinsen nicht angemessen erscheinen. Dies wäre etwa der Fall, wenn aufgrund der Inflation die zu zahlende Schadensersatzsumme erheblich entwertet worden ist739. In Deutschland müssen jedenfalls Verzugs- und Prozesszinsen im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung gezahlt werden, da die einschlägigen Vorschriften schon wegen des Diskriminierungsverbotes zur Anwendung zu bringen sind. Im Einzelfall kann dies erhebliche Auswirkungen auf den Umfang des Schadensersatzes haben. Andererseits kann sich die Höhe des zu leistenden Schadensersatzes auch dadurch reduzieren, dass beispielsweise eine Richtlinie rückwirkend in nationales Recht transformiert wird740. gg) Die Mitverschuldensregelung Wie bereits erwähnt wurde, findet ein Mitverschulden des Geschädigten im gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrecht ebenfalls Berücksichtigung. Der EuGH hat festgestellt, dass sich der Geschädigte in angemessener Form um die Verhinderung des Schadenseintritts oder die Begrenzung des Schadensumfangs bemühen müsse, denn es sei ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass sich der Geschädigte in angemessener Form um die Begrenzung des Schadensumfangs zu bemühen hat, wenn er nicht Gefahr laufen will, den Schaden selbst tragen zu müssen741. Dieser Grundsatz liegt auch der Regelung des § 254 BGB zugrunde742. Gegen ihre Anwendung lässt sich somit nichts einwenden743. Eine Berücksichtigung des Mitverschuldens ist unerlässlich, damit der Geschädigte nicht auf Kosten des Schädigers spekulieren kann744. Die mitgliedstaatliche Ersatzpflicht kann folglich gemindert oder ausgeschlossen sein, wenn sich der Geschädigte nicht in angemessener Form um die Verhinderung oder Begrenzung des Schadens bemüht hat. Das Prinzip der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts muss allerdings auch in diesem Zusammenhang beachtet werden745. So 739 Durch die Gewährung von pauschalen Verzugszinsen kann ein Inflationsausgleich herbeigeführt werden, vgl. Wurmnest, S. 244 ff. 740 Vgl. 4. Teil, C., II., 4., a), ff), (1). 741 Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1157, Rn. 84 f.; EuGH, S. 49, Fn. 145, I-4890, Rn. 72 f. 742 Vgl. die Ausführungen zum Rechtsgedanken des § 254 BGB bei: Heinrichs, in: Palandt, § 254, Rn. 1. 743 BGHZ 156, 294 (298); Dörr, DVBl 2006, 598 (603); Herdegen/Rensmann, ZHR 1997, 522 (554); Streinz, Jura 1995, 6 (12); Hailbronner, JZ 1992, 284 (289). 744 Mankowski, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, S. 756, Rn. 124. 745 Hidien, S. 61; Wehlau, S. 66; Detterbeck, AöR 125 (2000), 202 (246).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
kann dem Geschädigten nicht vorgeworfen werden, dass er Selbstschutzmaßnahmen unterlassen hat, die vom verletzten Rechtsakt des Gemeinschaftsrechts als nicht geeignet eingestuft werden, um der regulierten Gefahr zu begegnen. In diesem Zusammenhang lehnte der EuGH in „Dillenkofer u. a.“ ein Mitverschulden des Geschädigten ab, da ein Pauschalreisender nicht allein deshalb als nachlässig angesehen werden könne, weil er nicht gemäß dem „Vorkasse“-Urteil des BGH vom 12. März 1987746, das nicht den Anforderungen der Pauschalreiserichtlinie747 genügte, von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hatte, nicht mehr als 10 % des gesamten Reisepreises zu zahlen, bevor er werthaltige Unterlagen erhalten hat748. Dem Geschädigten kann überdies nicht das Unterlassen von Selbstschutzmaßnahmen vorgehalten werden, wenn der verletzte Gemeinschaftsrechtsakt diese dem Geschädigten gerade abnehmen will749. Das LG Bonn verneinte daher ein Mitverschulden der Kläger, die bei einer einem Einlagensicherungssystem nicht angehörenden Bank eine Einlage geleistet hatten, da die Einlagensicherungs-Richtlinie750 den Kunden gerade davor schützen solle, dass dieser sein Geld bei einem Kreditinstitut anlegt, das einem Einlagensicherungssystem nicht angehört751. hh) Die Verjährungsregelung Die seit dem Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes752 im Jahr 2002 geltende Verjährungsregelung der §§ 195, 199 Abs. 1 BGB kann ebenfalls im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts Anwendung finden753. (1) Anwendbarkeit der §§ 195, 199 Abs. 1 BGB Bis zur Schuldrechtsreform beurteilte sich die Verjährung von Amtshaftungsansprüchen nach § 852 Abs. 1 BGB a. F., der eine dreijährige Verjährungsfrist vorsah. Nunmehr richtet sich die Verjährung von Amtshaftungs746
BGHZ 100, 157. Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, ABl. L 158, S. 59. 748 EuGH, S. 49, Fn. 145, I-4890, Rn. 73, 67. 749 Vgl. LG Bonn, EuZW 1999, 732 (735). 750 Richtlinie 94/19/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30. Mai 1994, ABl. L 135, S. 5. 751 LG Bonn, EuZW 1999, 732 (735). 752 BGBl. I 2001, S. 3138. 753 Vgl. Bertelmann, S. 219 f.; Säuberlich, S. 187; Mankowski, in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, S. 759, Rn. 131. 747
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ansprüchen zwar nicht mehr nach § 852 Abs. 1 BGB, die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt gemäß § 195 BGB allerdings ebenfalls drei Jahre. Diese beginnt nach § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres der Anspruchsentstehung und Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis des Geschädigten von den anspruchsbegründenden Umständen. In der Literatur wird zwar teilweise eine Anwendung der fünfjährigen Verjährungsfrist des Art. 43 der EuGH-Satzung befürwortet, da dies aus Gründen der Kohärenz zur Gemeinschaftshaftung gemäß Art. 288 Abs. 2 EG geboten sei754. Dagegen spricht jedoch wiederum, dass sich das Kohärenzgebot nur auf die haftungsbegründenden Voraussetzungen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung bezieht, die der EuGH vorgegeben hat, und nicht auf die haftungsausfüllenden des nationalen Rechts755, zu denen die Verjährungsregelung der §§ 195, 199 Abs. 1 BGB zweifelsohne zählt. Zwar wäre die Anwendung von Art. 43 der EuGH-Satzung sinnvoll, um die einheitliche Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts in den Mitgliedstaaten zu forcieren, solange die Frage der Verjährung des Haftungsanspruchs den nationalen Rechtsordnungen überlassen bleibt, kommt diesem Aspekt allerdings nur eine rechtspolitische Bedeutung zu756. Eine Verjährungsfrist von drei Jahren ist entgegen einer Ansicht in der Literatur757 auch nicht zu kurz bemessen. Abgesehen davon, dass in „Palmisani“ sogar eine Jahresfrist als zulässig erachtet worden ist758, hat der Gerichtshof in „Danske Slagterier“ explizit festgestellt, dass eine nationale Verjährungsfrist von drei Jahren wie die des § 852 Abs. 1 BGB a. F. angemessen ist. In diesem Zusammenhang hat er betont, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei759. Der EuGH hat indes erklärt, dass eine Verjährungsfrist im Voraus festgelegt sein müsse, um ihren Zweck, die Gewährleistung der Rechtssicherheit, zu erfüllen. Eine durch erhebliche Rechtsunsicherheit geprägte Situation könne einen Verstoß gegen das Effizienzgebot darstellen, da der Ersatz von Schäden außerordentlich erschwert werden könnte, wenn diese nicht in der Lage wären, die anwendbare Verjährungsfrist mit hinreichender Sicherheit zu ermitteln760. Der EuGH 754
Müller-Graff, From Francovich to Köbler, 153 (163). Wurmnest, S. 90. 756 So auch Bertelmann, S. 219. 757 Detterbeck, in: Detterbeck/Windthorst/Sproll, S. 71, Rn. 79; ders., VerwArch 1994, 159 (191); Kopp, DÖV 1994, 201 (206); Prieß, NVwZ 1993, 118 (124); Binia, S. 238; Ossenbühl, S. 520. A. A.: Deckert, EuR 1997, 203 (233); Huff, NJW 1996, 3190 (3191); Herdegen/Rensmann, ZHR 161 (1997), 522 (554). 758 EuGH, S. 35, Fn. 65, I-4046, Rn. 28 f. 759 EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 32. 760 EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 33. 755
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überließ in „Danske Slagterier“ dem BGH die Beurteilung, ob die Anwendung der Verjährungsfrist des § 852 Abs. 1 BGB a. F. hinreichend vorhersehbar war761. Hiervon ist jedoch auszugehen, denn diese Frist galt in Deutschland seit jeher im Fall von Amtspflichtverletzungen. (2) Verjährungsbeginn bei Gemeinschaftsrechtsverstößen Wann die Verjährung bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht konkret einsetzt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei judikativem Unrecht beginnt die Verjährungsfrist frühestens mit der Bekanntgabe des letztinstanzlichen Urteils zu laufen, das offensichtlich im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht steht762. Von einer Kenntnis bzw. grob fahrlässigen Unkenntnis der anspruchsbegründenden Umstände im Sinne des § 199 Abs. 1 BGB kann allerdings erst dann ausgegangen werden, wenn der Geschädigte die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des letztinstanzlichen Urteils erkannt hat bzw. hätte erkennen müssen763. Bei legislativem Unrecht verhält es sich dagegen etwas anders. Wurde eine Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt, ist für den Fristbeginn der Ablauf der Umsetzungsfrist bzw. das Inkrafttreten des gemeinschaftsrechtswidrigen Transformationsgesetzes maßgeblich. Eine Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis ist insoweit erst dann anzunehmen, wenn sich der Geschädigte im tatsächlichen Schadensfall mit seinen Rechten befasst hat und erkennt bzw. hätte erkennen müssen, dass er auf andere Weise keinen Schadensersatz erlangen kann764. Es ist demnach nicht möglich, dass die Verjährungsfrist zu laufen beginnt oder sogar schon abgelaufen ist, ohne dass der Geschädigte überhaupt weiß, dass er einen Schaden erlitten hat765. Wann die jeweilige Richtlinie letztlich ordnungsgemäß in das nationale Recht transformiert wird, ist für den Verjährungsbeginn grundsätzlich unbeachtlich. Der EuGH hat in „Danske Slagterier“ entschieden, dass die Verjährungsfrist für einen Staatshaftungsanspruch wegen fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie zu dem Zeitpunkt in Lauf zu setzen sei, in dem die ersten Schadensfolgen der fehlerhaften Umsetzung eingetreten und weitere Schadensfolgen absehbar sind, selbst wenn dieser Zeitpunkt vor der ord761
EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 33. Vgl. Bertelmann, S. 220. 763 Ergibt sich die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit aus der ständigen Rechtsprechung des EuGH, kann in der Tat die Bekanntgabe des letztinstanzlichen Urteils den Lauf der Verjährungsfrist auslösen. Muss die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit noch durch den EuGH festgestellt werden, ist für den Verjährungsbeginn die Veröffentlichung der EuGH-Entscheidung maßgeblich, vgl. Lembach, S. 320. 764 Säuberlich, S. 187. 765 Vgl. EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 52. 762
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nungsgemäßen Umsetzung dieser Richtlinie liegt766. Wenn den Geschädigten wie in der Rechtssache „Emmot“767 jegliche Möglichkeit genommen wird, ihre Ansprüche vor den nationalen Gerichten geltend zu machen, kann die Verjährungsfrist jedoch ausnahmsweise erst mit der ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie beginnen768. (3) Hemmung und Unterbrechung der Verjährung In der Rechtssache „Danske Slagterier“ hat sich der EuGH auch mit der Frage zu befassen gehabt, ob die Verjährung durch die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage gemäß Art. 226 EG gehemmt oder unterbrochen wird. Zunächst stellte er insoweit fest, dass es Sache der Mitgliedstaaten sei, diese Art von Verfahrensmodalitäten zu regeln, sofern das Diskriminierungsverbot und das Effizienzgebot beachtet werden769. Sieht das nationale Recht keine Hemmung bzw. Unterbrechung der Verjährung für den Fall eines Vertragsverletzungsverfahrens vor, ist jedoch kein Verstoß gegen das Effizienzgebot anzunehmen. So hat der Gerichtshof in „Danske Slagterier“ festgestellt, dem Einzelnen werde die Ausübung der ihm durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte nicht dadurch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert, dass die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage nicht die Verjährung unterbricht oder hemmt770. Diese Feststellung verwundert keineswegs, schließlich hat der EuGH bereits in „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ entschieden, dass die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nicht von einem Urteil in einem Vertragsverletzungsverfahren abhängig gemacht werden könne771. Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot liegt ebenfalls nicht vor. Die Organisation Danske Slagterier hatte im Rahmen des Verfahrens vor dem EuGH einen solchen Verstoß gerügt, da die Verjährung bei einem Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 226 EG anders als bei einer Amtshaftungsklage gemäß Art. 34 S. 1 GG i. V. m. § 839 BGB nicht unterbrochen werde. Der Gerichtshof ging in Anbetracht der Besonderheiten des Vertragsverletzungsverfahrens allerdings nicht von einer Gleichartigkeit der Verfahren aus772.
766 767 768 769 770 771 772
EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 56. EuGH, S. 78, Fn. 292. EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 53 ff. EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 36. EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 39. Vgl. EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 37. Vgl. die Ausführungen des EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 42 ff.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
ii) Sonstige Haftungsbeschränkungen Sonstige Haftungsbeschränkungen des deutschen Rechts wie die Regelungen des § 5 Nr. 1 und 2 Reichsbeamtenhaftungsgesetz (RBHG)773 finden im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts keine Anwendung, wenn der Gemeinschaftsrechtsverstoß hinreichend qualifiziert ist. Im Hinblick auf die Urteile des EuGH in den Rechtssachen „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ und „Traghetti del Mediterraneo“ kann nichts anderes gelten774. b) Die Anwendbarkeit formellen Rechts Im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts finden nicht nur materielle Vorschriften des deutschen Rechts Anwendung, sondern auch formelle Regelungen. aa) Die Regelung der Aktivlegitimation Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch kann vor deutschen Gerichten nur dann geltend gemacht werden, wenn der Geschädigte anspruchsberechtigt ist. Anspruchsberechtigt sind seit der Reform des RBHG im Jahr 1993 alle Unionsbürger, unabhängig davon, wo sie ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben775. Der EuGH hatte zuvor bereits klargestellt, dass die Staatshaftung nicht von der Staatsangehörigkeit des Geschädigten abhängig gemacht werden dürfe, wenn dieser in Ausübung der Dienstleistungsfreiheit eingereist ist776. Staatsangehörige von Nicht-EUStaaten verfügen im Grundsatz ebenfalls über eine Anspruchsberechtigung. Bei nicht vorhandener Gegenseitigkeit kann die Haftung des deutschen Staates allerdings gemäß § 7 Abs. 1 RBHG per Rechtsverordnung ausgeschlossen werden. Zumindest in gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht bestehen insoweit keine Bedenken, da nur die Gleichbehandlung der Unionsbürger sichergestellt sein muss. Überdies ist der Ausschluss der Staatshaftung durch Rechtsverordnung Ausdruck der völkerrechtlichen Retorsion, denn sie betrifft die außenpolitische Stellung der Mitgliedstaaten und ihre völkerrechtliche Bewegungsfreiheit777. Bislang hat die Bundesregierung jedoch 773 Danach entfällt unter bestimmten Voraussetzungen die Staatshaftung im Bereich des Bundesrechts bei Gebührenbeamten und Beamten im Auswärtigen Dienst. 774 Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1156, Rn. 79; EuGH, Fn. 518, Rn. 46. 775 Vgl. § 7 Abs. 2 RBHG. 776 EuGH v. 2. Februar 1989, Rs. 186/87 (Cowan), Slg. 1989, 195 (220, Rn. 14 ff.). 777 Ossenbühl, S. 520.
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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keinen Gebrauch von der Ermächtigung des § 7 Abs. 1 RBHG gemacht778. Derzeit kann der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch in Deutschland also geltend gemacht werden, ohne dass es auf die Staatsangehörigkeit ankommt. Landesrechtliche Bestimmungen, die gemäß Art. 77 EGBGB erlassen wurden und Haftungsbeschränkungen gegenüber Ausländern vorsahen, sind inzwischen ersatzlos aufgehoben oder durch eine § 7 Abs. 1 RBHG entsprechende Regelung ersetzt worden779. bb) Die Regelung der Passivlegitimation Gemäß Art. 34 S. 1 GG haftet für Amtspflichtverletzungen grundsätzlich der Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst der Amtsträger steht. Unter Staat sind der Bund und die Länder zu verstehen. Die Amtshaftung trifft letztendlich jedoch nicht den Staat schlechthin, sondern aufgrund ihres derivativen Charakters die Körperschaft, der das Verhalten des Amtsträgers zuzurechnen ist780. Körperschaften im Sinne des Art. 34 S. 1 GG sind alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts781, zu denen auch der Bund und die Länder zählen782. Im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts könnte hingegen ausschließlich die Bundesrepublik Deutschland als Gesamtstaat passiv legitimiert sein. Hierfür spricht, dass in den Entscheidungen des EuGH regelmäßig nur von der Haftung der Mitgliedstaaten die Rede ist783. Im Urteil „Konle“ hat der EuGH jedoch festgestellt, dass ein bundesstaatlich aufgebauter Mitgliedstaat seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen auch dann erfüllen könne, wenn nicht der Gesamtstaat den Ersatz der einem Einzelnen durch gemeinschaftsrechtswidrige innerstaatliche Maßnahmen sicherstellt784, sondern ein einzelnes Bundesland785. In den Rechtssachen „Haim II“ und „Gervais Larsy“ hat der Gerichtshof überdies verdeutlicht, dass auch andere juristische Personen des öffentlichen Rechts, die bestimmte Gesetzgebungs- oder Verwaltungsaufgaben dezentralisiert wahrnehmen, Anspruchsgegner sein können786. Folglich ist auch eine Gemeinde passiv legitimiert787. Gleichwohl ist von einer grundsätzlichen Verantwortlichkeit des Gesamtstaates auszugehen, da nur er 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787
Tremml/Karger, S. 58, Rn. 244. Maurer, S. 677, Rn. 36. Vgl. Tremml/Karger, S. 239, Rn. 1039. Maurer, S. 653, Rn. 41. Tremml/Karger, S. 239, Rn. 1040. So auch Gundel, DVBl. 2001, 95. EuGH, S. 58, Fn. 192, I-3140, Rn. 64. Dörr, DVBl. 2006, 598 (603). EuGH, S. 98, Fn. 422, I-5160, Rn. 31; EuGH, S. 100, Fn. 434, I-5098, Rn. 35. BGHZ 146, 153.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
Vertragspartner des EG-Vertrags ist788. Bei der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung handelt es sich um eine originäre Verbandshaftung und nicht um eine derivative Haftung, die am Verhalten des Amtsträgers anknüpft789. Dies gilt es bei der Anwendung des Art. 34 S. 1 GG zu berücksichtigen. Der EuGH hat insoweit klargestellt, dass der Gesamtstaat sicherzustellen habe, dass dem Einzelnen der Schaden ersetzt wird, der ihm durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden ist, gleichgültig, welche Stelle diesen Verstoß begangen hat und welche Stelle nach nationalem Recht diesen Schadensersatz grundsätzlich zu leisten hat790. Er könne sich der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung auch nicht dadurch entziehen, dass auf die interne Verteilung der Zuständigkeiten und der Haftung auf Körperschaften verwiesen wird, die nach der nationalen Rechtsordnung besteht, oder dass geltend gemacht wird, der staatlichen Stelle, die den Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht begangen hat, hätten nicht die erforderlichen Befugnisse, Kenntnisse oder Mittel zur Verfügung gestanden791. Aus dem Vorstehenden folgt, dass eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nicht ausgeschlossen ist, wenn der Geschädigte den deutschen Gesamtstaat und nicht die eigentlich verantwortliche juristische Person des öffentlichen Rechts in Anspruch nimmt. Dies gilt insbesondere deshalb, weil es für die Geschädigten mitunter schwierig sein kann, die juristische Person des öffentlichen Rechts zu ermitteln, die innerstaatlich für den begangenen Gemeinschaftsrechtsverstoß verantwortlich ist. Wird der Gesamtstaat in Anspruch genommen, kann dieser jedoch Rückgriff bei der verantwortlichen juristischen Person des öffentlichen Rechts nehmen792. Außerdem ist denkbar, dass das für Haftungsklagen gegen den Bund zuständige Gericht793 den Rechtsstreit in Analogie zu § 281 Abs. 1 ZPO an das Gericht verweist, das örtlich für die verantwortliche juristische Person des öffentlichen Rechts zuständig ist. Wird der verantwortliche Verwaltungsträger – wie jüngst in einem Verfahren gegen das Bundesland Hessen794 – direkt in Anspruch genommen, scheidet eine Haftung des Gesamtstaates dagegen aus. Zwar hat der EuGH in „Haim II“ festgestellt, dass die Haftung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft neben derjenigen des Mitgliedstaats gegeben sein könne795, trotzdem ist nicht von einer ergänzenden, additiven Haftung der 788
Entsprechendes gilt für die EMRK. Vgl. BVerwG v. 26. April 2007, Az.: 3 A 7.05, S. 13, Rn. 30. 789 Vgl. Kling, Jura 2005, S. 298, 304. 790 Vgl. EuGH, S. 58, Fn. 192, I-3140, Rn. 62. 791 Vgl. EuGH, S. 98, Fn. 422, I-5159, Rn. 28. 792 Vgl. 4. Teil, C., II., 4., c), aa). 793 Vgl. Fn. 817. 794 OLG Frankfurt am Main, Fn. 353. 795 EuGH, S. 98, Fn. 422, I-5160, Rn. 32.
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Bundesrepublik Deutschland auszugehen796, denn durch die Haftung der Körperschaft ist bereits sichergestellt, dass dem Einzelnen die entstandenen Schäden ersetzt werden. Allenfalls kommt eine subsidiäre Einstandspflicht des deutschen Gesamtstaates in Betracht, wenn der haftende Verwaltungsträger nicht leistungsfähig ist797. Welche juristische Person des öffentlichen Rechts im konkreten Fall für das begangene Unrecht zu haften hat, bestimmt sich nach den herkömmlichen Kriterien des Amtshaftungsrechts798. Während sich die Bestimmung des Anspruchsgegners früher auf der Grundlage der Anstellungstheorie799 und der Funktionstheorie800 vollzog, richtet sie sich heutzutage danach, welche Körperschaft dem Amtsträger das Amt, bei dessen Ausübung fehlerhaft gehandelt wurde, anvertraut hat, wer – mit anderen Worten – dem Amtsträger die Aufgaben, bei deren Wahrnehmung die Amtspflichtverletzung vorgekommen ist, übertragen hat (Amtsübertragungstheorie bzw. Anvertrauenstheorie)801. Eine gesamtschuldnerische Haftung verschiedener Verwaltungsträger kommt nur dann in Betracht, wenn diesen jeweils ein eigenes Fehlverhalten vorgeworfen werden kann802. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn von einer Landesbehörde ein gemeinschaftsrechtswidriges Bundesgesetz ohne Rücksicht auf eine unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts oder die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung angewandt wird803. Im Fall einer gesamtschuldnerischen Haftungsverpflichtung kann der in Anspruch genommene Verwaltungsträger bei den anderen Schuldnern Rückgriff nehmen804. cc) Die Rechtswegbestimmung Gemäß Art. 34 S. 3 GG und § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO ist bei Amtshaftungsansprüchen der ordentliche Rechtsweg gegeben. Es stellt sich aller796
Dörr, DVBl. 2006, 598 (604); Stein/Itzel/Schwall, S. 423, Rn. 792. Vgl. Tremml/Karger, S. 340, Rn. 1452; Gundel, DVBl. 2001, 95 (99); Wehlau, S. 50; Dederer, NVwZ 2001, 258 (259); Säuberlich, S. 164. A. A.: Bertelmann, S. 218 – Verfasser geht davon aus, dass der EuGH in „Konle“ eine Garantie- oder Ausfallhaftung des Bundes explizit abgelehnt hat. 798 BGHZ 161, 224 (236); Stein/Itzel/Schwall, S. 423, Rn. 792. 799 Danach haftet die Körperschaft, die den Amtswalter angestellt hat, vgl. Maurer, S. 679, Rn. 41. 800 Es haftet die Körperschaft, deren Aufgaben der Amtswalter wahrgenommen hat, vgl. Maurer, S. 679, Rn. 41. 801 BGHZ 53, 217 (218 f.); BGHZ 99, 326 (330). 802 Detterbeck, AöR 125 (2000), 202 (248); Tremml/Karger, S. 340, Rn. 1453; Koenig/Braun, NJ 2004, 97 (98). 803 In einem solchen Fall liegt legislatives und exekutives Unrecht vor, vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), aa) (2) vor (a). 804 Vgl. 4. Teil, C., II., 4., c), aa). 797
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
dings die Frage, ob dieser Rechtsweg auch bei einem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch zu beschreiten ist. Dagegen spricht, dass die Verfassungsnorm des Art. 34 S. 3 GG bei einem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch kaum Anwendung finden kann, da sie auf den Amtshaftungsanspruch, so wie er in Art. 34 GG i. V. m. § 839 BGB vorgesehen ist, zugeschnitten ist805. Allerdings kann der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch zwanglos unter die Rechtswegzuweisung des § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO subsumiert werden, da es sich insoweit um einen Schadensersatzanspruch aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten im Sinne des § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO handelt806. Der ordentliche Rechtsweg ist hiernach gegeben. Fraglich ist indes, ob dieser Rechtsweg geeignet ist, den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch effektiv durchzusetzen. So hat der EuGH in „Köbler“ klargestellt, dass die Mitgliedstaaten es den Betroffenen ermöglich müssten, sich auf den Grundsatz der Staatshaftung zu berufen, indem sie ihnen einen geeigneten Rechtsweg zur Verfügung stellen807. Gegen eine solche Geeignetheit könnte jedoch sprechen, dass im Zivilprozess anders als im Verwaltungsprozess nicht der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, sondern der Beibringungsgrundsatz. Der Geschädigte hat den vom Gericht zugrunde zu legenden tatsächlichen Prozessstoff beizubringen. Problematisch ist insoweit etwa, wie der Geschädigte den unmittelbaren Kausalzusammenhang prozessual nachweisen kann. So genügt es nicht, dass bloß die Möglichkeit einer Kausalität behauptet wird808. Indessen reicht es aus, wenn das Vorliegen eines unmittelbaren Kausalzusammenhanges in Anbetracht der konkreten Umstände hinreichend wahrscheinlich ist. Diesbezüglich greift nämlich die Beweiserleichterung des § 287 ZPO809. Vor dem Hintergrund dieser und anderer Beweiserleichterungen des Zivilprozessrechts810 scheint der ordentliche Rechtsweg trotz des Beibringungsgrundsatzes geeignet zu sein, eine effektive Durchsetzung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs sicherzustellen. Das Gemeinschaftsrecht gebietet es somit nicht, den Verwaltungsrechtsweg einzuschlagen, um vom Staat Schadensersatz für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht verlangen zu können811. Problematisch ist allerdings, dass § 17 Abs. 2 S. 2 GVG keine Anwendung findet, weil Art. 34 S. 3 GG, wie soeben ausgeführt wurde, nicht greift. Es sollte jedoch davon abgesehen werden, die Regelung des § 17 Abs. 2 S. 1 GVG auf den gemeinschaftsrecht805 806 807 808 809 810 811
Kischel, EuR 2005, 441 (460). Vgl. Tremml/Karger, S. 339, Rn. 1148; Beljin, S. 236. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10309, Rn. 45. Tremml/Karger, S. 335, Rn. 1432. Nassal, WM 1999, 657 (663). Etwa die Regelung des § 286 ZPO oder die des § 252 S. 2 BGB. So auch Beljin, S. 238 f.
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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lichen Staatshaftungsanspruch anzuwenden, denn dies würde zu unnötigen Verformungen des deutschen Staatshaftungsrechts führen. Zwar wäre es sinnvoll, wenn ein Verwaltungsgericht, das mit einer Gemeinschaftsrechtsverletzung befasst ist, auch sogleich über gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsansprüche entscheiden könnte, eine solche Regelung sollte jedoch gesetzlich verankert werden812. dd) Die Zuständigkeitsvorschriften Der EuGH hat in „Köbler“ verdeutlicht, dass die Durchführung des Grundsatzes einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung nicht durch das Fehlen eines zuständigen Gerichts verhindert werden darf813. In Deutschland sind nach § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG die Landgerichte ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes für Amtshaftungsansprüche sachlich zuständig. Ob diese Regelung auch im gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrecht Anwendung finden kann, ist aber fraglich. Dagegen lässt sich anführen, dass die Landgerichte auch für judikatives Unrecht der obersten Bundesgerichte erstinstanzlich zuständig wären. Der vom Gesetzgeber determinierte Instanzenzug würde auf den Kopf gestellt, da unterinstanzliche Rechtsprechungsorgane die Urteile letztinstanzlicher Gerichte zu überprüfen hätten814. Dieses Problem stellt sich jedoch nur auf den ersten Blick. Zum einen wird die Rechtskraft des letztinstanzlichen Urteils durch die Entscheidung des unterinstanzlichen Landgerichts allenfalls mittelbar in Frage gestellt815, zum anderen muss, soweit keine einschlägige Rechtsprechung des EuGH existiert, ohnehin eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs gemäß Art. 234 Abs. 3 EG eingeholt werden, bevor über die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung entschieden werden kann816. Der EuGH als Höchstgericht in gemeinschaftsrechtlichen Angelegenheiten wird demnach an der Entscheidungsfindung partizipiert. Bezüglich der Anwendung von § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG bestehen mithin keine Bedenken. Die örtliche Zuständigkeit beurteilt sich grundsätzlich nach den §§ 17, 18 ZPO. Wird der Gesamtstaat in Anspruch genommen, ist gemäß § 18 ZPO das Landgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk sich der Sitz der Behörde befindet, die berufen ist, den Fiskus in dem Rechtsstreit zu vertreten817. Im 812
Vgl. insoweit die Ausführungen im 4. Teil, D., I., 2. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10309, Rn. 45. 814 Vgl. auch Haratsch, EuR 2008, 81 (96). 815 Vgl. Kremer, EuR 2007, 470 (475); Poelzig, JZ 2007, 858 (860). 816 Vgl. Storr, DÖV 2004, 545 (551 f.). 817 Beim Bund dürfte dies das LG Berlin sein, da der Bundesminister für Finanzen, der den Bund in Staatshaftungsangelegenheiten zu vertreten hat (vgl. Hart813
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
Fall der Inanspruchnahme einer juristischen Person des öffentlichen Rechts ist für die örtliche Zuständigkeit gemäß § 17 ZPO deren Verwaltungssitz maßgeblich. Wahlweise kann sich der Geschädigte auch auf § 32 ZPO berufen818, wonach für Klagen das Gericht zuständig ist, in dessen Bezirk die unerlaubte Handlung begangen wurde. Überwiegend wird vertreten, dass es insoweit auf den Ort der Amtspflichtverletzung ankommt819. Schon der Wortlaut des § 32 ZPO legt diese Ansicht nahe. Im Hinblick auf das Prinzip der praktischen Wirksamkeit dürfte es allerdings auch zulässig sein, wenn im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts auf den Ort des Eintritts des Vermögensschadens abgestellt wird820. c) Die Anwendbarkeit von Regressvorschriften Wie bereits ausgeführt wurde, begründet die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung im Grundsatz eine originäre Haftung des Gesamtstaates gegenüber dem Geschädigten. Er haftet auch für Gemeinschaftsrechtsverstöße juristischer Personen des öffentlichen Rechts, es sei denn, sie werden selbst in Anspruch genommen821. aa) Der Regress des Gesamtstaates beim verantwortlichen Verwaltungsträger Haftet der Gesamtstaat für Gemeinschaftsrechtsverstöße der Länder oder sonstiger juristischer Personen des öffentlichen Rechts, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit eines Regresses. Im Fall einer gesamtschuldnerischen Haftungsverpflichtung822 kann der Bund einen Regressanspruch gemäß den §§ 840, 426 Abs. 2 BGB gegen den mitverantwortlichen Verwaltungsträger geltend machen, wenn er den Staatshaftungsanspruch des Geschädigten erfüllt823. Gleicht der Bund hingegen einen Schadensersatzanspruch aus, obwohl ihn selbst keinerlei Verantwortlichkeit trifft, kann auf die §§ 840, 426 Abs. 2 BGB nicht zurückgegriffen werden. mann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 18, Rn. 6), seinen Sitz in Berlin hat. 818 Vgl. § 35 ZPO. 819 Vgl. Roth, in: Stein/Jonas, § 32, Rn. 19, 29; Smid, in: Musielak, § 32, Rn. 2, 15; Vollkommer, in: Zöller, § 32, Rn. 5, 16. 820 Vgl. LG Mainz, NJW-RR 2000, 588; Bertelmann, S. 220 f. Eine Anknüpfung am Ort des Eintritts des Vermögensschadens scheidet aus, wenn der Vermögensschaden im Ausland eingetreten ist. 821 Vgl. 4. Teil, C., II., 4., b), bb). 822 Näheres dazu: 4. Teil, C., II., 4., b), bb). 823 Koenig/Braun, NJ 2004, 97 (103).
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(1) Regressansprüche des Bundes gegen die Länder Zunächst ist zu untersuchen, ob der Bund Regressansprüche gegen ein Land geltend machen kann, wenn diesem der haftungsauslösende Gemeinschaftsrechtsverstoß zuzurechnen ist. Als Anspruchsgrundlage kam bis zur Föderalismusreform von 2006 nur Art. 104 a Abs. 5 S. 1 Hs. 2 GG in Frage. Danach haften der Bund und die Länder zueinander für eine ordnungsgemäße Verwaltung. Diese Regelung kann nach überwiegender Ansicht als Anspruchsgrundlage herangezogen werden824. Der Anwendungsbereich von Art. 104 a Abs. 5 S. 1 Hs. 2 GG ist auch eröffnet, wenn dem Bund im Zusammenhang mit der Verletzung von Gemeinschaftsrecht ein Schaden entsteht825. Bei Verstößen im Bereich der Rechtsprechung oder Gesetzgebung scheidet seine Anwendung allerdings dem Wortlaut nach aus, da bei solchen Verstößen keine „nicht ordnungsgemäße Verwaltung“ vorliegt826. Der Verfassungsgeber hat die gegenseitige Haftung von Bund und Ländern bewusst auf die Haftung für ein nicht ordnungsgemäßes Verwaltungshandeln beschränkt827, so dass bei legislativen oder judikativen Gemeinschaftsrechtsverstößen auch eine analoge Anwendung nicht in Betracht kommt828. Seit Inkrafttreten des Föderalismusreformgesetzes am 1. September 2006 gibt es allerdings die spezielle Regelung des Art. 104 a Abs. 6 S. 1 GG, wonach der Bund und die Länder nach der innerstaatlichen Zuständigkeitsund Aufgabenverteilung die Lasten einer Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands tragen. Diese Regelung findet bei Gemeinschaftsrechtsverstößen vorrangig Anwendung. Ihre Anwendbarkeit ist anders als bei Art. 104 a Abs. 5 S. 1 Hs. 2 GG nicht auf Fälle exekutiven Unrechts beschränkt. Im Lastentragungsgesetz (LastG), das der Konkretisierung des Art. 104 a Abs. 6 GG dient, ist ausdrücklich geregelt worden, dass Bund und Länder auch bei Verstößen in den Bereichen Gesetzgebung und Rechtsprechung die Lasten zu tragen haben829. Die Lastentragung vollzieht sich nach Maßgabe des Verursacherprinzips830. So hat gemäß § 1 Abs. 1 LastG diejenige staatliche Ebene die Lasten zu tragen, in deren innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenbereich die 824 BVerwGE 96, 45 (51); Koenig/Braun, NJ 2004, 97 (99 f.), Papier, in: FS Blümel, 421 (436); Wollgast, S. 171. A. A.: Böhm, JZ 2000, 382 (386). 825 Vgl. in diesem Zusammenhang das aufschlussreiche Urteil des BVerfG v. 17. Oktober 2006, Az.: 2 BvG 1/04, Rn. 144 ff. 826 Vgl. Koenig/Braun, NJ 2004, 97 (101). 827 Vgl. BT-Drucksache V/2861, 94; Dederer, NVwZ 2001, 258 (260). 828 Koenig/Braun, NJ 2004, 97 (101). 829 Vgl. § 1 Abs. 1 LastG. 830 Kemmler, LKV 2006, 529 (534).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
lastenbegründende Pflichtverletzung erfolgt ist. Fällt die Pflichtverletzung nicht nur in den Zuständigkeits- und Aufgabenbereich des Bundes, sondern auch in den der Länder, werden die Lasten gemäß § 1 Abs. 2 LastG grundsätzlich nach der Höhe der Kausalbeiträge aufgeteilt. Bei judikativem Unrecht ist gemäß § 4 LastG für die Lastenzuordnung das Gericht der Instanz maßgeblich, das die fehlerhafte Entscheidung getroffen hat. Wird diese Entscheidung durch ein Gericht des Bundes bestätigt, tragen der Bund und das betroffene Land die Lasten jeweils zur Hälfte. Die Regelung des § 4 LastG erscheint sachgerecht. Insoweit soll allerdings daran erinnert werden, dass eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nur bei judikativen Verstößen letztinstanzlicher Gerichte möglich ist. Da die letztinstanzlichen Gerichte regelmäßig Bundesgerichte sind (BGH, BVerwG etc.), wird der Bund die Lasten einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für judikatives Unrecht oftmals mit zu tragen haben. Wie oben dargelegt wurde, kann sich der Bund als Gesamtstaat einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung nicht dadurch entziehen, dass er auf die Verantwortlichkeit eines Landes verweist. Trägt er in diesem Zusammenhang die Lasten eines Landes, kann er aber gemäß Art. 104 a Abs. 6 S. 1 GG i. V. m. § 5 Abs. 1 LastG bei diesem Rückgriff in Höhe des jeweiligen Kausalbeitrages nehmen. Nach § 5 Abs. 2 S. 1 LastG entsteht dieser Regressanspruch grundsätzlich im Zeitpunkt der Erfüllung der Leistungspflicht durch den Bund. In einer solchen Gemengelage ist allerdings auch die Anwendung der §§ 840, 426 Abs. 2 BGB denkbar, da eine gesamtschuldnerische Haftungsverpflichtung besteht831. Im Ergebnis macht es jedoch keinen Unterschied, ob auf Art. 104 a Abs. 6 S. 1 GG i. V. m. § 5 Abs. 1 LastG oder auf die §§ 840, 426 Abs. 2 BGB abgestellt wird, denn bei einer Gesamtschuld richtet sich die Verteilung zwischen den Schädigern in der Regel auch nach deren Ursachen- und Schuldanteilen an der Schädigung832. Im Jahr 2007 hatte das BVerwG einen Fall erstmals anhand des Lastentragungsgesetzes zu beurteilen833. Anlässlich einer Klage des Landes Berlin gegen den Bund hatte dieser im Wege der Aufrechnung Regressansprüche geltend gemacht. Die Ansprüche waren entstanden, weil der Bund im Zusammenhang mit drei Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR Schadensersatz- bzw. Vergleichszahlungen an die Beschwerdeführer geleistet hatte. Das BVerwG bekräftigte, dass der Bund als Gesamtstaat und Vertragspartner der EMRK völkerrechtlich verpflichtet gewesen ist, auf der 831
Vgl. 4. Teil, C., II., 4., b), bb) und 4. Teil, C., II., 4., c), vor aa). Insoweit wird § 254 BGB entsprechend angewandt, vgl. Medicus, S. 307, Rn. 802. 833 BVerwG, Fn. 788. 832
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Grundlage von Art. 41 EMRK die Zahlungen an die Beschwerdeführer zu leisten. Sodann urteilte es allerdings, der Bund könne gemäß § 5 Abs. 1 i. V. m. § 1 Abs. 1 LastG vom Land Berlin Erstattung verlangen, soweit die lastenbegründende Pflichtverletzung in dessen innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenbereich erfolgt ist834. In dem zu entscheidenden Fall konnten die lastenbegründenden Pflichtverletzungen eindeutig dem Zuständigkeits- und Aufgabenbereich des Landes Berlin zugeordnet werden, denn die Verstöße gegen die EMRK beruhten auf Urteilen Berliner Gerichte835. Mithin lag judikatives Unrecht im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1 LastG vor. Das BVerwG ging davon aus, dass die Voraussetzungen der §§ 1, 4, 5 LastG hinsichtlich der Regressansprüche gegeben sind. Ein Mitverschulden des Bundes im Sinne von § 4 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 LastG ist nicht angenommen worden. Hinsichtlich des Problems, ob § 4 LastG bei gerichtlichen Vergleichen vor dem EGMR überhaupt Anwendung findet, erklärte das BVerwG, dass die Regelung entsprechend anwendbar sei. Ansonsten bestünde eine ersichtlich nicht gewollte Regelungslücke und die Vergleichsbereitschaft des Bundes bei Verfahren vor dem EGMR würde geschwächt836. Des Weiteren stellte das Gericht klar, dass das Lastentragungsgesetz auch für Altfälle gilt837. Durch Erlass des Lastentragungsgesetzes sollte Art. 104 a GG seiner Funktion, die Verteilung der Finanzierungslasten aus der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zwischen Bund und Ländern grundsätzlich abschließend zu regeln, wieder – oder deutlicher und besser als bislang – gerecht werden. Dem würde es jedoch widersprechen, durch Einschränkungen des zeitlichen Geltungsbereichs der Neuregelung Regelungslücken zu belassen oder gar neue zu schaffen838. (2) Regressansprüche des Bundes gegen sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts In den Rechtssachen „Haim II“ und „Gervais Larsy“ hat der EuGH zum Ausdruck gebracht, dass auch juristische Personen des öffentlichen Rechts, die bestimmte Gesetzgebungs- oder Verwaltungsaufgaben dezentralisiert wahrnehmen, im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts passiv legitimiert sind839. Der Bürger kann den gemeinschaftsrechtlichen 834
BVerwG, Fn. 788, S. 13, Rn. 30. Näheres zu den streitgegenständlichen Verstößen: BVerwG, Fn. 788, S. 4, Rn. 6 ff. 836 BVerwG, Fn. 788, S. 13, Rn. 31. 837 Das Lastentragungsgesetz gilt nicht nur überhaupt für Altfälle; es gilt für sie auch rückwirkend. Näheres dazu: BVerwG, Fn. 788, S. 11., Rn. 27 ff. 838 BVerwG, Fn. 788, S. 10, Rn. 24. 839 EuGH, S. 98, Fn. 422, I-5160, Rn. 31; EuGH, S. 100, Fn. 434. 835
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
Staatshaftungsanspruch folglich unmittelbar gegen eine juristische Person des öffentlichen Rechts richten, die den Gemeinschaftsrechtsverstoß verursacht hat. Alternativ besteht aber auch die Möglichkeit, den Bund als Gesamtstaat zu verklagen. Hat eine solche Klage Erfolg, muss der Bund die sich aus der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung ergebenden Lasten tragen840. Fraglich ist, ob der Bund in diesem Fall die verantwortliche juristische Person des öffentlichen Rechts in Regress nehmen kann. Im Zuge der Föderalismusreform hat der deutsche Gesetzgeber keine entsprechende Regelung kodifiziert. Dies ist auch nicht verwunderlich, denn die Finanzverfassung geht seit jeher von dem Prinzip der Zweistufigkeit der Staatsverfassung aus841. Anknüpfend an die Art. 83 ff. GG wird nur zwischen Bundesund Landesverwaltung unterschieden. Die landesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts842 müssen demnach als Teile der Länder und die bundesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts843 als Teile des Bundes behandelt werden. Wurde der die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung begründende Gemeinschaftsrechtsverstoß von einer landesunmittelbaren juristischen Person des öffentlichen Rechts verursacht, kann der Bund folglich beim zuständigen Land gemäß Art. 104 a Abs. 6 S. 1 GG i. V. m. § 5 Abs. 1 LastG Rückgriff nehmen. Das Land kann sich daraufhin bei der verantwortlichen juristischen Person des öffentlichen Rechts schadlos halten, soweit auf Landesebene eine entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen wurde. Die Gesetzgebungskompetenz der Länder ist insofern jedenfalls nicht eingeschränkt, denn die Befugnis des Bundesgesetzgebers aus Art. 104 a Abs. 6 S. 3 GG umfasst nicht die Regelung der landesinternen Lastenverteilung844. Wurde keine spezielle Regressvorschrift normiert, gilt im Verhältnis des Landes zu den landesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich das Konnexitätsprinzip i. e. S., d.h. das Land hat alle Kosten zu tragen, die unmittelbar bei ihm anfallen, unabhängig davon, ob sie von ihm selbst oder einer landesunmittelbaren juristischen Person des öffentlichen Rechts verursacht wurden845. Das Gleiche gilt für das Verhältnis des Bundes zu den bundesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Soweit ersichtlich, wurden bislang weder auf Bundesebene noch auf Landesebene spezielle Regressregelungen kodifiziert. 840
Näheres dazu: 4. Teil, C., II., 4., b), bb). Stelkens, S. 373 f. 842 Z. B. die Kommunen, Handwerkskammern, Universitäten, Rundfunkanstalten oder Jagdgenossenschaften. 843 Z. B. die Bundesrechtsanwaltskammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung oder die Bundesbank. 844 Vgl. Stelkens, S. 374 f. 845 Zum Konnexitätsprinzip i. e. S.: Stelkens, S. 34 ff. 841
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
257
Es stellt sich daher die Frage, ob mangels einer speziellen Regressvorschrift die Regelung des § 5 Abs. 1 LastG analog angewandt werden kann. Eine analoge Anwendung des Art. 104 Abs. 5 S. 1 Hs. 2 GG im Verhältnis zwischen Land und Kommune wurde jedenfalls für geboten gehalten846. Voraussetzung für eine analoge Anwendung des § 5 Abs. 1 LastG ist allerdings, dass ein entsprechendes Regelungsdefizit besteht. Es ist aber zu bezweifeln, dass dies der Fall ist, denn im Lastentragungsgesetz hätte ohne weiteres auch die Möglichkeit eines Regresses des Bundes bei bundesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts vorgesehen werden können, wenn eine Regelungsabsicht bestanden hätte. Bei den Landesgesetzgebern ist eine solche Absicht bislang ebenfalls nicht zu Tage getreten. Eine analoge Anwendung des § 5 Abs. 1 LastG ist demnach nicht möglich. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass Hoheitsträger im Verhältnis untereinander für Fehlverhalten ihrer Amtswalter einstehen müssen, da der Grundsatz „casum sentit dominus“ im Verhältnis zwischen Hoheitsträgern nur eingeschränkt gilt847. So besteht für einen Hoheitsträger auch immer die Möglichkeit, im Fall einer Haushaltsnotlage durch das allgemeine Institut der Anstaltslast die durch eine Schädigung verursachten Kosten zumindest teilweise auf andere Hoheitsträger und damit auf die Allgemeinheit der Abgabenzahler abzuwälzen848. Würden der Bund oder die Länder infolge einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Rückgriff bei der verantwortlichen juristischen Person des öffentlichen Rechts nehmen, ist also nicht ausgeschlossen, dass diese die mit dem Regress verbundenen Kosten wiederum auf andere Hoheitsträger übertragen würde. Die Trennung der Vermögensmassen zwischen Hoheitsträgern ist somit weit weniger streng als zwischen Privatpersonen untereinander oder zwischen Privatpersonen einerseits und Hoheitsträgern andererseits849. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch bedenklich, auf den Schutz Privater zugeschnittene Schadensersatzansprüche im Verhältnis zwischen Hoheitsträgern anzuwenden. Gleichwohl wird in der Literatur und Rechtsprechung über die Anwendbarkeit solcher Ansprüche bei hoheitlichem Unrecht diskutiert. Das BVerwG hat jedoch eine interkörperschaftliche Haftung auf der Grundlage des Amtshaftungsanspruchs mit der Begründung abgelehnt, die im Einzelfall verletzte Amtspflicht habe nicht gegenüber dem Bund als „Dritten“ bestanden850. Der BGH hält eine solche Haftung zwar grundsätzlich für möglich851, soweit die verletzte Amtspflicht lediglich dem Interesse 846 847 848 849 850 851
Waechter, Rn. 230h; a. A.: Stelkens, S. 364 f. Stelkens, S. 365. Stelkens, S. 39 f.; vgl. auch BVerfGE 86, 148 (264 f.). Stelkens, S. 40. BVerwGE 96, 45 (50). BGHZ 116, 312 (315).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
des Gemeinwesens an einer ordnungsgemäßen Amtsführung dient, lässt aber auch er sie am Erfordernis der Drittbezogenheit scheitern852. Was die Amtspflicht zu gemeinschaftsrechtmäßigem Handeln anbelangt, so dient sie letztlich allein dem Gemeinwohlinteresse und gerade nicht den Interessen des Bundes als „Dritten“853. Mangels einer amtshaftungstypischen Gefährdungslage kann der Bund damit auf der Grundlage von Art. 34 S. 1 GG i. V. m. § 839 BGB keine Regressansprüche gegenüber juristischen Personen des öffentlichen Rechts geltend machen, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen haben. Der Bund kann sich darüber hinaus auch nicht auf § 1 DDR-StHG berufen, da es insoweit am erforderlichen Rechtswidrigkeitsund Schutzzweckzusammenhang fehlt854. Ein Schadensersatzanspruch aus öffentlich-rechtlichem Schuldverhältnis scheidet ebenso aus, denn dieses Verhältnis bleibt nach ganz herrschender Auffassung auf Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat beschränkt855. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch greift trotz grundsätzlicher Anwendbarkeit im Verhältnis der Verwaltungsträger untereinander856 ebenfalls nicht. So fehlt es regelmäßig an einer Vermögensmehrung auf Seiten der juristischen Person des öffentlichen Rechts. Insbesondere wird diese nicht durch Geldleistungen des Bundes an einen Bürger von einer eigenen Schuld befreit, da der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch des Bürgers fortbesteht und in Analogie zu § 774 Abs. 1 BGB auf den Bund übergeht, wenn dieser als bürgengleicher Garant anstelle der verantwortlichen juristischen Person des öffentlichen Rechts haftet857. Mit dem Übergang der Schadensersatzforderung des Bürgers analog § 774 Abs. 1 BGB könnte der Bund aber bei der verantwortlichen juristischen Person des öffentlichen Rechts Rückgriff nehmen858. Auch ein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag, der im Verhältnis der Verwaltungsträger untereinander geltend gemacht werden kann859, kommt in Betracht860.
852
BGHZ 27, 210 (214). Dederer, NVwZ 2001, 258 (262). 854 Eingehend dazu: Dederer, NVwZ 2001, 258 (262 f.). 855 BGHZ 21, 214 (218); Maurer, S. 782, Rn. 2. A. A.: Godschalk, RiA 1959, 232 (233). 856 BVerwGE 36, 108; Maurer, S. 794, Rn. 20. 857 Dederer, NVwZ 2001, 258 (264 f.). 858 Dederer, NVwZ 2001, 258 (264 f.); vgl. auch Habersack, in: MüKo, § 774, Rn. 19. 859 Maurer, S. 787, Rn. 11. 860 Dederer, NVwZ 2001, 258 (265). 853
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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bb) Der Regress beim verantwortlichen Amtsträger Der haftende oder in Regress genommene Verwaltungsträger könnte schließlich bei dem Amtsträger Rückgriff nehmen, der bei ihm im Dienst steht und den Schaden verursacht hat. Gemäß Art. 34 Abs. 3 GG sind Rückgriffsansprüche gegen den Amtsträger im ordentlichen Rechtsweg geltend zu machen861. Haftet der Bund für den Gemeinschaftsrechtsverstoß einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, ist denkbar, dass er im Wege einer Drittschadensliquidation gegen den verantwortlichen Amtsträger vorgehen kann862. Die Voraussetzungen für eine Drittschadensliquidation dürften gegeben sein. Zum einen hat der Bund einen Schaden aber keinen Anspruch gegenüber dem Amtsträger, denn es fehlt insoweit an einer Amtspflicht gegenüber dem Bund. Zum anderen verfügt die juristische Person des öffentlichen Rechts als Dienstherr ggf. über einen Anspruch gegenüber dem Amtsträger, mangels Haftung ist ihr jedoch kein Schaden entstanden. Der Bund könnte infolgedessen von der juristischen Person des öffentlichen Rechts die Abtretung des Regressanspruches verlangen, um diesen sodann selbst gegenüber dem Amtsträger geltend zu machen. Ein Regress, sei es von Seiten des Dienstherrn oder sei es von Seiten des bürgenähnlich haftenden Bundes im Wege der Drittschadensliquidation, ist gemäß Art. 34 S. 2 GG indes nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit des Amtsträgers möglich. Ansonsten ist bei Fahrlässigkeit ein Rückgriff beim Amtsträger ausgeschlossen. Die Regelung des Art. 34 S. 2 GG stellt aber keine Anspruchsgrundlage dar, so dass spezialgesetzliche Vorschriften maßgeblich sind. Für die Bundesbeamten gilt § 48 BeamtStG und für die Landesbeamten die entsprechenden Vorschriften der Landesbeamtenstatusgesetze863, die die Beamten bei vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Amtspflichtverletzungen zum internen Schadensersatz verpflichten864. Sind mehrere Amtsträger verantwortlich, haften sie dem Dienstherrn als Gesamtschuldner865. Der Dienstherr ist grundsätzlich verpflichtet, den Regressanspruch gegen den verantwortlichen Amtsträger geltend zu machen866. In Einzelfällen gebietet jedoch der beamtenrechtliche Fürsorgegrundsatz, bei der Durchset861 Näheres zur prozessualen Durchsetzung von Regressansprüchen bei Tremml/ Karger, S. 280, Rn. 1216 ff. 862 Vgl. BVerwG, NJW 1995, 978; Dederer, NVwZ 2001, 258 (264). 863 Vgl. die Übersicht über die Regressvorschriften der Länder bei Kunschert, in: Geigel, S. 703, Rn. 214. 864 Maurer, S. 661, Rn. 10. 865 Vgl. BVerwG NJW 1999, 3727; Kunschert, in: Geigel, S. 703, Rn. 215. 866 Maurer, S. 661, Rn. 10.
260
4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
zung des Anspruchs die persönlichen Umstände des Amtsträgers zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, indem beispielsweise die Höhe des Anspruchs beschränkt wird867. Letztlich ist die Möglichkeit des Regresses beim Amtsträger Ausdruck des derivativen Charakters der Amtshaftung. Bei der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung handelt es sich jedoch um eine originäre Verbandshaftung des Staates. Schon deshalb stellt sich die Frage, ob der Dienstherr infolge einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung überhaupt beim Amtsträger Rückgriff nehmen kann. Der EuGH hat in „Köbler“ festgestellt, es gehe beim Grundsatz einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung nicht um die persönliche Haftung des Richters, sondern um die des Staates. Es sei nicht ersichtlich, dass die Unabhängigkeit eines letztinstanzlichen Gerichts durch die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen die Haftung des Staates für gemeinschaftsrechtswidrige Gerichtsentscheidungen feststellen zu lassen, gefährdet würde868. Der Regress beim verantwortlichen Richter stellt sich im Ergebnis jedoch als persönliche Haftung dar. Die richterliche Unabhängigkeit wäre tangiert869, da schon die Verkennung der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH bei der Auslegung nationalen Rechts oder die Missachtung der Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EG als grob fahrlässiges Verhalten eine persönliche Haftung nach sich ziehen könnte870. Aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive erscheint es somit bedenklich, wenn im Fall judikativen Unrechts Regress beim verantwortlichen Richter genommen werden müsste. Gleichwohl hat der EuGH in „A.G.M.-COS.MET“ unter Bezugnahme auf seine „Haim II“-Rechtsprechung erklärt, dass eine Haftung des Beamten neben derjenigen des Mitgliedstaats möglich sei. Insofern betonte er allerdings, dass das Gemeinschaftsrecht eine solche Haftung nicht verlange871. Der Gerichtshof hat damit klargestellt, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, ob der verantwortliche Beamte für den Gemeinschaftsrechtsverstoß zur Rechenschaft gezogen wird oder nicht. Im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit sollte ein Regress bei grob fahrlässigen Gemeinschaftsrechtsverstößen der Judikative allerdings ausgeschlossen sein. Auch bei exekutiven oder legislativen Verstößen sollte ein Rückgriff auf die Fälle vorsätzlichen Unrechts beschränkt bleiben. So würde die Arbeit der Verwaltungs- und Gesetzgebungsorgane gehemmt, wenn schon bei grob fahrlässigen Gemeinschaftsrechtsverstößen die Möglichkeit eines Rückgriffs bestünde. Schließlich fällt es regelmäßig nicht leicht, die Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht eindeutig festzustellen. Bei immensen Regresssummen gebietet ohne867 868 869 870 871
Vgl. BGH NJW 1994, 660 (662 f.); Kunschert, in: Geigel, S. 703, Rn. 215. EuGH, S. 15, Fn. 3, I-10308, Rn. 42. Vgl. Wegener, EuR 2004, 84 (88). Vgl. 4. Teil, C., II., 4., a), dd) (1). EuGH, S. 15, Fn. 4, Rn. 99.
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
261
hin der beamtenrechtliche Fürsorgegrundsatz eine Beschränkung des Regressanspruches.
III. Die Ausgestaltung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung in anderen Mitgliedstaaten Nachdem detailliert dargelegt wurde, wie die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Deutschland ausgestaltet ist, soll nunmehr am Beispiel des Vereinigten Königreichs und Frankreichs die Ausgestaltung der Haftung in anderen Mitgliedstaaten aufgezeigt werden. 1. Vereinigtes Königreich Während die deutsche Regierung noch im Vorfeld der „Brasserie du pêcheur u. Factortame“-Entscheidung einen Staatshaftungsanspruch als Folge der Verletzung unmittelbar anwendbarer Vorschriften des Gemeinschaftsrechts verneinte872, wurde ein solcher Anspruch im Vereinigten Königreich schon frühzeitig anerkannt. Hintergrund ist, dass die Staatshaftung im Vereinigten Königreich – anders als in Deutschland – kein Instrument des sekundären Rechtsschutzes ist, sondern eines des primären Rechtsschutzes, das anderen Rechtsbehelfen, die bei Maßnahmen des Staates zu Verfügung stehen, grundsätzlich gleichgestellt ist873. Das House of Lords befand 1984 in der Rechtssache „Garden Cottage“874, dass die Verletzung einer unmittelbar anwendbaren Vorschrift des Gemeinschaftsrechts einen Schadensersatzanspruch unter dem Gesichtspunkt „breach of statutory duty“ auslösen kann. Ausgehend von dieser Entscheidung hielt der Court of Appeal im Jahr 1986 in der Rechtssache „Bourgoin SA ./. Minister of Agriculture, Fisheries and Food“875 einen Staatshaftungsanspruch unter den Voraussetzungen eines Amtsmissbrauchs in Ausübung einer hoheitlichen Befugnis („misfeasance in public office“) für möglich. Insofern wurde allerdings gefordert, dass der Amtsträger im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit des fraglichen Rechtsakts und in der Absicht, den Klägern einen Schaden zuzufügen, gehandelt hat. In der Literatur wurde diese Rechtsprechung dahingehend interpretiert, dass eine Staatshaftung bei nicht vorsätzlichen Gemeinschaftsrechtsverstößen generell ausgeschlossen sei876. Nach dem Urteil des EuGH 872 873 874
Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1143, Rn. 18. Mayo, S. 191. House of Lords, „Garden Cottage Ltd. ./. Milk Marketing Board“, 1984, A.C.
130. 875 Court of Appeal, „Bourgoin SA ./. Ministry of Agriculture, Fisheries and Food“, 1986, 1 Q.B. 716.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
in der Rechtssache „Francovich u. a.“ wurde die Judikatur des Court of Appeal vielfach als überkommen erachtet877. Ob bereits das Urteil „Francovich u. a.“ der Rechtsprechung des Court of Appeal entgegenstand, kann jedoch bezweifelt werden, da dem Urteil eine völlig andere Ausgangssituation zugrunde lag878. Spätestens seit den Urteilen des EuGH in den Rechtssachen „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ und „Traghetti del Mediterraneo“ steht jedoch fest, dass Kriterien wie das der Vorsätzlichkeit im System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts keine eigenständige Bedeutung haben, sondern lediglich bei der Prüfung der hinreichenden Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes zu berücksichtigen sind879. Konsequenterweise ist die „misfeasance in public office“ im Vereinigten Königreich mittlerweile kein Ausschlusskriterium mehr für die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung. Verstößt der Staat nicht vorsätzlich gegen das Gemeinschaftsrecht, kommt zwar keine Haftung des Staates unter den Voraussetzungen einer „misfeasance in public office“ in Betracht, geeigneter Anknüpfungspunkt ist in diesem Fall jedoch der Tatbestand des „breach of statutory duty“880. Auch der „negligence“-Tatbestand kann bei nicht vorsätzlichen Gemeinschaftsrechtsverstößen Grundlage einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung sein. Erforderlich ist insoweit allerdings der Nachweis einer „duty of care“881. Die haftungsbegründenden Voraussetzungen des EuGH können sowohl im „breach of statutory duty“-Tatbestand als auch im „negligence“-Tatbestand ohne weiteres berücksichtigt werden882. Ein Rückgriff auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch ist somit nicht notwendig. 2. Frankreich Kennzeichnend für das französische Staatshaftungsrecht ist die grundlegende Zweiteilung von verschuldensabhängiger Haftung („responsabilité pour faute“) und verschuldensunabhängiger Haftung („responsabilité sans faute“). Zunächst nahm der Conseil d’Etat im Falle eines exekutiven Gemeinschaftsrechtsverstoßes eine Haftung des Staates „sans faute“ an883. Durch die Entscheidung des Conseil d’Etat in der Rechtssache „Philip Mor876
Barav, in: Non-Contractual Liability, S. 112; Arrowsmith, S. 254. House of Lords, „Kirklees Metropolitan Borough Council ./. Wickes Building Supplies Ltd.“, 1992, A.C. 227 (281). 878 Mayo, S. 196 f. 879 Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1155, Rn. 75 ff.; EuGH, Fn. 518, Rn. 44. 880 Gromitsaris, S. 55. 881 Gromitsaris, S. 55 f. 882 Gromitsaris, S. 56. 883 Conseil d’Etat, „Alivar“, 1984, AJDA 1984, 396. 877
C. Die Ausgestaltung der Staatshaftung in den Mitgliedstaaten
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ris“884 wurde der Begriff der Legalität schließlich dahingehend ausgedehnt, dass er internationale und unionsrechtliche Normen umfasst885. Infolgedessen kann auch bei national rechtmäßigem aber gemeinschaftsrechtswidrigem Verwaltungshandeln eine Haftung „pour faute“ bejaht werden. Seither steht fest, dass bei gemeinschaftsrechtswidrigem Verwaltungshandeln die Staatshaftung „pour faute“ im Grundsatz einschlägig ist886. Eine Haftung „sans faute“ kommt nur ausnahmsweise in Betracht, beispielsweise wenn die Verwaltungsbehörden einer besonderen Krisensituation nur unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht begegnen können887. Die „responsabilité pour faute“ setzt das Verschulden des jeweils handelnden öffentlichen Bediensteten im Rahmen des „service public“ voraus. Dabei umfasst der Begriff des „service public“ jede öffentliche Aufgabe, die durch öffentliche Körperschaften durchgeführt wird888. Bei legislativen Gemeinschaftsrechtsverstößen greift die Staatshaftung „pour faute“ ebenfalls. Eine Haftung „sans faute“ ist insoweit zwar denkbar, wegen der Struktur des Haftungstatbestands jedoch kaum praktikabel889. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass der Conseil d’Etat bestrebt ist, möglichst nicht den Gesetzgeber, sondern die Verwaltung haftbar zu machen890. Verstößt die Verwaltung gegen das Gemeinschaftsrecht, weil sie ein gemeinschaftsrechtswidriges Gesetz vollzieht, ohne es gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, kann in der Tat auch am Verwaltungshandeln angeknüpft werden. Der Conseil d’Etat hat – soweit ersichtlich – eine Staatshaftung für legislatives Unrecht bislang nicht ausdrücklich anerkannt. Hintergrund ist das traditionelle Rechtsverständnis in Frankreich, wonach die dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich eingeräumte Stellung nicht durch die Judikative beschränkt werden dürfe891, Gesetze mithin unangreifbar seien892. Nichtsdestotrotz ist bei legislativen Gemeinschaftsrechtsverstößen von einem „faute“ auszugehen. Hierfür spricht auch das Urteil der Cour administrative d’appel de Paris in der Rechtssache „Dangeville“893, in dem Schadensersatz gewährt worden ist, weil die 6. Richtlinie des Rates zur Umsatzsteuerharmonisierung in Frankreich nicht umgesetzt worden war894. In der Revisionsinstanz hob der Conseil d’Etat 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894
Conseil d’Etat, „Philip Morris“, 1992, AJDA 1992, 224. Gromitsaris, S. 50. Wolf, S. 271. Wolf, S. 264 f. Nacimiento, S. 119. Vgl. die eingehenden Ausführungen bei Wolf, S. 278 f. Wolf, S. 272. Vgl. Nacimiento, S. 223 f. Vgl. Wolf, S. 275. Cour administrative d’appel de Paris, „Dangeville“, 1992, AJDA 1992, 768. Wolf, S. 277 f.; Gromitsaris, S. 51.
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
das Urteil der Cour administrative d’appel jedoch auf und wies die Klage als unzulässig zurück895. Da mit dem Urteil des Conseil d’Etat der innerfranzösische Rechtsweg erschöpft war, legte die Klägerin, die S.A. Jacques Dangeville, Beschwerde bei der seinerzeit noch existierenden Europäischen Kommission für Menschenrechte (EuKomMR) ein. Der EGMR sprach der Klägerin schließlich in Anwendung von Art. 41 EMRK wegen Verstoßes gegen Art. 1 des 1. ZP (Schutz des Eigentums) Ersatz des materiellen Schadens zu896. Die Problematik der Haftung für judikatives Unrecht kam, wenngleich sie sich angesichts des Fehlurteils des Conseil d’Etat aufdrängte, in dem Urteil des EGMR allerdings nicht zur Sprache897. Nach alledem ist zu konstatieren, dass die Haftung des Staates für Gemeinschaftsrechtsverstöße auch in Frankreich mit Schwierigkeiten verbunden ist. In der Regel dürften aber auf der Grundlage des französischen Rechts zufriedenstellende Ergebnisse erzielt werden, so dass auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch nicht rekurriert werden muss898.
D. Reformbedarf in den Mitgliedstaaten Wie oben dargelegt wurde, erfolgt die Durchsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung vorrangig auf der Grundlage nationaler Haftungsinstitute. Soweit in den Mitgliedstaaten kein spezieller Tatbestand für die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung geschaffen worden ist, muss das bestehende Staatshaftungsrecht gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden, um eine Haftung zu ermöglichen. Nur wenn das nationale Recht einer solchen Auslegung nicht ohne weiteres zugänglich ist, findet der subsidiäre gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch unmittelbare Anwendung.
I. Deutschland Das deutsche Staatshaftungsrecht wird gemeinhin als sehr reformbedürftig angesehen. Abgesehen von der eigentümlichen Konstruktion der Amtshaftung geben vor allem die richterrechtlich geprägten Institute des deutschen Staatshaftungsrechts Anlass, ein umfassendes Staatshaftungsgesetz zu verabschieden.
895
Conseil d’Etat, „Dangeville“, 1996, RJF 12/96, 1469. EGMR v. 16. April 2002, Rs. 36677/97 „Dangeville“, abrufbar über http:// www.echr.coe.int/echr. 897 Vgl. Breuer, JZ 2003, 433 (437). 898 Vgl. Wolf, S. 281; a. A. Magnus/Wurmnest, S. 61. 896
D. Reformbedarf in den Mitgliedstaaten
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1. Pflicht zur Anpassung des deutschen Staatshaftungsrechts Wenngleich der deutsche Gesetzgeber nicht verpflichtet ist, einen speziellen Haftungstatbestand für Gemeinschaftsrechtsverstöße zu schaffen, könnte ihn eine Pflicht zur legislativen Anpassung des deutschen Staatshaftungsrechts treffen899. Dies setzt allerdings voraus, dass der „effet utile“ des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts durch das bestehende Recht beeinträchtigt wird. In Betracht kommt, dass durch das Erfordernis der Drittbezogenheit in Art. 34 S. 1 GG und § 839 Abs. 1 S. 1 BGB der „effet utile“ des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts beeinträchtigt wird, da bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des BGH eine Haftung für legislatives Unrecht ausscheidet. Dagegen spricht jedoch, dass eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Drittbezogenheit vom Wortlaut her nicht ausgeschlossen scheint900. Insoweit ist allerdings auch die ständige Rechtsprechung des BGH901 zu berücksichtigen. Der EuGH hat in dem Vertragsverletzungsverfahren „Kommission/Italien“ erklärt, dass die Bedeutung nationaler Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte zu beurteilen ist902. Können unterschiedliche gerichtliche Auslegungen einer nationalen Regelung berücksichtigt werden, von denen die einen zu einer mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbaren Anwendung dieser Regelung, die anderen zu einer damit unvereinbaren Anwendung führen, so sei festzustellen, dass diese Regelung zumindest nicht hinreichend klar ist, um eine mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbare Anwendung zu gewährleisten903. Im Zusammenhang mit der ständigen Rechtsprechung des BGH vermittelt das Erfordernis der Drittbezogenheit den Eindruck, eine Staatshaftung sei bei Verstößen der Legislative generell ausgeschlossen. Von einer Beeinträchtigung des „effet utile“ des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts ist mithin auszugehen904. Für die Tatbestandsmerkmale der Amtshaftung, die einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich sind905, gilt dies erst recht. Insbesondere das Richterprivileg des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB steht dem „effet utile“ des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts entgegen, denn 899 900 901 902 903 904 905
Vgl. 4. Teil, B., III. Vgl. 4. Teil, C., II., 4., a), aa). Vgl. Fn. 581. EuGH, S. 30, Fn. 33, I-14686, Rn. 30. EuGH, S. 30, Fn. 33, I-14687, Rn. 33. A. A. Bertelmann, S. 199. Vgl. insbesondere 4. Teil, C., II., 4., a), dd), (1).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
durch diese Regelung wird dem Bürger suggeriert, eine Haftung des Staates für judikatives Unrecht sei praktisch ausgeschlossen, da sie stets von der Strafbarkeit des richterlichen Verhaltens abhänge. Eine legislative Klarstellung des deutschen Gesetzgebers, dass der Staat bei legislativen und judikativen Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht unter den vom EuGH vorgegebenen Voraussetzungen zu haften hat, ist somit geboten906. Der Gerichtshof hat erklärt, dass die unveränderte Fortgeltung nationaler Regelungen, die als solche mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind, selbst dann, wenn der fragliche Mitgliedstaat im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht handelt, Unklarheiten tatsächlicher Art bestehen lässt, weil die betroffenen Normadressaten bezüglich der ihnen eröffneten Möglichkeiten, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewissheit gelassen werden907. Nach alledem ist also von einer Pflicht zur legislativen Anpassung des deutschen Staatshaftungsrechts auszugehen. Kommt der deutsche Gesetzgeber dieser Pflicht nicht nach, droht ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß den Art. 226 ff. EG908. 2. Kodifikation eines speziellen Haftungstatbestands für Gemeinschaftsrechtsverstöße Wie soeben verdeutlicht wurde, trifft den deutschen Gesetzgeber zumindest in Bezug auf das Erfordernis der Drittbezogenheit und das kodifizierte Richterprivileg eine Anpassungspflicht. Gegenüber einer punktuellen Anpassung des deutschen Staatshaftungsrechts an das Gemeinschaftsrecht sollte allerdings der Kodifikation eines speziellen Tatbestands für die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung – möglichst in einem eigenen Staatshaftungsgesetz – der Vorzug gegeben werden. Dies hätte den Vorteil, dass nicht weiter auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch zurückgegriffen werden müsste. Zudem wäre dem Prinzip der Rechtsklarheit gedient, denn mit der Kodifikation würde die Haftung des Staates für Gemeinschaftsrechtsverstöße innerstaatlich auf eine normative Grundlage gestellt. Der Einzelne könnte einem Gesetz die Voraussetzungen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung explizit entnehmen, ohne sich eingehend mit der komplexen Rechtsprechung des EuGH auseinandersetzen zu müssen. Obgleich der nationale Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sogar Haftungsvoraussetzungen festlegen kann, die weniger streng sind als die vom EuGH determinierten909, sollten die haftungs906 907 908 909
Vgl. Bertelmann, S. 199. EuGH, Fn. 506 (Kommission/Frankreich). Bertelmann, S. 199. Vgl. EuGH, S. 38, Fn. 78, I-1153, Rn. 66.
D. Reformbedarf in den Mitgliedstaaten
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begründenden Voraussetzungen des EuGH im Rahmen einer Kodifikation der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung unverändert übernommen werden. Konflikte mit dem Gerichtshof würden dadurch vermieden und dem Grundsatz einer einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrecht wäre gedient. Abgesehen davon, dass der deutsche Gesetzgeber aus fiskalischen Gründen wohl ohnehin davon absehen würde, milde Haftungsvoraussetzungen festzulegen, macht es auch Sinn, die Haftung des Staates für Gemeinschaftsrechtsverstöße an strenge Voraussetzungen zu knüpfen. So sollte bei nicht offenkundigen Gemeinschaftsrechtsverstößen eine Staatshaftung ausgeschlossen sein, weil es dem handelnden Hoheitsträger in diesen Fällen naturgemäß schwer fällt, die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zu erkennen. Das Handeln der mitgliedstaatlichen Hoheitsträger auf dem mitunter intransparenten Gebiet des Gemeinschaftsrechts sollte nicht durch unübersehbare Haftungsrisiken gelähmt werden, zumal die finanzielle Dimension möglicher Schadensersatzforderungen bei Gemeinschaftsrechtsverstößen recht groß sein kann. Neben den vom EuGH vorgegebenen haftungsbegründenden Voraussetzungen sollten im Tatbestand der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung auch diejenigen Regelungen aufgenommen werden, die derzeit bei der Durchsetzung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs Anwendung finden können910. Insoweit soll vor allem an die Vorrangklausel des § 839 Abs. 3 BGB und die allgemeine Mitverschuldensregelung des § 254 BGB erinnert werden911. Darüber hinaus müsste die Art des zu gewährenden Schadensersatzes eindeutig geregelt werden, damit sich der Streit über die Möglichkeit einer Naturalrestitution im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung912 erledigen kann. Durch die Festlegung einer bestimmten Verjährungsfrist würde auch der Streit über die Anwendbarkeit der fünfjährigen Verjährungsfrist von Art. 43 der EuGH-Satzung913 obsolet. Im Übrigen sollte unmissverständlich geregelt sein, wer im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung aktiv und passiv legitimiert ist. Auch die Rückgriffsmöglichkeiten beim verantwortlichen Verwaltungsbzw. Amtsträger müssten normiert werden, um die insofern bestehende Rechtsunsicherheit zu überwinden. Das Lastentragungsgesetz ist insoweit ein Schritt in die richtige Richtung914. Keinesfalls sollte jedoch eine Rechtswegzuweisung aufgenommen werden, die der des Art. 34 Abs. 3 EG entspricht. Der ordentliche Rechtsweg ist bei der gemeinschaftsrechtlichen 910 911 912 913 914
Vgl. 4. Teil, C., II., 4., a). Vgl. 4. Teil, C., II., 4., a), ee) u. gg). Vgl. 4. Teil, C., II., 4., a), ff), (1). 4. Teil, C., II., 4., a), hh). 4. Teil, C., II., 4., c), aa), (1).
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4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
Staatshaftung nicht zwingend zu beschreiten, da sie nicht wie die Amtshaftung als zivilrechtliche Haftung des Beamten, die auf den Staat übergeleitet wird, konzipiert ist. Vielmehr böte sich die Regelung an, dass die Gerichtsbarkeit des primären Rechtsschutzes, die bereits die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit festgestellt hat, selbst über die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung entscheidet915. Eine Rechtswegzersplitterung und die damit verbundenen Probleme wie unzumutbare Verzögerungen des gerichtlichen Rechtsschutzes könnten dadurch vermieden werden916. Damit könnten unter Umständen auch die Verwaltungsgerichte über eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung befinden. Die rechtsstaatlich gebotene Kodifikation der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung sollte der deutsche Gesetzgeber zum Anlass nehmen, das nationale Staatshaftungsrecht zu reformieren, indem ein umfassendes Staatshaftungsgesetz verabschiedet wird. Die Föderalismusreform von 2006 hat die einschlägige Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG unangetastet gelassen. Die Impulse des Gemeinschaftsrechts sollten bei der Reform des bestehenden Staatshaftungsrechts aufgenommen werden. So müsste auch bei Verstößen gegen nationales Recht eine Haftung für legislatives Unrecht möglich sein. Es muss allerdings nicht zwangsläufig ein allgemeiner Staatshaftungstatbestand geschaffen werden, der sowohl für Gemeinschaftsrechtsverstöße als auch für Verstöße gegen nationales Recht gilt. Wie bereits dargelegt wurde, ist es sinnvoll, die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung an strenge Voraussetzungen zu knüpfen. Die Haftungsvoraussetzungen bei Verstößen gegen nationales Recht sollten hingegen milder ausgestaltet werden. Zwar bestünde die Möglichkeit, die Haftung für legislative und judikative Verstöße gegen nationales Recht ebenfalls vom Vorliegen einer hinreichenden Qualifikation des Verstoßes abhängig zu machen917, eine Haftung für exekutives Unrecht müsste allerdings auch bei nicht hinreichend qualifizierten Verstößen gegen nationales Recht möglich sein. Anderenfalls würde der bestehende Rechtsschutzstandard verkürzt, denn derzeit kann sich eine Haftung des Staates auch bei nicht hinreichend qualifizierten Verstößen der Exekutive ergeben, wenn sich das Verhalten des Amtsträgers als fahrlässig erweist. Die Haftung des Staates für legislative und judikative Verstöße gegen nationales Recht ist demgegenüber weitgehend ausgeschlossen, so dass keine Bedenken bestehen würden, die Haftung durch das Erfordernis einer hinreichenden Qualifikation zu beschrän915 Eine solche Regelung wurde bereits im Zusammenhang mit der Reform des deutschen Staatshaftungsrechts vorgeschlagen, vgl. Pfab, S. 154. 916 Vgl. Beljin, S. 238. 917 Vgl. insoweit § 1 Abs. 3 des Entwurfes der grundlegenden Normen eines Staatshaftungsgesetzes von Pfab, S. 190.
D. Reformbedarf in den Mitgliedstaaten
269
ken. Gegen einen einheitlichen Haftungstatbestand spricht schließlich auch, dass die Rechtsprechung des EuGH auf dem Gebiet des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts recht dynamisch ist. Anpassungen des Haftungstatbestands für Gemeinschaftsrechtsverstöße könnten also notwendig werden. Solche Anpassungen würden sich jedes Mal auch auf die Haftung für Verstöße gegen nationales Recht auswirken, wäre diese nicht in einem gesonderten Tatbestand kodifiziert. Was die konkrete Ausgestaltung des gesonderten Tatbestandes anbelangt, so soll auf die verschiedenen Entwürfe zur Kodifizierung des Staatshaftungsrechts verwiesen werden918. Maßgebliche Grundthese der vorgebrachten Reformvorschläge ist die Schaffung einer originären und primären Haftung des Staates wegen hoheitlicher Verletzung drittgerichteter Rechtspflichten, die grundsätzlich verschuldensunabhängig ist und eine Eigenhaftung des Amtsträgers ausschließt. Die Staatshaftung wäre demnach in ihren Anspruchsvoraussetzungen von der Person des Beamten und damit von der antiquierten zivilrechtlichen Anspruchsbegründung befreit. Durch die Anknüpfung an die Rechtswidrigkeit als Haftungsgrund würde die Einbeziehung richterrechtlicher Institute ermöglicht919.
II. Andere Mitgliedstaaten In Mitgliedstaaten wie dem Vereinigten Königreich oder Frankreich wurde bislang ebenfalls noch kein Tatbestand für die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung kodifiziert. Aus Gründen der Rechtsklarheit und -sicherheit sollte dies jedoch auch dort geschehen. Hinzu kommt, dass der „effet utile“ des Gemeinschaftsrechts nicht unwesentlich beeinträchtigt wird, wenn der Geschädigte die komplexe Rechtsprechung des EuGH und der nationalen Gerichte analysieren muss, um Rechtsschutz erlangen zu können. Insoweit ist eine Kodifikation des Haftungstatbestandes auch gemeinschaftsrechtlich geboten. Gleichwohl ist es recht unwahrscheinlich, dass die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in absehbarer Zeit eine ausdrückliche Regelung in den Mitgliedstaaten erfährt, denn die nationalen Gesetzgeber verhalten sich auf dem Gebiet der Staatshaftung traditionell sehr zurückhaltend. Rückblickend scheint es auch gerechtfertigt gewesen zu sein, dass in den Mitgliedstaaten von einer Kodifikation der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung bislang Abstand genommen wurde, da sich die durch den EuGH forcierte Rechtsentwicklung in diesem Bereich als sehr dynamisch 918 Vgl. die Synopse maßgeblicher Normierungen in den Entwürfen zur Kodifizierung des Staatshaftungsrechts bei Pfab, S. 197 ff. 919 Pfab, S. 155.
270
4. Teil: Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts
erwiesen hat. Mittlerweile hat sich jedoch eine gefestigte Rechtsprechung des EuGH etabliert, die mit der Anerkennung einer Haftung der Mitgliedstaaten für judikatives Unrecht ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Ausgehend davon müssten die nationalen Gesetzgeber durchaus Haftungstatbestände formulieren können, die den Bürgern zu mehr Rechtssicherheit verhelfen.
5. Teil
Rechtsprechungsentwicklungen in Deutschland Kann in Fällen mit europarechtlichem Hintergrund kein primärer Rechtsschutz erlangt werden, wird nicht selten auf die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung rekurriert. Die Hoffnung, auf diesem Wege noch Rechtsschutz zu erlangen, begründet die Attraktivität dieses Rechtsinstituts. In Anbetracht der strengen Haftungsvoraussetzungen sind die Erfolgsaussichten entsprechender Klagen allerdings begrenzt. Dies belegen auch die aktuellen Urteile deutscher Gerichte, die nachfolgend kurz vorgestellt werden. Der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung kommt letztlich die Funktion eines „Notankers“ zu – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ob dieser „Notanker“ in der Sache „Danske Slagterier“ verfängt, bleibt abzuwarten. Vor dem Hintergrund der Feststellungen des EuGH zur Verjährung1 ist es denkbar, dass der BGH die geltend gemachten Schadensersatzansprüche, die klägerseits auf über 143 Millionen Euro beziffert worden sind, zumindest zum Teil im Sinne des § 852 Abs. 1 BGB a. F. für verjährt erklären wird.
A. Aktuelle Urteile deutscher Gerichte Von den in jüngster Zeit ergangenen Urteilen deutscher Gerichte ist zunächst das Urteil des OLG Frankfurt am Main vom 13. März 2008 zu nennen2, das insofern beachtenswert ist, als es ausnahmsweise nicht die Haftung des Bundes für Gemeinschaftsrechtsverstöße betraf, sondern die des Landes Hessen. Hinzu kommt, dass das Gericht über judikatives Unrecht befinden musste. Die Klägerin hatte geltend gemacht, das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main und der Hessische Verwaltungsgerichtshof hätten in einem Verfahren nach §§ 80 Abs. 5, 146 VwGO zu ihren Lasten europäisches Recht fehlerhaft bzw. nicht angewendet. Hinsichtlich des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main verneinte das OLG Frankfurt am Main zu Recht eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung, da der Beschluss nicht letztinstanzlich erging3. Auch in Bezug auf den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs sah das OLG die Voraussetzungen der 1 2 3
EuGH, S. 74, Fn. 274, Rn. 27 ff. OLG Frankfurt am Main, S. 177, Fn. 353. OLG Frankfurt am Main, S. 177, Fn. 353, Rn. 17.
272
5. Teil: Rechtsprechungsentwicklungen in Deutschland
gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung als nicht gegeben an, denn durch den Beschluss sei das europäische Recht jedenfalls nicht in hinreichend qualifizierter, d. h. – da es um den Vorwurf eines judiziellen Verstoßes gehe – offenkundiger Weise verletzt worden. Es habe nicht auf der Hand gelegen, dass die Auslegung des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 KWG im Sinne einer „wirtschaftlichen Betrachtungsweise“ mit europäischem Recht, insbesondere mit der WDL-Richtlinie4 und Art. 56 EG unvereinbar ist; der gegenteilige Standpunkt sei nicht unvertretbar gewesen5. Von Bedeutung ist auch das Urteil des BGH vom 22. Januar 2009, in dessen Rahmen entschieden wurde, dass der Bundesrepublik Deutschland bei der Inkraftsetzung der Pfanderhebungs- und Rücknahmepflicht zum 1. Januar 2003 kein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die Verpackungsrichtlinie 94/62/EG6 und gegen Art. 28 EG unterlaufen sei7. Das Urteil des BGH dokumentiert die Schwierigkeit, einen hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoß zur Begründung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung annehmen zu können. Zwar konnte den Entscheidungen des EuGH vom 14. Dezember 2004 entnommen werden, dass die Umstellung vom „Dualen System Deutschland“ auf eine Pfanderhebungsund Rücknahmepflicht von Einweggetränkeverpackungen nicht gemeinschaftsrechtskonform abgelaufen ist8, einen hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoß hat der BGH gleichwohl nicht festgestellt. Vielmehr folgte er der Ansicht des OLG Köln9, das zutreffend davon ausgegangen sei, dass eine einfache Verletzung des Gemeinschaftsrechts zur Annahme eines qualifizierten Verstoßes nicht ausreicht10. So sei der Bundesrepublik Deutschland in Ermangelung einer abschließenden gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung auf dem Gebiet der Verpackungen und Verpackungsabfälle bei der Wahl der Mittel ein weiter Gestaltungsraum verblieben, um ihr richtlinienkonformes Ziel der Förderung von wieder verwendbaren Verpackungen im Sinne des Art. 5 der Verpackungsrichtlinie zu erreichen. Des Weiteren treffe die Verpackungsrichtlinie keine näheren Re4 Richtlinie 93/22/EWG des Rates vom 10. Mai 1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. L 141, S. 27. 5 OLG Frankfurt am Main, S. 177, Fn. 353, Rn. 20. 6 Richtlinie 94/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 1994 über Verpackungen und Verpackungsabfälle, ABl. L 365, S. 10. 7 BGH v. 22. Januar 2009, Az.: III ZR 233/07; abrufbar über http://www.bundes gerichtshof.de. 8 Vgl. EuGH v. 14. Dezember 2004, Rs. 463/01 (Kommission/Deutschland), abrufbar über http://curia.europa.eu; EuGH v. 14. Dezember 2004, Rs. C-309/02 (Radlberger u. Spitz), abrufbar über http://curia.europa.eu. 9 Vgl. OLG Köln v. 9. August 2007, Az.: 7 U 147/06. 10 BGH, Fn. 7, Rn. 25.
A. Aktuelle Urteile deutscher Gerichte
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gelungen über die Organisation oder Ausgestaltung von Systemen zur Förderung von wieder verwendbaren Verpackungen und es fehlten genauere Vorgaben, wie ein Systemwechsel zu gestalten ist11. Schließlich hat der BGH auch berücksichtigt, dass nationale Gerichte vor und nach der Einführung des Pfand- und Rücknahmesystems wiederholt die Gemeinschaftsrechtskonformität der betreffenden Regelungen bekräftigt hatten12, und der EuGH anlässlich eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Dänemark13 ausgeführt hat, die Verpflichtung zur Errichtung eines Pfand- und Rücknahmesystems sei zur Erreichung der Ziele des Umweltschutzes erforderlich und die dadurch bedingten Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit seien nicht unverhältnismäßig14. Das Urteil des LG Berlin vom 11. Februar 2009 in Sachen Phoenix Kapitalanlagegesellschaft GmbH ist ebenfalls bedeutsam15. Das insolvente Unternehmen soll in den Jahren 1997 bis 2005 mindestens 30.000 Kunden um mehr als 500 Millionen Euro betrogen haben. Bereits im Jahr 2005 meldete der Kläger einen Schaden bei der Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen (EdW) sowie seine Forderung zur Insolvenztabelle an. Der Kläger erhielt jedoch keine Zahlungen, wenngleich die EdW seit Frühjahr 2008 Anträge bearbeitet16. Insgesamt hat die EdW über rd. 30.000 Entschädigungsanträge zu entscheiden. Der Kläger vertrat im Rahmen des Gerichtsverfahrens die Ansicht, einen Anspruch gegen die EdW auf Zahlung einer Entschädigung zu haben, den diese nicht erfüllen könne, weil die Einlagensicherungsrichtlinie17 in Deutschland fehlerhaft umgesetzt worden sei18. Vor diesem Hintergrund verlangte er Schadensersatz von der Bundesrepublik Deutschland. Das LG Berlin wies die Klage indes ab, da die Voraussetzungen für eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung mangels eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes nicht gegeben 11
BGH, Fn. 7, Rn. 26. BGH, Fn. 7, Rn. 35. 13 EuGH v. 20. September 1988, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, 4607, Rn. 13. 14 BGH, Fn. 7, Rn. 33. 15 LG Berlin v. 11. Februar 2009, Az.: 23 O 44/08. 16 Parallel dazu begehrte die EdW in einem Rechtsstreit Schadensersatz von einem Wirtschaftsprüfungsunternehmen, das eine Sonderprüfung bei der Phoenix GmbH nicht ordnungsgemäß durchgeführt hatte. Die Klage war allerdings nicht erfolgreich, da der Vertrag zwischen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und dem Wirtschaftsprüfungsunternehmen keine Schutzwirkung zu Gunsten der EdW entfaltete, vgl. BGH v. 7. Mai 2009, Az.: III ZR 277/08, abrufbar über http://www.bundesgerichtshof.de. 17 Richtlinie 97/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. März 1997 über Systeme für die Entschädigung der Anleger, ABL. L 84, S. 22. 18 LG Berlin, Fn. 15, Rn. 4 ff. 12
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5. Teil: Rechtsprechungsentwicklungen in Deutschland
seien. Das Gericht führte insoweit aus, dass bezüglich der Finanzierung der EdW kein hinreichend qualifizierter Verstoß gegeben sei, weil die bei der Umsetzung der Einlagensicherungsrichtlinie vorgenommene Auslegung weder im Widerspruch zum Wortlaut noch offenkundig im Widerspruch zur Zielsetzung der Richtlinie stehe19. Zwar ergebe sich aus Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie, dass das Einlagensicherungssystem für die Entschädigung der Anleger eine Deckung von mindestens 20.000 ECU je Anleger gewähren müsse, wie das System zu finanzieren ist, gebe die Richtlinie jedoch nicht im Einzelnen vor20. Die Regelung des § 8 Abs. 2 EAEG sehe in Umsetzung dieser Richtlinie eine Finanzierung der EdW durch Jahresbeiträge und – soweit erforderlich – Sonderbeiträge und Kredite vor. Das sei nicht zu beanstanden. Es könne der Beklagten nicht vorgeworfen werden, die regelmäßigen Beiträge nicht so bemessen zu haben, dass der EdW eine Entschädigung sämtlicher Anleger ohne zusätzliche Mittel aus vorhandenem Kapital sogleich möglich ist21. Schließlich stellte das LG Berlin fest, dass ein hinreichend qualifizierter Verstoß auch nicht deswegen anzunehmen sei, weil im EAEG weder Fristen für die Prüfung der angemeldeten Entschädigungsansprüche noch Sanktionen für den Fall der Fristversäumung festgelegt seien22. Die Richtlinie selbst sehe nämlich keine konkreten Fristen für die Prüfung der angemeldeten Ansprüche vor, sondern spreche in Art. 9 Abs. 1 S. 1 nur davon, dass die Anleger „so rasch wie möglich“ zu entschädigen sind. Dem entspreche die Umsetzung in § 5 Abs. 4 S. 1 EAEG, wonach die Ansprüche „unverzüglich“ (also ohne schuldhaftes Zögern, § 121 Abs. 1 S. 1 BGB) zu prüfen sind. Unerheblich sei es, ob es im konkreten Fall bei der EdW zu vermeidbaren Verzögerungen gekommen ist oder nicht, da dies kein Problem der Umsetzung der Richtlinie durch den Gesetzgeber sei, um die es nur gehe23. Insofern stellt sich allerdings die Frage, ob eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nicht unter dem Gesichtspunkt exekutiven Unrechts zu bejahen gewesen wäre, wenn der Kläger einen entsprechenden Antrag gestellt hätte. Schließlich erfolgte die Entschädigung durch die EdW, bei der es sich um nicht rechtsfähiges Sondervermögen des Bundes handelt, nicht im Sinne von Art. 9 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie „so rasch wie möglich“. Das Urteil des LG Berlin verdeutlicht jedenfalls, dass bei Gemengelagen zumindest hilfsweise auf weitere in Betracht kommende Gemeinschaftsrechtsverstöße abgestellt werden sollte, d.h. nicht ausschließlich auf legislatives Unrecht, wenn darüber hinaus auch ein exekutiver oder judikativer Gemeinschaftsrechtsverstoß anzunehmen ist24. 19 20 21 22 23
LG LG LG LG LG
Berlin, Berlin, Berlin, Berlin, Berlin,
Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.
15, 15, 15, 15, 15,
Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.
21. 22. 23. 26. 27.
A. Aktuelle Urteile deutscher Gerichte
275
Das Urteil des KG Berlin vom 14. April 2009 verdeutlicht einmal mehr, dass Klagen unter Berufung auf das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht nur selten erfolgreich sind25. So hat das KG Berlin die Berufung der Klägerin, einer Verwertungsgesellschaft nach dem Urhebergesetz, zurückgewiesen. Die Klägerin hatte Schadensersatzansprüche in Höhe von insgesamt 87.64 Millionen Euro geltend gemacht, weil die Urheberrechtsrichtlinie26 nicht bzw. falsch in Deutschland umgesetzt worden sei. Sie war der Auffassung, ihre Klage sei unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung begründet. Der in Art. 5 Abs. 2 lit. b der Richtlinie vorgesehene „gerechte Ausgleich“ erfordere unabweislich, dass den Sendeunternehmen zum Ausgleich für die Möglichkeit privater Vervielfältigungen gemäß § 53 UrhG – ebenso wie allen anderen Schutzrechtsinhabern auch – eine angemessene Vergütung gewährt werden müsse. Hierzu sei es zwingend notwendig gewesen, die privaten Hörfunk- und Fernsehveranstalter an den Einnahmen aus der Geräte- und Speichermedienabgabe gemäß § 54 Abs. 1 UrhG zu beteiligen. In der unterlassenen Gesetzesänderung liege eine „partielle Nichtumsetzung“ der Richtlinie 2001/29/EG und somit eine haftungsbegründende hinreichend qualifizierte Verletzung des Gemeinschaftsrechts27. Das LG Berlin hatte in der ersten Instanz eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung verneint, da die Richtlinie nicht die Verleihung von Rechten an Einzelne beinhalte, die aufgrund der Richtlinie bestimmt werden können. Was ein „gerechter Ausgleich“ im Sinne des Art. 5 Abs. 2 lit. b der Richtlinie sein soll, lasse sich auf der Grundlage der Richtlinie mangels näherer Angaben nicht bestimmen28. Das KG Berlin setzte sich vor diesem Hintergrund zunächst mit dem Haftungskriterium der Individualbegünstigung auseinander. Insoweit stellte sich für das Gericht die Frage, ob das Kriterium der hinreichenden Bestimmtheit einer Richtlinienbestimmung bereits im Zusammenhang mit dem individualbegünstigenden Charakter der verletzten Norm abschließend zu prüfen ist oder erst im Rahmen der Prüfung der hinreichenden Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes. In Bezug auf den Fall einer fehlerhaften Richtlinienumsetzung erklärte das KG Berlin, dass es im Unterschied zum Fall einer vollständigen Nichtumsetzung weder notwendig noch zweckmäßig erscheine, die Prüfung der hinreichenden Bestimmtheit bereits bei der Frage nach dem individualbegünstigenden Charakter der verletzten Norm vorweg24
Vgl. 4. Teil, B., II., 1., b), cc). KG Berlin v. 14. April 2009, Az.: 9 U 3/08. 26 Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, ABl. L 167, S. 10. 27 KG Berlin, Fn. 25, Rn. 8. 28 LG Berlin v. 28. November 2007, Az.: 23 O 37/07, Rn. 27 f. 25
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5. Teil: Rechtsprechungsentwicklungen in Deutschland
zunehmen29. Diese Ansicht kann jedoch nicht überzeugen. Bei Verstößen gegen Art. 249 Abs. 3 EG ist nämlich – unabhängig davon, ob es sich um einen Fall der Nichtumsetzung oder einen Fall der fehlerhaften Umsetzung handelt – im Rahmen der Prüfung der Individualbegünstigung stets festzustellen, ob das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an Einzelne umfasst und der Inhalt der Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden kann. Ist Letzteres nicht der Fall, kann keine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung angenommen werden. Zwar ist die Bestimmtheit der verletzten Vorschrift ein Kriterium, das grundsätzlich auch bei der Prüfung der hinreichenden Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes zu berücksichtigen ist, eine eigenständige Bedeutung kommt ihm in diesem Zusammenhang allerdings nicht zu, wenn ein Verstoß gegen Art. 249 Abs. 3 EG vorliegt30. Das KG Berlin ließ es im Ergebnis offen, ob eine Individualbegünstigung anzunehmen ist. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung verneinte es vielmehr bereits deswegen, weil Art. 5 Abs. 2 lit. b der Urheberrechtsrichtlinie nicht den zwingenden Schluss rechtfertige, dass den Sendeunternehmen als Ausgleich für die Beschränkung des ihnen gemäß Art. 2 lit. e der Richtlinie zustehenden Schutzrechtes durch das Recht der Privatkopie ein finanzieller Ausgleich in Form einer Beteiligung an der Geräte- und Speichermedienabgabe nach § 54 Abs. 1 UrhG eingeräumt werden müsste31. Das KG stellte überdies klar, dass ohnehin nicht von einem hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoß auszugehen wäre. Durch die Verwendung des bislang nicht gebräuchlichen Rechtsbegriffs „gerechter Ausgleich“ in Art. 5 Abs. 2 lit. b der Urheberrechtsrichtlinie habe den Mitgliedstaaten offenbar ganz bewusst ein weiter Ermessensspielraum bei der Umsetzung der Richtlinie eingeräumt werden sollen. Da weder Art. 5 Abs. 2 lit. b der Richtlinie noch den der Richtlinie vorangestellten Erwägungsgründen zu entnehmen sei, wie ein „gerechter Ausgleich“ im Einzelfall zu erfolgen hat, bleibe diese Entscheidung letztlich den Mitgliedstaaten überlassen32. In diesem Zusammenhang verwies das Gericht auf die Umsetzungspraxis in anderen Mitgliedstaaten der EU und Erklärungen der Kommission, denen zu entnehmen gewesen sei, dass ein „gerechter Ausgleich“ im Sinne von Art. 5 Abs. 2 lit. b der Richtlinie nicht zwingend eine an die Inhaber des jeweiligen Schutzrechts zu zahlende Vergütung beinhalten muss33. Schließlich begründete das KG Berlin, weshalb es trotz der Nichtzulassung der Revision von einem Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 234 EG abgesehen hat. So erklärte es, 29 30 31 32 33
KG Berlin, Fn. 25, Rn. 26. Vgl. 4. Teil, B., II., 1., c), aa). KG Berlin, Fn. 25, Rn. 28. KG Berlin, Fn. 25, Rn. 52. KG Berlin, Fn. 25, Rn. 56 ff.
B. Die „Schrottimmobilien“-Fälle
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dass die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 540 ZPO ein innerstaatliches Rechtsmittel im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG darstelle. Im Übrigen liege zu den entscheidungserheblichen rechtlichen Gesichtspunkten bereits eine gesicherte gemeinschaftsrechtliche Rechtsprechung vor, was ein Vorabentscheidungsverfahren entbehrlich mache34.
B. Die „Schrottimmobilien“-Fälle Besondere Brisanz kommt den Staatshaftungsklagen in Sachen „Schrottimmobilien“ zu, da im Hinblick auf insgesamt über 300.000 Geschädigte35 Schadensersatzzahlungen in Milliardenhöhe drohen. Deshalb soll die Rechtslage näher beleuchtet werden. Hintergrund der Verfahren ist, dass in den 1990er Jahren Vermittler von Immobilienwohnanlagen Verbraucher in ihren Privatwohnungen aufgesucht und ihnen im Rahmen eines Steuersparmodells darlehensfinanzierte Anlagen in Immobilien angeboten haben. Die Zahlung von Tilgung und Zinsen des grundpfandrechtlich gesicherten Darlehens an das Kreditinstitut, das an der Finanzierung beteiligt war, sollte später aus den erwirtschafteten Mieteinnahmen erfolgen36. Da diese jedoch wiederholt ausgeblieben sind, stellt sich für die Betroffenen die Frage, wie sie von den geschlossenen Verträgen Abstand nehmen können. In Betracht kommt der Widerruf des Darlehensvertrages, der regelmäßig zeitlich unbefristet möglich ist, weil es an einer ordnungsgemäßen Widerrufsbelehrung fehlt37. Ein solcher Widerruf hätte aber zur Folge, dass der Betroffene die Darlehensvaluta zuzüglich Zinsen zurückzahlen müsste, was diesem aber nur schwerlich möglich wäre, weil mit dem Darlehen der Immobilienkauf finanziert worden ist. Der Kaufvertrag kann hingegen nicht rückabgewickelt werden, denn in dem Darlehens- und Kaufvertrag ist kein verbundenes Geschäft im Sinne des zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG zu erblicken und der Kaufvertrag selbst ist nicht gemäß dem seinerzeit geltenden § 1 Abs. 2 Nr. 3 HWiG widerruflich38. Damit besteht für die Betroffenen praktisch keine Möglichkeit, Primärrechtsschutz zu erlangen. In Anbetracht dessen stellt sich die Frage, ob im Wege einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Sekundärrechtsschutz zu ge34
KG Berlin, Fn. 25, Rn. 65 f. Mitunter ist sogar von bis zu 1.000 000 Geschädigten die Rede, vgl. Späth, ZfIR 2007, 568; Hoppe/Lang, ZfIR 2005, 800. 36 Kahl/Essig, WM 2007, 525. 37 Vgl. EuGH v. 13. Dezember 2001, Rs. C-481/99 (Heininger), Slg. 2001, I-9945. 38 Kahl/Essig, WM 2007, 525; vgl. insoweit auch EuGH v. 25. Oktober 2005, Rs. C-350/03 (Schulte), Rn. 75, abrufbar über http://curia.europa.eu. 35
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5. Teil: Rechtsprechungsentwicklungen in Deutschland
währen ist. Nach einem positiven Gutachten sind beim LG Berlin entsprechende Klagen eingereicht worden. Das Gutachten hatte im Wesentlichen Folgendes ergeben: „1. Art. 4 Satz 3 RL 85/577/EWG verleiht dem Verbraucher eigene Rechte und ist damit eine individualschützende Norm. 2. Die Bundesrepublik Deutschland verstößt gegen Art. 4 Satz 3 RL 85/577/EWG. Die Verpflichtung aus Art. 4 Satz 3 RL 85/577/EWG, „geeignete Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers“ vorzusehen, wurde im deutschen Recht nicht umgesetzt. Eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften, die den Anforderungen des Art. 4 Satz 3 RL 85/577/EWG entsprechen würde, ist nicht möglich. 3. „Geeignete Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers“ gem. Art. 4 Satz 3 RL 85/577/EWG sind solche, die dem Verbraucher eine freie und selbstbestimmte Entscheidung über die Ausübung seines Widerrufsrechts ermöglichen. Wurde der Verbraucher nicht über sein Widerrufsrecht belehrt, so hat er meist keine Kenntnis von dem Widerrufsrecht und kann dieses deswegen auch nicht frei ausüben. Bei späterer Kenntniserlangung vom Widerrufsrecht ist eine freie Ausübung des Widerrufsrechts bezüglich eines Darlehensvertrages nur dann möglich, wenn der Verbraucher die Darlehensvaluta noch nicht verwendet hat. Um den Zweck des Widerrufsrechts, eine freie Entscheidung herbeizuführen, zu erreichen, können „geeignete Maßnahmen“ nur solche sein, die verhindern, dass die zwischenzeitlichen Veränderungen die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers beeinträchtigen. Deswegen muss die Bundesrepublik Deutschland in ihrem nationalen Recht eine Vorschrift vorsehen, die bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht das Darlehensverwendungsrisiko auf den Darlehensgeber überträgt. 4. Der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ist hinreichend qualifiziert. Die deutschen Vorschriften entsprechen nicht einmal dem Mindestinhalt des Art. 4 Satz 3 RL 85/577/EWG. 5. Der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht hat (kausal) einen Schaden beim Verbraucher verursacht. 6. Der Haftungsanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland ist nicht verjährt. Die Verjährungsfrist von drei Jahren beginnt erst, wenn der Verbraucher von seinem Widerrufsrecht inklusive der Folge des Art. 4 Satz 3 RL 85/577/EWG Kenntnis erlangt hat.“39
Am 3. Dezember 2008 ist ein erstes Urteil des LG Berlin in Sachen „Schrottimmobilien“ ergangen. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ist allerdings verneint worden40. Die Frage, ob das deutsche Recht mit den Vorgaben der Richtlinie 85/577/EWG41 konform ist und ein möglicher Ver39 Zusammenfassung der Ergebnisse des Gutachtens von Prof. Dr. Wolfgang Kahl, abrufbar über http://www.arge-staatshaftung-schrottimmobilien.de. 40 LG Berlin v. 3. Dezember 2008, Az.: 23 O 503/07, ZIP 2009, 657 (nicht rechtskräftig); dazu: Kahl/Essig, ZIP 2009, 659. Die Berufung ist anhängig beim KG Berlin unter dem Az.: 22 U 10/09.
B. Die „Schrottimmobilien“-Fälle
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stoß gegen Art. 249 Abs. 3 EG als hinreichend qualifiziert angesehen werden kann, ließ das Gericht offen. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung lehnte es bereits deswegen ab, weil es an einem durch eine mögliche Pflichtverletzung bei der Richtlinienumsetzung kausal verursachten Schaden fehle42. Das LG Berlin stellte insofern fest: „Die RL 85/577/EWG verpflichtet die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH, geeignete Maßnahmen zu treffen, damit der Verbraucher nicht die mit der finanzierten Kapitalanlage verbundenen Risiken zu tragen hat, wenn er es bei rechtzeitiger Belehrung hätte vermeiden können, sich diesen Risiken auszusetzen (vgl. EuGH ZIP 2005, 1559 (m. Bespr. J. Hoffmann, S. 1985) = NJW 2005, 3551, 3554 – Schulte, dazu EWiR 2005, 835 (Derleder); EuGH ZIP 2005, 1965 (m. Bespr. J. Hoffmann, S. 1985) = NJW 2005, 3555 – Crailsheimer Volksbank, dazu EWiR 2005, 837 (Derleder)). Dies kann nach der anschließenden Rechtsprechung des BGH (vgl. BGH ZIP 2006, 1187 = NJW 2006, 2099, 2101 ff., dazu EWiR 2006, 463 (Rösler)) nach geltendem nationalen Recht nur dadurch geschehen, dass ein Anspruch des Verbrauchers aus Verschulden bei Vertragsschluss gegen die Bank wegen Verletzung der Pflicht zur Belehrung angenommen wird. Ein solcher Anspruch kommt aber nicht in Betracht, wenn der Verbraucher – wie hier die Klägerin – zum Zeitpunkt des Abschlusses des Darlehensvertrages bereits an das zu finanzierende Geschäft gebunden war, da er es dann auch bei Belehrung über sein Recht zum Widerruf des Darlehensvertrages nicht hätte vermeiden können, sich den Anlagerisiken auszusetzen [. . .].“43
In Anbetracht der zeitlichen Abfolge der Vertragsabschlüsse sah sich das LG Berlin also nicht imstande, der Klägerin Schadensersatz zuzusprechen, da diese auch dann an das zu finanzierende Geschäft gebunden gewesen wäre, wenn sie den Darlehensvertrag nach ordnungsgemäßer Belehrung widerrufen hätte. Seiner Ansicht nach sei der Staat in diesem Fall nicht verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu treffen, damit der Verbraucher nicht die mit der finanzierten Kapitalanlage verbundenen Risiken zu tragen hat. Da das Gericht in Anlehnung an die Rechtsprechung des BGH davon ausgegangen ist, dass geeignete Maßnahmen im Sinne des Art. 4 S. 3 der Richtlinie 85/577/EWG in Deutschland nur durch die Annahme eines Anspruchs aus culpa in contrahendo getroffen werden könnten, hat es einen solchen Anspruch konsequenterweise nicht bejaht. Vor diesem Hintergrund stellte das LG Berlin fest, dass der Klägerin kein Schaden entstanden sei, der auf einen Verstoß gegen Art. 249 Abs. 3 EG zurückgeführt werden könne. Die Begründung des LG Berlin vermag in Bezug auf die zeitliche Differenzierung nicht zu überzeugen. Es erscheint nicht sachgerecht, die Gewäh41 Richtlinie des Rates v. 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. L 372, S. 31. 42 LG Berlin, Fn. 40, S. 658. 43 LG Berlin, a. a. O.
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5. Teil: Rechtsprechungsentwicklungen in Deutschland
rung von Schadensersatz strikt davon abhängig zu machen, ob zuerst der Darlehensvertrag oder zuerst das finanzierte Geschäft abgeschlossen worden ist. Nicht selten dürfte nämlich die zeitliche Abfolge der Vertragsschlüsse zufällig sein. Je enger der räumliche und zeitliche Zusammenhang der Vertragsunterzeichnungen, desto weniger kann es darauf ankommen, in welcher Reihenfolge die Verträge abgeschlossen worden sind. Hinzu kommt, dass selbst der EuGH keine zeitliche Differenzierung vornimmt. So hat der Gerichtshof in „Crailsheimer Volksbank“ unterschiedslos die Pflicht der Mitgliedstaaten aufgezeigt, geeignete Maßnahmen zum Verbraucherschutz im Sinne von Art. 4 S. 3 der Richtlinie zu treffen, obwohl in einem der drei Ausgangsverfahren das finanzierte Geschäft vor dem Darlehensvertrag abgeschlossen worden war44. Das Rechtsinstitut der culpa in contrahendo ist indes nicht geeignet, einen umfassenden Verbraucherschutz im Sinne von Art. 4 S. 3 der Richtlinie zu gewähren, da es – wie das LG Berlin zu Recht ausgeführt hat – nur dann Anwendung findet, wenn der Darlehensvertrag vor dem finanzierten Geschäft abgeschlossen worden ist. Eine geeignete Maßnahme im Sinne von Art. 4 S. 3 der Richtlinie wäre stattdessen zum Beispiel die Übertragung des Risikos der Darlehensverwendung auf den Darlehensgeber, denn dieser hat es in der Hand, das Verwendungsrisiko zu vermeiden, indem er den Verbraucher ordnungsgemäß belehrt45. Das deutsche Recht sieht eine solche oder eine ähnlich geeignete Regelung allerdings nicht vor46. Entgegen der Ansicht des Landgerichts Berlin ist somit sehr wohl von einem Verstoß gegen Art. 249 Abs. 3 EG auszugehen, der eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung auslösen kann. Aus den Erwägungsgründen der Richtlinie 85/577/EWG ergibt sich zudem, dass das durch sie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an Einzelne umfasst47. Der Inhalt des subjektiven Rechts des Verbrauchers, über das Widerrufsrecht belehrt und im Fall des Verstoßes durch geeignete Maßnahmen geschützt zu werden, kann auch auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden48. Zweifelhaft ist allerdings, ob eine hinreichende Qualifikation des Gemeinschaftsrechtsverstoßes anzunehmen ist, zumal der EuGH für den Fall einer nicht ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie klargestellt hat, dass die Haftung der Mitgliedstaaten nur unter engen Voraussetzungen möglich ist, weil die Wahrnehmung der Rechtsetzungstätigkeit nicht jedes Mal 44 EuGH v. 25. Oktober 2005, Rs. C-229/04 (Crailsheimer Volksbank), Rn. 49, abrufbar über http://curia.europa.eu. Vgl. auch Kahl/Essig, ZIP 2009, 659 (660 f.). 45 Kahl/Essig, WM 2007, 525 (528); Oechsler, NJW 2006, 2451. 46 Kahl/Essig, WM 2007, 525 (532). 47 Vgl. EuGH, S. 37, Fn. 71. 48 Vgl. Kahl/Essig, WM 2007, 525 (530).
B. Die „Schrottimmobilien“-Fälle
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durch die Möglichkeit von Schadensersatzklagen behindert werden dürfe49. In der Literatur wird jedoch vertreten, ein offenkundiger, erheblicher und damit hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß sei gegeben, weil das nationale Recht nicht dem Mindestinhalt von Art. 4 S. 3 der Richtlinie entspreche. Das insofern bestehende Ermessen der Mitgliedstaaten sei begrenzt, da geeignete Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers nur solche sein könnten, die das Fehlen einer Widerrufsbelehrung effektiv sanktionieren50. Von einem begrenzten Ermessen kann jedoch im Hinblick auf das Maß an Klarheit und Genauigkeit von Art. 4 S. 3 der Richtlinie 85/577/EWG nur schwerlich ausgegangen werden, denn dieser Regelung ist nicht eindeutig zu entnehmen, welche geeigneten Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers die innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorsehen sollen51. Die Umsetzungsmaßnahmen in Deutschland standen mithin nicht in einem offenen Widerspruch zu Wortlaut und Zielsetzung der Richtlinie. Hinzu kommt, dass der deutsche Gesetzgeber bei der Transformation der Richtlinie in den 1980er Jahren der Rechtsprechung des EuGH nichts zur Auslegung der in Rede stehenden Vorschrift entnehmen konnte. Erst nach der Umsetzung und dem Eintritt der Schäden in den „Schrottimmobilien“-Fällen hat der Gerichtshof in den Entscheidungen „Heininger“52, „Schulte“53 und „Crailsheimer Volksbank“54 seine Auffassung dazu kundgetan. Der legislative Gemeinschaftsrechtsverstoß war mithin entschuldbar und keineswegs hinreichend qualifiziert55. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der BGH im Rahmen seiner Rechtsprechung offenkundig gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hat. Eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für judikatives Unrecht scheidet somit gleichfalls aus56.
49 50 51 52 53 54 55 56
EuGH, S. 47, Fn. 135, I-1668, Rn. 40. Kahl/Essig, WM 2007, 525 (533). Vgl. Späth, ZfIR 2007, 568 (572). EuGH, Fn. 37. EuGH, Fn. 38. EuGH, Fn. 44. Sprau, in: Palandt, § 839, Rn. 9. Vgl. Späth, ZfIR 2007, 568 (572).
6. Teil
Schlussbetrachtung Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, einen Beitrag für mehr Rechtsklarheit und -sicherheit auf dem Gebiet des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts zu leisten. In Anbetracht dessen sind die Zusammenhänge dieses richterrechtlich geprägten Rechtsgebietes eingehend erläutert worden. Die einschlägige Judikatur des EuGH ist systematisch erfasst und vorgestellt worden, um das derzeitige Fundament des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts aufzuzeigen. Durch Urteile des Gerichtshofs wird es in Zukunft weitere Präzisierungen und Konturierungen des Haftungsinstituts geben. Die Verfahren in Sachen „Schrottimmobilien“ unterstreichen die Bedeutung einer Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße, zumal dem deutschen Staat Schadensersatzzahlungen in Milliardenhöhe drohen1. In Anbetracht der wichtigen Funktion des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts sollten die Mitgliedstaaten nicht weiter zögern, nach Maßgabe der Vorgaben des EuGH spezielle Haftungstatbestände zu kodifizieren, denen der Einzelne die Haftungsvoraussetzungen entnehmen kann, ohne sich eingehend mit der komplexen Rechtsprechung des EuGH auseinandersetzen zu müssen2.
A. Ergebnisse 1. Die Haftung für hoheitliches Unrecht ist ein Grundsatz, dessen Entwicklung mit der wissenschaftlichen Erfassung des Staates als selbständiger Rechtspersönlichkeit in der Moderne zusammenhing und sich in Europa nach und nach etabliert hat. In Deutschland sah das am 1. Januar 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch allerdings lediglich die Haftung der verfassungsmäßigen Vertreter öffentlich-rechtlicher Körperschaften sowie eine Beamtenhaftung vor. Erst mit der Kodifikation einer Haftungsübernahme in Art. 131 der Weimarer Reichsverfassung, der später seine Entsprechung in Art. 34 GG fand, wurde eine Haftung des Staates verfassungsrechtlich verankert. Im Vereinigten Königreich ermöglichte der „Crown Proceedings Act“ von 1947 erstmals eine direkte Inanspruchnahme der 1 2
Vgl. 5. Teil, II. Vgl. 4. Teil, D.
A. Ergebnisse
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„Krone“ bei hoheitlichem Unrecht und in Frankreich trat im Urteil „Blanco“ des Tribunal des Conflits aus dem Jahr 1873 die Notwendigkeit der Schaffung von Staatshaftungsregelungen zutage. Auf Unionsebene hat der Grundsatz einer Haftung für hoheitliches Unrecht in der außervertraglichen Gemeinschaftshaftung gemäß Art. 288 Abs. 2 EG und der durch den EuGH entwickelten gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Niederschlag gefunden. Der am 13. Dezember 2007 unterzeichnete Vertrag von Lissabon sieht keine Staatshaftungsregelung vor. Auch nach dem Inkrafttreten des Vertrags würde die Rechtsprechung des EuGH daher weiterhin alleiniger Maßstab für eine Haftung der Mitgliedstaaten sein. Die EU hätte gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV für hoheitliches Unrecht zu haften. 2. Einen besonderen Stellenwert innerhalb der Judikatur des EuGH zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung nimmt die „Francovich u. a.“-Entscheidung von 1991 ein, da erstmals konkrete Haftungsvoraussetzungen festgelegt wurden. Zuvor hatte der Gerichtshof den Mitgliedstaaten nicht nur die Entscheidung über das „Wie“ einer Haftung überlassen, sondern auch die über das „Ob“. Seit „Francovich u. a.“ ist das gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsrecht in zahlreichen Urteilen näher konturiert und die Voraussetzungen sind präzisiert worden. Während sich zahlreiche Entscheidungen in einer punktuellen Rechtsfortbildung erschöpfen, kommt anderen eine grundlegende Bedeutung zu. Zu nennen sind insbesondere die Urteile „Brasserie du pêcheur u. Factortame“, „Hedley Lomas“, „Dillenkofer u. a.“, „Köbler“, „Traghetti del Mediterraneo“, „A.G.M.-COS.MET“ und „Danske Slagterier“. Bis zum Urteil in den Rechtssachen „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ im Jahr 1996 stellte sich die Frage einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung ausschließlich in Fällen legislativen Unrechts, in denen eine Richtlinie nicht oder fehlerhaft umgesetzt worden war. In „Brasserie du pêcheur u. Factortame“ stellte der EuGH aber klar, dass eine solche Haftung auch bei Schäden in Betracht kommt, die aufgrund gemeinschaftsrechtswidriger Gesetze der Mitgliedstaaten entstanden sind. Des Weiteren wurden die Haftungsvoraussetzungen dahingehend präzisiert, dass die Mitgliedstaaten nur bei hinreichend qualifizierten Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht eine Haftungsverpflichtung trifft. Dadurch wurde die Kohärenz zur außervertraglichen Gemeinschaftshaftung forciert. Im Urteil „Hedley Lomas“ von 1996 hat der Gerichtshof schließlich eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für exekutive Gemeinschaftsrechtsverstöße anerkannt. Die Bedeutung des Urteils in „Dillenkofer u. a.“ von 1996 liegt darin, dass weitere Präzisierungen der Haftungsvoraussetzungen vorgenommen wurden. So wurde klargestellt, dass nicht die Voraussetzungen von der Art des Gemeinschaftsrechtsverstoßes abhängen würden, sondern nur deren Beurteilung. Im „Köbler“-Urteil von 2003 bejahte der Ge-
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6. Teil: Schlussbetrachtung
richtshof sodann die offene Frage nach einer gemeinschaftsrechtlichen Haftung der Mitgliedstaaten für judikative Gemeinschaftsrechtsverstöße. Damit steht fest, dass die Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht zu haften haben, unabhängig davon, welcher staatlichen Gewalt der Verstoß zuzurechnen ist. Im Urteil „A.G.M.-COS.MET“ von 2007 wurden weitere Details geklärt. Abgesehen von der überfälligen Klarstellung, dass die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung nicht der Abschreckung oder Sanktion diene, sondern dem Rechtsschutz des Einzelnen, hat der EuGH verdeutlicht, dass die Haftung eines Beamten neben derjenigen des Mitgliedstaats möglich ist. Außerdem wurde festgestellt, dass die Haftung durch gemeinschaftsrechtswidrige Äußerungen eines Beamten ausgelöst werden könne, sofern diese dem jeweiligen Mitgliedstaat zuzurechnen seien. Schließlich hat der EuGH auch zum Ausdruck gebracht, dass der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch in einem Subsidiaritätsverhältnis zu nationalen Staatshaftungsansprüchen steht. Das Urteil „Danske Slagterier“ von 2009 ist ebenfalls von Bedeutung, da der EuGH anlässlich eines Vorabentscheidungsersuchens des BGH verschiedene Fragen zum gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrecht beantwortet hat, insbesondere zur Verjährung und zum Vorrang des Primärrechtsschutzes. 3. Die Schaffung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung stieß in den Mitgliedstaaten anfangs auf teils heftige Kritik. Der EuGH hat jedoch in zulässiger Weise von der sich aus Art. 220 EG ergebenden Rechtsfortbildungskompetenz Gebrauch gemacht. Vor „Francovich u. a.“ bestand ein Regelungsdefizit im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem, das es zu beseitigen galt. Das Sanktionsdefizit war, wie der EuGH in „A.G.M.-COS.MET“ klargestellt hat, nicht der Grund für die Rechtsfortbildung. Der Gerichtshof hat die Entwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung ausführlich und plausibel begründet, insbesondere mit dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes und dem Prinzip der praktischen Wirksamkeit. Ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip kann insoweit nicht angenommen werden, denn der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch greift nur dann, wenn auf der Grundlage des nationalen Rechts gerade kein sekundärer Rechtsschutz erlangt werden kann. Auch ein Verstoß gegen die Verbandskompetenzen und das institutionelle Gleichgewicht hat nicht stattgefunden, denn diese Grenzen gelten nur für die Rechtsfortbildung des EuGH im Bereich des sekundären Gemeinschaftsrechts. Der EuGH hat jedoch mit der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung einen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts und damit ungeschriebenes Primärrecht geschaffen. 4. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs muss ein Mitgliedstaat Schäden, die einem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemein-
A. Ergebnisse
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schaftsrecht entstanden sind, ersetzen, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die verletzte Norm des Gemeinschaftsrechts bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß ist hinreichend qualifiziert, und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang. Bei diesen haftungsbegründenden Voraussetzungen handelt es sich um Mindestvorgaben, von denen die Mitgliedstaaten zugunsten des Einzelnen abweichen können. Die Beurteilung der Voraussetzungen hängt von der Art des Gemeinschaftsrechtsverstoßes ab. Bei judikativem Unrecht etwa muss bei der Feststellung, ob ein hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß vorliegt, anders als bei legislativem oder exekutivem Unrecht nur die Offenkundigkeit des Verstoßes und nicht die Erheblichkeit geprüft werden. Bei Verstößen gegen die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG ist die Besonderheit zu beachten, dass die Bestimmungen der nicht umgesetzten Richtlinie gerade keine subjektiven Rechte direkt an Einzelne verleihen können. Die Regelung des Art. 249 Abs. 3 EG bezweckt jedoch die Verleihung der subjektiven Rechte, die in der betreffenden Richtlinie kodifiziert worden sind und der Umsetzung in das nationale Recht bedürfen. Insoweit ist allerdings zu fordern, dass das durch die nicht umgesetzte Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an Einzelne umfassen muss und dass der Inhalt dieser Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden kann. Ein Gemeinschaftsrechtsverstoß kann nicht nur durch ein Handeln der Mitgliedstaaten verursacht werden, sondern auch durch Unterlassen. Daher kann die Verletzung mitgliedstaatlicher Schutzpflichten eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung auslösen. Erlässt der nationale Gesetzgeber ein gemeinschaftsrechtswidriges Gesetz, das von einer nationalen Behörde angewandt wird, ohne es gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, liegt sowohl legislatives als auch exekutives Unrecht vor. In einer solchen Gemengelage kann die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung grundsätzlich an jeden dieser Verstöße geknüpft werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es bei einzelnen Verstößen an einem unmittelbaren Kausalzusammenhang fehlen kann. Die Mitgliedstaaten sind berechtigt aber nicht verpflichtet, die haftungsbegründenden Vorgaben des EuGH in nationales Recht zu transformieren. Im Grundsatz ergibt sich der Haftungsanspruch aus dem nationalen Recht. Aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „A.G.M.COS.MET“ folgt, dass nur dann auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch zurückgegriffen werden muss, wenn das nationale Recht keine geeigneten Anspruchsgrundlagen bereithält. In dem Fall greift der Anwendungsvorrang der gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben, die unmittelbar anzuwenden sind.
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6. Teil: Schlussbetrachtung
5. In Deutschland muss auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch rekurriert werden, da das deutsche Staatshaftungsrecht derzeit keine tauglichen Anspruchsgrundlagen bereithält. Die ungeschriebenen Haftungsinstitute wie das des enteignungsgleichen Eingriffs können keine Anwendung finden, da der Rahmen dieser richterrechtlichen Institute gesprengt würde. Auf den Amtshaftungsanspruch sollte auch nicht abgestellt werden, da dessen Voraussetzungen zum Teil nicht gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden können. Die Durchsetzung des Haftungsanspruchs vollzieht sich hingegen allein auf der Grundlage des deutschen Rechts. Der Rechtsprechung des EuGH lassen sich insofern haftungsausfüllende Vorgaben entnehmen, insbesondere das Effizienzgebot und das Diskriminierungsverbot. Im Rahmen der Haftungsausfüllung finden materielle Vorschriften des deutschen Rechts Anwendung. Beispielsweise kann die Vorrangklausel des § 839 Abs. 3 BGB angewandt werden, da der EuGH ebenfalls vom Vorrang des Primärrechtsschutzes ausgeht. Für den Geschädigten wäre es allerdings unzumutbar, wenn er eine Verfassungsbeschwerde oder eine Individualbeschwerde erheben müsste, bevor er den entstandenen Schaden im Rahmen einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung ersetzt verlangen kann. Besteht die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens oder eines Wiederaufgreifens des Verwaltungsverfahrens hat der Geschädigte die Wahl zwischen primärem und sekundärem Rechtsschutz. Die Durchführung eines Vertragsverletzungsverfahrens ist keinesfalls eine Voraussetzung für die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung. Für die Haftungsklage ist wie bei der Amtshaftung der ordentliche Rechtsweg gegeben, denn es handelt sich bei dem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch um einen Schadensersatzanspruch aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten im Sinne des § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO. Haftet der Bund für Gemeinschaftsrechtsverstöße der Länder oder sonstiger juristischer Personen des öffentlichen Rechts, stellt sich die Frage nach einem Regress. Das im Zuge der Föderalismusreform von 2006 in Kraft getretene Lastentragungsgesetz sieht Regressregelungen vor, die im Verhältnis zwischen dem Bund und den Ländern Anwendung finden können. Ein Rückgriff des Bundes bei landesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts scheidet grundsätzlich aus, denn nach dem Konnexitätsprinzip i. e. S. hat das Land alle Kosten zu tragen, die unmittelbar bei ihm anfallen, unabhängig davon, ob sie von ihm selbst oder einer landesunmittelbaren juristischen Person des öffentlichen Rechts verursacht worden sind. Das Gleiche gilt grundsätzlich auch für den Bund im Verhältnis zu den bundesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Der Regress bei dem verantwortlichen Amtsträger sollte bei Gemeinschaftsrechtsverstößen auf Fälle vorsätzlichen Unrechts beschränkt bleiben, denn es fällt Amtsträgern oftmals nicht leicht, die Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht eindeutig festzustellen.
A. Ergebnisse
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6. Im Vereinigten Königreich wurde eine Staatshaftung für Gemeinschaftsrechtsverstöße bereits frühzeitig anerkannt. So befand das House of Lords im Jahr 1984 in der Rechtssache „Garden Cottage“, dass die Verletzung einer unmittelbar anwendbaren Vorschrift des Gemeinschaftsrechts einen Schadensersatzanspruch unter dem Gesichtspunkt „breach of statutory duty“ auslösen kann. In Frankreich wird seit der Entscheidung des Conseil d’Etat in der Rechtssache „Philip Morris“ im Jahr 1992 eine verschuldensabhängige Haftung („responsbilité pour faute“) ausgelöst, wenn ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erfolgt. Im Vereinigten Königreich und in Frankreich wurde bislang ebenso wenig ein spezieller Staatshaftungsanspruch für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht kodifiziert wie in Deutschland. Aus Gründen der Rechtsklarheit und -sicherheit sollte dies allerdings geschehen. Hinzu kommt, dass der „effet utile“ des Gemeinschaftsrechts nicht unwesentlich beeinträchtigt wird, wenn der Geschädigte die komplexe Rechtsprechung des EuGH und der nationalen Gerichte analysieren muss, um Rechtsschutz erlangen zu können. Abgesehen davon sollte der deutsche Gesetzgeber klarstellen, dass der Staat auch bei legislativen und judikativen Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht unter den vom EuGH vorgegebenen Voraussetzungen zu haften hat. Das Richterprivileg des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB und in Verbindung mit der ständigen Rechtsprechung des BGH auch das in Art. 34 S. 1 GG und § 839 Abs. 1 S. 1 BGB kodifizierte Erfordernis der Drittbezogenheit vermitteln dem Bürger den Eindruck, eine solche Haftung sei nicht möglich. Sie werden also über die Möglichkeit, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewissheit gelassen. 7. Die Bedeutung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für die Rechtswirklichkeit darf nicht unterschätzt werden. Nicht selten wird trotz begrenzter Erfolgsaussichten versucht, über eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung noch Rechtsschutz zu erlangen. Ein Beispiel hierfür ist das beim KG Berlin anhängige Verfahren in Sachen „Schrottimmobilien“. Die Voraussetzungen einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung dürften in diesem Verfahren allerdings nicht gegeben sein. Der EuGH hat gerade keine mitgliedstaatliche Garantiehaftung statuiert, sondern die Mitgliedstaaten durch die Festlegung des Erfordernisses eines hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes vor ausufernden Schadensersatzansprüchen geschützt.
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6. Teil: Schlussbetrachtung
B. Prüfungsschema Zum Abschluss der Arbeit soll durch ein Prüfungsschema veranschaulicht werden, wie in Deutschland die Voraussetzungen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung zu prüfen sind: I.
Rechtsgrundlage: Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch
II. Die haftungsbegründenden Voraussetzungen 1. Verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm bezweckt die Verleihung subjektiver Rechte a) Verhalten eines mitgliedstaatlichen Organs: Handlung oder Unterlassen b) Gemeinschaftsrechtsverstoß: Verstoß gegen Primär- oder Sekundärrecht • Arten von Gemeinschaftsrechtsverstößen Legislatives Unrecht, insbes.: § Verstoß gegen Art. 249 Abs. 3 EG Grds. Drei-Schritt-Prüfung: – Ablauf der Umsetzungsfrist? – Unmittelbare Anwendung möglich? – Richtlinienkonforme Auslegung möglich? § Verstoß gegen die Grundfreiheiten – Vereinbarkeit des Gesetzes mit den Grundfreiheiten? – Grds. zu prüfen: Unmittelbare Anwendung und/oder Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung? Exekutives Unrecht Verstößt das exekutive Verhalten gegen das Gemeinschaftsrecht? Judikatives Unrecht § Verstößt das Gerichtsurteil gegen Gemeinschaftsrecht? § Handelt es sich um ein letztinstanzliches Urteil? • Gemeinschaftsrechtswidrigkeit Rechtfertigung des Verstoßes?
B. Prüfungsschema
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Unterlassen: Pflicht zum Handeln (insbes. Schutzpflicht)? Bei einem „außergewöhnlichen und besonderen Schaden“ kommt es auf die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit ausnahmsweise nicht an. c) Verleihung subjektiver Rechte • Verstoß gegen Art. 249 Abs. 3 EG (Regelung bezweckt die Verleihung subjektiver Rechte an Einzelne) Umfasst das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an Einzelne? Kann der Inhalt der Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden? • Sonstige Gemeinschaftsrechtsverstöße Verleiht die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm subjektive Rechte an Einzelne oder bezweckt sie dieses? d) Zurechenbarkeit des gemeinschaftsrechtswidrigen Verhaltens Kann das gemeinschaftsrechtswidrige Verhalten des mitgliedstaatlichen Organs (z. B. rufschädigende Äußerungen eines Beamten) dem Staat zugerechnet werden? 2. Hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß • Legislatives und exekutives Unrecht Offenkundigkeit des Verstoßes? Erheblichkeit des Verstoßes? Kriterien zur Beurteilung der Offenkundig- und Erheblichkeit sind u. a.: Das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des Ermessensspielraums, die Frage, ob der Verstoß oder der Schaden vorsätzlich herbeigeführt wurde, die Entschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums, die Verhaltensweisen eines Gemeinschaftsorgans und eine einschlägige Rechtsprechung des EuGH. • Judikatives Unrecht Offenkundigkeit des Verstoßes? Neben den genannten Kriterien ist bei der Beurteilung der Offenkundigkeit eines judikativen Verstoßes noch zu berücksichtigen, ob die Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG verletzt wurde.
290
6. Teil: Schlussbetrachtung
3. Unmittelbarer Kausalzusammenhang a) Schaden? b) Kausalität zwischen Gemeinschaftsrechtsverstoß und Schaden? Es gilt der Maßstab der Adäquanzkausalität. III. Die haftungsausfüllenden Voraussetzungen Unter Beachtung des Effizienzgebotes und des Diskriminierungsverbotes findet im Rahmen der Haftungsausfüllung deutsches Recht Anwendung. 1. Vorrang des Primärrechtsschutzes, § 839 Abs. 3 BGB Hat der Geschädigte rechtzeitig von allen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch gemacht? 2. Schadensersatz, §§ 249 ff., 842 ff. BGB • Art des Schadensersatzes: Schadensersatz in Geld • Umfang des Schadensersatzes Der Schadensersatz muss dem erlittenen Schaden angemessen sein. Entgangener Gewinn kann gemäß § 252 BGB geltend gemacht werden. Verzugs- oder Prozesszinsen sind zu zahlen. 3. Mitverschulden, § 254 BGB Ein Mitverschulden des Geschädigten ist zu berücksichtigen. 4. Verjährung, §§ 195, 199 Abs. 1 BGB Die Verjährungsfrist beträgt gemäß § 195 BGB drei Jahre und beginnt nach § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres der Anspruchsentstehung und Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis des Geschädigten von den anspruchsbegründenden Umständen. IV. Die Anspruchsdurchsetzung 1. Aktivlegitimation Anspruchsberechtigt sind in erster Linie die Unionsbürger, unabhängig davon, wo sie ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, vgl. § 7 Abs. 2 RBHG.
B. Prüfungsschema
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2. Passivlegitimation Anspruchsgegner können der Bund und die Länder sowie alle sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts sein, sofern diesen das haftungsbegründende Verhalten zugerechnet werden kann, vgl. Art. 34 S. 1 GG 3. Rechtsweg Gemäß § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. 4. Zuständigkeit a) Sachliche Zuständigkeit Gemäß § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG sind die Landgerichte ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes sachlich zuständig. b) Örtliche Zuständigkeit Maßgeblich sind insoweit die Regelungen der §§ 17, 18 ZPO. Wahlweise kann sich der Geschädigte aber auch auf § 32 ZPO berufen.
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Sachverzeichnis Abgrenzung zur außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft 155 ff. Adeneler u. a.-Urteil 67 ff. A.G.M.-COS.MET-Urteil 102 ff. Agrarblockaden-Urteil 159 Aktivlegitimation 246 f. Aktuelle Urteile deutscher Gerichte 271 ff. Akzeptanz der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung 136 Alcatel Austria-Urteil 87 Allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts 138 Allgemeine Rechtsgrundsätze 23, 41, 119, 125 f., 127, 129, 131 f., 138, 143, 176, 168, 205, 233 Amtshaftung 206 ff. Andersson-Urteil 86 f. Anspruch auf Wiederaufnahme 234 Anspruchsgegner 249 Anspruchsgrundlage 153 f., 209 ff. Anspruchskonkurrenz 213 ff. Anstellungstheorie 249 Antike Staatsauffassungen 19 Anvertrauenstheorie 249 Arbeitnehmerfreizügigkeit 90, 113 Argumentation des EuGH 127 ff. Auslegungsmethoden 126 f. Äußerungen eines Beamten 102 ff. Außervertragliche Haftung der EG 23, 132 Beamtenhaftung 105, 207, 259 ff. Beamtenrechtlicher Fürsorgegrundsatz 259 ff. Begriff „Staatshaftung“ 17 f.
Begründungserfordernis 147 Bergaderm-Urteil 192 f. Beschränkungsverbote 171 f. Bestimmtheitserfordernis 187 f. Beweisführung 250 Bona fide-Einwand 48, 54, 195 Bonifaci u. a.-Urteil 56 f. Brasserie du pêcheur u. FactortameUrteil 38 ff. Brinkmann I-Urteil 96 ff. British Telecommunications-Urteil 47 f. Carbonari u. a.-Urteil 83 Cassis de Dijon-Urteil 172 Comateb u. a.-Urteil 94 f. Comet-Urteil 29 Contra-legem-Grenze 168 ff., 203 Costa/E.N.E.L.-Urteil 35 Courage/Crehan-Urteil 158 Daihatsu-Urteil 86 Danske Slagterier-Urteil 74 ff. Dassonville-Formel 171 Denkavit u. a.-Urteil 53 f. Dienstleistungsfreiheit 64, 70, 91 Dillenkofer u. a.-Urteil 49 ff. Diskriminierungsverbot 28 f., 34 f., 44, 58, 77, 93, 107, 133 f., 200 f., 205, 214, 215, 233 f., 239, 241, 245 Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten 171 Dorsch Consult IngenieurgesellschaftUrteil 81 Dounias-Urteil 107 Dringlichkeit 146 f.
Sachverzeichnis Drittbezogenheitserfordernis des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB 44, 213, 215 f., 258, 265 f. Drittschadensliquidation 259 Effizienzgebot („effet utile“) 28 f., 32, 34 f., 44, 58, 77, 94, 107, 150, 201, 205, 215, 234, 239, 234, 245 Einheit der Rechtsordnung 121 Einrichtungsgarantie 207 El Corte Inglés-Urteil 80 Eman u. Sevinger-Urteil 107 f. Entgangener Gewinn 45, 64, 239 f. Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts 118 ff. Europäische Menschenrechtskonvention 126, 135, 230 f., 234, 254 f., 264 Evans-Urteil 87 f. EvoBus Austria-Urteil 83 Exekutive Verstöße gegen primäres Gemeinschaftsrecht 176 Exekutive Verstöße gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht 176 f. Exekutives Unrecht 175 ff., 268 Exemplary damages 45, 205 Faccini Dori-Urteil 37 Farrel-Urteil 88 f. Feststellung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit 180 f. Fiskustheorie 20 f. Francovich u. a.-Urteil 30 ff. Frustrationsverbot 68, 70 Funktionen von Art. 34 S. 1 GG 208 f. Funktionstheorie 249 Gebot der richterlichen Zurückhaltung 122, 145 f. Gemeinschaftliches Rechtsschutzdefizit 123 f. Gemeinschaftsgewohnheitsrecht 136 ff.
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Gemeinschaftsgrundrechte 159, 172 Gemeinschaftsrechtskonforme/Richtlinienkonforme Auslegung 36, 37 f., 46, 68 ff., 82, 83, 84, 85, 98 f., 145, 152, 153, 157, 162 ff., 166 ff., 173 f., 175, 183, 203, 209 ff., 221 f., 263, 264, 265 Gemengelagen 46, 67, 95, 97 f., 155 ff., 175 f., 183 f., 254, 274 Gerichtszuständigkeit 251 f. Germanische Rechtsauffassungen 20 Gervais Larsy-Urteil 100 ff. Gesetzgebungskompetenz 206, 256, 268 Gozza-Urteil 85 Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH 138 ff. Grundsatz der einheitlichen Anwendung 40, 133 f. Grundsatz der Gemeinschaftstreue 32 f., 130 f., 141 ff., 201 Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie 26, 28 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 172 Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes 41, 110, 124, 128 f., 152 , 164 GT-Link A/S-Urteil 106 f. Haftung bei Gemeinschaftsrechtsverstößen Privater 158 f. Haftung bei Verstößen gegen staatliche Schutzpflichten 159 f. Haftung für rechtmäßiges Verhalten 181 ff. Haftungsausfüllung 204 ff. Haftungsbegründung 154 ff. Haftungsbeschränkungen des Reichsbeamtenhaftungsgesetzes 246 Haftungstatbestand für die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Deutschland 266 ff. Haftungsübernahme durch den Staat 21 f.
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Sachverzeichnis
Haftungszweck 104 Haim II-Urteil 98 Hedley Lomas-Urteil 92 f. Hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß 42 f., 48, 50 f., 54, 63, 69, 71, 73, 91, 93, 99, 101 f., 112, 114, 191 ff. Hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß bei judikativem Unrecht 196 f. Hinreichend qualifizierter Gemeinschaftsrechtsverstoß bei legislativem und exekutivem Unrecht 193 ff. Historische Entwicklung der Staatshaftung 19 ff. Horizontale Direktwirkung 37, 81, 86 Hospital Ingenieure Krankenhaustechnik Planungsgesellschaft-Urteil 84 Humblet-Urteil 27 i-21 u. Arcor-Urteil 233 Institut der Anstaltslast 257 Institutionelles Gleichgewicht 140 f. Jonkman u. a.-Urteil 89 f. Judikative Gemeinschaftsrechtsverstöße 109 f. Judikative Verstöße gegen primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht 180 Judikatives Unrecht 177 ff., 268 Kapferer-Urteil 234 Kapitalverkehrsfreiheit 58, 70 Kausalität 198 f. Keck u. Mithouard-Urteil 172 Kempter-Urteil 233 Köbler-Urteil 108 ff. Kohärenz von außervertraglicher Gemeinschaftshaftung und gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftung 192 f.
Kollision von nationalem Recht mit den gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben 203 Kompetenzverteilung auf Gemeinschaftsebene 140 f. Konle-Urteil 58 f. Konnexitätsprinzip i. e. S. 256 Kühne & Heitz-Urteil 232 Lastentragung 253 ff. Legislative Notkompetenz 139, 147 Legislative Verstöße gegen die Grundfreiheiten 170 ff. Legislatives Unrecht 161 ff., 268 Letztinstanzlichkeit 177 f., 230 Lucchini-Urteil 232 Mandatstheorie 20 Maso u. a.-Urteil 81 Metallgesellschaft u. a.-Urteil 63 ff. Methodenpluralismus 125, 127 Methodik der Rechtsfortbildung 125 ff. Mitverschulden 222, 240, 255, 241 f., 267 Naturalrestitution 237 ff., 267 Norbrook Laboratories-Urteil 95 Normendefizit 120 N-Urteil 91 Palmisani-Urteil 57 Passivlegitimation 59, 99 f., 247 Paul u. a.-Urteil 66 f. Petrie u. a. I-Urteil 90 Pflicht zur Anpassung des deutschen Staatshaftungsrechts 265 f. Pflicht zur Überprüfung einer bestandskräftigen, gemeinschaftsrechtswidrigen Verwaltungsentscheidung 232 f. Planwidrige Regelungslücke 121
Sachverzeichnis Prinzip der praktischen Wirksamkeit („effet utile“) 32, 44, 76, 105, 110, 129 f., 152, 241, 252 Prinzip der Rechtsklarheit 212, 214, 266 Prüfungsschema 288 ff. Rechberger u. a.-Urteil 59 ff. Rechtfertigung von Verstößen gegen die Grundfreiheiten 172 Rechts- und Bestandskraft 111, 128 f., 179, 231 ff. Rechtsbehelfsfristen 58 Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH 40, 119 ff., 138 f., 141, 144 Rechtsmittel gemäß § 839 Abs. 3 BGB 222 Rechtsnatur des Staatshaftungsanspruchs 148 ff. Rechtspositivismus 21 Rechtsprechungsverweis 127 Rechtsqualität der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung 136 ff. Rechtsstaatsprinzip 129, 143, 147, 207, 214 Rechtsvergleichung 125 f. Rechtsweg 249 ff. Rechtswegzersplitterung 268 Reformbedarf im Vereinigten Königreich und Frankreich 269 f. Reformbedarf in Deutschland 264 ff. Regress beim verantwortlichen Amtsträger 259 ff., 267 Regressansprüche des Bundes gegen die Länder 253 ff., 267 Regressansprüche des Bundes gegen sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts 255 ff., 267 Revisionsrecht 226 f. Rewe-Urteil 29 Richterliche Unabhängigkeit 111, 219, 222, 260 Richterprivilegien 115 ff., 205, 213, 219 ff., 265 f.
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Richtlinienumsetzung 33, 63, 67 ff., 163 f. Robins u. a.-Urteil 72 ff. Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen 232 Rücksichtnahmegebot 142 f. Russo-Urteil 28 Salgoil-Urteil 27 Sanktionsdefizit 122 f., 146 Schaden 197 f. Schadensersatz 45, 56 f., 81, 84, 85, 236 ff. Schmidberger-Urteil 160 Schrottimmobilien 277 ff. Staatshaftung im Vereinigten Königreich 22, 205, 261 f. Staatshaftung in Deutschland 206 ff. Staatshaftung in Frankreich 22, 262 ff. Staatshaftungsgesetz 206, 268 Staatshaftungsgesetz der DDR 206 Stockholm Lindöpark-Urteil 62 ff. Subjektive Rechte 52, 75 f., 186 ff. Subjektive Rechte bei Verstößen gegen die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG 187 f. Subjektive Rechte bei Verstößen gegen primäres Gemeinschaftsrecht 188 f. Subjektive Rechte bei Verstößen gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht 188 Subsidiäre Einstandspflicht des deutschen Gesamtstaates 249 Subsidiarität des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs 105, 151 ff. Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB 218 f. Subsidiaritätsprinzip 141 f., 144 f., 152 Sutton-Urteil 54 f. Systemwidriges Regelungsdefizit 121 ff.
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Sachverzeichnis
Test Claimants-Urteil 70 f. Theorie von der realen Verbandspersönlichkeit 21 Tögel-Urteil 82 Traghetti del Mediterraneo-Urteil 114 ff. Transformationsrechte und -pflichten 200 ff. Unmittelbare Wirkung/Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht 31, 35, 38, 40, 53, 63, 69 f., 138, 146, 155, 164 ff., 168 f., 173 f., 189, 204 Unmittelbarer Kausalzusammenhang 41, 46, 61, 71 f., 97, 178, 197 ff. Van Gent & Loos-Urteil 35, 173 Verbandshaftung 248, 260 Verbandskompetenz der Gemeinschaft 140 f. Vereinbarkeit nationaler Gesetze mit den Grundfreiheiten 171 ff. Verhalten eines mitgliedstaatlichen Organs 155 ff. Verhältnis von Primär- und Sekundärrechtsverstößen 184 ff. Verjährung 76 ff., 242 ff., 267 Verjährungsbeginn 244 f. Verjährungsfrist 242 ff., 267 Verjährungshemmung und -unterbrechung 245 f. Verschulden 44, 195, 216 ff., 222 Verstöße gegen die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG 161 ff. Vertrag von Lissabon 23 f. Vertrag von Maastricht 22, 122, 195, 216 ff., 222, 262 f. Vertragsänderungsverfahren 138 f., 141, 146
Vertragsverletzungsverfahren 27 f., 30, 76 f., 80, 122, 224 f., 236, 245, 266 Völkerrecht 40, 109, 119, 126, 134 f., 137, 155, 228, 246, 253, 255 Vorabentscheidungsverfahren 29, 43, 79, 114, 224, 230, 276 f. Vorlagepflicht 30, 114, 177 f., 196, 220, 228 ff., 260 Vorrang außerordentlicher Rechtsbehelfe 227 ff. Vorrang der gemeinschaftsrechtlichen Haftungsvorgaben 202 ff. Vorrang der Individualbeschwerde 230 f. Vorrang der Verfassungsbeschwerde 228 ff. Vorrang des Primärrechtsschutzes/Vorrangklausel des § 839 Abs. 3 BGB 63, 65 f., 78 ff., 162 f., 173, 189, 222 ff., 267 Vorrang des Rechtsschutzes durch die Fachgerichte 225 ff. Vorrang des Wiederaufgreifens- und Wiederaufnahmeverfahrens 231 ff. Wagner Miret-Urteil 35 f. Warenverkehrsfreiheit 43, 70 f., 76, 92 Wesentlichkeitsgrundsatz 145 Zeugenbeweis 107 Zinsen 55, 64 ff., 239 ff. Zulässigkeit der Rechtsfortbildung 135 ff. Zumutbarkeit der Einlegung eines Rechtsmittels gemäß § 839 Abs. 3 BGB 224 f. Zurechenbarkeit des Gemeinschaftsrechtsverstoßes 103, 190 f.