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German Pages 44 Year 1882
Das
positive Christentum Protestantenvereins.
Lic. theol. I. E. Websky, Redacteur der Protestantischen Kirchenzeitung.
Berlin.
Druck und Verlag von G. Reimer. 1882.
Meinen geliebten Pflege-Eltern
Karl und Julie Ludwig gewidmet.
Vorbemerkung.
Wenn ich im folgenden das Manuscript meiner erheb lich kürzer und — soweit mir möglich —- populärer gehaltenen Zeitzer Protestantentags-Rede vom 31. Mai d. I. veröffent liche, so habe ich bezüglich der theologischen Erörterungen zu bemerken, daß der Protestantenverein als solcher bekanntlich keine Theologie besitzt und kein theologisches System monopolisiren darf.
Da meines Wissens aber alle theologischen
Mitglieder deS Vereins der sehr misbräuchlich „Protestantenvereins-Theologie" benannten historisch-kritischen und kritischspeculativen Richtung angehören, und der gegnerische Haupt angriff nicht sowol unseren kirchenpclitischen Bereinsbestrebungen, als vielmehr unseren theologischen Ueberzeugungen gilt, glaubte ich (nach v. Holsten's Vorgang auf dem Berliner Protestantentage) eine überwiegend theologische Abwehr geben zu sollen, die sich von selbst als ein freudiges und hoffent lich unzweideutiges Bekenntnis eines treuen Anhängers der
freien Theologie darstellen wird, aber als das naturgemäß individuell
gefärbte Bekenntnis
eines einzelnen,
der
sich
keineswegs anmaßt, den im wesentlichen gemeinsamen Ueber zeugungen auch eine für alle annehmbare Form gegeben zu haben, obgleich mit dem Inhalt nicht selten auch die Form den Jenenser und Züricher Meisterwerken angehört. Berlin, 14. Juni 1882.
Der Verfasser.
Es war vor vier Jahren auf dem 1. Protestantentage der Prov. Sachsen, daß W. Sonntag unter den falschen Anklagen gegen den Protestantenverein die gehässige Denun ciation wegen „negativer" und „destructiver" Bestrebungen der Wahrheit gemäß mit allem Nachdruck als grundlos zurück wies und es einen Misbrauch der Sprache nannte, wenn die Gegner des Protestantenvereins für sich allein den Ehren namen der Positiven in Anspruch nehmen, während sie uns, wo sie können, das Brandmal der Negation auf drücken. Der
Vorurteile und Vorwürfe, Verleumdungen und
Verdächtigungen sind seither nicht weniger geworden.
In
Parlaments- Synodal- und Pastoralconferenz-Reden wie in christlich-socialen Capuzinaden kann man noch immer hören, in der sogenannten „christlichen" Presse noch immer lesen: Dieser Verein fälscht den Glauben, zersetzt das Christentum und zerstört die Kirche
Protestantenvereinlichen Gemeinde-
gliedern wird die Fähigkeit und Würdigkeit zu kirchlichen Ehrenämtern
abgesprochen.
Protestantenvereinliche Pre
diger sind womöglich am Ohrläppchen von der Kanzel zu
8 ziehen; denn wenn sie auch in noch so reichgesegneter Amts tätigkeit die Sprache christlicher Frömmigkeit reden,
so ist
das eitel Blendwerk und Falschmünzerei, sie verwerfen die „Glaubensgrundlage" der Kirche und treten ihren Amtseid mit Füßen. betitelt,
„Protestantenvereinliche" Professoren — so
auch
wenn sie dem Verein ganz fern stehen —
müssen herunter vom Katheder, denn ihre wissenschaftlichen Publicationen verraten nur zu deutlich den Mangel nicht blos an Christentum, sondern an Religion überhaupt, ihre Theologie ist ein „Uebermaß von Skepsis und Abgrund des Nichts", mithin rechtlos int Machtbereich der heiligen Allianz der „positiven" Parteien und völlig wertlos für. die christliche Glaubenswissenschaft wie für das kirchliche Leben. Dies in treuer Wiedergabe
die Angriffe, welche die
Generalpächter deö „positiven" Christentums mit den wenig ritterlichen Waffen tendenziöser Entstellung und Verdrehung unablässig gegen uns richten.
Bevor wir selbst mit gutem
Gewissen wolbegründeten Protest erheben, dürfen wir auf die dankenswerte Forderung einer anderen, christlicheren Be handlung der „kirchlichen Linken" verweisen, die D. Beyschlag, ein gewiß unverdächtiger Eidhelfer unseres guten Rechts, au die Kögel-Stöcker-Schulze'sche Partei gestellt und damit motivirt hat, daß die Mittelpartei die von der Ber liner
Hofprediger-Zeitung systematisch betriebene Aechtung
der liberalen Theologie und liberal-theologischen Prediger als „einen Angriff auf den Bestand der Landeskirche und einen Versuch
deren freie Entwickelung zu vergewaltigen,
empfinden und mit allen Kräften abwehren müsse". — Ob freilich das Gros der Mittelpariei sich voll und ganz zu diesem mannhaften Worte bekennt, steht dahin.
Der Uner-
9 schrockenheit und Unbestechlichkeit deS Wortführers aber und seiner Hallischen Amisgenossen Jacobi, Köstlin, Riehm, Schlottmann muß, zumal auf einem Protestantentage der Provinz Sachsen, die aufrichtige Anerkennung des kirchlichen Liberalismus bezeugt werden. Und nun zurück zur gegnerischen Anklage. Also der Protestantenverein negirt das positive Christentum! Wieso denn? Etwa weil er sich laut seines Statuts zum Zweck setzt „die Anregung und Förderung deS christlichen Lebend sowie aller der christlichen Unternehmungen und Werke, welche die sitt liche Kraft und Wolfahrt des Volks bedingen" ? Nein. Daß wir den Liebeswerken der von den Stöcker'schen Bestre bungen scharf zu unterscheidenden Inneren Mission, die sich an den Namen Wichern knüpft, nicht mehr reservirt und kritisch gegenüberstehen, daß der Protestantenverein vielmehr seine Glieder „zu eifriger Mitarbeit an diesem apostolischen Werke im Geist evangelischer Milde und Freudigkeit" aufge rufen hat, können unsere Widersacher nicht leugnen.
Aber
„practisches" und „positives" Christentum ist ihnen nicht identisch
Und das letztere finden sie dadurch gefährdet,
daß der Protestantenverein ausgesprochenermaßen „eine Er neuerung der protestantischen Kirche" nicht blos „im Geiste evangelischer Freiheit", sondern auch „im Einklang mit der gesamten Culturentwickelung erstrebt.
unserer Zeit"
Denn das Ziel dieses Strebens könne nur ein
modernisirtes, d.h. corrumpirtes Christentum sein, ein Christen tum ohne Christus, eine Kirche ohne Bekenntnis — beides ein Widerspruch in sich selbst.
Sehen wir zu.
Also weil wir es den Kindern dieser Zeit ermöglichen wollen, das moderne Denken — aber auch wirklich das
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moderne Denken und nicht materialistische oder spiritistische Gedankenlosigkeit! — frisch und frei zu brauchen, und doch, und nun erst recht ihres Christenglaubens froh zu werden, darum sollten wir keine Christen sein, sondern Naturalisten, nicht mehr Jünger Jesu, sondern Anhänger oder doch Wegberei ter einer antichristlichen „modernen" Weltanschauung und nach dem ersten Sündenfall unseres freien Vernunftgebrauchs von Stufe zu Stufe sinkend, wie D. Luthardt's unfehlbarer Pinsel unlängst so reinlich und so zweifelsohne gemalt hat: „Sollte Gott gesagt haben?" — das ist das Wort des Rationalismus. „Ihr werdet sein wie Gott!" — das ist das Wort des Pantheismus. „Und das Weib schauete an, daß von dem Baum gut zu essen wäre und aß" — das ist die Zeichnung des Materialismus. In diesen drei Stufen vollzieht sich die große Revolution des Geistes, welche das Characteristische des modernen Zeitalters ist"? — Ich will mich nicht mit dem Einwand begnügen, daß doch ein so streng bibelgläubiger Theolog wie M. Baum garten jahrelang der unsrige gewesen und durchaus nicht etwa wegen der „modernen Weltanschauung" von uns ge schieden ist. Zur Zeit gehören in der Tat wol alle theolo gischen Mitglieder des Protestantenvereins der freien Theo logie an, wenn auch verschiedenen Zweigen jenes weithinschattenden Baumes, den der plumpe Unverstand am liebsten als todbringenden Giftbaum im Garten Gottes mit Stumpf und Stiel ausrotten möchte. Und sowenig die wissenschaft liche Theologie des freien Protestantismus eben als Wissen schaft die kirchenpolitischen Bestrebungen unseres Vereins mit zu vertreten hat, sowenig wird sie sich der Verantwortung entziehen, wenn man ihre dankbar-treuen Schüler, die
11 Theologen des Protestanlenvereins beschuldigt, das positive Christentum einer unchristlichen modernen Weltanschauung zu opfern, unserm Volke also die Religion nicht zu erhalten, sondern zu entreißen. Die „liberale" oder „moderne" Theologie darf ruhig darauf verweisen, daß ihre Weltanschauung wahrhaftig nicht die jenes Bastards im König Lear ist: „Natur, du bist meine Gottheit", daß es ihr bis zur Stunde noch nicht eingefallen ist, den Zusammenhang der geistigen Welt mit der Formel des Naturmechanismus begreifen zu wollen, die Geschichte der Menschheit als einen physikalisch-chemischen Proceß anzu sehen, dessen eigentümlicher Verlauf durch die Gesetze der natür lichen Züchtung erklärt werde, oder von der vergleichenden Zoologie eine Reform der Ethik zu erhoffen. Auch dürfte hinlänglich bekannt sein, daß die Apostel dieses „netten" Glaubens, dem das Wellrätsel durch die Annahme einer einfachen Mechanik empfindender Atome wasserklar gelöst ist, uns, die wir den Gedanken einer absoluten zwecksetzenden Potenz, eines unendlichen geistigen Grundes der Welt zu vertreten nicht müde werden, durchaus nicht etwa als will kommene Bundesgenossen gegen das orthodoxe Kirchentum begrüßen, sondern im Gegenteil uns als „doppelt und drei fach absurd" verhöhnen, daß wir den Kinderschuhen des „alten" Glaubens noch immer nicht entwachsen, als „traum verlorene Nachtwandler auf der schiefen Ebene der Teleologie" dahingehn, auf der wir rettungslos hinabrutschen in den Ab grund dualistischer Widersprüche. Allerdings geben wir unsern Gegnern von rechts her ohne weiteres zu, daß — wenn wir bei denkender Wellbe trachtung auf ein vernünftig - zwecktätiges Weltprincip (das
12 sich uns als weltschöpferisches Leben, weltordnende Idee und wellregierender Geist bestimmt) zurückgehen, und über all im endlichen Dasein und Geschehen einen strengen Causalzusammenhang suchen — die antike Weltanschauung mit dem ihr wie noch immer dem Kindesalter naturgemäßen naiven Supranaturalismus verlassen, und der Boden der modernen Weltansicht betreten ist. In der Tat, wir stehen in lebendiger Anteilnahme an der Gesamtentwickelung unseres Zeitalters voll und ganz auf dem Boden der „modernen" Weltanschauung. Nur bedeutet uns dies vielgemisbrauchte Wort nicht den naturalistischen Monismus mit seiner geist losen Kraftstoffelei, denn seiner Weisheit letzter Schluß ist wie bekannt nichts weniger als modern, sondern lediglich eine Wiederaufwärmung der antiken Atomistik. Was wir moderne Weltanschauung nennen, ist nicht die atheistisch-materialistische jener „exacten" Naturforschung, die gewiß sehr besonnen experimentirte, aber äußerst unbe sonnen philosophirte, als sie Gott und Geist zur Illusion und den Egoismus zum Moralprincip machte, sondern die auf den grundlegenden Entdeckungen eines Kopernikus, Kep ler, Galilei, Newton ruhende Gedankenharmonie unserer großen Denker und Dichter, die bei allen Differenzen im einzelnen doch völlig eins sind in der Ueberzeugung wie von der stetigen und gesetzmäßigen Entwickelung auf allen Punkten der Erscheinungswelt, so auch von der inneren Gesetzmäßigkeit in der Entwickelung des menschlichen Geisteslebens. Diese Ueberzeugung schließt jede willkürliche Durchbrechung des Na turzusammenhangs, alle supranaturalistischen Eingriffe in Na tur- und Geisteswelt, also die Möglichkeit des absoluten Wun ders aus. Aber sie vertieft und vollendet sich erst in der Erkennt-
13 nis, daß die im Naturproceß stillwaltende Gesetzmäßigkeit wie die tatsächliche Herrschaft der sittlichen Idee in der Geschichte der Menschheit und die Stimme des gebietenden und verpflich tenden Ideals in jeder Menschenbrust ein allumfassendes geisti ges Princip offenbaren, das ebenso einheitlicher Grund und Zweck des Weltganzen, wie Lebensgrund, Gesetz und Kraft des Menschengeistes ist. Damit stehen wir schon auf dem Boden der religiösen Weltansicht, der die Welt nach Dasein, Verlauf und Zweck erfüllung gegründet ist in Gott; freilich mit dem Unterschiede, daß wir die ältere menschenähnliche Vorstellung von der gött lichen Weltregierung als einem äußeren Eingreifen Gottes in den Weltlauf, die den weltdurchwaltenden raum- und zeitlosen Geist zu einem der Natur- und Menschenwelt äußer lich gegenüberstehenden Einzelwesen herabsetzt, als unvoll ziehbar und Gottes unwürdig aufgegeben haben. Aber sollten wir damit, daß wir des wahren Glaubens liebstes Kind, das „rechte, hohe Wunder" nur im religiösen Mysterium der in neren Betätigung des göttlichen Geistes im menschlichen, und nicht nach traditioneller Vorstellung im sinnlich-äußer lichen Mirakel sehen, die Religion selbst aufgegeben haben? Ich denke nicht. Religion und religiöse Vorstellung sind bekanntlich zweierlei. Die Religion ist wesentlich ein practisches Verhalten: das Verlangen des bedrängten, friedebedürftigen Menschen herzens nach Gottes Hülfe und Trost, nach ewigem Gut und seligem Frieden; und wiederum die Erfahrung der göttlichen Hülfe als heilender Gnade und stärkender Kraft. Und so gut auch bei theoretisch mangelhaften Gottesvorstellungen ein lebendiges Gottvertrauen, eine reine Gottes liebe bestehen, und eine Bäuerin z. B. mit ihrer confusen Theologie religiöser
14 sein kann als der klarste Docent der Glaubenslehre, so gut ist doch seit Lessing und Herder, seit Fichte und Schleiermacher ausgemacht, daß die Religion nicht nur mit dem freiesten Leben des Geistes sich versöhnen läßt, sondern daß sie selbst die lebendige Quelle und die tiefste Wurzel alles Geistes lebens ist, daher ihrem Wesen nach bei allem Wechsel und Wandel des Culturfortschritts unvergänglich.
Aber wenn man uns auch Religion überhaupt, freilich nur ein „gewisses verschwommenes religiöses Gefühl" nicht abspricht, so doch die christliche Religion. Was ist denn das Wesen des Christentums? Das Wesen oder Princip einer bestimmten Religion ergibt sich aus dem Verhältnis, das sie statuirt zwischen Gott und Mensch. Wie dies Ver hältnis in der jüdischen Gesetzesreligion nach dem Herab sinken von der Höhe des prophetischen Ideals das des Rech tes mit contractlicher Verpflichtung zu Leistung und Gegen leistung zwischen Herr und Knecht war, so faßt das Christentum das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als das der innigsten Lebensgemeinschaft, wie es an sich schon besteht — denn nur in Gottes Sein ruht unser Da sein —, aber dem Menschen erst zum Bewußtsein kommt in der Erfahrung der göttlichen Gnade, die von knechtischer Furcht bei sündhafter Unvollkommenheil erlöst, dem gläubigen, d. h. rückhaltlos vertrauenden Herzen den Trost der Ver gebung spendet und selbst ein neues heiliges Wollen und Vollbringen wirkt. So ist das Verhältnis zwischen Gott und Mensch im Christentum, biblisch-bildlich ausgedrückt, das zwischen Vater
15 und Kind, das religiöse Princip des Christentums also das der Goltessohnschaft oder Kindschaft bei Gott. Und wo dies Kindschaftsverhältnis sich der religiösen Erfahrung erschlossen hat als die reine Erlösungs- und Gnadenreligion, die den Men schen aus dem Stande der Erniedrigung in sinnlicher Naturbestimmtheit und widergöttlich-sündiger Eigenbestimmung emporhebt zu seiner geistig-göttlichen Wesensbestimmung, zur realen Lebens- und Liebeseinheit mit Gott und zur Freiheit von der Welt, — wo diese Heilserfahrung christlicher Gottesgemeinschaft, die „Rechtfertigung durch den Glauben" nach dem großen Wort des größten Apostels vorhanden ist, da ist sicherlich auch das wahre Wesen des Christentums, mögen die theoretischen Vorstellungsformen von den alther gebrachten noch so verschieden sein. In der Tat: das auf ernstem Bußwillen und freudiger Glaubenszuversicht ruhende Kindesverhältnis zu Gott, mit» das unmittelbar damit gegebene Bruderverhältnis zu den Menschen hat der historische Christus selbst als die entschei denden Merkmale des Christseins, der Zugehörigkeit zum Gottesreiche angesehen, welches nach seinem klaren Wort das eine höchste Gut ist, nach dessen Besitz vor allem die Seinen zu trachten haben, weil in ihm alle wahren Güter sich zusam menfassen. Das Reich Gottes als gottgefälliger Jdealzustand der Welt und Menschheit, als solidarisch verbundene, nur zu Selbstzucht und Liebe verpflichtete Familiengemeinschaft aller Gotteskinder, die der Frohbotschaft des erstgeborenen Gottessohnes glauben und im seligen Gefühl der Einheit ihrer eigenen Lebenszwecke mit Gottes Vaterwillen und seinem ewigen Reichszweck leben, ist unzweifelhaft der centrale Ge danke der persönlichen Verkündigung Jesu, der Haupt- und
16 Grundbegriff seines Evangeliums, daS positive Christen tum Christi, dessen Realisirung in religiöser Hin sicht die Aufgabe der Kirchen, in social-ethischer die ber (Staaten bleiben wird bis ansEnde derTage. Unsere theologisch-kirchlichen Gegner aber verstehen ja unter positivem Christentum nicht die persönliche Lehre Christi, sondern die (freilich neumodisch aufgeputzte) altkirchlich-ortho doxe Lehre von der Person Christi, und unsere Christologie, so meinen sie, komme über den Strauß'schen mythenverhüllten Rabbi mit dem „Humbug" der Auferstehung oder bestenfalls einer Verflüchtigung dieser Grundposition des Christentums doch nicht hinaus. Haben wir wirklich so gar nichts positives über den Anfänger und Vollender unseres Glaubens auszusagen? Ich hoffe doch. Wir schauen in der religiösen Persönlichkeit Jesu die Offenbarung des idealen gottmenschlichen Lebens, den Träger und Vermittler des christlichen Heils, das ja nichts anderes ist als Erlösung, Versöhnung und Kindschaft bei Gott, wie ich vorhin beschrieben. Jesus ist uns in der von seiner Person unabtrennbaren Gestalt seines reli giösen Selbstbewußtseins der geschichtliche Heiland. Denn erst seit die Erlösung für die Menschheit, ihr in Jesu Lehre und Lebenswerk offenbar geworden ist, konnte sie auch in ihr wirklich werden, und durch die schöpferische Kraft seiner reli giösen Persönlichkeit die christliche Glaubensgemeinschaft ent stehen als fortwirkendes Organ des Evangeliums von der Erlösung. Was von Ewigkeit in Gott als der reinen Liebe, die an sich schon versöhnt ist, begründet und beschloffen lag, schauen wir aufgeschloffen für die Menschheit in der geschicht-
17 lichen Tatsache des religiösen Selbstbewußtseins Jesu, des Bewußtseins der Wesens- und Lebensgemeinschaft mit Gott, der Gottessohnschaft, die zugleich auch das Element seines Willens gewesen ist, wie sein Liebesgehorsam gegen den Vater im Himmel, sein Liebesdienst gegen die Brüder unwidersprechlich bezeugt. So haben auch wir in dem historischen Menschen sohn als dem persönlichen Träger des Gotteskindschaftsprincips den Gottessohn, in dem Menschen Jesus als dem Offenbarer gottmenschlichen Lebens den Gottmenschen, nur nicht in der mythologischen Vorstellung eines Herabge kommenseins aus Himmelshöhn, einer „irdischen Jncognitofahrt des himmlischen Königs in KnechtSgestalt", wie die klin gende Phrase eines Kögel'schen Vortrags lautet.
Denn
diese Vorstellung war (mit Hase zu reden) nur vollziehbar auf dem Boden einer Weltanschauung, für welche der wun dergewaltige Herr der himmlischen Heerscharen noch leibhaf tig droben saß auf seinem Wolkentron und die kleine Erde der alleinige Schauplatz seiner Allmacht war. Die Christologie der altkirchlichen Concilien und der altprotestantischen Orthodoxie vermögen wir uns sonach aller dings nicht anzueignen.
Auch nicht die der modern ausstaf-
firten theologischen Rechtgläubigkeit.-
Wir denken das gott
menschliche Princip nicht in scheinmenschlicher Maske erschienen, sondern in einem wahrhaft menschlichen Selbstbewußtsein, so daß natürlich der ewige Kern der neuen religiösen Offen barung bei dem Offenbarungsträger von der vergänglichen Schale der alten Denk- und Vorsteüungsformen seiner Zeit und seines Volks umschloffen war.
Und sowenig wir ihm
eine göttliche Apanage umfassender und abschließender Welter-
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18 kenntnis zusprechen können, ebensowenig werden wir
mit
Liebner, Thomasius und von Hofmann annehmen dürfen, sein menschlich-geschichtlicher Wille habe mit dem ihm immanenten ewigen göttlichen Wollen unmöglich collidiren können. Kurz, wir sehen in Jesu menschlicher Erscheinung gött liches Wesen, aber nicht ein göttliches Wesen oder Gott selber, und wenn auch die unmittelbar religiöse Betrachtung das Geschichtsbild von Jesus mit dem Idealbilds von Christus naturgemäß zusammenschaut, so wird unseres Erachtens doch das theologische Denken sich bedenken müssen, den ge schichtlichen Träger der zeitlichen Heilsvermittlung mit dem ewigen Wesen des christlichen Heils einfach zu identificiren, so sehr gerade die freie Theologie der Gegenwart es begreiflich, ja relativ notwendig findet, daß die altchristliche Kirche das Welt und Sünde siegreich überwindende Heilsprincip der Gotteskind schaft nicht blos in Einheit, sondern nur in Einerleih eit mit der Person des geschichtlichen Heilands zu fassen ver mochte und darum diese Person nicht blos, sondern auch den von ihr ausgegangenen, die Kirche belebenden heiligen Geist in erhabenem Ideenflüge emportrug zum Himmelstron der ewigen Gottheit. Ist unsere Christologie nun auch der Starkgläubigkeit und theologischen Bildung *) der „positiv-unirten" Hosbischöfe und ihrer confessionellen Schutzverwandten zu „negativ",
J) Vgl. die Christologie Stöcker's: „Entweder Gott oder Mensch,
ein
drittes
gibt
es nicht!"
Dies für jeden nur
einigermaßen Sachkundigen harsträubende Dictum stammt Dort der berühmten Thüringer kirchlichen Conferenz am 3. Mai 1881 und ist von seinem Autor bis heut noch nicht abgeleugnet worden.
19 so dürfen wir doch, ein mittelparteiliches Programmwort für uns gebrauchend, getrost versichern, daß wir damit stehen auf dem Grunde des in seinem Wesen unwandel baren, in den Formen seines Verständnisses unerschöpflich entwickelungsfähigen biblischen Evangeliums: Gott war in Christo. Doch haben nicht blos reactionäre Kirchenmänner und kritikfeindliche „Tatsachentheologen" wie R. Kübel, son dern auch Gelehrte von freierem Blick und weiterem Herzen, die klarbewußt der Theologie als Wissenschaft ihren Stand punkt außer und über der Kirche anweisen und demzufolge jede kirchliche Maßregelung mit dankenswerter Entschieden heit zurückweisen, es im Namen der Mittelpartei öffentlich beklagt, daß wir den festen Kern des positiven Christentums verflüchtigen, indem wir angeblich „in falschem Idealismus" das „Kreuz auf Golgatha und das leere Grab des Oster morgens umgehen". Wir dürfen dieser Klage und Anklage zunächst im all gemeinen entgegenhalten, daß auch uns wie der Bermitte lungstheologie 9 „die Geschichte Christi, sein Leben, Sterben, Auferstehen Heilsgeschichte ist; eine Geschichte, die ein mal für alle geschehen, nun in allen sich innerlich wieder holen will durch eine unvergängliche Geistes- und Lebensfülle, die ihr innewohnt"; daß auch wir gläubig halten an „dem Christentum des neuen Testaments, nach welchem der ver klärt-lebendige Herr durch die Kraft seines ewigen Geistes
*) vgl. W. Beyschlag, Zur deutsch-christlichen Bildung S. 272. 273.
20 uns seinen Tod und seine Auferstehung innerlich mitleben und nachleben läßt, auf daß wir in seiner Gemeinschaft der alten angeborenen Selbstsucht absterben und zu neuem gött lichem Liebesleben auferstehn!" Was nun speciell das „Umgehen des Kreuzes auf Golgatha" anlangt, so haben wir zu erwidern, daß wir Jesu Tod zwar nicht als stellvertretendes Strafleiden zu juridischer Genugtuung, wol aber als ethische Opfer tat, die seines Lebens Krone, des Gesetzes Ende und des Weltevangeliums Anfang war, in höchsten Ehren halten und darum keineswegs in
kritischer Kühle und Gleichgültigkeit
unter dem Kreuze von Golgatha stehen, das den Juden ein Aergernis und den Griechen eine Torheit war, uns aber mit der gesamten Christenheit auf Erden die Offenbarung gött licher Kraft und göttlicher Weisheit ist.
Geschichtlich betrach
tet der vollgültige Beweis und die höchste Bewährung von Jesu gläubigem und demütigem Liebesgehorsam gegen Gott und seinem selbstverleugnenden und opferfreudigen Liebes dienst gegen die Menschen, offenbart uns dieser Tod die ewige Gotteswahrheit, vaß nur durch Selbstverleugnung und Selbstopferung der Einzelne und die Gesamtheit vom Fluche der sündigen Selbstsucht loszukaufen ist, und daß die hin gebende Berufstreue, die selbst ihr Herzblut einsetzt für den heiligen Zweck des Gottesreichs, in der scheinbaren Vernich tung das wahre unsterbliche Leben findet, in der zu Spott gebundenen Dornenkrone den Siegeskranz der Ewigkeit. Zu göttlicher Kraft aber wird diese göttliche Weis heit gewiß nicht durch das blose Fürwahrhalten der Ver sicherung, daß Gottes Lamm am Kreuzesstamm sein sünden tilgend Blut für uns vergossen
Nur wenn wir mit ihm, der
21 für uns in den Tod gegangen, eins geworden, so daß sein goltinniges Leben unser Leben ist und wir das Kreuz von Golgatha willig in uns selbst aufrichten, um an ihm der ir dischen Selbstsucht abzusterben mit der entschlossenen Glau benstat : „Vater, nicht wie ich will, sondern wie Du willst, Dein Wille geschehe!" — nur dann kann aus dem Tode des alten natürlich-fleischlichen oder knechtisch-gesetzlichen Menschen der nach Gott geschaffene neue Geistesmensch er stehen, der in sich als Kraft und Leben, Licht und Wahrheit, Geist und Wort die ewige Liebe fühlt, die sich selber dar gegeben ihm zum Heil und Seelenhort, und die auch heute noch und allezeit trotz feindlicher Spieße und Stangen und aber gläubisch-dumpfer Grabeswächter ihre Kinder mit unbezwinglich-starkem Arm durch Nacht zum Licht, durch Kreuz zur Krone führt. Und wenn man uns „das leere Grab des Oster morgens" zum unwiderleglichen Beweise dieses fundamen talen Wunderfactums der „leibhaftigen" Auferstehung Jesu vorhält, sollten wir da nicht mit dem biblischen Vorwurf antworten dürfen: „Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten!" Die theologische Controverse um Visionshypothese, reale gottgewirkte Manifestationen, geistig-leibliche oder gar materielle Modalitäten fällt unseres Erachtens unter das Princip der freien Forschung. Ihre Entscheidung aber, wie sie auch ausfalle, entscheidet nicht über den „gläubigen" oder „ungläubigen" Character einer theologischen Richtung. Denn mit Recht hat A. E. Biedermann gesagt: „Der Kritiker als solcher ist weder ein Gläubiger noch ein Ungläubiger, sondern ein Suchender" — und: „Frischweg nach der Gestalt des theoretischen wissenschaftlichen Bewußtseins, nach den
22 theologischen Systemen,
von Gläubigen oder Ungläubigen
reden, ist ein Unfug, und daß dieser Unfug so allgemein und ohne alles Arg getrieben wird, ist nur ein Zeichen, wie allgemein das Denken in religiösen Dingen noch in seiner Kindheit steht." Wenn nun auch wirklich die meisten von uns entweder mit der ursprünglichen oder mobificitten1) oder wie ich per sönlich mit der von Fr. Lang Hans
gänzlich umgestalteten
„Visionshypothese" das begeistert-gläubige Schauen Christi als des Auferstandenen am besten erklären zu können meinen, — soviel werden wir alle, die wir die Tatsächlichkeit der fleischlich-leiblichen Auferstehung Jesu und
die Möglichkeit
einer sinnlich-übersinnlichen oder verklärt-leiblichen zu bezwei feln ernsthafte Gründe haben, doch zuversichtlich behaupten dürfen, daß neben der im orthodoxen und vermittlungstheo logischen Lager aufs nachdrücklichste geforderten Predigt von dem „leibhaftig" Auferstandenen, eine geisterfüllte
und
gemütsinnige Predigt von dem ge ist hastig auferstandenen erhöhten Christus, der immer noch den Seinen als der Friede sürst erscheint und in Kraft seines siegreich verklärten Per sonlebens auf sie wirkt und wirken wird in alle Zukunft, weder unkirchlich noch unchristlich noch religiös-sittlich unkräftig erfunden werden kann.
Ja solche Predigt ist nicht nur nicht
u n christlich, sondern sogar ur christlich.
Denn die christliche
Heilsverkündigung hat sich von Anfang an nicht mit der Pre digt der geschichtlichen Auferstehungstatsache begnügt, sondern
!) Joh. Schm eidler, Auferstehung, Geistesausgießung und Himmelfahrt S. 19 ff. 2) Friedr. Langhaus, Das Christentum und seine Mission im Lichte der Weltgeschichte S. 154—163.
23 namentlich durch den geistesmächtigsten Apostel des Aufer standenen als Hauptsache gefordert, daß Christus, und zwar nicht der Christus nach dem Fleisch,
in den Geist seiner
Gläubigen eingehen, und in ihnen aus dem Tode des alten Menschen auferstehen müsse zu neuem heilig-seligem Leben. Mit
D. Riehm^) ganz einverstanden in der Ueber
zeugung, daß „nicht aus dem von dem religiösen Herzpunkte des menschlichen Geisteslebens isolirten wissenschaftlichen Er kenntnistrieb, sondern aus den Tiefen des religiösen Lebens der Idealismus immer
aufs
neue
die
Nahrung
und
Lebenskraft gewinnt, ohne welche er die Macht der materia listischen Zeitströmung nicht zu überwinden vermöchte", Pro testiren wir gegen den Vorwurf des „fals ch en" Idealismus, den er uns ein Jahr zuvor in seinem Potsdamer Referat gemacht hat.
Wenn es Idealismus ist, daß wir
Christi
Kreuzestod und Auferstehungsleben in ihrem geistigen Wesen und ihren religiös-sittlichen Wirkungen zu
erfassen suchen,
nun, so ist dies eben der wahre Idealismus, der Idealismus aller Religion, der das Sinnlich-Sichtbare für zeitlich und vergänglich achtet und den sehnsuchtsvollen Flug des Glau bens höher hinauf zu dem Unsichtbar-Ewigen richtet, dem wir leben, weben und sind. — ja
in
Es gibt einen, sonst
auch von vermittlungstheologischer Seite bekämpften un-
geistig-geistlichen Realismus, dessen dogmatischen Hand greiflichkeiten gegenüber
es auch in unserer Zeit dringend
not tut, fort und fort die Paulinische Wahrheit zu bezeugen, daß Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben, daß
*) vgl. die vorzügliche Rectoratsrede über „ Religion und Wissen schaft", gehalten am 12. Juli 1881, S. 25.
24 dem falschen Positivismus,
der an der sinnlich-äußerlichen
Wirklichkeit klebt, das hehre Ideal des Königs der geistigen Wahrheit ewig unerreichbar bleibt.
Aber dies Ideal, so wendet man uns ein, hat sich ja längst realisirt.
Das Reich Gottes ist ja seit mehr als 1800
Jahren aus seiner Innerlichkeit herausgetreten und hat sich in Bekenntnis, Cultus und Verfassung veräußerlicht.
Po
sitives Christentum ist ohne positives Kirchentum un denkbar, und dies letztere hat und will der Protestantenverein nicht, er negirt es vielmehr grundsätzlich und tatsächlich. Nun, das ist allerdings selbstverständlich, daß wir als Protestanten die katholische Parole:
„Außerhalb der Kirche
kein Heil" unbedingt verwerfen. Denn daraus folgt mit Not wendigkeit die alleinseligmachende Autoritäts- und Zwangs kirche einer pseudochristlichen Hierarchie,
jene
gottgestiftete
Universalmonarchie und Glaubensdespotie, die sich hocher haben dünkt über die ungöttlichen Reiche dieser Welt — eine anspruchsvolle und doch nach Buchstaben und Geist des bibli schen Christentums völlig grundlose Fiction, die wir mit der Reformation aufs entschiedenste zurückweisen.
Mit ihr aber
heißen wir freudig willkommen als .segenbringende, die Heils güter des unsichtbaren Gottesreichs vermittelnde Tochter des Pfingstgeistes die Kirche des Evangeliums, die geordnete Ge meinschaft christlich-frommer Ueberzeugung und Gesinnung, Glaubensverkündigung und Glaubensbewährung,
die Ge-
burts- und Pflegestätte bewußten, gemütsinnigen und tat kräftigen, d. h. in Wahrheit positiven Christentums. Diese evangelisch-protestantische Glaubens-
25 gemeinscha ft, getragen vom Christusgeist der Gotteskindschaft und durch ihn getrieben zum leben digen Gottesdienst in der opferwilligen Liebes pflege des religiösen und sittlichen Volkslebens, in ihren Ordnungen frei von staatlichem Polizei zwang, aber auch fern von herrschsüchtigem Ein greifen in die Staats- und Gesellschaftsordnung, — das ist unser Kirchenideal, die wahrhaft „freie Volks kirche" des freien Protestantismus, die sich zu der „freien Volkskirche" gewisser „positiver" Glaubensdemagogen verhält wie protestantisch zu katholisch.
Ja, der Protestanten-
verein will — wie einer unserer hervorragendsten Gelehrten am Vorabend des 13. Deutschen Protestantentages schrieb — „eine freie Volkskirche, die frei sein soll nicht von einer ver nünftigen und unparteiischen staatlichen Oberleitung, sondern von der unvernünftigen und parteiischen Herrschaft einer zelotischen Hierarchie.
Er will eine deutsche Volkskirche,
welche nicht mit Rom sich verbünde zum Kampf wider die staatliche Gesetzgebung, sondern welche treu und ehrlich ans Vaterland sich anschließe und in ihm die starken Wurzeln ihrer Kraft finde.
Er will eine gesunde Volkskirche, die
sich nicht scheu und mistrauisch vor dem Denken und Fühlen unseres Volks und unserer Zeit verschließe, sondern dem Licht der Wissenschaft und der Luft der Cultur frischen, freien Zutritt verstatte, überzeugt, daß diese Elemente auch für das kirchliche Leben gesunder und conservirender seien als Stick luft und Modergeruch.
Er will endlich eine lebendige
Volkskirche, in welcher das wirkliche religiöse Leben unserer Gemeinden eine naturgemäße Pflege und einen schlichten, ungezwungenen Ausdruck finde; die an den überkommenen
26 Formen der kirchlichen Sprache und Sitte die dienenden Mittel, nicht die hemmenden Fesseln ihrer freien Selbstbetä tigung habe." Wir wollen eine freie Kirche, aber eine Kirche und zwar eine christliche Kirche, d. h. nicht eine Lehr- oder Zucht- oder gar übernatürliche Rettungsanstalt, die historische Kenntnisse und theoretische Erkenntnisse zu überliefern, ZwangSbesierungen durchzusetzen, oder auf gut römisch göttlichen Gna denzauber zu appliciren hätte — sondern eine christliche Glaubensgemeinschaft,
die
in der Darstellung
und Darbietung des christlichen Heils ihre Haupt aufgabe sieht, einen vom Geiste Christi beseelten Organismus, der vor allem das Leben Christi in den Christen zu fördern, in allen Nichtchristen zu wecken bestimmt ist. Wir wollen nicht, wie man uns fälsch lich vorwirft, die Kirche zum Hörsal degradiren und der an dächtigen Gemeinde statt des Lebensbrotes eine Portion kri tischen Salzes verabreichen.
Wir können das nicht wollen,
weil uns Gegenstand und Inhalt des seligmachenden, des Heils-Glaubens (im Unterschied vom Glauben im trivialen Sinne) einzig und allein das Ewig-Göttliche ist, das über allem zeitlichen Werden und Vergehen steht und darum auch allen Wechselfällen der Zeit und menschlicher Kritik entnom men ist.
Wol suchen wir als protestantische Männer zur
Aufklärung im Sinne Kant's als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" an anderem Ort nach Kräften zu helfen; für den kirchlichen Cultus aber folgt uns aus dem Wesen der Religion als Zweck wahr haftig
nicht Verstandesaufklärung,
sondern
Heiligung, Beseligung der Herzen.
Erbauung, Wol legt z.B.
27 die freie Theologie als Wissenschaft auf einen kritisch ge sichteten Urkundentext der Geschichte Jesu gebärenden Wert. Aber sie ist den Kinderschuhen der rationalistischen Verstan deskritik Gott sei Dank soweit entwachsen, daß sie in der kirchlich-religiösen Praxis all die poetischen Gebilde der religiösen Phantasie, welche die geschichtlich ermittelte mirakellose Wirklichkeit dieses wundervollen Lebens in reichster Fülle umranken, keineswegs mit plumper Hand in prosaischer Plattheit und
kalter
Aufklärerei zerpflückt,
sondern
dies
schöne, unveräußerliche Muttererbe der Religion pietätsvoll verwahrt und verständnisvoll verwertet.
So werden auch
Den „protestantenvereinlichen" Pfarrern wie ihren „positiven" Widersachern, wenn sie bei christlicher Festfeier die biblische Bildersprache reden, die Engelsflügel um Wiege und Grab des Gottessohnes rauschen, und protestantenvereinliche „Laien", wofern sie nur wahrhaft freie Christen sind, werden sich niemals fremd und unbehaglich, sondern in ihres Vaters Hause fühlen und im innersten ergriffen von dem Herzton ihrer Muttersprache, wenn zu Weihnachten das „Ehre sei Gott in der Höhe" und zu Ostern das Siegeslied der Auferstehung durch die Kirchenhaüen braust oder am Karfreitag die trauernde Gemeinde das unsterbliche Passionslied anstimmt: „O Haupt voll Blut und Wunden!"
Es ist also einfach nicht wahr, daß der freie Protestan tismus seine Entwickelung nur in der Verleugnung und Zer störung seines geschichtlichen Mutterbodens sucht.
Nicht in
der Auflösung und Zersetzung, sondern nur in immer reinerer Herausbildung seines wahren Princips in der theologischen Wissenschaft wie in der kirchlichen Praxis sehen wir den
28 gottgewiesenen Weg des evangelischen Protestantismus.
Wie
die Kirche der Reformation ihr Dasein dem schöpferischen Gedanken der evangelischen Freiheit verdankt, so kann sie auch nur auS diesem Geiste wiedergeboren werden, nicht aus dem Ungeist blinder Devotion gegen einen papiernen Papst oder, was noch schlimmer, gegen einen ä la Wöllner inspirirten Cäsaropapismus, diese Vergiftung des freien Evan geliums durch Transfusion römisch-katholischen Blutes! Die Kirche des sola fide muß den Glauben lebendig und frei lassen und das Dogma beweglich, denn Wahrhaftigkeit ist die Seele des Protestantismus
und sie dem
Götzen der „Lehreinheit" opfern, heißt die Sache der
Reformation
an
ihren
Erbfeind
verraten.
Darum hat Schleiermacher mit großartigem aber echt pro testantischem Idealismus in seiner „practischen Theologie" es als die „eigentlich positive Aufgabe" eines evangeli schen Kirchenregiments bezeichnet: auf dem Gebiete der Theo logie — und zwar für Professoren und Pfarrer gleichermaßen — die Freiheit der Untersuchung zu erhalten und dem keinen Vorschub zu tun, daß unter dem Vorwand die Einheit der Lehre hervorzubringen, die Freiheit der Untersuchung gehemmt werde im Werden der Lehre, überhaupt aber die Kirche immer mehr auf den Standpunkt zu erheben, daß sie feststehender Vorschriften für die Lehre nicht bedarf. Unausgesetzt hat der Deutsche Protestantenverein in dieser Aera der Ketzerprocesse gegen protestantische Geistliche und der Attentate einzelner Fanatiker wie ganzer Synoden gegen die Freiheit der theologischen Wissenschaft die Behör den der evangelischen Landeskirchen an jene „eigentlich po sitive Aufgabe" gemahnt, in der auf dem vorjährigen Ber-
29 liner Protestantentage
einmütig ausgesprochenen Ueberzeu
gung, „daß nur durch eine von dem Machteinfluß der Kirche freie theologische Wissenschaft die heil. Schrift in ihrer Wahr heit erkannt, die kirchliche Ueberlieferung von ihrem Irrtum geläutert, das christliche Gewissen zu seiner in sich selbst ge gründeten Gewißheit erhoben werden kann". In der Tat: unsere Kirche hat das Evangelische unter den Füßen
verloren,
sobald
sie
den
Satz
des
Herrn
v. Ketteler: „Die Freiheit der katholischen Wiffenschaft besieht eben darin, daß sie an die katholische Glaubenslehre gebunden ist" mutatis mutandis der protestantischen Wissen schaft vorschreibt, die jeder Menschenautorität enthoben, sich nur dem Geist der Wahrheit unterordnen darf, der ihr des freien Forschens heilig Recht verliehen und des treuen Forschens heilige Pflicht zum alleinigen Gesetz gemacht hat.
Aus solchem ungemessenen Freiheitsstreben aber, meinen unsere Gegner, folgt eben consequent, daß jedes positive Kirchenbekenntnis aufgelöst und alle Pietät vor den Be kenntnisschriften der Väter untergraben wird, wie der Pro testantenverein factisch tut. Nein, das tut der Protestantenverein nicht.
Er protestirt
nur pflichtgemäß gegen Glaubens- und Bekenntniszwang und verteidigt das evangelisch-christliche Kleinod der Glau bens- und Gewissensfreiheit, das von der Reformation des 16. Jahrhunderts siegreich ans Licht gebracht, bald aber wieder confiscirt wurde und so „dem natürlichen Egoismus und Fanatismus der bestehenden Kirchentümer
und
einer-
übel beratenen Staatsraison erst im Verlauf der letzten zwei
30 bis drei Jahrhunderte mühsam und vermittelst einer geschicht lichen Bewegung voller Kämpfe, Blut und Tränen abge rungen worden ist"1) Auch wir verlangen von dem Theologen, der ein kirch liches Amt begehrt, Kenntnis und Verständnis der altkirch lichen und altprotestantischen Bekenntnisschriften und volle Sympathie für das darin bezeugte christlich-religiöse Leben, welches er der Gegenwart in den Vorstellungsformen der Gegenwart auf Grund seiner eigenen persönlichen gewifsenhaft errungenen Glaubensüberzeugung, nicht als unpersön liches Sprachrohr eines statutarischen Kirchenglaubens zu vermitteln hat. Aber eben darum verlangen wir Freiheit zur Bildung und Verkündigung der Ueberzeugung.
Mit Recht hat D.
Lipsius gegen Bischof Koopmann geltend gemacht: „Nicht blos die theologische Wissenschaft bedarf der Freiheit — denn damit hat's keine Not, und alle Cultusminister, Oberkirchenräte und Consistorien zusammen könnten sie doch nicht er töten — sondern die Kirche bedarf sie, um ihren Glauben immer frisch und lebendig bekennen zu können, und jeder Geistliche bedarf sie, damit sein Zeugnis von dem Heile in Christo eben wirklich sein eigenes Zeugnis sei." Und das soll doch jede Predigt sein: ein lebenswahres und lebens warmes Glaubenszeugnis, ein aus Herz und Gewissen hervor quellendes Glaubensbekenntnis.
Aber das kann sie doch
nur dann sein, wenn der Prediger, frei von dem lebenver giftenden Wahn
eines
unlöslichen
Widerspruchs zwischen
!) Worte Holtzmann's im „Lexicon für Theologie und Kir chenwesen."
31 Offenbarung und Vernunft, dessen positiv gewiß geworden ist, daß in der Kirche des Evangeliums ein ewiges Leben pulstrt, das in der protestantischen Wissenschaft mit der Macht des aus Gott geborenen Geistes der Wahrheit arbeitet, durch alle Trübungen dieser Entwicklungsperiode wieder hindurch zudringen zum hellen Licht, um die zweifelskranke Welt in sieghafter Gottesgewißheil und wissenschaftlicher Klarheit zu überwinden. Aber stehen wir dann wirklich noch in unzerreißbar-festem Zusammenhange mit dem positiven Bekenntnis unserer reformatorischen Väter? Nun wol, was ist denn das Bekenntnis in den Bekenntniffen des 16. Jahrhunderts? Es ist der reformatoriscbe Glaube. Und dieser Lebensstrom, der oft freilich gehemmt und eingedämmt vom starren Gestein der Dogma tik durch die Glaubensdocumente unserer Ahnen rauscht, ist auch uns noch nicht versiegt. Das in Gottes Wort gefan gene Gewissen, das unser Wormser Glaubensheld aller Kir chensatzung kühn entgegenstellte, ist uns noch immer das Er kenntnisprincip der protestantischen Kirche, das protestantische Gewissen, das seinen religiösen Gehalt aus der Schrift- und Kirchenüberlieferung als der geschichtlichen Gottesoffenbarung empfängt, aus derselben aber scheidet, was dem lebendigen religiösen Bewußtsein als Wort Gottes sich nicht bewährt. Und das wahre Wesensprincip der protestantischen Kirche schöpfen wir noch immer aus dem biblischen und reformatorischen Glauben an die Gnade Gottes in Christo, die Offen barung des neuen religiösen Lebensverhältnisses Gottes und des Menschen.
32 Aber mit Holsten's classischenProtestanlenlagsthesenvom 9. Juni 1881 fordern wir für die christliche, vom Geist Christi durchdrungene Vernunft der Gegenwart das Recht, dies im Evangelium Jesu Christi wie in der Grundlehre des Paulini schen Evangeliums wurzelnde Wesensprineip der protestantischen Kirche in eigenen Bewußtseinsformen zu gestalten, sobald sie diejenigen der Bibel und der kirchlichen Bekenntnisse im Widerspruch mit sich und ihrer eigenen Gewißheit erkennt. Und das fordern wir, weil nur unter „Anerkennung und Aus übung dieses Rechtes das christliche und protestantische Ge wisien des Einzelnen zu jener inneren, in sich selbst begrün deten Gewißheit und jener freien, in sich selbst begründeten Uebereinstimmung mit der Lehre der Kirche gelangen kann, welche die unerläßliche Voraussetzung jedes christlichen und protestantischen Glaubens ist (Römer 14,5.23); daß in der Religion des Glaubens nicht das Bekenntnis einer von der Kirche als Gesetz vorgeschriebenen Lehre Wesen der Fröm migkeit und Voraussetzung deS Lebens ist, sondern eben der Glaube allein, der die in freier Ueberzeugung anerkannte Gewißheit der Offenbarung
Gottes in Christo in
freier
Tat zur Lebensmacht über das Ich im Gemüte erhebt." „Bedürfte die Kirche einer feststehenden in lehrhafter Weise ausgebildeten Bekenntnisformel, welcher alle Mitglie der ohne weiteres unterworfen und an deren Buchstaben sie alle gebunden wären,
so würden Kirche und Prote
stantismus einander ausschließen. Denn das Prin cip des Protestantismus macht des Menschen Heil nur von der freien Hingebung an Gottes Liebe in Christo, nicht aber von dem Annehmen und Innehalten einer von Menschen verfaßten Bekenntnisformel abhängig; und dasselbe Princip
33
will den Menschen zu einer Selbständigkeit des Urteils er ziehen, in welcher er befähigt nicht nur, sondern auch ver pflichtet ist, jede lehrhafte Formulirung des Bekenntniffes der Kirche selber zu prüfen und was in der Feuerprobe der Wahrheit nicht besteht, abzulehnen." *) Darum ist die äußerlich-gesetzliche Auffassung des Bekennt niffes ein Abfall vom evangelischen Bewußtsein, ein Rückfall in das Princip des römischen Katholicismus. Und darum hat eine Kirchenbehörde, die in Consequenz dieses juridischen Bekenntnis begriffs einen pflichtgetreuen Geistlichen vom Amt entfernt, den Ehrennamen einer evangelischen verwirkt. Ihr Standpunkt mag positiv sein, ja, aber positiv katholisch! Dasselbe gilt von der preußischen Hofpredigerpartei, die unter jene Kieler Consistorialentscheidung selbstgefällig schrieb: „Die Stimme der Kirche wird niemals anders urteilen dürfen".
Damit komme ich auf die traurige Tatsache, daß uns „das positive Christentum", „der gläubige Protestantismus" jetzt zumeist von solchen abgesprochen wird, die trotz des un versöhnlichen Gegensatzes zwischen dem evangelischen Christen tum des Geistes und der Freiheit und dem katholisch-vaticanischen Kirchentum der Sinnlichkeit und Gebundenheit mit den fa natischen Parteigängern dieses letzteren sich unbedenklich alliiren gegen die Gesetze des Staats, gegen die Freiheit der Wiffenschaft, gegen die freiere Richtung des Altkatholicismus in der einen, des Protestantenvereins in der andern Kirche. l) D. Graue, die kirchenbildende Kraft des Protestantismus (Baffermann-EhlerS'sche Zeitschr. 1879).
34 „DaS Stadium
des Niedergangs — bemerkt D. Holtz-
mftttn1) treffend — in welchem dermalen die reformatorischen Ideen und protestantischen Principien begriffen sind, wird innerhalb der evangelischen Kirche durch die Tatsache charaeterisirt, daß sich die sämtlichen Organe der streng confessionell-lutherischen Richtung, an ihrer Spitze die „Allg. Luth. Kirchenzeitung" solidarisch mit der katholischen Sache verbunden wiflen." Das skandalöse conservativ-clericale Compromiß, dem Preußen das neueste kirchenpolitische Rückzugs gesetz
zu danken hat, ist an sich noch nicht das schlimmste.
Aber welche Perspective eröffnen die bei dieser Gelegenheit gehaltenen Reden: Freiherr v. Dura nt konnte als Protestant den Herren vom Centrum seinen Arm einen „gemeinsamen Gegner,
antragen
zum
Kampfe
gegen
desien Tendenzen ihren Aus
druck finden in der naturalistischen und rationalistischen (!) Weltanschauung."
Und
Herr
v. Kleist-Retzow
konnte
das Zusammengehen der Centrums- und conservativen Partei mit Dank und Freude begrüßen in der ausgesprochenen Hoff nung, gemeinschaftlich mit den Ultramontanen „unsere Staatsgesetzgebung mehr auf christlichen Grundlagen bauen", d. h. das
Civilstands- und
Schulaufsichtsgesetz
niederreißen
zu
können! Und da nennt man sich „positiv" und . „eonservativ", wenn
man
einer Curial-Politik Handlangerdienste leistet,
die im Protestantismus die Wurzel alles Uebels sieht und die Autorität des Staates für nichts achtet vor dem Gottes staat der Kirche; einer Politik, die durch den Mund des
J) Meyer's Conv.*Lex. Iahres-Supl. 1881—82.
35 Nuntius Meglia mit unheimlicher Deutlichkeit gesprochen hat: „Uns kann nur die Revolution helfen", und durch das vaterlandslose Münchener „Vaterland": „Wir lieben dieses euer deutsches Reich nicht, wir haben nie etwas davon wissen wollen, für unS existirt eS nur als eine vorüberziehende Ge witterwolke."
Ich bin aber weit davon entfernt, die Ermattung des protestantischen Bewußtseins allein im politisch-conservativen Lager zu suchen. nicht geringer.
Sie ist auf der andern Seite durchaus
Und das darf von uns um der Gerechtigkeit
willen nicht verschwiegen werden. Denn der Protestantenver ein soll keine Filiale der national-liberalen oder FortschrittsPartei sein.
Er hat auch schlechterdings keine Verpflichtung,
dem politischen Liberalismus nach dem Munde zu reden. Sein stiftungsgemäßer Hauptberuf ist es vielmehr, alle deutschen evangelischen Christen ohne Unterschied der politischen Partei stellung an ihre protestantisch-kirchlichen Pflichten und Rechte zu mahnen.
Und in Erfüllung dieses Berufs haben wir seit
langem schon in Wort und Schrift aufs tiefste müssen, daß man gerade in den
beklagen
Kreisen des politischen
und wirtschaftlichen Liberalismus der religiösen Frage ängst lich aus dem Wege geht und es kaum als Schaden für den evangelischen Protestantismus und den deutschen Idealismus anzusehen scheint, wenn ein pfäsfisches Parteikirchentum, auf „Tron, Bajonet und Katechismus" gestützt, mit fanatischem Hasse Männer verfolgt, die in der Tat und Wahrheit Re ligion und Wissenschaft, Verständigkeit und Frömmigkeit in freiem freudigem Herzensglauben bestrebt sind.
zu versöhnen aufrichtig
36 Ganz unleugbar hat in diesen letzten 5 Jahren der von Preußen ausgehenden unevangelischen Kirchenreaction nichts mehr Vorschub geleistet, als jener jammervolle, säst- und kraftlose Glaubens-Jndifferentismus der
„liberalen"
Bil
dungsphilister, die in kahler platter Verständigkeit nur für ma terielle Interessen, für freie Bewegung des bürgerlichen und gewerblichen Lebens Zeit und Neigung haben, den idealen Glaubens- und Freiheits-Gütern des evangelischen Protestan tismus aber, für die unsere Väter einst willig in den Tod gegangen sind, kühl bis ans Herz hinan gegenüberstehen und so lediglich den geschworenen Feinden der Freiheit in der Kirche mit ihrer falschen Freiheit von der Kirche in die Hände arbeiten, nach Frickhöffer's wahrem Wort: „Der kirchliche Jndifferentismus der gebildeten Mittelklaffen ist der beste Bundesgenosse der verbündeten Mächte des römischen Ultramontanismus und des ihm wesensverwandten protestan tischen Orthodoxismus." — Ja, die blos formale Freiheit schlägt stets in ihr Gegenteil um. Alle Freiheiten sind eitel ohne die wahre Freiheit, deren feste Burg Gott der Herr ist!
Aber diese Freiheit aus Gott und in Gott, für die der kirchliche Liberalismus streitet und leidet, erscheint dem unkirchlichen Liberalismus unheimlich mystisch, allzu positiv, dem hyperkirchlichen ConservatismuS dagegen allzu wenig positiv, vielmehr schrankenlos subjectivistisch und darum den „positiven" Autoritäten dieser Erde gefährlich. Daher jener unselige Wahn, daß der Tron — auch der unseres Kaisers — nur sicher stehe auf den Altarstufen einer stramm disciplinirten Priester^ und Pastorenkirche, daß zumal
37 der beschränkte Untertanenverstand und stumme Glaubens gehorsam, wie die Diener des Unfehlbaren ihn zu erzwingen wissen, die beste Assecuranz sei gegen die Schrecknisse der Revolution,
dieser
natürlichen
während der Altmeister
Tochter der
Reformation,
der protestantischen Kirchenhistorie
v. Hase längst vor der offenen Losung der clericalen Par tei:
„Die politischen Formen sind Werkzeuge in unsern
Händen" eindringlich gewarnt und die letzten Ziele jener Par tei in dem giftgeschwollnen Worte der „Historisch-politischen Blätter" enthüllt hat:
„An demselben Tage, wo der mo
derne Staat wie die Napoleonssäule unter den Keulenschlä gen der
Commune
zusammenbricht,
wird
die ungeahnte
sociale Macht des Katholicismus sich entfalten.
Derselbe
Glockenschlag, der die Todesstunde des modernen Staats ankündigt, wird zum Festgeläute der Frei heit
der
katholischen Völker!" — während L. v.
Ranke längst die revolutionäre Theorie der absoluten Volkssouveränetät als Dogma des Jesuitismus erwiesen und gegen die angebliche Hinneigung des katholischen Princips zur mo narchischen oder doch aristokratischen Staatsform auf Grund unwidersprechlicher Geschichtszeugniffe bemerkt hat: „Es kommt ihm nur darauf an, wo es seine Stütze, seinen vornehmsten Rückhalt findet.
Sind ihm die bestehenden Gewalten ent
gegengesetzt, so ist es weit entfernt sie zu schonen, ja nur anzuerkennen." Aber freilich, was weiß Ranke, dieser „unwissende, listige, betrügerische Verleumder der Päpste", wie der vaticanische Normaldogmatiker Perrone ihn characterisirt hat! Und Karl Hase, der wahrhaft christlich-irenische Polemiker, der auch in der Kirche des Papstes gern anerkennt, was von
38 Christus kommt oder zu ihm führt, er steht — wie uns ein deutscher
Geistesverwandter Perrone's
(Wilh.
Hohoff)
belehrt — „unter der Herrschaft der dümmsten Vorurteile und gehört, um mit Comte zu reden, zu den frivoles de-
tracteurs und aveugles adversaires habituels du catholicisme, wie jede Seite seiner Kirchengeschichte und seiner Polemik zeigt"! — Statt mit Hase und Ranke hält unsere nominell evangelische orthodox-conservative Partei es lieber mit der zwingenden Logik des schwärmerisch infallibilistischen Grafen de Maistre: „plus de pape, plus de sou-
verainete; plus de souver ainete, plus
d’unite;
plus d’unite, plus d’autorite; plus d’autorite, plus de foi.“
Der Ultramontanismus nimmt natürlich die ehrvergessenen Huldigungen verblendeter Pseudo-Protestanten vergnüglichst entgegen; ja er bietet sich nicht nur dem modernen Staat, den er doch wiederholt öffentlich und feierlich verflucht hat, als feuerfesten Hort der socialen Ordnung an, sondern auch der so grimmig gehaßten und so blutig verfolgten protestantischen Kirche zur Erdrückung der protestantischen Freiheit.
Es ist
seinerzeit von den Vertretern der machthabenden Kirchenpar tei, der sog. „positiven" Union, des sog. „gläubigen" Pro testantismus schweigend hingenommen worden — und hier war Schweigen eine Todsünde gegen den Geist der Refor mation ! — als die undeutsche „Germania" mit empörender Frechheit schrieb: „Nur
noch
allein
vom
Ultramontanismus
hängt es ab, ob der protestantischen Kirche Preu-
39 ßenS noch
einmal aufgeholfen werden soll
oder
nicht. Ohne fundamentale Aenderung der evangelischen Kirchenverfassung, insbesondere ohne Entfernung der Schluß bestimmungen zur Generalsynodalordnung ist der Zusammen bruch der evangelischen Landeskirche
nur noch
eine Frage
der Zeit. Jene Abänderung ist aber nur unter Zustimmung des Landtages zu vollziehen, und eine Majorität zum Umsturz des von „liberaler" Seite aufgeführten Baues wäre nur durch die Unterstützung des Centrums zu erlangen, denn die
protestantische Orthodoxie
hat zu
geringen Boden im
protestantischen Volke, namentlich in der städtischen Bevölke rung, als daß sie aus sich allein heraus, selbst unter der eifrigsten Unterstützung der Regierung, jemals zu einer Ma jorität gelangen könnte. Welchen Preis das Centrum für diese seine Hülfeleistung fordern wird, das zu erörtern gehört nicht hierher; für heute genügt es uns, wiederholt das Axiom der Gegenwart und der Zukunft zu eonstatiren: Ohne Ultramontanismus keine
Rettung
der
evangelischen
Kirche
Preußens!" Wem
bei
ManneSzorn
solch
über die
eynischem Hohn
nicht
D. Luther's
,,Fledermäuse, Maulwürfe, Uhus,
Nachtraben und Nachteulen, die das Licht nicht leiden können, sondern ihm mit aller Macht und Schalkheit wehren," in Hellen Flammen ausbricht, wer vielmehr nach solchem Faust schlag ins Angesicht des Protestantismus dem Ultramontanis mus noch die Hand zu drücken vermag, der ist nicht wert, ein Kind der Reformation zu sein, und ob auch hundertmal mit
—
40
—
Worten und mit der Zunge ein „positiver" Protestant, doch in der Tat und Wahrheit ein Apostat! Ich eonstatire, daß sowol D. Luthardt als auch der „neue Luther" der Christlich-Socialen den frevlen Schimpf des römischen Blattes wortlos hingenommen haben, ja daß der letztere dessenungeachtet als preußischer Hofprediger und Wort führer der „positiven" Unionspartei mit dem Leiter der „Ger mania" Caplan M ajunke über Wahlbündnisse zu verhandeln sich nicht geschämt hat'), und ich behaupte: Die renommistische
l) Auf Stöcker's Versuch, dies unwürdige Verfahren zu recht fertigen („ich sehe nicht ein, wie man ersprießliche Reichspolitik trei ben will, ohne sich mit den Katholiken, die nun einmal 3/s l * der deut schen Bevölkerung bilden, in Verbindung zu setzen") hat D. Bey schlag seinerzeit die gerade im gegenwärtigen Moment doppelt be achtenswerte Antwort gegeben: „Bitte, Herr Hofprediger, — es handelt sich nicht um die ka tholische Reichsbevölkerung,
die im Centrum doch wol nicht ihre
ausschließliche und allseitige Vertretung hat; es handelt sich um die Centrumspartei, es handelt sich speciell um Sie und Herrn Majunke.
Ob es ersprießliche Reichspolitik ist, sich mit einer Partei
„in Verbindung" zu setzen, die sich in jedem Ja oder Nein nicht vom vaterländischen, sondern vom römischen Interesse leiten läßt, vom Interesse
eines
fremden
und
fremdartigen Machtanspruchs
an's deutsche Volk und Reich, dessen Erreichung unser nationales Verderben sein würde, wag' ich zu fragen. Aber es handelt sich hier noch specieller um daS, was einem ausgesprochenen und amtlich berufenen Vertreter des evangelischen Protestantismus geziemt. Wer Herr Majunke ist, ist bekannt.
Soeben hat er den Kirchenbau in
Speier zum Andenken an den Ursprung des deutschen
Protestan
tismus verhöhnt mit der Weissagung, derselbe werde, wenn er über haupt zu stände komme, entweder ein heidnischer Tempel oder eine katholische Kirche werden.
Aber auch hiervon abgesehen: er ist das
tägliche Echo des Papstes, welcher die deutsche Reformation als die Mutter der Revolution und des Nihilismus beschimpft.
Wer meine
leibliche Mutter beschimpft, mit dem sitze ich nicht an einem Tisch,
41
-
Dummdreistigkeit, die jenen „neuen Luther" unserem größten Nationalhelden, dem einzigen Apostel der Deutschen an die Seite zu stellen wagte, hat in dem grellen Contrast zwischen Ur bild und Zerrbild zugleich den gewaltigen Unterschied von Re formation und Reaction, von wahrem und falschem PosttivismuS typisch dargestellt.
ES muß in der Tat weit gekommen sein, wenn ein im gegnerischen Sinne „positiver" Theolog die Klage
erhebt:
„Unter dem Beifall des schlauen Windthorst träumt der evan gelische Hofprediger von Frieden mit Rom und indem er mit socialem Christentum das Volk beglücken will, zieht er gemeinsam mit den Römischen an dem großen Leichentuch des Götzendienstes, unter dem die Nationen begraben
werden.
Welch eine Carikatur! Wird aber einmal ein tapferes Wort gesprochen gegen den Papst, dann wird es als tactlos ge brandmarkt/") Wir haben gerade in der Provinz Sachsen, der Wiege der Reformation, aus neuester Zeit den schlimmsten Beleg für die Wahrheit dieser Worte. lung,
Die schmähliche Behand
die dem nichts weniger als „negativen" Profeffor
D. Schlottmann und in seiner Person der Sache pro testantischer Wiffenschaft
und deutscher Universitätsfreiheit
und wer mir die deutsche Reformation beschimpft, mit dem führe ich im Landtag keine cordialen Gespräche, setze ihm nicht meine Idee von evangelischer BolkSkirche auseinander, und am wenigsten biete ich ihm die Bundeshand in Dingen meines Volkes und Va terlands; ich tue eS zwiefach nicht, wenn mir als einem Gliede nicht nur, sondern einem Diener der evangelischen Kirche die Ehre derselben zwiefach anvertraut ist." *) D. A. Zahn, Ein Kirchenraub, 1882.
42 von cleriealer Arroganz im preußischen Landtage widerfuhr, ist noch in unser aller Gedächtnis.
Und es hat in tausenden
protestantischer Herzen gezündet, was der ehrwürdige Senior der Hallischen Theologenfaeultät*) den Herren W indthorst und vonFürth,die Cardinal Campeggi's Executionsvorschläge gegen Luther's Hochschule nach 350 Jahren wiederauf nehmen zu können glaubten, in gerechter Entrüstung erwidert hat: „Wir werden uns nicht mundtot machen lassen. Wie? wir sollten schweigen, wenn der Papst mit allen seinen verschim melten Prätensionen wieder hervortritt? Wir sollten ruhig zu sehen, wenn er sich rühmt, das Steinchen ins Rollen zu setzen, welches daS deutsche Reich zerschmettern solle? Wir sollen schweigen, wenn er Religionsfreiheit für Frevel erklärt, wenn $eo XIII. in seinem „letzten Wort" beinahe auf jeder Seite Protestanten
und Atheisten in eine Linie stellen läßt und
seine Speichellecker
das in Deutschland wiederholen?
Wir
sollen uns von diesem Unfehlbaren belehren lassen, „daß die Reformation die Quelle der Revolutionen und ungläubigen Philosophie, des Communismus, Socialismus und Nihilis mus fei?" Wir werden das nicht ruhig hinnehmen... So weit sich der Katholicismus der Gegenwart in Papismus ver wandelt, werden wir ihm widerstehen, und wenn man uns dazu drängt, so werden wir uns erinnern, daß unsere Uni versität nicht blos Halle, sondern auch Wittenberg heißt!"
Wir aber im Protestantenverein mögen uns daran er innern, daß nicht blos die Bekämpfung alles unprotestantischen *) D. Jacobi: Prof. Schlottmann, die Hallische Facultät und die Centrnmspartei; 2. verschärfte Aust. Halle a. S. 1882, Eug. Strien.
43 hierarchischen Wesens innerhalb der einzelnen evangelischen Landeskirchen, sondern auch „die Wahrung der Rechte, Ehre und Freiheit des deutschen Protestantismus" zu den Hauptaufgaben unseres Vereins gehört.
Diese pro
testantische Ritterpflicht nicht des Angriffs- sondern des Vertei digungskrieges gegen den altbösen Feind werden wir jedoch nur dann erfüllen können, wenn wir fest und freudig auf dem evan gelischen Heimaisboden stehen und zu schätzen wissen, was wir schützen sollen vor der Macht und List eines Vernunft und Wissenschaft verachtenden und die Gewissen knechtenden Kirchentums. Denn es ist Mamelukenhandwerk ein Gut zu ver teidigen, dessen Wert man nicht kennt oder gar verachtet. Aber in wie erschreckendem Maße fehlt es zur Zeit noch an dieser Selbstbesinnung auf das Wesen des evangelischen Christentums, an dieser protestantischen Selbstachtung! Darum herrscht ja soviel Indolenz, soviel halbes, schwächliches, fau les und feiges Wesen unter gebildeten und ungebildeten Namenprotestanten,
weil sie die heiligen Güter evangelischer
Glaubenswahrheit, protestantischer Glaubensfreiheit gar nicht kennen, weil sie nicht glauben an ihren Glauben, weil ihnen das Positive im Christentum, das Evangelische im Prote stantismus:
„Das Leben aus dem Glauben,
teskindschaft
ohne
des
Menschen
Verdienst
die Got
aus
Gottes
freier Gnade" eine fromme Phrase, eine inhaltslose Pre digtfloskel ist und nicht die frei- und seligmachende Wahr heit ihres Herzens und Lebens, die ihnen Mut und Kraft verleiht, den feindlichen
Gewalten zur Rechten wie
zur
Linken, dem glaubenslosen Materialismus und Pessimismus auf der einen, dem vernunftlosen Dogmatismus und Hierarchismus auf der andern Seite unbeugsam die Spitze zu bieten.
44 Wir stehen hier
vor GotteS heiligem Angesicht.
Er
allein weiß, wie weit auch einen jeden von unS der schwere Vorwurf trifft.
Er allein kann, was unrein in unserem
Wollen, heiligen durch seinen Geist, was schwach in unserem Vollbringen, stärken durch seine Kraft. wir ihn demütig
Und darum bitten
und innig, damit uns immer besser und
überzeugender der TatbeweiS gelinge, daß wir im Protestan tenverein nicht daS positive Christentum zerstören, vielmehr nur die Entwickelung fördern helfen wollen, wie sie in der Religion des Geistes und der Freiheit tiefbegründet liegt; daß auch
wir positive Christen, positive Protestanten sind:
positive Christen im festen Glauben
an Gottes Vater-
gnade in Christo und in freudiger Bewährung der Liebe, die deS Gesetzes Erfüllung; positive Protestanten in furcht losem Bekenntnis der erkannten Heilswahrheit und in freier Selbstbestimmung auf Grund des Wortes Gottes an uns und in uns, dessen gewiß, daß der evangelische Protestantis mus keine abgeschlossene historische Tatsache ist, sondern ein immer klarer, immer umfassender, immer energischer zu ver wirklichendes Princip, das aus dem Geist der Wahrheit geborene Princip
der
fortgehenden Erneuerung
jeder geschichtlichen Erscheinungsform des Christen tums aus dem unerschöpflichen Jungbrunnen sei nes idealen Wesens!