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German Pages 235 [236] Year 2006
Peter L. Berger Erlösender Glaube?
Peter L. Berger
Erlösender Glaube? Fragen an das Christentum
w G_ DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Dorte Huneke und Joachim Kalka
Originally published under the tide: Peter L. Berger, Questions of Faith. A Sceptical Affirmation of Christianity. © 2004 by Peter L. Berger First published 2004 by Blackwell Publishing Ltd. This edition is published by arrangement with Blackwell Publishing Ltd., Oxford. Translated by Verlag Walter de Gruyter GmbH & Co. K G from the original English language version. Responsibility of the accuracy of the translation rests solely with the Verlag Walter de Gruyter GmbH & Co. K G and is not the responsibility of Blackwell Publishing Ltd.
Für die deutsche Ausgabe:
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN-13: 978-3-11-018895-0 ISBN-10: 3-11-018895-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlagabbildung: Erik Rank, Sunset over Calm Lake Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur deutschen Erstausgabe Vorwort
VII XIII
Eins
„Ich glaube ..."
ι
Zwei
„... an G o t t . . . "
17
Drei
„... den Vater, den Allmächtigen ..."
37
Vier
„... den Schöpfer des Himmels und der Erde."
51
Fünf
„Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn ..."
63
Sechs
„... empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria ..."
82
Exkurs:
Über das Gebet im Namen Christi
96
Sieben
„... gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben ..."
101
Exkurs:
Über das leere Grab und andere Wunder
116
Acht
„... hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel, er sitzt zur Rechten Gottes, des Allmächtigen Vaters, von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten." 1Z3
Neun
„Ich glaube an den Heiligen Geist..."
Zehn
„... die heilige allgemeine Kirche, Gemeinschaft
137
der Heiligen..."
155
Elf
„... Vergebung der Sünden ..."
173
Exkurs:
Über christliche Moral
187
Zwölf
„... Auferstehung der Toten und das ewige Leben ..." . . .
195
Literatur
2.13
Register
217
Vorwort zur deutschen Erstausgabe Als Großvater hat man Gedanken, die einem als Vater nie kamen. Es ist eine Art großväterliches Erlebnis, wenn ein Buch, das man in einer Sprache geschrieben hat, nun in einer anderen Sprache erscheint. Ich glaube, dass dieses Buch nicht anders ausgefallen wäre, wenn ich es nicht in Amerika, sondern in Deutschland geschrieben hätte - oder in China jedenfalls, was dessen theologischen Inhalt betrifft. Aber wie wird es gelesen? Deutsche Leser befinden sich in einer anderen Situation als amerikanische - vor allem, was Religion anbetrifft. Es könnte also nützlich sein, einige Bemerkungen zu diesem Unterschied zu machen. Inzwischen ist es allgemein bekannt geworden, dass Religion eine unterschiedliche Rolle an den zwei Ufern des Atlantiks spielt. Amerika (genauer gesagt, die Vereinigten Staaten - Kanada gibt ein anderes Bild) ist eine intensiv religiöse Gesellschaft - in der Vitalität der Kirchen, in den Überzeugungen und Praktiken der Menschen, sogar in der Politik. Im Gegensatz dazu ist West- und Mitteleuropa der einzige wichtige Teil der Welt, wo man empirisch glaubwürdig von einer massiven Säkularisierung sprechen kann. In dieser Beziehung gehört Deutschland zu einem viel weiteren europäischen Kontext. Allerdings mit einem interessanten Unterschied: Das östliche Deutschland - also das Gebiet der ehemaligen D D R - hat ein besonders hohes Maß von Säkularisierung erreicht. (Der Religionssoziologe Paul Zulehner hat bemerkt, dass, einzigartig auf der Welt, das Gebiet der Ex-DDR und die Tschechische Republik die zwei Regionen darstellen, wo der Atheismus zu einer Art Zivilreligion etabliert worden ist.) Die Kirchen Europas, die evangelischen wie die katholischen, stehen in einer akuten Krise - in ihrem institutionellen Befinden (Beteiligung der Laien, Rekrutierung der Pfarrer, Finanzen), im Bewusstsein ihrer (meist nominellen) Mitglieder, im politischen Einfluss. Und was in Europa nur marginal vorhanden ist, ist der evangelikale Protestantismus, der eine massive und weiter anwachsende Präsenz in Amerika darstellt. Man soll diese Unterschiede nicht übertreiben. Amerika ist nicht so religiös wie man zuerst meint. Beteiligung am kirchliche Betrieb hat oft Motive sozialer Art, die nicht viel mit Glauben zu tun haben. Und dann besteht eine (man kann sagen) „europäisierte" kulturelle Elite, die stark säkularisiert ist. Viele politische Konflikte seit 1963 (ein wichtiges Datum - der Oberste Gerichtshof urteilte, dass Gebete an öffentlichen Schulen
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die Verfassung verletzen) sind viel besser verständlich, wenn man sie versteht als ein Widerstand der religiösen Bevölkerung gegen die Machtausübung der kulturellen Elite - also als eine Art von Kulturkampf. Und Europa ist nicht so säkularisiert, wie es zuerst erscheint. Außerhalb der Kirchen findet man allerlei religiöse Phänomene, oft unter der Kategorie von „Spiritualität" - Leute, die sagen, „ich bin nicht religiös, aber spirituell". Dazu kommt, was die britische Religionssoziologin Grace Davie mit dem Begriff „stellvertretende Religion" („vicarious religion") erfasst hat: Man geht nicht in die Kirche, aber man will, dass sie weiter da ist als irgendwie eine moralische Instanz, weil man sie doch einmal brauchen könnte, damit die Kinder gewisse Werte vermittelt bekommen. So gibt es in Deutschland viele Menschen, die nichts mit der Kirche zu tun haben wollen, aber doch nicht formal austreten - obwohl sie sich durch einen Austritt die nicht unerhebliche Kirchensteuer ersparen würden. Die stellvertretende Rolle der Kirche kommt sichtlich hervor in Fällen von kollektiver Tragödie. So bespricht Davie den Fall des Untergangs der Fähre „Estonia" in der Ostsee, bei dem eine große Anzahl schwedischer Touristen ums Leben kam. Auf einmal, ganz selbstverständlich, wurde die lutherische Kirche, an deren Gottesdiensten sonst nur wenige Schweden teilnehmen, zur offiziellen Trauerinstanz der Nation. Trotzdem kann man weiterhin behaupten, dass Amerika, verglichen mit Europa, eine stärker religiöse Gesellschaft ist. Die empirischen Daten bestätigen diese Behauptung. Und dieser Tatbestand spielt eine erhebliche Rolle in der gegenseitigen Wahrnehmung: Viele Amerikaner sehen Europa als gekennzeichnet durch einen militanten Säkularismus, und viele Europäer meinen, dass in Amerika ein militanter Puritanismus in Gesellschaft und Politik dominiert. Beide Bilder sind verzerrt, aber sie haben doch eine gewisse Berechtigung in den Tatsachen. Es ist umso wichtiger, zu verstehen, was beiden Gesellschaften gemeinsam ist. Und das ist vor allem der Pluralismus. Dieser Begriff beschreibt eine Situation, in der verschiedene Weltanschauungen und Moralsysteme friedlich zusammenleben, und in der deren Anhänger miteinander verkehren und sprechen. Es ist ziemlich klar geworden, dass Modernität nicht notwendigerweise zur Säkularisierung führt. Schon der Vergleich Amerika/Europa führt zu dieser Einsicht: Es ist nicht plausibel, dass Deutschland moderner ist als die USA. Aber ich meine, dass Modernität notwendigerweise zum Pluralismus führt, und zwar ganz einfach deshalb, weil die verschiedensten Menschengruppen wie nie zuvor aufeinander zusammenprallen - durch Verstädterung, Migration, und vor allem durch die Verbreitung der Kenntnis verschiedener Kulturen durch Massenbildung und neuerlich durch die Medien der Massenkommunikation und Information. Einfach gesagt: die „Anderen" sind immer
Vorwort zur deutschen Erstausgabe
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schon da. Dieser Tatbestand hat weitreichende Folgen f ü r die Religion. Pluralismus bedeutet, dass jede religiöse Tradition ihre kulturelle Selbstverständlichkeit verliert. Die Kirchen müssen sich damit abfinden, dass sie keine Monopolstellung in der Gesellschaft mehr haben, so unangenehm ihnen diese Tatsache für ihr theologisches Selbstverständnis sein mag. Anders gesagt, die Kirchen befinden sich nun in einer Marktsituation, im Wettbewerb miteinander und mit nicht-religiösen Wertsystemen. Diese Dynamik ist am Werk, selbst wenn der Staat aus historischen Gründen diese oder jene Kirche weiter privilegiert. Aber natürlich verstärkt sich die Dynamik, wenn der Staat Religionsfreiheit schützt und noch mehr, wenn der Staat selbst religiös neutral ist. So oder so, die Kirchen können nicht mehr damit rechnen, dass die Polizei ihnen die Leute ins Haus treibt. Stattdessen müssen sie um ihre Anhänger werben. Ob sie es wollen oder nicht, die Kirchen werden soziologisch zu freiwilligen Verbänden. Das führt zu einer grundlegenden Veränderung in der Beziehung zwischen Klerus und Laien. Aber Pluralismus führt auch zu einer radikalen Veränderung in der Stellung von Religion im Bewusstsein der Menschen. Wenn die Religion ihre Selbstverständlichkeit verliert, muss der Einzelne entscheiden, ob und wie er religiös sein will. Der Inhalt der jeweiligen Entscheidung kann ganz unterschiedlich sein - eine agnostische oder atheistische Weltanschauung, eine so oder so modifizierte religiöse Tradition, oder auch eine dezidierte Orthodoxie. Das sind dann alle empirisch gegebenen Optionen. Aber keine davon sind selbstverständlich, sie sind Resultat einer reflektierten Entscheidung. Damit aber haben sie nicht die subjektive Sicherheit einer kulturell selbstverständlichen Tradition. So ist auch eine militante Neo-Orthodoxie etwas ganz anders als traditionelle Religion, selbst wenn die dogmatischen Inhalte dieselben sind. Anders gesagt: Neo-Traditionalismus ist etwas ganz anderes als genuine Tradition. Die letztere genießt innere Sicherheit, die erstere ist immer bedroht von Unsicherheit - man erinnert sich, wenn auch subliminal, dass man sich für seine religiöse Position entschieden hat, und jede Entscheidung ist im Prinzip reversibel. Der Unterschied kann aus einer schönen Geschichte aus dem neunzehnten Jahrhundert illustriert werden. Napoleon III. war auf einem Staatsbesuch in England. Königin Victoria ging mit Napoleons Gattin Eugenie, einer Dame mit einer etwas bewegten Vergangenheit, in die Covent Garden Opera. Beide Herrscherinnen waren majestätische Gestalten. Eugenie betrat die königliche Loge, empfing mit einer graziösen Geste den Applaus des Publikums, blickte anmutig hinter sich und setzte sich auf ihren Stuhl. Victoria gebar sich ebenso graziös und setzte sich ebenso anmutig auf ihren Stuhl. Aber Victoria
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blickte nicht hinter sich. Sie wusste, dass der Stuhl da sein würde. Zurück zur Religion: Jemand, der in einer genuinen (d.h. selbstverständlichen) Tradition verankert ist, kann sich leisten, Andersgläubigen gegenüber tolerant zu sein. Der Neo-Traditionalist kann das nicht; jeder Andersgläubige stellt eine potentielle Gefahr dar. Der Pluralismus führt also zu der Notwendigkeit, religiöse Entscheidungen zu treffen. In einem früheren Buch habe ich diese Tatsache mit dem Begriff „Zwang zur Häresie" beschrieben - das griechische Wort „hairesis" bedeutet Wahl oder Auswahl. Dieser Tatbestand existiert auf beiden Kontinenten. Der amerikanische Religionssoziologe Robert Wuthnow benützt dafür den Ausdruck „Flickenteppich-Religion" („patchwork religion"): Der Einzelne strickt sich seine Religion zusammen, wie man einen Teppich aus verschiedenfarbigen Flecken zusammenflickt. Die französische Religionssoziologin Daniele Hervieu-Leger beschreibt genau dasselbe Phänomen mit dem Ausdruck „Basteln" (bricolage): Der Einzelne bastelt sich seine Religion zusammen, wie ein Kind, das sich ein Haus aus Lego-Stücken zusammen baut, oder dann auch umbaut. Aus historisch verständlichen Gründen besteht in Amerika eine buntere Vielfalt von religiösen Gemeinschaften, die zum „Basteln" bereit stehen. Die europäische Szene ist weniger bunt, aber der Einzelne hat dieselbe Notwendigkeit, zwischen verschieden religiösen und nicht-religiösen Optionen zu wählen. Auf beiden Kontinenten garantiert der demokratische Staat die Freiheit der Wahl. Und auf beiden Kontinenten ist innere religiöse und moralische Sicherheit schwer zu erlangen. Hier wie dort entsteht dadurch eine merkwürdige Dialektik zwischen Relativierung und Fundamentalismus. Pluralismus relativiert: Die kognitiven und normativen Aussagen jeder religiösen Tradition sind nicht mehr selbstverständlich, sind verunsichert worden. Dieser Prozess wird oft, vor allem in seinen Anfängen, als eine große Befreiung erlebt. Aber derselbe Prozess wird auch zu einer Belastung. Menschen sehnen sich nach einem gewissen Maß von Sicherheit, wenigstens in den wichtigsten Fragen der Existenz. Damit entsteht ein Markt für jegliche Form von Fundamentalismus. Dieser kann ganz einfach definiert werden: Ein Versuch, die Selbstverständlichkeit, und damit die innere Sicherheit, wieder herzustellen - sei es in der Gesamtgesellschaft (ein schwieriges Unternehmen in der modernen Situation), sei es in einer Subkultur oder Sekte (etwas weniger schwierig). Der Prozess der Relativierung kann ideologisch legitimiert werden, als eine Weltanschauung des Relativismus (z.B. in sog. „postmodernen" Theorien). Der Begriff „Wahrheit" wird dann theoretisch liquidiert. Fundamentalismus andererseits kann ganz verschiedene kognitive und normative Inhalte haben, auch nicht-religiöse (Wissenschaft als exklusive Weltanschauung, politische Ideologien, Nationalis-
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mus usw.). Aber auch jede historisch gegebene religiöse Tradition kann die Grundlage für eine fundamentalistische Bewegung liefern. Die entscheidende Frage ist nicht, was geglaubt wird, sondern wie es geglaubt wird. Ich bin der Meinung, dass eine der wichtigsten Fragen für denkende Menschen in der heutigen Situation ist, wie man einen Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen finden kann - zwischen einem Relativismus, in dem alle weltanschaulichen und moralischen Möglichkeiten als gleichwertig angesehen werden - und einem Fundamentalismus, der nicht nur ehrliches Denken ablehnt, sondern jedenfalls potentiell zu Konflikten führen kann, die eine friedliche Gesellschaft zerstören. Diese Frage ist auf beiden Kontinenten von großer Wichtigkeit. In dem vorliegenden Buch habe ich versucht, eine Antwort auf diese Frage zu formulieren. Die Antwort kommt aus einer Stellungnahme, die versucht, Glauben und Skepsis in einer kreativen Spannung zu halten. Mein Versuch steht in einer bestimmten Tradition, die eines liberalen Protestantismus, der seit Friedrich Schleiermacher christlichen Glauben mit modernem Denken ins Gespräch geführt hat. Das kommt vor allem ab Kapitel 9 des Buches zum Ausdruck. Aber ich bin überzeugt, dass ähnliche Versuche auf anderen religiösen Grundlagen möglich sind römisch-katholischen und östlich-orthodoxen, aber auch jüdischen und islamischen. Die Spannung zwischen Glauben und Skepsis besteht heute überall. Vor einigen Jahren las ich ein Gedicht von einem Sufi im heutigen Iran. Der Dichter bezog sich auf einen traditionellen Begriff, den der Grenze zwischen dem Reich des Islam und dem Reich des Unglaubens. Das Gedicht endete mit dem Satz, dass diese Grenze heute im Herzen jedes Muslims liegt. So hoffe ich, dass auch deutsche Leserinnen und Leser dieses Buches daran Gefallen oder wenigstens Anregungen finden werden. Vielleicht werde ich einige davon persönlich treffen. Jeder Autor wünscht sich so etwas. Peter L. Berger Boston, Frühjahr 2006
Vorwort Dieses Buch ist eine Übung in der einmal so genannten „Laientheologie". Das heißt: der Autor ist kein professioneller Theologe und es ist anzunehmen, dass die meisten seiner Leser sich auf diesem Gebiet bisher ebenso wenig ausgezeichnet haben. Die wenigen professionellen Theologen, die möglicherweise zu diesem Buch greifen, werden darin auf die eine oder andere Ungenauigkeit stoßen, auf Missverständnisse, was die Auslegung von religiösen Gedanken und Dogmen betrifft. Dies ist ein Risiko, dem ich als Laie, als welcher ich mich auf ein Feld begebe, auf dem ich keine akademische Ausbildung erfahren habe, ausgesetzt bin. Wie man sieht, nehme ich dieses Risiko in Kauf. Und wenn ich mir die Werke ansehe, die uns so mancher professionelle Theologe in den vergangenen Jahren beschert hat, dann festigt sich in mir die Überzeugung, dass ein Laie wie ich durchaus die Berechtigung besitzt, auf dieses fremde Terrain vorzudringen. Das vorliegende Buch folgt einem sehr einfachen Muster. Jedes Kapitel (Exkurse ausgenommen) basiert auf einem Absatz des Apostolischen Glaubensbekenntnisses - einem Dokument, das, leider, nicht aus der Zeit der Apostel stammt. Es wurde bereits sehr früh in der christlichen Westkirche verfasst, wahrscheinlich in Rom, und anschließend auch von der Ostkirche angenommen. Der christliche Glaube ist darin am dichtesten zusammengefasst und zusammen mit dem nicänischen Glaubensbekenntnis ist es wohl der im Gottesdienst am meisten zitierte Text. Natürlich ist daran nicht alles enthalten, was das Christentum ausmacht und im Laufe seiner Geschichte ausgemacht hat. Doch es enthält das Wesentliche und ist somit ein hilfreicher Leitfaden für eine tour d'horizon des christlichen Glaubens. Im Untertitel der englischen Originalfassung dieses Buches sind die Worte „skeptisch" und „Bekräftigung" kombiniert („A Skeptical Affirmation of Christianity"). Dies ist keineswegs ein Widerspruch in sich. Meine Thesen sind skeptisch insofern als sie keinen Glauben voraussetzen, an keine der traditionellen Autoritäten in Glaubensdingen gebunden sind - sei es eine unfehlbare Kirche, eine über alle Irrtümer erhabene Schrift oder eine überwältigende, persönliche Erfahrung - und sie nimmt die historischen Kontingenzen, deren gestaltenden Kräften alle religiösen Tradition unterliegen, sehr ernst. Meine Argumentation endet nichtsdes-
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totrotz in einer Bekräftigung des christlichen Glaubens, wie heterodox dieser auch immer sein mag. Dem Leser steht es natürlich frei, zu einem anderen Schluss zu gelangen. Um meinem Anspruch an ehrlicher Offenheit gerecht zu werden, sollte ich an dieser Stelle zunächst meinen eigenen Standpunkt auf der Landkarte der Theologie darlegen. Ich habe Schwierigkeiten mit den vorhandenen theologischen Labels und kirchlichen Zusammenschlüssen. Meine biographischen Wurzeln liegen im Luthertum und ich betrachte mich bis heute als einen Lutheraner, wenngleich mit einigen Vorbehalten. Ich besuche die Gottesdienste in einer episkopalen Kirche, nicht weil ich in irgendeiner Weise auf dem Weg nach Canterbury bin, sondern weil die beiden lutherischen Kirchen, die in gut erreichbarer Nähe zu meinem Haus liegen, aus sehr unterschiedlichen Gründen für mich nicht in Frage kommen (die eine gehört zur Missouri Synode, die sich an eine ziemlich strenge Orthodoxie hält; die andere ist eine Parodie der „politischen Korrektheit", was, wenn überhaupt, eine noch engstirnigere Auslegung ist). Am wohlsten fühle ich mich in der Tradition des liberalen Protestantismus, der (in seiner Ausrichtung, nicht in seinen Inhalten) auf Friedrich Schleiermacher zurückgeht, denn diese Tradition verkörpert in meinen Augen genau die Balance zwischen Skepsis und Bekräftigung, die für mich die einzig akzeptable Möglichkeit darstellt, Christ zu sein, ohne der Moderne den Rücken zu kehren. Ich sollte jedoch vielleicht noch betonen, dass dieses Buch nicht als Manifest für einen liberalen Protestantismus gedacht ist. Leser, die sich auf der theologischen Landkarte woanders verorten, mögen feststellen, dass sie mich dennoch gedanklich ein Stück weit begleiten können. Einige der besten Gespräche habe ich in den vergangenen Jahren mit Katholiken geführt - denen, die geneigt sind zu sagen „Ich bin Katholik, aber..." Dieses „aber" ist entscheidend. Es ist mittlerweile bereits mehrere Jahre her, da habe ich in einem Buch mit demselben Titel von einem „häretischen Imperativ" gesprochen, um die Situation religiöser Gläubiger in der Welt der Gegenwart zu beschreiben. Das griechische Wort hairesis, von dem das deutsche Wort Häresie abgeleitet ist (im Englischen heresy), bedeutet „Auswahl". Das heißt: Ein Häretiker ist jemand, der aus der Tradition etwas auswählt, wobei er manches beibehält und anderes verwirft. Ich habe behauptet (zu Recht, wie ich bis heute denke), dass diese Auswahlübungen in der heutigen Zeit unausweichlich sind, in der keine religiöse Tradition mehr als selbstverständlich angesehen wird. Der Einzelne muss heute Entscheidungen treffen. Und selbst wenn er sich selbst als orthodoxen Anhänger dieser oder jener Tradition sieht, ist dies das Ergebnis einer Entscheidung. Diese Situation ist sowohl eine Befreiung als auch eine Belastung. Alles in allem halte ich es für etwas Gutes. Mir ist
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nicht ersichtlich, wieso eine als selbstverständlich erachtete Religion etwas Besseres sein soll als eine gewählte Religion. Soren Kierkegaard drang in seinem leidenschaftlichen Angriff auf ein als selbstverständlich angenommenes Christentum der seiner Zeit in Dänemark etablierten Kirche darauf, die Menschen sollten „Zeitgenossen" Jesu werden. Das ist kaum realisierbar. Das Christentum, gegen das sich seine Angriffe richteten, existiert heute kaum noch (auf jeden Fall nicht in Dänemark). Ihr Selbstverständlichkeits-Status wurde durch die Moderne und den Pluralismus gesprengt. Das bedeutet jedoch, dass wir auf merkwürdige Weise „zeitgenössisch" mit den ersten Christen geworden sind, die ebenfalls in einer hochgradig pluralistischen Welt der späten griechisch-römischen Kultur lebten, und für welche der christliche Glaube nur als ein bewusster Entscheidungsakt möglich war. Die Tatsache, dass unsere Situation in diesem Punkt der des Paulus gleicht, als er in der Agora von Athen predigte, w o eine Vielzahl von Göttern miteinander im Wettstreit lagen, ist in meinen Augen keineswegs beklagenswert. Einige wohlmeinende Freunde und Kollegen, denen ich das Manuskript vorab zu lesen gegeben habe, bemerkten, dass ich die zeitgenössische Theologie kaum in meine Überlegungen einbeziehe. Z u Recht. Doch die Absicht dieses Buches lag nicht darin, Kommentare zu diesem oder jenem Theologen zu liefern, handele es sich dabei nun um einen Zeitgenossen oder eine Person aus der Vergangenheit. Ich nehme nur Bezug auf diejenigen Theologen, die in einem direkten Zusammenhang zu dem hier verhandelten Thema stehen. Kurz gesagt: Das Buch erklärt, wie es einem Menschen unserer Zeit - skeptisch im Geiste und über ein gewisses Bildungsniveau verfügend - gelingen kann, Bekräftigung für seinen christlichen Glauben zu finden. Diese Buch wurde über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren geschrieben, in den ruhigen Momenten, die ich mir während meiner umfangreichen Aktivitäten als Sozialwissenschaftler herausnehmen konnte. Viele Gespräche, die ich mit zahlreichen Menschen geführt habe, haben mir bei dieser Unternehmung geholfen. Ich will an dieser Stelle nur drei nennen: Brigitte Berger, die mir, wie schon bei einigen früheren Büchern, in mancher von ihr so genannten „Dichterlesung" als keineswegs passive Zuhörerin einen großen Dienst erwiesen hat. Robert Arida (von der Holy Trinity Orthodox Cathedral in Boston) und Ciaire Wolfteich (von der School of Theology an der Universität Boston) haben mir sehr geholfen, indem sie mich an Autoren und Denkweisen der Theologie herangeführt haben, die mir bis dahin unbekannt waren. Peter L. Berger Boston, Herbst 2002
Kapitel Eins „Ich glaube ..." Dies ist ein Buch über Fragen des religiösen Glaubens. Wenn keinen Glauben hat, gibt es irgendeinen Grund, warum er daran se haben könnte?
jemand Interes-
Wenn wir vorübergehend die Frage außer Acht lassen, warum jemand einen Glauben hat: Es gibt gute Gründe, weshalb viele Menschen, häufig sehr erfolgreich, ohne einen Glauben durchs Leben gehen. Schwieriger ist es einzusehen, warum jemand kein Interesse an diesem Thema haben sollte. Religiöser Glaube, egal in welcher Form, basiert immer auf einer Grundannahme - nämlich der, dass es eine Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit des gewöhnlichen, alltäglichen Lebens gibt, und dass diese tiefer liegende Wirklichkeit eine gutartige ist. Anders ausgedrückt: Religiöser Glaube impliziert, dass es etwas gibt, das über den Tod und die Verwesung hinaus geht, die, wie wir wissen, nicht nur uns selbst erfassen werden, sondern alles, was uns in der Welt etwas bedeutet - die Menschheit und den Planeten, auf dem die Menschheitsgeschichte ihren Lauf nimmt, und (wenn die moderne Physik Recht behält) das gesamte Universum. Es klingt durchaus vernünftig, wenn jemand sagt, er glaube nicht an ein solches transzendentales Schicksal; weit weniger vernünftig ist es zu sagen, man ist daran nicht interessiert. Religion impliziert, dass die Wirklichkeit für den Menschen einen Sinn ergibt. Es ist der wagemutigste Gedanke, den die Menschen je gedacht haben. Es mag eine Illusion sein; gewiss aber eine der ganz besonders interessanten. Die meiste Zeit unseres Lebens gehen wir davon aus, dass die Wirklichkeit das ist, was sie zu sein scheint - die physikalischen, psychologischen und gesellschaftlichen Strukturen, die Parameter, an denen wir unser Handeln orientieren. Der Philosoph Alfred Schutz nannte dies „die als selbstverständlich hingenommene Welt". Immer wieder hat es Menschen gegeben, die diese Selbstverständlichkeit reflektierend in Frage gestellt haben, dazu gehören zum Beispiel Sokrates und Einstein; sie sind jedoch Ausnahmen. Die meisten Menschen beginnen erst dann die gewöhnliche Wirklichkeit in Frage zu stellen, wenn irgendetwas den gewohnten Ablauf der Dinge unterbricht. In der Regel sind es schlechte Ereignisse, die dies bewirken - Krankheit, der Verlust eines geliebten
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Erlösender Glaube?
Menschen, Verlust des gesellschaftlichen Status oder andere Unglücksfälle, die einem Einzelnen oder einer Gemeinschaft widerfahren. Die angenommene Selbstverständlichkeit der alltäglichen Wirklichkeit kann jedoch auch durch besonders gute Erfahrungen in Frage gestellt werden: ein intensives ästhetisches Erlebnis, die Liebe zu einem anderen Menschen oder die unbändige Freude über die Geburt des ersten Kindes. In jedem Fall wird dem Menschen plötzlich klar, dass es mehr mit der Wirklichkeit auf sich hat, als man zuvor angenommen hatte. Dies ist ein kleiner Ausschnitt dessen, was damit gemeint ist, wenn von einer Transzendenzerfahrung die Rede ist. Es handelt sich dabei noch nicht um eine religiöse Erfahrung - Atheisten und Agnostiker werden ebenfalls krank, bekommen Kinder und entflammen in Liebe oder in einer Leidenschaft für die Musik. Man kann diese Erfahrungen jedoch „vor-religiös" nennen: Durch eine Relativierung der gewohnten Wirklichkeit eröffnet sich die Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit - vielleicht auch mehrerer Wirklichkeiten - , die im so genannten Normalfall im Verborgenen bleibt. Diesen Schritt von einer vor-religiösen Wahrnehmung von Transzendenz zu einer religiösen Wahrnehmung von Transzendenz vollzieht der Mensch dann, wenn er annimmt, die Wirklichkeit jenseits der gewöhnlichen Erfahrungen sei eine gute. Noch einmal: Niemand ist gezwungen, daran zu glauben. Aber es ist zweifellos interessant, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Ich kannte einmal einen Psychoanalytiker, den man einen orthodoxen Freudianer nennen könnte. Mit ihm habe ich zahlreiche Gespräche über Religion geführt. Ihm war nur schwer begreiflich, wie ein intelligenter Mensch (großzügigerweise zählte er mich zu diesem Kreis) religiös sein konnte. Er selbst war nach eigenen Aussagen, und sofern er sich selbst erinnern konnte, immer schon ein überzeugter Atheist gewesen, und überzeugt davon, dass die Religion nichts weiter ist als eine trostbringende Illusion. Ich fragte ihn einmal, ob er jemals Zweifel an dieser Haltung gehabt habe. Er sagte nein, er habe daran niemals gezweifelt. Aber nach einem kurzen Zögern fügte er hinzu: doch, eigentlich schon. Es habe immer wieder Momente gegeben, in denen er an seinem Atheismus gezweifelt habe - die Momente, in denen er die Chorpartie aus Beethovens Neunter Symphonie gehört habe, genauer gesagt, jene Passagen, die auf Schillers „Ode an die Freude" basieren. Thornton Wilder legte Julius Cäsar in seinem Roman Die Iden des März einen ähnlichen Gedanken in den Mund. Wilders Cäser sagt, er habe niemals an die Götter geglaubt (er führe nur die religiösen Rituale aus, die von einem offiziellen Staatsdiener in Rom verlangt würden, weil er sich daraus einen politischen Nutzen verspreche). Doch auch Cäsar räumte gelegentliche Zweifel an seinem Atheismus ein. Zweifel überkämen ihn zuweilen inmitten einer
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Kampfhandlung oder einer wichtigen politischen Handlung, wenn er das Gefühl habe, von einer höheren Macht geleitet zu werden. Manchmal geschehe es auch während der so genannten epileptischen Aura, dem unmittelbaren Gefühl von Ekstase, das typischerweise kurz vor einem Grand-mal-Anfall eintritt.
Andererseits, wenn man einen Glauben hat, warum sollte man diesen in Frage stellen? Manche Menschen haben einen Glauben und verspüren nicht das Bedürfnis, diesen Glauben zu hinterfragen. Ein solcher Glaube wird gelegentlich als ein „kindlicher" abgetan, wobei keineswegs immer ein Grund dazu besteht, diesen als minderwertig anzusehen. Meist sind diese Menschen in einem sozialen Umfeld aufgewachsen, in dem der religiöse Glaube als selbstverständlich angesehen wurde oder ihnen ist etwas Eindrucksvolles widerfahren, das sie in ihrem Glauben bestärkt hat und diese Kraft haben sie in ihrem Gedächtnis gespeichert. Vielleicht ist der unhinterfragte Glaube aber auch eine Frage der Persönlichkeit; der Glaube ist ein Geschenk, um es einmal mit religiösen Begriffen auszudrücken. Je nachdem, wie viel Wert man der Reflexion beimisst, wird man einen solchen Menschen entweder beneiden oder unterstellen, ihm würde etwas Entscheidendes entgehen. "Wie dem auch sei, die meisten Menschen (und keineswegs nur die Intellektuellen) fühlen den Drang, über ihre Erfahrungen und Überzeugungen zu reflektieren, und sei es nur, um verschiedene Erfahrungen und Überzeugungen auf eine Weise in Beziehung zu setzen, dass sie zusammen Sinn ergeben. Sobald die Reflexion einen systematischen Charakter annimmt, kann man von einem Akt des Theoretisierens sprechen. Offensichtlich kann jeder Aspekt der menschlichen Erfahrungswelt und des Glaubens Gegenstand der Reflexion werden. Die Religion ist keine Ausnahme. Die einfachste Definition von Theologie lautet, es handelt sich dabei um eine systematische Reflexion über den Glauben. Das Wort „Theologie" ist dem christlichen Sprachgebrauch entnommen. Die Menschen anderer Traditionen (unter anderem des Judentums und der indischen Religionen) gebrauchen es nur ungern (häufig, weil sie damit eine besonders intellektuelle Religionsausübung verbinden beziehungsweise weil sie sich von einem repressiven Dogmatismus distanzieren wollen, der von den Christen leider immer wieder gerne gepflegt wird). In dieser sehr einfachen Definition von Theologie ist Theologie aber notwendigerweise in jeder religiösen Tradition präsent, in den hoch entwickelten ebenso wie in den primitivsten. Ein Jude wehrt sich möglicherweise dagegen, den in der Talmud-Literatur zahlreich vorhandenen höchst anspruchsvollen Denkansätzen das Label „Theologie" zu
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geben, doch in dem oben genannten Sinne ist damit nur eine spezifische Art des Theologisierens gemeint, das hier geschieht (wenngleich sich, ausgehend von praktische Erwägungen zum religiösen Gesetz sich dieses Vorgehen wesentlich von der Entwicklung der christlichen Lehre unterscheidet). Das Gleiche gilt für die monumentalen Theoriegebäude, die im Laufe der hinduistischen und buddhistischen Geschichte konstruiert wurden. Doch selbst in den so genannten ursprünglichen Religionen das heißt, Traditionen, die weder eine heilige Schrift noch ein Gremium gelehrter religiöser Funktionäre haben - wird ein gewisses Theoretisieren betrieben. Die Mythologie - Geschichten über Götter und andere übernatürliche Wesen - ist daher auch eine ganz spezielle Art der theoretischen Reflexion. Mit anderen Worten: Theologie findet immer dann statt, wenn ein systematischer Versuch unternommen wird, über den Glauben zu reflektieren. Jeder, der sich mit einer bestimmten Tradition identifiziert, tritt durch diese Reflexion zugleich in einen Dialog mit dieser Tradition, welcher er die eigenen Erfahrungen mit dem Glauben gegenüberstellt. Der Hinweis erübrigt sich, dass es sich bei dem vorliegenden Buch um eine eben solche Übung handelt. Auf die Frage, wann in der Geschichte des Christentums die ersten ausgereiften theologischen Systeme entstanden sind, erhält man von unterschiedlichen Gelehrten unterschiedliche Antworten - ziemlich sicher scheint aber, dass dies spätestens dann einsetzte, als die frühen Kirchenväter es für notwendig hielten, ihren Glauben in Abgrenzung zur hellenistischen Philosophie zu definieren. Die Theologie - genauer gesagt: eine Reihe von Theologien - spielt jedoch bereits im Neuen Testament eine Rolle, und zwar nicht allein in den Briefen des Apostel Paulus und den Schriften des Johannes. Auch in den synoptischen Evangelien, die von der Lebensgeschichte Jesu berichten, gibt es theologische Überlegungen, die den Erzählton der Geschichte prägen (beispielsweise indem sie angesichts bestimmter Ereignisse Bezüge zu den Prophezeiungen in den hebräischen Schriften herstellen). Die Theologie war also seit jeher ein wichtiges Element in der Geschichte des Christentums. Über die Jahrhunderte übernahmen immer wieder sehr unterschiedliche Stimmen aus sehr unterschiedlichen theoretischen Lagern einen solchen Reflexionsprozess: rabbinische Autoritäten, griechische Philosophen, Vertreter des Gnostizismus und andere esoterische Lehren, zu erwähnen sind zudem die heftigen Kontroversen im Islam und die vielfältigen theoretischen Entwürfe der Moderne. Insgesamt betrachtet unterscheidet sich die theologische Praxis von heute nicht wesentlich von der Art und Weise, wie die frühen Christen versuchten, sich die Bedeutung der Ereignisse im Leben Jesu zu erschließen. Dennoch gibt es etwas, das die moderne Situation von der Vergan-
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genheit unterscheidet und es ist durchaus hilfreich, sich dies vor Augen zu halten: In der Moderne wird Schritt für Schritt jenes gesellschaftliche Umfeld unterminiert, das bis dahin ein Gefühl von Selbstverständlichkeit geliefert hatte, hinsichtlich der Religion, aber auch in Bezug auf alles, woran der Mensch einmal glauben konnte. Dies ist nicht der Ort, um auf dieses wichtige Phänomen näher einzugehen, doch die wesentliche Ursache für unsere veränderte Lage ist schnell ausgemacht: Der Mensch hält seinen Glauben so lange für selbstverständlich, wie die Menschen um ihn herum dasselbe tun. Anders ausgedrückt: Ein Glaube scheint sich von selbst zu erklären, wenn er eine mehr oder weniger vollständige gesellschaftliche Zustimmung erfährt. Die Moderne unterminiert durch einige ihrer grundlegenden Prozesse (wie Massenmigration, Massenkommunikation, Urbanisierung) einen solchen Konsens. Der Einzelne sieht sich zunehmend mit verschiedenen Glaubensrichtungen, Werten und Lebensstilen konfrontiert und ist somit gezwungen, zwischen ihnen eine Auswahl zu treffen. Diese Entscheidung bedarf einer zumindest rudimentären Reflexion. Eine religiöse Entscheidung bedarf also eines wenigstens rudimentären Theologisierens. Um einen philosophischen Begriff zu gebrauchen: die Moderne problematisiert. Es gibt einen alten (zugegebenermaßen nicht besonders guten) amerikanischen Witz, der illustriert, was mit diesem Begriff gemeint ist. Ein Soldat kehrt aus dem Krieg zurück. Vor dem Krieg war er noch sehr gesprächig gewesen, doch jetzt sitzt er nur herum und schweigt. Seine Familie macht sich Sorgen um ihn, und es bleibt nichts unversucht, um ihm das Leben angenehmer zu gestalten. Jeden Abend reicht die Mutter dem Sohn sein Lieblingsessen und stellt einen großen Salzstreuer neben seinen Teller, da sie weiß, dass er sein Essen gerne stark salzt. Eines Tages vergisst die Mutter aber den Salzstreuer neben seinem Teller zu platzieren, er steht am anderen Ende des Tisches. Der Soldat schaut sich um und sagt: „Kann mir irgendwer bitte den gottverdammten Salzstreuer geben?" Alle sind sehr froh - der heimgekehrte Krieger scheint das Trauma, die Ursache des großen Schweigens, überwunden zu haben. Die Mutter reicht ihm den Salzstreuer und sagt: „Sohn, ich bin so froh, dass du wieder mit uns sprichst. Warum hast du vorher nicht gesprochen?" Er antwortet: „Es gab vorher kein Problem." Aus soziologischer Sicht lässt sich konstatieren, die Moderne problematisiert den Glauben aufgrund der hochgradigen Pluralität, welcher er im gesellschaftlichen Umfeld des modernen Menschen ausgesetzt ist: Wo es eine Pluralität von Glaubensauffassungen gibt, und wo der Einzelne somit gezwungen ist, Entscheidungen zu treffen, wird ein höheres Maß an Reflektiertheit mit einem Mal unvermeidlich. Diese Tatsache hat weit reichende Konsequenzen für sämtliche Bereiche des menschlichen Lebens.
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Unter anderem bedeutet es, dass religiöse Gewissheit schwerer zu erlangen ist. Mithin muss im Grunde jeder reflektierende Mensch, wenn er sich auch nur im entferntesten mit Religion beschäftigt, eine Art Theologe werden. Und dies zieht wiederum Folgen nach sich: Mehr als jemals zuvor gilt, dass die Theologie heute nicht allein den professionellen Theologen überlassen bleiben sollte (ganz zu schweigen von der bedauernswerten Tatsache, dass diese Fachleute sich häufig nur untereinander austauschen). Wenigstens in einem minimalen Umfang sollte ein Dialog zwischen den professionellen Theologen und denen, die keine entsprechende Ausbildung besitzen, geführt werden. Es versteht sich von selbst, dass das vorliegende Buch diese Sichtweise unterstützt. Warum sollte man aber überhaupt glauben? Das Verb „sollte" wird oft in einem moralischen Sinne missverstanden, beispielsweise in dem Satz „man sollte Menschen helfen, die in Not geraten sind" oder in dem Satz „man sollte die Würde jedes Menschen respektieren". Die gleiche Implikation findet sich häufig auch in der religiösen Sprache: So sagt man uns in Predigten oder anderen religiösen Verlautbarungen, dass man Glauben haben sollte. Umgekehrt ist ein mangelnder (oder nicht vorhandener) Glaube ein moralisches Versagen, eine Sünde gegen Gott. Dies ist keine besonders plausible Vorgabe. Wenn Gott existiert, hat er es dem Menschen nicht gerade leicht gemacht, an ihn zu glauben - die Welt ist voll von schrecklichen Dingen, die es dem Menschen im Gegenteil leicht machen, nicht an ihn zu glauben (oder zumindest nicht daran, dass er ein guter Gott ist). Hinzu kommt: Wenn Gott tatsächlich so allwissend ist, wie angenommen wird, weiß er auch um diese Schwierigkeit und daher wird er es uns kaum übel nehmen, wenn es uns nicht gelingt zu glauben. Das Verb „sollte" in der oben genannten Frage ist daher nicht als moralische Verordnung zu verstehen, sondern schlicht als Bitte um Erklärung: Gibt es gute Gründe dafür, einen Glauben zu haben? Im christlichen Denken haben Gottesbeweise eine lange Tradition. Ihren Höhepunkt erreichte diese Tradition in der mittelalterlichen Scholastik, als Thomas von Aquino und andere christliche Philosophen mehrere anschauliche, sorgfältig durchdachte Beweise vorbrachten. Die Darstellungen sind bis heute höchst aufschlussreich, wenngleich es spätestens seit der von Kant vorgebrachten Kritik extrem schwierig geworden ist, sie als das zu nehmen, was sie vorgeben zu sein: Beweise. Man muss keineswegs Kantianer oder überhaupt Philosoph sein, um zu erkennen, dass der Glaube nicht wie ein mathematisches Theorem beziehungsweise als Problemstellung in Form einer wissenschaftlichen Hypothese darstellbar ist. Wenn er das wäre, wäre er kein Glaube mehr: Man glaubt das, was man
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nicht weiß. Unglaube ist die Nicht-Bereitschaft, einen Schritt über das, was man mit Sicherheit weiß beziehungsweise was man zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen kann, hinauszutreten. Dies ist kein moralisches Versagen; im Gegenteil, es mag eine moralisch achtbare Haltung intellektueller Integrität sein. Was keinesfalls bedeutet, dass der Glaube ein moralisches Versagen ist beziehungsweise das Zeichen einer mangelnden intellektuellen Integrität (wie von vielen Religionskritikern behauptet wurde, die im Glauben eine feige Flucht vor den rauen Lebenswirklichkeiten sehen, wie zum Beispiel Marx in seiner Charakterisierung der Religion als „Opium"). Man sollte jedoch nichtsdestotrotz in der Lage sein zu begründen, warum man den Schritt in dieses Unbekannte wagt, das dem Glauben vorausgeht. Selbstverständlich stellt sich diese Frage nicht in aller Schärfe, wenn, wie bereits erwähnt, der Glaube im gesellschaftlichen Umfeld des Einzelnen als Selbstverständlichkeit gelebt wird (obgleich es zu allen Zeiten infolge individueller oder kollektiver Erlebnisse Erschütterungen dieses Selbstverständlichkeitsgefühls gegeben hat). Die Frage gewann besondere Brisanz mit dem Einzug der Moderne. So erklärt sich auch, weshalb Pascal zu Beginn der historischen Moderne seinen berühmten Ausspruch getan hat, der Glaube sei als Wette zu begreifen. Wir können nicht wissen, ob ein Glaube wahr oder falsch ist, aber wir können durchaus nachvollziehbare Wetten darüber abschließen, dass er es ist: Wenn wir Recht behalten, gehen wir als glorreiche Gewinner aus diesem Spiel hervor; wenn sich herausstellt, dass wir Unrecht hatten, werden wir nichts verloren haben (tatsächlich werden wir gar nicht mehr da sein, um Konsequenzen daraus zu ziehen). Dies legt vermutlich eine vor allem intellektuell begründete Glaubensauffassung nahe, als ginge es dabei um die Verifizierung einer Hypothese (in der Tat vertrat Pascal eine sehr viel nuanciertere Sichtweise). Der Begriff der „Wette" ist jedoch hilfreich. Der Glaube ist in der Tat eine Art Wette. Einfach ausgedrückt: Wenn jemand sich entscheidet zu glauben, dann setzt er auf das Gute in der Welt; umgekehrt setzt jemand darauf, dass alles, was einem in der Welt lieb ist, eines Tages endgültig ausgelöscht sein wird. Luther besann sich auf ein lateinisches Wortspiel und beschrieb den Glauben (fides) als Vertrauen (fiducia). Anders als Pascal stand Luther erst auf der Schwelle zu einer modernen Wirklichkeitsauffassung und das Vertrauen, das ihm vorschwebte, bezog sich nicht so sehr auf die Existenz Gottes (die er offenbar nie angezweifelt hat), sondern auf die Güte Gottes. Wir können dieses Wortspiel jedoch auch in einem schärfer umrissenen, moderneren Sinne auffassen: Glauben heißt, auf das Gute in der Welt zu vertrauen. Unsere Erfahrungswelt gibt uns zwar ausreichend Grund zu der Annahme, die Welt sei ein sinnleeres Schreckenskabinett
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und alles menschliche Streben ende unausweichlich in einem abgründigen Nichts. Gleichzeitig gibt es aber Hinweise auf ein anderes Schicksal, ein Schicksal, in das man Hoffnung setzen kann - die Wunder des Universums, die wundersamen Möglichkeiten des Menschlichen. Mein freudianischer Freund muss an etwas in dieser Richtung gedacht haben, als er von Beethovens Neunter Symphonie sprach. Ich möchte es einmal so ausdrücken: Glauben heißt, auf den letzten Wert der Freude zu setzen. Die wahrscheinlich meistzitierte Bibelpassage, die explizit auf die Frage nach dem Glauben eingeht, stammt aus dem elften Kapitel des Briefes an die Hebräer und beginnt mit der eleganten Formulierung: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht." Darauf folgt eine lange Auflistung biblischer Charaktere, die aus ihrem Glauben heraus gehandelt haben. Und an die christliche Gemeinde, die Adressaten dieses Briefes, ergeht die Aufforderung, diesem Beispiel zu folgen. Wenig später heißt es im gleichen Kapitel, „denn wer zu Gott kommen will, der muß glauben, daß er ist und daß er denen, die ihn suchen, ihren Lohn gibt". Festzuhalten ist allerdings, dass von den Genannten - darunter Noah, Abraham und Moses - die meisten, womöglich sogar alle, nicht die Existenz Gottes in Zweifel zogen, sondern das, was Gott ihnen aufgetragen hatte zu tun. Das heißt: Gott sprach zu ihnen und ihr Glaube war eine Erwiderung auf diese göttliche Ansprache. Bei aller Achtung, die ich vor diesem Text des Neuen Testaments habe, muss ich gleichsam mit Bedauern feststellen, dass er für ein Individuum, das heute zwischen Glaube und Unglaube hin und her schwankt, keine wirkliche Hilfe ist (und ebenso wenig für ähnlich schwankende Gemüter, die möglicherweise schon zu jener Zeit gelebt haben) - ganz abgesehen von der spürbaren Spannung zwischen dem „Glauben" auf der einen Seite und zwei anderen im Text ebenfalls erwähnten Begriffen auf der anderen Seite: „Zuversicht" und „Nichtzweifeln". Wenn ich überzeugt bin, warum muss ich dann einen Glauben haben? Möglicherweise hat der Verfasser des Textes diese Spannung bewusst entfaltet, weil darin ein Paradox zum Ausdruck kommt, das dem Glauben implizit ist. Doch dieses Paradox ist nur für einen Gläubigen, nur aus dem Glauben heraus bereichernd; es ist keineswegs hilfreich für jemanden, der noch über den Akt des Glaubens nachdenkt, der sich fragt, warum man überhaupt glauben sollte. Aber genau dies ist die Frage, um die es hier geht. Es ist die Frage all derer, die für sich konstatieren müssen, dass Gott nicht zu ihnen gesprochen hat - beziehungsweise falls es ihnen so scheint, als habe er zu ihnen gesprochen, sie sich darüber nicht wirklich sicher sein können. Anders ausgedrückt: Das Problem mit dem Glauben ist an ein grundsätzliches
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Faktum geknüpft: Gottes Schweigen. Ich denke, dieses Schweigen sollte mit dem allergrößten Ernst behandelt werden, was bedeutet, dass die Frage nach dem Glauben anders gestellt werden muss, als soeben geschehen. Es gibt verschiedene Ausgangspunkte, von denen aus man eine Argumentation über das Schweigen beginnen könnte. Ich schließe mich hier einer sehr modernen Autorin an, Simone Weil (1909-43), die eher eigensinnige französische Philosophin, die der amerikanische Autor Leslie Fiedler in seiner Bewunderung sehr passend beschrieben hat als eine „Heilige im Zeitalter der Entfremdung": „In einer Zeit wie der unsrigen ist die Ungläubigkeit vielleicht ein Äquivalent der dunklen Nacht des heiligen Johannes vom Kreuz, wenn der Ungläubige Gotte liebt, wenn er wie ein Kind ist, das nicht weiß, daß irgendwo Brot vorhanden ist, das aber seinen Hunger hinausschreit" (Simone Weil, Das Unglück und die Gottesliebe, S. 230) Kurze Zeit vorher hatte sie geschrieben: „Die Gefahr liegt nicht darin, daß die Seele zweifelt, ob Brot vorhanden ist oder nicht, sondern daß sie sich durch eine Lüge einredet, sie habe keinen Hunger. Dies kann sie sich nur durch eine Lüge einreden, denn die Wirklichkeit ihres Hungers ist kein bloßes Glauben, sondern eine Gewißheit." Vielleicht konnte nur eine französische Philosophin diese Zeilen schreiben! Wir haben es hier mit einer Art kartesianischen Reduktion der Gewissheit zu tun, von einer Situation des Unglaubens ausgehend - einem Unglauben, der gleichbedeutend ist mit der Stille, in die Gott nicht hineingesprochen hat. Erst nachdem diese Reduktion vorgenommen wurde, so Weil, könne die Reise zum Glauben beginnen. Eine kurze Anmerkung sei an dieser Stelle erlaubt: Es ist durchaus möglich, diese gedankliche Ausgangsposition mit Simone Weil zu teilen, wobei offen bleibt, ob man ihr auch auf dem weiteren Verlauf ihrer Reise folgen will (darauf wird in Kürze noch einzugehen sein). Der beschriebene Ausgangspunkt ist zumindest für all diejenigen sinnvoll, die ebenfalls in einem „Zeitalter der Entfremdung" leben. Angesichts der Lebensgeschichte von Simone Weil ist leicht nachvollziehbar, weshalb Leslie Fiedler sie als einen außergewöhnlichen Charakter beschrieben hat. Aus einer agnostischen jüdischen Bürgerfamilie stammend, verließ Weil die Schule mit 15, absolvierte die Eliteuniversität Ecole Normale Superieure mit Bravour und wurde Lehrerin für Philosophie. Ihre Reflexionen über den Zeitgeist schlugen bald in eine Auflehnung gegen ihr bürgerliches Elternhaus um und sie definierte sich selbst als eine Art Sozialistin. Sie war radikal, in allem was sie tat, und so lebte sie auch ihre Auflehnung mit Radikalität. Um sich mit der Arbeiterklasse solidarisch zu zeigen, wurde sie Arbeiterin in einer Fabrik - eine Aufgabe, für die sie sich als ausgesprochen ungeeignet herausstellte. Später ging sie
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nach Spanien, um der republikanischen Armee im Bürgerkrieg beizutreten, doch schon kurz nach ihrer Ankunft stürzte sie versehentlich in einen Topf mit kochendem Wasser und musste umgehend nach Frankreich zurückgesandt werden. Als die Deutschen den Norden Frankreichs besetzten, flüchtete Weil in den Süden. Sie arbeitete dort auf einem Bauernhof, wo man ihr Zuflucht gewährt hatte, erwies sich jedoch erneut für Arbeit als unbrauchbar. In jener Zeit traf sie wohl auch ihre Entscheidung, zum Katholizismus überzutreten, wobei sie es jedoch ablehnte, sich taufen zu lassen - nicht, weil sie sich noch dem Judentum verbunden fühlte (das sie nie begriffen hat beziehungsweise nie begreifen wollte), sondern weil ihr die innere Geschlossenheit der katholischen Gemeinde missfiel, in die sie nicht hineingehörte und sie sich deshalb nach eigener Auffassung mit allen Außenseitern solidarisieren zu müssen glaubte, insbesondere mit denen, die ohne Glauben lebten. Sie flüchtete schließlich nach England, wo sie sich am Aufbau der freien französischen Regierung in London beteiligte. Aus Verbundenheit zu ihrem besetzten Heimatland Frankreich verschrieb sie sich selbst eine Diät, die ihren gesundheitlichen Zustand keineswegs verbesserte und ihr am Ende womöglich das Leben gekostet hat. Sie starb im Alter von 34 Jahren. Eigensinnig, sturköpfig und ständig mit irgendwelchen Krankheiten geplagt, wirkt Simone Weil aus heutiger Sicht wie eine donquijotische Figur, eine Art heiliger Narr. Vielleicht gilt sie nur deshalb als Vertreterin einer durch und durch modernen Haltung zum Glauben beziehungsweise zu Gottes Schweigen. Eine Sammlung ihrer Schriften trägt bezeichnenderweise den Titel „Warten auf Gott" (L'Attente de Dieu) - sie selbst benutzte den griechischen Ausdruck en hypomene - „geduldig wartend" (das griechische Wort ist stärker). Mit dieser Haltung hatte sie nach eigenen Angaben endlich eine Art Gewissheit gefunden. Mit anderen Worten: Sie hörte keineswegs an dem Punkt auf, wo sie minimale Gewissheit gefunden hatte - eine kartesianische Reduktion., wie ich es genannt habe. Aber wie gesagt lassen sich von diesem bis heute für viele plausiblen Ausgangspunkt, den Weil gewählt hat, viele verschiedene Wege beschreiten. Die Suche nach Gott beginnt für Weil mit der Feststellung, das einzige Indiz für seine Anwesenheit sei mein Leiden an seiner Abwesenheit. Wir haben es also nach wie vor mit einem doppelten Schweigen zu tun: Das Schweigen Gottes, der nicht zu mir spricht, und mein eigenes Schweigen ihm gegenüber. Mit den Mitteln der Sprache ist weder das eine noch das andere Schweigen einzufangen; es ist in beiden Fällen sprachlos. Weil wusste sehr wohl, dass sie damit an eine alte, weitgehend mystische Tradition christlicher Spiritualität anknüpfte, wie ihr Verweis auf Johannes vom Kreuz an dieser Stelle zeigt - die so genannte apophatische Tradition (wörtlich: die sprachlose Tradition), die wiederum in
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Beziehung steht zu einer theologischen Richtung mit dem Namen via negativa. Deren zentrale Botschaft lautet: Gott ist nicht mit den Mitteln der menschlichen Sprache oder durch begriffliches Denken erfassbar. Am Anfang dieser Tradition steht eine geheimnisumwitterte Person, der so genannte Pseudo-Dionysos, mitunter auch Dionysos Areopagita genannt. Der Autor eines wahrscheinlich in Syrien um das Jahr 500 n. Chr. auf griechisch verfassten Schriftstückes greift auf den Namen einer Person zurück, von der im Neuen Testament berichtet wird, sie sei durch den Apostel Paulus in Athen bekehrt worden (dies ist ein in der klassischen Antike durchaus geläufiger Vorgang, der nicht auf eine Täuschung abzielte, sondern das Bekenntnis zu einer bestimmten Tradition ausdrücken sollte). Trotz der nur unsicheren historischen Verortung und der äußerst umstrittenen Ausrichtung dieses Denkens (eindeutig beeinflusst durch den Neu-Platonismus und in seiner Rechtgläubigkeit oft beeine mit Misstrauen beäugte christlich-orthodoxe Haltung), übte Dionysos über mehrere Jahrhunderte hinweg entscheidenden Einfluss auf das Christentum aus. Die ersten Zeilen seiner Abhandlung Über die mystische Theologie vermitteln einen Eindruck davon, warum er der Vater der apophatischen Tradition genannt wurde: „Dies ist mein Gebet. Du aber, ο mein geliebter Timotheus, lasse nicht davon ab, dich in mystischer Schau zu üben, entsage den Künsten des Verstandes, tue ab von dir, was immer noch den Sinnen oder der Klugheit verhaftet ist, befreie dich vollkommen von allem Sein oder Nichtsein, und erhebe dich, wenn du es kannst, bis zur Höhe des Nichts-mehr-unterscheidens, über das All hinaus, bis dicht an die Schwelle des Verschmelzens mit Dem, der über jedem Wesen und über jedes Wissen ist" (Dionysios Areopagita, Mystische Theologie und andere Schriften, S. 161). Es lohnt sich, diesen Text einmal mit einem Text zu vergleichen, der etwa ein Jahrtausend später entstanden ist: Der folgende auf mittelenglisch verfasste Text eines unbekannten Autors aus dem 14. Jahrhundert trägt den Titel The Cloud of Unknowing („Die Wolke des Unwissens"): „Obgleich wir keine Kenntnis von ihm erlangen können, so können wir ihn dennoch lieben. Über die Liebe dürfen wir ihn erfahren und annehmen, niemals im Denken... Lasst also Eure liebende Sehnsucht, von Güte und Glauben getragen, voranschreiten, mutig und freudig, auf ihn zu und über ihn hinaus, und greift nach dem Dunkel, das über allem waltet, um es zu durchbohren. Ja, schlagt auf diese große Wolke des Nichtwissens ein, durchbohrt sie mit dem Pfeil Eurer liebenden Sehnsucht, und lasst Euch nicht davon abbringen, komme,
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was mag." (William Johnston, Hg., The Cloud of S. 54f. in freier Übersetzung aus dem Englischen).
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Johannes vom Kreuz, der aus dem 16. Jahrhundert stammende spanische Mystiker, auf den Weil Bezug nimmt, steht in der Tradition dieser „dunklen Nacht der Seele". Tatsächlich findet sich Vergleichbares auch in einigen nichtchristlichen mystischen Traditionen. Offenbar handelt es sich bei der Vorstellung, die letzte Wirklichkeit sei nicht mit den Mitteln der Sprache oder des menschlichen Denkens zu fassen, um ein nahezu universales Phänomen. Die Upanishaden (die eindeutig herausragendsten Texte des klassischen Hinduismus) gebrauchen hierfür die Formel neti, neti - „nicht dies, nicht dies" (das heißt: die letzte Wirklichkeit ist weder dies noch das). In der Madhyamika-Philosophie des MahayanaBuddhismus fand dieser Gedanke seinen wahrscheinlich geistreichsten Ausdruck. Ebenso verbreitet ist die Vorstellung, die mystische Reise nehme ihren Ausgang in einem Dunkel, wo alles Sein, auch das Selbst, ausgelöscht ist. Dieser Gedanke findet unterschiedliche Formulierungen im jüdischen und islamischen Mystizismus sowie in den großen mystischen Schulen des Hinduismus, des Buddhismus und des Taoismus. Wenn die Reise jedoch in einem dunklen Schweigen beginnt, so endet sie auch in - einer anders gearteten - Sprachlosigkeit, sobald das Selbst mit dem Letzten eins geworden ist. Sprechen, Sprache und begriffliches Denken sind sozusagen Übergangsstationen auf der Reise zwischen Gottes Abwesenheit und seiner übermächtigen Anwesenheit. Insofern ist es wohl richtig, Simone Weil, trotz ihres katholischen Glaubens, im Kontext eines transkulturellen Mystizismus zu betrachten. Allerdings habe ich damit aus mehreren Gründen meine Schwierigkeiten. Die erste Frage, die sich mir stellt, lautet: Wenn es in diesem Punkt eine übereinstimmende Haltung gibt - nennen wir sie einmal eine mystische Internationale - , was bleibt dann von dem spezifischen Gott der Bibel? Es ist wenig erstaunlich, dass viele große Mystiker in den monotheistischen Traditionen - Judentum, Islam und Christentum - sich mit ihrem Denken auf den Außengrenzen ihrer Traditionen bewegten (zum wiederholten Ärger der Wächter der Orthodoxie). Viel entscheidender ist jedoch, dass diese mystischen Reisen, während sie von einer Ungewissheit ausgehen, in einer Gewissheit enden: Was aber, wenn die Ungewissheit bleibt? Hinzu kommt die Tatsache, dass ein wichtiger Bestandteil der Reise die Preisgabe des Selbst ist: Was aber, wenn jemand sich weigert, das eigene Selbst preiszugeben? Die Entdeckung des autonomen Selbst (synonym mit der Entdeckung der Freiheit) ist die wohl größte Errungenschaft der westlichen Zivilisation, emporgewachsen aus einer zweifachen Verwurzelung im alten Israel und im alten Griechenland. Soll diese Entdeckung nun plötzlich ein gigantischer Irrtum gewesen sein? Wenn das
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menschliche Selbst den wertvollsten Teil der Wirklichkeit darstellt, ist die letzte Wirklichkeit dann als vergleichsweise minderwertig zu erachten? Wenn es eine höchste moralische Errungenschaft in der westlichen Geschichte gibt, dann ist es die Anerkennung des unendlichen Wertes des Menschen: Kann ich mir einen Gott vorstellen, der diesen Wert in Abrede stellt? Ich denke nicht. Aus diesem Grund verzichte ich also lieber darauf, Simone Weil bis ans Ende ihrer Gedankenreise zu folgen. Ich bleibe, zumindest vorübergehend, lieber an dem Punkt stehen, den sie mit Hilfe der erwähnten Reduktion erreicht hatte, und frage mich nun, wie ich von dort aus weiter gelangen kann, ohne eine große mystische Reise anzutreten. Wenn ich dabei in den folgenden Abschnitten in der ersten Person Singular schreibe, so geschieht dies nicht aus autobiographischen Gründen, vielmehr möchte ich auf diese Weise die Darstellung anschaulicher gestalten. Ich bin mit Gottes Schweigen konfrontiert, und ich bin fest entschlossen, dieses Schweigen zu ertragen. Ich unternehme gar nicht erst den Versuch, voreilig in die Stille hineinzureden und es auf diese Weise zu leugnen. Ich schweige ebenfalls. Und ich warte - en hypomene. Gleichzeitig bemerke ich, dass mir Gottes Schweigen untragbar erscheint, geradezu beleidigend. Ich beschließe, weder Gottes Schweigen zu leugnen noch mein eigenes Verlangen nach einer Unterbrechung dieses Schweigens. Und so bin ich schließlich trotz allem gezwungen, diesem Schweigen zu begegnen - in das Schweigen hineinzureden. Wahrscheinlich handelt es sich dabei bereits um die Anfangsform eines Gebetes - die Hinwendung zum schweigenden Gott, unter dessen Abwesenheit ich leide. Über die zeitliche Abfolge dieser zwei Haltungen bin ich mir nicht ganz sicher mein Schweigen und mein Brechen des Schweigens. Vielleicht ist es ein unendlicher Kreislauf. Vielleicht findet beides aber auch, paradoxerweise, gleichzeitig statt. Und dann beginne ich nachzudenken und beschließe, die menschliche Wirklichkeit zunächst ohne jede religiöse Vorannahme zu betrachten das heißt: Ich beginne meine Betrachtungen etsi Deus nott daretur, „als gäbe es Gott nicht". Zu meinen ersten Feststellungen gehört die, dass das Gebet, in welcher Form auch immer, ein universales Phänomen ist. Die wohl weit reichendste Untersuchung hierzu lieferte Friedrich Heiler mit seinem großartigen Werk Das Gebet, bei dessen Lektüre man sich einem stetig wachsenden Gefühl der Niedergeschlagenheit kaum zu entziehen vermag. Die Menschen haben offenbar zu allen Zeiten in dieses Schweigen hineingesprochen - in einfachen Sätzen, ausgereiften Zeremonien, preisend, singend, tanzend, Opfer darbietend, Trommeln schlagend und mit Hilfe aller erdenklichen Musikinstrumente - eine endlose Kakophonie sehnsuchtsvoller Klänge. Kann es sein, dass es nie eine Antwort gege-
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ben hat? Ich denke, Weil hat Recht: Es hat keinen Sinn, das Verlangen zu leugnen. Aber kann es sein, dass dieses Verlangen alles ist, nichts weiter? Weil und alle anderen Mystiker teilen die Überzeugung, man könne von einem in Ungewissheit gesprochenen Gebet zu einer glückseligen Gewissheit gelangen. Dass diese Entwicklung in den Augen einiger Menschen plausibel erscheint (vielleicht jenen, die M a x Weber die „religiösen Virtuosen" nannte), sei hier einmal dahingestellt. Den meisten Menschen wird dieses Glück jedoch nicht zuteil und in Bezug auf das hier verhandelte Thema muss ich mich selbst wohl zu den Benachteiligten zählen. Möglicherweise werde ich an irgendeinem Punkt meines Lebens Gewissheit erlangen. Doch bis dahin muss ich, wenn ich ehrlich sein will, meine Ungewissheit eingestehen. Ich muss das pflegen, was man vielleicht eine „Interims-Spiritualität" nennen kann. Dies bedeutet aber auch, dass ich die verschiedenen, in meinem gesellschaftlichen Kontext angebotenen Gewissheiten von mir weisen muss, wenngleich sie mir aufgrund eines inneren Verlangens reizvoll erscheinen. In der modernen Welt sind wir von einer Vielzahl solcher Angebote umgeben, nicht ausschließlich religiöser Art. Im christlichen Kontext gibt es im Grunde drei Angebote, mit deren Hilfe Gewissheit erreicht werden soll - vermittels der Institution Kirche, vermittels der Bibel oder vermittels einer persönlichen spirituellen Erfahrung. M a n verheißt mir Gewissheit, wenn ich mich in die weit ausgebreiteten Arme der Kirche werfe. Diese Verheißung ist eigentlich an keine bestimmte Kirche gebunden, doch die römisch-katholische Kirche formuliert ihr Angebot auf besonders betörende Weise: Die unfehlbare Kirche verschafft mir unverbrüchliche Gewissheit. Von einem Protestanten hört man solche Worte in der Regel nicht. Das Gewissheit versprechende Angebot der protestantischen Kirche ist im Wesentlichen an die über jeden Irrtum erhabene Bibel geknüpft: Wenn ich mich an den Text halte, ist auch meine eigene Spiritualität in irgendeine Weise über jeden Irrtum erhaben. Sämtliche Konfessionsgrenzen überschreitend gibt es zudem die Gewissheit verheißenden Angebote, die an ein inneres Erlebnis geknüpft sind - von den großen Ekstasen der Mystiker über die Bekehrungserfahrungen eines „wiedergeborenen" Protestantismus (man denke nur an das reiche Liedgut der methodistischen Tradition und der amerikanischen Erweckungsbeweckungen - zum Beispiel „I know that my redeemer liveth" von Jessie Brown Pounds) bis zu den Ekstasen der Pfingstbewegung, die zur Zeit offenbar die dynamischste religiöse Bewegung der Welt ist. Jede dieser vorgeblichen „Methoden" zur Erlangung von Gewissheit war zu allen Zeiten der Gefahr ausgesetzt, in Zweifel gezogen zu werden. M i r scheint jedoch, dass vor allem das moderne kritische Denken die Grundlagen dieser Methoden in Frage gestellt hat - die Kirche unterlag der Kritik von
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Historikern und Soziologen, die Bibel wurde Gegenstand der modernen kritischen Schule und die persönlich erlebten Ekstasen mussten sich den Erkenntnissen der Psychologie beugen: Die Kirche ist nachweislich nicht über jeden Irrtum erhaben, die Bibel enthält Fehler und meine Ekstasen lassen sich psychologisch aufschlüsseln. Wenn ich glauben soll, dann auf eine Weise, die ich, wenn ich ehrlich bin, nicht auf eine unwahre oder zweifelhafte Gewissheit gründen muss. Möglicherweise ist dies genau der Punkt, auf den die Reformatoren zielten, als sie sagten, allein durch den Glaube werden wir gerettet - sola fide. Aber sei es wie es sei, während ich hier sitze und über den Akt des Glaubens nachdenke, warte ich immer noch darauf, dass Gott sein Schweigen bricht. Doch selbst wenn Gott nicht zu mir spricht, jedenfalls nicht in der Art, wie er offenbar zu Abraham oder Moses gesprochen hat, so kann ich dennoch in meiner eigenen Wirklichkeit Hinweise auf sein Sprechen ausfindig machen, Signale (wie vage sie auch immer sein mögen), die auf seine verborgene Anwesenheit deuten. Diese Signale sind keine „Beweise", vielmehr sind es Andeutungen dahingehend, dass ich, wenn ich einen Glauben habe, diesen mit einer Reihe von menschlichen Wirklichkeiten in Bezug setzen kann. An anderer Stelle habe ich bereits über das Erleben von Freude gesprochen - die so kraftvoll in Beethovens Neunter Symphonie zum Ausdruck kommende, nach Ewigkeit strebende Freude. Es gibt noch andere Signale: Der menschliche Hang zur Ordnung zum Beispiel, der offenbar mit einer übermenschlichen Ordnung des Universums in Korrelation steht (ein Mensch kann in einer Dachkammer sitzen und mathematische Rechnungen aufstellen, und wenn er einen Blick aus seiner Dachkammer heraus wagt, erkennt er eine dem Universum zugrunde liegende mathematische Ordnung), die unglaublich anregende Erfahrung des Spiels und des Humors (insbesondere das Erleben von Komik als Metapher der Erlösung), ein unüberwindbarer Hang zur Hoffnung, die der Mensch in sich trägt (die sich gegen ein finales Ende durch den Tod sperrt), Gewissheit über einige ausgewählte moralische Urteile (vom Glauben an eine moralische Ordnung jenseits der menschheitsgeschichtlichen Relativität getragen) und nicht zuletzt das Erleben von Schönheit (die Landschaft um den Comer See herum ist zum Beispiel in meinen Augen ein Hinweis auf die Existenz Gottes). Ich habe lange Zeit dafür plädiert, eine „induktive Theologie" einzurichten, deren erste Aufgabe es wäre, diese „Signale der Transzendenz" zu analysieren (welche auch Hinweise auf die Präsenz Gottes in der menschlichen Erfahrungswelt genannt werden können). Aber das ist ein anderes Feld. Meine Überlegungen führen mich nicht geradewegs und unausweichlich zum Tempel des Glaubens. Sie lassen mich jedoch in einer Art Vorzimmer dieses Tempels Platz nehmen. Hier verbleibe ich eine Weile und
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setze ich mich mit den Traditionen auseinander, die für sich den Anspruch erheben, Offenbarungen Gottes zu sein, einschließlich der Tradition, die vom Sinai bis zum Kreuzeshügel reicht. Augustinus fand hierfür eine interessante Formulierung: Nullus quippe credit aliquid, nisi prius cogitaverit esse credendum („niemand nämlich glaubt etwas, wenn er es nicht zuvor denkt, man müsse es glauben"). Mit anderen Worten: Es gibt eine Entwicklung vom credendum zu einem credo - vor dem Akt des Glaubens steht die Reflexion. Lässt man einmal die unmittelbaren Erfahrungen beiseite, von denen die Mystiker zu Recht oder zu Unrecht behaupten, sie seien wahr, ist dieses credo meine Erwiderung auf eine bestimmte Geschichte, die mir von anderen Menschen, lebenden oder längst verstorbenen, übermittelt wurde. Diese Geschichte ereilt mich wie eine Art Gerücht über Gott. Ich höre eine Geschichte und, in einem Akt des Glaubens, antworte ich darauf mit einem „ja!". Was den christlichen Glauben betrifft, so wird mir die Geschichte durch eine Tradition überliefert, die im alten Israel ihren Anfang nimmt, eine Tradition, der ich begegne, wenn ich die entsprechenden Texte lese oder indem ich den Wörten eines Predigers oder anderer Sprecher lausche. Ich werde nur dann „ja!" sagen, wenn das Vernommene sich in meine übrige Erfahrung von Wirklichkeit einbinden lässt, wobei dieses Eingebundensein nie über alle Zweifel erhaben sein wird. Eric Voegelin macht in seinem geschichtsphilosophischen Werk Ordnung und Geschichte die zunächst etwas merkwürdig anmutende Aussage, Israel habe Gott entdeckt. Empirisch betrachtet ist dies eine ebenso überraschende wie korrekte Aussage. Vom Glauben her betrachtet ist jedoch offensichtlich, dass diese Entdeckung sich nicht ereignet hätte, wenn Gott es nicht zugelassen hätte, dass man ihn entdeckt. Mithin war es Gott, der die Entscheidung traf, sich zu offenbaren, nicht überall, aber an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten. Man kann daher, wenn auch nicht ohne ein gewisses Zögern, sagen: Gottes Schweigen ist nicht absolut.
Kapitel Zwei „... a n G o t t . . . " Wenn das Apostolische Glaubensbekenntnis den Glauben „an G o t t " bekräftigt, dann liegt dem eine sehr spezielle Vorstellung von der Gottheit zugrunde - es ist dies, in der klassischen christlichen Formulierung, „der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Vater unseres Herrn Jesus Christus". Dies verstand sich in jenen frühen Tagen der Christenheit, als - wahrscheinlich im kosmopolitischen Rom - das Bekenntnis zuerst formuliert wurde, keineswegs von selbst. Damals wie heute hat der religiöse M a r k t eine Fülle anderer Götter anzubieten. Die Frage ist also - damals wie heute - sehr einfach:
In welcher Beziehung steht dieser Gott zu allen anderen Göttern, und weshalb sollten wir an ihn - im Gegensatz zu all den anderen - glauben? Das Christentum bildete sich zur Blütezeit des römischen Imperiums heraus - zu Zeiten eines religiösen Pluralismus, der unserer heutigen Situation bemerkenswert ähnlich war. Damals wie heute war der Glaube an den Gott der biblischen Tradition nicht einfach vorauszusetzen (im Gegensatz zu späteren Perioden der christlichen Geschichte, als die Kirche ein mehr oder weniger wirksames Monopol errichtet hatte, so dass ihr Glaube als quasi selbstverständlich gelten konnte). M a n könnte allerdings weitergehen und behaupten, dass der heutige religiöse Pluralismus einzigartig ist - sowohl was seine Intensität wie seinen extensiven Umfang angeht. Er ergibt sich aus allen mächtigen Kräften der Moderne: Urbanisierung und Migration, die Menschen verschiedenster Herkunft in engster Nähe zusammenführen, Alphabetisierung und Massenkommunikation, die überall den Zugang zu den verschiedenen Glaubensformen und Werten der Menschen ermöglichen. So bietet jede größere Buchhandlung in Europa und Nordamerika (und in zunehmendem M a ß e überall) preiswerte Bücher an, die recht verlässliche Informationen über die bedeutenderen religiösen Traditionen der gesamten Menschheitsgeschichte enthalten. Und die elektronischen Medien - vollends das Internet - gestatten einen noch einfacheren Zugang zu jedem erdenklichen religiösen Phänomen. Diese Situation enthält eine große Herausforderung für jede Institution, die den Anspruch auf absolute Wahrheit erhebt. Für nachdenkliche Menschen, die versuchen, in diesem Warenhaus der religi-
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Ösen Möglichkeiten ihren eigenen Standpunkt zu bestimmen, ergeben sich reiche Möglichkeiten und ernste Schwierigkeiten. Ein Autor, der die explosive Vermehrung neuer religiöser Bewegungen in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieb, nannte dies „die Stoßzeit der Götter". Die Formulierung könnte auch dazu dienen, die gegenwärtige religiöse Situation zu beschreiben - nicht allein in Japan, sondern auch in den Ländern, die man einmal der „christlichen Zivilisation" zurechnete. Protestantische wie katholische Theologen haben dieser Herausforderung in den letzten Jahren zunehmende Aufmerksamkeit gewidmet, und kirchliche Institutionen - darunter der Weltkirchenrat und der Vatikan haben Agenturen eingerichtet, die einen fortwährenden Dialog mit anderen religiösen Traditionen führen sollen. Mittlerweile gibt es eine umfangreiche Literatur zu diesem Thema, und es kann hier nicht darum gehen, diese zu sichten. Man hat sich angewöhnt, in diesem Zusammenhang drei hauptsächliche theologische Ansätze zu unterscheiden, die man - nicht besonders glücklich - „pluralistisch", „exklusivistisch" und „inklusivistisch" genannt hat. Die so genannten Pluralisten sind bei dem Aufgeben christlicher Ansprüche auf absolute Wahrheit am weitesten gegangen, die Exklusivisten fahren fort, diese Ansprüche in mehr oder minder selbstbewusstem Tonfall zu erheben, und die Inklusivisten - das kann nicht überraschen - nehmen eine Zwischenposition ein, indem sie auf der Einzigartigkeit des christlichen Glaubens bestehen, den Wahrheitsansprüchen anderer Religionen gegenüber aber offen sind. Ich möchte sogleich sagen, dass ich - wenn man wirklich auf einer Entscheidung besteht - mich den Inklusivisten zurechnen müsste, obwohl mir die Bezeichnung nicht gefällt (ganz abgesehen davon, dass sie an die politische Rhetorik des amerikanischen Liberalismus erinnert, scheint die Formulierung auszusagen, dass schlechthin gar nichts auszuschließen wäre, und das ist ein Rezept für diffuse Begrifflichkeit). Doch ehe ich auseinandersetze, was mir eine vernünftige Definition von „Inklusivismus" schiene, wäre es nützlich, die Pluralisten genauer zu betrachten, da sie die radikalste, aber auch die intellektuell stimulierendste Antwort auf die Vielfalt religiöser Wahlmöglichkeiten heute geben. Der wahrscheinlich bekannteste Repräsentant der pluralistischen Schule ist der britische Theologe John Hick, der, selbst protestantischer Herkunft, in einer beeindruckenden Zahl von Veröffentlichungen eine „Theologie der Religionen" ausgearbeitet hat, die jegliche Form christlicher Orthodoxie weit hinter sich lässt. Hick forderte eine „kopernikanische Revolution" der Theologie: Wir müssen, so sagt er, begreifen, dass unsere eigene Tradition nicht der Mittelpunkt ist, um den sich die gesamte Wirklichkeit dreht. Tatsächlich müssen wir als Mittelpunkt jene letzte Wirklichkeit erkennen, welche von keiner einzelnen Überlieferung je ganz
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erfasst werden kann, wenn auch die Traditionen alle um dieses Zentrum kreisen - wobei jede eine ganz besondere (aber begrenzte) Perspektive auf den Mittelpunkt bietet. Wir müssen erkennen: „Gott hat viele Namen" (dies der Titel eines seiner Bücher; dt.: Gott und seine vielen Namen). Alle Religionen bekräftigen eine transzendente und gütige Wirklichkeit. Das ist ihr gemeinsamer Kern, aber sie nähern sich ihm auf sehr verschiedene Weise. Für die Christen führt der Weg über Jesus, obwohl Hick der Ansicht ist, die Menschwerdung Gottes in Christus sei ein Mythos, und die Trinitätslehre, welche diese Menschwerdung theologisch zum Ausdruck bringt, sei aufzugeben - oder höchstens als heuristisches Werkzeug beizubehalten. Der christliche Glaube muss sich also entschieden von seinem Absolutum trennen. Um diese Argumentation zu stützen, bedient sich Hick auf interessante Weise eines buddhistischen Begriffs - des upaya. Dieses Sanskritwort wird gewöhnlich mit „geschicktes Mittel" übersetzt, eine unbeholfene Formulierung. Der Sinn ist jedoch klar: Ein upaya ist ein Hilfsmittel - sei es eine Erfahrung oder ein Begriff - , das auf dem Weg zur letzten Wirklichkeit nützlich ist. Es ist, sozusagen, eine Krücke für jene, die noch nicht sehr weit vorgedrungen sind auf diesem Wege, und man kann diese Krücke ohne weiteres liegenlassen, wenn man selbst das nötige Geschick erlernt hat, um weiterzugehen. Ich will nicht unfair sein, aber Hick scheint zu sagen, dass die gesamte biblische Tradition, das ganze Judenund Christentum, lediglich als ein upaya aufzufassen ist - nützlich für die, welche sich durch den Zufall ihrer Geburt an diese Tradition gewöhnt haben, aber keineswegs mit einem definitiven Wahrheitsanspruch verbunden. Hick selbst räumt ein, er könne sich nicht vorstellen, das spezielle christliche upaya jemals aufzugeben - eine überraschende Einlassung, insofern er doch so viele Jahre damit verbracht hat, in das Diskursuniversum nichtchristlicher Traditionen einzudringen. Hunderttausende westlicher Konvertiten zum Buddhismus (die zahlreichen zum Christentum oder zu einer anderen Religion Bekehrten gar nicht zu erwähnen) scheinen doch darauf hinzudeuten, dass der Zufall der Geburt nichts so Zwangsläufiges ist, wie Hick meint. Selbst die zentrale biblische Bekräftigung, dass Gott als Person existiert, als ein Wesen, das spricht und handelt, ist für Hick übrigens nichts bindend. Er sieht zwar den tiefen Unterschied zwischen den religiösen Traditionen, je nachdem, ob sie die letzte Wirklichkeit als etwas Persönliches oder Unpersönliches auffassen, doch sollte diese Frage, wie er meint, „hintangestellt" werden. Hick scheint ein wenig zu zögern, schlechthin jegliche Äußerung menschlicher Religiosität gleichermaßen akzeptabel zu finden. Er würde den Status des upaya kaum den - sagen wir - mesoamerikanischen Menschenopferkulten zubilligen. So schlägt er einen im wesentlichen morali-
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sehen Test vor: Religiöse Traditionen sind mehr oder weniger „wahr" in dem Maße, in dem sie den Menschen helfen, ihre Selbstsüchtigkeit zu überwinden und sich der Liebe zu anderen zu öffnen. Daher betont er, dass die bedeutenderen Traditionen „in mehr oder minder gleichem Maße fruchtbar in ihrer Frömmigkeit sind und außergewöhnliche Männer und Frauen hervorbringen, deren Geistigkeit und deren Leben Gott für uns andere wirklicher macht" (Disputed Questions, S. 155). Was ist an dieser Argumentation falsch? Die Metapher von der „kopernikanischen Revolution" unseres Nachdenkens über Religion hat etwas unmittelbar Plausibles. Sie setzt eine Abkehr vom Fanatismus und von allen engen, xenophoben Weltbildern voraus, und dagegen wird gewiss niemand Einwände haben. Was aber falsch ist, ist die Vorstellung von Wahrheit, die ebenfalls in Hicks Ansatz implizit ist. Es scheint bei ihm vorausgesetzt, dass auf jedem beliebigen „Planeten" ein Standpunkt gefunden werden kann, von dem aus man die „Sonne" der letzten Wirklichkeit betrachten kann (die Opferaltäre der Azteken vielleicht ausgenommen). Was aber, wenn - um Hicks Metapher beizubehalten - manche dieser Planeten der Sonne gar nicht zugewandt sind? Was, wenn sie in eine andere Richtung blicken und die Sonne irrtümlicherweise für einen vorüberziehenden Meteor halten? Hicks Ansatz ist, kurz gesagt, allzu inklusiv und relativiert deshalb den Wahrheitsbegriff so sehr, dass er sinnlos wird. Dieses Problem erkennt er auch genau, und deshalb führt er ein Kriterium zur Unterscheidung zwischen „wahren" und „unwahren" Religionen ein - das Kriterium, ob eine religiöse Tradition in ihren Anhängern Selbstlosigkeit und Altruismus weckt. Doch dies ist ein rein moralischer Maßstab, mit dem der Begriff der „Wahrheit" auf eine Art sozialen Utilitarismus reduziert wird. Die Geschichte zeigt, dass manche der größten religiösen Persönlichkeiten sich moralisch dubios (manche sogar monströs) verhalten haben, während Agnostiker und Atheisten moralisch durchaus bewundernswert waren. Um die Schwäche von Hicks Kriterium zu erkennen, muss man es nur von der Religion auf (beispielsweise) die Physik übertragen: Wollen wir eine neue physikalische Entdeckung im Hinblick auf die moralischen Qualitäten des Physikers akzeptieren oder ablehnen? Hängt denn die Relativitätstheorie davon ab, dass Einstein ein liebenswürdiger Mensch war? Wenn die Religion irgendetwas mit Wirklichkeit zu tun hat - einer Wirklichkeit, welche die der menschlichen Welt übersteigt, worauf Hick mit Nachdruck besteht dann hängt ihre Wahrheit nicht vom frommen Verhalten ihrer Anhänger ab. Vielleicht hängt die Schwierigkeit hier mit einer Erfahrung zusammen, die Hick in einem autobiographischen Text beschreibt - er schildert dort, wie er von einem engen evangelikalen Protestantismus zu seinem
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jetzigen Standpunkt kam. Die Erfahrung war die Berührung mit all den verschiedenen Nichtchristen in einem zunehmend pluralistischen Großbritannien - Muslimen, Hindus, Sikhs und so weiter. Viele von ihnen waren moralisch bewunderungswürdige Menschen, und so fand Hick es zunehmend unmöglich, sie als bloße Heiden zu betrachten, die in einer Art metaphysischer Finsternis existieren. Er fühlte sich genötigt, zu den Traditionen, denen sie anhingen, Ja zu sagen. Auch hier gilt: niemand wird etwas gegen die interreligiöse Toleranz und die Achtung einzuwenden haben, die oft aus solchen Begegnungen hervorgehen. Sie sind moralisch sehr zu empfehlen. Aber sie sind kein Wahrheitskriterium. Ich würde behaupten, dass ebenso wichtig wie das Ja im interreligiösen Dialog das Wissen ist, wann man Nein sagen muss - und es ist möglich, Nein zu sagen, ohne auch nur einen Augenblick lang die Achtung vor dem Gesprächspartner, zu dem man dieses Nein sagt, zu verlieren. „Exklusivismus" ist mittlerweile eine relativ rare Haltung, jedenfalls in akademisch respektablen Kreisen westlicher Länder, obwohl sie unter akademisch unausgewiesenen konservativen Protestanten und Katholiken nach wie vor blüht. In der Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts wird zur Unterstützung dieser Position am häufigsten Karl Barth herangezogen, obwohl die einschlägigen Zitate meist aus seinen frühen Schriften stammen - in späteren Jahren wurde er sehr viel konzilianter. Doch gibt es gelegentlich immer noch Theologen, die einen exklusivistischen Standpunkt einnehmen - wenn sie auch meist zumindest pro forma eine kleine Verbeugung in Richtung Inklusivität machen. Ein gutes Beispiel aus den letzten Jahren ist Carl Braaten, ein Lutheraner, der 1992 ein Buch mit dem programmatischen Titel No Other Gospel! - Christianity Among the World's Religions veröffentlichte. Braaten ist gewiss kein Fanatiker, aber die Überschriften einer Abfolge seiner Kapitel lassen erkennen, wo er steht: „Absolutheit ist eine Voraussetzung des Königreichs Gottes", „Christus allein ist das Herz der kirchlichen Botschaft" und - hier haben wir die kleine Verbeugung zur inklusivistischen Position hinüber - „Christus ist Gottes endgültige Offenbarung, doch nicht seine einzige". (Diese letzte Formulierung erinnert stark an die klassische islamische Haltung gegenüber anderen religiösen Traditionen: Auch jene hatten ihre Propheten, doch der Koran ist „die Besiegelung der Prophetie".) Ich muss gestehen, dass ich große Sympathien für diese Art robuster Selbstbehauptung hege. Sie gefällt mir besser als das starre Lächeln ökumenischer Höflichkeit. Jedoch - hier muss ich Hick beipflichten - verliert sie in dem Maße an Plausibilität, in dem man sich ernsthaft mit anderen Traditionen auseinandersetzt: nicht, weil deren Repräsentanten so nette Menschen sind, sondern weil man beeindruckt ist von den Einsichten in die Wirklichkeit, welche jene Traditionen enthalten. Sie wird auch umso
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weniger plausibel, je mehr man über die empirischen Bedingungen erfährt, unter welchen sich unsere eigene Tradition einst herausgebildet hat. Eben diese letztgenannte Herausforderung religiöser Absolutheit folgt unausweichlich aus der Arbeit der modernen historischen Forschung (von der gleich die Rede sein wird). Die Theologen, die am häufigsten zur Unterstützung einer „inklusivistischen" Position zitiert werden, sind der Protestant Paul Tillich und der Katholik Karl Rahner. Ich möchte mich mit keinem dieser beiden Ansätze ganz identifizieren - ich habe große Schwierigkeiten mit Tillichs Vorstellung, Gott sei der „Grund des Seins". Und Rahners Einbeziehung anderer Traditionen, die er vollzieht, indem er deren Anhänger „anonyme Christen" nennt, kommt mir recht herablassend vor (was Rahner sicher fern lag). Ich möchte mich aber mit dem Geist identifizieren, in welchem diese Haltungen erarbeitet wurden. Allerdings möchte ich keine detaillierte Exegese dieses oder jenes theologischen Systems vornehmen. Mein eigenes Verständnis von Inklusivität werde ich gleich umreißen. Vorher möchte ich aber betonen, dass die Frage nach der Wahrheit anderer Lehren in der Geschichte des christlichen Denkens keineswegs neu ist, so dringlich sie nun auch in der pluralistischen Situation des zeitgenössischen Glaubens geworden sein mag. Ein großes Drama der Geistesgeschichte vollzog sich im neunzehnten Jahrhundert, als es zu einer wahren Explosion der historischen Forschungen zum Ursprung und zur Entwicklung religiöser Traditionen kam. Im Zentrum dieses Dramas stand die Bibelwissenschaft, deren Ergebnisse es schwieriger und schwieriger machten, die biblischen Texte noch länger im Sinne der christlichen und jüdischen Orthodoxie zu betrachten. Es wurde im Gegenteil klar, unter welch immenser historischer Kontingenz diese Texte geschrieben worden waren. All dies ist umso eindrucksvoller, wenn man bedenkt, dass der größte Teil der Forschungsergebnisse aus den theologischen Fakultäten des Protestantismus stammte, insbesondere den deutschen. Es war ein einzigartiger Vorgang in der Religionsgeschichte - Gelehrte wandten ihr ganzes Instrumentarium der Kritik auf die heiligen Texte der eigenen Tradition an: ein Akt beeindruckenden intellektuellen Mutes. Das unvermeidliche Ergebnis dieser Anstrengungen war es, dass die Autorität der Texte relativiert wurde. Dies war besonders für die Protestanten beunruhigend, da sie die Bibel zur einzigen Autorität des christlichen Glaubens und Lebens gemacht hatten (nach dem reformationstheologischen Prinzip des sola scriptum). Die Katholiken waren eher irritiert von den Ergebnissen der historischen Forschung hinsichtlich des Ursprungs der kirchlichen Institutionen. Ernst Troeltsch war ein protestantischer Theologe, für den diese Herausforderung des so genannten Historizismus im Mittelpunkt seiner
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Arbeit stand. 1 9 0 1 veröffentlichte er ein sehr einflussreiches Werk mit dem bezeichnenden Titel Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte. Troeltsch widmete sich anderen Gegenständen (insbesondere dem Thema seines wohl bekanntesten Werks Die Soziallehre der christlichen Kirchen und Gruppen), doch kehrte er immer wieder zur Frage der Absolutheit zurück. Kurz vor seinem Tod 1923 schrieb er einen Vortrag (der in Oxford gehalten werden sollte und postum veröffentlicht wurde) mit dem Titel Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen; hier schwächte er seine Ansicht von der Einzigartigkeit des Christentums in mancher Hinsicht ab. Troeltsch fasste die vom Historizismus gestellte Problem präzise zusammen: es ist „die Frage nach einem Ausweg aus der Mannigfaltigkeit der Historie zu Normen unseres Glaubens und unserer Beurteilung des Lebens" (Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums, K G A 5, S. 136). seine Antwort auf diese Frage war sehr subtil, doch sie lässt sich in eine zentrale Behauptung zusammenfassen: Das Christentum ist einzigartig als „personalistische Religion", das heißt als ein Glaube, in dessen Mittelpunkt eine Auffassung von Gott als einer Person steht und der infolgedessen der Persönlichkeit der Menschen höchsten Wert zumisst. Wie er es formulierte: Das Christentum bietet die „einzige ... Darbietung der höheren Welt als unendlich wertvollen, alles andere erst bedingenden und gestaltenden persönlichen Lebens." (ebd., S. 195). Man sollte anmerken, dass Troeltsch sich darüber im klaren war, dass dasselbe auch vom Judentum oder vom Islam hätte gesagt werden können; er erhob den Anspruch, das Christentum sei jenen überlegen - aus Gründen, die nicht überzeugend sind, uns aber hier nicht zu beschäftigen brauchen. Was ich an seinem Ansatz besonders wichtig finde, ist genau jene Einsicht, dass die biblische Tradition den unendlichen Wert und die unendliche Würde der menschlichen Person besonders bekräftigt. Dies hat natürlich unerhörte moralische Folgen, aber es ist nicht nur eine Frage der Moral. Tatsächlich handelt es sich um eine Einsicht in das Verhältnis zwischen der menschlichen Existenz und der letztendlichen Verfasstheit der Wirklichkeit. Dies wurde von Luther so zusammengefasst, dass Gott sich an den Menschen wendet und dass der Mensch existiert, solange Gott fortfährt, sich an ihn zu wenden. Mit anderen Worten: Es gibt eine ontologische Antiphonie zwischen der Persönlichkeit Gottes und der Persönlichkeit menschlicher Wesen. Und ich glaube, dass Troeltsch Recht hatte, hierin eine entscheidend besondere Qualität biblischer Religion zu sehen. Doch betonte er auch, diese entscheidende Einsicht könne gegen die Relativierungen durch die Geschichte nicht immun bleiben: „Der Glaube darf es daher als die Hebung des religiösen Niveaus betrachten, auf der sich das innere Leben der Menschen weiter bewegen soll. Aber als eine
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absolute, wandellose fertige Wahrheit können und dürfen wir es nicht betrachten ... das Absolute [liegt] jenseits der Geschichte und ist es selbst eine noch mannigfach verhüllte Wahrheit." (ebd., S. 198). Man könnte Troeltschs Position wohl die einer Art „relativen Absolutheit" nennen ein Oxymoron, das aber seine nuancierte Haltung gut zum Ausdruck bringt. Ich finde seine Position höchst plausibel, auch wenn Troeltschs Sprache und Begrifflichkeit nach fast einem Jahrhundert einige Modifizierungen benötigten (beispielsweise was seine recht oberflächliche Behandlung der beiden anderen großen monotheistischen Traditionen betrifft). Das Problem, in welchen Bezug man den Gott der biblischen Tradition zu all den anderen Göttern zu setzen hat, ist jedoch viel älter als die Mühen der modernen Theologie. Es stellt sich sowohl im Alten wie im Neuen Testament. Es beschäftigt die frühen christlichen Apologeten. Ich will von diesen nur einen der frühesten erwähnen, Justinus Martyr, der im zweiten Jahrhundert auf Griechisch schrieb, seine Frage war im Grunde die, wie sich die Wahrheit des Sokrates mit der Wahrheit des Evangeliums vereinen ließe. Um das zu beantworten, prägte er den suggestiven Begriff des logos spermatikos - grob übersetzt: des Logos, der seinen Samen ausstreut. Schon der Beginn des Johannesevangeliums hatte den gewaltigen Sprung gemacht, für den christlichen Glauben die stoische Idee des Logos in Anspruch zu nehmen - der universellen Vernunft, auf welcher die Welt beruht. Sie wurde hier mit dem kosmischen Christus in eins gesetzt. Man könnte sagen, dass der Autor damit nicht nur die griechische Philosophie, sondern die gesamte Welt der griechischen Religion einbezog - alle Götter wurden sozusagen aufgesogen in das riesenhafte Erlösungswerk, das seine Mitte in Christus hatte. Dieser Logos war von Anbeginn der Schöpfung da, und während er am umfassendsten zuerst dem Volk Israel und dann in Gestalt Jesu offenbart wurde, gibt es keinen Winkel der Wirklichkeit, in dem er nicht gegenwärtig ist und immer gegenwärtig war. Für Justinus sind die „Samen" dieses Logos auch die Samen der Wahrheit. So gelangte Sokrates durch den logos spermatikos auf irgendeine Weise zur Kenntnis Christi oder, genauer, hatte teil an der Wahrheit Christi. Es ist nicht ohne Plausibilität, diese Metapher auf all die vielgestaltigen Welten menschlicher Religion auszudehnen. Wie all dem auch sei - es bleibt die grundlegende Frage: Wenn unsere Lage uns zwingt, zwischen den Gottheiten zu wählen, da kein Gott mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann - weshalb sollten wir dann den Gott der Bibel wählen? Das Wort „wählen" wird ein Gläubiger nicht gerne hören. Aus der Perspektive des Glaubens ist es Gott, der uns erwählt hat, und unsere Wahl
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ist nur eine schwache Erwiderung der seinen. Doch befinden wir uns mit unserer Argumentation noch nicht innerhalb der Perspektive des Glaubens; wir fragen uns noch immer, wie und weshalb wir diese Perspektive einnehmen sollten. Dies entspricht der Haltung, die im vorhergegangenen Kapitel umrissen wurde. Es ist die Haltung all jener, denen kein direkter Zugang zur transzendenten Wirklichkeit zuteil geworden ist - das heißt: all jener, zu denen Gott nicht direkt gesprochen hat. Einfach so fortzufahren, als hätte er es getan (eine Vorgehensweise, die bei den meisten Vertretern orthodoxer oder neo-orthodoxer Religionsschulen impliziert wird) - das würde bedeuten, seine religiöse Existenz auf einer Lüge aufzubauen. Es scheint plausibel anzunehmen, dass Gott, wenn er existiert, nicht wollte, dass wir lügen. Die heiligen Schriften der drei großen monotheistischen Traditionen sind voll von Geschichten, in denen Gott direkt zu den Menschen spricht. Man darf wohl annehmen, dass es für diese Menschen eine absurde Frage gewesen wäre, warum sie diesen Gott wählen sollten. Sie wussten mit überwältigender Gewissheit, dass Gott sie erwählt hatte. Wir müssen annehmen, dass es für Moses, der die Stimme aus dem brennenden Dornbusch hörte, keinen Zweifel gab, keinen Zweifel für Paulus, den Christus auf dem Weg nach Damaskus anhielt, und keinen für Mohammed, als der Engel zu ihm auf dem Berg Hira sprach. Für die historische Wissenschaft ist es nicht möglich, nachzuprüfen, was bei diesen folgenschweren Gelegenheiten „wirklich gewesen" ist - der Historiker kann nur die gewaltigen Folgen verzeichnen. Wir anderen - die metaphysisch Unterprivilegierten sozusagen können ehrfürchtig vor dem Anschein dieser Manifestationen des Göttlichen stehen. Aber wir müssen einräumen, dass Gott zu uns nicht auf diese direkte Weise gesprochen hat. Er wendet sich - insofern er das tut auf sehr viel indirektere Weise an uns; er spricht zu uns stets vermittelt. Vermittelt durch diese oder jene Erfahrung (jener Art, die ich unter den Begriff der Transzendenzsignale gestellt habe), und insbesondere durch Begegnungen mit den Schriften und den Institutionen, welche die Tradition weitergeben. So stehe ich beispielsweise voll Bewunderung vor einer schönen Landschaft und sage mir mit den Worten eines bekannten protestantischen Chorais: „Die Hand ist göttlich, die dich schuf." Aber ich würde dies wohl nicht sagen, wenn mir die Vorstellung einer göttlichen Schöpfung nicht in der Bibel begegnet wäre oder im Gottesdienst der Kirche. Es gibt also einen Nexus zwischen meiner eigenen Erfahrung und der Tradition. Ich bin mir nicht sicher, dass „Nexus" hier der beste Begriff ist, aber ich versuche damit etwas zu beschreiben, was mir als sehr wichtiger Schritt bei der Entwicklung des Glaubens erscheint. Er ist dem nahe ver-
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wandt, was Paul Tillich „Korrelation" genannt hat, aber dieses Wort lässt an einen sehr intellektuellen Prozess denken, was in unserem Zusammenhang irreführend wäre. Er steht auch dem nahe, was M a x Weber - auf Goethe zurückgreifend, der damit eine Gefühlsaffinität zwischen Menschen bezeichnete - „Wahlverwandtschaft" genannt hat, aber dies ist für meine Zwecke ein zu allgemeiner Begriff. Vielleicht kann ich es so formulieren: Der Nexus entsteht, wenn ich die Tradition mit meiner eigenen Erfahrung in Verbindung setze und mich gedrängt fühle, zu sagen: „Ja, ja - das passt!" Nun muss ich den Leser beruhigen - ich gebe hier nicht meinen Soziologenausweis ab. Ich bin mir der Relativitäten von Zeit und Raum sehr wohl bewusst - meines Ortes in einer bestimmten Geschichte und einer bestimmten Gesellschaft. Mein Nexus mit der biblischen Tradition würde sich wahrscheinlich nicht herstellen, wenn ich als tibetanischer Mönch auf jene eindrucksvolle Landschaft blickte. In jenem Fall würde eine buddhistische Interpretation nahe liegen, und dafür spielt die Idee der Schöpfung keine große Rolle. Allerdings sollte man, wie bereits gesagt, die Unwiderstehlichkeit des Geburtszufalls nicht übertreiben: Viele Christen sind Buddhisten geworden und umgekehrt. In unserer gegenwärtigen Situation religiöser Vielfältigkeit ist der Buddhismus für Christen oder Juden in der westlichen Welt zugänglich wie noch niemals zuvor; eine Bekehrung zum Buddhismus ist eine empirisch reale Möglichkeit, und mit einer solchen Bekehrung wird eine ganz andere Reaktion auf die schöne Landschaft möglich (man könnte ihren Anblick beispielsweise als eine Versuchung sehen, abzulassen vom Entsagen, das zur Erleuchtung führt). Aber wirkliche Einsichten werden nicht notwendigerweise dadurch aufgehoben, dass man sie in einen historischen oder sozialen Kontext stellt. Wir können mit Zuversicht sagen, dass Einstein die moderne Physik nicht revolutioniert hätte, wenn er als Zeitgenosse Buddhas oder als tibetanischer Bauer geboren worden wäre. Diese Feststellung entkräftet aber nicht Einsteins Beitrag zur Physik. All diese Bezugnahmen auf Wahlmöglichkeiten scheinen vielleicht anzudeuten, dass es von diesen eine nahezu unendliche Zahl gebe. Das ist nicht der Fall. Ein zeitgenössischer amerikanischer Christ oder Jude mag sich zwar dafür entscheiden, ein tibetanischer Mönch zu werden (und sei es in Kalifornien), aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass er sich entschließt, den blutigen Göttern Mesoamerikas anzuhängen. Wenn man in der Religionsgeschichte der menschlichen Kulturen jeweils weit genug zurückgeht, stößt man auf eine interessante Tatsache - dass es überall eine bemerkenswert ähnliche Tiefenschicht von Erfahrungen und Vorstellungen gibt, die ich als mythische Matrix bezeichnen möchte. Ich komme gleich darauf zurück. Doch was, sagen wir einmal: intellektuell ernsthafte
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religiöse Wahlmöglichkeiten angeht, so gibt es einen grundsätzlichen Hauptgegensatz zwischen zwei mächtigen Strömungen religiöser Entwicklung, von denen eine in Südasien entspringt, der andere in Westasien. M a n kann bildlich sagen: im Mittelpunkt steht entweder Benares oder Jerusalem - entweder die heiligste Stadt des Hinduismus, vor deren Toren der Buddha predigte, oder die Stadt, wo der jüdische Tempel errichtet wurde, wo Jesus starb und auferstand und wo Mohammed zum Himmel auffuhr. Ich verwende hier bewusst die Sprache des jüdischen, christlichen und muslimischen Glaubens, da von Benares aus betrachtet diese drei Traditionen einander so nahe stehen, dass sie wie ein einziges Gegenmodell wirken. Dies hervorzuheben bedeutet keinesfalls, die wichtigen Unterschiede zwischen den drei westasiatischen Traditionen zu ignorieren, und wir werden auf diese Unterschiede zurückkommen müssen. Doch bis zum Ende dieses Kapitels wird nun die Tatsache, dass ich in der christlichen Tradition stehe, mehr oder weniger irrelevant sein ich glaube, ein Jude oder ein Moslem können sich ohne allzu große Anstrengung meiner Argumentation anschließen. Die drei Traditionen verkörpern das, was Niebuhr angemessen den „radikalen Monotheismus" genannt hat, und sie haben insofern eine gemeinsame Sichtweise auf das Wesen Gottes, auf die Welt als seine Schöpfung, auf die Geschichte als Schauplatz seiner Taten und schließlich auf die menschliche Existenz und das Wesen des menschlichen Selbst. Und in all diesem sind sie scharf unterschieden von den großen Traditionen, die auf dem indischen Subkontinent entstanden. Beide diese Strömungen von Religion gingen aus der mythischen M a trix auf eine Weise hervor, die Eric Voegelin - in seinem großen und schließlich unvollständig gebliebenen Versuch einer umfassenden Philosophiegeschichte - „Seinssprünge" genannt hat. Die mythische Matrix nimmt die Wirklichkeit als einheitliches Ganzes wahr. Die Grenzen zwischen dem, was wir das Natürliche und das Ubernatürliche nennen würden, zwischen Mensch und Geisterwelt, zwischen Menschen und Tieren sind hier fließend und durchlässig. In dieser mythischen Wirklichkeit erlebt und begreift das menschliche Individuum sich als Teil des kosmischen Ganzen. Religiöse Rituale dienen dazu, die momentan gestörte Verbindung zur kosmischen Harmonie wiederherzustellen. Es wäre ein Irrtum, eine derartige Weltsicht als ganz und gar überwunden anzusehen. Sie kehrt auf eigenartige Weise in der Entwicklung des Kindes wieder jedes Kind lebt in einer mythischen Welt, ehe es sozialisiert wird und in das eintritt, was wir die Wirklichkeit nennen. Und sie tritt bei bestimmten Formen von Psychose wieder hervor. Aber sie steht auch Erwachsenen zu Gebote, die psychiatrisch gesehen ganz unauffällig sind. In der ganzen Geschichte ist die mythische Matrix in allen Kulturen immer wie-
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der hervorgetreten, in der Regel zur großen Irritation der Hüter offizieller Realitätsdefinitionen. In der gegenwärtigen westlichen Welt ist ein großer Teil der so genannten New-Age-Spiritualität ein derartiger Wiederaufstieg der mythischen Matrix. Deren Attraktivität liegt eben darin, dass sie die menschliche Existenz als Teil einer bergenden kosmischen Harmonie auffasst, in der alle Spannungen und Widersprüche sich lösen. M a n könnte die mythische Matrix auch als polytheistische Realitätsauffassung bezeichnen, aber dieser Begriff wäre ein wenig irreführend, denn die Erfahrung einer kosmischen Ganzheit geht vor das erste Auftreten der Götter zurück. Und doch findet die mythische Matrix im Ausruf des frühgriechischen Philosophen Thaies von Milet ihren schönen Ausdruck: „Die Welt ist voller Götter!" Dem entgegen ist das Innerste der westasiatischen Religionserfahrung die leidenschaftliche Behauptung: Es ist ein Gott! In den frühen Stadien dieser Erfahrung - die sich anhand der ältesten Schichten der hebräischen Bibel noch nachvollziehen lassen wurde die Existenz anderer Götter noch nicht rundheraus bestritten, aber der eine Gott, der sich Israel offenbart hatte, duldete keine Rivalen und war unendlich viel mächtiger. Am Ende wurde die Existenz aller anderen Götter glattweg geleugnet. Die Einzigkeit Gottes wird im grundlegenden jüdischen Glaubensbekenntnis bekräftigt, dem Schma Israel: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein." Das Christentum ist von diesem Glauben nicht abgewichen, und es war ein entscheidendes Anliegen der christologischen Kontroversen in der frühen Kirche, sicherzustellen, dass durch die Bekräftigung der Gottheit Christi nicht der Monotheismus der jüdischen Tradition unterminiert würde. Was immer sie sonst implizieren mag - die Trinitätslehre besagt nicht, dass drei Gottheiten existieren. Auch der Islam besteht - man könnte sagen, mit noch größerem Nachdruck als die beiden anderen monotheistischen Traditionen - auf der Einzigkeit Gottes und weist jegliche Idee zurück, die diese in Zweifel ziehen könnte. Was ist hier der Nexus? Es scheint mir, dass er aus zwei Erfahrungen hervorgeht. Eine ist die Folge dessen, dass man in der Welt das Werk einer ungeheuren kreativen Intelligenz wahrnimmt, die sich nur einem einzigen Schöpfer zuschreiben lässt. Die andere folgt daraus, dass man immer dieselbe Stimme in den Traditionen entdeckt, eine Stimme, die nur einen einzigen Ursprung haben kann. Ich brauche nicht zu betonen, dass dieser Nexus nicht den Status eines Beweises hat - den besitzt kein Nexus aber er vermittelt zwischen meiner Wirklichkeitserfahrung und dem, was die Tradition über die Wirklichkeit aussagt. Andererseits führt die Bekräftigung der Einzigartigkeit Gottes - in jüdischen, christlichen oder muslimischen Begriffen - nicht notwendigerweise zu der Behauptung, dass alle Erfahrungen und Ideen, die mit der mythischen Matrix in Zu-
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sammenhang stehen, reine Illusion sind. Dem einen Gott, der die Welt erschaffen hat, steht es frei, sich in jeglichem Teil seiner Schöpfung zu manifestieren, und das mythische Bewusstsein mag insofern gültige Wahrnehmungen seiner Gegenwart enthalten. Auch hier bei einer - sagen wir - Theologie der mythischen Matrix könnte die Idee vom logos spermatikos nützlich sein. Dies kann, vielleicht glücklicherweise, aber nicht Aufgabe dieses Buches sein. Wenn die monotheistischen Traditionen der anderen Wahlmöglichkeit begegnen, welche ich die von Benares genannt habe, dann sehen sie sich vor allem den mächtigen Strömungen des Hinduismus und Buddhismus gegenüber (wobei letzterer ohne den Hintergrund des ersteren unverständlich bleibt). Damit will ich die anderen großen Traditionen Ostasiens, insbesondere Konfuzianismus, Taoismus und Shinto, aber auch die ihnen zugrunde liegenden alten Volksreligionen keineswegs herabsetzen - ich glaube nur, dass sie für die Wahlmöglichkeit von Jerusalem keine Fragen aufwerfen, die nicht ebenfalls (und meist auf interessantere Weise) vom Hinduismus und Buddhismus gestellt werden. Und eine Schlüsselfrage ist die folgende:
Warum sollte man Gott als eine Person auffassen? In allen religiösen Traditionen wird die letzte Realität an verschiedenen Stellen sowohl als persönlicher Gott wie als unpersönliche Wesenheit aufgefasst. Aber es ist eine nicht unangemessene Verallgemeinerung, zu sagen, dass in den Jerusalem-Traditionen erstere Vorstellung stark begünstigt wird, in den Benares-Traditionen die letztere. Ist Gott eine Person, die deshalb spricht und in persönlicher Weise angeredet werden kann? Oder ist er die göttliche Realität jenseits aller Personalität, weder sprechend noch der menschlichen Rede erreichbar? Das ist eine sehr grundsätzliche Frage, und sie lässt sich nicht „aufschieben", wie John Hicks es vorschlägt. Es bringt auch nichts, wenn man - wie manche religiösen Denker es getan haben - sagt, er (oder es) sei beides oder keines von beiden. Natürlich lässt sich die letzte Wirklichkeit nicht in von Menschen konstruierten Kategorien wie „persönlich" oder „unpersönlich" einfangen, aber ich will doch wissen, ob diese Wirklichkeit irgendwie in der Lage ist, mit mir so zu interagieren, dass meine eigene Persönlichkeit (an der mir begreiflicherweise sehr viel gelegen ist) nicht negiert wird. Wenn Gott eine Person ist, dann darf ich annehmen, dass diese Person zu mir sprechen kann und ich zu ihr. Eine unpersönliche letzte Wirklichkeit dagegen steht jenseits aller solcher „Ich-Du-Beziehung" (wie Martin Buber das genannt hat); ich kann sie nur erreichen, wenn ich alle Spuren meines empirischen Selbst hinter mir lasse - und eben dies ist es, was alle religiösen Lehrer, die einen solchen Standpunkt vertreten, mit
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Nachdruck empfohlen haben, insbesondere viele der großen Mystiker. Dieser Standpunkt aber negiert, was ich oben als die religiöse Urgeste beschrieben habe: das Gebet. Wenn die letzte Wirklichkeit unpersönlich ist, kann ich versuchen, sie durch Meditation zu erreichen, durch alle möglichen geistigen und sogar körperlichen Exerzitien, aber es hat keinen Sinn, zu ihr zu beten. Der Drang zu beten jedoch ist so machtvoll, dass wir ihn in allen Traditionen finden - diejenigen eingeschlossen, deren subtilste Vertreter gelehrt haben, dass die letzte Wirklichkeit unpersönlich ist. So hat sich das Vedanta, in dem man die avancierteste Form des Hinduismus sehen kann, die letzte Wirklichkeit als vollkommen unpersönlich vorgestellt, doch die Massen der gewöhnlichen Hindus beten nach wie vor zu dieser oder jener persönlichen Gottheit (im Hinduismus lautet der allgemeine Begriff für eine solche persönliche Hingabe bhakti). Und die Hauptschulen des Buddhismus haben gelehrt, dass die letzte Wirklichkeit (Nirwana, oft als „Nichts" oder „Leere" beschrieben) ganz und gar jenseits alles Persönlichen liegt, aber die Massen der gewöhnlichen Gläubigen, vor allem in den Ländern des Mahayana-Buddhismus, beten zu sehr persönlichen Erlöserfiguren - den Bodhisattvas, die Erleuchtung erlangt, aber auf die Auflösung im Nirwana verzichtet haben, aus Mitleid für alle „fühlenden Wesen", die noch in der Welt sind. Sowohl im Hinduismus wie im Buddhismus kann man diese Dichotomie zwischen - um Max Webers Begriffe zu verwenden - der Virtuosenreligion und der Massenreligion beobachten. In den westasiatischen Traditionen ist auf beiden Ebenen die Vorstellung von Gott als Person zentral. Ernst Troeltsch hatte Recht, als er diesen Zug als entscheidend für das Christentum hervorhob (obwohl man hinzufügen muss, dass dies ebenso für das Judentum und den Islam gilt). Der biblische Gott spricht und hört. Und die letzte Bestimmung der Menschen ist eine Ewigkeit dieser Interaktion, nicht ein Ozean des Göttlichen, in dem sich alles Selbst auflöst. Ich möchte hier eine persönliche Geschichte erzählen - ich habe sie schon anderswo berichtet, aber ich will gewiss nicht voraussetzen, dass die Leser dieses Buches meine anderen Schriften kennen. Auf meiner ersten Reise nach Indien war ich in Kalkutta, auf dem Weg zu einem Besuch bei einem Religionsgelehrten, als ich einer Bestattungsprozession von Hindus begegnete. Ein solcher Zug bietet für den modernen Westler einen schockierenden Anblick, da es keinen Sarg gibt - der Leichnam, in diesem Falle ein alter Mann, liegt offen auf einem Holzbrett. Es ging eine nur recht kleine Anzahl von Trauergästen mit, und einige von ihnen sangen. Als ich bei dem Gelehrten ankam, erzählte ich ihm von meinem Erlebnis und fragte, was bei einem solchen Anlass wohl gesungen würde. Er sagte, es sei wahrscheinlich ein Abschnitt aus der Bhagavad-Gita ge-
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wesen, den er dann zuerst auf Sanskrit, sodann auf Englisch rezitierte. Dieser Abschnitt war mir zwar bekannt, aber ich hatte nicht gewusst, dass er bei Bestattungen Verwendung fand. Als ich in mein Hotel zurückkam, schlug sich ihn noch einmal nach - in einem Exemplar der Bhagavad-Gita, welche die Direktion zusammen mit der uns vertrauten Hotelbibel im Zimmer bereitgelegt hatte. Er lautet wie folgt: So, wie ein Mensch abgetragene Kleider abwirft und andere anlegt, die neu sind, so wirft das verkörperte Selbst abgetragene Leiber von sich und tritt in andere ein, welche neu sind. Klingen schneiden es nicht, Feuer verbrennt es nicht, Wasser nässt es nicht, der Wind trocknet es nicht aus. Dieses Selbst kann nicht geschnitten oder verbrannt oder genässt oder ausgetrocknet werden. Ewig, alles durchdringend, unverändert, unbeweglich, ist das Selbst immer dasselbe. Von diesem Selbst heißt es, es ist unoffenbar, unfasslich und unveränderlich. Deshalb solltest du, wissend, dass Es so ist, dich nicht grämen. (Hervorhebung von mir, nach der englischen Übersetzung von Swami Nikhilanda, The Bhagavad Gita, S. 20) Es ist klar, was dieses „Es" ist - das innerste Selbst, das atman, welches der Vedanta-Hinduismus mit dem brahman identifiziert, der letzten und unpersönlichen Realität. Die beiden sind identisch, wie die berühmte Formel der Upanishaden es ausdrückt: Tat tvam asi, „du bist dies". Die Wahrheit, welche alle Leidtragenden trösten soll, besteht darin, dass dieses atman von einer Inkarnation in die nächste geht, und dass all diese Inkarnationen am Ende unbedeutend sind, wenn schließlich - nachdem die angemessenen Willenshandlungen der Entsagung vorgenommen wurden - das atman sich mit dem brahman vereinigt, wie alle Ströme im Ozean aufgehen. Ich las diesen Abschnitt mehrmals in meinem Hotelzimmer und war von seiner Kraft beeindruckt. Aber ich dachte mir auch: Wäre ich einer der Trauernden in dem Leichenzug gewesen, hätte mich dies nicht getröstet. Und ich fragte mich, warum. Dann dachte ich an ein Wort aus dem griechischen Neuen Testament, das Wort ephapax. Als ich wieder zu Hause war, schlug ich es in einer Konkordanz nach. Es bedeutet: „ein für alle Mal" und es steht im Hebräerbrief, wo es sich auf das Erlösungswerk Christi bezieht, das „ein für alle Mal" vollzogen wurde. Aber an Christus hatte ich in meinem Hotel in Kalkutta gar nicht gedacht. Ich hatte gedacht an den unendlichen Wert dieser Person, dieses Körpers, dieser Welt. Und mich würde keine religiöse Botschaft trösten - oder in der Tat auch nur persönlich interessieren welche den einzigartigen Wert dieser empirischen Realitäten nicht anerkannte. Deshalb fiel mir ein Wort aus dem Neuen Testament ein, das die Botschaft eines persönlichen Gottes
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enthält, der diese Welt und dieses verkörperte Individuum erschaffen hat und der verspricht, dass beide eine ewige Bestimmung haben, durch die sie nicht negiert werden. Mit anderen Worten: Ich begriff, dass ich zum Trost der Bhagavad-Gita Nein sagte, und in diesem Nein fand ich einen Nexus mit der biblischen Tradition. Dieses Nein muss jedoch nicht beinhalten, dass die Erfahrung, die der Weltsicht der Bhagavad-Gita zugrunde liegt, lediglich illusorisch ist. Die Erfahrung, dass sich das Ich in einem Ozean des universalen seins verliert, findet sich nicht nur im Hinduismus, sondern auch in mystischen Bewegungen aller religiösen Kulturen. Die Behauptung, jene Erfahrung sei nichts als eine jahrtausendealte Illusion, wäre anmaßend und auch unwahrscheinlich. Vergleichbar der erwähnten Frage nach dem epistemologischen Status der mythischen Matrix im Licht des biblischen Glaubens stellt sich hier die Frage nach dem Status jener besonderen Erfahrung. Und man hat sich diese Frage immer wieder gestellt, wenn mystische Bewegungen im Kontext der monotheistischen Traditionen auftraten. Meister Eckhart, der wohl größte christliche Mystiker, unterschied zwischen „Gott" (dem persönlichen Gott der biblischen Offenbarung) und der „Gottheit" (dem unpersönlich Göttlichen der mystischen Erfahrung). Die Gottheit war nach Eckharts Meinung Gott vorgängig: „Gott wird und wird zunichte." Diese Meinung führte begreiflicherweise zur Verurteilung Eckharts durch die Autoritäten der mittelalterlichen Kirche. Andere christliche Mystiker wie Juan de la Cruz oder Teresa de Avila waren vorsichtiger. Analoge Fragen stellten sich bei jüdischen und muslimischen Mystikern. Und interessanterweise findet man ähnliche Fragen auch in anderen Traditionen - immer dort, wo es den Gegensatz zwischen einer unpersönlichen kosmischen Gottheit und persönlichen Erlöserfiguren gab. Im Mahayana-Buddhismus - wo man immer vor dem Problem stand, die Verehrung persönlicher Bodhisattvas mit dem unpersönlichen Ziel der Entsagung zu vereinen - entstand die Idee von den „zwei Körpern" des Buddha: dem rupakaya („Körper der Form"), der die Gestalt ist, welche die Buddhas der persönlichen Erlösung annehmen, und dem dharmakaya („Körper der Wahrheit"), der Form, in welcher ein Buddha die letzte überpersönliche Wirklichkeit erlangt. Die Terminologie lässt darauf schließen, dass die ursprüngliche Absicht - wie bei Eckhart - darin lag, der zweiten Form den höheren epistemologischen Status zu geben. Aber es hat auch buddhistische Schulen gegeben, vielleicht solche in engerer Verbindung mit der „Massenreligion", welche den entgegengesetzten Standpunkt einnahmen. Mit anderen Worten: Es lässt sich behaupten, dass beide Erfahrungen wahr sind - die eines persönlichen Gottes, der spricht und dadurch dem menschlichen Selbst letztgültigen Wert verleiht, und die des unpersönlichen Ozeans der Gottheit, in der sich das
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menschliche Selbst auflöst. Die Frage ist, bei welcher dieser beiden Erfahrungen der Primat liegen soll. Ich habe schon der Vermutung Ausdruck gegeben, dass es im Kontext des biblischen Glaubens auch so etwas wie eine Theologie der mythischen Matrix geben müsste. Hierfür gibt es reiches Quellenmaterial in der Geschichte der christlichen, jüdischen und islamischen Mystik. Es scheint mir, dass hier wieder einmal dem Schweigen Gottes zentrale Bedeutung zukommt. Vielleicht muss man die unpersönliche Sprachlosigkeit der mystischen Erfahrung dann begreifen als das Schweigen, ehe Gott redet - oder, wenn man so will, als die unendliche Weite des Universums in der Erwartung Gottes. Hierbei muss ich es belassen. Wenn ein wesentlicher Nexus zwischen der biblischen Tradition und meiner eigenen Erfahrung die wahrhaftige Existenz des Selbst ist, dann liegt die radikalste Herausforderung dieses Anspruchs im Buddhismus. Nicht allein deshalb, weil die letzte Wirklichkeit in den meisten buddhistischen Schulen unpersönlich ist (das hat der Buddhismus mit den meisten Traditionen gemeinsam, die auf mystischer Erfahrung aufbauen), sondern weil zum Kern der buddhistischen Lehre die Leugnung der Wirklichkeit des Ich gehört. Deshalb ist hier die Selbstlosigkeit nicht lediglich ein moralischer Imperativ - „verliere deine Selbstliebe, damit du dich der Liebe für andere öffnen mögest" - , sondern eine epistemologische These: „Beginne den Weg der Erleuchtung, indem du erkennst, dass dein Ich eine Illusion ist." (Diese Unterscheidung hilft einem übrigens, zu erkennen, wie albern gewisse Versuche der jüngsten Vergangenheit sind, eine Universalethik zu konstruieren, in welcher das buddhistische „Erbarmen" mit der christlichen agape gleichgesetzt wird. Ich würde sagen, dass die beiden - trotz gewisser Ähnlichkeiten auf der Ebene der Praxis - sehr wenig miteinander zu tun haben, ja in der Tat beinahe Gegensätze bilden.) Der erste Schritt zur Erleuchtung des Gautama Buddha war die Einsicht in das, was die buddhistische Tradition die Drei Wahrheiten nennt. In den Worten des Pali-Kanons - des Grundtextes der Theravada-Schule - sind das a-nicbna (alle Wirklichkeit ist Unbeständigkeit), dukkha (alle Wirklichkeit ist Leiden), an-atta (alle Wirklichkeit ist Nicht-Selbst). Was hierbei vorausgesetzt wurde, war die hinduistische Kosmologie des samsara - der endlose Kreislauf der Wiedergeburten und so die endlose Wiederholung des Leidens. Der Buddha war keineswegs der einzige Hindulehrer, der die Erlösung im Ausbrechen aus diesem furchtbaren Zyklus sah - das gleiche gilt, um ein wichtiges Beispiel zu nennen, für die Vedanta-Schule. Aber seine Ansichten waren radikaler, insbesondere was die Leugnung der Wirklichkeit des Selbst angeht. Die drei Wahrheiten bildeten den Ausgangspunkts seiner Erlösungslehre. Die Ursache des Leidens,
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lehrte er, ist das Begehren, welches Karma erzeugt (das kosmische Gesetz, nach welchem jede absichtliche Handlung Folgen hat, die weit über eine einzige Inkarnation hinausreichen), Karma, das wiederum zur Gefangenschaft im Zyklus der Wiedergeburten führt. Nur die Auslöschung des Begehrens kann zur Auslöschung des Leidens führen und so zum Entrinnen aus dem Entsetzen des samsara. Der Wahre Achtfache Weg ist das Grundprogramm zur Erreichung dieses Zieles, eine sorgfältig durchdachte Disziplin der Entsagung. Am Ende des Weges erlangt man das Nirwana. Wie man diesen letzten Zustand auch interpretieren mag - es gibt verschiedene buddhistische Versionen - , er ist charakterisiert durch die völlige Aufgabe des Selbst. Es ist, glaube ich, wichtig, das Befreiende an dieser Lehre zu verstehen. Man stößt bei jeder Begegnung mit dem Buddhismus sehr rasch darauf. Es drückt sich vor allem durch große Ruhe aus. Man kann das in der Stille der buddhistischen Tempel im Hirschpark bei Benares erleben, vor allem, wenn man aus dem Tumult des religiösen Lebens an den Gangesufern kommt - wenn der Lärm der dreihunderttausend Götter des hinduistischen Pantheons einer tiefen buddhistischen Stille weicht. Die vielleicht eindrucksvollste Verkörperung dieser Stille findet man in der buddhistischen Ästhetik Japans - in den Steingärten von Kyoto, in den gelassenen Gesten der Teezeremonie, in der ruhigen Konzentration der Meditationshallen des Zen. Ich glaube, diese Qualität ist es vor allem anderen, die Konvertiten aus dem allzu geschäftigen Westen angezogen hat. Im Aufgeben der Spannungen und Widersprüche des Selbst liegt eine große emotionale Erleichterung. Aber die buddhistische Lehre des an-atta ist auch intellektuell attraktiv. Ich würde noch weiter gehen: Wenn man die Hypothese eines Gottes fallen lässt, etsi Deus non daretur (als gäbe es Gott nicht), dann wird diese Lehre überaus plausibel. Mir scheint (dies ist keine originelle Beobachtung), dass die moderne Psychologie und Neurologie das autonome Selbst in Frage gestellt haben - jenes autonome Ich, das unter anderem als die Krönung der westlichen Zivilisation galt. Dieses Ich ist natürlich nicht nur eine bloße Idee, es ist eine gelebte Erfahrung und in der Lebensgeschichte eines jeden Menschen eine fortwährend erbrachte Leistung. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erklärte der österreichische Philosoph Ernst Mach, dass im Lichte der modernen Wissenschaft das Ich „nicht zu retten" sei. Ich würde sagen, seither hat sich nichts ereignet, was Machs Behauptung widerlegt hätte. Damit wird natürlich nicht bestritten, dass Millionen Menschen weiter daran glauben, autonome Wesen zu sein, und sich auch so erfahren. Und das hat natürlich auch gesellschaftliche und politische Konsequenzen, wie etwa in den internationalen Bewegungen für Demokratie und Menschenrechte. Damit
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ist die Behauptung nicht unbedingt widerlegt, dass all dies auf einer großen Illusion beruht. Insbesondere westliche Buddhisten bemühen sich, ihren Glauben mit einem Engagement für Demokratie und Menschenrechte zu verbinden. Das ist in der Tat mühsam, denn es fällt schwer, zu begreifen, wie ein illusionäres Selbst Rechte haben kann. Wie dem auch sei, im westlichen Denken der letzten hundert Jahre wurde immer wieder versucht, jenes Ich zu retten, das Mach für unrettbar erklärt hatte. Ich stehe nicht allein, wenn ich sage: Für mich sind Idee und Erfahrung des Ich für das Wirklichkeitsbewusstsein von zentraler Bedeutung, nicht zuletzt wegen ihrer moralischen und politischen Implikationen. Für meine Generation wurde dies zur Gewissheit angesichts der zwingenden Notwendigkeit, Nein zum Totalitarismus zu sagen und zu seiner monströsen Inhumanität. Dies bedeutet, Nein zu jeder Verleugnung des autonomen Ich zu sagen, da dies auf eine Verleugnung der Realität von Freiheit hinausliefe. Dieses Nein muss also jeder Variante des freiheitsverleugnenden Szientismus gelten, und es muss auch, bei aller Hochachtung, der buddhistischen Vorstellung vom an-atta geantwortet werden. Und hier ergibt sich wieder ein höchst wichtiger Nexus zwischen der biblischen Tradition und meiner eigenen Erfahrung. Für den biblischen Glauben ist das Ich keine Illusion und ebenso wenig die empirische Welt, da beide Schöpfungen Gottes sind. Es ist möglich, diesen Glauben als ein dreifaches Nein zu den Drei Wahrheiten des Buddha zu bekräftigen. Die ganze Wirklichkeit ist nicht Unbeständigkeit, denn in ihrem Herzen ist Gott, der die Fülle des Seins in Zeit und Ewigkeit ist. Die ganze Wirklichkeit ist nicht Leiden, denn Gottes Schöpfung ist letztlich gut, und Gott handelt, um jene Teile der Schöpfung (insbesondere die Menschheit), in welchen diese Güte beschädigt worden ist, wieder zu erlösen. Und die ganze Wirklichkeit ist nicht Nicht-Ich, weil das Ich das Abbild Gottes ist. Nicht, weil es selbst göttlich wäre, sondern weil es kraft Gottes Zuwendung existiert. Was dieses Ich angeht, so liegt seine Bestimmung nicht in der sich verströmenden Auflösung in einer kosmisch-unpersönlichen Wirklichkeit, sondern in einer Wanderung zu Gott. Die historische Forschung wird nie genau feststellen können, was sich in der Wüste des Nahen Ostens ereignet haben mag, wo einige Stämme semitischer Nomaden auf einen Gott stießen, der radikal verschieden war von all den Göttern der Kulturen ringsum. Im Glaubensakt ist man gehalten, zu sagen, dass Gott sich Israel auf eine einzigartige Weise offenbart hat, und dass aus dieser Offenbarung all das hervorging, was in den späteren Jahrhunderten folgte. Dies zu sagen heißt jedoch nicht a priori zu bestreiten, dass Gott sich zu anderen Zeiten und an anderen Orten geoffenbart haben kann: Hier hatte Troeltsch Recht. Der Offenbarung
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Grenzlinien zu ziehen ist ein gefährliches Unterfangen. Und ich halte dies auch nicht für eine dringende Aufgabe. Es reicht hin, dankbar zu sein für das, was uns in dieser besonderen Tradition gegeben wurde, und fernerhin offen zu bleiben für das, was uns aus anderen Traditionen zufallen mag.
Kapitel Drei „... den Vater, den Allmächtigen ..." Diese Formulierung des Glaubensbekenntnisses beschreibt die Eigenschaften des Gottes, zu dem man sich bekennt. Doch gibt es eine ungeheure Spannung zwischen dem Substantiv und dem Adjektiv. Es gibt einen Gott, der wie ein Vater ist, einen Gott, der sich unser erbarmt, einen Gott, zu dem man beten kann. Und es gibt den Gott, der allmächtig ist, wenn er auch - nach dem Maße unserer Erfahrung - seine Macht sehr sparsam einsetzt. Die Menschen haben über die Jahrhunderte hinweg Gott angerufen und ihn in höchsten Schmerzen und Schrecknissen um Hilfe gebeten, und wieder und wieder blieb ihr Schrei ohne Antwort. Es ist eine schlichte Erfahrungstatsache, dass Gebete unerwidert bleiben, selbst wenn sie von den unschuldigsten Opfern (oder für diese) gesprochen werden. Nun beteuern andere Gläubige immer wieder, dass ihre Gebete erhört worden sind und dass sie aus den schlimmen Lagen befreit wurden, aus denen sie um Hilfe riefen. Aber denkt man darüber nach, machte dies die Sache nur noch schlimmer: Warum erhört Gott manche Gebete, andere nicht? Auf diese Weise würde der Fall der Opfer, deren Gebete nicht erhört wurden, nur noch unerträglicher. Wenn man über diesen Abschnitt des Glaubensbekenntnisses heutzutage nachdenkt, sieht man sich unvermeidlich mit der feministischen Kritik an der traditionellen maskulinen Geschlechtsrolle Gottes konfrontiert. Diese Kritik wirft interessante Fragen auf, darunter die nach der gesellschaftlichen Verortung von Symbolen und die, ob sich Symbole ohne weiteres austauschen lassen. Doch sind diese Fragen hinsichtlich der Spannung zwischen Gottes Güte und seiner Allmacht unwesentlich. Setzen wir einmal voraus, Gott könnte ebenso auch als Mutter angeredet werden: „die allmächtige Mutter". Die Spannung bliebe genau dieselbe. Eine der großen Mystikerinnen des Christentums, oft von feministischen Theologen und Theologinnen zitiert, war Julian von Norwich (auf die wir am Ende des Kapitels noch einmal zurückkommen werden). Sie sprach oft von Gott als von der Mutter; gleichzeitig wurde sie von der Frage verzehrt, wie Gott denn das Leid und das Böse zulassen kann. Mit anderen Worten, das Problem der Theodizee (buchstäblich: das Problem der Gerechtigkeit Gottes) lässt sich nicht durch ein feministisches Vokabular eliminieren.
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Das Problem ist sehr, sehr alt. Es ist wieder und wieder anzutreffen nicht nur im theologischen Denken, sondern (wichtiger noch) in unzähligen Glaubenskrisen im Leben gewöhnlicher Gläubiger:
Wie kann Gott, der sowohl allgütig und allmächtig sein soll, eine Welt voll unschuldigem Leiden und unbestrafter Bosheit zulassen? Das Leid und das Böse sind universelle Tatsachen der menschlichen Existenz, aber das Problem, das sie für den Glauben aufwerfen, ist offensichtlich besonders scharf umrissen, wenn man in der Begrifflichkeit des Monotheismus denkt. Die drei so genannten abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam - mussten sich von ihren Anfängen an mit diesem Problem auseinandersetzen. Die Tatsachen des Leidens und des Bösen stellen - wie schmerzhaft man sie auch im Menschenleben erfahren mag - ein geringeres religiöses Problem in den pantheistischen oder dualistischen Traditionen dar, wo die letzte Wirklichkeit entweder unpersönlich aufgefasst wird oder wo zu ihr ein kosmisches Ringen zwischen guten und bösen Gottheiten gehört. Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes hallt durch das ganze Alte Testament. In der Frühzeit der israelitischen Geschichte wurde die Frage weniger für das Individuum gestellt als für das Volk: Wenn Gott einen Bund mit dem Volk Israel geschlossen hat, warum findet sich das Volk dann so oft mit dieser oder jener Plage alleingelassen? Es gibt natürlich einen wichtigen Strang biblischen Denkens, demzufolge diese Plagen Strafen für die Sünden des Volks sind, doch wenn sie unerträgliche Formen annahmen und wenn sie auch diejenigen leiden ließen, die aller Missetaten unschuldig schienen, dann wurde diese Erklärung fadenscheinig. Der Glaube an den Bund bekräftigte dann den Gedanken, dass Gottes Macht am Ende doch zugunsten seines Volkes ausgeübt werden würde; diese Bekräftigung führte zu den Vorstellungen vom Messias, der Gottes Reich der Gerechtigkeit aufrichten würde, und vom Gerichtstag am Ende der Zeiten. Mit anderen Worten: Das Problem der Theodizee wurde eschatologisch gelöst. Als sich das religiöse Bewusstsein der Israeliten weiterentwickelte, wurde die Frage nach Gottes Gerechtigkeit auch im Hinblick auf den einzelnen Menschen gestellt. In vielen der Psalmen findet man sie machtvoll ausgedrückt. Ihre klassische Formulierung aber haben wir natürlich im Buch Hiob. Hiob wurde zum Idealtypus des vollkommen unschuldigen Opfers aller erdenklichen Unglücksfälle. Die Argumente seiner Freunde, die darauf hinauslaufen, dass sein Leiden als Strafe für seine Sünden verstanden werden müsse, werden entschieden zurückgewiesen. Zwei Lösungen lassen sich dem Text entnehmen: dass Hiob auf die Probe
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gestellt wird, um seinen Glauben zu prüfen, und dass sein Leiden erlösenden Charakter hat, indem er für seine irregeleiteten Freunde betet. Beide diese Antworten sind in der Geschichte der jüdischen und dann der christlichen Theodizee weiterverfolgt worden. Hiobs Haltung ist die der vollkommenen Unterwerfung unter den Willen Gottes, wie sie sich in der klassischen Formel ausdrückt: „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt." Und Gottes eigene Antwort „aus dem Wetter" ist eine Proklamation seiner ungeheuren Macht, mit der sich nicht rechten lässt: „Will mit dem Allmächtigen rechten der Haderer?" Und Hiob beugt sich wieder. Dann folgt das nicht sehr überzeugende, fast hollywoodhafte Ende, wo Hiobs Glück und Reichtum vollständig wiederhergestellt werden; eine Mehrheit unter den Bibelwissenschaftlern hält diesen Schluss für eine spätere Hinzufügung. Man liest das Buch Hiob mit gemischten Gefühlen. Einerseits ist es ein bewegendes Zeugnis für das fortdauernde Vertrauen in Gott angesichts aller Widrigkeiten. Andererseits aber stellt Gottes letzte Antwort an Hiob Gott auf eine Art und Weise da, die moralisch beunruhigend ist. Es ist, als spräche er zu Hiob: „Schau, wie stark ich bin! Also halt lieber den Mund!" Wäre dies die Haltung eines mächtigen Menschen, würde man sie moralisch verurteilen, und die Person, die sich damit zufrieden gäbe, würde als Masochist eingestuft (oder, wenn man will, als Opfer des „Stockholmsyndroms" - wie man das Phänomen bezeichnet, dass sich die Geiseln mit den Geiselnehmern zu identifizieren beginnen). Die klassische Antwort auf solche Überlegungen ist es natürlich immer gewesen, dass man an Gott keine menschlichen Maßstäbe anlegen dürfe. Sie ist nicht überzeugend. Kann man einen Gott bekräftigen, der den moralischen Gesetzen widerspricht, die auf Menschen angewandt werden einen Gott, der (unmöglicher Gedanke) den besten unter den Menschen moralisch unterlegen wäre? Und doch war Hiobs Unterwerfung unter Gott, mag sie uns auch als eine Art von metaphysischem Masochismus erscheinen, die typische jüdische, christliche und muslimische Antwort auf Leid und Bosheit. Durch die Jahrhunderte hat das Judentum das Leiden als Anlass genommen, den Namen Gottes zu preisen (kiddusch haschem). Und bereits das Wort „Islam" ist abgeleitet aus dem Verbum, das „sich unterwerfen" bedeutet ('aslama). Dasselbe gilt für den größten Teil des christlichen Denkens und der christlichen Frömmigkeit. John Hick hat - ehe er seine Aufmerksamkeit der christlichen Haltung den anderen Religionen gegenüber zuwandte (in dieser Eigenschaft sind wir ihm im letzten Kapitel begegnet) - ein nützliches Buch über die Entwicklung des christlichen theologischen Denkens zum Problem der Theodizee verfasst (Evil and the Love of God). Er unterscheidet zwischen zwei hauptsächlichen Versionen christlicher Theodizee, die er die au-
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gustinische und die irenäische nennt - da die eine ihre klassische Formulierung bei dem großen lateinischen Kirchenvater Augustin fand, die andere bei Irenäus, einem griechischen Theologen und Bischof des zweiten Jahrhunderts. Augustin begründete seine Theodizee mit der Idee der Freiheit: Gott hat freie Wesen erschaffen, die in der Folge fähig waren, diese Freiheit zu missbrauchen. (Er dachte dabei natürlich an die Menschheit, aber es ging auch um eine Urkatastrophe, in welcher manche Engel ihre Freiheit missbrauchten, von Gott abfielen und in das Böse stürzten.) Die Theodizee des Irenäus nahm an, dass Gott das Böse gestattet, damit eine noch vollkommenere Schöpfung möglich wird. Man könnte sagen, dass sich in diesen beiden Ansätzen wichtige Unterschiede zwischen der westlichen und der östlichen Christenheit zeigen, wobei erstere sich auf das Phänomen der Sünde konzentriert, letztere auf die kosmische Dimension des göttlich-menschlichen Dramas. Aber wie Hick sagt: „Beide Alternativen bestätigen explizit oder implizit, dass Gott letztlich für die Existenz des Bösen verantwortlich ist" (ebd., S. 264). Mit den Worten eines liturgischen Texts der Ostkirche, in dem es um die Erbsünde geht: „ O glückliches Verbrechen, das einen solchen Erlöser verdiente" - das „glückliche Verbrechen" (bekannt in der lateinischen Formulierung felix culpa) ist die notwendige Voraussetzung für das große Erlösungswerk Christi. Es scheint mir, dass beide Traditionen der Theodizee höchst abstrakt sind - abstoßend abstrakt, und dass sie sich beide dem Vorwurf aussetzen, einen Gott zu denken, dessen moralische Qualität noch geringer scheint als selbst die mäßig bewundernswerter Menschen. Der Abstraktionsgrad ist jedoch das am stärksten Beunruhigende. Der konkreteste Fall, bei dem man Gottes Güte in Frage gestellt sieht, ist der eines leidenden Kindes: Keine Theodizee ist erträglich, die man nicht angesichts eines leidenden Kindes aufrechterhalten könnte, entweder vor dem Kind selbst oder denen gegenüber, die das Kind lieben und hilflos seinem Leiden zusehen müssen. Dies ist die glühende Erkenntnis, die Iwan Karamasow in Dostojewskijs Roman Die Brüder Karamasow formuliert - er kann keinen Gott anerkennen, der die Qual eines unschuldigen Kindes hinnimmt. Mir scheint, dass jede glaubwürdige Theodizee sich der Empörung Iwans stellen, ja: sie in sich aufnehmen muss. Ich finde es interessant, dass die meisten Ansätze einer Theodizee zumindest im Christentum und insbesondere in jener Tradition, die Hick die augustinische nennt - sich vor allem auf das Leid konzentriert haben, das aus den bösen Taten der Menschen hervorgeht. Aber Leid, das natürlichen Ursachen entspringt, ist tatsächlich sehr viel häufiger. Und das Kind, das an einer schmerzhaften Krankheit stirbt, stellt für die Idee eines gleichzeitig allgütigen und allmächtigen Gottes eine größere Herausforde-
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rung dar als das ermordete Kind; es ist im ersten Fall schwieriger, Gott freizusprechen. Konzentrieren wir uns aber zunächst auf das Leid, das durch die bösen Taten der Menschen in die Welt kommt. Dies ist gewiss ein zeitloses Problem. Vom Beginn des menschlichen Lebens auf der Erde war die Geschichte ein fortwährendes Massaker, meist eines an unschuldigen Opfern, mit nur kurzen Zeiträumen eines unruhigen Friedens. Es ist wichtig, dies im Gedächtnis zu behalten, aber wir haben in unserer Gegenwart mit dem Holocaust eine Offenbarung des absolut Bösen erlebt des Bösen, das den Grad seiner Absolutheit nicht mehr steigern kann. Man hat viel darüber diskutiert, ob der Holocaust ein einzigartiges Ereignis war (eine oft stark politisierte Debatte). Mir scheint, dass ein historischer Ansatz zeigen wird, dass der Holocaust einzigartig war und auch nicht: Er war es wegen der systematischen Brutalität seiner Durchführung - mit einer industriellen Todesmaschinerie, die sich der Ausrottung eines ganzen Volks widmete; er war es nicht, insofern er in eine lange Reihe von Massenmorden gehört, eine Reihe, die leider keineswegs zu Ende ist. Diese Diskussion ist jedoch nicht wirklich wichtig für die hier betrachtete Frage der Theodizee. Man schätzt, dass unter den Opfern des Holocaust etwa eine Million Kinder waren, von denen viele mit einer Grausamkeit getötet wurden, die sich vorzustellen unerträglich ist. Der Holocaust wirft also die Frage der Theodizee nur in maximal verschärfter Form auf: Wie konnte Gott die Ermordung von einer Million jüdischer Kinder erlauben? Ist diese Frage eine grundsätzlich andere als jene, wie Gott den grausamen Mord an einem einzigen Kind erlauben kann? Wiederum ist sie es und ist sie es nicht. Iwan Karamasow hatte Recht mit der Behauptung, dass das Leiden auch nur eines einzigen Kindes die Vorstellung von einem gütigen Gott in Frage stellt. Doch die bloße Zahl der Holocaustopfer und die Art, wie sie sterben mussten, umreißt die Theodizeefrage mit einer Schärfe, der sich kaum ausweichen lässt. Für Juden war dies die zentrale Glaubensfrage - für Christen weniger, obwohl sie das eigentlich auch für sie sein sollte (zumindest für die Christen im Bereich der westlichen Zivilisation, in dem dieses Entsetzliche geschah). Christen, die sich im Zusammenhang des Holocaust Gedanken über eine Theodizee machen, sollten sich im übrigen vor vorschnellen christologischen Antworten hüten - und dies nicht nur aus Achtung vor den Opfern und vor jüdischen Gefühlen. Die jüdischen Antworten auf den Holocaust sollten Vorrang haben, weil sie die Theodizeefrage aufs schärfste und unmittelbarste stellen.
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Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg dachte man wenig über die weitere Bedeutung des Mordes an den europäischen Juden nach. Es gab dringendere praktische Anliegen - die Versorgung der Überlebenden, die Unterstützung des neuen Staates Israel, die Maßnahmen, die einer Wiederholung derartiger Untaten vorbeugen sollten (etwa die Definition des Völkermords als eines internationalen Verbrechens). Und natürlich war da die betäubende Wirkung der Untaten selbst. Ein Nachdenken darüber begann in weiteren Kreisen erst in den sechziger Jahren, möglicherweise angeregt vom Eichmann-Prozess und den anderen (verspäteten) Verfahren gegen Nazikriegsverbrecher. Seitdem wurde eine ganze Literatur zu diesem Gegenstand geschrieben. Es ist klar, dass sie hier nicht im Einzelnen gewürdigt werden kann, aber wir werden einige wichtige Ansätze betrachten. Eliezer Berkovits (Faith after the Holocaust, 1973) setzt den Holocaust in Beziehung zum Buch Hiob und weist dann darauf hin, dass wir, die wir nicht dabeigewesen sind, nicht Hiob sind - wir sind nur Hiobs Brüder. Deshalb müssen wir zunächst denen zuhören, die dabei waren. Doch deren Stimmen sind uneins: Manche verloren ihren Glauben und fluchten Gott, andere hielten bis zum Ende an ihrem Glauben fest, in der ehrwürdigen Tradition des kiddusch haschem. Berkovits betont, dass wir beide Reaktionen achten müssen. Dieses Insistieren hat etwas moralisch Zwingendes, aber es ist nicht klar, inwieweit es uns weiterhelfen soll, uns mit der ungeheuerlich dringlichen Frage von Gottes Tatenlosigkeit angesichts des Holocaust auseinanderzusetzen. Bei manchen orthodoxen Autoren findet man die Behauptung, dass der Holocaust eine göttliche Strafe für die Sünden der Juden gewesen sei; erst kürzlich wurde diese Behauptung von einer führenden rabbinischen Autorität in Israel wiederholt. Unglücklicherweise mangelt es dieser Position nicht an Möglichkeiten des Bezugs auf das Alte Testament (wenn auch das Buch Hiob nicht dazugehört). Man kann nur sagen, dass eine solche Haltung angesichts der ermordeten jüdischen Kinder menschlich und moralisch obszön ist. Sie ist nicht weit entfernt von der ebenso obszönen Behauptung seitens einiger Christen, die Juden würden für ihre Zurückweisung Christi bestraft. Man kann die Vorstellung, Gott habe die Taten der Nazimörder gewollt, nur mit leidenschaftlichem Nachdruck ablehnen. Steven Katz (Post-Holocaust Dialogues, 1983) schlägt eine nützliche vierfache Typologie der Antworten jüdischer Religion auf den Holocaust vor: Erstens: Der Holocaust zwingt zu einer Absage an den biblischen Gott. Diese Position wurde am unnachgiebigsten von Richard Rubenstein vertreten: Es ist nun dort eine Leere, wo einmal Gott war. Nachdem er
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dies gesagt hat, fährt Rubenstein fort, es sei menschlich gesehen wertvoll, weiter ein jüdisches Leben zu führen, während er seine eigene religiöse Haltung in diffus mystischer Weise charakterisiert, mit deutlicher Affinität zum New-Age-Denken. Weder Rubensteins Behauptungen hinsichtlich des Wertes eines nicht-theistischen jüdischen Glaubens noch sein mystisches Bekenntnis zum Nichts müssen uns hier näher beschäftigen, seine Haltung ist deshalb wichtig, weil sie mit großer Aufrichtigkeit die Überzeugung zum Ausdruck bringt, der Glaube an Gott sei nach dem Holocaust nicht mehr möglich. Zweitens: Sehr einflussreich war die Stellungnahme von Emil Fackenheim. Sie lässt sich in seiner Formulierung zusammenfassen, man dürfe Hitler keinen „posthumen Sieg" zuschanzen, indem man das Judentum und das jüdische Volk aufgibt. Es gebe nun eine „heilige Pflicht, zu überleben", die sich insbesondere in der Unterstützung des Staates Israel ausdrücken müsse. Drittens: Man hat argumentiert - besonders beredt hat es Ignaz Maybaum getan - , die Juden hätten für die Sünden der ganzen Menschheit gelitten. Diese Interpretation bezieht sich auf das Bild vom Knecht Gottes im Leiden bei Jesaja. Eine sehr beunruhigende Implikation - von Maybaum ausdrücklich betont - ist der Umstand, dass Gott sich dann Hitler als seines Werkzeugs bedient hätte. Viertens: Der erwähnte Eliezer Berkovits bezieht sich auf die traditionelle jüdische Vorstellung, dass Gott manchmal „sein Gesicht verbirgt" (bester partim), ein Akt des Verhüllens, der geheimnisvoll mit seinen Erlösungstaten in Beziehung gesetzt wird. Das „Verbergen" soll mit der Gründung des Staates Israel geendet haben. Es ist klar, dass man in Rubensteins Position eine reale Möglichkeit erkennen muss - sie setzt, wenn man so will, am unmittelbarsten Iwan Karamasows Empörung wider Gott fort, im Zusammenhang des Holocaust. Ich glaube aber, dass die anderen drei Ansätze für all jene, die nicht bereit sind, den biblischen Gott aufzugeben, am Ende keine Überzeugungskraft haben. Gegen Fackenheim könnte man vorbringen, dass es logischerweise ein praktischer Beitrag zur Verhinderung zukünftiger Genozide an Juden wäre, wenn man das Judentum aufgibt. Und die Sakralisierung des Staates Israel ist etwas moralisch durchaus Ambivalentes. Wie dem auch sei: Die Instrumentalisierung ermordeter Kinder zu welchen Zwecken auch immer - ob nun einer politischen Sache Legitimität verliehen werden soll oder diesem oder jenem göttlichen Heilsplan bleibt am Ende moralisch wie theologisch widerwärtig. Insofern sind alle vier bei Katz aufgeführten Positionen unbefriedigend für denjenigen, der auch nach dem Holocaust am biblischen Gott festhalten will.
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Eine recht ungewöhnliche und zumindest in Teilen überzeugendere Antwort kann man in einem Aufsatz von Hans Jonas finden, der sowohl als Philosoph wie als gläubiger Jude schreibt („The Concept of God after Auschwitz", in: Michael Morgan, Hg., A Holocaust Reader, S. Jonas sagt unmissverständlich, dass wir nicht beides zugleich haben können: Wir müssen entweder die Vorstellung von Gottes Güte aufgeben oder die von seiner Allmacht. Ersteres ist unvorstellbar - es würde darauf hinauslaufen, Satan zu verehren. Also müssen wir auf die eine oder andere Art das zweite tun. Jonas bringt hierzu zwei Ideen vor, die beide nicht neu sind, jedoch im Zusammenhang des Holocaust eine neue Bedeutung bekommen. Eine ist die Vorstellung vom leidenden Gott: das heißt, dass Gott nicht außerhalb des Leidens seiner Schöpfung steht, sondern das Leiden auf geheimnisvolle Weise selbst erfährt. Jonas setzt diese Vorstellung mit einer interessanten Tradition der jüdischen Mystik in Verbindung, wie sie die kabbalistische Schule des Isaak Luria vertrat - dass Gott eine schmerzhafte Zusammenziehung (zimzum) erfuhr, um Platz für die Schöpfung zu schaffen, und dass insofern Gott von Anbeginn der Schöpfung als leidend gesehen werden muss. (Es ist vielleicht bedeutsam, dass die lurianische Mystik sich nach einer früheren Katastrophe des Judentums entwickelte, nach der Vertreibung aus Spanien.) Die andere Idee, die Jonas vorträgt, ist die des werdenden Gottes - das heißt: Gott hat sein volles Wesen noch nicht erreicht und befindet sich immer noch im Prozess des schmerzlichen Werdens (diese Idee des werdenden Gottes ist philosophisch von A. N. Whitehead und seinen Schülern formuliert worden). Die zweite Idee scheint in direktem Widerspruch zur biblischen Vorstellung von Gott zu stehen, und ich sehe kaum, wie sie in den jüdischen (oder christlichen) Glauben aufgenommen werden könnte. Doch die Idee des leidenden Gottes ist von zwingender Kraft - und lässt sich mit einer Reihe biblischer Themen in Verbindung bringen (hier mag wieder Jesajas Knecht im Leiden herangezogen werden, obwohl dieses Bild sich wahrscheinlich nicht auf Gott bezog, sondern auf das Volk von Israel). Es bleibt natürlich die Frage, woher diese Begrenzung der Macht Gottes kommt, die sein Leiden notwendig macht. Jonas gesteht: „All dies ist, um es abschließend zu sagen, nur gestammelt." Wohl wahr. Doch selbst wenn wir nur stammeln können, müssen wir darüber nachdenken, welche Bedeutung jenes Ereignis für unseren Glauben hat. Nur ein Wort zu den christlichen Reaktionen: Sie sind relativ selten, und für unseren gegenwärtigen Zweck sind sie eigentlich noch weniger hilfreich als die jüdischen. Drei Themen stehen im Vordergrund: Schuldbekenntnisse wegen der antijüdischen Tradition der Christenheit (die bis in Teile des Neuen Testaments zurückreicht); zweitens eine Zurückweisung des so genannten supersessionism beziehungsweise der „Ablösungs-
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theologie" (also der Vorstellung, das Neue Testament habe das nunmehr irrelevante Alte Testament abgelöst). Stattdessen wird bekräftigt, dass Gottes Bund mit Israel nach wie vor Gültigkeit hat. Drittens eine nachdrückliche Verpflichtung zum christlichen Widerstand gegen jede Form des Antisemitismus (was oft auch eine recht unkritische Unterstützung der Politik des Staates Israel bedeutet, dessen Anspruch auf das Heilige Land unter Berufung auf eine göttliche Zusprechung eingeschlossen). All diese Themen sind es wert, diskutiert zu werden. Keines davon hilft mit der Frage der Theodizee irgendwie weiter. Die Vorstellung von einem leidenden Gott beinhaltet, dass die Allmacht Gottes zeitweise begrenzt wurde. Nur zeitweise allerdings, oder Gott wäre nicht mehr der, der sich in der biblischen Tradition offenbart hat. Dies impliziert wiederum eine geheimnisvolle Schadhaftigkeit der Schöpfung, eine Gegenkraft, die das Böse und das Leid verursacht - einen Defekt, der nur durch Gottes eigenes Leiden behoben werden kann, durch seine Teilhabe an der Qual seiner Schöpfung. Es versteht sich von selbst, dass jegliche Spekulation über Ursprung und Wesen dieses Schadens nur höchst zögernd vorgehen kann („stammelnd" in der Tat). Aber zwei weitere Schlussfolgerungen lassen sich ziehen: Die Vorstellung, dass eine andere Macht Gott entgegensteht, wird wohl ihrerseits personalisiert werden müssen - wie sie es ja von frühen Zeiten an in der Gestalt Satans war; man könnte sagen, dass diese Idee im Zusammenhang des übermenschlich Bösen, das sich im Holocaust manifestierte, an Glaubwürdigkeit gewonnen hat. Ferner lässt sich die Schadhaftigkeit der Schöpfung nicht auf die menschliche Geschichte beschränken - denn es gibt den unermesslichen Schmerz, der den Evolutionsprozess angetrieben hat, lange ehe die menschliche Geschichte begann, es gibt ganze Spezies von Tieren, die gelitten haben und durch die unerbittliche Zuchtwahl der Evolution ins Nichts hinweggefegt wurden. Anders ausgedrückt: Der Schöpfungsschaden muss eine metahistorische, vielleicht eine kosmische Dimension haben - und folglich ebenso der Prozess seiner erlösenden Heilung (der in der jüdischen Mystik tikkun genannt wurde). Die unerträglichste Szene in Elie Wiesels Buch Night, seinen Aufzeichnungen über die Erfahrungen in den Todeslagern der Nazis, ist die Beschreibung der qualvollen Hinrichtung eines Kindes, die er und seine Mitgefangenen mitanzusehen gezwungen waren. Als das Kind langsam am Galgen starb, flüsterte ein anderer Gefangener Wiesel zu: „Wo ist Gott?" Wiesel erwiderte: „Er ist dort am Galgen." Ich gebe nicht vor, zu wissen, was genau Wiesel in diesem Augenblick sagen wollte. Aber es gibt zwei Möglichkeiten, seine Antwort zu verstehen. Man könnte sie im Sinne Rubensteins hören: Hier ist Gott gestorben - das heißt: es ist un-
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möglich, noch länger an ihn zu glauben. Oder man könnte sie im Sinn von Jonas nehmen: Hier ist Gott gestorben - das heißt: Er hat teilgehabt an der Agonie. Ich gestatte mir eine letzte Bemerkung. Verständlicherweise haben sich nahezu alle religiösen Reflexionen über den Holocaust auf die Opfer konzentriert: Wie kann man sich angesichts ihres Leidens einen Gott denken? Aber man könnte diese Reflexionen auch angesichts der Täter anstellen, der Verursacher dieses Leidens: Wie soll man sich wohl den Umgang Gottes mit den Mördern vorstellen? Und hier wird eine andere biblische Tradition sehr bedeutsam: die Bekräftigung eines Gottes, der jenseits der Geschichte und an ihrem Ende die Lebendigen und die Toten richtet. Anders gesagt, der biblische Glaube muss das Versprechen des Himmels für alle Opfer der Geschichte beinhalten, und das Versprechen der Hölle für ihre Mörder. In einem früheren Werk habe ich dies den Gottesbeweis durch Verdammnis genannt. Von den drei monotheistischen Religionen legt der Islam das größte Gewicht auf den Tag des Gerichts, und dies trotz der Tatsache, dass eine jede Sure des Korans mit der Formel „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen" beginnt (bismillah al-rahman al-rabim): Ich hoffe, es wird weder Juden noch Christen irritieren, wenn ich mit einem Abschnitt aus dem Koran schließe und die zweiundachtzigste Sure zitiere (mit der Überschrift Das Zerspalten in der Übersetzung von Max Henning, Leipzig 1901 [1979]). „Wenn der Himmel sich spaltet und wenn sich die Sterne zerstreuen und wenn die Meere emporgeworfen werden, und wenn die Gräber umgekehrt werden, dann weiß die Seele, was sie getan und was unterlassen hat. Ο Mensch, was hat dich von deinem hochsinnigen Herrn abwendig gemacht, der dich erschaffen, gebildet und wohlgestaltet hat, in eine Form, die ihm beliebte, dich gefügt hat? Fürwahr, und doch leugnet ihr das Gericht. Aber siehe, über euch sind wahrlich Hüter, edle, schreibende, welche wissen, was ihr tut. Siehe, die Rechtschaffenen, wahrlich in Wonne (werden sie wohnen,) und die Missetäter im Höllenpfuhl. Sie werden darinnen brennen am Tag des Gerichts, und sollen nimmer aus ihm heraus. Und was lehrt dich wissen, was der Tag des Gerichts ist? An jenem Tage wird ein jeder für den anderen nichts vermögen, und der Befehl ist an jenem Tage Allahs" Unsere Betrachtung der religiösen Versuche, eine Antwort auf den Holocaust zu finden, hat sich unvermeidlicherweise auf das Leid konzentriert, das menschliche Untaten verursacht haben. Das ist ganz und gar gerechtfertigt. Aber man muss unbedingt noch einmal hervorheben, dass die
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Frage der Theodizee sich in vielleicht noch schärferer Form bei jenem Leid stellt, das durch die Natur hervorgerufen wird. In schärferer Form, weil sich dieses Leid nicht auf den Missbrauch menschlicher Freiheit zurückführen lässt. Zumindest die augustinische Version der Theodizee bricht hier zusammen, falls man nicht zur Begründung die in Freiheit begangenen Taten von Engeln heranziehen möchte, die lange vor den Anfängen des menschlichen Lebens auf der Erde gegen Gott rebellierten (eine Vorstellung, die sich im Mythos von Luzifer verkörperte). Vereinfacht gesagt: Das Kind, das von Krankheit geplagt wird, macht Gott dafür in direkterer Weise verantwortlich als das Kind, das von Mördern gequält wird. Und dies bezieht sich lediglich auf Menschen, die unter einer offensichtlich unvollkommenen Natur leiden. Doch gibt es darüber hinaus das weite Feld des tierischen Leidens, das die Evolution seit Millionen Jahren begleitet hat. Dies zu bemerken heißt nicht, den gegenwärtig vorgebrachten Behauptungen zuzustimmen, in denen die Rechte von Tieren den Menschenrechten gleichgesetzt werden. Aber jeder, der in die Augen eines sterbenden Hundes gesehen hat, wird verstehen, dass es notwendig ist, Gott auch nach seinem Leiden zu fragen. Die Evolution geht mit dem Leben höchst verschwenderisch um. Jeder Schritt im Evolutionsprozess lässt Hekatomben nicht nur von einzelnen Tieren, sondern von ganzen Arten zurück. Betrachtet man diesen Prozess teleologisch als ein dramatisches Voranschreiten, das im Erscheinen des homo sapiens seinen Höhepunkt findet, dann kann man vernünftigerweise fragen, ob der enorme Preis dafür zu rechtfertigen ist: Ist das das Beste, was einem gütigen und allmächtigen Schöpfer eingefallen ist? Wir haben oben davon gesprochen, wie eine schöne Landschaft das Wirken eines Schöpfers auszudrücken scheint. Halten wir an diesem Gedanken fest. Man sollte sich jedoch auch der Welt an Leiden bewusst sein, welche solch eine Landschaft verbirgt. Wenn man - sagen wir über die herrlichen Seen Norditaliens hinsieht, mag es sein, dass man keine sterbenden Tiere wahrnimmt. Aber sie sind da. Man muss nur den Fuß auf einen Ameisenhügel setzen. Ein verbreiteter Gemeinplatz, den verschiedene philosophische Schulen zur Weisheit erhoben haben, lautet, man solle Leiden und Tod hinnehmen, weil sie „natürlich" seien. Diese Behauptung muss mit Nachdruck zurückgewiesen werden. Im Gegenteil, die „Natur" - im Sinne der biologischen Ordnung der Dinge - ist es, die nicht hinnehmbar ist. Der Tod insbesondere ist eine brutale Verleugnung des Wesentlichsten der menschlichen Existenz. Man könnte die Behauptung in der Tat umkehren und sagen: Der Tod läuft der eigentlichen Natur des Menschen zuwider, die sein und Bewusstsein fordert. Der Tod ist ein Affront, und ihn hinzunehmen heißt in diesen Affront einwilligen. Eben das „Natürliche" ist
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dem Tod zu verweigern. Jede glaubwürdige Theodizee muss diese Weigerung beinhalten. Führen derartige Überlegungen zu einer befriedigenden Theodizee? Natürlich nicht. Tatsächlich ist diese Formulierung ein Oxymoron, und dazu noch ein moralisch abstoßendes. Aber mir scheint, dass zumindest eine bestimmte Art und Weise des Nachdenkens über die Theodizee hervorzutreten beginnt. Um zusammenzufassen: Es ist dies ein Denken, das den Kosmos ebenso wie die Geschichte einbezieht. Es darf nicht dem Menschen die Schuld an allem Leiden in der Welt geben. Es weist paradox auf zwei widersprüchliche Ideen von der Beziehung Gottes zur Welt hin: auf Gott als in der Welt Leidenden und auf Gott als zukünftigen Richter der Welt. Sowohl der Kosmos wie die Geschichte erscheinen dann als Arenen eines immensen Dramas von Katastrophe und Erlösung. Gott kämpft gegen die Mängel der Schöpfung, möglicherweise in einem Ringen mit einem kosmischen Antagonisten, der diese Mängel verursacht hat und dessen Wille sie fortdauern lässt. Aber der Ausgang des Kampfes ist nicht zweifelhaft: Gottes Macht wird sich schließlich wieder durchsetzen, die Schöpfung wird geheilt (tikkun), und - mit den Worten des Koran - Gott wird herrschen. Es ist ein Teil der Würde des Menschen, dass er eben seiner Freiheit wegen an diesem Kampf teilnehmen kann. Jede wohlabgerundete Theorie über diese Zusammenhänge - sei sie augustinisch, irenäisch oder was auch immer - wird zwangsläufig unbefriedigend sein, mehr noch: Sie wird etwas moralisch Abstoßendes haben. Angesichts der Qual und des Entsetzens müssen wir aufschreien, und unsere Theorien können nur - wie Hans Jonas gesagt hat - eine Art Stammeln sein. Und falls man sich nicht dafür entscheidet, den Glauben aufzugeben, gibt es keine andere Alternative als das Festhalten an dem Vertrauen, das dem ursprünglichen Glaubensakt zuinnerst war - ob man nun selbst leidet oder überwältigt ist vom Leiden anderer (wie es Eliezer Berkovits sagt: ob man nun Hiob ist oder nur Hiobs Bruder). Ehe ich dieses Kapitel, diese Übung im Stammeln, beende, wollen wir uns einen Schritt weit von den Schrecknissen der Geschichte und der Natur entfernen und zu dem ursprünglichen Akt des Vertrauens zurückkehren, mit dem aller Glauben beginnt. Dies ist die erstaunliche Bekräftigung, dass Gott, der all die Galaxien erschaffen hat, dies aus Liebe tat - mit Dantes Worten: der Liebe, die beweget Sonn' und Sterne. Dies ist eine Bekräftigung vor und jenseits aller Theorie. In diesem Sinne ist es ein kindlicher Akt. In meiner Jugend kannte ich einen bewunderungswürdigen Mann, einen deutschen evangelischen Pastor, der sehr zerstreut war. Ständig verlor und verlegte er Dinge - seine Schlüssel, seine Brieftasche, wichtige
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Papiere, selbst die Notizen für seine Predigt, seine Frau erwähnte einmal, dass bei solchen Vorkommnissen sie und ihr Mann immer niederknieten und zu Gott beteten, dass er ihnen helfen solle, den verlorenen Gegenstand wiederzufinden. Damals erschien mir das vollkommen absurd: Wie konnte sich Gott mit solchen Trivialitäten abgeben? Später dachte ich, dass es auch nicht absurder war als die Annahme, Gott könne sich um Angelegenheiten bekümmern, welche für uns sehr viel größeres Gewicht hatten - betrachtet von jenseits der fernen Sternennebel würde (sagen wir) das Schicksal der Nation nicht weniger banal erscheinen als die verlorenen Schlüssel des Pastors. Der Glaube geht davon aus, dass Gott beides mit Aufmerksamkeit verfolgt. Julian von Norwich hat vielleicht mehr als irgendeine andere Person in der langen Geschichte der christlichen Mystik das Prinzip vertreten, dass das Wesen Gottes die Liebe ist. Deswegen bezeichnete sie Gott als Mutter (nicht so sehr aus den Gründen, derentwegen sich der moderne Feminismus für Julian interessiert hat). Sie war eine Art Nonne, obwohl sie offenbar allein lebte, als Einsiedlerin. Im Jahre 1 3 7 3 hatte sie eine Reihe von Visionen, die sie showings nannte, Zeigungen. Sie schrieb sie später in einer längeren und einer kürzeren Version nieder. Einfach sind sie nicht zu lesen. Ein moderner Leser hat Schwierigkeiten, sich in ihre mittelalterliche Weltanschauung zu versetzen, und er wird sich fragen, welche psychologischen Voraussetzungen ihre Erlebnisse gehabt haben mögen. Trotzdem ist es möglich, diese modernen Schwierigkeiten beiseite zu lassen und zu würdigen, was sie zu sagen versuchte. Und alles, was sie sagt, hängt mit ihrer Auffassung von Gott als der Liebe zusammen. Ihre erstaunlichste „Zeigung" ist die folgende: „Er zeigte mir etwas Kleines, nicht größer als eine Haselnuss, das auf meiner Handfläche lag, und ich sah, dass es rund war wie nur je eine Kugel. Ich schaute es an und dachte: Was kann es sein? Und ich erhielt die allgemeine Antwort: Es ist alles, was geschaffen wurde. Ich war erstaunt, dass es fortdauern konnte, denn ich dachte, dass es so klein war, dass es plötzlich ins Nichts fallen könnte. Und ich erhielt die Antwort in meinem Verständnis: Es dauert und wird immer dauern, weil Gott es liebt, und so hat alles ein sein durch die Liebe Gottes." Es ist, als habe Julian in dieser Vision das ganze Universum so gesehen, wie Gott es sehen muss - unendlich klein, nicht größer als eine Haselnuss. Und sie verstand, dass es jeden Augenblick ins Nichts fallen könnte, würde es nicht von einer unendlichen Liebe bewahrt. Trotzdem war Julian tief beunruhigt durch Sünde und Leid in der Welt und durch das, was sie als die überall anzutreffende Macht des Teu-
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fels sah. Sie fand die Antwort auf diese Beunruhigungen in dem Abschnitt ihrer Schriften, der am häufigsten zitiert wird: „Und so antwortete unser guter Herr auf all die Fragen und Zweifel, die ich vorbringen konnte, und sagte auf das tröstlichste: Ich mag alle Dinge gut machen, und ich kann alle Dinge gut machen, und ich werde alle Dinge gut machen, und ich will alle Dinge gut machen, und du wirst selbst sehen, dass jegliche Art von Dingen gut sein wird." Es ist vielleicht kein Zufall, dass dieser Abschnitt sich wie ein Kinderschlaflied liest. Es sind dies genau die Worte, die eine Mutter gebrauchen würde, um ein weinendes Kind zu beruhigen, heute wie im England des vierzehnten Jahrhunderts: „Es wird alles gut, es wird alles gut." Gott spricht zu Julian mit Worten der mütterlichen Liebe, und indem er dies tut, verleiht er den beruhigenden Beteuerungen jeder menschlichen Mutter ihre letzte Gültigkeit. Ein wenig später folgt ein sehr bewegender Abschnitt, in dem Julian sich Gedanken über das Schicksal des Teufels macht und all derer, die der Verdammnis anheim gefallen sind: Wie können alle Dinge gut sein, wenn jene in alle Ewigkeit in der Hölle sind? Es scheint, dass Julian gerne glauben würde, dass auch sie schließlich von Gottes Liebe umfangen werden (dies ist die Doktrin der universellen Erlösung, der Apokatastasis) - doch als treue Tochter der Kirche sollte sie dies nicht glauben: „Und da all dies so war, so schien es mir, dass es unmöglich sei, dass jegliche Art von Dingen gut sein würde, wie unser Herr mir zu der Zeit offenbarte. Und darauf bekam ich keine andere Antwort der Offenbarung durch unseren Herrn als dies: Was dir unmöglich ist, ist mir nicht unmöglich. Ich werde mein Wort in allem wahren, und ich werde alles gut machen." Man könnte sagen, dass Julian auf eine fast elegante Weise die Möglichkeit abweist, ihr Denken könne sie in die Ketzerei führen. Es lohnt sich, den letzten Abschnitt von Julians „Zeigungen" zu zitieren: „So wurde ich gelehrt, dass es die Liebe ist, was unser Herr meint. Und ich sah ganz gewiss in diesem und in allem, dass Gott, bevor er uns erschuf, uns liebte, und die Liebe ließ niemals nach und wird es niemals tun. Und in dieser Liebe hat er all seine Werke getan, und in dieser Liebe hat er uns alles ersprießlich gemacht, und in dieser Liebe ist unser Leben ewig. In unserer Schöpfung hatten wir den Anfang, aber die Liebe, in der er uns schuf, war in ihm von vor dem Anfang. In dieser Liebe haben wir unseren Anfang, und all dies werden wir sehen in Gott ohne Ende.
Kapitel Vier „... den Schöpfer des Himmels und der Erde." Die hebräische Bibel beginnt mit der lapidaren Aussage, dass Gott Himmel und Erde geschaffen habe, was bedeutet, dass alles, was uns als die Welt bekannt ist, von ihm erschaffen wurde; dass er nicht Teil dieser Welt ist, sondern - weil sie seine Schöpfung ist - , außerhalb ihrer steht. Selbst wenn man einmal das gewaltige Problem der Theodizee beiseite lässt, das im letzten Kapitel erörtert wurde, bleibt die große Frage: In welcher Beziehung steht Gott zur Welt? In der Begrifflichkeit des religiösen Denkens (nicht lediglich in der biblischen Tradition) ist dies die Frage nach Gottes Transzendenz und/oder Immanenz. Und diese Frage umfasst die weitere Frage nach der Beziehung der Menschen sowohl zu Gott wie zur Welt. Wie ich oben schon gesagt habe - wenn man in der Religionsgeschichte weit genug zurückgeht, stößt man in nahezu jeder Kultur auf etwas, das ich die mythische Matrix genannt habe, auf eine beinahe universelle Vorstellung also von der Kontinuität zwischen dem menschlichen Individuum, der menschlichen Welt (dem, was wir heute die Gesellschaft nennen würden, mit all ihren Institutionen), der biologisch-physikalischen Welt (dem, was wir Natur nennen) und der Welt der Geister und Götter (in unserer Ausdrucksweise: der übernatürlichen Welt). Dies ist eine Auffassung von der Realität, in der alle Grenzen fließend und durchlässig sind. Und es ist nicht nur eine Auffassung von der Welt im Sinne eines intellektuellen Konstrukts (obwohl es dies auch ist), sondern eine Form des Erlebens: Die Menschen, die in der mythischen Matrix existierten, begriffen nicht nur die Wirklichkeit als ein derartiges Kontinuum, sie lebten in einer solchen Wirklichkeit. Die Grenze zwischen dem Individuum und den anderen Menschen war fließend, insofern der einzelne Mensch nicht als scharf abgegrenztes Selbst erlebt wurde, sondern vielmehr als jemand, der mit allen anderen in einem bestimmten Kollektiv (dem Clan, dem Stamm) eng verbunden war und ebenso mit der nichtmenschlichen Umwelt dieses Kollektivs (hier könnte man beispielsweise an die Beziehung der amerikanischen Indianer zu ihren Totemtieren denken). Gesellschaftliche Institutionen wurden so verstanden, dass sie die Menschen mit einer umfassenden kosmischen Ordnung zu verbinden
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hatten. Was wir als übernatürliche Kräfte sehen würden, die Götter eingeschlossen, griff ständig in die alltägliche Menschenwirklichkeit ein und durchdrang sie. Man kann sich streiten, ob die mythische Matrix die Menschen glücklicher machte, als sie es heute sind, aber gewiss waren sie weniger einsam. Das Leben des Individuums entfaltete sich innerhalb einer klar vorgegebenen Ordnung, innerhalb derer die Wahlmöglichkeiten des Individuums scharf begrenzt waren durch das, was man als sein Schicksal begriff. Man sollte die Einheitlichkeit früher Kulturen nicht übertreiben, doch gibt es eine Fülle von Material, das die Universalität dessen belegt, was Eric Voegelin in seinem ehrgeizigen philosophiegeschichtlichen Versuch, dem mehrbändigen Werk Order and History, „kosmologische Zivilisationen" genannt hat - allesamt gekennzeichnet durch die erwähnte Kontinuität. Solche archaischen Zivilisationen erstreckten sich von China über Indien und den Nahen Osten und die Küsten des Mittelmeers bis nach Mesoamerika, und alle beruhten auf der Grundlage präliterarischer (wenn man so will: „primitiver") Kultur. Einfach gesagt: Der Ursprung der Menschheitsgeschichte ist mythisch gesättigt - weshalb der Begriff „Matrix" wohl angemessen ist. In all den eben erwähnten Zivilisationen (mit der möglichen Ausnahme Mesoamerikas) fand schließlich das statt, was Voegelin „Seinssprünge" nennt, das heißt: Brüche im menschlich-kosmischen Kontinuum. Neue Grenzen und Unterscheidungen tauchten auf. Dies bedeutete unvermeidlicherweise auch, dass die Menschen sich stärker vereinzelten oder, was auf dasselbe hinausläuft, in stärkerem Maße Individuen wurden. Um es wieder ganz einfach zu formulieren: Die menschliche Individualität entsteht aus dem Zusammenbruch der mythischen Ordnung. Und damit tritt auch eine neue Suche nach dem Sinn des Lebens auf. Die Brüche der mythischen Ordnung nahmen in verschiedenen Weltteilen verschiedene Gestalt an - beispielsweise im Konfuzianismus in China, im Buddhismus und im Vedanta in Indien. Was schließlich zur westlichen Zivilisation wurde, wurzelte in zwei Brüchen, die sich unabhängig voneinander an gegenüberliegenden Küsten des Mittelmeers ereigneten, im alten Griechenland und im alten Israel. Voegelin nennt sie die Entdeckung der Vernunft und die Entdeckung Gottes. Es war die Leistung des Christentums, diese beiden Ströme der Erfahrung und des Denkens ineinander zu leiten. Diese Leistung benötigte Jahrhunderte, um zu ihrer Blüte zu gelangen, aber der Anfang des Johannesevangeliums deutet bereits darauf hin, weil dort der hellenische Begriff vernünftiger Ordnung, logos, mit dem in Christus inkarnierten biblischen Gott in eins gesetzt wird. Wenn man dies als große Leistung bezeichnet, so ist dies zunächst die Einschätzung des Historikers und nicht unbedingt eine Billigung des Vor-
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gangs. Doch die vielen Kritiker, welche die „Entfremdung" des modernen Menschen beseufzt und dann der jüdisch-christlichen Tradition die Schuld daran zugeschoben haben, haben zumindest teilweise Recht. Wenn man die „Entfremdung" nicht schätzt, dann kann man berechtigterweise die Juden und Christen für sie verantwortlich machen (obwohl man bedenken muss, dass die Griechen eine Mitschuld tragen). Ich möchte rasch hinzufügen, dass ich das historische Argument für richtig halte, aber in die Klagen nicht einstimme: „Entfremdung" ist die Voraussetzung nicht nur von Individualität, sondern auch von jeglicher Freiheit, wenn dieser Begriff einen Sinn haben soll. Und das zu beklagen bin ich nicht bereit. Natürlich können wir hier nicht Voegelin in die Verästelungen der Philosophiegeschichte folgen. Kehren wir stattdessen zurück zur biblischen Version des großen Bruches, jenes Bruchs, der sich bereits in der Aussage findet, dass Gott die Welt erschaffen hat - was seine Transzendenz voraussetzt und damit das mythische Kontinuum negiert. Die Bibelwissenschaftler sind in unzähligen Dingen uneins, aber in einem Punkt sind sich die allermeisten einig: dass selbst die frühesten Schichten der israelitischen Religion einen deutlichen Unterschied zu allen anderen Kulturen des frühen Nahen Ostens zeigen. All diese anderen waren „kosmologisch", im Sinne Voegelins, was bedeutet, dass die Götter sowohl die natürliche Welt wie die der Gesellschaft durchdrangen. Die sakrale Sexualität brachte diese Durchdringung am markantesten zum Ausdruck: Dieselben heiligen Energien durchpulsten die menschliche Fruchtbarkeit und die der Natur, und diese Energien waren direkt erfahrbar durch Institutionen wie die Tempelprostitution und das orgiastische Ritual. Die Sprecher des Gottes Israels aber, Priester wie Propheten, eiferten gegen all diese Praktiken und gegen die ihnen zugrunde liegende Wirklichkeitsauffassung, und es war Israel verboten, irgendetwas mit ihnen zu tun zu haben. Ich glaube, es wäre falsch, darin so etwas wie einen repressiven „Puritanismus" zu sehen - die Ablehnung galt nicht der Sexualität als solcher, sondern der sakralen Sexualität. Wenn es um die gewöhnliche - sagen wir: die säkulare - Sexualität ging, dann waren die alten Israeliten (was manch ein Halbwüchsiger bestätigen kann, der mit roten Ohren nach den interessanten „Stellen" des Alten Testaments gesucht hat) recht freizügig. Wie dem auch sei, der Gott Israels war nicht durch die natürlichen Rhythmen der menschlichen Sexualität oder der Natur zu erreichen. Die Beziehung zwischen Gott und Israel bestand vielmehr in einem Bund - einem Vertrag mit ganz bestimmten Pflichten und Rechten der menschlichen „Unterzeichner". Dieser Vertrag hatte seinen Ursprung eben nicht in der Natur, sondern in der Geschichte - der Geschichte von Gottes Großtaten, insbesondere der Herausführung der Kinder Israel aus Ägyptenland, der Offenbarung der Gebote auf dem
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Sinai und der Überlassung des verheißenen Landes. Kurz gesagt: Die Beziehung zwischen Gott und Israel war „unnatürlich" im buchstäblichsten Sinne des Wortes. Die Bibelwissenschaft hat gezeigt, in welchem Ausmaß Israel Ideen und Rituale aus den es umgebenden Kulturen übernommen hat, aber die Juden haben diese dann unweigerlich abgeändert, so dass sie zur höchst eigenartigen Weltanschauung Israels passten. Um nur ein wichtiges Beispiel zu nennen: Das Laubhüttenfest (sukkot) ist fast mit Sicherheit aus einem alten semitischen Fruchtbarkeitskult abgeleitet, in dessen Vollzug die Menschen in Zelte zogen und die Fruchtbarkeit der Erde in Ritualen feierten, die - wie wir mit Sicherheit annehmen dürfen - nicht jugendfrei waren. Israel verwandelte dieses Fest in den Gedenktag für ein historisches Ereignis (das Leben in der Wüste nach dem Exodus aus Ägypten) und entfernte aus den Feierlichkeiten alle heilige Laszivität - hier ist leider für erregungssuchende Halbwüchsige nichts zu holen. Max Weber hatte Recht, wenn er diese Entwicklung als Rationalisierung sah: Wenn die Welt der Allgegenwärtigkeit übernatürlicher Kräfte entblößt wird, dann wird sie (zumindest der Möglichkeit nach) ein Ort für rationale Eingriffe des Menschen. Weber nannte diese Entwicklung auch „Entzauberung". Die mythische Matrix war eine verzauberte Welt - Weber sprach von einem „Zaubergarten"; Israel tat den Riesenschritt aus dem Zauber hinaus, mit Folgen, die durch all die Jahrhunderte seither nachhallen. Diese Entwicklung war schmerzhaft. Sie ist es immer noch. Die mythische Matrix ist unser aller „Heimatwelt", nicht nur hinsichtlich unserer historischen Ursprünge, auch im Hinblick auf die Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen. Die Kindheitswelt ist eine verzauberte Welt, und wir haben uns alle eine fortdauernde Sehnsucht nach ihr bewahrt. Wir können uns hier nicht mit der faszinierenden Tatsache auseinandersetzen, dass die Entwicklung des Bewusstseins wie jene des Organismus zu verlaufen scheint - auch hier scheint die Phylogenese die Ontogenese zu wiederholen (die Begriffe beziehen sich auf die eigenartige Art und Weise, in welcher der individuelle Organismus von der Zeugung an in seiner Entwicklung den Ablauf der biologischen Evolution zu spiegeln scheint). Wie auch immer - das Alte Testament selbst erzählt von dem fortdauernden Reiz vorisraelitischer Ideen und Gebräuche für die Juden, einem Reiz, dem zu erliegen von den Sprechern des Gottes Israels immer als „Abfall" gebrandmarkt wurde. Dieser Reiz hielt durch die ganze Geschichte an, bis in unsere Tage (wo er sich in Phänomenen wie der so genannten New-Age-Spiritualität verkörpert). Man könnte von der ewigen Wiederkehr der mythischen Matrix sprechen oder man könnte sagen, dass die Baalim des alten Kanaan immer noch gegenwärtig sind (und sie
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können, im Widerspruch zu den Behauptungen des Feminismus, beiderlei Geschlechts sein - Muttergottheiten haben kein Monopol auf den Anspruch mythischer Restauration). Die mächtige Anziehungskraft der mythischen Matrix ist nicht schwer zu erklären - sie liegt im Versprechen einer Erlösung aus der vereinzelten Existenz und einer Wiederherstellung des warmen, allumfassenden Zugehörigkeitsgefühls, des Zuhauseseins in der Wirklichkeit. Das ist kein falsches Versprechen. Es lässt sich einlösen. Man muss aber darauf hinweisen, dass dies um den Preis des Verzichts auf Individualität und Freiheit geschieht. Ich wiederhole: Die biblische Wirklichkeitssicht stellt uns einen Gott vor, der jenseits der Natur ist, und der Mensch ist insofern „zum Bilde Gottes" geschaffen, als er eben dieses unnatürliche Wesen teilt. Anders ausgedrückt - die Natur ist in keiner Weise normativ. Beziehungsweise: Wenn etwas natürlich ist, bedeutet dies keineswegs, dass es Anspruch auf moralische Zustimmung hätte (ein Punkt, der im vorangegangenen Kapitel im Zusammenhang der Theodizee berührt wurde - welche es ablehnt, den Tod deshalb zu akzeptieren, weil er ein natürliches Ereignis ist). Die Menschen sind selbstverständlich Teil der Natur, insofern sie biologische Organismen und Ergebnisse biologischer Evolution sind. Doch es gibt im Menschen ein wesentliches Element, man nenne es, wie man will, das die Natur transzendiert. Es ist jenes Element, das den Kern der Individualität darstellt, das den frei Handelnden ausmacht und den, der im Besitz von Rechten ist. Die Philosophen haben seit Jahrhunderten über die Beziehung zwischen den natürlichen und den meta-natürlichen Anteilen an der menschlichen Existenz debattiert, wie etwa in den endlosen Auseinandersetzungen über das Leib-Seele-Problem. Auch dies ist ein weites Feld, auf das wir uns hier nicht wagen wollen. Es mag hinreichen, zu sagen, dass die biblische Wirklichkeitssicht zwei miteinander zusammenhängende, aber unterschiedliche Grenzen zieht: zwischen Gott und der Natur und zwischen dem Menschen und der Natur. Hier geht es uns um die erste Grenzlinie. Ich möchte noch einmal betonen, dass dies nicht lediglich (oder auch nur in erster Linie) eine theoretische Frage ist, die Philosophen und Theologen zu verhandeln hätten. Es ist auf grundsätzlichere Weise eine Frage gelebter Erfahrung: Wie archaische Menschen die Welt als mythische Matrix erlebten, so werden Individualität, Freiheit und Entfremdung im Leben zahlloser gewöhnlicher Menschen auf der anderen Seite der großen historischen Bruchlinien erfahren. Einerseits stellt sich die Welt in biblischer Sicht als Gottes Schöpfung dar. Andererseits schließt diese Sichtweise eine realistische Wahrnehmung des Schmerzes und der Endlichkeit in der natürlichen Ordnung der Dinge nicht aus. Dieser Realismus muss der Grund dafür gewesen sein, dass das Buch des Predigers Salomo in den Kanon des Alten Testaments aufge-
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nommen wurde, ein Text, in welchem die menschliche Existenz in nahezu reiner Verzweiflung abgebildet wird: „Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel." Und es folgt der melancholische Gedanke: „ M a n gedenkt nicht derer, die zuvor gewesen sind; also auch derer, so hernach kommen, wird man nicht gedenken bei denen, die darnach sein werden." Dies ist eine Sichtweise, die von der tröstlichen Ordnung der mythischen Matrix sehr fern ist. Die Götter sind weit weg, wenn sie überhaupt existieren, und selbst der Gott Israels bietet keine einfachen Tröstungen dar. Ist Gott also ganz und gar transzendent, lassen sich keine Spuren seiner Gegenwart in der geschaffenen Welt finden? Es gibt auf diese Frage eine positive Antwort in verschiedenen Versionen des Dualismus - bis zurück zur dualistischen Weltanschauung der zoroastrischen Lehre (die sich interessanterweise jahrhundertlang im religiösen Bewusstsein des Iran hielt, auch nach der Bekehrung zum Islam). In der Geschichte des Christentums ist die klassische Ausdrucksform dieses Dualismus die Gnosis, für welche diese Welt vollkommen leer von allem Guten war, die Schöpfung eines bösen Gottes - den guten Gott konnte man nur erreichen, wenn man die Welt ganz und gar hinter sich ließ. In weniger radikalen und stärker orthodoxen Varianten überdauert diese Weltsicht in verschiedenen asketischen Bewegungen in der westlichen wie der östlichen Christenheit. Und man könnte behaupten, dass der Calvinismus mit seiner radikalen Betonung der Transzendenz Gottes eine gewisse Affinität zu einem derartigen Dualismus besitzt (was sich in seiner tiefsitzenden Leibfeindlichkeit ausdrückt). Doch stehen alle diese Ansätze in starkem Spannungsverhältnis zur grundlegenden Bekräftigung der Bibel, dass diese Welt Gottes Schöpfung ist. Der Schöpfungsbericht im ersten Kapitel des Buches Genesis endet mit dem Satz: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut." Wäre es möglich, dass von diesem göttlichen Guten in der erschaffenen Welt nichts mehr übriggeblieben ist? Oder muss es nicht eher irgendeine Möglichkeit geben, Gottes Transzendenz in Einklang mit einer Anerkenntnis seiner fortdauernden Immanenz in der Welt zu bringen? In den drei großen monotheistischen Traditionen hat es - stets in einem gewissen Widerspruch zu den offiziellen Hütern dieser Traditionen zwei Hauptwege gegeben, die Immanenz Gottes zu denken und (so hören wir) zu erleben. Der erste Weg war es, Gott in den Tiefen des menschlichen Selbst zu finden. Dies ist natürlich der Weg der Innerlichkeit, der für die meisten der großen Mystiker charakteristisch ist. Der andere Weg findet Gott in den Wundern der Natur. Und diese Feier der Immanenz ist für das Thema dieses Kapitels von größerer Bedeutung.
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In der Geschichte des Christentums war eine der eindrucksvollsten derartigen Lobpreisungen der Immanenz Gottes in der Natur die des Franziskus von Assisi, dessen Visionen 1224 begannen. Diese Feier Gottes in der Welt wird beredt in seinem berühmten Sonnengesang zum Ausdruck gebracht, einer wunderbaren Hymne auf Gottes Gegenwärtigkeit in der Natur. Franziskus spricht die Sonne und den Wind als Brüder an, den Mond als Schwester, und so fort durch die Wunder der Natur, die alle als Zeichen der Gegenwart Gottes gefeiert werden. Auf dieselbe Weise soll Franziskus den Tieren gepredigt haben, die ebenfalls als Mitverehrer der Glorie Gottes in der natürlichen Welt gesehen werden. Es ist wichtig, dass man Franziskus zwar als Mystiker beschreiben kann, dass er aber von jenen Mystikern weit entfernt ist, die (wie sein Zeitgenosse Meister Eckhart) den Anspruch erheben, die Vereinigung mit Gott zu erleben. Er identifiziert die Natur auch nicht mit Gott. Vielmehr lobt er Gott für und durch die Wunder der Natur (beides ist in dem Wort per enthalten, das er in seinem mittelalterlichen Italienisch benutzt). Man kann zwischen jenen religiösen Denkern unterscheiden, welche die Einheit von Gott und Welt betonen, und jenen anderen, welche den Unterschied hervorheben. Ewert Cousins, ein bedeutender Historiker der franziskanischen Bewegung, hat vorgeschlagen, den Ansatz des heiligen Franziskus als „Einheit im Unterschied" zu formulieren. Der Begriff ist nicht besonders elegant, aber er hilft, zu klären, was Franziskus wollte. Cousins beschreibt es sehr beredt: „Wir können die franziskanische Erfahrung von Gottes Widerspiegelung im Universum mit der Erfahrung vergleichen, die man im Inneren einer gotischen Kathedrale hat. Das Sonnenlicht strömt in leuchtenden Farben durch die großen Glasfenster. Die Kathedrale ist von Blau und Rot, Grün und Gelb in subtilen Mustern erhellt - ein Kaleidoskop aus Farben und Formen. Die Fensterrosen und die Spitzbogenfenster des Schiffs und der Apsis glühen von einem Überschwang der Farben, der gleichzeitig harmonisch ist wie eine Symphonie. Ähnlich sah Franziskus Gott in den Geschöpfen reflektiert: in Bruder Sonne und Schwester Mond, in Bruder Feuer und Schwester Wasser, in der Kraft des Wolfes und der Sanftheit der Taube. Die Fruchtbarkeit Gottes enthüllt sich in der Vielfalt der Geschöpfe - von der Größe der Himmel zur Einfachheit einer Fliege. Die reinen Strahlen der Gottheit durchdringen das Universum, das wie ein Prisma das Licht in Myriaden von Farben bricht." (Cousins, Bonaventure and the Coincidence of Opposition, S. 46) Bonaventura, ebenfalls ein Italiener, wurde kurz vor der entscheidenden Vision des Franziskus geboren und soll als Kind von einer schweren
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Krankheit durch ein von Franziskus bewirktes Wunder geheilt worden sein. Wie dem auch sei - Bonaventura trat an die Spitze des neuen franziskanischen Ordens und wurde ein wichtiger Lehrer an der Universität Paris. Er versuchte, aus dem franziskanischen Erleben ein komplexes theologisches System zu entwickeln - das dann über seine Lebenszeit hinaus großen Einfluss hatte. Ein entscheidendes Element dieser Theologie war eine Integration der Vorstellungen von Gottes Transzendenz und Immanenz, eine Integration, die Cousins' Ansicht zufolge in der Idee der „coincidentia oppositorum", des Zusammenfallens der Gegensätze, ihren Mittelpunkt hat. Der Begriff wurde eigentlich später von Nikolaus von Kues (Cusanus) geprägt, doch Cousins hält Bonaventura für die ursprüngliche Quelle dieser Vorstellung - viele Züge von Bonaventuras System lassen sich bis zum Neoplatonismus zurückverfolgen, aber diese geistesgeschichtlichen Einzelheiten brauchen uns hier nicht zu beschäftigen. Bonaventuras Denken war zutiefst trinitarisch - voller Spekulationen über die Beziehungen zwischen den drei Personen der Trinität. Der Vater gilt als der Ursprung von allem, eine unendliche Quelle der Fruchtbarkeit (fontalis plenitudo). In den Beziehungen zwischen ihm und den anderen beiden Personen der Trinität war diese unendliche Fruchtbarkeit bereits lange vor der Erschaffung der Welt tätig, welche nach Bonaventura vorwiegend ein Werk Christi ist, der zweiten Person. Ewert Cousins hat sehr engagiert versucht, die Relevanz dieser Spekulationen für die Moderne nachzuweisen, und hat sie in Verbindung mit solchen Denkern wie Α. N. Whitehead und Teilhard de Chardin gebracht. Diese Argumente finde ich nicht sehr zwingend, und es ist ohnehin heute nicht leicht, wirklich in Bonaventuras Diskurs einzudringen. Man muss jedoch seiner Dreieinigkeitstheologie nicht zustimmen, um seine entscheidende Aussage zu erfassen: dass die Fruchtbarkeit Gottes in seiner gesamten Existenz wurzelt und der Schöpfung vorausgeht - der Schöpfung, die für Gott keine Notwendigkeit darstellt, die aber eine Folge seiner unendlichen Fruchtbarkeit ist. Alle erschaffenen Dinge sind schon von Ewigkeit an in Gottes innerem Wesen gegenwärtig. Alles, eine jede Einzelheit der Welt und jedes Lebewesen in ihr eingeschlossen, existiert schon im voraus als „Urbild" (exemplar) im Bewusstsein Gottes. Die erschaffene Welt ist voll der „Spuren" (vestigia) dieser Urbilder - schwachen Spiegelungen der göttlichen Fülle sozusagen. So formuliert es Bonaventura in zwei Abschnitten seines Hauptwerks Der Weg der Seele zu Gott: „Was den Spiegel der durch die Sinne wahrgenommenen Dinge angeht, so können wir Gott nicht allein durch diese Dinge hindurch erkennen als durch seine Spuren, sondern auch in ihnen, da er kraft seines Wesens, seiner Macht und Ge-
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genwart in ihnen da ist." Und ferner: „Alle Kreaturen der Sinneswelt ... sind Schatten, Echos und Abbilder des ersten, mächtigsten, weisesten und vollkommensten Prinzips, jenes ewigen Ursprungs, Lichtes und Reichtums, jener wirksamen, vorbildlichen und ordnenden Kunstfertigkeit. Sie sind Spuren, Abbildungen, Schauspiele, die uns vorgestellt werden, gottgegebene Zeichen, damit wir Gott erkennen mögen." (Nach Cousins' Übersetzung, S. 75f. - Hervorhebung von mir.) „Gottgegebene Zeichen" - ich glaube, diese Formulierung drückt Bonaventuras Auffassung der Beziehung zwischen Gott und Welt knapp und präzise aus. Und wir können ihm bei seinem Versuch folgen, Gottes Transzendenz und Immanenz miteinander auszusöhnen - folgen auch über die für uns seltsam klingende Metaphysik hinaus, welche die Formulierung umschließt. Wir können uns vielleicht in der Phantasie in die italienische Landschaft der Lebenswelt Bonaventuras stellen - etwa an den Strand des Comer Sees, der, wie ich schon einmal vorgebracht habe, bereits in sich ein Argument für die Existenz Gottes ist. Diese Landschaft ist nicht Gott, und wir können nicht durch irgendeine romantische oder mystische Versenkung in die Landschaft mit Gott eins werden. Gott transzendiert die Welt und alle ihre Wirklichkeiten. Und wir dürfen auch nicht das Entsetzliche vergessen, das unter und hinter der Landschaftsschönheit lauert - das Entsetzliche, das wir im letzten Kapitel betrachtet haben. Tiere leiden und sterben überall in der Landschaft, ganz abgesehen von dem Furchtbaren, das der Mensch über die Jahrhunderte hinweg in ihr und um sie her angerichtet hat. Und doch, und doch - wir betrachten die Szene und wir erkennen, ganz präzise, „gottgegebene Zeichen". Zeichen wofür? Die Antwort ist offensichtlich: Zeichen für Gottes Gegenwart in seiner Schöpfung. Eine uns nähere Ausdrucksweise für diese Idee wäre es, wenn man sagte, die Welt sei sakramental. Das anglikanische Gebetbuch definiert ein Sakrament als „ein sichtbares Zeichen einer unsichtbaren Gnade". Die Formulierung bezieht sich natürlich auf die beiden klassischen christlichen Sakramente der Taufe und des Abendmahls. Sie mag jedoch auch auf die Zeichen der Gegenwart Gottes in der sichtbaren empirischen Welt bezogen werden. Die Geschichte des Christentums kennt viele Beispiele eines solchen sakramentalen Denkens. Doch wäre daran zu erinnern, dass das Problem, Gottes Transzendenz und Immanenz miteinander zu vereinbaren, nicht ein ausschließlich christliches ist. Die beiden anderen monotheistischen Traditionen teilen es. Von den dreien hat der Islam, könnte man wohl sagen, an der radikalsten Vorstellung von der Transzendenz Gottes festgehalten (zumindest teilweise in Opposition zur christlichen Inkarnationslehre, wie er sie wahrnahm). Und doch gibt es
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einen muslimischen Satz, der sagt, Gott sei uns so nahe wie die Zirbeldrüse. Das hebräische Original des ersten Satzes im Buch Genesis setzt das Wort „Himmel" in den Plural - shamaim, „die Himmel". Zweifellos hatte der alte Verfasser dieses Textes eine Kosmologie im Sinn, die uns auf dem Hintergrund der modernen Wissenschaft nicht mehr überzeugen kann eine Art dreischichtiges Universum: die Erde in der Mitte zwischen einer oberen Region, bewohnt von verschiedenen Geistwesen, und einer Unterwelt, wo die Toten eine Schattenexistenz führen (möglicherweise in Gesellschaft unheimlicher Dämonen). Ich glaube nicht, dass der Unterschied zwischen dieser Kosmologie und der unseren für uns problematisch sein sollte, jedenfalls nicht im Hinblick auf die Auffassung von Gott als dem Weltenschöpfer. Für den biblischen Autor wie für uns ist die Erde nicht die einzige Welt. Es gibt viele Welten. Entscheidend ist es, dass Gott sie alle geschaffen hat - Gott hat alles geschaffen, was ist. Doch die Erde, die Welt der menschlichen Existenz, ist der Ort eines ganz bestimmten Dramas der Erlösung, in welchem - für den Autor der Bibel Gottes Offenbarung an Israel eine zentrale Rolle spielte. Wiederum lässt es sich nicht bestreiten, dass der Anblick des Universums, den uns die moderne Astronomie enthüllt hat, zu einem anderen Gefühl von der Menschenwelt führt, als es frühere Generationen erfüllte - selbst jene, die uns zeitlich viel näher standen als die Menschen des alten Nahen Ostens. Pascal hat in einem berühmten Satz gesagt, der Mensch sei eine Mitte zwischen dem Nichts und dem All. Die beiden Extreme dieses angenommenen Kontinuums haben sich seit Pascals Zeiten unermesslich mit Extremität aufgeladen. Die Astronomie hat uns ein Universum eröffnet, in dem unsere Erde und ihr Sonnensystem Staubkörnchen sind - ein Universum von Galaxien und Supergalaxien, explodierenden Sternen, schwarzen Löchern, Dunkelmaterie, ein Universum mit Zeit- und Raumdimensionen, die zwar mathematisch beschreibbar sind, die Möglichkeiten der menschlichen Vorstellungskraft aber weit hinter sich lassen. Hier deutet sich wirklich Unendlichkeit an. Und am anderen Ende, da, wo der Übergang ins Nichts stattzufinden scheint, liegt die mysteriöse Welt der subatomaren Teilchen, die sich auf eine so eigenartige Weise bewegen, dass sich selbst hartgesottene Physiker gezwungen sahen, dafür Ausdrücke aus der Poesie und der Mystik heranzuziehen eine Welt, diesmal unendlich klein, die im Körper jedes Menschen existiert. Ich bin mir nicht sicher, ob es diese moderne Kosmologie einfacher oder schwieriger macht, an Gott als den Schöpfer zu glauben. Die Empfindung menschlicher Bedeutungslosigkeit und Verletzlichkeit mag für einen Nomaden nachts in der Wüste unter den Sternen ebenso stark ge-
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wesen sein wie für einen heutigen Menschen nachts am Teleskop (vielleicht sogar stärker, da die Chancen des Nomaden, die Nacht zu überleben, deutlich geringer waren). Am Eingang des Planetariums im Museum of Natural History in New York sieht man eine riesige Kugel, welche das uns bekannte Universum darstellt. Daneben ein kleines Kügelchen, welches für das Sonnensystem steht. Letzteres scheint tatsächlich fast ins Nichts überzugehen. Um die große Kugel herum ist auf einer ebenso riesigen kreisförmigen Platte die Chronologie des Universums verzeichnet - von ihrem Beginn im vermuteten „Urknall" bis zum Beginn unserer Galaxis und unseres Sonnensystems, dem Anfang der biologischen Evolution auf der Erde, dem Auftreten der menschlichen Spezies und dem Anfang der geschichtlichen Überlieferung. Selbst die beiden letztgenannten Ereignisse zusammen sind fast unsichtbar, so unbedeutend sind sie in der Chronologie des Universums. Und all dies bezieht sich lediglich auf das uns bekannte Universum, welches die moderne Wissenschaft erforscht, doch jenseits dieses Universums tut sich die Frage nach anderen Universen auf, die hinter oder neben dieser riesigen Zusammenbündelung von Galaxien liegen mögen. Diese Frage wurde von zeitgenössischen Physikern aufgeworfen, welche die Geheimnisse der Dunkelmaterie untersuchen, doch ist sie unter den metaphysischen Spekulationen der Menschheit keineswegs neu. Ein hochverehrter Text des Mahayana-Buddhismus, Die heilige Lehre des Vimalakirti, beginnt mit einer Art Versammlung von vielen Hunderttausenden von Göttern und Bodhisattvas - und ein jeder vertritt ein eigenes Universum (oder Buddha-Feld). Die Vorstellung von vielen Welten, viel mehr als das eine uns bekannte physikalische Universum, hat im indischen Denken eine lange Geschichte - wie auch die Idee immenser Zeitzyklen, in denen die menschlichen Geschehnisse kaum wahrnehmbare flüchtige Augenblicke sind. Die riesige Weite von Raum und Zeit löst, ob man sich ihr über die moderne Wissenschaft oder die indische Metaphysik nähert, leicht ein Gefühl der Ehrfürchtigkeit aus. Dieses Gefühl ist sicherlich vereinbar mit der Vorstellung, dass hinter dieser unermesslichen Weite eine kosmische Intelligenz zu finden ist, welche sie entworfen hat und sie möglicherweise auch zu einer Art Höhepunkt oder Erfüllung hinlenkt (obgleich sich derartige Vorstellungen nicht zwingend aus dem Ehrfurchtsgefühl ergeben). Die Religionsgeschichte Indiens zeigt, dass man mit Gewinn über diese endlose Weite meditieren kann, vielleicht mit dem Ergebnis einer tröstlichen Gelassenheit. Meditation aber ist eines - Gebet etwas ganz anderes. Ich kann mir ohne große Schwierigkeiten vorstellen, dass das Universum - tatsächlich jede beliebige Zahl möglicher Universen - einer immensen Intelligenz zuzuschreiben ist, die über ihre Schöpfung wacht, und ich
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kann mir sogar vorstellen, dass diese Intelligenz jene Qualitäten besitzen muss, die wir mit einer Persönlichkeit verbinden. Was viel schwerer fällt, ist die Vorstellung, diese kosmische Intelligenz könne irgendein Interesse am Schicksal menschlicher Wesen nehmen - von meinem eigenen ganz abgesehen. Ich möchte es so formulieren: Wenn ich die fernen Sternennebel betrachte, wie kann ich es über mich bringen, zu betenf Ich bezweifele stark, dass es eine intellektuell befriedigende Antwort auf diese Frage geben kann. Wo auch die fernsten Fernen des Universums liegen mögen - in der menschlichen Lebenswelt mit all ihrer erbärmlichen Begrenztheit muss ich wählen zwischen einer Bekräftigung eines letzten Sinns oder der Ergebung in eine letzte Sinnlosigkeit. Wenn ich den ersteren noch einmal bekräftige, dann kann ich nicht anders, als zu der ursprünglichen Entscheidung des Glaubens zurückkehren - Glauben an die Gültigkeit der Freude, Festhalten an den „gottgegebenen Zeichen", die ich einmal flüchtig erblickt habe und die ich im Gedächtnis bewahre.
Kapitel Fünf „Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn ..." Wenn man vom ersten zum zweiten Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses übergeht, verändert sich das theologische Terrain: man verlässt den gemeinsamen Bezirk der drei großen monotheistischen Traditionen und befindet sich jetzt auf spezifisch christlichem Grund. Tatsächlich ist man direkt bei dem „Skandalon" des christlichen Glaubens angelangt, wie bereits der Apostel Paul es nannte: der Bekräftigung des Glaubens an die Person Jesus. In jüdischer oder muslimischer Sicht kommt dies der Blasphemie gegen den einen Gott, den der erste Artikel bekräftigt, sehr nahe - oder es erfüllt bereits den Tatbestand einer derartigen Blasphemie. In der Sicht der süd- und ostasiatischen Traditionen ist es Ausdruck eines ganz und gar engen, quasi lokalpatriotischen Partikularismus. Was genau soll das denn sein, woran „ich glaube"? Gewiss nicht lediglich die Existenz von Jesus, einem Juden aus Nazareth. Dieser Jesus ist ein menschliches Individuum und als solches nicht Gegenstand des Glaubens, sondern der historischen Forschung - wie jeder andere Mensch, der in alten Zeiten gelebt hat. Wie alle Gegenstände der Geschichtswissenschaft lässt sich das Leben Jesu erforschen, mit allen Widersprüchen, Wahrscheinlichkeiten und Rätseln, die den Historiker plagen. Es hat keinen Sinn, zu sagen, man glaube an diese historische Figur - wenn man damit nicht einfach sagen will, man glaube, dass sie tatsächlich existiert habe (was kein ernsthafter Historiker je bestritten hat). Aber eine Aussage über einen derartigen Glauben ist dann kein Bekenntnis im religiösen Sinne, nur die Formulierung einer sehr starken Wahrscheinlichkeit. Die Bekräftigung des Glaubensbekenntnisses bezieht sich vielmehr auf die Verbindung des jüdischen Namens von Jesus, dem Mann aus Nazareth - Jeshua ha-Nosri - mit den seinem Namen zugeordneten Titeln: „Christus", „Gottessohn", „Herr". Die Bibelwissenschaftler und Theologen haben sich endlos über den exakten Ursprung und die genaue Bedeutung dieser Titel gestritten - „Christus", die griechische Übersetzung des hebräischen Begriffs „Messias", der Gesalbte; „Gottessohn", ein Ausdruck mit vielfältigen Wurzeln in der jüdischen Eschatologie; „Herr", möglicherweise ein Terminus aus der Welt der hellenistischen
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Religiosität. Wie auch die jeweilige Genealogie dieser Titel verlaufen mag, sie sprechen Jesus auf jeden Fall eine immense Bedeutung im Drama der Erlösung zu. Damit entsteht eine ebenso große Spannung zwischen dem Namen und den Titeln. Und diese Spannung führt zu einer scheinbar einfachen Frage, die jedoch außerordentlich komplizierte Verzweigungen hat: In welcher Beziehung steht der historische Jesus zu dem geglaubten Christus? Diese Frage war vom Anbeginn der christlichen Geschichte da; schon zu Lebzeiten Jesu, als dieser seine Jünger fragte: „Wer sagt ihr, dass ich bin?", und von den Anfängen der Gemeinde an, die auf Erden zurückblieb, nachdem er diese Welt verlassen hatte. Man könnte tatsächlich sagen, dass dies seither durch alle Jahrhunderte der christlichen Geschichte die Schlüsselfrage geblieben ist. Doch wuchs ihr eine neue Schärfe zu, als die moderne historische Wissenschaft entstand und sich mit ihrer kritischen Methodik auch auf das Neue Testament warf. Wieder und wieder führten sowohl im Leben der Bibelgelehrten (von denen viele zumindest in ihren Anfängen christliche Theologen waren) wie im Leben ihrer Leser diese von der historischen Wissenschaft aufgeworfenen Probleme zu Glaubenskrisen. Ich habe mich gelegentlich gefragt, wie ein Gynäkologe wohl in der Lage sein kann, den Geschlechtsverkehr zu vollziehen; ebenso könnte man sich fragen, wie der Wissenschaftler, der das Neue Testament erforscht, Christ sein kann. Es ist bemerkenswert, dass eine beträchtliche Zahl solcher Gelehrter gläubige Christen geblieben sind. Wer war der historische Jesus f Man lässt die moderne Suche nach dem historischen Jesus gewöhnlich mit dem Jahre 1778 beginnen, als Lessing aus dem Nachlass von Hermann Reimarus (kein Theologe, sondern Professor für orientalische Sprachen in Hamburg) einen Text veröffentlichte, der den Titel trug: „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolffenbüttelschen Ungenannten" - nachdem er schon 1774 und 1 7 7 7 Teile aus der großen Schrift des 1768 verstorbenen Reimarus Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes als Fragmente eines Wolffenbüttelschen Ungenannten publiziert hatte. Reimarus stellte Jesus als gescheiterten politischen Propheten dar, der in dieser Eigenschaft von den römischen Behörden hingerichtet wurde; der Leichnam sei von seinen Anhängern aus dem Grab gestohlen worden, die dann begannen, um den Toten herum einen Mythos zu konstruieren. Das Christentum wäre zu
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verstehen als die endlose Weiterspinnung dieses Mythos. Dies war ein radikaler Versuch der Entlarvung des Christentums. Viele Einzelheiten des Ansatzes von Reimarus sind im Hinblick auf spätere Forschungsergebnisse nicht haltbar, aber er bleibt wichtig, weil er mit so großer Entschiedenheit auf dem Unterschied zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens insistierte. Die historische Erforschung des Neuen Testaments blühte im ganzen neunzehnten Jahrhundert, vor allem an protestantischen Institutionen und im Kontext der liberalen Theologie. Die meisten dieser Anstrengungen dienten nicht wie bei Reimarus dem Zwecke einer grundsätzlichen Entlarvung des Christentums, sondern lediglich der Kritik an verschiedenen orthodox-christlichen Auffassungen. Man beabsichtigte, dem Glauben ein solides historisches Fundament zu sichern, auch wenn dies bedeutete, dass viele orthodoxe Lehrmeinungen des Protestantismus (und in der Tat aller wichtigen christlichen Konfessionen) aufgegeben werden mussten. Diesen Zeitraum nennt man heute gewöhnlich die „alte Suche" oder die „erste Suche" nach dem historischen Jesus. Es gab natürlich in dieser Zeit verschiedene widerstreitende Ansichten, aber es entwickelte sich doch ein breiter Konsensus, dass die orthodoxen Auffassungen von Jesus an der historischen Wissenschaft keine Stütze finden können. Über diesen Konsens ging der Theologe Martin Kahler in einem einflussreichen Werk hinaus: Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (1892). Kahler legte dar, dass wir den historischen Jesus gar nicht erkennen können, weil alle neutestamentlichen Berichte über ihn der Verkündigung des geglaubten Christus dienen. Der Glaube muss also unabhängig sein von den Ergebnissen der historischen Forschung. Es ist zweifellos richtig, dass alle die relevanten Texte Ausdruck des Glaubens sind. Selbst die synoptischen Evangelien sind keine Übungen in objektiver historischer Gelehrsamkeit - sie bringen besondere (und keineswegs einheitliche) theologische Sichtweisen zum Ausdruck. Diese simple Tatsache stellt die christlichen Theologen natürlich vor große Schwierigkeiten. Vor einigen Jahren hatte ich eine lange Unterhaltung mit einem bekannten protestantischen Theologen, der darauf bestand, die christliche Theologie könne sich nicht von der Geschichte trennen und müsse, jedenfalls so weit es Jesus betrifft, verwundbar durch die Ergebnisse historischer Forschung bleiben. Ich brachte meine Hochachtung vor dem Mut dieser Haltung zum Ausdruck, fügte aber hinzu, dass ich nicht erkennen könne, wie so etwas tatsächlich möglich sein solle. Dann sprachen wir über die Auferstehung Jesu. Mein Gesprächspartner sprach von den vielen Stellen im Neuen Testament, die sich auf dieses Ereignis bezogen. Damit hatte er natürlich Recht. Aber dann ließ er sich zu der doch
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recht erstaunlichen Behauptung hinreißen, die Auferstehung Jesu sei so gut dokumentiert wie nur irgendein Ereignis der alten Geschichte. Als ich wiederholte, dass keiner der Auferstehungsberichte einen objektiven Beweis darstelle, wurde er ärgerlich. Er fragte: „Was für ein Beweis würde Ihnen denn genügen?" Ich erwiderte: „Ein einziger Polizeibericht." Das war das Ende dieser Unterhaltung. Ein Wendepunkt in dieser dramatischen Auseinandersetzung zwischen Glauben und Vernunft kam im Jahre 1906, als Albert Schweitzer eine höchst kritische Darstellung der „Geschichte der Leben-JesuForschung" (wie das Buch dann ab der zweiten Auflage heißen sollte) unter dem Titel Von Reimarus zu Wrede veröffentlichte. Das Buch hatte überaus starken Einfluss. Schweitzer brachte vor, die Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts habe den historischen Jesus durch Modernisierung verfälscht, hauptsächlich durch eine Moralisierung seiner Botschaft, mit der diese für das moderne liberale Denken akzeptabel gemacht werden sollte. Jesus sei aber kein Morallehrer gewesen, sondern ein eschatologischer Prediger, der das Ende der Welt und die Errichtung eines übernatürlichen Königreiches, in dessen Mittelpunkt seine eigene Person stehen würde, in unmittelbarer Zukunft sah. Dieser historische Jesus jedoch ist für den christlichen Glauben im zwanzigsten Jahrhundert irrelevant. Wichtig ist für den modernen Christen der geistige Jesus in den Menschen. Auf seine Art kehrte Schweitzer zu Reimarus' Dichotomie zwischen Geschichte und Glauben zurück. Wenige Jahre, nachdem er diese zu seiner eigenen Befriedigung - und der vieler seiner Leser - vollzogen hatte, begann Schweitzer seine berühmte (und nicht unumstrittene) Laufbahn als ärztlicher Missionar in Afrika, unter Zurücklassung eines gewissen wissenschaftlichen Scherbenhaufens. Der Zeitraum zwischen 1906 und 1953 stellt für die Suche nach dem historischen Jesus eine Art Leerstelle dar, zumindest was die theologisch fruchtbare Suche angeht. Die Wissenschaft vom Neuen Testament arbeitete natürlich weiter, aber zumeist ohne Bezug auf direkte theologische Konstrukte. Schweitzer war erstaunlich erfolgreich gewesen. Zwei wichtige protestantische Denker des zwanzigsten Jahrhunderts waren besonders einflussreich in ihren Anstrengungen, den Christus des Glaubens vom Jesus der Geschichte zu trennen - Rudolf Bultmann, ein großer Neutestamentler, und Paul Tillich, ein systematischer Theologe. Wir werden gleich auf sie zurückkommen. Eine „neue Suche" oder „zweite Suche" wird oft ab 1953 datiert, als Ernst Käsemann einen Vortrag mit dem Titel „Das Problem des historischen Jesus" hielt (ausgerechnet vor einer Versammlung von einstigen Studenten Bultmanns - viele akademische Karrieren sind auf die schroffe Distanzierung von einem Lehrer gegründet!). Käsemann argumentierte,
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Bultmanns Skepsis hinsichtlich aller und jeglicher Rekonstruktionsversuche, was im Leben Jesu tatsächlich geschehen sei, sei allzu extrem. Gewiss müsse man in den Texten des Neuen Testaments Propagandadokumente sehen, doch könne der Historiker immer noch mit diesen Dokumenten arbeiten (und natürlich mit allen anderen relevanten Materialien, die er ausgraben kann - was oft buchstäblich zu nehmen ist, da die Archäologie hier eine zunehmend wichtige Rolle spielt), um den tatsächlichen Geschehnissen näherzukommen. In den folgenden Jahren erschien eine ganze Reihe von Werken über Jesus. Gelegentlich spricht man heute von einer „dritten Suche" nach dem historischen Jesus, deren Beginn in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts anzusetzen wäre - teilweise vorangetrieben von den erwähnten archäologischen Entdeckungen (etwa der Auffindung und Analyse der so genannten Qumran-Texte). Der Tenor dieser neuen Suche war es, Jesus enger in seinen jüdischen Kontext zu stellen. Dies ist, wie ich nicht eigens zu betonen brauche, für die christliche Theologie auch nicht besonders beruhigend. Diese ganze Literatur ist intellektuell faszinierend, doch verbietet es die Begrenztheit sowohl des hier zur Verfügung stehenden Raumes wie meiner Kenntnisse, auf ihre Einzelheiten einzugehen. Eines aber tritt sehr klar zutage: Es ist vergebens, von dieser Gelehrsamkeit irgendwelche definitiven Ergebnisse zu erwarten. (Dies ist in keiner Weise als Kritik gemeint. Historische Forschung ist niemals definitiv, da jede Generation der Forschung sich von neuem daran macht, die Werke ihrer Vorgänger zu zerlegen. Man denke zum Beispiel an die jahrhundertealte Debatte über die Gründe für den Verfall und Untergang des römischen Reiches.) Wir haben nunmehr fast ebenso viele Bilder von Jesus wie es über ihn arbeitende Gelehrte gibt. So hat man Jesus als eschatologischen Propheten gezeichnet (Ε. P. Sanders), als Propheten sozialer Veränderung (Gerd Theissen), als Exorzisten (Graham Twelftree), als „galiläischen Chassid" (Geza Vermes) und sogar als „bäuerischen jüdischen Zyniker" (John Dominic Crossan) - die spekulativeren psychoanalytischen, marxistischen und feministischen Interpretationen gar nicht zu erwähnen. Der Laie, der in diese Literatur eindringt, mag ihre intellektuelle Faszination verspüren, aber falls er deutliche Antworten sucht, wird er enerviert aufgeben müssen. Man könnte hier eine schlichte Wahrheit formulieren: Wer irgendeine Gewissheit sucht, religiös oder anderweitig, der erwarte sie nicht von den Historikern. Trotzdem gibt es ungeachtet vieler Widersprüchlichkeiten in einem Punkt einen fast vollständigen Konsensus in der einschlägigen Wissenschaft (jene Wissenschaftler eingeschlossen, die sich einer protestantischen oder katholischen Orthodoxie verpflichtet fühlen): Weder Jesus
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selbst noch seine unmittelbaren Jünger noch die synoptischen Evangelien fassten ihn so auf, wie es die spätere Kirchenlehre tat - als göttlich, als die zweite Person der Trinität oder als jenes Wesen, als welches er in den großen historischen Glaubensbekenntnissen bekräftigt wird. Man kann derartige Vorstellungen natürlich im Neuen Testament finden, insbesondere in den paulinischen und johanneischen Texten, aber sie stellen fast mit Gewissheit spätere Entwicklungen dar. Man könnte vielleicht argumentieren, dass derartige Ideen einer „hohen Christologie" schon sehr früh in impliziter Form da waren, vielleicht sogar im Bewusstsein von Jesus selbst - aber der Konsensus der Wissenschaft deutet nicht darauf hin. Später werden wir uns einem anderen großen Drama zuwenden, dem der christologischen Kontroversen in der frühen Kirche. Aber was sich zunächst einmal herausgestellt hat, ist eine theologische Notwendigkeit (eine Notwendigkeit, heißt das, wenn man das Christentum bekräftigen will, ohne das sacrificium intellectus zu erbringen): die Notwendigkeit, Bekräftigungen eines Glaubens aus dem Treibsand der historischen Wissenschaft zu befreien. Der liberale Protestantismus, in dessen Diensten ein so großer Teil der neutestamentlichen Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts fronte, antwortete dieser Notwendigkeit auf seine eigene Weise. Die Antwort hallt noch heute in vielen christlichen Kreisen nach und selbst bei Katholiken, die sich als „progressiv" sehen - und insbesondere bei Menschen, die sich als „spirituell" definieren (das heißt als jemanden, der religiös ist, dabei aber jeder besonderen Religionsgemeinschaft fern steht). Der Ansatz hier ist es, Jesus als einen Lehrer oder als ein Beispiel zu sehen oder vielleicht als beides. Viele haben schon Jesus als den Lehrer einer höheren Moral gerühmt und gleichzeitig alle Behauptungen hinsichtlich seiner Göttlichkeit oder Übernatürlichkeit zurückgewiesen. Mit anderen Worten, die Betonung liegt auf seiner behaupteten moralischen Botschaft, nicht auf seiner Person oder seinen Taten (insbesondere nicht den überlieferten Wundern). Damit wird die Bergpredigt zum Kern der christlichen Lehre. Selbst in den Kirchen gibt es viele Menschen, die diesen Standpunkt einnehmen; Nancy Ammerman, eine kluge soziologische Beobachterin des religiösen Lebens in Amerika, hat sie „Christen der Goldenen Regel" genannt. Wiederum kann man Jesus als Beispiel einer geistig und moralisch überlegenen Lebensführung sehen - in diesem Sinne taucht das Bild des „guten Jesus" in so vielen Texten der liberal-protestantischen Sonntagsschulen auf. Diese Auffassung von Jesus als einem bewunderungswürdigen Lehrer und/oder beispielhaften Menschen kann natürlich auch von Menschen geteilt werden, die sich überhaupt nicht als Christen sehen. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang etwa Mahatma Gandhi,
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der nie aufhörte, ein frommer Hindu zu sein, aber den Anspruch erhob, seine Methode des gewaltlosen Widerstandes sei von Jesus inspiriert. Wenn man Jesus auf diese Weise begreift, kann man die Ergebnisse der historischen Wissenschaft ziemlich nonchalant behandeln. Seine Lehren und sein persönliches Beispiel können bewundert oder nachgeahmt werden, ganz gleich, was die Historiker über das Individuum zu sagen haben, auf welches sie zurückgehen. Der Vergleich mit dem Buddhismus ist hier instruktiv. Es ist den Historikern nicht gelungen, sehr viel über jenen indischen Prinzen herauszufinden, der den klassischen Texten zufolge das ganze Unterfangen des Buddhismus begonnen hat. Doch irritiert dieser Umstand kaum je einen bekennenden Buddhisten. Im Mittelpunkt seines religiösen Lebens steht nicht die historische Person des Prinzen Gautama, der angeblich vor Jahrhunderten zur Erleuchtung gelangte, sondern die Suche nach der Erleuchtung heute. Selbst wenn die Historiker eines Tages zu dem Schluss kämen, Prinz Gautama habe niemals existiert, würde das den Glauben daran kaum erschüttern, dass die Lehren und der geistige Weg, die ihm traditionell zugeschrieben wurden, als Leitfaden zum Erlangen der Erleuchtung dienen können. Es gibt keinen zwingenden Grund, weshalb man Jesus nicht so betrachten sollte wie die Buddhisten den Begründer ihrer Tradition. Das Problem dabei besteht darin, dass man sich hierzu nicht nur von der Wechselhaftigkeit der Ergebnisse historischer Wissenschaft freimachen, sondern diese ganze Wissenschaft kurzerhand ignorieren müsste. Denn das Neue Testament macht klar, dass der hier verkündete Jesus nicht in erster Linie ein Lehrer moralischer Weisheit war, und schon gar nicht ein Beispiel abgibt. Man muss bedenken, dass Paulus, dessen echte Briefe zu denen nicht alle gehören, welche unter seinem Namen überliefert sind - zu den ältesten Texten des Neuen Testaments zählen, an den Lehren Jesu keinerlei Interesse zeigte. Sein Interesse gilt fast ausschließlich der Erlöserrolle Jesu. Was die moderne Wissenschaft angeht, so konnte sie den Nachweis führen, dass die moralischen Lehren Jesu ganz der jüdischen Tradition entsprachen und nicht sehr originell waren, obwohl er charakteristische Akzente setzte (etwa mit seinem Mitgefühl für die von der Gesellschaft seiner Zeit an den Rand Gedrängten). Mehr noch, selbst die Moral der Bergpredigt wird einigermaßen sinnlos, wenn man sie aus dem Kontext der Predigt Jesu vom unmittelbar bevorstehenden Reich Gottes herauslöst - das heißt: diese Moral hat eschatologischen Charakter und gibt keine Richtschnur für das Verhalten im gewöhnlichen Leben der Welt ab. Ebenso wenig stellt das Neue Testament Jesus als ein nachahmenswertes Beispiel hin. Abgesehen davon könnte - mit der Ausnahme eines gelegentlichen Heiligen - niemand nach den Prinzipien der Bergpredigt leben, oder genauer gesagt: sehr lange leben. Ferdinand Mount, ein
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sardonischer britischer Schriftsteller, hat die Bergpredigt als höchst bewundernswert bezeichnet, aber als nur für Junggesellen geeignet. Man könnte hinzufügen: Junggesellen, die erwarten, dass morgen die Welt ein Ende hat. Ich darf es so formulieren: Wenn das Christentum ein moralisches Projekt ist, dann kein sehr interessantes. Rudolf Bultmann hat die wahrscheinlich radikalste Lösung vorgeschlagen, um (innerhalb des Rahmens der christlichen Theologie) das Problem zu lösen, wie sich der Glaube denn zur historischen Gestalt Jesu verhalten solle. Bultmann gilt immer noch als einer der bedeutendsten Neutestamentier des zwanzigsten Jahrhunderts, als Autor vieler Bücher von fortdauerndem Interesse. Während seine wissenschaftlichen Arbeiten bis in die zwanziger Jahre zurückreichen, setzte sich sein theologischer Einfluss erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Im Dritten Reich stand er in Verbindung mit der Bekennenden Kirche, jener Bewegung, die dem Einfluss des Nationalsozialismus auf den Protestantismus entgegenzutreten versuchte - ein Umstand, der ihm nach dem Krieg ganz abgesehen von seinen wissenschaftlichen Leistungen eine gewisse moralische Autorität verlieh. Gegen Kriegsende schrieb Bultmann einen Aufsatz über die Notwendigkeit einer - wie er es mit einem unschönen Neologismus nannte - „Entmythologisierung" des Neuen Testaments. Es waren zu diesem Zeitpunkt keine theologischen Publikationen möglich, und der Text ging privat herum. Bald nach dem Krieg wurde er dann veröffentlicht und entfesselte eine erregte Debatte. Deren Beiträge wurden in fünf Bänden von Hans-Werner Bartsch herausgegeben: Kerygma und Mythos (1948 1955). Bald erschien eine englische Übersetzung und trug die Auseinandersetzung weit über Deutschland hinaus. In gewisser Weise ist sie noch nicht zu Ende. Bultmann behauptete, die Weltsicht des Neuen Testaments sei durch und durch mythologisch - womit er meinte, dass im Neuen Testament die Welt als andauernd von übernatürlichen Kräften durchwirkt gesehen wird, unter denen die wichtigste das übernatürliche Wesen Christus ist. Diese Weltsicht, so fuhr er fort, sei für das moderne Bewusstsein inakzeptabel. Wenn die christliche Botschaft (die Verkündigung des Evangeliums, im neutestamentlichen Griechisch kerygma genannt) für moderne Menschen verständlich sein sollte, dann müsse sie von ihrer mythologischen Einkleidung befreit und in eine nicht-mythologische Sprache übertragen werden. Die Sprache für dieses Entmythologisierungsprojekt übernahm er aus der Existenzphilosophie, insbesondere der von Heidegger. Auf dieser philosophischen Grundlage kann man die menschliche Existenz als ihrem wahren Wesen entfremdet begreifen. Das Kerygma verkündet die Möglichkeit der Befreiung aus dieser Entfremdung und der Wandlung zu einem neuen authentischen Sein. Traditionelle
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christliche Symbole konnten weiterverwendet werden, aber sie erhielten einen neuen Sinn, der sie vom übernatürlichen Denken des Neuen Testaments löste. Bultmann glaubte, dass dieses Projekt innerhalb der protestantischen Kirche möglich sei - und dass diese dadurch tatsächlich in der modernen Welt eine bessere Überlebenschance hatte. Während sein Projekt vom Moralismus der liberalen Theologie ganz verschieden war, bot es Schutz vor den Beunruhigungen der historischen Wissenschaft: Der christliche Glaube, der ein Glaube an das Kerygma ist, wird so unabhängig von den Wechselfällen der historischen Forschung. Der grobe Umriss von Bultmanns Projekt war bereits in seinen Schriften vor dem zweiten Weltkrieg erkennbar. Zum Beispiel: „Jesus Christus begegnet dem Menschen nirgends anders als im Kerygma ... Man darf also nicht hinter das Kerygma zurückgehen, es als ,Quelle' benutzend, um einen ,historischen Jesus' mit seinem ,Messiasbewußtsein', seiner ,Innerlichkeit' oder seinem ,Heroismus' zu rekonstruieren. Das wäre gerade der ,Christus nach dem Fleisch', der vergangen ist. Nicht der historische Jesus, sondern Jesus Christus, der Gepredigte, ist der Herr" (Bultmann, Glaube und Verstehen, Band 1, S. zo8). Und in einem früheren Aufsatz findet sich diese bezeichnende persönliche Bemerkung: „Ich habe mich in meinem kritischen Radikalismus noch nie unbehaglich gefühlt, sondern ganz behaglich. Ich habe aber vielfach den Eindruck, daß meine konservativen Kollegen im Neuen Testament sich recht unbehaglich fühlen; denn ich sehe sie immer bei Rettungsarbeiten begriffen. Ich lasse es ruhig brennen; denn ich sehe, daß das, was da verbrennt, alle die Phantasiebilder der Leben-Jesu-Theologie sind, und daß es der „Christus nach dem Fleisch" selbst ist (ebd., S. 101). Ein Satz ist es wert, dass man ihn wiederholt: „Ich lasse es ruhig brennen." Der Theologe Bultmann kann gelassen zusehen, wie das vom Historiker Bultmann entfachte Feuer die Annahmen der orthodoxen Lehre verzehrt. Das Kerygma, der wahre Ort des christlichen Glaubens, hier und jetzt, ist souverän unabhängig von alledem, was die moderne Wissenschaft aus der Vergangenheit zutage fördern mag. Bultmann wiederholt noch einmal, dass weder Paulus noch Johannes irgendein Interesse an den Lehren Jesu hatten - oder, was das betrifft, an irgendeinem anderen Aspekt des historischen Jesus. Vielmehr konzentrieren sie sich ganz auf das Ereignis, das Jesus darstellt, ein Ereignis, das (zumindest für Paulus) allein in seiner Auferstehung offenbart wird.
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Man sollte darauf hinweisen, dass Bultmann mit seiner Zurückweisung sämtlicher Positionen des liberalen Protestantismus den Einfluss von Karl Barth verrät. Wenn man weiter zurückgeht, werden auch Bultmanns lutherische Wurzeln sichtbar. Er zitiert wiederholt Melanchthon: „Das heißt Christus zu erkennen: seine Wohltaten erkennen." Dies ist eine Variante von Luthers eigenem Insistieren, dass der Christus des Glaubens jener Christus ist, der für mich da ist - „Christus pro me." Es wäre ein Irrtum, dies als irgendeine Form von Egozentrismus zu interpretieren: Vielmehr ist es ein offenes Eingeständnis des Faktums, dass ich den kognitiven Beschränkungen meiner eigenen Lage in Raum und Zeit nicht entrinnen kann. Anstatt auf die hitzige Diskussion über Bultmanns Entmythologisierungsmanifest einzugehen, möchte ich einen eigenartigen und aufschlussreichen Aufsatz aus Bultmanns späterem Leben betrachten. Bultmann wurde - als bekannter Neutestamentier - gebeten, etwas zu der lapidaren Bekenntnisformel zu sagen, welche der neu gebildete Weltkirchenrat bei seiner Gründungsversammlung in Amsterdam angenommen hatte. Dort wird verkündet, der Weltkirchenrat setze sich zusammen aus Kirchen, die an „Jesus Christus als Gott und Heiland" glauben. Bultmanns Antwort findet sich in einem Vortrag, den er auf einer theologischen Tagung 19 51 in der Schweiz hielt (Das christologische Bekenntnis des Ökumenischen Rates, enthalten in seinen Aufsätzen Glaube und Verstehen, Band 2, S. 247-261). Gefragt, ob diese Formulierung sich im Einklang mit dem Neuen Testament befinde, sagt Bultmann, im Grunde müsse er sagen: „Das weiß ich nicht!" Die Formulierung ist nämlich durchaus mehrdeutig. Noch wichtiger aber ist der Umstand, dass das Neue Testament keine klare Antwort gibt. Bultmann geht auf die Mehrdeutigkeit des Wortes „Heiland" ein, doch dann konzentriert er sich auf die Frage, ob das Neue Testament Jesus Christus als Gott auffasst: „Weder in den synoptischen Evangelien noch in den Paulinischen Briefen wird Jesus Gott genannt; weder in der Apostelgeschichte noch in der Apokalypse heißt Jesus Gott" (ebd., S. 248) Es gibt einige Textpassagen, wo Gott und Christus sehr nahe beieinander erwähnt werden, aber eine Identität beider ist daraus nicht abzulesen. Die einzige unmissverständliche Passage findet sich bei Johannes (20,28), wo Thomas sich mit den Worten „mein Herr und mein Gott" an Jesus wendet (aber wie bei so vielen Stellen im Johannesevangelium stellt sich hier die Frage, wann diese Passage zu datieren ist). Nur bei den Apostelvätern findet man eindeutige Bezugnahmen auf Jesus Christus als „unseren Gott". Alle anderen Titel, die Jesus im Neuen Testament gegeben werden, bezeichnen ihn als Gott untergeordnet: „Messias", „Menschensohn", „Sohn Gottes"; das gilt selbst für das „Herr"
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(kyrios, eine Bezeichnung, die Bultmann hellenistischen Einflüssen zuschreibt). Ich verstehe Bultmann folgendermaßen: Gott wurde zu Jesu Lebzeiten als in Jesus gegenwärtig gesehen, und ebenso (in dramatischer Steigerung) nach dem Ereignis, das man die Auferstehung nennt. Die frühchristliche Gemeinde verehrte Jesus als eine „göttliche Gestalt", sagt Bultmann, „als ,;theios' würden man griechisch vielleicht am bequemsten sagen - ... als ein Gott ..., aber nicht einfach als Gott" (ebd., S. 251). Er bleibt immer von Gott dem Vater unterschieden. Und keiner der Titel, die Jesus gegeben werden, soll sich auf seine Natur (physis) beziehen, sie gelten alle seiner Offenbarung von Gottes Wort, die sich an uns richtet wiederum geht es um den Christus pro me. Und nun folgt der entscheidende Abschnitt dieses Aufsatzes: „In diesen Sinne also läßt sich sagen, daß in ihm Gott begegne. Die Formel ,Christus ist Gott' ist falsch in jedem Sinn, in dem Gott als eine objektivierbare Größe verstanden wird, mag sie nun arianisch oder nizäisch, orthodox oder liberal verstanden sein. Sie ist richtig, wenn ,Gott' hier verstanden wird als das Ereignis des Handelns Gottes. Aber ich frage, Sollte man dann nicht wegen des Mißverständnisses lieber solche Formeln vermeiden und sich getrost damit begnügen, zu sagen, daß er das Wort Gottes ist?" (ebd., S. 258). Die späteren christologischen Formulierungen, vom Konzil von Nicäa angefangen, werden von Bultmann auf die Notwendigkeit zurückgeführt, den christlichen Glauben in der Sprache des Hellenismus auszudrücken, und insofern hält er sie heutzutage für nicht bindend. Dies ist ein eindrucksvolles, um nicht zu sagen elegantes intellektuelles Exerzitium. Bultmann hat keine Probleme mit all den voller Sprengkraft steckenden Ergebnissen der modernen historischen Forschung, und mit ebensolcher Gelassenheit lässt er all die quälenden christologischen Debatten der frühen Kirche hinter sich. Wo liegt der Fehler bei Bultmanns Projekt? Ich würde sagen, dass es an zwei Punkten falsch ist: Seine Auffassung des modernen Bewusstseins ist zu eng, und seine Auffassung von Mythologie ist zu weit gefasst. In seinem grundlegenden Aufsatz zur Entmythologisierung bemerkt Bultmann, dass die Menschen heute, die „elektrisches Licht und Radioapparat benutzen [und] in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen", die Wunder (und damit die gesamte „mythologische" Weltsicht des Neuen Testaments) nicht akzeptieren können. Dies ist keine theologische, sondern eine soziologische Aussage - und zwar eine, für die sich eine empirische Bestätigung kaum finden lassen dürfte. Der mit der heutigen Religion befasste Soziologe kann ohne weiteres nachweisen, dass mit
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Ausnahme recht begrenzter Gruppen (zu denen vor allem Menschen mit höherer Bildung in den Geistes- und Sozialwissenschaften gehören) die moderne Menschheit sehr wohl in der Lage ist, alle möglichen Wunder zu akzeptieren, und ausgewachsene Mythologien dazu. Die Mythologie floriert in der modernen Welt; es geht ihr bestens. Aber Bultmanns Auffassung von Mythologie ist in sich zu weit gefasst. Sie umschließt jegliches Eindringen einer transzendenten Wirklichkeit (ein Eindringen des Übernatürlichen, wenn man so will) in die Welt der menschlichen Erfahrung. Eigenartigerweise schließt sie - worauf manche Kritiker Bultmanns hingewiesen haben - das von ihm so genannte „Ereignis" von Gottes Gegenwart in Jesus und im Kerygma aus. Denn müsste man dieses nicht ebenfalls „mythologisch" nennen? Wenn ja, dann bleibt vom Christentum nichts zurück als eine einigermaßen exzentrische Idee von der Entfremdung oder Inauthentizität menschlicher Existenz, und die Befreiung aus dieser Entfremdung könnte ebenso gut in nicht-christlicher Sprache formuliert werden (was ja auch geschehen ist). Aber es steckt auch etwas sehr Richtiges in Bultmanns Projekt: Der Glaube kann nicht auf irgendeiner historischen Konstruktion aufbauen. Mein Glaube an Christus kann nur auf der Anerkennung des „Christus für mich" beruhen. Um es in der Sprache auszudrücken, die ich oben vorgeschlagen habe: Ich begegne in der Tat Christus im Kerygma, aber diese Begegnung bekommt nur dann eine Bedeutung, wenn ich den Nexus zwischen ihr und meiner eigenen Wirklichkeitserfahrung finden kann. Und dieser Nexus kann nicht das dogmatisch ausschließen, was Bultmann „Mythologie" nennen wollte. Paul Tillich war im Gegensatz zu Bultmann ein systematischer Theologe. Wie Bultmann entstammte er dem Milieu des deutschen Protestantismus und wurde vom Ausbruch Barthscher Theologie in den zwanziger Jahren und von der Existenzphilosophie beeinflusst. Im Gegensatz zu Bultmann emigrierte er nach Amerika, wo sein theologisches Hauptwerk nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Seine Lösung des Problems vom historischen Jesus ähnelte der von Bultmann, wenn sie auch vielleicht noch radikaler formuliert wurde. Ich werde nur einige Abschnitte aus dem zweiten Band von Tillichs großer Systematischer Theologie zitieren, aus dem Teil, der den bedeutsamen Titel „Die Existenz und der Christus" trägt. Tillich zufolge führt der christliche Glaube (er sollte es zumindest) zu einer Veränderung im menschlichen Leben, die er das „Neue Sein" nannte: „Das Christentum ist, was es ist, durch die Behauptung, dass Jesus von Nazareth, der der Christus genannt worden ist, wirklich der Christus ist. Und das heißt, er ist der, der den neuen Stand der Dinge, das Neue
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Sein, bringt" (ebd., S. 107). Kein sehr eleganter Satz, aber klar genug: Wie in Bultmanns Projekt läuft Tillichs Ansatz darauf hinaus, dass Christus als das Symbol verstanden werden sollte, welches tatsächlich eine neue Form menschlichen Lebens vermittelt. Doch auch Tillich muss sich der Frage stellen, wie dieser Christus sich zu dem Jesus verhält, den die historische Forschung versucht hat zu begreifen. Tillich pflichtet der Ansicht bei, dass der Versuch der Historiker, den „wirklichen" Jesus hinter den kerygmatischen Quellen zu entdecken, erfolglos geblieben ist: „hinsichtlich seiner Grundintention war der Versuch der historischen Kritik, die empirische Wahrheit über Jesus von Nazareth zu finden, zum Scheitern verurteilt. Der historische Jesus, nämlich der Jesus hinter den Symbolen, in denen er als der Christus aufgenommen wurde, erschien nicht nur nicht, sondern er verschwand mehr und mehr bei jedem neuen Schritt" (ebd., S. 112.). Und ferner: „In der Suche nach dem historischen Jesus lag die Absicht, ein Minimum an zuverlässigen Fakten über den Menschen Jesus von Nazareth aufzufinden, um damit ein sicheres Fundament für den christlichen Glauben zu gewinnen. Dieser Versuch ist gescheitert. Die historische Forschung ermöglichte es zwar, Feststellungen über Jesus mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit zu treffen. Auf der Basis dieser Wahrscheinlichkeiten entwarf sie verschiedene ,Leben Jesu'. Aber diese ähnelten mehr einem Roman als einer Biographie. Jedenfalls waren sie nicht imstande, ein sicheres Fundament für den christlichen Glauben zu geben. Das Christsein gründet sich nicht auf die Bejahung eines historischen Romans. Es gründet sich darauf, dass Menschen, die in keiner Weise an der Biographie des Messias interessiert waren, von dem messianischen Charakter Jesu Zeugnis ablegten." (ebd., S. 1 1 5 ) Dies führt wieder zu einer erneuten Betonung eines sehr lutherischen Verständnisses von „Christus für mich": „In Analogie dazu muß man sagen, dass unmittelbare Teilhabe und nicht historische Beweisführung die Wirklichkeit des Ereignisses verbürgt, auf dem das Christentum beruht. Die gläubige Teilnahme verbürgt die Existenz eines personenhaften Lebens, in dem das Neue Sein das alte Sein verwandelt hat. Aber sie garantiert nicht, dass der Name dessen, in dem das geschah, Jesus von Nazareth war. Der historische Zweifel an der Existenz und dem Leben eines Menschen mit diesem Namen läßt sich durch Glauben nicht beseitigen. Er könnte einen anderen Namen gehabt haben." (ebd., S. 125).
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Oder vielleicht hat er auch - könnte man hinzufügen - historisch gar nicht existiert. Und nun die vielleicht schärfste Formulierung dieser Position: „Das Neue Sein ist nicht abhängig von bestimmten Symbolen, mit denen es ausgedrückt wird. Es hat die Macht, von jeder Form zu befreien, in der es erscheint" (ebd., S. 178). Tillichs theologisches System verfügt über eine eindrucksvolle philosophische Subtilität, und ich kann nicht für mich beanspruchen, dass ich die Kompetenz besäße, es umfassend einzuschätzen. Doch scheint es mir insofern dem Projekt Bultmanns ähnlich, als es im Endeffekt das „Christusereignis" ganz in die Immanenz hineinnimmt - das heißt: Dieses Ereignis ist eines innerhalb der menschlichen Existenz in der Welt, ein Symbol der existentiellen Wandlung, die Tillich das „Neue Sein" nennt. Die Tatsache, dass das Wesen dieser Wandlung recht nebulös bleibt, wollen wir einmal beiseite lassen. Wichtiger ist es, die Frage zu stellen, ob diese Wandlung, die anscheinend durch verschiedene symbolische Repräsentationen herbeigeführt werden kann, nicht ganz genauso über - beispielsweise - die Symbolik des Mahayana-Buddhismus möglich wäre, indem an die Stelle des Namens von Jesus Christus derjenige irgendeines Bodhisattva träte? Was bei Tillich verloren geht, ist nicht nur die Verbindung mit dem historischen Jesus, sondern auch die mit dem kosmischen Prozess der Erlösung, der für den christlichen Glauben mit der Person Jesu Christi verbunden ist (was Bultmann gewiss der unzulässigen Kategorie des „Mythologischen" zurechnen würde). Und doch muss ich Tillich wie Bultmann zustimmen, dass dieser Glaube nicht auf dem ständig in Bewegung befindlichen Terrain der historischen Wissenschaft seine Grundlage finden kann. Wo stehen wir nach alledem? Trotz all der Divergenzen unter den mit dem Neuen Testament befassten Gelehrten gibt es gewisse Aussagen über Jesus als historische Figur, die man mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit machen kann. Er war ein charismatischer Prediger und Wundertäter, der die Herbeikunft eines messianischen Königreiches verkündete - eines Königreichs, das man sich in wesentlich jüdischen Kategorien als die Herrschaft Gottes über alle Nationen vorzustellen hat. Auch scheint er geglaubt zu haben, dass dieses Ereignis unmittelbar bevorstehe und dass es in gewisser Weise bereits von ihm eingeleitet werde und mit seiner Person verbunden sei. Seine Lehre verließ den Rahmen jüdischer Frömmigkeit eigentlich nicht und war insofern weitgehend unoriginell, wenn sie auch ungewöhnliches Gewicht auf Gottes väterliches Erbarmen legte, das insbesondere den Armen und Verachteten galt. Auch diese Lehre muss man aber im Zusammenhang der unmittelbaren Erwartung der Gottesherr-
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schaft auf Erden sehen - das heißt: Sie bezieht sich auf die eschatologische Zukunft und nicht so sehr auf die empirische Gegenwart. Die Seligpreisungen, jenes Hauptstück der Bergpredigt, das alle die so sehr lieben, die in Jesus gerne den Lehrer einer neuen Moral sähen, beziehen sich allesamt auf das zukünftige Königreich. Jesus beabsichtigte nicht, einen neuen Moralkodex einzuführen, der die jüdische Torah ablösen sollte. Trotzdem bestürzte sein Wirken - insbesondere im Tempel in Jerusalem und in dessen Nähe - die religiösen Autoritäten des Judentums (wie religiöse Autoritäten eben immer mit Bestürzung auf charismatische Prediger reagiert haben). Es ist auch ziemlich klar, dass Jesus sein Wirken nicht als politisch begriff, aber die römische Kolonialregierung fasste es so auf innerjüdische religiöse Zänkereien waren ihr völlig gleichgültig, aber auf jede potentielle Bedrohung ihrer prekären Kontrolle über eine unruhige Provinz reagierte sie sofort. So wurde Jesus als politischer Rebell („König der Juden") an einem römischen Kreuz hingerichtet. Diejenigen, die seit Albert Schweitzer das liberale Bild von Jesus kritisiert haben, betonen also zu Recht, dass die liberale Auffassung vom Neuen Testament nicht bestätigt wird - das Bild von Jesus als Lehrer einer neuen Moral oder als geistiges Beispiel findet dort keine Bestätigung, jedenfalls insoweit man sagen muss, dass weder er noch seine unmittelbaren Schüler irgendetwas dergleichen im Sinn hatten. Andererseits hatten die liberalen Gelehrten seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert in dem Sinne durchaus Recht, dass das Neue Testament wiederum keine Bestätigung jenes Bildes abgibt, das sich orthodoxe Christen von Jesus gemacht hatten - weder er noch die Apostel und wahrscheinlich nicht einmal Paulus hätten je den christologischen Bekenntnisformeln beispielsweise des Konzils von Nicäa zugestimmt. Wenn die Geschichte Jesu mit seinem Tode geendet hätte, welches Interesse hätte sie dann noch für uns? Vielleicht das einer bewegenden Episode des donquijotischen Scheiterns und des fatalen Missverständnisses. Kaum aber mehr. S0ren Kierkegaard hat die Christen aufgefordert, sie sollten Zeitgenossen Jesu werden - womit er meinte, die heutigen Christen sollten sich (soweit nur möglich) vorstellen, sie seien tatsächlich gegenwärtig, während Jesus in Galiläa und anderswo tätig wurde. Mir scheint dies eine recht gefährliche Forderung. Wäre er uns denn sympathisch gewesen? Ich bezweifle es. Auch das Gros derer, die ihm über die Jahrhunderte hinweg angehangen haben, ist nicht sehr eindrucksvoll. Man kann zwar plausibel argumentieren, dass viele moralische Einsichten, die uns heute wichtig sind - insbesondere jene, die in den Menschenrechten ihren Ausdruck fanden - christliche Wurzeln haben. Doch da wir nun zu diesen Einsichten gelangt sind, besteht kein zwingender Grund mehr, an den religiösen Voraussetzungen festzuhalten, von denen sie
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ursprünglich abhingen. Wenn es bei Jesus nur um Moral ging, dann schulden wir ihm eine Geste historischer Dankesbezeugung, und mehr nicht. Man könnte auch darauf hinweisen, dass in all den Jahrhunderten die Christen - mit bewunderungswürdigen Ausnahmen - nicht gerade für ihre hervorragende Moral berühmt waren. Man fühlt sich an Nietzsches Sottise erinnert, dass die Christen nicht erlöst aussehen: Es wäre leichter, an das seligmachende Christentum zu glauben, „wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch ins Gesicht geschrieben wäre". Und wenn man Jesus als ein großes Beispiel des geistigen Lebens auffasst, dann gibt es in der Tat Menschen, die versucht haben, es ihm nachzutun. Man nennt sie gewöhnlich die Heiligen; einige von ihnen waren in der Tat bewundernswert. Viele wären uns, wie ich vermute, nicht besonders sympathisch, würden wir sie als Zeitgenossen erleben. Und abgesehen davon: Wenn man bestimmte Menschen ihrer persönlichen Eigenschaften oder Taten wegen bewundert, dann heißt das noch lange nicht, dass man mit ihrer Weltsicht übereinstimmen müsste. In unserer Zeit hat es höchst bewundernswerte Kommunisten gegeben, beispielsweise in den Widerstandsbewegungen gegen den Faschismus, aber die ihnen geltende Bewunderung zwingt uns nicht, die marxistische Ideologie zu unterschreiben. Damit komme ich zu der zentralen Aussage dieses Kapitels: Eine Bekräftigung des Glaubens an Jesus Christus hängt von der Auferstehung als einem Ereignis ab, das nicht im menschlichen Leben oder Bewusstsein stattfindet, sondern in der Wirklichkeit des Kosmos. Dies hat Paulus kurz und knapp ausgedrückt: „Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich" (i. Korinther 15,14). Und man kann noch einen Schritt weiter gehen: Nur durch die Auferstehung ist Jesus als Christus überhaupt wahrnehmbar - das heißt als kosmischer Erlöser und als Sieger über all das Böse und all das Leid der Welt. Wir werden später genauer auf die Auferstehung als Ereignis eingehen müssen. Aber an diesem Punkt der Argumentation sind einige Bemerkungen notwendig. In noch stärkerem Maße als bei irgendwelchen anderen Passagen des Neuen Testaments ist es der historischen Forschung hier nicht möglich, zu ermitteln, „wie es wirklich gewesen" ist (nach Ranke das Ziel des Historikers). Was immer aber die Historiker uns darüber sagen könnten, was sich an jenem Tag in Jerusalem ereignet hat - der christliche Glaube kann sich nicht von ihren Ergebnissen abhängig machen. Der Glaube an die Auferstehung ist der Glaube an einen radikalen Umschwung im kosmischen Drama der Erlösung, nicht an einen - um es so zu formulieren - vom Fernsehen übertragbaren Vorfall auf einem jüdischen Friedhof. Natürlich fand die Wahrnehmung dieses
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Umschwungs - zuerst durch die trauernden Jünger Jesu und seither durch die gläubigen Christen - durch diesen Vorfall statt und um ihn her. Aber die Wahrnehmung hängt nicht von den empirischen Umständen des Vorfalls ab. Hier könnte eine Art Science-Fiction-Phantasieübung nützlich sein. Nehmen wir an, dass die Wissenschaft irgendwann einmal in der Zukunft in der Lage sein wird, Bilder vergangener Ereignisse aus dem Licht zu gewinnen, das von der Erde in den Weltraum hinaus gestrahlt hat. Nehmen wir weiterhin an, dass sich dieses Licht so konzentrieren ließe, dass man vergangene Ereignisse tatsächlich (vielleicht auf einer Art speziellem Fernsehschirm) betrachten könnte. Und nehmen wir an, dass man auf solche Weise beobachtete - ganz, wie es Reimarus es sich dachte - , wie einige Jünger in den frühen Morgenstunden des dritten Tages den Leichnam Jesu davonschaffen, und einige Stunden später sähe man dann die Frauen voll Erstaunen vor dem leeren Grab. Oder eine andere Möglichkeit: Man sähe, dass Jesus am Kreuz nicht wirklich starb, dass er das Bewusstsein wiedererlangte und von dem Ort, w o man seinen bewusstlosen Körper abgelegt hatte, fortging - und, wer weiß, später noch ein hohes Alter erreichte, nachdem er klugerweise alle charismatischen Aktivitäten eingestellt hatte. Würden diese Fernsehbilder den Glauben an die Auferstehung zerstören? Ich glaube nicht. Mit nur ein wenig sanftem Zwang könnte ich meine Meinung zu diesem Punkt durch eine Formulierung der lutherischen Theologie ausdrücken: Diese sieht das Abendmahl so, dass Christus „in, mit und unter" den materiellen Elementen Brot und Wein anwesend ist, aber ohne dass sich dabei die empirische Natur dieser Elemente auf wunderbare Weise wandelte. Analog könnte man sagen, dass das kosmische Ereignis der Auferstehung „in, mit und unter" den Vorfällen damals in Jerusalem eintrat, aber das Ereignis hing und hängt nicht davon ab, „wie es wirklich gewesen". Alle Vergleiche hinken, doch diesen finde ich suggestiv. Die historische Wissenschaft kann (solange uns das transgalaktische Fernsehen noch nicht zur Verfügung steht) immerhin eine wichtige Tatsache fixieren: Mehr oder weniger unmittelbar nach der Kreuzigung Jesu, die für seine Jünger ein vernichtendes Ereignis gewesen sein muss, gelangten einige von ihnen zu der triumphalen Überzeugung, dass er von den Toten auferstanden und von neuem unter ihnen war - nicht als ein wiederbelebter Leichnam (die Auferstehungsberichte haben keine Ähnlichkeit mit, sagen wir, der Geschichte von der Erweckung des Lazarus), sondern als ungeheuer mächtiges geistiges Wesen. Als solch ein Wesen wurde Jesus von Nazareth zum Christus des Glaubens. Das galt für die überlebenden Jünger Jesu wie für Paulus, entscheidend war die dramatische Umkehrung zwischen Karfreitag und Ostern. Ich meine, dass dies nach vielen Jahrhunderten ebenso für uns gilt. Im Lichte des Osterereig-
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nisses nimmt das Leben Jesu eine völlig neue Bedeutung an. Es wird nun erkennbar als die äußerste Demütigung, die kenosis, Gottes in der Welt, die ihren Höhepunkt im qualvollen Tod Jesu hat. Diese Kenosis wäre vollkommen unerträglich, sie entspräche einer endgültigen Niederlage Gottes, wäre sie nicht wahrzunehmen als ein Vorspiel zum Sieg an Ostern. Nur im Lichte von Christus dem Sieger erlangt der kenotische Jesus erlösende Bedeutung. An diesem Punkt jedoch umfasst die Kenosis Gottes in Jesus jede Tragödie und Schwäche von Jesu irdischem Leben vielleicht sogar diejenigen persönlichen Schwächen eingeschlossen, die wir an ihm entdeckt hätten, wären wir tatsächlich seine Zeitgenossen gewesen. Ich gehe das Risiko einer möglicherweise provokanten Aussage ein: Die Kenosis des weltlichen Lebens Jesu würde lediglich stärker akzentuiert, wenn es sich herausstellte, dass er kein besonders sympathischer Mensch war - und auch diese kenotische Tatsache würde aufgelöst oder, besser, aufgehoben im transzendenten Ereignis der Auferstehung. Ich möchte zu der oben gebrauchten Ausdrucksweise zurückkehren: Worin besteht hier der Nexus? Eben in der dramatischen Spannungsverbundenheit von Karfreitag und Ostern, von Kenosis und kosmischem Sieg. Und dies führt uns zurück zu der Spannung, die wir oben im Zusammenhang der Theodizee erörtert haben - der Spannung zwischen der Güte und der Allmacht Gottes. Kenosis ist die äußerste Anspannung dieser Güte, die Auferstehung der höchste Ausdruck der Allmacht. Ich habe die Meinung vorgetragen, dass sich das quälende Problem der Theodizee nur konfrontieren lässt - das Wort „lösen" wäre hier ganz unangemessen - , wenn man Gott als in der Schöpfung Leidenden wahrnimmt. Wenn dieses Leiden begriffen wird (so unvollkommen das Begreifen bleibt) als für die Erlösung einer mangelhaften Schöpfung notwendig, und wenn man Gott gleichzeitig wahrnimmt als den, der am Ende der Zeiten Richter und Herrscher über alles sein wird. Ich brauche kaum zu betonen, dass wir hier vor einem Mysterium stehen und dass jegliche Sprache, mit der man sich diesem Mysterium begrifflich zu nähern versucht, eine Art Stammeln bleiben wird. Der christliche Glaube bekräftigt das Mysterium, und in dieser Bekräftigung kann ich sagen, dass ich an Jesus Christus glaube. Das Mysterium - Paulus nannte es das Skandalon - steht im Mittelpunkt des christlichen Glaubens. Christliche Theologen haben zu allen Zeiten davon zu stammeln versucht - leider oft im Tonfall einer höchst unglaubwürdigen Gewissheit. Der Versuch, das Mysterium zur Sprache zu bringen, charakterisiert die gesamte nachösterliche Christologie. Unvermeidlicherweise - wie ich glaube - hat dieses Unterfangen das christliche Denken nach und nach zu der Auffassung gebracht, dass Christus schon vor dem irdischen Leben Jesu existierte (was bereits in den ersten
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Sätzen des Johannesevangeliums beredt zum Ausdruck kommt) und ebenso danach existiert. So wurde Christus, als die erlösende Macht Gottes, bekräftigt darin, dass er schon vor der Erschaffung der Welt beim Vater war. Und man hat bekräftigt, dass er über seine empirische Lebenszeit hinaus tätig ist - auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel und dazu bestimmt, wiederzukehren in der Glorie, um jenes Königreich zu errichten, das er angekündigt hat. Diese Bekräftigungen setzen die Erlösung als ein kosmisches Ereignis voraus, als einen Einbruch von Gottes Macht in die Welt. Es sollte nun einigermaßen klar sein, inwieweit ich mit Bultmanns und Tillichs Position in der Frage des historischen Jesus übereinstimme nämlich im Hinblick auf die Befreiung des geglaubten Christus aus den Kontingenzen der historischen Forschung. Ebenso klar wird sein, wo ich anderer Ansicht sein muss als sie - nämlich bei jeglicher Formulierung, die Christus als ein bloßes Symbol prekärer menschlicher Existenz interpretiert und so die kosmische Wirklichkeit seines Erlöserwerkes verdeckt. Ich habe wiederholt das Wort „Wahrnehmung" gebraucht - die Jünger haben Christus als von den Toten auferstanden „wahrgenommen"; wir können die Kenosis von Jesus' Leben als Vorspiel der Auferstehung „wahrnehmen", und so fort. Diese Wahrnehmungen sind Bewegungen des menschlichen Bewusstseins, die in der Geschichte stattfinden, und im Glaubensakt schreibt man diesen Wahrnehmungen natürlich den Charakter von Wahrheiten zu, die das menschliche Bewusstsein transzendieren, die sozusagen „dort draußen" sind in der Wirklichkeit des Kosmos. Aber im Glaubensakt kann man hier auch von Offenbarung sprechen. Ich habe diesen Punkt schon berührt, als ich die religiöse Entwicklung beschrieben habe, welche im Alten Testament berichtet wird: Wie Eric Voegelin es formuliert, hat Israel Gott „entdeckt" - oder ihn, wie man auch sagen könnte, auf eine bestimmte Weise wahrgenommen. Aber wenn Gott existiert, dann musste er diese Entdeckung, diese Wahrnehmung geschehen lassen. Also können wir sagen, dass Gott sich Israel offenbart hat. Und ebenso können wir sagen: Er hat sich in Jesus Christus offenbart.
Kapitel Sechs „... empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria ..." Die Frage, die im vorigen Kapitel diskutiert wurde, lautete: Wie verhält sich der historische Jesus zum Christus des Glaubens? Und die Frage, der wir uns nun zuwenden müssen, ist sozusagen die Kehrseite jener: Wie verhält sich der Christus des Glaubens schen Tradition?
zum einen Gott der
bibli-
In theologische Begrifflichkeit gefasst ist dies die Frage der Christologie. Man könnte behaupten, es sei dies die entscheidende Frage christlicher Theologie, und sie hat die Kirche von Anbeginn bis in unsere Zeit beunruhigt. Der Satz aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis, der als Titel über diesem Kapitel steht, enthält wie andere Sätze des Bekenntnisses eine ungeheure Spannung. Einerseits wird Jesus Christus als eine Art übernatürliches Wesen definiert. Andererseits wird er beschrieben als Mensch, der von einer bestimmten Frau geboren wurde. Ewigkeit und Zeit stoßen in diesem Satz zusammen. Gott, der in der Ewigkeit wohnt, unendlich weit entfernt von den Kontingenzen der menschlichen Existenz, dringt in diese Existenz zu einem genau bestimmten Zeitpunkt und an einem genau bestimmten Ort ein. Es war von Anbeginn des christlichen Denkens an klar, dass diese paradoxe Behauptung ein Geheimnis widerspiegelt, das dem endlichen menschlichen Verstand unbegreiflich bleibt. Wenn wir darüber sprechen, können wir nur plappern. Doch da wir vernunftbegabt sind, müssen wir nun einmal darüber nachdenken, auch wenn das Ergebnis nur Plapperei genannt werden kann. Die christlichen Denker haben seit Jahrhunderten darüber geplappert, und die Ergebnisse ihrer Anstrengungen sind von fortdauerndem Interesse. Es gibt zwei Elemente dieses Satzes, die hier nicht oder nicht ausführlich behandelt werden sollen. Der Frage, was mit dem Heiligen Geist gemeint ist, gehen wir hier nicht nach - das wird in einem späteren Kapitel diskutiert und führt natürlich zu der ganz besonders christlichen Frage der Trinität. Die Frage der Jungfräulichkeit Marias muss jedoch wenigstens kurz berührt werden, und sei es nur, um anzudeuten, dass sie für das
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Hauptanliegen dieses Kapitels nicht sehr wichtig ist (obgleich sie für viele Christen - besonders in den katholischen und orthodoxen Traditionen für welche Maria ein unabdingbarer Bestandteil ihres Glaubens ist, große Bedeutung hat). Bei weitem die Mehrheit der Neutestamentier ist sich einig, dass die Geschichten von der jungfräulichen Geburt Christi eine späte Einfügung in die Evangelien darstellen und in der ursprünglichen mündlichen Tradition, die der Schriftlichkeit vorausging, nicht gegenwärtig waren. Es gab wahrscheinlich zwei Gründe für den Einschub. Einmal wollte man den Nachweis führen, dass die Ereignisse im Leben Jesu gewisse Prophezeiungen des Alten Testaments erfüllten. Die Geburt Jesu wurde vor allem mit der Prophezeiung im siebten Kapitel des Buches Jesaja (Vers 14) zusammengebracht, die vorhersagte, eine junge Frau werde einen Sohn gebären, „den wird sie heißen Immanuel" (hebräisch für „Gott mit uns"). Jesus ist also aufzufassen als jener Immanuel, in dem Gott wahrhaftig zu uns kam. Dieser Bezug im griechischen Neuen Testament ist sehr wahrscheinlich die Folge einer Fehlübersetzung. Das hebräische Wort in Jesajas Prophezeiung lautet almah, was ganz einfach eine junge Frau bedeutet; von Jungfräulichkeit ist nicht die Rede. Die Septuaginta, die große Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische (die zur Bibel der griechischsprachigen Juden außerhalb Palästinas wurde und den Verfassern des Neuen Testaments natürlich bekannt war) übersetzte almah mit parthenos, was „Jungfrau" bedeutet. Unter all den Fällen, da die Nachlässigkeit eines Übersetzers gravierende Folgen hatte, ist dies möglicherweise der wichtigste in der gesamten Menschheitsgeschichte ... Wie dem auch sei - der andere Grund für das Auftreten der Jungfrauengeburt in den Evangelien mag im Einfluss der hellenistischen Kultur auf die jungen griechischsprachigen Gemeinden außerhalb Palästinas zu suchen sein. Die griechisch-römische Religion steckte voller Erzählungen von göttlichen und halbgöttlichen Gestalten, deren Geburt sich unter übernatürlichen Umständen vollzog. Die jungfräuliche Geburt konnte attestieren, dass Jesus diesen Figuren im Hinblick auf seinen übernatürlichen Status nichts nachgab. Doch all dies kann man - wie ich behaupten würde - gut und gern den Historikern überlassen. Soweit es um die eigentliche Frage dieses Kapitels geht, kann das Thema der jungfräulichen Geburt ohne weiteres beiseitebleiben. Der Entwicklungsweg der christologischen Lehre führte tief in große und oft sehr irritierende Komplexitäten. Im Mittelpunkt steht jedoch ein im Grunde ganz einfaches Anliegen: Die erste christliche Gemeinde erkannte - nach dem Ereignis der Auferstehung, wenn nicht bereits früher - in Jesus eine besondere Qualität, die seine menschliche Person transzendierte und in irgendeinem Sinne göttlich sein musste. Wenn dem so
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war - wie konnte man das verstehen, ohne dass das Verständnis dem Glauben an den einen Gott des Alten Testaments, dem die Christen ja weiter anhingen, zuwiderliefe? Hier lag von Anfang an das zentrale Paradoxon des christlichen Glaubens, jenes „Skandalon", von dem Paulus sprach. Wie er gut wusste, fanden Juden wie Griechen den Gedanken skandalös. Die Juden sahen darin einen blasphemischen Verstoß gegen den für ihren Glauben entscheidenden Monotheismus, und aus genau diesem Grunde exkommunizierten ihre religiösen Autoritäten denn auch das Christentum. Die Griechen andererseits hatten keine Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass ein göttliches Wesen in die menschliche Welt herabgestiegen sein solle (das taten ihre Götter schließlich ständig), aber sie konnten die historische Verortung von Leben und Tod dieses vorgeblich göttlichen Wesens nicht akzeptieren - geboren von einer bestimmten Jüdin und gekreuzigt von einem bestimmten römischen Statthalter. Als sich die Christologie in den ersten Jahrhunderten der Kirche entwickelte, bedienten sich ihre zunehmend komplexen Formulierungen der Sprache des griechischen Philosophierens. Dies war unvermeidlich, da die Christen anderen wie sich selbst ihren Glauben nur innerhalb des eigenen kulturellen Milieus zu erklären vermochten. Die Terminologie, die sie bei dieser fortwährenden Anstrengung benutzten, ist dem modernen Bewusstsein ganz fremd, und es ist schwierig, sie so zu übersetzen, dass sie für Menschen einer ganz anderen Kultur einen Sinn ergibt. Es geht um Begriffe wie ousia, prosopon, hypostasis, die sich nur unvollkommen durch moderne Begriffe wie „Sein", „Person", „Substanz" ausdrücken lassen. Manchmal wirken die frühchristlichen christologischen Kontroversen obskur bis zur Unverständlichkeit, und manchmal hat man den Eindruck, dass bei ihrer Austragung ein bestimmter Typus des in philosophische Haarspaltereien verliebten Akademikers den größten Einfluss hatte. Darüber hinaus können die Historiker nachweisen, dass viele dieser theologischen Stellungnahmen sehr handfesten politischen Interessen dienten - sie gehörten zu Machtspielen von Kaisern, Patriarchen und Bischöfen sowie zu Rivalitäten zwischen verschiedenen Zentren der Christenheit wie Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Rom. All dies darf man voraussetzen. Gewiss waren manche Denker, die an diesen Kontroversen beteiligt waren, von keinem anderen Interesse besessen als dem leidenschaftlichen Wunsch, die Theorien ihrer Rivalen zu demolieren, und natürlich gab es machiavellistisch gesonnene Autoren, denen die Theologie vollkommen gleichgültig war, die aber diese oder jene Position vertraten, weil es ihren politischen Interessen diente. Um so wichtiger ist es, dass man begreift: Im Grunde waren diese christologischen Kontroversen soteriologischer Natur - das heißt: Es trieb sie der überwältigende Wunsch an, die erlösende Bedeutung von Jesus Christus zu bekräftigen.
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Dieses Anliegen bedeutete, dass der natürliche und der übernatürliche Aspekt Christi in eine Balance gebracht werden mussten. Verlor man diese Ausgewogenheit in die eine oder andere Richtung, war die Bedeutung Christi als Erlöser gefährdet. Wenn man den menschlichen Aspekt zu sehr betonte, wurde Jesus einfach zu einem weiteren Beispiel in einer langen Reihe von Propheten oder großen Lehrern, und das erstaunliche Novum der Auferstehung blieb beiseite. Wurde andererseits der übernatürliche Aspekt zu sehr betont, dann war Christus ein göttliches Wesen, welches während der kurzen Episode seines Lebens auf Erden nur ein Mensch zu sein schien - und das würde den entscheidenden christlichen Glauben ignorieren, dass Gott selbst die menschliche Existenz in Jesus Christus mit uns teilte. So oder so würde die vom christlichen Glauben verkündete Erlösung unmöglich. Daher der lange Kampf um die Ausgewogenheit. Unter den Historikern der frühen Kirche gibt es so viele Streitpunkte wie bei jeder anderen beliebigen Gruppe von Historikern, aber der wahrscheinliche Ablauf ist der folgende (wobei ich mich hier hauptsächlich auf das klassische Werk von Wilhelm Bousset, Kyrios Christos, verlasse, das aus dem Jahre 1 9 1 1 stammt, aber immer noch eine zuverlässige Quelle scheint): Wie im vorhergegangenen Kapitel erwähnt, gab es in der ursprünglichen palästinensischen Jüngergemeinde zu Lebzeiten Jesu und unmittelbar nach seinem Tod nicht die Annahme, Jesus und Gott seien identisch. Die früheste Christengemeinde verkündete, Jesus sei ein Mensch, der durch die Auferstehung als der kommende Messias offenbart worden sei - wenn auch hier bereits wahrgenommen wurde, dass er Züge hatte, die mehr als menschlich waren. In den frühchristlichen Gemeinden unter hellenisierten Juden außerhalb Palästinas (vor allem in Damaskus und Antiochia) entwickelte sich eine kultische Verehrung, in der Jesus als Herr, kyrios, angerufen wurde - in immer engerer Nähe zu Gott. Diese Verehrung konzentrierte sich vor allem in den Tauf- und Abendmahlsfeiern. Die so genannte Christusmystik des Paulus spiegelt den Glauben dieser Gemeinden - schließlich kam Paulus in Damaskus zum ersten Mal nach seiner Bekehrung mit einer christlichen Gemeinde in Berührung. Doch nirgendwo identifiziert Paulus den kyrios mit Gott. In der johanneischen Tradition (die, zumindest was die schriftlichen Texte betrifft, den Schriften des Paulus vorangeht) findet sich eine deutliche Betonung der Präexistenz Christi als logos, als das Wort Gottes Christus existiert also vor dem irdischen Leben Jesu. Dieser Glaube findet natürlich beredten Ausdruck in den einleitenden Versen des Johannesevangeliums. Der Glaube an diesen präexistenten Christus ist nunmehr von der jüdischen Messiaserwartung ganz getrennt (auch der Name Christus hat jetzt seine ursprünglichen hebräischen Assoziationen verloren
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und ist einfach Teil des Namens des Herrn - Jesus Christus). Das irdische Leben Jesu wird als eine Art Episode im ewigen Sein des Logos/Christus gesehen, was eine zunehmende Nähe Christi und Gottes bedeutet. Wahrscheinlich hat Johannes auf Paulus aufgebaut, doch mit einem wesentlichen Unterschied: Paulus hatte kein Interesse an Jesus „nach dem Fleische" - das heißt: in den Ereignissen seines Lebens auf Erden, während das Johannesevangelium ein detailliertes Bild dieses Lebens entwirft, dabei dieses Leben aber nun im Lichte jener Glaubensannahmen reinterpretiert, welche zu Anfang des Evangeliums entwickelt werden. Es liegt eine fast unausweichliche Logik in dieser Entwicklung. Wenn eine göttliche Gegenwart in Jesus wahrgenommen wird, dann treibt diese Wahrnehmung hin zur Annahme von Präexistenz und Postexistenz: Die göttliche Gegenwart muss vor dem irdischen Leben Jesu dagewesen sein und muss nach seinem Lebensende fortgedauert haben. Dieser Schub hat wiederum einen soteriologischen Antrieb: Wenn Gott tatsächlich zur Erlösung der Menschheit in Christus gegenwärtig war, dann konnte dieses Erlösungswerk nicht in einer einzigen kurzen Episode menschlicher Geschichte vollständig enthalten sein. Es musste lange vorher vorbereitet worden sein, und seine Vollendung musste in der Zukunft liegen. Die frühen Kirchenväter wie Clemens und Ignatius sprachen nun davon, dass Christus einen zwiefachen Charakter habe, göttlich wie menschlich. Unvermeidlicherweise musste jetzt darüber nachgedacht werden, wie diese Zweiheit zu verstehen war. Es ist klar, dass hier in diesem Kapitel keine Möglichkeit vorhanden ist, detailliert auf die labyrinthischen Komplexitäten der christologischen Kontroversen in der frühen Kirche einzugehen. Hier lässt sich lediglich die ihnen zugrunde liegende Logik umreißen. Aus ursprünglich wahrscheinlich höchst untheologischen Gründen waren Alexandria und Antiochia, beide frühe Mittelpunkte des christlichen Lebens und beide bald Patriarchensitze, Gegenspieler in diesen Debatten. Alexandria neigte dazu, die göttlichen Aspekte Christi zu betonen, Antiochia hob die menschlichen hervor. Man kann nur spekulieren, was das für Ursachen hatte es mag mit der ganz verschiedenen Kulturgeschichte der beiden Städte zusammenhängen. Beide hatten einen Firnis hellenistischer Kultur, und die Theologen beider schrieben Griechisch. Aber hinter der hellenistischen Fassade lagen sehr unterschiedliche einheimische Kulturen - im Falle Alexandrias eine nicht-semitische, die viele Jahrhunderte zurück in die ägyptische Geschichte reichte, im Falle Antiochias eine semitische Kultur mit ebenso langer Geschichte. Wie dem auch sei, die beiden jeweiligen Akzentuierungen waren nicht rein geographisch bedingt - es gab alexandrinische Theologen, die den menschlichen Charakter Christi betonten, und Antiochianer, die seine göttliche Natur hervorhoben.
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Die Gnosis bietet ein extremes Beispiel für das Herunterspielen - in der Tat das völlige Leugnen - der Menschennatur Christi. Die Gnosis, ein kompliziertes Corpus religiöser Lehren, teilweise älter als das Christentum, sah die Welt als wesentlich böse an (womit sie die biblische Idee von der Schöpfung verwarf) und die Erlösung als völlige Trennung von dieser Welt. Ihr hauptsächlicher christlicher Vertreter war Marcion, einer der großen frühen Ketzer, der logischerweise das gesamte Alte Testament verwarf - er sah den Gott Israels als eine satanische Figur und die Welt als Schöpfung dieses Satans - und das Neue Testament auf einige zensierte Schriften des Paulus und das Lukasevangelium reduzieren wollte. Christus erscheint so als göttlicher Retter, welcher von einem fernen Gott herkommt, der ganz und gar jenseits dieser Welt ist. Adolf von Harnack, der die klassische Studie über Marcion verfasste, hat diese Weltanschauung sehr schön im Untertitel seines Buches bezeichnet, welcher lautet: Das Evangelium vom fremden Gott. Die Kirche wies die marcionitische Ketzerei entschieden zurück: Ihr Gott war nicht „fremd", er war der Schöpfer, der auch der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs war, offenbart im Alten Testament. Es entwickelten sich auch - vor allem in Alexandria - weniger extreme heterodoxe christologische Lehren, die man als Monophysitismus (Christus hat nur eine Natur - physis - , und zwar eine göttliche) oder Doketismus bezeichnete (letzteres von dem griechischen Verbum dokein, „scheinen": Christus schien nur menschliche Gestalt anzunehmen und schien deshalb nur am Kreuze zu sterben). Es gibt verschiedene Varianten dieser Meinung, aber sie fassen alle Christus als ein rein übernatürliches Wesen auf, dessen menschliche Erscheinungsform als Jesus entweder radikal abgewertet oder ganz und gar bestritten wird. Am anderen Spektralende der christologischen Möglichkeiten stehen die so genannten Ebioniten (ein Name, der von einer frühen Gruppe von Judenchristen herkommt). Hier hat Jesus, der Sohn - ohne jungfräuliche Geburt - Marias und Josephs, das jüdische Gesetz so vollkommen erfüllt, dass Gott ihn als Messias erwählte. Dieser Häresie entspringen verschiedene Formen dessen, was man dann später Adoptianismus nannte: Hier wird jegliche Präexistenz Christi geleugnet. Jesus von Nazareth war ein völlig menschliches Wesen, das von Gott „adoptiert" wurde, damit es der Erlöser sei. Natürlich wurde auch diese Ketzerlehre von der kirchlichen Hauptströmung früh verworfen. Die große christologische Debatte des vierten Jahrhunderts kreiste um die Frage des Arianismus. Der Hauptgegner dieser Häresie war Athanasius, der Bischof von Alexandria. Ursprünglich war sie von Arius formuliert worden - der, wie um alle Vorstellungen von einer geographischer Bestimmtheit der Positionen zu widerlegen, ebenfalls ein alexandrinischer Priester war. Arius betonte die Transzendenz Gottes
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sehr stark, die niemals in einem endlichen Wesen enthalten sein könne. Christus gehört der erschaffenen Welt an, obwohl er seiner Natur nach Gott ähnlich (homoiousios) war. Einfach ausgedrückt: Christus wurde als eine Art Wesen zwischen Gott und Mensch verstanden. Dem hielt Athanasius entgegen, die Natur Christi sei identisch (homoousios) mit der Gottes. Nur ein Buchstabe unterscheidet die beiden Ansichten, das griechische Jota, und viele Scherze sind seither über diesen Umstand gemacht worden - die Redewendung, etwas unterscheide sich „nicht um ein Jota" von etwas anderem, geht auf diese alte Kontroverse zurück. Doch lässt sich leicht erkennen, dass es hier um etwas sehr viel Ernsteres als um terminologische Haarspalterei ging. Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass Arius versuchte, das zentrale Paradoxon des christlichen Glaubens zu eliminieren, während Athanasius leidenschaftlich um seine Beibehaltung kämpfte. (Athanasius war allen Berichten zufolge auch eine höchst unangenehme Figur, ein Mann, der gegnerische Ansichten nicht nur zurückweisen, sondern völlig ausrotten wollte - aber das spielt hier keine Rolle.) Auf dem Konzil von Nicäa im Jahre 325 wurde die Haltung des Athanasius bestätigt und der Arianismus verworfen. Trotz der Neigung der Kirchengeschichtler, dieses Konzil zu verherrlichen, war es keine besonders appetitliche Angelegenheit. Einberufen wurde es von Kaiser Konstantin, der sich soeben zum Christentum bekehrt hatte. Ob diese Bekehrung neben der politischen Opportunität noch irgendwelche anderen Gründe hatte, darüber streiten sich die Historiker - aber es ist offensichtlich, dass Konstantin kein großes Interesse an den Nuancen theologischer Kontroversen hatte. In der besten Tradition des römischen Staatsdenkens glaubte er, dass zur politischen Einheit des Reiches die religiöse Einheit gehörte, und deshalb musste dieses Priestergezänk ein für alle Mal an ein Ende gebracht werden. Was den Arianismus betrifft, so tat das Konzil dies auch unmissverständlich. Und wie zwielichtig auch die Ursprünge dieser Konzilsversammlung gewesen sein mögen, sie schenkte uns das nicänische Glaubensbekenntnis mit seiner eloquenten christologischen Sprache, der Bekräftigung des Glaubens an den „einen Herrn Jesus Christus, den eingeborenen Sohn Gottes, gezeugt von seinem Vater vor allen Welten, Gott von Gott, Licht vom Licht, Gott selbst von Gott selbst, erzeugt, nicht erschaffen, aus einer Substanz (ousia) mit dem Vater, von dem alle Dinge erschaffen wurden" - worauf die Glaubensformel fortfährt, von der Inkarnation zu sprechen. Man darf sagen, dass das zentrale Paradoxon glorreich aufrechterhalten wurde. Doch das war natürlich nicht das Ende dieser Geschichte. Diverse christologische Positionen schwankten weiterhin zwischen den beiden Extremen, und eine ganze Anzahl von Konzilien mühte sich,
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die nicänische Ausgewogenheit aufrechtzuerhalten. Im fünften Jahrhundert rückte die so genannte nestorianische Kontroverse in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Nestorius, ein Priester aus Antiochia, wurde im Jahre 428 Patriarch von Konstantinopel. Er führte einen sich verschärfenden Streit mit Cyrill, dem Patriarchen von Alexandria. Wieder standen sich also Alexandria und Antiochia gegenüber, wobei Antiochia diesmal dadurch gestärkt war, dass sein Vertreter eine Schlüsselposition im Zentrum kaiserlicher Macht erlangt hatte. Einige moderne Gelehrte haben versucht, darzulegen, Nestorius sei missverstanden worden und habe sich tatsächlich in viel größerer Nähe zur Orthodoxie befunden, als sowohl seine Kritiker wie seine Anhänger glaubten. Wie dem auch sei Cyrill war der Ansicht, Nestorius habe die Menschheit Jesu zu stark betont und nehme jene Position ein, die man dann Adoptionismus nennen sollte. Cyrill andererseits rückte sehr nahe an eine monophysitische Haltung: Die einzige Person (hypostasis) in Christus ist der göttliche Logos, der „Fleisch ward". Dieser Meinung zufolge war Jesus eigentlich kein individueller Mensch. Wiederum verknüpften sich durchaus untheologische politische Interessen mit der Kontroverse. Es ging nicht nur um die alte Rivalität zwischen Alexandria und Antiochia, es herrschte in Alexandria auch Unmut über den arroganten Anspruch Konstantinopels. Diese Antagonismen dauerten lange fort. Es ist sogar möglich, dass sie eine Rolle bei dem Umstand spielten, mit welcher Leichtigkeit der Islam Jahrhunderte später Ägypten erobern konnte; es ist denkbar, dass die monophysitischen Neigungen in Ägypten eine Affinität zum radikalen Monotheismus des Islam begründeten. Die nestorianische Kontroverse hatte einen eigenartigen Hauptpunkt - Maria. Es ging dabei nicht um ihre anzunehmende Jungfräulichkeit, sondern um ihr Verhältnis zu Jesus. Es war gebräuchlich geworden (und dies nicht nur in Alexandria), von Maria als theotokos zu sprechen, der „Gottesgebärerin", der Mutter Gottes, eine wahrhaft paradoxe Formulierung. Dieses Paradox war Nestorius zuviel. Er wandte sich gegen diesen Ausdruck und nannte stattdessen Maria nur die „Mutter Christi". Cyrill begann einen unerbittlichen Feldzug für den Begriff theotokos und gegen Nestorius. Man appellierte an den Kaiser in Konstantinopel und den Papst in Rom. Das Konzil von Ephesus 431 bestätigte schließlich Cyrills Position, und Nestorius wurde in ein unbequemes Exil in Oberägypten geschickt. Es ist interessant, dass nestorianische Missionare in Gebieten außerhalb des Imperiums noch längere Zeit erfolgreich waren, bis hinüber nach Indien. Die meisten christologischen Häresien stellten drastische Vereinfachungen dar, und diese waren reizvoll für Bevölkerungen, die in weiter Ferne von den subtilen theologischen Zentren der
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Mittelmeerwelt lebten - der Erfolg des Arianismus bei den germanischen Stämmen ist ein weiteres Beispiel hierfür. Zwei mächtige Männer beschlossen schließlich, in der ganzen Sache nun endgültig einen Schlussstrich zu ziehen - Kaiser Marcian und Papst Leo I. Das Konzil von Chalcedon wurde 451 einberufen, und es versuchte, eine mittlere Position zwischen Alexandria und Antiochia zu finden. Es bestätigte den Gebrauch des Ausdrucks theotokos und bekräftigte, dass es eine einzige Wirklichkeit (hypostasis) in Christus gebe, aber es bestand auch darauf, dass diese Wirklichkeit gleichzeitig die des ewigen Logos und die eines einzelnen menschlichen Wesens war. Die chalcedonische Schlüsseldefinition klingt für heutige Ohren ein wenig bizarr, aber hinter der gewundenen Sprache kann man wieder den leidenschaftlichen Wunsch erkennen, das Zentralmysterium des christlichen Glaubens zu bewahren: „In der Nachfolge der heiligen Väter ist unsere übereinstimmende Lehre und unser Bekenntnis zu ein und demselben Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, derselbe vollkommen in der Gottheit, derselbe auch vollkommen in der Menschheit, wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch, derselbe mit vernünftiger Seele und Leib, dem Vater wesenseins der Gottheit nach (homoousios), derselbe auch uns wesensgleich der Menschheit nach, uns in allem ähnlich, die Sünde ausgenommen; vor den Zeiten aus dem Vater geboren der Gottheit nach; am Ende der Tage aber eben derselbe unsertwegen und um unseres Heiles willen (geboren) aus Maria der Jungfrau, der Gottesgebärerin, der Menschheit nach; ein und derselbe Christus Sohn Herr Eingeborener, in zwei Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungesondert erkennbar; niemals wird der Unterschied der Naturen aufgehoben der Einigung wegen, vielmehr wird die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen bewahrt, auch im Zusammenkommen zu einer Person (prosopon) und einer Hypostase, nicht geteilt oder getrennt in zwei Personen, sondern ein und derselbe eingeborener Sohn, Gott, Logos, der Herr Jesus Christus, wie schon die Propheten von alter her über ihn verkündigt haben, und Jesus Christus selbst uns gelehrt hat, und wie das Symbol der Väter uns überliefert hat." Ich glaube, man darf sagen, dass ein moderner Mensch, der mit den Nuancen des hellenistischen Philosophierens nicht vertraut ist, diesen Text mit gemischten Gefühlen lesen wird. Auf einer Ebene liest sich das wie Kauderwelsch. Doch auf einer anderen Ebene ist offensichtlich, was die in Chalcedon Versammelten sich zu tun bemühten - sie wollten die Erlöserfunktion Christi gegen die zwei widersprüchlichen Positionen verteidigen, von denen aus man jeweils versuchte, sie zu verringern.
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Niemand war völlig glücklich mit dem Ergebnis von Chalcedon. Christologische Kontroversen setzten sich in immer neuen Form durch die byzantinische Geschichte hindurch fort, mindestens bis ins zwölfte Jahrhundert. Auch die verschiedenen politischen Interessen blieben unausgesöhnt. Der Papst spielte bei der Einberufung und Lenkung des Konzils eine wichtige Rolle. Doch auf Drängen des Kaisers erließ das Konzil auch eine Proklamation, in welcher Konstantinopel seinem kirchlichen Status nach Rom gleichgestellt wurde - was den Papst erzürnte. Was soll man nun von alledem halten? Es ist eine konfuse und ein wenig zwielichtige Geschichte. Aber es ist auch die Geschichte davon, wie die Kirche zu einem Konsensus darüber fand, wie man die Erlöserrolle Christi aufzufassen hat. Mir scheint, man kann mit dieser Anstrengung einig sein, auch wenn vieles an der Sprache und der ßegriffsmaschinerie für moderne Ohren seltsam knarrt. Der größte Teil der modernen Theologie hat sich eher Antiochia angenähert als Alexandria. Die liberale protestantische Interpretation Jesu, auf die wir im vorangegangenen Kapitel zu sprechen kamen, könnte man durchaus ihrer Tendenz nach ebionitisch nennen. Um ein Beispiel zu haben, können wir uns wieder John Hick zuwenden, einem ungewöhnlich fruchtbaren Autor, zu dessen vielen intellektuellen Anliegen die Christologie zählt. 1977 hat er als Herausgeber einen Sammelband vorgelegt, The Myth of God Incarnate (Der Mythos von der Inkarnation Gottes), der eine längere Kontroverse auslöste. Das Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen einer Gruppe liberaler protestantischer Theologen. Sein Titel fasst die zentrale These gut zusammen, wie auch der eines der Aufsätze (von Maurice Wiles): „Christentum ohne Inkarnation?" Hier ist das Fragezeichen schon fast kokett. Frances Young fasst die Ergebnisse der Wissenschaft vom Neuen Testament zusammen, die wir bereits berührt haben: Es gibt keine Belege dafür, dass Jesus oder seine Jünger oder selbst Paulus Göttlichkeit für ihn beanspruchten; all dies ist eine spätere Entwicklung. Und doch gibt es - wie Hick in seiner Einleitung sagt - immer noch den Glauben „aufrichtiger und nachdenklicher Menschen, die von der Gestalt Jesu tief angezogen werden und von dem Licht, das seine Lehre auf den Sinn des menschlichen Lebens wirft" (ebd., S. ix). Um diesen Glauben zu schützen, muss sich das christliche Denken den kognitiven Grundannahmen des modernen Bewusstseins anpassen. Was dieses moderne Bewusstsein angeblich ertragen kann - darüber ist sich Hick im wesentlichen einig mit Rudolf Bultmann. So ist es notwendig, die „mythologischen" Elemente des Neuen Testaments aufzugeben und sich auf die „Gestalt Jesu" und „seine Lehre" zu konzentrieren, damit „aufrichtige und nachdenkliche Menschen" (von denen viele in Universitätsstädten wohnen) sich weiterhin als Christen verstehen können. Da haben wir
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Jesus also wieder als bewundernswertes Vorbild und großen Lehrer. Ich brauche hier nicht umständlich zu wiederholen, was ich oben ausgeführt habe - dass dieser Jesus überaus uninteressant ist und dass wir, „aufrichtig und nachdenklich", sehr gut auf ihn verzichten können. Folgendermaßen beschreibt einer der Autoren des Bandes, Michael Goulder, diese Position: „Ich sehe das Wachstum einer Gemeinschaft der selbst-schenkenden Liebe als Grundimpuls des Willens Gottes in der menschlichen Geschichte, und ich sehe diese Gemeinschaft hauptsächlich in der von Jesus gegründeten Kirche verkörpert" (ebd., S. 57). Und kurz darauf: „Ich fasse Jesus als denjenigen auf, der von Gott bestimmt war, die Gemeinschaft selbstloser Liebe in der Welt zu begründen" (ebd., S. 60). Mir scheint: Was wir hier haben, ist ein im liberalen Protestantismus nur allzu häufiger blasser Moralismus. Ich würde behaupten, dass seine Maximen utopisch sind und in der wirklichen Welt wahrscheinlich katastrophale Folgen haben könnten. Aber das ist eine andere Geschichte. Für unsere Erörterung hier ist es wichtig, dass dieses Verständnis des Christentums sich von der Darstellung Jesu im Neuen Testament absetzen muss (das hat Albert Schweitzer klar erkannt), und dass es zu einer religiösen Haltung führt, welche nicht in der Lage ist, eine Antwort auf die brennenden Fragen zu geben, die von den brutalen Realitäten menschlicher Existenz aufgeworfen werden. Goulder selbst beschreibt diese Position als „eine Christologie eher des Handelns als des Wesens" und das „Handeln" Jesu überschreitet nie die Grenzen dieser Welt. Doch bringen manche Stimmen in dem von Hick herausgegebenen Band eine nuanciertere Haltung zum Ausdruck. Der vielleicht interessanteste Beitrag stammt von Frances Young, deren Feld eher die Wissenschaft vom Neuen Testament ist als die systematische Theologie. Sie teilt gewiss die - sozusagen - Bultmannschen Grundannahmen hinsichtlich jener ehrfurchtgebietenden Instanz, dem „modernen Bewusstsein": Die Christen der frühen Kirche lebten in einer Welt, in der eine Verursachung durch übernatürliche Kräfte ohne weiteres akzeptiert wurde, und ein Auftreten göttlicher oder spiritueller Besucher nicht ausgeschlossen wurde. Solche Annahmen sind für unsere Situation jedoch ganz fremd geworden. In der westlichen Welt werden sowohl die Massenkultur wie die Kultur der Intelligenz so sehr von den Human- und Naturwissenschaften dominiert, dass eine übernatürliche Verursachung oder Intervention in den Angelegenheiten der Welt für die Mehrzahl der Menschen schlicht unglaublich ist. (ebd., S. 3 1 ) Man fragt sich, welche Art soziologischer Forschung Frances Young wohl außerhalb des Campus der University of Birmingham (wo sie damals lehrte) betrieben hat, um zu diesem lapidaren „schlicht unglaub-
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lieh" zu gelangen. Unglaublich für wen? Noch bedeutsamer: Es scheint ihr gar nicht einzufallen, dass immerhin die Möglichkeit eines Irrtums seitens der „Mehrzahl der Menschen" bestehen könnte - und dass vielleicht alle möglichen übernatürlichen Wesen über Birmingham schweben mögen, ungesehen von den im Professorenzimmer versammelten Kollegen. Doch nachdem sie dieses empirisch dubiose Manifest über Glaubwürdigkeit formuliert hat, entwickelt sie eine Argumentation von weitaus geringerer Blässe, als sie die Positionen von Hick und Goulder zeigen. Sie wird hier sehr beredt: „Erlösung und Entsühnung stehen im Mittelpunkt der christlichen Botschaft ... Der Glaube fordert eine Doktrin der Sühne, und Sühne bedeutet die Überzeugung, dass Gott sich irgendwie mit dem Bösen auseinandergesetzt hat, mit der Sünde, mit der Rebellion; dass am Kreuz Gott in Christus in das Leiden, das Böse und die Sünde dieser Welt eingetreten ist - eingetreten ist in die Finsternis, die er dann in Licht verwandelt hat, in gleißende Glorie" (ebd., S. 34f.) Man beachte die Formulierung „Gott in Christus" - sie passt nicht ganz zu der modernen Epistemologie, von der die Autorin noch kurz vorher behauptet hatte, sie sei obligatorisch. Und man beachte das „irgendwie" - hier findet sie sich mit einem Male in Gesellschaft derer, die dieses „irgendwie" in Nicäa und Chalcedon zu enträtseln versuchten. Natürlich beharrt Frances Young auf ihrer Forderung, der Glaube müsse frei sein von dem, was sie „mythologische Sprache „ nennt. Aber dann sagt sie: „Ich finde das Heil in Christus, weil mir in ihm Gott als ein ,leidender Gott' offenbart wird" (S. 38). Ich für mein Teil habe keine Schwierigkeiten, diesem Satz beizupflichten. Er passt gut zu dem Nexus, den ich im Kapitel über die Theodizee zu formulieren versucht habe. Und ich stimme auch der Aussage zu, dass man beim Nachdenken über den Status, der Jesus Christus zukommt, den „Primat der Soteriologie" anzuerkennen habe. Mit dieser Aussage finden sie und ich uns in unmittelbarer (vielleicht unbehaglicher) Nähe zu denen wieder, die sich selbst in orthodoxeren Begriffen beschreiben würden. Ich möchte bei dieser Gelegenheit einige orthodoxere Varianten der jüngeren Theologie vorstellen. Zuerst etwas zu Donald Baillie (God Was in Christ). Er erklärt den Grund dafür, dass man eine Christologie nicht nur zum Zwecke der Klärung unseres Verständnisses von Jesus, sondern von Gott zu formulieren versucht, folgendermaßen: „Eine wahre Christologie wird uns nicht lediglich sagen, dass Gott wie Christus ist, sondern dass Gott in Christus war. Also sagt sie uns nicht nur etwas über die Natur Gottes, sondern über sein Handeln - darüber, was er getan hat, darüber, dass er in Jesus Christus den ganzen Weg zurückgelegt hat zu unserer Erlösung; und es gibt keine andere Möglichkeit, die christliche Wahrheit über Gott auszudrücken." (ebd., S. 66f.)
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Baillie erklärt dann, was in den ersten christlichen Jahrhunderten geschah - im Verlauf der Entwicklungen, die oben in diesem Kapitel erläutert wurden. Die Kirche hat in ihren historisch ausdrücklich formulierten Glaubensbekenntnissen auf dem Paradoxon bestanden, dass Christus vollkommen Mensch und vollkommen Gott war und hat sowohl die Verringerung seiner Menschennatur (wie im Monophysitismus und Doketismus) wie die Verringerung seiner Göttlichkeit (wie im ebionitischen Christentum) zurückgewiesen - und auch die arianische Position, er sei eine Art Halbgott gewesen: „Die Frage war: Ist der Erlösungszweck, den wir in Jesus finden, unabdingbarer Teil des Wesens Gottes? Gehört es zu seiner Natur, etwas zu erschaffen und sich zu offenbaren und seine Schöpfung zu erlösen? Ist es deshalb nicht irgendein untergeordnetes oder interimistisches Wesen, sondern der Ewige Gott selbst, der sich uns offenbart und sich in Jesus zu unserer Errettung inkarniert hat?" Lassen Sie mich noch eine andere einigermaßen orthodoxe Stimme zitieren: John Macquarrie (Christology Revisited, Harrisburg 1998): „Wenn wir sagen: ,Gott war in Christus', dann behaupten wir, dass in Jesus Christus etwas Transzendentes war oder ist, etwas, das über ein historisches Menschenleben hinausgeht, etwas, das ewig ist ... Es wäre falsch, wenn man sagte, dass es in Jesus einen ewigen Teil gibt, denn dann schiene Jesus in zwei Teile zerlegt, und ohnehin würde der ewige Bestandteil den zeitlichen (sozusagen) verschlingen, wie es in der Tat in einigen idealistischen Philosophiesystemen geschah - mit dem Ergebnis, dass Jesus Christus schlicht zum Ideal oder Archetypus wird, seine menschliche und historische Tatsächlichkeit verliert und deshalb auch seine Bedeutung für die menschliche Existenz." (ebd., S. 99)
Und weiter: „Wenn Christus nach seinem Tod in der Macht Gottes weiterlebte, muß er dann nicht wie Gott selbst nicht nur ohne Ende, sondern auch ohne Anbeginn sein? ... Jesus Christus ist das sich zum Ausdruck bringende Sein Gottes, das Wort, in dem die Quelle der Gottheit, der Vater, aus seiner Verborgenheit und seinem Schweigen hervorgekommen ist, um eine Schöpfung zu formen. In dieser Schöpfung hat das Wort seinen reichsten Ausdruck in einem menschlichen Leben gefunden. Wir dürfen nicht annehmen, dass Christus präexistent in dem Sinne gewesen wäre, dass er wie ein Schauspieler in der Kulisse auf das Stichwort gewartet hätte, um, ,als die Zeit erfüllet war', auf die Bühne der Geschichte zu treten. Aber es bedeutet, dass vom Beginn an Christus, das inkarnierte Wort, im Rat Gottes vorhanden war, und dass seine Menschheit wie die von uns allen in den langen
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Zeitaltern kosmischer Evolution Gestalt annahm. Nichts in alledem verstößt gegen die Vernunft, wenn es auch gewiß über das hinausgeht, was die Vernunft fassen kann - und es liegt hierin auch nichts, was zu verneinen zwänge, dass das göttliche Wort sich auch außerhalb des Menschenleben Jesu manifestiert hat - in der Natur, in der Geschichte, in den nichtchristlichen Religionen. Doch bleibt Christus für den Christen, wie Pascal sagte, der Mittelpunkt von allem. Dies ist das absolute Paradoxon - dass dieser geringe gekreuzigte Mensch auch das ewige Wort Gottes ist." (ebd., S. 1 1 4 ) Ich habe gewisse Schwierigkeiten, dieses Kapitel zu Ende zu bringen. Ich möchte mich eigentlich nicht als orthodoxer Chalcedonianer outen. Ich kann nur zu dem Nexus zurückkehren, den ich oben vorgeschlagen habe - dass Gott nur glaubhaft ist durch die Kenosis, in der Gott verstanden wird als teilnehmend am Leiden der Welt und als durch dieses Leiden hindurchgehend zum Triumph. Dieser Prozess wird entscheidend in Jesus Christus enthüllt, insbesondere in seinem Tod und seiner Auferstehung. Wenn Gott wirklich in diesem Prozess anwesend ist, dann kann es nicht sein, dass Jesus das lediglich als symbolische Repräsentation enthüllt. Mit anderen Worten: Jesus Christus kann nicht lediglich eine Metapher sein. Mehr noch - das Ereignis der Enthüllung Gottes in Christus muss seinem Ausmaß nach kosmisch sein, denn es ist nicht lediglich die menschliche Existenz, die der Erlösung bedarf. Es steckt eine große Schadhaftigkeit in der Schöpfung, und dieser Schaden muss geheilt werden (in einem Vorgang, den die jüdische Mystik tikkun olam nennt, die Heilung der Welt). Deswegen muss Gottes Anwesenheit in Christus eine kosmische Dimension haben. Aus diesen Gründen kann ich den christologischen Bekräftigungen in den alten Glaubensformeln zustimmen, auch wenn die griechische Metaphysik darin mich ein wenig das Gesicht verziehen lässt. Und an diesem Punkt befinde ich mich - überraschenderweise - in Übereinstimmung mit Bultmann. Ich meine eine Äußerung von ihm, auf die ich im letzten Kapitel zu sprechen gekommen bin. Nachdem Bultmann seinen Zweifeln Ausdruck gegeben hatte, was das Insistieren des Weltkirchenrates anging, Christus könne mit Gott identifiziert werden, schließt er, wir sollten uns vielleicht schlicht „getrost damit begnügen", dass wir sagen: Christus ist das Wort Gottes. Und dieses Wort, der johanneische Logos, hallt durch den Kosmos und durch die ganze menschliche Geschichte.
Exkurs: Über das Gebet im Namen Christi Wenn man Christus als das Wort Gottes versteht, so gründet dieses Verständnis im Zentrum der biblischen Auffassung von Gott - von einem Gott, der spricht. Das heißt: Gott ist nicht ein unpersönlicher Seinsgrund, in dem man sich versenken kann, sondern er ist eine Person, die zwar offensichtlich ungeheuer verschieden ist von menschlichen Personen, mit ihnen aber genau diesen Zug des Sprechens gemeinsam hat und folglich auch die Fähigkeit, mit sich sprechen zu lassen. Das Alte Testament ist das Zeugnis von Gottes Sprechen zu Israel, das Neue Testament ist das Zeugnis dafür, dass Gott durch den Menschen Jesus gesprochen hat, der auch der kosmische Erlöserchristus ist. Als man sich im Verlauf der im letzten Kapitel skizzierten Entwicklung den Kopf über die christologischen Definitionen zerbrach, stellte sich die Annahme als unerlässlich voraus, Christus sei dem irdischen Leben Jesu bereits präexistent gewesen - sei es gewesen als (mit der johanneischen Formulierung) der Logos, der von Anbeginn mit Gott oder in Gott war, und durch den das Sprechen, welches die Schöpfung hervorbrachte, geschah. Und was besonders wichtig ist: Christus ist das Wort, welches die Erlösung der Welt herbeiführt, die Wiedereinsetzung der beschädigten Schöpfung in ihre vorgesehene Herrlichkeit. So war es folgerichtig, dass die Christen von frühen Zeiten an nicht nur im Namen Christi beteten, sondern zu Christus - die Anfänge des Kyrios-Kultes, der ebenfalls im vorhergehenden Kapitel erwähnt wurde. Doch es bleibt für uns, die wir viele Jahrhunderte nach diesen Entwicklungen leben, die Frage: Was bedeutet es, in Christi Namen zu beten? Zunächst einmal ist dies ganz offensichtlich keine magische Übung. In den Evangelien heißt es, Jesus habe gesagt, wenn zwei oder drei seiner Jünger versammelt seien in seinem Namen, würden ihre Gebete erhört werden. In der Volksfrömmigkeit hat man dies oft als eine Art magischer Kreditkarte verstanden: auf ein Gebet im Namen Christi müsse Gott eine positive Antwort geben. Und manchmal gesellte sich dieser Vorstellung der zutiefst schmähliche Gedanke hinzu, dass alle anderen Gebete (von Juden etwa, Muslimen oder Hindus) von Gott nicht erhört würden. Diese
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Ideen sind nichts als Aberglaube und können nur verworfen werden: Sie sind unvereinbar mit der biblischen Auffassung von Gott, der sich nicht mit magischen Mitteln manipulieren lässt. Die unmittelbarste Erklärung, was es heißt, im Namen Christi zu beten, wäre: Man soll beten, wie Jesus gebetet hat. Die Wissenschaft vom Neuen Testament ist sich, wie wir gesehen haben, in buchstäblich allem uneins, aber es gibt ein hohes Maß an Übereinstimmung im Hinblick darauf, dass das so genannte Vaterunser eine glaubwürdige Tradition von der Lehre Jesu über das Gebet widerspiegelt. Es hat durch die Jahrhunderte im Mittelpunkt der christlichen Frömmigkeit gestanden, großartig in seiner Einfachheit (wenn sich in dieser Einfachheit auch einige ernste Probleme verbergen). Auf jeden Fall enthält das Vaterunser die bedeutungsschwere Formulierung: „Dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden". Wenn dies irgendetwas bedeutet, dann doch dies: Worum man auch betet, es unterliegt dem Willen Gottes, und der Betende unterwirft sich diesem Willen. Eine solche Formulierung war traditionell die wichtigste Erklärung dafür, dass Gebete unerfüllt bleiben (übrigens für Juden und Muslime ebenso wie für Christen): Selbst wenn Gott scheinbar das verweigert, worum ich gebetet habe, so vertraue ich darauf, dass diese Weigerung mir am Ende zum Besten ist, denn Gott will meine Errettung. Mir scheint, diese Erklärung stimmt mit dem Wesen des Glaubens zusammen, das aus dem Vertrauen darauf besteht, dass die Schöpfung letzten Endes gut ist. Doch bleiben hier eine Reihe offener Fragen; es ist nützlich, einige Unterscheidungen zu treffen. Eine einfache Unterscheidung, heute, da so viel so genannte „Spiritualität" im Umlauf ist, wäre besonders wichtig: Gebet ist nicht Meditation. In den meisten ihrer Formen ist Meditation eine Bewegung nach innen. Das Individuum konzentriert seine Aufmerksamkeit in sich, es „zentriert" sich bei dem Versuch, eine heilsbringende Wahrheit in den Tiefen des eigenen Bewusstseins zu entdecken. Ich bin hier nicht an der Frage interessiert, ob in derartigen Tiefen denn irgendetwas anderes zu finden wäre als der zwielichtige Abfall, den die Psychoanalyse zutage zu fördern behauptet, oder ob es in der Tat überhaupt solche Tiefen in uns gibt (ich neige in beiden Fällen zur Skepsis). Doch selbst wenn man diese inneren Tiefen als wahrhaftig existent voraussetzt, bleibt immer noch die Frage, ob Gott dort zu finden ist - ich kann hier nur auf das bereits erwähnte Programm einer mystischen Theologie verweisen, die glücklicherweise außerhalb der Reichweite meiner Argumentation in diesem Buch liegt. Hier geht es ganz einfach darum, dass das Gebet etwas anderes ist: Es lenkt die Aufmerksamkeit nach außen, nicht nach innen, und es ist ein Akt des Sprechens, nicht ein Eintreten in sprachlose Wirklichkeit. Vielleicht kann man sich den Unterschied mit einem kleinen Bewusstseinsex-
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periment klar machen: Man stelle sich etwa den Propheten Jesaja vor, wie er seine Botschaft im Lotussitz verkündet. Ich würde meinen, dass dieses Experiment zum Scheitern verurteilt ist. Ich würde sogar denken, dass es sehr schwierig wäre, das Vaterunser im Lotussitz zu sprechen. Dies schließt natürlich nicht die Möglichkeit aus, dass ein und derselbe Mensch zu verschiedenen Zeiten betet und meditiert, vielleicht sogar unmittelbar nacheinander, aber diese Möglichkeit - an der ich offen gesagt nicht besonders interessiert bin - muss hier nicht weiter erörtert werden. Ein weiterer Unterschied, der in der christlichen Frömmigkeit traditionell ist, ist jener zwischen dem doxologischen Gebet und dem Bittgebet. Das doxologische Gebet ist ein Gebet des Lobpreises, ohne dass der Beter sich dabei das eine oder andere erbitten würde (doxa ist das griechische Wort für „Meinung, Lehre", aber dann auch für „ R u f " , „Ruhm" und für das, was man im Neuen Testament gewöhnlich mit „Herrlichkeit" übersetzt). Das Bittgebet bittet um etwas - dass Gott dies oder jenes gewähren möge, oder dass er dies oder jenes verhindern soll. Im Zusammenhang des Glaubens ist das doxologische Gebet nach meinem Ermessen unproblematisch. Wenn man den Glauben hat, ist der Drang zu rühmen und loben unwiderstehlich - er dürfte nicht ständig da sein, aber gewiss in gewissen Augenblicken. Im doxologischen Gebet stimmt der Gläubige mit wie schwacher Stimme auch immer - in den Engelschor ein, der die Liebe rühmt, welche (mit Dantes Worten) Sonne und Sterne bewegt. Das Bittgebet wirft jedoch viele Fragen auf. Worum sollte man beten? Manche würden wohl sagen, man solle nur um „spirituelle" Vorzüge beten - einen tieferen Glauben, ein stärkeres Gefühl für die Gegenwärtigkeit Gottes, Erlösung von den abstoßenderen Zügen des eigenen Charakters. Solche Gaben sind natürlich angemessene Gegenstände der Gebetsbitte. Doch das Vaterunser schließt auch die Bitte ein, Gott möge uns „unser täglich Brot" geben. Man hat auch diesen Satz spirituell interpretiert - die Bitte soll dem „spirituellen Brot" gelten, der geistigen Nahrung, vielleicht sogar der Eucharistie (es wirkt außerordentlich unwahrscheinlich, wenn man dies Jesus in den Mund legt). Ich würde eher meinen, dass der Ausdruck „täglich Brot" den gesamten Umfang unserer weltlichen, zumeist ganz unspirituellen Anliegen bezeichnet. Wir beten hier, dass Gott unser Wohlbefinden erhalten und das Unglück, das uns zustoßen könnte, abwehren möge. Dieses Verständnis ist mit der biblischen Frömmigkeit in größter Übereinstimmung, denn diese ist ganz und gar nicht spirituell, sondern mit dem materiellen Schicksal des Volkes Gottes befasst und mit dem Ergehen individueller Menschen. Man muss nur die Psalmen lesen, das Gebetbuch des alten Israel.
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Dann gibt es das Argument, das Bittgebet sei egoistisch und deshalb abzulehnen. Das halte ich für einen vollkommenen Irrtum. Es ist nichts Falsches an meinem Gebet für mich selbst - wenn ich Gott als „Vater" anrede, dann muss ich ihm schließlich meine eigenen Hoffnungen und Ängste zu Gehör bringen. Ich mag darum beten, dass ich von einer Krankheit befreit werden möge, die auf mir lastet, aber ich mag auch für die Genesung des kranken Kindes meines Nachbarn beten. Und darin liegt nichts Egoistisches. Ein derartiges Gebet muss auf natürliche Weise meinem Glauben an Gottes Liebe und an seine Sorge um die leidende Schöpfung entspringen. Nehmen wir also einmal an, ich bete für das kranke Nachbarskind. Worum bitte ich dabei? Bitte ich um ein Wunder - das heißt: um einen Eingriff Gottes in den Kausalzusammenhang der Welt? Ich würde diese Möglichkeit nicht von vornherein verwerfen. Wunder sind in einer stark von der modernen Wissenschaft geprägten Weltanschauung nicht leicht vorstellbar, aber mir scheint, wenn man an die Allmacht Gottes glaubt, dann kann man zumindest die Möglichkeit seiner Intervention in das Kausalgefüge nicht ausschließen. Aber bitte ich Gott dann, er möge dieses Kind retten, und sage dabei - implizit - um das in der nächsten Straße brauche er sich nicht zu kümmern? Natürlich nicht. Mein Gebet für das Kind ist ohne Missgunst, und im Prinzip (wenn auch wohl kaum in praxi) kann ich mit gleicher Inbrunst für alle kranken Kinder beten. Die empirische Tatsache ist die, dass manche Kinder sich von ihrer Krankheit erholen, andere nicht; das bringt uns natürlich wieder zur Frage der Theodizee. Aber diese Frage wird immer aufgeworfen, ganz gleich, ob ich bete oder nicht. Und während es - wie ich oben versucht habe auszuführen - auf diese Frage keine saubere Antwort gibt, schließt der Glaubensakt das Vertrauen ein, dass am Ende „alles gut" sein wird. All die Fragen nach dem Gebet rühren an ein Mysterium. Keinerlei theologische Formulierungen können dieses Geheimnis auflösen. Aber es gibt eine weitere Erwägung, die hier nützlich sein kann. Mein Gebet findet in der Zeit statt. Das Kind ist seit gestern krank; heute bete ich für seine Genesung, und morgen wird sich zeigen, ob es sich erholt oder nicht - eine Abfolge von Punkt Α über Punkt Β zu Punkt C. Gott aber, zu dem ich bete, ist jenseits der Zeit. In biblischer Sprache: Er wohnt in der Ewigkeit. So ist das, was mir als eine zeitliche Abfolge erscheint, sub specie aeternitatis gleichzeitig. Es lässt sich spekulieren, ob in dieser Ewigkeitsperspektive mein Gebet sozusagen bereits eingeplant ist - ob das Ergebnis (Punkt C) von dem scheinbar unmittelbar vorgängigen Ereignis (Punkt B) nicht schon immer beeinflusst war. Charles Williams, der englische Schriftsteller, den man als eine Art metaphysischen Romancier bezeichnen könnte, lässt in einer Episode eines seiner Romane ein in
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der Gegenwart ausgesprochenes Gebet seine Wirkung auf einen Mann haben, der viele Jahrhunderte zuvor dem Martyrium entgegensieht dieses Gebet hat irgendwie Teil an der Gleichzeitigkeit einer ewigen Wirklichkeit. Ich glaube nicht, dass man mit dieser spekulativen Perspektive sehr weit in das Mysterium vordringen kann, welches Gottes Erlösungswerk einhüllt. Wenn ich den Glauben habe, kann ich nicht nicht beten. Was immer sonst mein Gebet tun mag - es ist mein Tasten nach der rettenden Kraft, die in Christus verkörpert ist. Und dies ist wahrscheinlich das Wichtigste, was sich über mein Beten „im Namen Christi" sagen lässt.
Kapitel Sieben „... gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben ..." Es gibt zwei recht nahe liegende Bemerkungen, die zu diesem Satz des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zu machen sind. Der Bezug auf Pontius Pilatus soll gewiss keine besondere Ehrung dieses zwielichtigen römischen Prokurators darstellen, der die Kreuzigung Jesu angeordnet hat. Sie unterstreicht hingegen die Geschichtlichkeit Jesu: Er ist nicht zu verstehen als die ahistorische Inkarnation einer Gottheit, sondern als der ganz bestimmte Jude, der in Palästina lebte und starb, als Pilatus dieses Territorium verwaltete. Die dreifache Betonung von Jesu Ende - wurde gekreuzigt, starb und wurde begraben - ist ganz offensichtlich eine antidoketische Aussage. Jesus schien nicht lediglich am Kreuz zu sterben, wie verschiedene gnostische und andere Häretiker meinten, sondern er starb wirklich als ein völlig menschliches Wesen. Über beide Punkte ist nichts weiter zu sagen. Es gibt jedoch eine andere dringliche Frage, die sich hier stellt: Warum starb Jesus? Man könnte diese Frage natürlich als eine der geschichtlichen Empirie auffassen. Als solche ist sie von der Wissenschaft des Neuen Testaments erschöpfend diskutiert worden. Sie hängt vor allem mit der weiteren (im Zusammenhang der Diskussion über die Wurzeln des christlichen Antisemitismus besonders relevanten) Frage zusammen, welche Rolle die römischen und jüdischen Autoritäten jeweils bei der Hinrichtung Jesu gespielt haben. Das ist ein wichtiges Thema, aber keines, das uns hier näher anginge. Die Frage, die sich hier stellt, ist keine historische, sondern eine theologische: Was wurde durch den Tod von Jesus Christus erreicht? Oder anders gefragt: Hätte das Erlösungswerk Christi nicht auch ohne seinen Tod am Kreuz vollzogen werden können? Oder wiederum: Was ist der Ort des Kreuzes im Drama der Erlösung? In theologischer Terminologie ist dies die Frage nach Sühne und Versöhnung. Das englische Wort hierfür, atonement, ist suggestiv: Es lässt sich auflösen zu at-one-ment. Es beschreibt buchstäblich einen Prozess, der das „eins" macht, was vorher nicht eins war - das ganz macht, was nicht
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ganz war. Und es bezieht sich auf einen besonders drastischen Riss, den zwischen Gott und der Menschheit. Hinter diesem Bezug steht der biblische Bericht vom Fall der Menschheit aus dem Ort, den Gott ihr bei der Schöpfung bestimmte - dem Fall, der in der Genesis durch die Geschichte von A d a m und Eva symbolisiert wird, von ihrer Ur-Rebellion gegen Gott und ihrer Vertreibung aus dem Paradies. Und die entsetzliche Folge des Falles ist der Verlust der Unsterblichkeit: Die Menschheit wurde unsterblich erschaffen, aber nun unterliegt sie dem Fluch des Todes. Sünde und T o d sind im biblischen Bericht des Sündenfalls verknüpft, und sie bleiben verknüpft in den Aussagen des Neuen Testaments über die Sühne: Bei dieser geht es um die Befreiung der Menschheit von der Sünde wie vom Tod. Hier könnte man zweckmäßigerweise noch einmal auf etwas verweisen, was oben angeführt wurde: Das Böse und das Leid und selbst der T o d sind „natürlich" lediglich in dem Sinne, dass sie die jetzige menschliche Existenz bezeichnen. Doch bedeutet eine solche „Natürlichkeit" keineswegs, dass man diesen Zustand akzeptieren sollte. Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf den T o d . Es geht darum, dass der leichtfertige Trost, der T o d sei „natürlich" und deshalb hinzunehmen, zurückgewiesen werden muss. Nein! Der T o d ist nicht hinnehmbar; er ist eine Beleidigung der eigentlichen Menschennatur - das heißt: jener N a t u r des Menschen, wie sie in Gottes Schöpfung beabsichtigt war. Ein Atheist mag es leidenschaftlich ablehnen, den T o d zu akzeptieren; der Gläubige kann dieser Weigerung beitreten, indem er sie in den Kontext der ursprünglichen Schöpfungsabsicht Gottes stellt. Schüsselpassagen des Neuen Testaments bringen eines klar zum Ausdruck: Christus starb für uns und für unsere Sünden, und der Z w e c k dieser Tat ist es, den T o d zu überwinden und die Menschheit in jene Unsterblichkeit zurückzuversetzen, die im Sündenfall verloren wurde. Dies wird lapidar im wahrscheinlich am häufigsten zitierten Abschnitt des Neuen Testaments (Joh. 3 , 1 6 ) ausgedrückt: „also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." Schlicht und einfach ausgedrückt: Der Z w e c k der Sühne ist die Abschaffung des Todes. Andere Stellen des Neuen Testaments bringen die Tat Jesu mit der Sünde in Verbindung. So bei Paulus: „unser Herr Jesus, welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt" (Römer 4,25). Und ein Text der johanneischen Tradition: „... so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt." (1. Johannes ζ,ι.ζ). Natürlich legen die verschiedenen Traditionen im Neuen Testa-
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ment die Akzente anders. Es wäre, glaube ich, angemessen, wenn man sagte: Die paulinische Tradition hebt die eigene Schuld der Menschheit an ihrem sündigen Zustand hervor, während die johanneische diesen Zustand als etwas darstellt, das nicht direkt oder ausschließlich menschlicher Schuld zuzuschreiben ist. Wie dem auch sei - es herrscht eine generelle anthropologische Grundannahme: Die Menschheit ist gefangen in einem Zustand, der von Sünde und Tod gekennzeichnet ist. Die Sünde wiederum ist nichts anderes als der Zustand des Getrenntseins von Gott, und der Tod ist die Folge dieser Trennung. Hinter der Trennung von Gott ragen „Fürstentümer und Gewalten" auf, wie Paulus sie nennt metahumane Kräfte des Bösen, personifiziert in der Figur Satans. Diese Weiterung, wenn sonst schon nichts, weist darauf hin, dass der Zustand der gefallenen Menschheit nicht schlechthin die Folge menschlicher Schuld ist. Anders ausgedrückt - Sünde ist nicht einfach eine moralische, sondern eine ontologische Kategorie. Diese anthropologischen Voraussetzungen im Neuen Testament bilden natürlich die Grundlage für die Lehre von der Erbsünde - wobei die englische Formulierung „original sin", die ursprüngliche Sünde, nicht nur ausdrückt, dass sich die Sünde von Adam herleitet, sondern auch den Sinn einer Sünde hat, die es gab, noch ehe irgendein menschliches Individuum sündigen konnte. Wenn wir einmal den Mythos von Adam und Eva beiseite lassen (der wohl von den meisten, wenn nicht von allen Autoren des Neuen Testaments als buchstäbliche Wahrheit genommen wurde), dann ist die anthropologische Aussage, die sich abgesehen von jeglicher Mythologie machen lässt, die: Die Menschheit steckt fest in ihrer Trennung von Gott und deshalb in einer „unnatürlichen" Unterwerfung unter den Tod, und die Menschen können diese Trennung nicht aus eigener Anstrengung überwinden - wie moralisch bewundernswert solche Anstrengungen auch sein mögen. Nur ein Akt Gottes selbst kann den Schaden heilen. Mehr noch, der Schaden reicht über die menschliche Existenz hinaus und hat die gesamte Schöpfung befallen. Also muss das Versöhnungswerk auch eine kosmische Ausdehnung haben. Später werden wir noch auf die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Sünde" zu sprechen kommen, aber eines sollte vielleicht hier gesagt werden. Wenn ich versuche, diesen Begriff auf mich selbst zu beziehen, dann hat er offensichtlich eine doppelte Bedeutung. Zunächst bezieht er sich auf bestimmte meiner Handlungsweisen, die als böse gelten müssen und in mir das Gefühl von Schuld auslösen sollten - Akte der Grausamkeit oder Entwürdigung anderer. Aber zweitens bezieht sich der Begriff auf die Struktur meiner Existenz als Mensch insgesamt - welche eine Neigung zum Bösen einschließt und mich der nicht hinnehmbaren Tatsache des Todes unterwirft. Ein mir bekannter katholischer Theologe
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bemerkte einmal, es gebe eine christliche Doktrin, die keinen Glauben benötige, sondern sich empirisch verifizieren lasse, nämlich die Lehre von der Erbsünde. Gut gesagt. Doch ist es klar, dass man mich nicht für einen Zustand verantwortlich machen kann, der jeglicher bewusster Handlung meinerseits vorausgeht - und ich kann es deshalb legitimerweise ablehnen, dieses Zustandes wegen Schuld zu empfinden. Wenn ich das sage, so ist mir klar, dass ich mich einer langen Tradition christlicher Frömmigkeit und christlichen Denkens entgegensetze, die wahrscheinlich mit Paulus beginnt und in der westlichen Tradition von Augustin zur protestantischen Reformation reicht. Bei aller Achtung vor dieser Tradition: Mir scheint, sie stellt eine Art metaphysischen Masochismus dar, der kein notwendiger Bestandteil des christlichen Glaubens sein muss. In der Geschichte des christlichen Denkens stand - jedenfalls im Westen die so genannte „objektive" Auffassung der Versöhnung im Vordergrund. Es ist dies eine sehr rationale, in der Tat ganz und gar rechtsförmige Auffassung; die Versöhnung erscheint als eine Art juristischer Transaktion. Jesus nimmt sein Opfer - seine Kreuzigung und seinen Tod - auf sich in seiner Eigenschaft als repräsentativer Mensch (der „neue Adam"), als ein Entgelt für die menschlichen Sünden, das an Gottvater entrichtet wird (oder, in manchen Versionen, an Satan, der irgendwie einen Anspruch hierauf hat). Die klassische und immens einflussreiche Ausformulierung dieser Idee stammt von Anselm von Canterbury (1033 - 1109) in seinem Werk Cur Deus homo? („Warum ward Gott Mensch?"). Anselm war ein gebürtiger Italiener, der ein Mönch des Klosters von Bec in der Normandie wurde. Er erwarb sich große Achtung als Theologe und wurde 1093 Erzbischof von Canterbury (zu einem Zeitpunkt, da, notabene, die normannische Eroberung Englands kaum eine Generation zurücklag). Er führte verschiedene Dispute mit den englisch-normannischen Vertretern der Königsherrschaft über Fragen der kirchlichen Jurisdiktion und ging nach Rom, um in diesen Auseinandersetzungen päpstliche Entscheidungen zu erwirken. Das genannte Werk schloss er 1098 in einem Dorf bei Benevent ab. Nach allem, was wir wissen, war er ein Mann von bewundernswert integrer Moral und von sehr scharfem Verstand. Ich würde allerdings sagen, dass letztere Qualität kein reiner Segen war, da ihn diese Verstandesschärfe in eine Argumentation von großer logischer Stringenz führte, deren Theorie von der Versöhnung aber eine ziemlich abstoßende Auffassung vom Wesen Gottes beinhaltet. Das Argument Anselms lautet in seinen Grundzügen wie folgt: Die Versöhnung besteht darin, dass Gott auf die Bestrafung, die ihm der menschlichen Sünden wegen eigentlich zustehen würde, in einer Art Er-
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lass verzichtet. Dies wirft die Frage auf, warum ein solcher Erlass nicht aus reinem Erbarmen möglich wäre. Das vermag Gott nicht, weil sein Wille nicht willkürlich sein kann, sondern sich nur in Übereinstimmung mit der moralischen Ordnung des von ihm geschaffenen Universums zu äußern vermag. Diese Ordnung kann nicht verletzt werden, und Gott kann nicht inkonsequent handeln. Sünde muss bestraft werden. Die Schuld ist unbedingt zu bezahlen. Und hier setzt die Rolle Christi ein. Ein Kommentator hat den Kern von Anselms Argumentation so beschrieben: „Gott wird die Schuld nicht bezahlen, da er keine Schuld zu bezahlen hat; der Mensch nicht, weil er es nicht kann - er hat sich durch den Sündenfall ohnmächtig gemacht. Nur ein Wesen kann es - eines, das gleichzeitig vollkommener Gott und vollkommener Mensch ist" (Arnold Whately in seinem Aufsatz über Anselm in dem von L. W. Grensted herausgegebenen Band The Atonement in History and in Life, S. 205). Doch lassen wir Anselm selbst sprechen: „da die Sünde - ohne Genugtuung - ordnungsgemäß regeln nichts anderes ist, als sie bestrafen: wenn sie nicht bestraft wird, wird sie ungeordnet gelassen. ... Also ziemt es sich für Gott nicht, die Sünde so ungestraft zu lassen. ... Es ist noch etwas anderes, was folgt, wenn die Sünde so ungestraft gelassen wird: daß der Sünder nämlich bei Gott ähnlich stehen wird wie der, der nicht sündigt; was Gott nicht zukommt." (Cur Deus homo, dt.-lat., übersetzt von F. S. Schmitt, München 1986, 43f.). Der Ausdruck „Sündenlose" bezieht sich auf die Engel - keinem Menschen käme er zu. Man könnte hier beiläufig anmerken, dass Anselms Argument den Lehren Jesu zuwiderläuft, wie sie im Neuen Testament mitgeteilt werden - beispielsweise im Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Jesus hatte anscheinend eine großzügigere Auffassung vom Erbarmen Gottes. Wie dem auch sei, Anselm behauptet mit Nachdruck, der Mensch sei unfähig, aus eigenem der Bestrafung zu entrinnen: „Achte auf die strenge Gerechtigkeit und urteile ihr gemäß, ob der Mensch bis zur Gleichheit mit der Sünde Gott Genugtuung leistet, wenn er nicht dasselbe zurückerstattet, was er Gott nahm, als er sich vom Teufel besiegen ließ" (ebd., S. 81; mit anderen Worten, der Mensch gilt als schuldig an seiner eigenen Gefangenschaft durch die „Fürstentümer und Gewalten", die seine Existenz regieren). Der Titel des nächsten Abschnitts in Anselms Buch fasst das zusammen, was ich den masochistischen Zug seiner Argumentation nennen möchte: „Daß [der Mensch], solange er Gott nicht zurückerstattet, was er schuldig ist, nicht selig sein kann und daß Unfähigkeit ihn nicht entschuldigt" (ebd., S. 81) Da der Mensch aus sich heraus zur Sühne nicht in der Lage ist, muss sie für ihn durchgeführt werden: „Wenn als, wie es feststeht, notwendig ist, daß aus den Menschen jene himmlische Stadt vollendet wird" - An-
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selm glaubt, dies sei notwendig, um die Zahl der gefallenen Engel a b zugleichen, die nun an der unvollständig gewordenen Gesamtheit der „himmlischen Stadt" fehlt - , „und das nicht geschehen kann, wenn nicht die erwähnte Genugtuung erfolgt, die einerseits nur Gott leisten kann und | andererseits nur der Mensch leisten darf: so ist es notwendig, daß sie ein Gott-Mensch leiste" (ebd., S. 67). Anselm entwickelte dieses Argumentationsmodell nicht ganz aus Eigenem. Es lässt sich bis zu gewissen Grundpositionen des Neuen Testaments zurückverfolgen, insbesondere zu den paulinischen Texten und zum Hebräerbrief. Aber Anselm formulierte doch diesen vorhandenen Grundgedanken mit einer extremen Logik, die sich, wie man wohl nachweisen könnte, dort nicht finden lässt. Darin ist er ein klassischer Vertreter des lateinischen Denkens, sowohl sehr rational wie sehr moralistisch in der Tat legalistisch. Auf diese Weise beschädigt er, wie man vielleicht sagen könnte, das Hauptanliegen des Paulus - trotz jener Elemente im paulinischen Denken, die auf Anselm vorausdeuten. Für Paulus befreit das Opfer Christi den Menschen von der Bürde des Gesetzes (welches Paulus auffasst als das Gesetz, das den Juden gegeben wurde). Für Anselm kann Gott selbst nicht von der Bürde seines eigenen Gesetzes befreit werden (das nun nicht mehr als die Torah erscheint, sondern als die moralische Ordnung des Universums). Dies ist nach meinem Ermessen eine große Verzerrung des Grundgedankens. Anselm hat jedoch einen langen Schatten über die Entwicklung des christlichen Denkens im Westen geworfen, sowohl im Katholizismus wie in der protestantischen Orthodoxie (bei Luther wie bei Calvin). Gegen diese „objektive" Auffassung von der Versöhnung steht die „subjektive". Tatsächlich ist keines der beiden Adjektive hier besonders hilfreich. Jene Auffassung, die Anselm emblematisch verkörpert, sollte man am besten die juristische nennen. Und die als „subjektiv" bezeichnete lässt sich am besten als humanistisch beschreiben. Sie war ein Produkt der Aufklärung und wurde charakteristisch für den protestantischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts (wenn es auch frühere Versionen davon gibt, etwa bei dem frühmittelalterlichen Theologen Abaelard). Hier wird Jesus Christus als ein exemplarischer Mensch verstanden, der als solcher Gott veranlassen konnte, der Menschheit ihre Sünden zu vergeben. Man könnte sagen, dass Gott hier immer noch als der Weltenrichter gesehen wird und der Mensch als sündhaft von Anbeginn, aber verglichen mit dem göttlichen Richter Anselms hat jener der humanistischen Position eine flexiblere Auffassung von der Gerechtigkeit. So umgeht man allerdings recht offensichtlich wiederum die Frage, weshalb Gott nicht verzeihen konnte, ohne dass Jesus am Kreuz sterben musste. Schließlich hat
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diese Form liberalen Christentums Jesus immer schon kraft seiner Lehre für den beispielhaften Menschen gehalten - demnach hätte Gott ihm doch gewiss das höchste Opfer ersparen können. In einer noch schwächeren Version des humanistischen Ansatzes wird Jesus als nachzuahmendes moralisches Vorbild gesehen, sein Selbstopfer eingeschlossen. In diesem Fall wird die Sühne als ein Prozess der Vervollkommnung der Menschen gesehen. Es geht nicht so sehr um die Beziehung des Menschen zu Gott als um seine Beziehung zu sich selbst - das heißt: Die Versöhnung bedeutet, dass die Menschen ihrer moralischen Vollkommenheit immer näher kommen. In diesem Sinn kann man das Wort „subjektiv" allerdings zu Recht benützen. Ich vermute, dass dieses humanistische Verständnis der Versöhnung immer noch die herrschende Meinung in den Hauptströmungen des gegenwärtigen Protestantismus darstellt, selbst wenn es nicht offen zum Ausdruck gebracht wird. Ich habe auch den Verdacht, dass viele liberale Katholiken mehr oder weniger ähnliche Ideen haben. Und natürlich ist dies das Bild von Jesus, das bei Menschen, die sich gar nicht als Christen betrachten, die meiste Bewunderung findet. Man könnte hier an Gandhi denken. Während diese humanistische Auffassung von der Versöhnung scharf unterschieden ist von der juristischen, teilt sie doch wichtige Züge mit ihr: Auch sie ist sehr rational und sehr moralistisch. Ich möchte hier nur ein einziges Textbeispiel anführen. Es stammt aus einem Aufsatz, den der schwedische Erzbischof Ekman 1906 verfasste: „Stellen wir uns eine Nation vor, die man allgemein verachtet - aber unter ihr befindet sich ein edler Held, der einen mächtigen Einfluß auf diese Nation ausübt. Dann werden wir in unserer Ansicht über diese Nation mit ihr ausgesöhnt. Von dem Helden fällt ein versöhnendes Licht auf die ganze Nation ... So sieht Gott inmitten der Menschheit Jesus Christus. Er sieht einen menschlichen Glanz, der seine Strahlen über das ganze Menschengeschlecht ergießt. Er sieht ein Aufblinken von Wahrheit, Reinheit und Gerechtigkeit überall unter den Menschen. Er sieht im Körper der Menschheit ein neues Herz, dessen starker Puls neues Leben durch die Adern des Körpers treibt ... Nun hat er kein Mißfallen mehr an der Menschheit insgesamt. Er verzweifelt nicht länger an der Menschheit. Er versöhnt sich mit der Menschheit" (zitiert bei Gustav Aulen, Christus Victor, S. 137). Was kann man hierzu sagen? Jesus ist ein „edler Held" und erweicht als solcher entweder Gottes Herz für die Menschen oder erweicht all die grimmigeren Möglichkeiten menschlicher Existenz zu einem Ideal morali-
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scher Perfektion (oder beides). Die erste Version dieser humanistischen Perspektive setzt einen eigenartig sentimentalen Gott voraus, höchst verschieden von dem, welchen die biblische Tradition enthüllt. Die zweite ist rein säkular, insofern Gott ganz irrelevant ist für diesen angeblichen Prozess moralischer Vervollkommnung. So oder so ist dies ein Jesus, der buchstäblich nichts zu tun hat mit jenem Jesus, den das Neue Testament darstellt, welcher sich nur um den Preis der Vergewaltigung aller Quellen in die Form des „edlen Helden" quetschen lässt. Diese Auffassung von Jesus muss, ich brauche es kaum zu erwähnen, alle christologischen Anstrengungen, wie sie im letzten Kapitel diskutiert werden, verwerfen. Jesus ist hier eine rein menschliche Figur, sein Leben und sein Tod sind rein menschliche Ereignisse, und von der Auferstehung zu reden ist bestenfalls eine Metapher. Mich persönlich würde dieser Bruch sowohl mit der Schrift wie mit der christlichen Tradition nicht besonders beunruhigen, wenn er zu großen neuen Einsichten geführt hätte. Stattdessen führt er zu eine enorm trivialen Idee von Gott und Mensch. Ich darf es vielleicht so sagen: Wenn dies das Christentum ist, dann ist es nicht besonders interessant. Und wenn wir an dem hier suggerierten moralischen Ideal interessiert sind, dann können wir gut ohne jene alte Metapher auskommen. Ich möchte hinzufügen, dass dieses Ideal (nennen wir es das Gandhische Ideal) mich überhaupt nicht reizt. Es ist eine sentimentale Auffassung von der menschlichen Natur, es nimmt die Wirklichkeit des Bösen nicht ernst, und es ist in seiner praktischen Anwendung durchaus unverantwortlich. Und das Wichtigste: Diese Reduktion des Religiösen auf ein moralisches Projekt gibt keine Antwort auf die brennendste Frage der menschlichen Existenz, die Frage des Todes. Der schwedische Theologe Gustav Aulen hat in seinem einflussreichen Buch Christus Victor (ursprünglich veröffentlicht im Jahre 1 9 3 1 ) überzeugend dargelegt, dass die beiden erwähnten Typen von Theorien der Versöhnung, die „objektive" und die „subjektive", in der Entwicklung des christlichen Denkens nicht allein stehen. Es gibt einen dritten Typus, den er „dramatisch" nennt. Er hält diesen Typus tatsächlich für älter als die anderen beiden, anzutreffen bereits im Neuen Testament (vor allem aber nicht ausschließlich - in den johanneischen Texten) und in der frühen Kirche, und dann am reichsten bei den griechischen Kirchenvätern und ganz allgemein in der Ostkirche entwickelt. Es ist eine dualistische Auffassung, welche die Versöhnung als einen gigantischen Kampf zwischen Gott und den die Schöpfung gefangen haltenden bösen Mächten sieht. Es ist auch eine kosmische Konzeption, insofern die Versöhnung weit über die menschliche Wirklichkeit hinausgeht. Christus wird also in
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tödlichem Kampf mit den Mächten des Bösen gesehen, über die er durch seinen Tod und seine Auferstehung triumphiert. Hier liegt die Betonung in geringerem Maße auf der individuellen Schuld als in der lateinischen Auffassung. Die Sünde ist quasi ein in die menschliche Existenz eingewobenes Grundelement, verknüpft mit dem Tod und der Macht des Teufels. Man könnte sagen, dass in dieser Sichtweise der Mensch eher Opfer ist als Täter (obwohl natürlich klar ist, dass der Mensch Sünden begeht, die Vergebung erfordern). So findet man in der Ostkirche nicht die lateinische Fixierung auf Buße und auf die Passion Jesu (obwohl letztere selbstverständlich wiederum als wichtiger Teil seiner Versöhnungstat gesehen wird). Die Betonung liegt weniger auf dem Karfreitag, stärker auf Ostern. Aulen behauptet auch - was nach meinem Ermessen eher problematisch sein dürfte - , dass dieser Tenor von Kampf und Triumph entscheidend auch für Luthers Verständnis der Versöhnung ist, und dass Luthers Einsichten dann im Lauf der Entwicklung lutherischer Orthodoxie in Richtung der anselmischen Auffassung umgebogen wurden (Aulen sieht als den ersten Schurken in diesem Stück Philipp Melanchthon). Hier habe ich angesichts Luthers früher Schuldbesessenheit meine Zweifel (trotz meiner starken Voreingenommenheit für das Luthertum). Allerdings befreite sich Luther dann von dieser Obsession mit seiner - wie er glaubte - Wiederentdeckung der paulinischen Idee der Rechtfertigung allein durch den Glauben und allein durch die Gnade (sola fide - sola gratia). Gewiss ist Luthers Verständnis der Erlösung weder rationalistisch noch moralistisch. Vielleicht wird Aulens Auffassung vom lutherischen Verständnis der Versöhnung am stärksten nicht durch die lutherische Theologie, sondern durch den lutherischen Choral gestützt - beginnend mit Luthers eigenen Kompositionen („Ein feste Burg" und andere Lieder) bis zur Kulmination im Werk von Johann Sebastian Bach. Wie dem auch sei, die „dramatische" Auffassung der Versöhnung wird am deutlichsten in der Frömmigkeit und im theologischen Denken der östlichen Christenheit sichtbar. Folgendermaßen beschreibt Aulen diese Sicht der Versöhnung, die er bereits bei den frühen Vätern findet: „Anselm zufolge wurde Christus Mensch, damit er sterben konnte, aber eine solche Isolation des Todes Christi ist vom patristischen Standpunkt aus unmöglich. Der Tod ist in der Tat der Weg, auf dem der Sieg erzielt wird, aber die Betonung liegt auf dem Sieg. Deshalb klingt der Ton des Triumphes wie eine Fanfare durch die Lehren der frühen Kirche" (Christus Victor, S. 59, Hervorhebung von mir). Natürlich wurde Ostern in der westlichen Tradition nicht vernachlässigt. Aber der Osten war es, wo Ostern der Angelpunkt der Liturgie, Frömmigkeit und theologischen Reflexion wurde.
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Ich folge nun John Meyendorff, der einen so großen Beitrag zur Wiederbelebung der orthodoxen Theologie in Westeuropa und Amerika im zwanzigsten Jahrhundert geleistet hat (ich beziehe mich insbesondere auf sein Buch The Orthodox Church). Meyendorff macht einen klaren Unterschied zwischen Osten und Westen hinsichtlich der Lehre von der Erbsünde: Der Westen hat von ihr eine eher moralische Auffassung und der Osten eine eher ontologische. Wie bereits bemerkt, ist dies ein sehr wesentlicher Unterschied. Der Osten betont als Folge von Adams Fall eher die Sterblichkeit als die Sünde. Der Mensch wurde geschaffen, um unsterblich zu sein und in einer liebenden Beziehung zu Gott zu leben. Der Sündenfall, ein unvordenkliches und kosmisches Ereignis, das in geheimnisvoller Verbindung mit den bösen Mächten dieser Welt steht, beraubte den Menschen jenes Zustandes, der bei seiner Erschaffung beabsichtigt war. Die Erlösung bedeutet, dass die bösen Mächte überwunden werden und dass der Mensch seinem ursprünglichen Zustand zurückgegeben wird - nicht sogleich natürlich, aber in jenem Prozess, der durch die Tat Christi eingeleitet wurde. Das orthodoxe Denken nennt diesen Prozess theosis, ein Begriff, der üblicherweise als „Vergöttlichung" übersetzt wird. Diese Übersetzung halte ich für irreführend, da sie suggeriert, der Mensch werde Gott. Das ist nicht die Implikation im orthodoxen Denken: Hier meint „Vergöttlichung" vielmehr, dass der Mensch wieder teilhaben wird am göttlichen Wesen und so zu seiner wahren Natur zurückkehrt, die darin besteht, „zum Bilde Gottes" geschaffen zu sein. Folgendermaßen beschreibt Meyendorff den Ansatz der Ostkirche:
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„Westliche Theologen haben immer auf der gemeinsamen Schuld aller Menschen an der Sünde Adams bestanden: Die Strafe für diese Sünde konnte nicht die gesamte Menschheit treffen, wenn nicht alle Menschen „in Adam" sündigten und deshalb auch den göttlichen Zorn verdient hatten ... Die östlichen Väter ... versuchten niemals, die gemeinsame Schuld aller Nachfahren Adams an der Sünde ihres Ahnherrn zu beweisen; sie konstatierten lediglich, dass allen Menschen Verderbnis und Tod durch einen Prozeß der Vererbung zuteil geworden ist, und dass sie alle sündigten. Die Ostkirche zog es vor, diesen von Adam ererbten Sachverhalt als eine Versklavung durch den Teufel zu interpretieren, der eine angemaßte, ungerechte und tödliche Tyrannei über die Menschheit ausübt, seit der Vorfahr der Menschen gesündigt hat." (The Orthodox Church, S. 198) Und weiter: „So blieben dem christlichen Osten jene juristische Vorstellungen von der Erlösung fremd, die im Westen seit dem Mittelalter
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herrschten (die Lehren vom ,Verdienst' Jesu Christi und vom Ablaß) und die westliche Spiritualität so tief beeinflußt haben." (ebd., S. 199) Wiederum darf man die Unterschiede nicht übertreiben. Theologen haben in ökumenischen Dialogen keine Schwierigkeiten gehabt, theoretische Formulierungen zu finden, denen beide Seiten zustimmen konnten. So findet man die Vorstellung von der Erlösung im Sinne eines „Lösegeldes", das Christus für die Schuld zahlt, welche die Menschheit aufgehäuft hat, auch im Osten, etwa im Werk des Gregor von Nyssa. Allerdings verdunkeln wie so oft diese ökumenischen Exerzitien, die sich stets auf Doktrin und Theologie konzentrieren, die wirklichen Unterschiede in der Frömmigkeit der gewöhnlichen Gläubigen. Und von ganz großer Bedeutung sind hier die liturgischen Unterschiede. Im Zentrum der Orthodoxie steht die Liturgie, nicht die theoretische Ausformulierung der Lehre (die der Westen seit langem so sehr viel besser beherrscht). Meyendorff macht klar, dass der Osten in der Sterblichkeit und nicht in der Sünde den wesentlichen Zug des unerlösten menschlichen Zustande sieht. Die Versöhnung ist nicht eine juristische Transaktion, sondern der Sieg des auferstandenen Christus über all die Mängel der Schöpfung, die der Sündenfall nach sich gezogen hat, und insbesondere über den Tod. Ich glaube, das kann man am besten erfassen, wenn man sich nicht in die schwierigen Schriften der griechischen Kirchenväter versenkt, sondern aufmerksam der orthodoxen Liturgie folgt. Und diese Liturgie erreicht ihre Klimax in der Osterfeier. Ich zitiere aus der österlichen Liturgie: „Heute sind alle Dinge erfüllt mit Licht, Himmel und Erde und die Orte unter der Erde. Die ganze Schöpfung feiert die Auferstehung von Christus, auf dem sie gegründet ist." Und dann die wiederholte Verkündigung (das österliche Triparion): „Christus ist von den Toten auferstanden, hat durch den Tod den Tod unter sich getreten und hat denen in den Gräbern das Leben geschenkt!" Man fühlt sich hier an das erinnert, was angeblich bei der Bekehrung Russlands zum Christentum geschah. Einer Überlieferung zufolge waren sich die Herrscher von Kiew (des ursprünglichen Zentrums von Russland) unschlüssig, ob sie sich der westlichen oder der östlichen Richtung des Glaubens anschließen sollten. So schickte man Boten nach Rom und nach Konstantinopel, die Informationen bringen sollten, welche die Entscheidung erleichtern könnten. Die nach Konstantinopel gesandten Boten wohnten der Liturgie in der Hagia Sophia bei. Sie kamen nach Kiew zurück und meldeten: „Wir haben den Himmel auf Erden gesehen!" Theosis in der Tat. Und dieser Bericht entschied das Schwanken. Es gibt auch eine Geschichte aus der Zeit der Kirchenverfolgung in der Sowjetunion. In einer der Kampagnen zur Verbreitung des Atheismus wurde ein kommunistischer Funktionär in ein kleines Dorf geschickt. Die
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Einwohner wurden gezwungen, an einer Versammlung teilzunehmen. Der Funktionär redete eine Stunde lang und erläuterte, die Religion sei nichts als ein Aberglaube, der die Menschen lediglich von ihrer eigentlichen Aufgabe ablenken solle, nämlich dem Aufbau einer besseren Gesellschaft. Am Ende seiner Ansprache sagte er generös, der Dorfpriester dürfe eine Erwiderung versuchen, aber er habe dazu nur fünf Minuten Zeit. Der Priester, ein einfacher Mann, trat vor und sagte, die fünf Minuten brauche er nicht. Er wandte sich zur Versammlung und sagte: „Brüder und Schwestern, Christus ist auferstanden!" Die Dörfler erwiderten mit den Worten des Ostergrußes: „Wahrhaftig, er ist auferstanden!" Die Geschichte überliefert nicht, was der kommunistische Funktionär dann tat. Was soll man nun von alledem halten? Ich für mein Teil habe keine Schwierigkeiten, zwischen den drei Typen einer Theorie der Versöhnung zu wählen, die Gustav Aulen unterscheidet. Die „objektive" Theorie ist ganz und gar abstoßend - sie setzt eine Gottheit voraus, die sich verhält wie ein rigider und rachsüchtiger Jurist. Die „subjektive" Theorie ist wiederum vollkommen uninteressant. Wenn das das Christentum ist, dann kann man ein solches Angebot mit entschiedenem Kopfschütteln ablehnen. Allein die „dramatische" Theorie kann für den Nexus von Erfahrung und Glauben, wie ich ihn in den vorherigen Kapiteln beschrieben habe, relevant sein. Hier ist es klar, dass die Erlösung nur stattfinden kann, wenn Gott selbst mit seiner Schöpfung leidet. Anders ausgedrückt: Die Kenosis ist eine Notwendigkeit. Das Kreuz - Jesu Christi wirkliche Demütigung, sein Leiden und sein Tod als menschliches Wesen - ist der extreme Punkt der Kenosis. Eben dieses Extrem macht - auf eine Art und Weise, die ein Geheimnis bleiben muss - den Triumph der Auferstehung möglich und damit den Sieg Christi über das Böse, das Leid und vor allem über den Tod: den Tod, den er durch den Tod „unter sich getreten" hat. Man könnte im Vorübergehen erwähnen, dass eine interessante Kontroverse des dritten Jahrhunderts diesen Punkt berührt, nämlich jene über die Ketzerlehre der so genannten Patripassiani - jener nämlich, die behaupteten, dass Gottvater und nicht nur der Sohn auch am Kreuz gelitten habe. Gegen diese Menschen, die als Ketzer verurteilt wurden, bekräftigte die Hauptströmung der kirchlichen Lehre die „Impassibilität" Gottes des Vaters, das heißt die Unmöglichkeit seines Leidens. Das Argument lautete, dieses Leiden sei unvereinbar mit der Idee der Gottheit. Ich neige zu der Ansicht, dass die Kirche hier irrte. Zunächst einmal sind das Alte wie das Neue Testament voller Beispiele für das Leiden Gottes wegen der Sünden der Menschen. Wenn Gottvater vom Leiden Christi unberührt
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blieb, dann wird Christus auf eigenartige Weise im Grunde wieder arianisch aufgefasst - das heißt als eine Art halb göttliches, halb menschliches Wesen. Hier hatte die Kirche den richtigen Instinkt: Eine solche Auffassung untergräbt das zentrale Mysterium der Inkarnation und der Versöhnung. Ich habe den Standpunkt vertreten, dass die Kenosis ein notwendiger Aspekt des Gottes ist, den der christliche Glaube bekräftigt. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der Frage der Theodizee. Und dies bringt uns auf einen möglichen Aspekt der Versöhnung, der erstaunlich und sogar blasphemisch erscheinen mag. Die Versöhnung wird von buchstäblich allen Richtungen des christlichen Glaubens aufgefasst als der Prozess, durch welchen Gott der Menschheit vergibt. Aber man kann die Versöhnung auch als den Prozess auffassen, durch welchen die Menschheit Gott vergeben kann. Ist ein solches Verständnis blasphemisch? Ich glaube nicht. Ein Gott, der „impassibel" den endlosen Schmerzen seiner Geschöpfe zusieht, die er dann ihrer Untaten wegen verurteilt (die gemessen an der Totalität des Horrors in der Schöpfung lächerlich sind) - ein solcher Gott ist ein Wesen, das man moralisch zurückwiese, wenn es ein menschliches Individuum wäre. Auf ironische Weise wäre er eine Art kosmischer Pontius Pilatus. Man könnte ihn kaum in Liebe verehren; höchstens könnte man sich ihm in masochistischer Haltung unterwerfen (vielleicht eine kosmische Überhöhung des so genannten StockholmSyndroms). Ein solcher Gott wäre moralisch vielen menschlichen Individuen unterlegen. Dies ist jedoch undenkbar. Gottes Güte ist ein notwendiger Aspekt seines Wesens, wie das biblische Zeugnis insistiert. Wie auch immer Gottes Wesen in der plappernden Begrifflichkeit des menschlichen Denkens beschrieben werden kann, man kann ihn sich nicht so vorstellen, dass er moralisch den besten von uns unterlegen wäre. Die Kenosis wird in der Auferstehung „aufgehoben"; das Hegeische Wort ist hier angemessen mit seinem Doppelsinn von „außer Kraft gesetzt" und „emporgehoben". Die Auferstehung war, wie wir in einem vorangegangenen Kapitel gesehen haben, offensichtlich entscheidend in den Tagen nach dem Tod Jesu, als die verängstigten Reste seiner Jüngerschaft plötzlich verwandelt wurden in eine Gemeinde, die seinen Triumph proklamierte. Die Auferstehung ist seither für den christlichen Glauben entscheidend geblieben. Ohne sie wäre dieser Glaube keine weitere Überlegung wert. So muss mit den Worten Aulens Christus als seinem Wesen nach siegreich gesehen werden - Christus Victor. Weiterhin muss die Erlösung - obwohl die Ereignisse von Jesu Leben und Tod in der menschlichen Geschichte stattfanden - als ein Ereignis von kosmischer Reichweite betrachtet werden, da die Beschädigung der Schöpfung, die zu heilen ist, weit über diese menschliche Geschichte hi-
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nausgeht. So wird - wie nachher noch zu erörtern sein wird - der auferstandene und triumphierende Christus auch als der Herrscher über alles verstanden. In der östlichen Ikonographie wird er typischerweise so dargestellt - als Pantokrator, was buchstäblich bedeutet: der Herrscher über alles (gewöhnlich auf einer Ikone an der Decke über dem Kirchenschiff). Und als Pantokrator wird Christus am Ende der Geschichte zurückkehren, „zu richten die Lebenden und die Toten". Das Neue Testament stellt die Erlösungstat Jesu Christi als ein einzigartiges, nie zu wiederholendes Ereignis dar, und so hat es die Kirche seither immer aufgefasst. Der Hebräerbrief verwendet mit Bezug auf den Opfertod Christi wiederholt das Wort ephapax, „ein für alle Mal", oder, wie Luther übersetzt: „In diesem Willen sind wir geheiligt auf einmal durch das Opfers des Leibes Jesu Christi" (Hebräer 10,10) Dies bedeutet natürlich, dass wir durch Christus erlöst sind und deswegen nicht irgendwoanders weiter nach Erlösung suchen müssen. Dies war eine Botschaft der Befreiung für Menschen, die umgeben waren vom üppigen religiösen Pluralismus der hellenistischen Welt, wo rivalisierende Erlösungskulte an jeder Straßenecke zu finden waren. Und natürlich war es für jene, die immer noch nahe an jenem Ereignis lebten, unvorstellbar, dass ähnliche Ereignisse und ähnliche Erlösertaten anderswo stattgefunden haben könnten. Heute sind wir Jahrhunderte entfernt von dem, was zu Beginn der christlichen Zeitrechnung in Palästina geschah, und wir leben in einer Welt, deren religiöser Pluralismus mindestens ebenso massiv ist wie derjenige, der das frühe Christentum umgab. Insofern stellt sich für uns die Frage nach der Einzigartigkeit Jesu Christi in einem recht anderen Kontext. Könnte es sein, dass dieselbe Konstellation von Kenosis und Triumph sich anderswo ereignet haben könnte? Vielleicht mit Namen, die anders lauten als „Jesus Christus"? In den Taten dieses oder jenes Bodhisattvas? In einer längst vergessenen Episode des präkolumbianischen Amerika, im Leben eines Christus der Anden, über den alle Aufzeichnungen verschollen sind? Oder nehmen wir einen Augenblick lang an, dass der absurd kleine Planet, auf dem sich die menschliche Evolution und Geschichte ereignet haben, nicht der einzige Ort im Universum ist, wo der ursprüngliche Entwurf der Schöpfung durch das Leid und das Böse beschädigt worden ist. Könnte es irgendwo im Ozean der Galaxien eine andere Spezies „empfindungsfähiger Wesen" (um den buddhistischen Begriff zu gebrauchen) geben, deren gefallener Status eine Erlösung erfordert oder erfordern wird? Wenn dem so wäre, dann würde dies meines Erachtens nicht unseren Glauben an die Erlösung erschüttern, die zu uns gekommen ist in Jesus Christus (Christus pro me). Wenn wir uns aber auf derlei
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spekulative Überlegungen einlassen wollen, dann wäre wohl die oben erwähnte Idee des logos spermatikos hilfreich. Der Logos, der Christus ist, das Wort Gottes, kennt keine Begrenzungen in Raum oder Zeit, er kann seinen „Samen" überall in der Schöpfung aussäen. Ist das denkbar? Ja. Aber wir wissen es nicht. Wir können es nicht wissen. Wir brauchen es nicht zu wissen.
Exkurs: Über das leere Grab und andere Wunder Ich habe oben den Standpunkt vertreten, dass das leere Grab keine notwendige Voraussetzung für den Glauben an die Auferstehung Jesu war. Der Glaube beruht vielmehr auf der Überzeugung, dass der Tod Jesu am Kreuz, der letzte Schritt in der göttlichen Kenosis, nicht das Ende der Geschichte war und es auch nicht sein konnte. Angesichts dieser Überzeugung sind die empirischen Ereignisse, welche auf diesen Tod folgen, theologisch gesprochen nur von peripherer Bedeutung. Anders gesagt, der Glaube an die Auferstehung (den Bultmann unter dem Titel des „Osterglaubens" diskutierte) hängt nicht von dem speziellen übernatürlichen Ereignis ab, welches in der Geschichte vom leeren Grab behauptet wird dem wunderbaren Verschwinden und der wunderbaren Verwandlung von Jesu Leichnam. Trotzdem ist es von offensichtlichem Interesse, die Frage zu stellen, welche Elemente der Auferstehungsgeschichten historisch glaubwürdig sind. Und dies führt auf die umfassendere Frage, was man von den im Neuen Testament berichteten Wundern halten soll - und in der Tat von Wundern allgemein. Was können wir denn historisch gesehen über diese längstvergangenen Tage und Wochen in Jerusalem wissen? Der Historiker muss anmerken, dass das Neue Testament die einzige verlässliche Quelle ist; es gibt keine Bestätigung außerhalb der neutestamentlichen Texte, und diese sind ganz offensichtlich höchst voreingenommen und wollten keine Übungen in objektivem Journalismus sein. Mehr noch, es finden sich leicht voneinander abweichende Berichte bei Paulus, in den Evangelien und in der Apostelgeschichte. Aber es gibt eine Tatsache, die wir wissen: Es fand ein plötzlicher Umschwung in der Stimmung der überlebenden Jünger Jesu statt, von einer verständlichen Verzweiflung zu einer triumphierenden Bekräftigung, dass Jesus ins Leben zurückgekehrt und unter ihnen anwesend war. Etwas muss sich also ereignet haben, um diesen dramatischen Umschwung zu erklären. Was genau dieses Etwas war, das können wir empirisch gesehen nicht wissen. Ebensowenig können wir eine historisch adäquate Erklärung für die Überzeugung der Jünger geben, dass der auferstandene Jesus verschiedenen von ihnen bei mehreren Gelegenheiten erschienen war, sowohl in und um Jerusalem wie in Galiläa. Diese Er-
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scheinungsgeschichten machen auch klar, dass ihr Subjekt kein wiederbelebter Leichnam war (wie, sagen wir, der von den Toten auferweckte Lazarus), sondern eine Art spiritueller Körper, der den Beschränkungen gewöhnlicher Körper nicht unterworfen war. Dies wird besonders klar in der Auffassung des Paulus, der die Erscheinung Christi, die ihm Jahre später auf der Straße nach Damaskus begegnete, in eine Abfolge von Erscheinungen einreihte, welche zurückreicht bis in die ersten Tage nach Ostern. Nicht lange danach hörten die Erscheinungen auf, als die Auferstehung schon zum Mittelpunkt der christlichen Botschaft geworden war. Dieses Ende der Erscheinungen wurde in der Geschichte von der Himmelfahrt Christi sozusagen ratifiziert - einem weiteren Ereignis, mit dem der Historiker nicht im Rahmen seines Handwerks umgehen kann. Er kann nur sagen, dass mittlerweile - in dieser noch sehr frühen Phase der christlichen Geschichte - Jesus als kyrios anerkannt war und demzufolge als Sieger über den Tod. So beschreibt ein Neutestamentier diesen Zusammenhang: „Die liberale Kritik erklärt die Erscheinungen als psychologische Auswirkungen des Osterenthusiasmus. Nach allen Berichten waren jedoch umgekehrt erst die Erscheinungen Ursache des Osterglaubens. Das allein entspricht auch der Lage der Jünger nach dem Zusammenbruch ihrer messianischen Hoffnungen. Auch bliebe unerklärlich, dass die Erscheinungen aufhörten als der Auferstehungsglaube in der Gemeinde zum Sieg gelangt war" (Werner Bulst in seinem Beitrag über die Auferstehung in dem von Karl Rahner herausgegebenen Lexikon Sacramentum Mundi, Band 1, Sp. 415). Mit anderen Worten, es ist etwas geschehen, was eine sehr starke Wirkung hatte. Natürlich ist diese Argumentation nicht zwingend. Ein Skeptiker könnte andere Interpretationen vorbringen, die der Psychopathologie des religiösen Enthusiasmus breiteren Raum geben. Aber in der Sicht des Glaubens enthüllte Gott sich in diesen Ereignissen, ob sie nun übernatürliche Interventionen enthielten oder nicht. Man muss aber weitergehen und fragen: Sind derartige Interventionen α priori auszuschließen? Einfach formuliert: Kann man an Wunder glauben} Die einfache Definition für den Alltagsverstand reicht hier völlig aus: Ein Wunder ist ein übernatürlicher Eingriff in die kausalen Abfolgen der empirischen Welt. In den biblischen Texten (und in der Tat in der Religion allgemein) werden Gott derartige Interventionen zugeschrieben - aber auch Engeln und anderen übernatürlichen Wesen, und auch dem Teufel. Angeblich ist die Möglichkeit von Wundern für moderne Menschen nicht mehr glaubhaft. Jeder, der die zeitgenössische Religiosität studiert, muss jedoch diese Behauptung ernsthaft bezweifeln. Es gibt massive Beweise für den fortdauernden Glauben an alle möglichen wunderbaren Geschehnisse, selbst in den modernsten Gesellschaften. Das war schon
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immer so, ist aber mit der üppigen Blüte verschiedener übernatürlicher Glaubensformen seit der Herausbildung der „Gegenkultur" (counterculture) Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in Amerika und Europa besonders deutlich geworden. Man denke in diesem Zusammenhang nur an ein Phänomen wie die so genannte New-Age-Spiritualität, in der Millionen von eindeutig modernen Menschen auf die eine oder andere Weise Verbindung mit Wirklichkeiten jenseits der empirischen Welt suchen. Die sich weltweit explosiv ausbreitende Pfingstbewegung (von der man wohl sagen könnte, es sei die dynamischste religiöse Bewegung heutzutage) steckt voller übernatürlicher Annahmen. Tatsächlich könnte man bereits hier anmerken, dass es in den modernen westlichen Gesellschaften Millionen von Menschen gibt, deren Weltanschauung ebenso voll von Magie, Wundern und Omina steckt wie die des Neuen Testaments - allein die riesige Zahl von Menschen, die auf ihre Horoskope schwören! Und außerhalb des Westens trifft dies natürlich in noch stärkerem Maße zu. Wie ich anderswo ausführlich dargelegt habe, ist das Ausmaß der gesellschaftlichen Säkularisation unserer Welt stark übertrieben worden. Man kann allerdings sagen, dass die Moderne (aus Gründen, auf die ich hier nicht eingehen kann) die selbstverständliche Gewissheit bezüglich der Existenz übernatürlicher Wesen und Ereignisse unterminiert hat. Mit anderen Worten - ein Glauben an Übernatürliches ist „gegenkulturell" in dem präzisen Sinne, dass er sich gegen eine herrschende säkulare Weltsicht stellt, welche vorgeblich auf der Wissenschaft beruht und kulturell durch mächtige Institutionen durchgesetzt wurde, vor allem durch das Erziehungssystem und die Medien der Massenkommunikation. Der Verlust dieser Selbstverständlichkeit des Übernatürlichen trennt in der Tat die moderne Gesellschaft von weniger modernen Formen. Vor einigen Jahren war ich in Nepal, wo ich - nach einer Reihe von Tagungen in Indien - ein wenig Zeit als Tourist verbrachte. Wenn es irgendwo auf der Welt einen Ort gibt, wo das Übernatürliche völlig vorausgesetzt erscheint, dann ist es Nepal. Ich hatte ein Auto mit einem Englisch sprechenden Führer gemietet, der offensichtlich ein Mann von einiger Bildung war. Wir besuchten eine ausgedehnte Tempelarchitektur auf einem Berg nicht weit von Katmandu. Als wir den Tempelbezirk durchwanderten, sahen wir eine Gruppe von Menschen, die zum Himmel starrten und hinaufdeuteten. Mein Führer wurde neugierig und ging hinüber, um herauszufinden, was da vor sich ging. Er kam, verwundert dreinsehend, zurück und sagte: „Heute früh hat ein Mädchen, das im Tempel arbeitet, gesagt, sie hätte am Himmel Garuda vorbeifliegen sehen." (Garuda ist der mythische Vogel, der im Epos der Hindus den Gott Rama auf die Insel Sri Lanka trägt, damit er seine Geliebte Sita aus den Klauen des Dämonenkönigs befreien kann.) Nach einem Augenblick des Nach-
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denkens schüttelte mein Führer den Kopf und sagte: „Ich glaube nicht, dass sie Garuda gesehen hat." Damals schenkte ich dem keine besondere Aufmerksamkeit, aber später dachte ich darüber nach. Was mir dann auffiel, w a r der Tonfall, in dem der M a n n über dieses angebliche übernatürliche Ereignis gesprochen hatte. Er stellte die Möglichkeit durchaus nicht in Frage, dass jemand Garuda am Himmel gesehen haben könnte er bezweifelte lediglich, dass jenes besondere Mädchen ihn an diesem besonderen Morgen erblickt hatte. Als er sagte, er glaube das nicht, sagte er es in dem Ton, in welchem jemand vielleicht sagen würde: „Ich glaube nicht, dass der Z u g eben der Zehn Uhr Dreißig nach Chicago w a r - ich glaube, das war der Zehn Uhr Fünfundzwanzig nach M i l w a u k e e . " Könnte ein Mensch heute in Milwaukee behaupten, er habe ein übernatürliches Wesen am Himmel gesehen? Aber immer. Im Bewusstsein mancher zeitgenössischer Amerikaner ist der Himmel über Milwaukee voll von allen erdenklichen mythischen Kreaturen. Aber ein amerikanischer Garuda-Beobachter hätte von seiner Vision nicht in normalem Tonfall gesprochen, mit der Implikation, dass ein solches Ereignis jedenfalls als eine ganz reale Möglichkeit akzeptiert werden würde. Eher hätte er verschwörerisch geflüstert - im Bewusstsein, dass seine mythischen Annahmen mit den offiziellen Definitionen der Wirklichkeit in einer modernen Gesellschaft kollidieren. Wunder, sowohl die in der Bibel berichteten wie diejenigen, die in neueren Zeiten gemeldet worden sind, wurden während des größten Zeitraums der christlichen Geschichte als möglich vorausgesetzt. Die protestantische Reformation zog diese Voraussetzung dann in Z w e i f e l , und seither besteht ein großer Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten, was die Haltung zu möglichen Wundern betrifft. Nicht, dass die eigentlichen Reformatoren skeptischer gewesen wären als ihre römischen Gegner, was die Möglichkeit übernatürlicher Ereignisse betraf gewiss nicht Luther, der bekanntlich einmal ein Tintenfass nach dem Teufel geworfen haben soll. Die protestantische Haltung dem Wunderbaren gegenüber wurde vielmehr von der Opposition gegenüber bestimmten Formen katholischer Praxis bestimmt - darunter die katholische Auffassung der Eucharistie als wunderbares Ereignis sowie Praktiken wie Ablässe, Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien und so weiter. Doch im Verlauf der späteren Entwicklung des Protestantismus begann die kritische Haltung gegenüber diesen speziellen Formen angeblich übernatürlicher Intervention sich auszudehnen auf das Wunderbare schlechthin. Diese Entwicklung geschah am radikalsten im Calvinismus und seinen verschiedenen Verzweigungen. M a n muss nur - sagen wir - eine barocke spanische Kirche, voll von Bildwerken, welche die Gegenwart und fortdauernde Aktivität wunderwirkender Wesen anzeigen sollen, vergleichen
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mit den schlichten, weißgekalkten Kirchen des puritanischen Neuengland. Wie wir schon gesehen haben, hat Max Weber die perfekte Formulierung für diese protestantische Entwicklung gefunden: „die Entzauberung der Welt". Die protestantische Haltung den Wundern gegenüber bezeichnete man als „Cessationismus"; damit wurde ausgedrückt, dass man die Wunder der Bibel, insbesondere des Neuen Testaments, akzeptierte, dass seitdem jedoch die Wunder aufgehört haben (lat. cessare = enden). Sie sind für Gottes Heilsplan nicht länger notwendig. Später wurde unter dem Einfluss des modernen wissenschaftlichen Denkens bei den biblischen Wundern ein Unterschied gemacht zwischen solchen der Heilung (wenn Jesus etwa einen Lahmen aufstehen und wieder gehen lässt) und so genannten „Naturwundern" (wenn Jesus, sagen wir, über das Wasser geht). Letztere wurden verworfen, erstere zumindest im Prinzip akzeptiert als vereinbar mit modernen Vorstellungen wie der von einer psychosomatischen Erkrankung. (Eine vorzügliche Darstellung dieses Themas findet sich bei Robert Mullin, Miracles and the Modern Religious Imagination - ein faszinierendes Stück Geistesgeschichte). Was soll man nun von alledem halten? Eine fundamentale Einsicht aller Religionen ist es, dass es eine Wirklichkeit gibt, welche die gewöhnliche Welt menschlicher Erfahrung transzendiert. Der christliche Glaube setzt notwendigerweise ein Eindringen von Transzendenz in die empirische Welt voraus, insbesondere jenes, das „unter Pontius Pilatus" stattfand. Ich habe versucht, darzulegen, dass der Glaube an die Auferstehung nicht von einem auf wunderbare Weise leeren Grab abhängig ist. Die anderen Wundergeschichten des Neuen Testaments sind für den Glauben von noch geringerer Bedeutung. Aber dies bedeutet keineswegs, dass man jene Wunder - oder andere seither - axiomatisch ablehnen müsste. Es gibt einen christlichen Fundamentalismus, der insistiert, dass jeglicher biblische Text fehlerfrei ist und so akzeptiert werden muss, wie er geschrieben steht. Ich halte dies für eine Pervertierung - in der Tat eine Ablehnung - des Glaubens (da hier eine scheinbare Gewissheit an seine Stelle gesetzt wird). Aber es gibt auch einen modernistischen Fundamentalismus, der genauso dogmatisch ist. Ich glaube, es war G. K. Chesterton, der von dieser Weltanschauung gesagt hat, sie setze als Wirklichkeit etwa das voraus, was ein leicht schläfriger Geschäftsmann nach einem guten Mittagessen wahrnimmt, und hielte keine andere für vorstellbar. Mir scheint eine solche Weltsicht von ebenso dogmatischer Enge wie jene traditionelle Sicht der Dinge, welche von der „modernen" mit solcher Überlegenheit betrachtet wird. Es gibt eine schmale Linie zwischen den Vorstellungen vom Wunder und vom erhörten Gebet. Die letztere Idee beinhaltet jedoch nicht notwendigerweise eine Aufhebung oder Unterbrechung der empirischen
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Kausalität. Bei der Erhörung eines Gebets könnte Gott durch natürliche Verursachungen handeln. Trotzdem ist die Diskussion des Bittgebets in einem früheren Exkursus auch für die Frage nach den Wundern relevant. Wenn Gott allmächtig ist, kann es keine Schranke für sein mögliches Handeln geben. Was wir als das „natürliche" Universum sehen, ist seine Schöpfung, die ganzen Abfolgen von Ursache und Wirkung eingeschlossen, und es wird von Augenblick zu Augenblick durch seine schöpferische Macht erhalten. Es gibt kein Gesetz, das über ihm stünde und die Ausübung seiner Macht beschränkte, und insofern auch keinen Grund, a priori alle Wunder zu leugnen. Während der Katholizismus einen robusten allgemeinen Glauben an das Übernatürliche beibehalten hat, hat er doch recht skeptische Prozeduren entwickelt, um mit Behauptungen, es habe sich ein bestimmtes übernatürliches Ereignis zugetragen, umzugehen. Und während er auf dem wunderbaren Charakter seiner sakramentalen Apparatur insistiert, schätzen die katholischen Autoritäten irgendwelche quasi außerdienstlichen Manifestationen des Übernatürlichen nicht besonders. Soziologisch gesehen gründet dieses Zögern im Misstrauen einer Bürokratie gegen jegliches freie Unternehmertum. Also werden Kommissionen eingesetzt, umfangreiche Untersuchungen werden eingeleitet, und die herrschende Haltung ist der Skeptizismus. Am Ende mag dies oder jenes Wunder förmlich akzeptiert werden. In Fällen der vorgeschlagenen Selig- oder Heiligsprechung kann der Prozess der skeptischen Untersuchung sehr lange Zeit in Anspruch nehmen, manchmal mehrere Jahrhunderte. Hier geht es immer um Wunder - denn die Fähigkeit, Wunder zu tun, gilt als eines der Anzeichen für die Heiligkeit. (Johannes Paul II. ist dafür kritisiert worden, dass er in einigen solchen Fällen sehr viel rascher als gewöhnlich vorgegangen ist. Man erinnert sich, dass er als junger Mann ein großer Skiläufer war; vielleicht ist dies ein Sport, der die Neigung zu hoher Geschwindigkeit ermutigt.) Ich bin kein großer Bewunderer der Prozeduren der vatikanischen Bürokratie, aber die ihnen zugrunde liegende Haltung hat etwas für sich: Offenheit gegenüber der prinzipellen Möglichkeit von Wundern, aber Skepsis gegenüber jedem tatsächlich behaupteten Wunder. Vor einigen Jahren stieß ich auf eine recht bizarre Bewegung in meinem Heimatland Österreich - eine Organisation, die sich die Kaiser-KarlGebetsliga nannte. Ihr Zweck war die Seligsprechung und schließliche Heiligsprechung des letzten habsburgischen Herrschers, der gegen Ende des Ersten Weltkriegs abgesetzt wurde und im Exil auf Madeira starb. Die Organisation gab ein Jahrbuch heraus, in dem Karl der „Friedenskaiser" genannt wurde (weil er gegen Kriegsende einige recht schwächliche Versuche machte, einen Separatfrieden für Österreich-Ungarn zu erreichen) und der „Märtyrerkaiser" (weil die siegreichen Alliierten ihn ins
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Exil zwangen und das Klima auf Madeira von manchen für seinen frühen Tod verantwortlich gemacht wurde, was nicht sehr plausibel ist). Ich habe mir einige Jahrgänge dieser bemerkenswerten Publikation besorgt. Sie enthielten Aufsätze über Kaiser Karl, sein Leben und seinen Charakter, einige davon anscheinend von reputierlichen Historikern. Aber die Pointe kam am Ende jedes Bandes: Berichte von Gelegenheiten, bei denen Gebete, die an den toten Kaiser gerichtet worden waren, angeblich erhört wurden. Die meisten dieser Meldungen stammten aus den bukolischeren Regionen Österreichs und Bayerns und berichteten von den angeblichen Wundern in trockener bürokratischer Diktion: „Es wird hochachtungsvoll gemeldet, dass ich zu dem Märtyrerkaiser um die Heilung meiner Preiskuh gebetet habe, die der Tierarzt für unheilbar erklärt hatte, und das Gebet wurde erhört." - „Ich melde hiermit, dass Gebete zu Kaiser Karl wirksam waren im erfolgreichen Ergebnis eines Prozesses mit neidischen Verwandten." Und so fort. Man stellt sich ein dämmriges Büro in irgendeinem Winkel des weitläufigen Vatikan vor, wo ein säuerlicher Monsignore (seine Aufgabe kann in der Kurie kaum besonders begehrt gewesen sein) seine Tage damit verbringt, derartige Dokumente durchzugehen und sie vielleicht nach einem vor zweihundert Jahren entwickelten System zu klassifizieren, sie vorzubereiten für den Tag (der vielleicht zweihundert Jahre in der Zukunft liegen mag), da, wenn alles gut geht, das Verfahren zur Seligsprechung formell eröffnet werden kann. 1 Chestertons schläfriger Geschäftsmann existiert innerhalb dessen, was Alfred Schütz die „ausgezeichnete Wirklichkeit" genannt hat - die Welt des gewöhnlichen alltäglichen Lebens, deren Parameter bekannt sind und die man mit wenn nicht allen, so doch den allermeisten Mitmenschen teilt - eine Welt, die wenig Überraschungen kennt. Doch diese Wirklichkeit ist verletzbar, sie wird durchbrochen von Ereignissen, die andere Wirklichkeiten suggerieren, von Träumen und Ekstasen, die nun in der Tat überraschend sind. Nicht alle diese Ereignisse sind religiöser Natur, aber im Kern des Religiösen steht das Empfinden (und manchmal die Überzeugung), dass es ein endgültiges Transzendieren der gewöhnlichen Welt gibt, und dass diese Transzendenz gütig ist. Anders gesagt: Die Welt enthält Geheimnis. Mir scheint, noch ehe man zu einem Akt des religiösen Glaubens gelangt, ist es wichtig, dass man offen ist für das Geheimnis.
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Zwischen dem englischen Originaltext und dieser deutschen Übersetzung ist Kaiser Karl nun tatsächlich selig gesprochen worden, im Jahre 2004. Es hat also diesmal nicht ein paar Jahrhunderte gedauert. Johannes Paul II. ist auch hier rapide Ski gefahren. Man darf annehmen, dass der erwähnte (fiktive) Monsignore dadurch ungewöhnlich viel Arbeit hatte, vermutlich auch Ärger. Er hofft bestimmt, dass es bei dem neuen Papst etwas langsamer geht
Kapitel Acht „... hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten." Diese Sätze des Glaubensbekenntnisses umfassen das gesamte christologische Drama, von der Agonie des Todes Jesu über seine Auferstehung bis zu seinem Status als kosmischer Herrscher und künftiger Richter. Wie ich schon erläutert habe, ist die Auferstehung das zentrale Gelenk dieses Dramas; ohne sie bleibt die Handlung sinnlos. Natürlich kann dieses Kapitel nicht alle von dem zitierten Abschnitt aufgeworfenen Fragen behandeln; auf einige werde ich gar nicht eingehen. Es wird in der englischen Fassung des Apostolikums die Niederfahrt zur Hölle erwähnt. Sehr wahrscheinlich ist das Wort „Hölle" irreführend, jedenfalls was die ursprüngliche Absicht des Bekenntnisses angeht. Der Satz beabsichtigt wahrscheinlich nicht mehr, als gegen alle doketischen Theorien zum Ausdruck zu bringen, dass Jesus wirklich und wahrhaftig gestorben ist, und das hier (wie bei Luther) mit „Hölle" wiedergegebene Wort bezieht sich einfach auf das Totenreich. (Die deutschen protestantischen Liturgien geben den Halbsatz tatsächlich mittlerweile auch mit „hinabgestiegen in das Reich des T o d e s " wieder.) Später bildete sich dann die Idee heraus, dass Jesus, in einer Art Zwischenzeit zwischen dem Kreuzestod und der Auferstehung, in die Unterwelt hinabstieg, um den Toten das Heil zu verkünden. Wir werden später Anlass haben, einige Fragen nach den Verbindungen zwischen Lebenden und Toten in der Ökonomie der Erlösung zu stellen. Auch will ich hier nicht die Himmelfahrt Jesu diskutieren - eine Episode, die sich auf ein tatsächliches Ereignis beziehen mag oder nicht, die aber deutlich zum Ausdruck bringt, dass es nach einer gewissen Zeit keine Erscheinungen des auferstandenen Jesus mehr gab und dass die Jünger anerkennen mussten, dass Jesus nicht mehr bei ihnen war. Das Ende des Abschnitts, das sich auf die Parusie bezieht, die Wiederkunft Christi, wird an späterer Stelle besprochen werden. Was die Metapher angeht, dass Christus zur Rechten des Vaters sitzt, so bringt sie beredt zum Ausdruck, was im letzten Kapitel ausgeführt wurde - dass
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der auferstandene Christus, nunmehr als kyrios manifestiert, der Sieger über das Böse, das Leid und den Tod ist. Der kenotische Jesus ist zum Pantokrator geworden, dem Herrscher über alle Dinge. All dies führt jedoch auf eine eigentlich sehr einfache Frage. Wenn Christus über das Böse, das Leid und den Tod gesiegt hat, warum beherrschen diese Wirklichkeiten dann immer noch die menschliche Existenz in der Welts' Das ist die Frage, die nun beantwortet werden muss. Es gibt eine ungeheure Spannung zwischen dem, was der Glaube bekräftigt als ein schon Geschehenes, und dem, was die Erfahrung zeigt: dass die volle Wirkung dieses Geschehenen eben noch nicht eingetreten ist. Alle Ereignisse im Leben Jesu bis zur Auferstehung und diese selbst sieht der Glaube als Inaugurierung des Reiches Gottes, doch dieses Reich ist der menschlichen Lebenserfahrung auf dieser Welt noch nicht sichtbar. Kurz gesagt: Die Welt ist ein so elender Ort, wie sie es immer gewesen ist. Der Sieg ist zwar bereits errungen worden, muss aber erst verwirklicht werden. Im christlichen Denken hat die Spannung zwischen dem „schon" und dem „noch nicht" von Anfang an zu Reflexionen über die Eschatologie geführt - das heißt, über die letzten Dinge oder die letzten Tage, da der Sieg Christi sozusagen mit bloßem Auge sichtbar werden wird. Erst dann wird sich der Sieg ganz manifestieren, und die menschliche Existenz - und in der Tat der gesamte Kosmos - wird ganz verwandelt. Die Parusie wird dann für alle sichtbar „einen neuen Himmel und eine neue Erde" bringen. Die Spannung ist schon im Neuen Testament merkbar. Die Botschaft Jesu war betont eschatologisch. Er verkündete die Herbeikunft des Reiches Gottes, die als unmittelbar bevorstehend und entscheidend mit seiner Person verbunden galt. Diese Botschaft hatte ihre Wurzeln im eschatologischen Denken der Juden, von dem Jesus fast mit Gewissheit beeinflusst war. Die Neutestamentier sind sich uneins, ob Jesus das Königreich Gottes historisch sah (das heißt in einem wesentlich jüdischen Sinne als die Errichtung eines gerechten messianischen Regiments) oder ob er es bereits kosmisch sah (das heißt als eine Verwandlung nicht lediglich der Geschichte, sondern des ganzen Universums). Es ist klar, dass in der frühen Kirche - vielleicht von Anbeginn an in Jerusalem und Galiläa - die bevorstehende Umwandlung kosmisch aufgefasst wurde. Die Parusie würde alles verwandeln. Vieles im Neuen Testament deutet darauf hin, dass Jesus selbst damit rechnete, dass das Königreich Gottes unmittelbar bevorstand, noch zu Lebzeiten seiner Jünger. Die frühe Kirche rechnete damit, dass die Parusie nächstens eintreten würde. Solange eine solche Erwartung sich aufrecht-
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erhalten ließ, solange blieb die Spannung zwischen „schon" und „noch nicht" begreiflicherweise gemildert. Man musste nur noch ein wenig den Atem anhalten, bald wäre alles gut. Doch gibt es auch Indizien im Neuen Testament, dass sich mit dem Hinsterben der ersten Jüngergeneration die Erkenntnis durchsetzte, es würde vielleicht ein langer Zeitraum vor Erreichen der endgültigen Erfüllung zu durchmessen sein. Die Parusie trat nicht ein - und es wurde recht schwierig, länger den Atem anzuhalten. Die Bibelwissenschaft hat einen gravitätisch-deutschen Begriff für diese unangenehme Lage geprägt: „Parusieverzögerung". Es ist, als warteten die Leute an einem Bahnsteig und hielten eifrig Ausschau in der Richtung, aus welcher man den Zug erwartet. Aber er kommt nicht. Mehr und mehr Verzögerungen werden angekündigt. Die Leute verlassen die Bahnsteigkante und setzen sich irgendwo auf eine Bank oder gehen ins Cafe; sie bereiten sich auf eine möglicherweise sehr lange Wartezeit vor. Wenn man auf die unmittelbare Ankunft des Zuges gehofft und sein Vertrauen in den veröffentlichten Fahrplan der Eisenbahngesellschaft gesetzt hat, dann wird es zu großen Enttäuschungen kommen. Vielleicht sogar zu Zweifeln nicht nur am Fahrplan, sondern an der ganzen Firma, die ihn herausgegeben hat. Es wird sozusagen eine Glaubenskrise eintreten, und mit ihr ein kognitives Problem: Wie soll man sich die Verzögerung erklären? Das christlich-eschatologische Denken ist ein einziger langer Versuch gewesen, mit diesem Problem fertig zu werden. Es gibt natürlich verschiedene Versionen von Eschatologie in der Geschichte des christlichen Denkens, und diese können hier nicht erschöpfend behandelt werden. Aber eine davon war immer dominant - man könnte sie vielleicht die lineare nennen. Die sichtbare empirische Geschichte wird verstanden als eine gerade Linie, die sich auf eine apokalyptischen Erfüllung zu bewegt; jeder Abschnitt auf der Linie wird durch eine besondere göttliche Handlung bezeichnet. Dies ist genau das vom Judentum entwickelte eschatologische Schema - wenn auch natürlich mit einem entscheidenden Unterschied: Die Messiaserwartung des Judentums blickt in die Zukunft, sie wird sozusagen vom „noch nicht" beherrscht. Die christliche Eschatologie schaut auch in die Zukunft und erwartet das Eintreten der Parusie, doch diese ist dann nur die endgültige Verwirklichung von etwas, das „schon" geschehen ist, nämlich mit den Ereignissen um das Leben Jesu. Dies bedeutet unter anderem, dass die Spannung zwischen dem Schon und dem Noch Nicht im Christentum eine Schärfe besitzt, die im Judentum viel geringer ist oder ganz fehlt. Abraham Herschel, ein jüdischer Denker, der einem Dialog zwischen Judentum und Christentum große Bedeutung beimaß, hat einmal bemerkt, dass die Christen im Gegensatz zu den Juden den unerlösten Charakter der Welt nicht ernst genug nehmen. Das ist etwas übertrieben, aber es steckt ein
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wichtiges Moment der Wahrheit in dieser Bemerkung. Jedenfalls war die herrschende christliche Ansicht die, dass die Geschichte in einer geraden Linie von der Schöpfung über die Offenbarungsereignisse des Alten Testaments und das Christusereignis bis zur endgültigen Errichtung des Reiches Gottes verläuft, wobei diesem letzten Ereignis Katastrophen vorausgehen, die im letzten Buch des Neuen Testaments mit großer Eindringlichkeit beschrieben werden. Ganz abgesehen von dem, was die Theologen denken mögen - dies ist sicher noch heute die unter gewöhnlichen Christen sehr weit verbreitete Meinung. Das bestätigt neuerdings der erstaunliche Erfolg der Romanbestseller, die vom Tausendjährigen Reich handeln, von der so genannten „Entrückung" - einem wunderbaren Vorgang, durch den gläubige Christen plötzlich vor der Endzeitkatastrophe von der Erde hinweggenommen werden, was unter anderem zu einer Unzahl von Verkehrsunfällen führt. Fundamentalisten verschiedener Couleur befassen sich gerne ausführlich mit den apokalyptischen Ereignissen, die für die „letzten Tage" vorhergesagt sind, den Taten des Antichrist beispielsweise, und sie versuchen häufig, Indizien zu finden, aus denen sich das Datum prophezeien lässt, an dem mit dem Beginn dieser Ereignisse zu rechnen wäre. Doch findet sich die lineare Auffassung von der Erlösungsgeschichte auch bei sehr subtilen Theologen. Ein einflussreiches modernes Exempel ist das Werk Christus und die Zeit (1946) des Schweizer Theologen Oscar Cullmann. Der Autor betont die einzigartige Linearität der biblischen Geschichtsauffassung, die einen scharfen Unterschied zwischen Christentum und Judentum einerseits (er hätte auch noch den Islam hinzufügen können) und der griechischen Vorstellung von zyklischer Zeit andererseits setzt. Im Hinblick auf das Werk Christi verwendet das Neue Testament (insbesondere der Hebräerbrief) mehrfach das Wort epbapax - „ein für alle Mal". Doch lässt sich das Wort auch auf die göttlichen Handlungen im Alten Testament beziehen - „die großen Taten Jahwes", von der Berufung Abrahams über den Auszug aus Ägyptenland und die Erteilung der Zehn Gebote auf dem Sinai bis zur Landnahme Israels. Gott handelt in der Geschichte, und aus diesen Handlungen bezieht die gesamte Geschichte ihre Heilsbedeutung. Dem steht die Auffassung gegenüber, dass sich alles wiederholt in „ewiger Wiederkehr" - was impliziert, dass jeder Heilssinn außerhalb der Geschichte zu suchen wäre. Cullmann hat ganz Recht, diesen Kontrast zur griechischen Auffassung von Zeit und Geschichte zu betonen, doch ist die nicht-lineare, zyklische Sicht auch für andere Weltanschauungen charakteristisch, insbesondere die der indischen Kultur. Es gibt eine Hindulegende, in der ein Heiliger und Ischwara, der Schöpfer der Welt und einer der mächtigsten Götter im Pantheon der Hindus, ein Gespräch führen. Es ist eine philosophische Unterhaltung,
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die großenteils mit dem Thema der Inkarnation befasst ist. Dann lacht der Heilige plötzlich, und als er gefragt wird, weshalb, sagt er: „Die Ameisen, die Ameisen!" und deutet auf einen Ameisenzug, der über den marmornen Fußboden von Ischwaras himmlischem Palast läuft. Und als er gefragt wird, weshalb die Ameisen ihn lachen machen, antwortet er: „ Weil jede einzelne dieser Ameisen einmal Ischwara war und wieder Ischwara sein wird." Es ist dies ein Satz, über den man nachdenken sollte, bis seine ganze Bedeutsamkeit klar geworden ist. Dann wird man zu verstehen beginnen, weshalb das endlose Rad der Wiederverkörperung, samsara, in der religiösen Phantasie der Inder solches Entsetzen hervorrief - so dass Erlösung stets bedeutete: Errettung vom Kreislauf des Rades. Aber man kann dann auch den Unterschied zur biblischen Auffassung sehen, vom ersten Satz des Alten Testaments an: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde", bis zum vorletzten Satz des Neuen Testaments: „Ja komm, Herr Jesus!" (maranata, ein aramäischer Ausdruck, der wahrscheinlich eine der ältesten liturgischen Formeln des Christentums darstellt). Cullmann drückt es folgendermaßen aus: Das Besondere an der christlichen heilsgeschichtlichen Zeitauffassung ist doppelter Art. Erstens ist das Heil gebunden an ein fortlaufendes, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassendes Zeitgeschehen, Offenbarung und Heil erfolgen auf einer ansteigenden Zeitlinie. Hier ist der streng geradlinig lineare Zeitbegriff des Neuen Testaments gegenüber dem griechischen zyklischen und gegenüber aller Metaphysik, wo das Heil immer im „Jenseits" verfügbar ist... Zweitens ist für diese heilsgeschichtliche Zeitbewertung charakteristisch die Bezogenheit aller Punkte dieser Heilslinie auf die eine geschichtliche Tatsache der Mitte, die gerade in ihrer banalen Einmaligkeit heilsentscheidend ist: Tod und Auferstehung Jesu Christi." (Christus und die Zeit, S. 4 5 f . ) Cullmann behauptet in seiner polemischen Wendung gegen alle „Metaphysik", dass das Neue Testament keinen Begriff von einer Ewigkeit habe, die zeitlos wäre. Ewigkeit bedeutet vielmehr Zeit ohne Ende, so dass die Erlösung sowohl jetzt wie nach der letzten Erfüllung nie ein Hinaustreten aus der Zeit bedeutet. Das gegenwärtige Stadium, unsere eigene Existenz „nach Christus", ist der Zeitraum zwischen dem zentralen Christusereignis und der Parusie. Cullmann, der sein Buch während des Zweiten Weltkriegs verfasste, gebraucht eine bedeutungsvolle Analogie: Dieses Stadium entspricht der Periode zwischen der Landung der Alliierten auf dem europäischen Kontinent (D-Day) und ihrem endgültigen Sieg (Victory-Day). Die letzte „In-
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vasion" hat sich bereits vollzogen, aber der vollkommene Sieg steht noch bevor. Das gilt, gleichgültig, wann man die Parusie erwartet - ob nun die siegreiche Wiederkunft Christi als unmittelbar bevorstehende gesehen wird (wie im frühen Christentum und jetzt noch bei den verschiedensten „Adventisten") oder in der unbestimmten Zukunft (wie bei den meisten Christen seit der Zeit der Apostel). Also ist die Gegenwart identisch mit den „letzten Tagen", also ist das Reich Gottes immer „nahe". Seine Gegenwart ist bereits in der Kirche offenbar, die seit dem Pfingstereignis unter dem Einfluss des Heiligen Geistes steht. Die Parusie liegt zwar in der Zukunft, doch ist sie schon hier und jetzt „verfügbar", insbesondere in den Sakramenten der Kirche (Cullmann hebt hier die Eucharistie hervor). Und so wird die Spannung zwischen Schon und Noch Nicht deutlich gemildert. Es ist nicht überraschend, dass es immer Menschen gegeben hat, welche die christliche Haltung des geduldigen Wartens, dass Gott die letzte Erfüllung bringen möge, unerträglich gefunden haben. Manche Leute wollen sich nicht im Bahnhofscafe einrichten; sie wollen die Ankunft des erwarteten Zuges erzwingen. So hat es in der ganzen christlichen Geschichte (und in der Tat auch in der jüdischen und muslimischen) wiederholt Versuche gegeben, das eschaton durch menschliche Anstrengung herbeizuführen. Es gibt eine lange Liste messianischer und utopischer Bewegungen, die sich aufgemacht haben, das Reich Gottes zu errichten, oft durch Waffengewalt, manchmal durch leidenschaftliche Gebetsfrömmigkeit. Im sechzehnten Jahrhundert, in den spirituellen Wirren der Reformation, gab es bewaffnete Aufstände, welche das verheißene Königreich mit Gewalt einsetzen wollten - ein wichtiges Beispiel ist das Täuferreich in Münster. Luther wandte sich vehement gegen diese Fälle von „Schwärmerei". Doch solche Versuche, den Himmel zu stürmen, hat es schon vor dem sechzehnten Jahrhundert gegeben und nachher wieder. Man könnte verallgemeinernd sagen, dass jede religiöse Tradition mit einer linearen Auffassung von der Zeit dazu neigt, messianische Bewegungen hervorzubringen, welche versuchen, die Geschichte zu einer Heilserfüllung hinzuzwingen. Und die Moderne hat natürlich eine Reihe von Beispielen säkularer Eschatologie erlebt. Der Marxismus ist ein Hauptexempel - mit seiner linearen Erlösungsgeschichte, die sich von einem angenommenen Urzustand menschlicher Gleichheit durch die „gefallene" Epoche des Privateigentums hin zum erwarteten apokalyptischen Zusammenbruch des Kapitalismus in der unvermeidlichen Revolution erstreckt, auf welche dann das „Paradies" der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft folgt. Man hat oft darauf hingewiesen, dass der Marxismus ohne die kognitiven Voraussetzungen einer biblischen Auffassung von Zeit und Geschichte nicht denkbar gewesen wäre und dass
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seine eigene „Linie" der Erlösung eine erstaunliche Ähnlichkeit mit ihren jüdisch-christlichen Vorläufern hat. Doch gibt es andersgeartete Vorstellungen von Eschatologie, die im Widerspruch zu allen Ideen von einer erlösenden Erfüllung innerhalb der Geschichte und innerhalb der empirischen Parameter der menschlichen Existenz in dieser Welt stehen. Hier wird nicht nur jeder Versuch zurückgewiesen, das eschaton durch menschliches Eingreifen herbeizuführen, es muss nach dieser Auffassung die Geschichte selbst an ein Ende kommen in einer Erfüllung, die notwendigerweise von kosmischer Reichweite ist, da die gesamte Schöpfung auf die Erlösung wartet. Und vor allem muss das eschaton die Überwindung des Todes beinhalten - und dies ist etwas, das innerhalb der empirischen Realitäten der Geschichte und der Natur nicht vorstellbar ist. Dies war die Position Emil Brunners, eines weiteren protestantischen Theologen der Schweiz (bekannt für seine Auseinandersetzungen mit Karl Barth innerhalb der - weitgefassten - Schule protestantischer Neo-Orthodoxie): „So soll denn das Vollkommene nie wirklich werden? Daß das Vollkommene einmal Wirklichkeit sein wird, ist das eindeutige Zeugnis des Evangeliums. Aber damit das geschehe, muß nicht nur etwas in der Geschichte anders werden, sondern muß die geschichtliche Existenz selbst, muß „der Leib dieses Todes" selbst abgetan werden. Das aber ist mit der Botschaft von der Auferstehung und dem ewigen Leben gemeint - und mit dieser Botschaft ist das Evangelium identisch.
(Das Ewige als Zukunft und Gegenwart, S. 90)
Wir werden auf diesen Punkt gleich zurückkommen. Brunner verweist hier auf die Art und Weise, in welcher die Spannung zwischen Schon und Noch Nicht in der Geschichte des christlichen Denkens hauptsächlich aufgelöst worden ist. Dies geschah in vielen - oft miteinander unvereinbaren - Formen, die aber trotzdem eins gemeinsam haben: Das Drama der Erlösung wird enthistorisiert. Genau dies meint Brunner, wenn er „die Metaphysik" verwirft und vom „Jenseits" spricht. Die Erlösungserwartung wird von der Zukunft in die Gegenwart verschoben, von einer künftigen Welt in eine andere, die hier und jetzt zugänglich ist. Diese Verschiebung spiegelt sich auf interessante Weise darin, wie biblische Begriffe sich statt auf die Zeit nun auf den Raum beziehen sollen - der Begriff olam im Alten Testament und der Begriff aion im Neuen Testament, die jeweils ursprünglich ein Zeitalter bezeichneten (dieses Zeitalter im Gegensatz zu einem künftigen), bezeichnen nun einen Raum (diese Welt im Gegensatz zu einer anderen Welt). Die eschatologische Erfüllung wird nun - wenn auch ihre zukünftige Manifestation nicht ganz und gar geleugnet wird (selbst dies geschieht gelegentlich) - als
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bereits zugänglich gesehen, tatsächlich als etwas, das sich hier und jetzt ereignet. Der Kontrast zwischen Zeit und Ewigkeit wird interpretiert als der Einbruch von Ewigkeit in die Zeit hier und jetzt, wobei die Zeit (welche die ganze Misere der Geschichte und der Natur einschließt) soteriologisch irrelevant wird. Manche Historiker haben diese Verschiebung als eine Anpassung der biblischen Weltsicht an den Hellenismus interpretiert. Wie dem auch sei eine derartige Verschiebung fand schon seit der Frühzeit der christlichen Geschichte statt. Ihre erste wichtige Form war wahrscheinlich die Gnosis, welche die Geschichtlichkeit der Erlösung radikal bestritt und die Erlösung vielmehr als Erlangung eines Zustandes der Vollkommenheit interpretierte, der hier und jetzt beginnen konnte. Eine ahistorische Sicht der Erlösung ist ja fast jeder Form von Mystik inhärent, im Judentum und im Islam ebenso wie im Christentum. Der Mystiker wartet nicht auf ein großes Ereignis in der Zukunft. Das große Ereignis ist vielmehr die mystische Erfahrung - eine Begegnung oder vielleicht sogar Vereinigung mit der göttlichen Wirklichkeit, welche die Zeit transzendiert. So sprach Meister Eckhart, der wohl größte Mystiker des christlichen Mittelalters, von dem ewigen Nun, welches das Ziel der mystischen Suche ist. Die Relativierung der Geschichte lässt sich auch durch eine „hohe" Auffassung von der Kirche erzielen. Wie wir gesehen haben, wird die Kirche sogar im linearen Verständnis der Eschatologie bereits im Neuen Testament als eine Vorwegnahme der Parusie betrachtet; Christus wird in den „letzten Tagen" wiederkommen, aber er ist in seinem verherrlichten Zustand bereits hier und jetzt gegenwärtig in den Sakramenten der Kirche. Wir haben die Vorstellung der Ostkirche vom „Himmel auf Erden" in der Liturgie erwähnt. In der westlichen Kirche wurde eine ähnliche Idee in Augustins Gottesstaat entwickelt. Während auch andere Traditionen mit einer derartigen „hohen" Auffassung vom Wesen der Kirche operiert haben, darf man wohl sagen, dass die katholische Kirche die großartigste Version hervorgebracht hat. Ihr Verständnis des Messwunders als Wiederholung des Opfers Christi bringt diese Vorstellung deutlich zum Ausdruck - was die Reformatoren dazu herausgefordert hat, das „Ein für alle Mal" des ursprünglichen Opfers Christi zu betonen, wie es im anglikanischen Book of Common Prayer in einem der Gebete vor der Kommunion heißt, wo Gott für den Kreuzestod Christi gedankt wird, „welcher dort (mit seiner einzigen Hingabe seiner selbst, einmal dargeboten) eine volle, vollkommene und hinreichende Opferung, Hingebung und Satisfaktion für die Sünden der ganzen Welt vornahm." Natürlich gaben weder die orthodoxe noch die katholische Tradition die Erwartung der zukünftigen Parusie auf, aber die massive Betonung des sakramenta-
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len Apparats der Kirche, die hier und jetzt zur Verfügung steht, mildert die Erwartung beträchtlich. Karl Barth hat in seinen frühen Schriften das „Hier und Jetzt" der Begegnung zwischen einem Individuum und dem Kerygma - der Verkündigung des Evangeliums - betont (diese radikale Position hat er in seinem späteren Werk modifiziert). Man könnte sagen, dass der frühe Barth das mystische oder sakramentale „Jetzt" durch ein kerygmatisches ersetzt. Dies zeigt sich klar in seinem Kommentar zum Römerbrief (dessen ursprüngliche Veröffentlichung 1918 die erste Salve war, welche jene Bewegung abfeuerte, die dann als „dialektische Theologie" oder „NeoOrthodoxie" bekannt wurde). Barth kommentiert dort den Abschnitt Römer 1 3 , 1 1 - 1 2 , w o Paulus sagt: „... denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen." Andere Kommentatoren interpretieren diesen Abschnitt als Hinweis darauf, dass Paulus immer noch in der Erwartung lebte, die Wiederkunft des auferstandenen Christus stehe unmittelbar bevor. Nicht aber Barth: Er insistiert, das Reich Gottes sei immer „nahe herbeigekommen", wenn uns das Wort Gottes gegenübertritt. Es gibt also gar keine wirkliche „Parusieverzögerung". Die Spannung besteht nicht zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen dem Schon und dem Noch Nicht, sondern sie besteht zwischen dem Wort und unserem sündigen Zustand. Barth zitiert Kierkegaards Bemerkung, die „neunzehnhundert Jahre Kirchengeschichte" (die lange Verzögerung) machten den Glauben schwierig. Dem ist nach Barth nicht so: Diese neunzehnhundert Jahre sind für den Glauben ebenso irrelevant wie die Zeit, welche die Botin Phoebe benötigte, um Paulus' Brief von Korinth nach Rom zu bringen, oder die Zeit, die Paulus brauchte, um den Brief zu diktieren. Mit anderen Worten: Die historische Zeit wird in sich irrelevant, und das eschaton ist jetzt da. Rudolf Bultmann, der uns in diesem Buch bereits begegnet ist, gilt gewöhnlich als Vertreter einer liberalen Antithese zur Neo-Orthodoxie (Barth selbst wies Bultmanns Programm einer Entmythologisierung des Neuen Testaments vehement zurück). Und doch bildete sich Bultmanns Denken im Milieu der Barthschen Theologie heraus, und das merkt man. Bultmanns „entmythologisiertes" Evangelium wird als existentielles Ereignis erlebt, hier und jetzt. So diskutiert Bultmann beispielsweise in dem ursprünglichen Aufsatz Neues Testament und Mythologie (der während des Zweiten Weltkriegs geschrieben und kurz danach veröffentlicht wurde) einigermaßen ausführlich die Auferstehung. Wie wir gesehen haben, wischt er alle Fragen nach ihrer Historizität beiseite. Die Auferstehung ist ihm zufolge kein „mythisches Ereignis" in der Vergangenheit. Vielmehr tritt uns der auferstandene Christus im Wort der Verkündigung entgegen,
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hier und jetzt, und nirgendwo sonst. Die Wahrheit des Osterglaubens ist der Glaube an das Wort. Hier haben wir eine besonders scharfe Formulierung des kerygmatischen „Jetzt". Und wieder wird - wenn auch auf eine höchst eigenartige Weise - die Spannung zwischen Schon und Noch Nicht aufgehoben. Die Möglichkeiten der Eschatologie sind jedoch mit den Alternativen eines linearen und eines ahistorischen Ansatzes nicht erschöpft. Es gibt neben dem soeben diskutierten „unilinearen" Ansatz das, was man einen multilinearen oder vielleicht präziser einen dualen Ansatz nennen könnte. Vereinfacht gesagt heißt dies, dass es nicht nur eine einzige Linie der Geschichte gibt, sondern mindestens zwei - es gibt die sichtbare, die Gegenstand des Studiums der Historiker sein kann (und innerhalb derer in der Tat heilsbringende Ereignisse wie der Tod Jesu „unter Pontius Pilatus" stattfinden). Aber es gibt auch eine unsichtbare, eine verborgene Geschichte, in der sich die Erlösung der Welt entfaltet. Sie ist dem Historiker oder irgendeinem anderen empirisch orientierten Beobachter völlig unzugänglich, wenn es auch Momente geben mag, in denen man einen kurzen Blick auf jene andere Geschichte im Strom der sichtbaren Geschichte erhäschen kann. Dies bedeutet, dass es töricht ist, der Geschichte einen empirisch verfügbaren Zweck zuzuschreiben. Es gibt kein vernünftig erkennbares Telos, keinen Sinn der Geschichte. Joyce lässt Stephen Dedalus im Ulysses sagen: „Die Geschichte ist ein Alptraum, aus dem ich zu erwachen suche", und diese Bemerkung ist angemessen. Reiche und Zivilisationen kommen und gehen, und dieses Kommen und Gehen geschieht unter unermesslicher Aufhäufung menschlichen Leidens. Nur indem man diese furchtbare Chronik mit der verborgenen Geschichte der Erlösung zusammenbringt, kann man jener ein Ziel oder einen Sinn zuschreiben, und nur auf dem Weg des Glaubens. Wer der Geschichte eine Teleologie unterstellt, wer behauptet, ihr Ziel zu kennen, und dann anfängt, durch seine eigenen Handlungen das Erreichen dieses Ziels beschleunigen zu wollen, vermehrt in der Regel nur die endlose Akkumulation des Leids, wie die großen marxistischen Experimente mit schrecklicher Deutlichkeit demonstriert haben. Ich kann nicht umstandslos sagen, wie man sich diese verborgene Geschichte der Erlösung vorstellen sollte. Aber ich finde eine Andeutung davon im Begriff der unsichtbaren Kirche, wie er aus der protestantischen Reformation hervorging. Luther kämpfte an zwei Fronten, als er seine Auffassung von der Kirche entwickelte. Einerseits wies er schließlich das römisch-katholische Verständnis zurück, das aus der sichtbaren Kirche einen zentralen Gegenstand des Glaubens und den Ort der Erlösung hier und jetzt gemacht hatte. Andererseits lehnte er die utopische Auffassung der Schwärmer (etwa der Münsteraner Täufer) ab, die durch eine cha-
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rismatische Kirche das sichtbare Reich Gottes herbeiführen lassen wollten - ebenfalls hier und jetzt. Gegen Rom gewandt wies er die Idee der Kirche als einer hierarchischen Sukzession von Bischöfen ab und sprach stattdessen von einer „Sukzession der Gläubigen" - successio fidelium: Die Kirche ist die Gemeinschaft der Gläubigen. Wir können allerdings niemals mit Gewissheit sagen, wer die Gläubigen sind - nicht unbedingt jene, welche ihren Glauben am lautesten proklamieren. Es gibt aber eine unsichtbare Kirche, innerhalb der sichtbaren Kirche, jedoch den Blicken entzogen, und möglicherweise gibt es sie auch außerhalb der Grenzen der sichtbaren Kirche. Luther hat, soweit ich weiß, diesen Begriff der „unsichtbaren Kirche" selbst nicht verwendet - er wurde später in der lutherischen Lehre entwickelt; die Idee aber ist schon in Luthers Denken da. Man sollte bemerken, dass diese Idee keineswegs die Bedeutung der sichtbaren Kirche als Ort der Predigt des Evangeliums und der Erteilung der Sakramente bestreitet. Wenn dem so wäre, hätte man sich kaum die Mühe des Versuchs gemacht, jene Kirche zu reformieren. Aber die sichtbare Kirche ist noch nicht alles, und diese Einschränkung ist bedeutungsvoll. Man kann wohl sagen, dass wir hier eine dualistische Auffassung von der Kirche haben. Die weit reichenden ekklesiologischen Implikationen eines solchen Verständnisses brauchen uns im Augenblick nicht zu beschäftigen. Aber mir scheint, dass wir in diesem Doppelbegriff eine Andeutung der Art und Weise haben, wie die beiden Formen von Geschichte zu verstehen sind. Wenn wir versuchen, uns einen Reim auf das gegenwärtige Zeitalter zwischen Auferstehung und Parusie zu machen und auf die Spannung zwischen dem Schon und dem Noch Nicht, dann müssen wir uns nicht auf den sichtbaren Gang der Geschichte beschränken. Es gibt eine andere Strömung der Geschichte, größtenteils verborgen, und hier reift Gottes Plan zur Erlösung der Welt langsam heran. Der Fortschritt des Erlösungsplanes ist verborgen. Es ist uns nicht gegeben, seine Umstände oder Stadien zu erkennen. Wir können nur den Glauben haben, dass dieser Fortschritt in dem Maße stattfindet, in dem Christi Sieg sich seiner endgültigen Vollendung nähert. Nietzsche wandte den - für sein eigenes Denken zentralen - Begriff der „Umwertung aller Werte" auch auf das Verhältnis des Christentums zur Antike an, diesmal höchst abschätzig: Hier meinte er die - von ihm aggressiv abgelehnte Erhöhung der Schwachen über die Starken, das Versprechen, dass die Letzten die Ersten sein werden. In vielem hat er fürchterlich geirrt, aber es liegt hierin doch eine genuine Einsicht: Der christliche Glaube stellt unsere gewöhnliche Einschätzung dessen, was wichtig und was unwichtig ist, in Frage. Diese „Umwertung" ist bereits im gesamten biblischen Bericht von Gottes Eingreifen in die menschlichen Angelegenheiten deutlich.
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Der alte Orient kannte eine Reihe von höchst selbstbewussten Imperien, aber was wirklich wichtig war, wäre für Beobachter in den Zentren dieser Welt kaum wahrnehmbar gewesen - die Begegnung zwischen einem radikal anderen Gott und einer völlig marginalen Nomadenschar am Rand dieser großen Reiche. Der gesamte Verlauf des Lebens Jesu ereignete sich in einem Provinzwinkel der römischen Welt - so entfernt, dass wir keinen einzigen zeitgenössischen Bericht davon haben. Sagen wir so: Wenn es in der Antike Fernsehnachrichten gegeben hätte, so wäre der allergrößte Teil der Geschichte Israels und das gesamte Leben Jesu auf dem Bildschirm unsichtbar geblieben. Und was die Reformation angeht, so beschrieb Paul Goodman ihre Anfänge als eine Verschwörung von Jungakademikern einer Provinzuniversität. Natürlich wurden diese verborgenen Geschehnisse dann schließlich auf der Bühne der sichtbaren Geschichte „wichtig", aber indem sich dieser Prozess vollzog, wuchs auch das Risiko, dass sie eben das verloren, was im Hinblick auf ihre heilsgeschichtliche Bedeutung das wirklich Wichtige an ihnen war. Das Christentum siegte, als Konstantin es zur römischen Staatsreligion erhob und es damit überaus „wichtig" werden ließ. Doch war dieser Sieg - wie sich überdeutlich zeigen sollte - unter dem Blickwinkel des Glaubens höchst problematisch; er lässt sich gewiss nicht mit jenem Sieg Christi in eins setzen, den die Evangelien verkünden. Eine russische Legende erzählt von drei heiligen Einsiedlern, die auf einer Insel lebten und sich ganz dem Gebet und den Werken des Barmherzigkeit hingaben. Der Bischof, unter dessen Jurisdiktion die Insel stand, erfuhr, dass diese Männer in den Lehren und Ritualen der Kirche gänzlich unwissend waren. Dies erschien ihm skandalös; er besuchte die Insel und verbrachte einige Zeit damit, den Männern die grundlegenden Lehren und Gebete der Kirche beizubringen. Dann reiste er wieder ab. Als sein Boot davonfuhr, sah er zu seiner Bestürzung, dass die drei Einsiedler ihm folgten, auf dem Wasser einhergehend. Sie erreichten das Boot und erklärten, sie seien ihm nachgegangen, weil sie die Worte des Vaterunsers schon wieder vergessen hätten. Der Bischof sagte, sie sollten sich deshalb nicht bekümmern - sie bräuchten diese Worte nicht. „Umwertung": In der Ökonomie der Erlösung war die einsame Insel ein wichtiger Ort und nicht der prächtige Palast, in dem - wie wir uns vorstellen mögen - der Bischof residierte. Oscar Cullmann hatte sehr wahrscheinlich Recht, wenn er sagte, die lineare Auffassung sei dem biblischen Bericht am nächsten. Aber ich glaube nicht, dass wir diesen Bericht buchstäblich lesen sollten: Die Bibel ist der Bericht von Ereignissen, in die wir unseren Glauben setzen können; sie ist nicht selbst Gegenstand dieses Glaubens. So können wir an die Erlösung
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glauben, deren hauptsächliches Zeugnis die Bibel ist, ohne notwendigerweise die kognitive Struktur zu übernehmen, in welcher dieses Zeugnis mitgeteilt wird - ihre vielberufene Linearität eingeschlossen. (Hier hatte Bultmann Recht - trotz der dubiosen Annahmen seines Entmythologisierungsprogrammes.) Gegen Cullmann würde ich einwenden: Wohl gibt es eine Linearität, aber kaum eine Unilinearität. Was die ganzen utopischen Anstrengungen angeht, die „Linie" durch politische oder andere Mittel kontrollieren zu wollen, so nehme ich an, dass Cullmann zustimmen würde, wenn ich sie als Deformationen der christlichen Hoffnung bezeichne. Und was all jene Versionen von Eschatologie betrifft, welche die Zukünftigkeit des Eschaton zugunsten eines „Hier und Jetzt" leugnen oder herunterspielen, so muss man, glaube ich, insistieren, dass die Geschichte nicht einfach irrelevant sein und die Geschichtlichkeit der biblischen Weltsicht nicht einfach aufgegeben werden kann. Der biblische Glaube bekräftigt, dass die Welt menschlicher Erfahrung die Arena der Erlösungstaten Gottes ist und dass die Welt ihren letzten Sinn durch diese Taten bekommt, auch wenn wir diesen Sinn nicht „mit bloßem Auge" erfassen können. Diese erhoffte Erlösungserfüllung zu reduzieren auf ein mystisches oder existentielles Ereignis - das würde die Hoffnung trivialisieren. Die Parusie kann kein Ereignis innerhalb meines Bewusstseins oder meiner Existenz sein. Sie muss objektiv real sein, als zukünftiges Ereignis, sonst stellte sie nicht das endgültige Erwachen aus dem Alptraum der Geschichte dar. Darüber hinaus muss die Parusie ihrem Umfang nach kosmisch sein, denn (wie ich bei der Diskussion der Theodizeefrage darzulegen versucht habe) nicht nur die Geschichte, sondern die Natur und wahrscheinlich das gesamte Universum bedürfen der Erlösung. Wie es Paulus ausdrückt (Römer S,zz): „Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet." Und ich sehe mich gezwungen, darauf zu bestehen, dass auch die Eschatologie in einen Nexus eingefügt werden muss, der den Glauben mit jenen Fragen verbindet, welche das menschliche Leben stellt. Insofern muss die Eschatologie, sieht sie sich der Spannung zwischen dem Schon und dem Noch Nicht gegenüber, auch eine Theodizee enthalten. Deshalb braucht sie die Auferstehung als ihre Grundlage und muss damit die Hoffnung auf eine Überwindung des Bösen, des Leidens und des Todes verkörpern. Alles sonst ist - mit größtem Ernst gesagt - „nicht interessant". Anders ausgedrückt: Wenn das Christentum weniger verspricht als dies, dann können wir gut und gerne auf es verzichten. Ich möchte noch einmal betonen, wie entscheidend die Frage nach der Überwindung des Todes ist. Iwan Karamasow hatte Recht: Ein Gott, der den Tod unschul-
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diger Kinder hinnimmt, ist unannehmbar. Der Tod ist unannehmbar. Die Eschatologie muss insistieren, dass der Tod für Gott nicht hinnehmbar ist, und dass die endgültige Manifestation der Erlösung diese Unannehmbarkeit bestätigen wird. Der Glaube bekräftigt, dass wir für die Ewigkeit gemacht sind - ob man diese als ein Sein außerhalb der Zeit oder als eine endlose Zeit versteht (was beides für uns angesichts unserer beschränkten kognitiven Möglichkeiten unvorstellbar bleibt), aber jedenfalls ohne Tod. In diesem Glauben können wir, wie zögernd auch immer, in das Gebet einstimmen, mit welchem das Neue Testament endet: Maranata „Komm, Herr Jesus!"
Kapitel Neun „Ich glaube an den Heiligen Geist..." Man darf wohl davon ausgehen, dass der Durchschnittschrist in den westlichen Gesellschaften der Gegenwart durchaus einen mehr oder weniger kohärenten Begriff davon hat, was „Gott" und „Christus" bedeuten, dass er aber verstummen müsste, wenn man ihn aufforderte, zu erklären, was mit dem „Heiligen Geist" gemeint ist. (Eine Ausnahme wären die Anhänger der Pfingstbewegung, die ständig vom Heiligen Geist reden. Von ihnen später mehr.) Eine ähnlich peinliche Situation - oder eine von noch gesteigerter Peinlichkeit - entstünde, wenn man auf das Thema der Dreieinigkeit käme, das natürlich intim mit der Frage nach dem Heiligen Geist zusammenhängt. Im Argumentationszusammenhang dieses Buches ist also nun die Zeit für die Frage gekommen: Wer - oder was - ist der heilige
Geist?
Wie mit früheren Fragen, die hier erörtert wurden, ist es sehr hilfreich, wenn man den historischen Prozess im Umriss begreift, der zu dieser Idee und zu der aus ihr entwickelten Lehre geführt hat. Der neutestamentliche Begriff für den Heiligen Geist (das griechische pneuma) steht in kontinuierlichem Zusammenhang mit dem verwandten hebräischen ruach des Alten Testaments, einem Wort, das den „Geist Gottes" bezeichnet, die göttliche Macht, wie sie in der Welt aktiv wird, sowohl in den Ereignissen der Geschichte Israels als auch in der Erwählung von einzelnen Menschen wie den Propheten, die einen bestimmten gottgegebenen Auftrag erfüllen sollen. Alle Autoren des Neuen Testaments waren natürlich mit diesem vorhergegangenen hebräischen Sprachgebrauch vollkommen vertraut. Im Neuen Testament ist die Entdeckung (falls dies das richtige Wort ist) des Heiligen Geistes eng verbunden mit der Erfahrung von der fortdauernden Gegenwärtigkeit Jesu nach seinem Verschwinden aus der Welt - das heißt: mit dem Ende der Erscheinungen des auferstandenen Christus vor den in Jerusalem und Galiläa allein zurückgebliebenen Jüngern. Das zweite Kapitel der Apostelgeschichte erzählt von einer Versammlung der Jünger in Jerusalem zum jüdischen Pfingstfest (Schawuot), bei der sich ein Wunder ereignete: „Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in
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dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen." Dieses „in andern Sprachen predigen" bedeutete, dass die Menge von Pilgern, welche der Versammlung beiwohnte, die Jünger in ihren jeweiligen Landessprachen reden hörte, verständlicherweise überrascht war und eine empfängliche Hörerschaft bildete, als der Apostel Petrus zu ihnen predigte von Jesus, dem gekreuzigten Messias, der von den Toten auferstanden war, Es gibt keinen Weg, auf dem ein Historiker rekonstruieren könnte, wie es in jener Zeit in Jerusalem „wirklich gewesen" wäre. Eine Tatsache ist jedoch ganz klar: Selbst als die Berichte, dass der auferstandene Christus hier und dort vor den Jüngern erschienen war, geendet hatten, hatten die Jünger immer noch ein lebhaftes Gefühl seiner fortdauernden Gegenwärtigkeit und seiner in der Welt wirksamen Macht. Und dieses Gefühl mag wohl - auf welchem Wege auch immer - verstärkt worden sein, als eine große Zahl von ihnen aus Anlass des ersten jüdischen Festes nach Pessach/Ostern versammelt war. Es ist auch wahrscheinlich, dass das Gefühl einer spirituellen Gegenwärtigkeit sich in ekstatischer Sprache äußerte („Zungenreden", das nicht seltene Phänomen, das die Religionswissenschaft „Glossolalie" nennt). Wie dem auch sei, die christliche Tradition hat in dem Pfingstereignis die Gründung der Kirche als Schöpfung des Heiligen Geistes gesehen. Wie im Alten Testament wird der Geist begriffen als etwas, das sowohl in der sich entfaltenden Geschichte der Gemeinschaft (der Kirche) aktiv ist als auch im Leben einzelner Gläubiger. Es gibt „die Gaben des Heiligen Geistes", manche davon wundersamer Natur (insbesondere in den Heilungswundern). Im Neuen Testament wird die Idee des Heiligen Geistes am ausführlichsten in den paulinischen Texten entwickelt. Paulus unterscheidet scharf zwischen dem Leben „im Geiste" und dem „im Fleisch" (sarx), wobei letzterer Begriff sich auf den menschlichen Zustand vor seiner Verwandlung durch den Geist bezieht. Hier wie anderswo in der Geschichte einer religiösen Tradition ist es wichtig, zwischen der religiösen Erfahrung und der Entwicklung theoretischer Reflexion über diese Erfahrung zu unterscheiden. Die Geschichte einer Religion ist kein mehrsemestriges theologisches Seminar. Die Erfahrung der Jünger (von denen keiner ein Theologe war) nach dem Verschwinden Jesu war krass und unmittelbar; man begann eben erst, über dieses Erleben nachzudenken. Im Neuen Testament zeigen sowohl die paulinischen wie die johanneischen Texte die Spuren eines intensiven Reflexionsprozesses, der rasch zu einem Korpus intellektuell durchgearbeiteter Lehre führte. Als sich die Reflexion über den Heiligen Geist wei-
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terentwickelte, ergab sich eine interessante Parallele zur Entwicklung des christologischen Denkens. Wie in einem früheren Kapitel dargelegt wurde, gab es den starken Druck, Christus als dem irdischen Leben Jesu präexistent und postexistent zu begreifen. Dieser Druck entstand unter „soteriologischem Antrieb" - das heißt, unter dem Antrieb des Verlangens, die Erlöserbedeutung Jesu Christi zu verstehen. Ähnlich gab es nun den Druck, den Heiligen Geist als dem Pfingstereignis präexistent zu sehen existent nicht nur bereits im Leben Jesu („empfangen durch den Heiligen Geist"), sondern in all den machtvollen Handlungen Gottes, die im Alten Testament verzeichnet sind: Es war der Geist, der durch die Propheten sprach. Und er war sogar von Anbeginn der Schöpfung da - mit den Worten des ersten Kapitels der Genesis, als schon vor der Erschaffung des Lichts „der Geist Gottes auf dem Wasser schwebte". Mehr noch wenn der Geist zu verstehen war als die aktive Gegenwart Gottes, dann konnte man ihn nicht als eine Art unpersönlicher Kraft oder Energie auffassen. Wie Gott im Sinne einer Persönlichkeit zu verstehen war, so musste auch der Heilige Geist als Person begriffen werden. Und hier haben wir natürlich die sich herausschälende Idee der Dreieinigkeit - Vater, Sohn und Heiliger Geist als Manifestationen desselben persönlichen Gottes. Ich würde behaupten, dass diese Entwicklung der Vorstellungen vom Heiligen Geist und später dann von der Trinität ebenfalls unter „soteriologischem Antrieb" stattfand. Es kann nicht überraschen, dass diese im Kontext des hellenistischen Philosophierens entwickelten Ideen später dann zu Doktrinen von überwältigender metaphysischer Komplexität führten. Ich würde meinen: Wenn wir uns stets daran erinnern, weshalb diese Entwicklung überhaupt begann, dann wird uns die metaphysische Ausziselierung nicht weiter irritieren (und - darf ich hinzufügen - diejenigen von uns, die liturgisch orientierten Kirchen angehören, werden ohne innerliche Grimasse die metaphysischen Formeln des nicänischen Glaubensbekenntnisses rezitieren können). Es führt eine direkte Linie von der Reflexion über den Heiligen Geist zur Doktrin der Dreieinigkeit. (Ich folge hier mehr oder weniger den Ausführungen von Adolf von Harnack in seinem klassischen Lehrbuch der Dogmengeschichte - zuerst erschienen 1 8 8 5 - 1 8 8 9 , kurz nach dem Tod des Autors in fünfter Auflage 1 9 3 1 - 1 9 3 2 . Natürlich hat es seither verschiedene Entwicklungen der Forschungsgeschichte gegeben, aber soweit ich sehe, bleibt seine Darstellung im Umriss gültig.) Von früher Zeit an war die Vorstellung der Dreieinigkeit in der Taufformel implizit man wurde getauft im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Doch herrschte in der frühchristlichen Theologie noch große Unsicherheit hinsichtlich der jeweiligen Beziehungen zwischen diesen drei Wesenheiten. So gab es die Vorstellung vom Heiligen Geist als einer
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Macht, die erst nach der Himmelfahrt Christi freigesetzt wurde. Dann gab es - wie soeben erwähnt - das Verständnis, der Geist sei die Kraft Gottes bei der Schöpfung der Welt und habe noch vor dieser existiert. Ferner gab es die Auffassung vom Geist als einer persönlichen Wesenheit - er war der Paraklet, der „Tröster", von dem Jesus verspricht, dieser Tröster werde nach seinem eigenen Verschwinden aus der Welt immer bei den Jüngern bleiben. Dieser Paraklet galt als ein dem Vater wie dem Sohn untergeordnetes Wesen. Manche glaubten, der Geist sei ein erschaffenes himmlisches Geschöpf, der höchste der Engel. Manche sahen ihn als identisch mit Christus - als lediglich eine andere Bezeichnung für den Logos, wieder andere als die Sophia, die Weisheit Gottes, eine weibliche Präsenz in Gott (eine Idee, die, was nicht überraschen kann, bei der gegenwärtigen feministischen Theologie Anklang gefunden hat). Es brauchte einige Jahrhunderte, bis diese Konfusion zu einer einheitlichen Lehre geordnet war. Tertullian sprach als erster vom Heiligen Geist als Gott. Die orthodoxe Lehre von der Dreieinigkeit bildete sich schließlich im vierten Jahrhundert heraus - drei Personen in der Gottheit, voneinander unterschieden und doch von demselben „Wesen" (das homoousion der nicänischen Formel wurde auf alle drei Personen angewandt). Aber während es von der zweiten Person der Trinität hieß, sie sei „gezeugt" von der ersten Person, wurde die dritte, der Heilige Geist, als aus der ersten „hervorgegangen" definiert. Unvermeidlicherweise kam es zu einer Debatte über die Natur dieses „Hervorgehens". Die spätere Theologie unterschied dann zwischen der „ökonomischen" und der „immanenten" Trinität. Der erste Begriff ist betont soteriologisch - er bezieht sich auf die Rolle des heiligen Geistes in der „Ökonomie" der Erlösung. Der zweite ist metaphysisch - er bezieht sich auf den Ort des Geistes im inneren Leben der Gottheit. Die Theologen haben stets konstatiert, dass diese letztgenannte Wirklichkeit ein Mysterium ist, das vom menschlichen Bewusstsein nicht durchdrungen werden kann. Dies hat allerdings bedauerlicherweise nicht sehr viele von ihnen daran gehindert, höchst ausführliche und detaillierte Spekulationen darüber anzustellen. Während der Geist im Neuen Testament häufig zur Sprache kommt, ist es schwierig, einen neutestamentlichen Beleg für die Trinitätslehre zu finden, wie sie zur Zeit des Konzils von Nicäa formuliert worden war. Mit dem so genannten „großen Auftrag" (Matthäus 28,19) Jesus seinen Jüngern befohlen haben: „Darum gehet hin und lehrte alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes." Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Jesus je etwas in dieser Art gesagt hat - mit viel größerer Wahrscheinlichkeit wurde die von der frühen Kirche geprägte Taufformel nachträglich Jesus in den Mund gelegt.
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Aber selbst diese Formel impliziert noch nicht die ausformulierte Dreieinigkeitslehre. Sie betont eher die fortdauernde Gegenwart der Erlösermacht Christi, vermittelt durch den Geist. Mit anderen Worten: Das Anliegen hier ist wiederum ein soteriologisches. Das ganze Gebäude metaphysischer Begrifflichkeiten wurde über diesem Anliegen errichtet. Falls wir nicht professionelle Theologen sind, fällt den meisten von uns heutzutage die Identifikation mit diesen Begriffen schwer. Trotzdem bringen sie eine wichtige Intuition zum Ausdruck: Wenn Gott Liebe ist (und diese Idee ist für die „Ökonomie" der Erlösung von zentraler Bedeutung), dann muss diese Liebe bereits in Gott vorhanden gewesen sein, ehe es in ihm die Liebe zu seiner Schöpfung im Besonderen gab. Man mag noch einmal an die wundervolle Zeile Dantes denken: die von der Liebe, welche die Sonne und die anderen Sterne bewegt. Diese ewige Liebe wäre dann als die „immanente" Beziehung zwischen den drei Personen der Trinität zu verstehen. Sind diese doktrinären Begrifflichkeiten wichtig für den Glauben? Ich bezweifle es eigentlich. Ich finde es sehr schwierig, denen zu folgen, die an der Auffassung festhalten, der christliche Glaube müsse notwendigerweise trinitarisch sein. Doch macht mich dies nicht zum „Unitarier". Wenn man die Motive begreift, die ursprünglich zur Herausbildung des trinitarischen Denkens geführt haben, dann wird man diesem Denken beipflichten können, ohne es verabsolutieren zu wollen; man nimmt es cum grano salis. Wo ist der Ort des Heiligen Geistes im Drama der Erlösung? Es gibt eine Episode der Kirchengeschichte, die außerordentlich bedeutsame Folgen hatte, heute aber für jeden Nicht-Theologen unverständlich wirkt. Dies ist die so genannte „filioque"-Kontroverse, eine Schlüsselfrage beim großen Schisma zwischen der östlichen und westlichen Christenheit und noch immer ein strittiger Punkt zwischen beiden. Es scheint mir, als werfe diese Auseinandersetzung auf seltsame (und gewiss von den einstigen Führern dieser Kontroverse nicht beabsichtigte) Weise Licht auf die oben gestellte Frage. Während der Osten wie der Westen sich an die nicänische Formel des homoousion hielten - das heißt, dass alle drei Personen der Trinität von derselben „Substanz" sind - , bestand der Osten mit viel größerem Nachdruck auf dem Primat des Vaters. Es schien den östlichen Theologen bei der Debatte der Beziehungen zwischen den drei Personen damals, dass der Gedanke, der Heilige Geist gehe nicht nur aus dem Vater, sondern auch aus dem Sohn hervor, den Geist zu einer Art Enkel des Vaters machen würde - eine in der Tat anstößige Vorstellung. Deshalb insistierte der Osten, dass der Geist allein aus dem Vater hervorgehe, und klammer-
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te sich leidenschaftlich an die ursprüngliche Formulierung im nicänischen Glaubensbekenntnis: „der Heilige Geist, der aus dem Vater hervorgeht und der zusammen mit dem Vater und dem Sohn verehrt und verherrlicht wird." (Das Konzil von Nicäa trat im Jahre 325 zusammen und entschied die arianische Kontroverse. Das so genannte nicänische Glaubensbekenntnis wurde nicht vor 381 auf dem ersten Konzil von Konstantinopel verfasst. Aber das spielt wohl keine besondere Rolle.) Eine andere Auffassung trat im Westen hervor. Bereits Augustin hatte von einem Hervorgehen des Geistes sowohl aus dem Vater wie dem Sohn gesprochen, hatte aber kein großes Thema daraus gemacht. Zum großen Thema wurde die Frage durch das übliche zufällige Zusammentreffen theologischer und politischer Interessen. Im Jahre 589 definierte eine westliche Synode in Toledo das „doppelte Hervorgehen" als die offizielle orthodoxe Lehre, obwohl diese für den Osten bereits anstößig war, und änderte den Wortlaut der nicänischen Formel ab - so dass sie nun lautete: „der Geist, der aus dem Vater und dem Sohn (filioque) hervorgeht...". Dies war nach östlicher Auffassung ein unerträgliches Herumdoktern an einem mittlerweile sakrosankten Text und die offizielle Bestätigung einer Ketzerei. Harnack war der (auch von jüngeren Historikern geteilten) Ansicht, man habe diese Änderung eigentlich nicht vorgenommen, um sich gegen den Osten zu stellen, sondern mit der Absicht, Überresten des Arianismus im Westen entgegenzutreten, indem man die volle Göttlichkeit Christi hervorhob. Wie dem auch sei - 809 bestätigte eine Synode in Aachen das filioque, und der abgeänderte Text des nicänischen Bekenntnisses wurde von Kaiser Karl dem Großen durchgesetzt. Wir dürfen davon ausgehen, dass Karl in Aachen Interessen verfolgte, die so wenig theologisch waren wie die Konstantins in Nicäa. Es war erst neun Jahre her, dass Karl sich zum Kaiser hatte krönen lassen, und in dieser Rolle hatte er ein großes Interesse daran, in seinem Herrschaftsbereich für theologische Einheitlichkeit zu sorgen - und in der Tat musste er auch daran interessiert sein, seinen kaiserlichen Status gegenüber der Konkurrenz in Konstantinopel zu unterstreichen. Das filioque wurde so zum Spielball der Politik des westlichen und des östlichen Imperiums. Die Angelegenheit ist ein gutes Beispiel für eine verallgemeinernde Beobachtung Harnacks zur Theologiegeschichte - er sieht eine regelmäßige Bewegung von Bekräftigungen des Glaubens hin zu theologischen Systemen und schließlich hin zu rechtlich bindenden Vorschriften kirchlicher Disziplin (wobei das letzte Stadium häufig im Zusammenwirken mit weltlichen Autoritäten erreicht wird). Das filioque wurde zu einer höchst augenfälligen Streitfrage der Kirchenpolitik im Machtkampf zwischen Rom und Konstantinopel. Die östliche Position wurde mit größter Vehemenz von Photios vertreten, der
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von 858 bis 867 und wieder von 878 bis 886 Patriarch von Konstantinopel war. Er bezichtigte den Westen einer ganzen Reihe von Ketzereien, unter denen das filioque die wichtigste war. Der Papst von Rom wurde 876 formell von einer Synode in Konstantinopel als Ketzer verurteilt. Gegenseitige Edikte der Exkommunikation gingen zwischen Rom und Konstantinopel hin und her. Päpstliche Legaten marschierten in die Hagia Sophia zu Konstantinopel und legten eine Bulle mit der Exkommunikation auf dem Hochaltar nieder. Die östliche Polemik in dieser Sache verbindet auf interessante Weise die erwähnten metaphysischen Anliegen mit Fragen kirchlicher Autorität. Es hatte die Argumentation gegeben, wenn der Geist aus Christus ebenso wie aus dem Vater hervorginge, dann würde die Person, die sich als Statthalter Christi bezeichnete, quasi eine Verfügungsgewalt über den Heiligen Geist besitzen. Das erscheint mir recht weit hergeholt. Doch ist es offensichtlich, dass Päpste wie Patriarchen der Ansicht waren, sie seien kompetent, in dieser Angelegenheit Entscheidungen zu fällen und sich dann ihrer Unstimmigkeiten wegen wechselseitig aus der wahren Kirche auszuschließen. Man darf wohl sagen, dass der Osten seit dem Jahre 1054 in dieser Sache stärker empfindet als der Westen. Diese Empfindungen wurden nicht gemildert durch Vorfälle wie die Plünderung Konstantinopels durch das Heer des vierten Kreuzzugs 1204 - listig von der Republik Venedig herbeigeführt, die ihre Konkurrenz im Handel mit dem Osten ausschalten wollte - oder das Versagen des Westens bei der Verteidigung Konstantinopels gegen die osmanischen Türken, welche die Stadt 1453 eroberten. Es gab verschiedene Versuche, einen Kompromiss in der filioqueFrage zu finden. Im neunzehnten Jahrhundert drängte eine Anzahl anglokatholischer Theologen die Kirche Englands, das filioque aus dem Glaubensbekenntnis zu streichen (Rom akzeptierte den Anglo-Katholizismus nicht, aber vielleicht würde es Konstantinopel tun). Ähnliche Vorstöße machten die Altkatholiken (die Gemeinschaft, die von jenen Katholiken gegründet wurde, welche die Kirche wegen der Proklamation der päpstlichen Unfehlbarkeit durch das Erste Vatikanische Konzil 1869/70 verließen). 1978 empfahl die Lambeth-Konferenz (das regelmäßige internationale Treffen von Bischöfen der anglikanischen Gemeinschaft) tatsächlich die Streichung des filioque - aber wie ein jeder, der einen bischöflichen Gottesdienst besucht, bestätigen kann, ist die anstößige Floskel trotzdem immer noch da. Noch im Jahre 1981 empfahl eine Kommission aus orthodoxen, katholischen und protestantischen Theologen, einberufen unter dem Patronat des Weltkirchenrats, die Streichung (wobei sie achtungsvolles Verständnis für den westlichen Standpunkt kundtat). Gewöhnliche Christen in all diesen Gemeinschaften leben in heiterer
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Unkenntnis dieser Unterhandlungen. Das ist wohl auch gut so. Allerdings möchte ich meinen, dass diese Kontroverse trotz ihrer zwielichtigen und verworrenen Geschichte einige interessante Fragen aufwirft. Das will ich nun erörtern. Die östliche Position geht offensichtlich von einer breiteren Wirksamkeit des Heiligen Geistes aus, der in unmittelbarer Beziehung zu Gottvater steht und nicht der Vermittlung des Sohnes bedarf. Dies hätte potentiell weit reichende Folgen für das Verständnis nichtchristlicher Religionen. Der Geist könnte an Orten gegenwärtig sein, wo selbst der Name Christi unbekannt ist. Mir erscheint das zumindest eine faszinierende Spekulation. Ich möchte eilig hinzufügen, dass ich der orthodoxen Theologie diese Idee nicht unterstellen möchte. (Ich habe sie an einem orthodoxen Theologen meiner Bekanntschaft ausprobiert. Er wies sie entschieden zurück und sagte, er wisse von niemandem in der Tradition der Orthodoxie, der so etwas je vorgebracht hätte. Ich verlasse mich hier auf ihn. Aber mich hält das nicht von entsprechenden Spekulationen ab.) Die westliche Position ist ebenso offensichtlich mit stärkerer Betonung christozentrisch. Aus diesem Grund hat Karl Barth, den man wohl den wichtigsten protestantischen Theologen des zwanzigsten Jahrhunderts nennen kann, sich das ftlioque zu Eigen gemacht. Wie ich in einem früheren Kapitel ausgeführt habe, hat sich der Westen in viel stärkerem Maße als der Osten auf die menschliche Verworfenheit konzentriert und damit auf die Notwendigkeit eines Erlösers von der Sünde - was den emphatischen Christozentrismus teilweise erklären mag. Umgekehrt hat der Osten eine weniger sündenzentrierte Anthropologie, und so konnte er den Heiligen Geist als eine Wirkmacht der Theosis sehen - des Weges zu jener Vereinigung mit Gott, die als die Bestimmung des Menschen gilt. Doch wiederum: Das westliche filioque konnte auch als Barriere gegen eine frei flottierende „Spiritualität" dienen - eine willkürliche, idiosynkratische und häufig destruktive Abhängigkeit von Gefühlserfahrungen, die den Korrekturen durch die Schrift und die Tradition entzogen bleibt. Mir scheint, dass sowohl die westliche wie die östliche Position nützliche Hinweise enthalten. Und ich fühle mich nicht gezwungen, eine Wahl zwischen den beiden zu treffen - ich würde das nicänische Glaubensbekenntnis ohne weiteres in beiden Formen sprechen. Es scheint mir auch, dass die Kontroverse eine bestimmte innere Spannung im christlichen Verständnis des Erlösungsdramas erhellt. Man könnte sie die Spannung zwischen „hier" und „überall" nennen. Der christliche Glaube hat insistiert, dass Gott sich hier offenbart hat - in der Geschichte Israels und in der Inkarnation, im Tod und in der Auferstehung Jesu Christi sowie in der fortdauernden Verkündigung des Evangeliums. Ebenso hat er darauf abgehoben, dass Gott omnipräsent ist - dass er überall ist, an jedem Ort
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und zu jeder Zeit der erschaffenen Welt, in der wir leben, und in allen anderen möglichen Welten. Die Spannung dieses Sowohl - als auch lässt sich nicht durch noch so subtile theologische Formulierungen auflösen, und gewiss nicht durch Ausschüsse von Berufstheologen. Die Spannung kann im Akt des Glaubens ertragen und (vielleicht paradoxerweise) überwunden werden. Wie erhält man Zugang zum Heiligen Geistf Dies ist eine Frage, die seit den Anfängen des Christentums gestellt worden ist und in der Tat schon zuvor - etwa mit dem wiederholt im Alten Testament aufgeworfenen Problem, wie man echte und falsche Prophetie unterscheiden kann. Eines der wichtigsten Phänomene der religiösen Lebens heute ist das explosive Wachstum der Pfingstkirchen in weiten Teilen der Welt (der britische Soziologe David Martin, der das Phänomen viele Jahre lang studiert hat, schätzt, dass sie im Augenblick mindestens zweihundertfünfzig Millionen Anhänger haben). Diese Pfingstgemeinden stellen ein komplexes und uneinheitliches Phänomen dar, aber sie sind überall durch den Anspruch charakterisiert, dass man, um wahrhaftig Christ zu sein, eine „Geisttaufe" durchlaufen muss - das heißt: ein Erlebnis, das dem in der Apostelgeschichte überlieferten Vorgang vergleichbar ist (woher natürlich der Name der ganzen Bewegung kommt). Aus dieser Erfahrung sollen dann die „Gaben des Geistes" fließen, insbesondere die Fähigkeit, die Kranken zu heilen (wobei die Pfingstkirchen nichts von der bürokratischen Vorsicht besitzen, welche den katholischen Umgang mit Wundern auszeichnet) und die Gabe, „in Zungen zu reden" - die Glossolalie ist der typischste Zug der pfingstkirchlichen Frömmigkeit. Es gibt auch größere charismatische Bewegungen innerhalb der traditionelleren Konfessionen, so dass das Phänomen sich weiter erstreckt als lediglich auf die sich selbst so nennenden Pfingstkirchen. Wie sind diese Ansprüche einzuschätzen? Übrigens gibt es ja ganz abgesehen von der massiven Präsenz des Pfingstkirchentums in der gegenwärtigen Christenheit auch noch das weit verbreitete Phänomen der so genannten Spiritualität, besonders in Nordamerika und Europa. Es gibt zahlreiche Menschen, die einem sagen, sie seien „nicht religiös", aber „spirituell". Es bedarf keiner langwierigen Befragung, um zu erfahren, was das heißen soll: Sie meinen damit, dass sie sich keiner besonderen religiösen Tradition verbunden fühlen (insbesondere nicht der, aus der sie kommen), dass sie aber Erfahrungen gemacht haben oder suchen, welche sie in direkten Kontakt mit auf verschiedene Weise definierten - transzendenten Wirklichkeiten bringen. Häufig (wie bei der so genannten New-Age-Bewegung) ist dieses Unterfangen gekennzeichnet durch Anleihen bei asiatischen Religionen insbesondere bei verschiedenen Kontemplationstechniken, mit denen das
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„spirituelle" Erlebnis erzeugt wird. Doch stehen diese heutigen Spiritualisten auch in einer langen Tradition volkstümlicher christlicher Mystik nicht in der Nachfolge der großen christlichen Mystiker wie Meister Eckhart oder Teresa von Avila, sondern gewöhnlicher Menschen, denen (wie John Wesley es formulierte) die Herzen „seltsam erwärmt" wurden. Wie sind denn diese Ansprüche einzuschätzen? Wenn wir also die Frage stellen, welche diesen Abschnitt einleitet, befassen wir uns nicht lediglich mit einem abstrakten Exerzitium zum Verständnis der Kirchengeschichte - wir haben es mit den Glaubensformen und Praktiken vieler Menschen der zeitgenössischen (der angeblich „modernen") Welt zu tun. (Was die Kirchengeschichte betrifft, so habe ich ein nützliches Buch zu diesem Thema entdeckt: Stanley Burgess, The Holy Spirit: Medieval Roman Catholic and Reformation Traditions.) Jeffrey Russell, ein Kirchenhistoriker, hat über eine fortdauernde Spannung zwischen zwei christlichen Traditionslinien geschrieben, die er als „Geist der Ordnung" und „Geist der Prophetie" bezeichnet. Im ersten Falle finden der Heilige Geist und alle seine Gaben ihre Beschränkung durch die Institutionen der Kirche, welche selbst als Schöpfung des Heiligen Geistes gilt. So ist der Zugang zum Geist nur über die Kirche und ihre Sakramente möglich. Wie wir am Beispiel des Katholizismus gesehen haben, lassen manche Kirchen hie und da gewisse Ausnahmen zu, aber diese werden mit Vorsicht behandelt und dürfen niemals die institutionalisierten Gnadenmittel bedrohen. Die Kirchen, die der Hauptströmung der protestantischen Reformation entstammen (die lutherischen, calvinistischen und anglikanischen), waren die radikalsten in der Ablehnung jedweder Ausnahmen. Wunder irgendwelcher Art werden in diesen strengen protestantischen Territorien sehr selten willkommengeheißen. Im anderen Fall geht man davon aus, dass der Geist stets frei ausbrechen will, innerhalb institutioneller Strukturen oder außerhalb - und oft in direktem Widerspruch zu den Institutionen. Das heißt: Der Heilige Geist ist unmittelbar zugänglich, ohne institutionelle Vermittlung. Soziologisch gesehen lässt sich die Spannung zwischen diesen beiden Auffassungen vom Geist auf den Gegensatz zwischen Priestern und Propheten zurückführen - zwei Typen religiöser Praxis, deren Konflikte sich sehr weit zurückverfolgen lassen. Da die Rede auf die Soziologie gekommen ist, darf ich vielleicht auch erwähnen, dass diese Spannung sehr ausführlich von Max Weber in seiner Theorie der „Veralltäglichung des Charisma" diskutiert worden ist diese Formulierung wird in seinen Schriften sowohl zur Religion wie zur Politik wiederholt verwendet, denn Charisma ist ein wichtiges Phänomen in beiden Bereichen. Er meinte damit folgendes: „Charisma" (ein Begriff, der aus dem Neuen Testament stammt, wo er in der Tat eben jene „Ga-
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ben des Geistes" bezeichnet) ist der Anspruch auf Autorität seitens institutionell nicht beglaubigter Individuen. Es ist ein Anspruch, der auf einem angeblich direkt erteilten göttlichen Auftrag beruht, der dem fraglichen Menschen zuteil geworden ist - wenn etwa Jesus wiederholt sagt: „Es steht geschrieben ..." (worauf die offiziellen Wächter der Tradition verweisen, die „Schriftgelehrten und Pharisäer"), „ich aber sage euch ..." In diesem „Ich aber" liegt der Anspruch charismatischer Autorität, im Gegensatz zur Autorität der Institution. Charismatische Autorität ist stark individualisiert, unmittelbar und außergewöhnlich. Weber hat jedoch auch die These aufgestellt, dass eine jede derartige Autorität fast unvermeidlicherweise nur von kurzer Dauer sein kann. Typischerweise verblasst sie, wenn die erste Generation derer, die dem charismatischen Führer gefolgt sind, von der Szene abtritt. Für diese Verletzbarkeit charismatischer Autorität durch die Zeit gibt es psychologische wie soziologische Gründe. Psychologisch gesehen kann die zweite Generation die Erstaunlichkeit des Erlebens der Elterngeneration nicht mehr nachvollziehen - für die Kinder der ersten Jünger ist das Außergewöhnliche gewöhnlich geworden; typischerweise haben sie damit gelebt, solange sie sich erinnern können. Soziologisch gesehen müssen die Einsichten oder Glaubensformen des charismatischen Erlebens, sollen sie ihre erste Zeit überdauern, eine feste institutionelle Form erhalten - eben deshalb, weil das ursprüngliche Erlebnis nicht mehr zur Verfügung steht. Was dann, Weber zufolge, geschieht, ist die Verwandlung des persönlichen Charisma („Ich aber sage euch") in das Amtscharisma („Die Kirche sagt euch ..."). Priester treten an die Stelle der Propheten. Anders ausgedrückt: Das Charisma wird in Routineformen eingefangen, es wird, mit Webers charakteristischem Ausdruck, „veralltäglicht". Was einst eine erstaunliche Unterbrechung des gewöhnlichen Lebens war, wird nun Routine. Weber hielt nicht viel von der Vorstellung, es gebe soziologische Gesetze, aber seine „Veralltäglichung" kommt einem solchen Gesetz nahe - zum mindesten handelt es sich um einen Prozess, der sich in der Religionsgeschichte immer wieder beobachten lässt (wie auch bei charismatischen Bewegungen auf anderen Gebieten menschlichen Lebens, insbesondere in der Politik). Es ist eine soziologische Parallele zu dem theologischen Prozess, den Adolf von Harnack nachgezeichnet hat - von Bekräftigungen des Glaubens hin zu kirchlicher Lehre und Disziplin. Schlicht formuliert: Nach einer gewissen Zeit gewinnen die Priester immer. Sie können sich allerdings nie sicher sein, dass nicht plötzlich irgendein unbequemer Prophet auftaucht, der ihre Autorität in Frage stellt. Um es noch anders zu formulieren: Der „Geist der Ordnung" ist immer in Gefahr, zu versteinern, während der „Geist der Prophetie" sich immer am Rand des Chaos bewegt. Die kirchliche Institution versteht
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sich - durchaus vernünftig - als Hüterin und Verwalterin des Geistes. Ein frei strömender Geist ist eine potentiell revolutionäre Kraft, die sich nicht nur gegen die Kirche, sondern gegen alle Institutionen der Gesellschaft richten könnte. Doch selbst wenn man von seinem explizit revolutionären Potential absieht, ist der „Geist der Prophetie" immer gekennzeichnet durch ein antiinstitutionelles Ressentiment, er betont die „Innerlichkeit" wider die angeblich oberflächlichen Formen organisierter Religion. Zeitgenössische Beispiele lassen sich leicht in der pfingstkirchlichen Polemik gegen die traditionelleren Kirchen finden oder in der Verachtung, welche die „Spiritualisten" gegenüber der angeblich leeren Religiosität jener Kirchen zum Ausdruck bringen. Es hat im Verlauf der Geschichte des Christentums immer wieder Eruptionen „spiritualistischer" Radikalität gegeben (wie auch, was ich kaum hinzufügen muss, in der Geschichte anderer Religionen). Dieser Radikalismus kann entweder politisch sein und gegen soziale Institutionen rebellieren, oder er kann sich als Rückzug aus der institutionalisierten Religion in irgendeine Form der „Innerlichkeit" zeigen. Die letztere Form von „Spiritualität" ist charakteristisch für alle mystischen Bewegungen. Sie forderte die frühe Kirche in Gestalt der Gnosis heraus, die alle Institutionen dieser Welt ablehnte, da diese Welt nicht von Gott geschaffen sei, sondern sich im Bann dämonischer Mächte befinde - und die darauf bestand, dass „spirituelle" Wirklichkeit allein von Gott kam. Das ganze Mittelalter hindurch gab es radikale Bewegungen, die den direkten Zugang zum Geist für sich beanspruchten. Eine sehr wichtige Figur in der Entwicklungsgeschichte des christlichen „Spiritualismus" war Joachim von Fiore (um 1 1 3 0 - 1 2 0 1 ) , ein Zisterziensermönch aus Süditalien, der Abt eines Klosters und schließlich Gründer eines eigenen Ordens in San Giovanni in Fiore wurde. Der Orden wurde vom Papst gebilligt, und Joachim wurde noch zu seinen Lebzeiten berühmt, auch wenn seine Orthodoxie dann nach seinem Tode in Frage gestellt wurde (er war ein Prophet, der Glück hatte). Er lehrte, die Welt würde drei Zeitalter durchlaufen, in denen jeweils der Vater, der Sohn und der Heilige Geist herrschten. Das dritte Zeitalter begann eben in Joachims eigener Gegenwart (die obskuren Berechnungen, aus denen seine Datierungen hervorgingen, brauchen uns hier nicht zu beschäftigen). Das neue Zeitalter würde gekennzeichnet sein durch die immer stärker hervorbrechende Macht des Heiligen Geistes. Wenn das Zeitalter des Geistes seine Reife erreicht hätte, würden alle Menschen auf Erden (darunter auch, was sehr wichtig ist, die Juden) sich zum Glauben bekehren. Die Kirche würde fortdauern (eine Konzession, für die der Papst dankbar gewesen sein dürfte), aber sie würde sich „spirituell" verwandeln, zusammen mit allen anderen Institutionen. Die ganze Welt wird
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dann vom Geist erfüllt sein, und der Himmel wird sich auf die Erde herabsenken. Diese Erfüllung lässt sich vorwegnehmen und beschleunigen, doch nicht durch eine Revolution (wiederum wird der Papst zufrieden genickt haben, vom Kaiser zu schweigen), sondern durch strenge kontemplative Übungen. Joachims Einfluss reichte tief und hielt lange an. Man könnte sogar sagen, dass selbst für Menschen, die niemals von ihm gehört haben, das joachimitische Schema eine Grundform ihres Denkens geworden ist - von verschiedenen Ketzerbewegungen des Mittelalters bis hin zu der marxistischen Vorstellung von den Stadien der Geschichte, die zur kommunistischen Erfüllung hinführen. Wieder können wir zwei Möglichkeiten des joachimitischen Denkens unterscheiden, die quietistische und die revolutionäre - also einerseits die ruhige Vorbereitung auf das neue Zeitalter des Geistes durch ein Sich-nach-innen-Wenden und andererseits die Herbeiführung der neuen Zeit durch gewaltsames Handeln in der äußeren Welt. Es ist wichtig, sich darüber klar zu sein, dass beide eine Herausforderung für die kirchliche Autorität darstellen und für ihren Anspruch, den Zugang zum Geist zu kontrollieren. Die radikalste Herausforderung von „spiritualistischer" Seite kam im Mittelalter von der Ketzerei der Albigenser, die im zwölften Jahrhundert in Südfrankreich, im Languedoc, blühte und in einem blutigen Kreuzzug niedergeworfen und schließlich von der Inquisition ausgerottet wurde. Es handelte sich um einen späten Ausbruch gnostischen Glaubens. Die Albigenser lehrten, dass alle Materie böse sei, leugneten sowohl Gottes Erschaffung der Welt wie die Inkarnation Christi und bestritten vor allem die Legitimität der Kirche und ihrer Sakramente. In der albigensischen Bewegung - benannt nach ihrem Mittelpunkt, der Stadt Albi - wurde ein scharfer Unterschied gemacht zwischen den gewöhnlichen Anhängern (auf ihrem Höhepunkt ein Großteil der Bevölkerung des Languedoc) und jenen, perfecti genant, welche spirituelle Vollkommenheit erlangt hatten. Das einzige Sakrament, welches die Bewegung anerkannte, war das so genannte consolamentum, das eine „Taufe im heiligen Geist" entweder herbeiführte oder symbolisierte. Seltsamerweise koexistierte diese extremistische Religion mit einer überschwenglich sinnlichen Kultur (das Languedoc war der Geburtsort des von den Troubadours verkündeten Minnekultus). Wer das consolamentum empfing, musste allen Bequemlichkeiten und Freuden der Welt abschwören. Es ist insofern nicht überraschend, dass viele Menschen um dieses Sakrament auf ihrem Sterbelager nachsuchten ... Die Albigenser (und mit ihnen die charakteristische Kultur des Languedoc) wurden in einem Meer von Blut ausgelöscht. Aber das war noch nicht das Ende des quasi-joachimitischen Radikalismus in der christlichen Geschichte.
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Es kam während des ganzen Mittelalters immer wieder zu derartigen Eruptionen. Eine besonders gewalttätige ereignete sich dann im sechzehnten Jahrhundert, zumindest mitverursacht durch die von der protestantischen Reformation herbeigeführten Umwälzungen. (Hier bin ich dem Buch eines Kollegen verpflichtet: Carter Lindberg, The Third Reformation?) Die Radikalen dieser Epoche lassen sich grob unter den Gesamtbegriff der Anabaptisten oder Wiedertäufer stellen (sie forderten die Erwachsenentaufe), und manchmal werden sie auch als der „linke Flügel der Reformation" bezeichnet - wobei „links" sich auf ihr radikales gesellschaftlich-politisches Programm bezieht. Verschiedene Gruppierungen der Anabaptisten waren an gewalttätigen Rebellionen beteiligt, insbesondere - eine im vorigen Kapitel erwähnte Episode - an der Errichtung des „Himmlischen Jerusalem" zu Münster mit Waffengewalt: ein utopisches Experiment, das 1 5 3 5 durch eine gemeinsame Streitmacht von Lutheranern und Katholiken brutal vernichtet wurde. Im sechzehnten Jahrhundert kann man wieder die beiden Richtungen studieren, welche der „Spiritualismus" einschlagen kann. Es gibt die revolutionäre Linie, deren Vertreter nicht damit zufrieden sind, auf das Zeitalter des Heiligen Geistes zu warten, sondern versuchen, es mit Gewaltaktionen selbst herbeizuzwingen. Eine Schlüsselfigur ist hier Thomas Müntzer, ein Zeitgenosse Luthers, der dem Reformator zuerst folgte und sich dann in einer bitteren Kontroverse gegen ihn stellte. 1 5 2 5 nahm er an einem sich weit ausbreitenden Bauernaufstand teil; er wurde gefangen, gefoltert und hingerichtet. Müntzer lehrte, dass alle Christen die „Taufe des Geistes" und die Gaben, die aus dieser Taufe fließen, erfahren können. Die gottgegebene Mission dieser „spiritualisierten" Christen besteht darin, eine wahre Reformation (im Gegensatz zu der falschen Reformation Martin Luthers) herbeizuführen und somit eine neue Schöpfung. Aber die Wiedertäufer hatten auch einen quietistischen Flügel. Dessen Hauptfigur war der niederländische Prediger und Theologe Menno Simons (um 1 4 6 9 - 1 5 6 1 ) . Er widersprach Müntzers revolutionärem Programm. Auch er glaubte an die „Taufe des Geistes", aber sie sollte die Menschen zum Pazifismus und zum Rückzug aus der Welt bringen. Die Mennoniten setzen diese Tradition bis auf den heutigen Tag fort. Sie wird auch durch die Quäker und andere Anhänger eines christlichen Pazifismus fortgeführt. (Die Oszillation zwischen Gewalt und pazifistischem Rückzug wird übrigens im Werk des britischen Soziologen David Martin ausführlich diskutiert.) Wenn der „Geist der Ordnung" zur Versteinerung und der „Geist der Prophetie" ins Chaos führen kann, muss es die Suche nach einem vernünftigen Weg geben, der beide Gefahren vermeidet. Eine solche Suche muss im christlichen Kontext ein Verständnis des Heiligen Geistes bein-
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halten, das die Prophetie berücksichtigt, ohne jegliche Ordnung zu unterminieren. Dies war im sechzehnten Jahrhundert par excellence die Position von Martin Luther. (Zu Luthers Auffassung vom Heiligen Geist vgl. Regin Prenter, Spiritus Creator.) (Ein persönlicher Einwurf: Dem Ethos der ehrlichen Etikettierung entsprechend sollte ich hier noch einmal bemerken, dass ich Lutheraner bin - mehr oder weniger jedenfalls, nicht im Sinne der lutherischen Orthodoxie. Ich glaube, dass die protestantische Reformation bestimmte wesentliche Elemente des Christentums wiederentdeckt hat, und dass es der Lutherischen Theologie in bedeutendem Maße gelungen ist, diese Entdeckungen gültig zu formulieren. Luther selbst gebührt große Anerkennung für diese Leistung. Das bedeutet aber nicht, dass man ihm in jeder Hinsicht folgen müsste, noch weniger, dass man ihn schlichtweg zum Leitbild machen sollte. Ich jedenfalls kann mich nicht mit dem überwältigenden Gefühl von Sündhaftigkeit und Unwürdigkeit identifizieren, das seinem religiösen Erleben zugrunde lag und viel von seinem Denken färbte. Und mich stößt der wilde Zorn ab, mit dem er die Kampagne zur Ausrottung der aufständischen Bauern unterstützte, und noch mehr der gemeine Antisemitismus einiger seiner späten Schriften. Diese Einschränkungen schließen die Zustimmung zu einer Reihe seiner Positionen nicht aus - diejenige eingeschlossen, die hier erörtert wird.) Während des größten Teils seiner öffentlichen Laufbahn fand sich Luther an zwei Fronten in Kämpfe verstrickt - einerseits gegen die Versteinerung des Geistes in der institutionellen Kirche, andererseits gegen den Spiritualismus der Wiedertäufer, die er als „Schwärmer" verdammte. Mit anderen Worten: Luther stellte sich in die Mitte zwischen Rom und Münster. Er lehnte die römische Verherrlichung der Kirche ab und entwickelte eine Kirchenlehre, die ausführlich eine Gegenposition aufbaute. Aber er bestand auch darauf, dass der Geist nur im Wort Gottes für die Erlösung wirkte, so wie es in der Schrift geschrieben stand und wie es durch das Predigtamt und durch die Sakramente der Kirche verkündet wurde (am Ende duldete er nur mehr die beiden Sakramente - Taufe und Abendmahl von denen er glaubte, sie seien durch Jesus eingesetzt). Das Lutherische Motto sola scriptura verkörpert diese doppelte Opposition: Der Geist ist im biblischen Zeugnis zu finden, das weder durch die Autorität der Kirche noch durch irgendwelche persönlichen Erfahrungen überboten werden kann. Nun muss man sich darüber im Klaren sein, dass es schwer ist, Luthers Verständnis der Bibel in einer Zeit umstandslos zu akzeptieren, welcher die Ergebnisse moderner Bibelwissenschaft vorliegen. Und die von Luther zu diesen Fragen formulierten Ansichten versteinerten schließlich in der nachlutherischen Orthodoxie zusehends (was einen derartigen Protestantismus auf paradoxe Weise wieder der katholi-
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sehen Kirche annäherte). Trotzdem bleibt es bemerkenswert, wie gut es Luther gelang, eine vernünftige Position der Mitte zu formulieren. Luthers Auffassung vom Heiligen Geist ist stark christozentrisch das heißt: Sie konzentriert sich ganz auf die Rolle des Geistes im Drama der Erlösung, in dessen Mittelpunkt Christus steht. Luther hatte keine Schwierigkeiten, die westliche Position in der Frage des filioque zu übernehmen. Der Geist vermittelt die Erfahrung Christi und macht Christus gegenwärtig - das heißt: Er verwandelt ein vergangenes Ereignis in eines, das heute stattfindet. Schrift, Predigt und Sakramente werden zu Gnadenwerkzeugen nur durch den Heiligen Geist. Ohne ihn wäre die Bibel ein leerer Text, Predigten wären lediglich menschliche Fabrikationen und die Sakramente tote Rituale. Diese Auffassung von der Rolle des Heiligen Geistes trennt Luther sowohl von dem trockenen Bibelfetischismus, der einen so großen Teil des späteren Protestantismus kennzeichnet, wie von der katholischen Auffassung, die Sakramente seien quasi mechanische Operationen, die von den Umständen vollkommen unabhängig sind. Die „Realpräsenz" Christi, des Wortes Gottes, im Kerygma und in den Sakramenten ist immer das Werk des Heiligen Geistes. Wiederum kann man sich dem Geist aber nur durch die genannten Mittel nähern. Luther unterschied zwischen dem „äußerlichen" und dem „innerlichen" Wort den äußerlichen Handlungen, die sich in der Kirche vollziehen, und dem inneren Leben, welches das Werk des Geistes ist. Dies bedeutet jedoch nicht eine Form des Spiritualismus (wenn auch später der Pietismus und andere quietistische protestantische Strömungen eine derartige Form annahmen): Der Geist hängt immer vom „äußeren" Wort ab. Luthers Widerstand gegen die Schwärmer wird von Regin Prenter folgendermaßen zusammengefasst: „Bei allen Streitigkeiten Luthers mit den Schwärmern geht es uns nur um eines: um die ausschließliche Auffassung des Geistes als des Geistes Gottes. Dem steht die Idee der Schwärmer von Geist und Spiritualität gegenüber, die sich an einem spiritualistischen, metaphysischen Dualismus zwischen Körper und Seele orientiert, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen Materie und Denken. Für Luther ist der Geist nicht „etwas Spirituelles". Der Geist ist der dreieinige Gott selbst in seiner Realpräsenz in unserer Lebenssphäre". (Spiritus Creator, S. 288f.) Luther selbst fasste seine Meinung in einfachen Worten im Kleinen Katechismus zusammen, dem Büchlein, das für die Unterweisung der Jugend bestimmt war. Dort schreibt er in seiner Erläuterung des Dritten Artikels des Glaubensbekenntnisses:
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„Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben; in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird. Das ist gewißlich wahr." Dieses Kapitel war ein rascher - möglicherweise verwirrender - Gang durch die Kirchengeschichte. Es ist wichtig, sich über die zentrale Frage klar zu werden, in welcher sich der Nexus zwischen dem Glauben und der (in jener Geschichte entwickelten) Tradition zeigt. Es handelt sich um die Spannung zwischen der Tradition und der Erfahrung von Gottes Gegenwart jetzt - wie auch um die Spannung, die in der Intuition steckt: Gott ist überall, aber hier, in der Tradition, ist er auf besondere Weise. Gott hat sich damals offenbart, und ich suche ihn jetzt: Der Geist vermittelt zwischen dem Damals und dem Jetzt, und er vermittelt auch zwischen dem Überall und dem Hier. Es ist nicht nötig, dass man mit allem, was Luther zu diesen Fragen gesagt hat, übereinstimmt - aber man kann beeindruckt sein von der ausgewogenen Position, zu welcher er nach langen Kämpfen gelangte. Eine solche Ausgewogenheit ist sehr wichtig. Wenn man das Damals betont, ohne das Jetzt zu berücksichtigen, wird der Glaube zu einer antiquarischen Übung, die nur in tiefer Enttäuschung enden kann - die Tradition erscheint schließlich irrelevant. Wenn man das Damals zugunsten des Jetzt vernachlässigt, dann wird die Religion (oder die „Spiritualität") zu einer Nacht, in der alle Katzen grau sind. Anything goes. Ähnlich ist es, wenn man Gottes Allgegenwärtigkeit betont, ohne seine Selbstenthüllung als „der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" zu berücksichtigen - man kommt dann zu einer religiösen Position, wo alle Wahrheitsfragen sich auflösen (wie ich in meiner Kritik am Pluralismus von John Hick zu zeigen versucht habe). Wenn man sich aber andererseits ganz auf das Hier konzentriert, so dass das Überall ausgeschlossen bleibt, dann errichtet man unzulässige Schranken für die Möglichkeiten Gottes, sich den Menschen zu offenbaren. Das Beispiel Luthers zeigt, dass es nicht einfach ist, zu einer solchen Ausgewogenheit zu kommen. Aber es zeigt, dass es nicht unmöglich ist wenn man auch nicht allen Aspekten von Luthers Denken folgen mag. Man kann eine derartig ausgewogene Position einnehmen, der Tradition treu und doch frei in der Aneignung dieser Tradition. Mir scheint, dass dies große Bedeutung für unsere Gegenwart hat - in der man sich den
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absolutistischen Ansprüchen „versteinerter" Kirchen konfrontiert sieht (insbesondere den Ansprüchen Roms, der „Fels Petri" zu sein), mit der rigiden Schriftinterpretation im protestantischen Fundamentalismus (der sich weit von Luthers Prinzip des sola scriptura entfernt hat) und natürlich mit jener freischwebenden „Spiritualität", die heute so en vogue ist. Ich glaube nach wie vor, dass die lutherische Theologie einige Begriffe zur Verfügung stellt, die nützlich sind für die Erarbeitung einer solchen ausgewogenen Position. Ich glaube, dass auch andere Begriffe möglich sind. Mit anderen Worten: Es ist nicht nötig, Lutheraner zu sein, wenn man die notwendige Balance sucht.
Kapitel Zehn ... die heilige allgemeine Kirche, Gemeinschaft der Heiligen ..." Die Kirche ist im Gegensatz zum Großteil dessen, was im Glaubensbekenntnis als Gegenstand des Glaubens definiert ist, kein empirisches Phänomen, sondern ein soziologisch erfassbarer Bestandteil unserer gegenwärtigen Welt. Z u d e m gibt es in allen Gesellschaften, in denen Religionsfreiheit herrscht, insbesondere in Amerika, eine unglaubliche Vielzahl an Institutionen, die für sich die Bezeichnung „ K i r c h e " beanspruchen beziehungsweise von nicht-theologischen Beobachtern als solche begriffen werden. Aus mir unerfindlichen Gründen ist ausgerechnet Washington zu einem Schauplatz geworden, an dem dieser religiöse Pluralismus auf eine nahezu mystische Weise erfahrbar ist. M a n braucht dazu nur in einem Auto die Sixteenth Street Richtung Norden zu fahren, vom Weißen Haus zum Walter Reed Hospital. Nach nur wenigen Minuten Fahrtzeit wird man in nahezu jedem Häuserblock auf ein religiöses Gebäude stoßen. Da es uns im Vorliegenden um das Konzept „ K i r c h e " geht, lasse ich zunächst die nicht-christlichen Bewohner der Straße außer Acht (es gibt zahlreiche Synagogen, buddhistische und hinduistische Tempel und ein Gemeindezentrum der Bahai). Jede größere protestantische Gemeinde (auch die afroamerikanische) hat dort eine Kirche, außerdem gibt es eine große römisch-katholische Kirche und zwei orthodoxe Kirchen (griechisch und serbisch). Welche von ihnen ist die „ K i r c h e " , von der im Glaubensbekenntnis die Rede ist? Sind es möglicherweise alle? Oder keine? Die Diskrepanz zwischen dem theologischen Zeugnis und der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist hier deutlich zu spüren. Was bedeutet es, wenn man sagt, die Kirche ist Gegenstand des Glaubens? Zweifellos ist damit nicht der Glaube an die empirische Tatsache seiner institutionellen Umsetzung gemeint, die sich „ K i r c h e " nennt. Es bedarf keines Glaubens, um sich dessen zu versichern - eine halbstündige Autofahrt in Washington genügt. Der Glaube kommt ins Spiel, wenn man sich anschaut, welche Attribute der Kirche im Glaubensbekenntnis zuge-
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schrieben werden. Die Kirche wird als „heilig" bezeichnet (und mit „Heiligen" in Zusammenhang gebracht) und „allgemein" im Sinne von allumfassend (eigentlich: „katholisch", wie in der lateinischen und englischen Fassung des Apostolikums, nicht als Bezugnahme auf die römischkatholische Kirche, sondern als griechisches Synonym für „universal"). Die Begriffe „Heiligkeit" und „Universalität" sind im Folgenden noch näher zu betrachten. An dieser Stelle sei zunächst hervorgehoben, dass keine dieser Eigenschaften empirisch nachweisbar ist. Im Gegenteil, die empirische Realität ist ein ausdrücklich un-heiliges Gebilde, in welchem immer wieder verschiedene, teils bösartige Stammesfehden ausgetragen werden. Bei näherer Betrachtung (mitunter aber schon nach einem flüchtigen Blick) stellt sich heraus, dass die Kirchen all jene durchaus menschlichen Eigenschaften besitzen, die auch den säkularen Institutionen anhaften. Unter den geistigen Oberhäuptern gibt es Fanatiker, Gierhälse, Machtbesessene und Ausbeuter. Unter den Glaubensanhängern gibt es die Engstirnigen, die Kleinlichen und die Voreingenommenen. Und oft genug (in Amerika jedoch glücklicherweise nicht allzu oft) hat die Kirche die blutigsten Verbrechen unterstützt beziehungsweise ihren Segen dazu gegeben. Zweifellos trifft man gelegentlich auf einen Menschen, den man als Heiligen bezeichnen könnte, doch diese Menschen sind sehr selten. Handelt es sich um eine heilige Institution? Unwahrscheinlich. Und wie steht es mit der Universalität? Auch hier verspricht die bereits erwähnte Spritztour ins Herzstück des amerikanischen Pluralismus Aufschluss zu geben - am Ende stellt sich der Begriff als äußerst unplausibel heraus. Denn Tatsache ist nicht nur, dass es eine Vielzahl von Kirchen gibt. Tatsache ist auch, dass viele dieser Kirchen sich gegenseitig nicht als Kirche anerkennen, bestenfalls noch als mangelhafter Ersatz für die eine wahre Kirche (welche auch immer das sein mag). Die Erfahrungswelt liefert meist verheerend wenig Anregung - darin etwas Heiliges oder Universales zu entdecken, setzt in der Tat einen Akt des Glaubens voraus! Hatte Jesus die Absicht, eine institutionelle „Kirche" zu gründen? In der christlichen Tradition wurde dieser Anspruch im Allgemeinen erhoben, was jedoch schnell zu Missverständnissen führt. Um den Anspruch zu stützen, werden in der Regel zwei Passagen aus dem Neuen Testament herangezogen. Zum einen handelt es sich dabei um den so genannten „Missionsbefehl" (Matthäus 28,19) - diese Stelle wurde im vorhergehenden Kapitel bereits beleuchtet. Jesus soll demnach seinen Anhängern aufgetragen haben, „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes". Die meisten Bibelwissenschaftler halten es allerdings für eher unwahrscheinlich, dass Jesus so etwas gesagt hat. Zum Zweiten wird auf den so genannten „Auftrag des Petrus" verwiesen, den Jesus
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angeblich erteilt hat, nachdem Simon (anschließend Petrus genannt) in Jesus „Christus, den Sohn des lebendigen Vaters" (Matthäus 1 6 , 1 8 ) erkannt hatte: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen." Für das römisch-katholische Selbstverständnis als einzig wahre Kirche spielte diese Passage natürlich eine wichtige strategische Rolle, auf den zwei angeblichen Tatsachen beruhend, dass Petrus der erste Bischof von Rom war und alle danach kommenden Päpste Nachfolger Petri sind. Die Passage enthält zudem ein Wortspiel: der Name Petros ist im Griechischen mit dem Wort Felsen, petra, verknüpft. Das Wortspiel funktionierte auch im Aramäischen, der Sprache, die Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach gesprochen hat: der Name Kephas schafft auch hier eine Verbindung zu dem Wort Felsen, kepba. Einige protestantische Exegeten haben in der Folge die Meinung vertreten, „Felsen" beziehe sich nicht auf Petrus als Person, sondern auf seinen Glauben - ein wenig überzeugendes Argument, gerade wegen des Wortspiels. Viel entscheidender ist aber, dass die Behauptung, Petrus sei der erste Bischof von Rom gewesen (was auch immer dieser Titel in der ersten Periode des Christentums bedeutet haben mag), historisch mehr als fragwürdig ist. Der Gedanke, es handele sich hier um einen in der gesamten Geschichte einzigartigen Fall, nämlich den, dass eine Institution aus einem Wortspiel hervorgegangen ist, birgt zugegebenermaßen eine gewisse Faszination. Aber wie dem auch sei, die Wahrscheinlichkeit, dass Jesus diese Äußerung tatsächlich getan hat, ist meiner Ansicht nach ebenso hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass er die Gettysburg Address gehalten hat (die tatsächlich Abraham Lincoln hielt). Die Gefahr, einer historischen Verfälschung zum Opfer zu fallen, ist dagegen wesentlich geringer für eine andere Tradition, von der im vorhergehenden Kapitel bereits die Rede war. Und zwar handelt es sich dabei um die Überlieferung, der zu Folge die Kirche am Pfingstereignis durch den Heiligen Geist gegründet wurde. Dass dieses Ereignis stattgefunden hat, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, auch wenn keine sicheren Angaben darüber gemacht werden können, was genau geschehen ist. Es gibt zudem durchaus Grund zu der Annahme, die Anhänger Jesu hätten sich nach diesem Ereignis als eine vom Geist erfüllte Gemeinschaft betrachtetet, wenngleich der Begriff „Kirche" damals noch nicht verwendet wurde. Fest steht, dass sehr früh die andauernde Gegenwart Christi in der Glaubensgemeinschaft erfahren wurde, und zwar in einem Maße, dass diese Gemeinschaft sich fortan als „der Leib Christi" verstand, in einer Welt, aus welcher der menschliche Leib Jesu geschieden war. In ihren Anfängen verfügte die Kirche über keine organisatorische Form, davon ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auszugehen. Ihre Anhän-
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ger waren ungebunden, die Zusammenkünfte spontan, wobei die Jünger aus dem engeren Kreis, die Apostel, eine an ihre Person gebundene „charismatische" Autorität ausübten (der neutestamentliche Begriff hierfür lautet exousia - die Autorität, in Christi Namen zu sprechen). Im Laufe der Zeit entwickelte die Gemeinschaft zunehmend feste institutionelle Formen - eine Hierarchie, Befehlsketten und gesetzliche Kriterien, nach denen zum einen über Autoritäten und Mitgliedschaften entschieden, zum anderen die Durchführung von Zeremonien und die Einhaltung bestimmter Dogmen gesichert wurde. Eine absehbare Entwicklung, wie Max Weber in seiner hier bereits diskutierten Theorie der „Veralltäglichung des Charisma" darlegte. Um die religiöse Botschaft von der ersten Gemeinde an nachfolgende Generationen weiterzugeben, bedurfte es institutioneller Formen, die gemäßigter als die charismatischen Autoritäten früherer Tage in Erscheinung traten. Das „persönliche Charisma" wird abgelöst von einem „Amtscharisma": Die heilige Macht (exousia) ist nun nicht länger an die persönlichen Qualitäten eines Einzelnen gebunden, sondern an eine bestimmte Funktion, ein Amt, das irgendeine Person einnimmt. Unter den Historikern herrscht Uneinigkeit über den genauen Ablauf dieser Entwicklung und darüber, wie schnell sie sich vollzogen hat. Spätestens Anfang des 4. Jahrhunderts aber manifestierten sich die Auswirkungen des Wandels im so genannten Donatisten-Streit. Während einer der letzten großen Verfolgungen der Kirche durch die römische Regierung hatten einige Geistliche in Nordafrika, um ihr Leben zu retten, ihrem christlichen Glauben abgeschworen. Als die Verfolgungen endeten, bereuten einige von ihnen, was sie getan hatten, und wollten ihr Priesteramt wieder aufnehmen. Daraufhin stellte sich die Frage, ob sie im Zuge ihrer Abtrünnigkeit den Status als Priester verloren hatten und somit erneut zum Priester geweiht werden müssten. Dieser Meinung jedenfalls waren die Donatisten (eine strenggläubige Gruppierung innerhalb der nordafrikanischen Kirche, benannt nach dem Bischof Donatus). Insgesamt herrschte in der Kirche aber eine gegenteilige Sichtweise. Der Streit hatte indes Auswirkungen, die weit über die Frage nach dem unmittelbaren Prozedere hinausgingen. Zum Beispiel erwuchs daraus die Vorstellung vom „unauslöschlichen Charakter" der Priesterschaft - mit anderen Worten: Ein Priester bleibt ein Priester, ungeachtet seiner persönlichen Laster und Schwächen. Mithin behalten die vom Priester erteilten Sakramente (insbesondere die Taufe und die Eucharistie) ihre „Gültigkeit" auch dann, wenn sie von dem fehlerhaftesten Priester ausgeführt werden. Diese Vorstellung ist sowohl im westlichen als auch im östlichen Christentum als gesetzlich definierter Status der Priester und Bischöfe festgeschrieben. Ihr Inbegriff ist das in der römisch-katholischen Doktrin ver-
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ankerte Papsttums. Als das Erste Vatikanische Konzil die Unfehlbarkeit des Papstes proklamierte, bezog sich dies daher eindeutig nicht auf den jeweiligen Papst als Person oder auf seine persönliche Meinung, sondern einzig und allein auf Aussagen über den Glauben und die Moral, die vom Papst kraft seiner Amtsvollmacht gemacht wurden (ex cathedra, „vom Lehrstuhl aus"). Interessant wird es, wenn man diese Regelung auf konkrete Fälle anwendet: Was wäre, wenn der Borgia-Papst Alexander VI. ( 1 4 9 2 - 1503), ex cathedra zu Fragen des Glaubens und der Moral Stellung genommen hätte? Würden seine Äußerungen ebenfalls einen Anspruch auf Unfehlbarkeit besitzen? Man bedenke nur, dass dieser vornehme Herr das Amt des Papstes durch Bestechung erlangte, dass er die politischen Karrieren seiner unehelichen Kinder Cesare und Lucrezia mit unlauteren Mitteln beschleunigte, dass er für seine zügellose Wollust bekannt war und für seine zahlreichen Konkubinen, seinen persönlichen Harem, im Vatikan einen gesonderten Flügel eingerichtet hatte und einmal sogar den Versuch unternommen hat, das gesamte Kardinalskolleg zu vergiften. Die römisch-katholische Kirche muss gemäß ihrer eigenen Doktrin daran festhalten, dass diese unrühmlichen persönlichen Eigenschaften weder seine „Geltung" als Papst noch in irgendeiner Form sein Handeln als Papst beeinträchtigen, vielmehr muss sie den Glauben dagegen halten, wonach der Heilige Geist Alexander davor bewahren werde, sein Amt in Form von Verlautbarungen ex cathedra zu missbrauchen. Glücklicherweise waren der Glaube und die Moral nicht von Belang für Alexander Borgia, damit bleibt die Frage offen. Die Religionssoziologie hat uns die Entstehung der institutionellen Kirchen begreifbar gemacht. Tatsächlich ist viel damit gewonnen, wenn man erkennt, dass religiöse Institutionen vor allem zwei (häufig konfligierende) Funktionen erfüllen müssen. Zum einen sind sie die Bewahrer der religiösen Kernbotschaft, aus der sie hervorgegangen sind, und die es an die nächste Generation weiterzureichen gilt. Zum anderen machen sie sich - in ihrer Rolle als Überlieferer - dieser Botschaft habhaft, indem sie der Religion einen festen Platz im gewöhnlichen Alltagsleben einräumen, ohne dieses damit aus den Fugen geraten zu lassen. Betrachten wir nur einmal die Aussprüche Jesu, die zusammen die Bergpredigt konstituieren: Es sind im Wesentlichen eine Reihe von moralischen Imperativen, die über mehrere Jahrhunderte entscheidenden Einfluss auf die Anhänger des Christentums genommen haben. Allerdings würde jede menschliche Gesellschaft, die sich gemäß der in dieser Bergpredigt vermittelten unrealistischen Anforderungen organisiert, sofort im Chaos versinken. Die Kirche hatte keine andere Wahl, als diese Moralvorstellung auch nachfolgenden Generationen zu predigen, gleichzeitig bestand aber ihre Aufgabe auch darin, sich diese Botschaft für ihre eigenen Belange anzu-
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eignen, um zu verhindern, dass dadurch das normale Tagesgeschäft gesprengt würde. (Dass diese Aneignung sehr unterschiedlich interpretiert und formuliert worden ist - man denke nur an die Doppelmoral bezüglich gewöhnlicher Christen und den ganz Frommen - soll uns an dieser Stelle nicht weiter beschäftigen.) Wie dem auch sei, die institutionelle Entwicklung scheint ganz offensichtlich einen anderen Weg eingeschlagen zu haben, als den, den Jesus ursprünglich beabsichtigte oder zu gehen befahl. Um nicht missverstanden zu werden: Ich konstatiere keinen Widerspruch zwischen dem Christentum und der Kirche, wie es einige radikale Denker und Agitatoren im Laufe der Geschichte getan haben. Der Glaube an Christus ist in meinen Augen auf jeden Fall vereinbar mit einem Glauben an die Kirche als Vehikel (oder vorsichtiger ausgedrückt: als ein Vehikel), welches das Fortleben Christi in der Welt befördert. Mit anderen Worten: Man kann die Kirche als ein Mittel betrachten - ein Mittel, das in der Tat notwendig ist, um die Anwesenheit Gottes in der Welt zu erhalten. Wobei hier keineswegs verschwiegen werden soll, dass in der Praxis nicht selten eine Verwechslung von Mittel und Zweck stattgefunden hat - in diesem Fall scheint das Mittel (die Kirche) plötzlich Hauptgegenstand des Glaubens zu sein. Wenn der Glaube an die Kirche den Glauben an Jesus Christus ersetzt oder scheinbar ersetzen kann, haben wir es mit einer Deformation, vielleicht gar dem Verlust des christlichen Glaubens zu tun. In der Geschichte des Christentums hat es immer wieder prophetische Stimmen gegeben, die vor einer solchen Verwirrung gewarnt haben. Einen besonders radikalen Einspruch erhob im 19. Jahrhundert S0ren Kierkegaard mit seinem heftigen Angriff gegen das „Christentum", womit er die lutherische Kirche Dänemarks meinte. In seiner Vehemenz war dieser Angriff ganz sicher übertrieben, es gibt indes einzelne Elemente, die ich gesondert betrachten möchte, weil sie in meinen Augen durchaus ihre Berechtigung haben. Kierkegaard hatte eine heroische Vorstellung vom christlichen Glauben, eine extreme Version der „Nachahmung Christi". Er bestand darauf, der Gläubige müsse sich selbst zum „Zeitgenossen" Jesu machen - eine meiner Meinung nach nicht zu verwirklichende Forderung. Ich teile jedoch seine Ansicht, dass dem christlichen Glaube nicht Genüge getan ist, wenn er sich in einer bequemen Kirchenmitgliedschaft erschöpft, an die keinerlei Ansprüche geknüpft sind, eine Mitgliedschaft in einer gesellschaftlich (und im Falle Dänemarks auch staatlich) etablierten religiösen Institution, frei von allen persönlichen Pflichten. Ich möchte an dieser Stelle von einem persönlichen Erlebnis berichten. Kurz nach meiner Ankunft in Amerika besuchte ich ein College im Mittleren Westen. Ich hatte damals eine finnische Freundin, die ebenfalls
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vor nicht allzu langer Zeit in Amerika angekommen war. Da ich schon damals ein ausgeprägtes Interesse für Religion besaß, nahm ich sie zu zahllosen religiösen Veranstaltungen mit, was in der Regel für uns beide eine ungewohnte Erfahrung bedeutete. Unter anderem landeten wir so auf einer traditionellen protestantischen Erweckungsveranstaltung. Als der Prediger die Anwesenden einlud, zum Altar zu kommen und sich zu Jesus als ihrem Herrn und Erlöser zu bekennen, liefen plötzlich Kirchendiener durch den Raum und ermunterten Einzelne, diesem Aufruf Folge zu leisten. Als einer dieser Kirchendiener zu der Bank kam, in der wir Platz genommen hatten, verspannte meine Begleiterin sichtlich. Als er dann zu uns kam, wandte er sich an sie und fragte: „Schwester, bist du erlöst?" Sie antwortete auf Englisch mit starken Akzent: „Ich bin Mitglied der lutherischen Kirche Finnlands." Der Kirchendiener war sichtlich vor den Kopf gestoßen, fasste die Antwort aber offensichtlich als ein „ j a " auf, denn er ging weiter zur nächsten Bank. (Mich hat er gar nicht gefragt; ich nehme an, in seinen Augen galt die Antwort meiner Freundin für uns beide.) Einerseits dachte ich in diesem Augenblick, es war die richtige Antwort, denn sie enthielt eine Ablehnung der erwecklichen Auffassung über die „Erlösung". Andererseits empfand ich es als falsch, die „Erlösung" mit einer gesetzlich definierten Kirchenmitgliedschaft in Verbindung zu bringen. Insofern geht der Kerngedanke dieses vorliegenden Kapitels womöglich auf ein Erlebnis in meiner Jugend zurück. Die Frage, auf welche Weise sich die wahre Gemeinschaft der Gläubigen konstituiert, oder anders gesagt: wie die wahre Kirche auszumachen ist, ist so alt wie das Christentum selbst. Dem Neuen Testament zufolge lautet die älteste Antwort auf diese Frage: Die wahre Gemeinschaft der Gläubigen, die wahre Kirche, ist dort, wo die „Gaben des Heiligen Geistes" erkennbar sind. Ein nur schwer zu fassendes Kriterium. Denn wie auch immer man diese Gaben definiert, sie lassen sich in mehr als nur einer Glaubensgemeinschaft finden - sei es nun die Gabe der Prophezeiung oder die Gabe des Heilens, die Gabe „mit tausend Zungen sprechen" zu können oder die eher weltlichen Gaben des eloquenten Predigens, des weisen Ratgebens oder der hingebungsvollen Pflege von Bedürftigen. Mit anderen Worten: Es können durchaus widersprüchliche Gemeinden, die einander nicht als legitime Angehörige der gleichen wahren Kirche anerkennen, den Nachweis erbringen, die „Gaben des Heiligen Geistes" empfangen zu haben. Und so geschah das nahezu Unvermeidliche: Die Authentizität einer Gemeinde wurde fortan gemäß der institutionell festgelegten Kriterien bestimmt. Entscheidend war mithin die Einhaltung der rechten Lehre, ein korrekt abgehaltener Gottesdienst und die Anerkennung der angeblichen apostolische Sukzession der geistlichen Hierarchie von der Gründergeneration der Apostel. Die „Kennzei-
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chen der Kirche" (notae ecclesiae) konnten auf diese Weise in präzisen juristischen Begriffen erfasst werden. Da diese Regelungen sowohl im westlichen als auch im östlichen Christentum Anwendung fanden, konnte damit auch, wenn man es für notwendig befand, von beiden Seiten eine Exkommunizierung vollzogen werden. Fest steht, dass die Westkirche möglicherweise als Erbin des juristischen Genius der alten Römer - in dieser Hinsicht eine gründlichere Arbeit geleistet hat. Mit der protestantischen Reformation regte sich zunehmend, zumindest anfangs, Widerstand gegen diese streng durchdachte Rechtsstruktur. Seinen historischen Niederschlag fand diese Rebellion in Artikel 7 der Confessio Augustana, dem Gründungsdokument der lutherischen Kirche: „Denn dieses ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden." Und weiter: [es] ist nicht Notwendig] zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß allenthalben gleichförmige Zeremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden" Der Ausdruck „wahre Einigkeit" bezieht sich in diesem Fall auf eine Einheit unter den Anhängern der wahren Kirche. Und der Ausdruck „von den Menschen eingesetzt" verweist nicht nur unmittelbar auf die formale Gestaltung des Gottesdienstes, sondern auf alles, was in der Geschichte jemals „von den Menschen eingesetzt" worden ist - einschließlich der verschiedenen institutionellen Strukturen innerhalb der Kirche und (mit der wachsenden Distanz der lutherischen Bewegung von Rom) schließlich auch des Papsttums. Der scheinbar so leicht dahin geworfene Satz in der Anfangspassage „dieses ist genug" (satis est) hat also in Wirklichkeit großes Gewicht. Die Gebundenheit an institutionelle Formen ist jedoch nicht so leicht zu lösen, wie die Geschichte des Protestantismus in ihrem weiteren Verlauf zeigt. Bereits die Confessio Augustana enthielt in Form des oben erwähnten Artikels zwei Schlupflöcher, durch welche sich der alte Institutionalismus wieder einschleichen konnte. Wer hätte schließlich sagen können, ob das Evangelium nur „rein gepredigt" werden darf? Oder ob die Sakramente „dem göttlichen Wort gemäß" erteilt wurden? Die lutherische Orthodoxie entwickelte also ihre eigene, mehr oder weniger gesetzliche Formulierung von „Kennzeichen der Kirche", ebenso wie die calvinistische und die anglikanische Kirche nach der Reformation. Die Lutheraner und die Calvinisten entwickelten auf diese Weise so etwas wie eine Doktrin, während die Anglikaner einen lockeren Umgang mit der Doktrin pflegten und stattdessen die angeblich „apostolische Nachfolge" ihrer Bischöfe ins Zentrum rückten - eine in der Tat historisch höchst fragwürdige Behauptung. (Ganz abgesehen von den Ereignissen, die stattfanden seit dem Zeitalter der Apostel und der Entscheidung Heinrichs V.,
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die Unabhängigkeit der Kirche Englands zu erklären, weil Rom ihm die Scheidung von seiner Frau und die Heirat mit seiner Geliebten nicht zugestand; Queen Mary, die Nachfolgerin Heinrich V., gab den Befehl, alle Bischöfe umzubringen, die dieser Unabhängigkeitserklärung zugestimmt hatten; ihre Nachfolgerin auf dem Thron, Queen Elizabeth, verfuhr ebenso mit denjenigen, die nicht zugestimmt hatten. Es ist fraglich, wie viele echte Nachkommen tatsächlich übrig geblieben sind, um diese vorgebliche „Nachfolge" zu sichern. Dass die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika in den späten 1990er Jahren mit der espiskopalen Kirche eine Vereinbarung traf, wonach fortan alle ihre Bischöfe nur durch anglikanische Bischöfe geweiht werden dürfen, die sich ordnungsgemäß als „Nachfolger" ausgewiesen haben, entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie. Die lutherischen Kirchenoberhäupter, die diese Vereinbarung durchgefochten hatten, äußerten - wahrscheinlich mit einem Augenzwinkern - , man müsse nicht notwendigerweise die anglikanische Einstellung zu diesen Zeremonien teilen, um sich diesen zu beugen. Nicht gerade eine Sichtweise in der Tradition der Confessio Augustana!) Doch ich schweife ab (und die Klammernsetzung vermag dies nur ungenügend zu verschleiern). Kehren wir also zurück zum „satis est"'. Da die Sprach- und Denkgewohnheiten des 16. Jahrhunderts doch sehr von unseren heutigen abweichen, will ich versuchen, die Kernaussagen in leichter verständlichen Worten zusammenzufassen (wobei ich nicht davon ausgehen kann, dass die Autoren der Confessio Augustana damit einverstanden gewesen wären - im Gegensatz zu den Oberhäuptern der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika habe ich mich von diesem Dokument nicht entbunden.) Ich behaupte einmal, die Kirche ist im Wesentlichen zweierlei. Zum einen ist die Kirche ein großer Kasten, der an einer Straßenecke aufgebaut ist. Ab und zu, meistens sonntags, nimmt irgendjemand diesen Kasten in Beschlag und sagt mit lauter Stimme „Christus ist auferstanden!" Zum Zweiten ist die Kirche eine um diesen Kasten herum gruppierte Versammlung von Menschen, die, ebenfalls meistens sonntags, gemeinsam singen, beten und ritualisierte Handlungen vollziehen - der (wenn auch vorsichtige) Versuch, sich in den Chor der Engel einzureihen, die quer durch alle Galaxien und darüber hinaus das ewige Loblied Gottes anstimmen. Satis est. Anders formuliert: Die Kirche konstituiert sich durch das Beten und den Gottesdienst im Namen Christi, durch kerygma und leiturgia. Während jedoch durchaus erkennbar ist, welche Handlungen „dem göttlichen Wort gemäß" stattfinden - das heißt, welche Handlungen dem Zeugnis Christi entsprechen, der im Neuen Testament zu uns hinabgestiegen ist - , reichen die von den Institutionen vorgegebenen Gesetzeskriterien nicht aus, um dies in den entsprechenden Begriffen präzise
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zu fassen. Noch anders formuliert: Sämtlichen Festschreibungen zur Orthodoxie (rechte Lehre) und zur Orthopraxis (rechtes Tun) ist mit einer gehörigen Portion Skepsis zu begegnen. Ich konzediere, dies ist eine sehr protestantische Sichtweise, eine sehr liberale protestantische Sichtweise. Dafür entschuldige ich mich nicht. Ich vermute jedoch, wenn auch nicht ohne ein gewisses Zögern, dass auch Christen, die anderen Traditionen angehören, mir auf gewisse Weise zustimmen können - möglicherweise sind darunter sogar Katholiken, wobei diese sogleich in Konflikt mit den römischen Autoritäten geraten würden. Wenn wir die Kirche als einen Gegenstand des Glaubens betrachten, dann müssen wir einen Bezug herstellen zu zwei im Glaubensbekenntnis genannten Attributen: heilig und katholisch. Bevor wir hierzu nähere Betrachtungen anstellen, möchte ich in einem kurzen Kommentar auf den Ausdruck „Gemeinschaft der Heiligen" eingehen. Offenbar standen diese Worte nicht im Originaltext des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, sondern wurden erst im 5. Jahrhundert von der Westkirche eingefügt. Der Ausdruck war auch im Osten gebräuchlich, allerdings nicht im Zusammenhang mit dem Glaubensbekenntnis. Mit welchem Motiv die zusätzliche Passage in den Text damals eingefügt wurde, ist unklar. Wahrscheinlich wollte man die Heiligkeit der Kirche stärker in den Vordergrund rücken und die Tatsache, dass alle Angehörigen der Kirche Anteil an dieser Heiligkeit haben. In diesem Fall ist „die Gemeinschaft der Heiligen" ein Nebensatz. Paulus benutzte das Wort „heilig" zur Beschreibung aller Gläubigen - und diese Bedeutung des Begriffs sollte sich in der Folgezeit durchsetzen. Nichtsdestotrotz entwickelte sich aber sowohl in der westlichen als auch in der östlichen Tradition ein sehr viel restriktiveres Verständnis von Heiligkeit. Die dahinter liegende Absicht mag gewesen sein, die Einheit zwischen den Heiligen im Himmel und der Kirche auf Erden nachdrücklich zu etablieren, allgemeiner formuliert: die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten in Christus. Der römischkatholischen Lehre zufolge gehört die Heiligkeit zu den „Kennzeichen der Kirche" und, wie im vorhergehenden Kapitel bereits bemerkt wurde, unterliegt die Verleihung solcher Ehren an ein Individuum einem formalen juristischen Verfahren. Für unsere Zwecke genügt es, den Ausdruck als eine Bekräftigung der Aussage zu betrachten, dass die Kirche heilig ist. Was bedeutet es, wenn mart sagt, die Kirche ist heilig? Die Bedeutung von „heilig" bedarf eigentlich keiner Erklärung. Gemeint ist moralische Perfektion. Ist die Kirche also eine Gemeinschaft moralisch
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perfekter Individuen? Ein flüchtiger Blick auf die Kirchengeschichte und die Kirche heute liefert bereits eine Reihe eindrücklicher Gegenbeweise. Im Laufe der Geschichte ist jedoch immer wieder die Forderung erhoben worden, die Kirche solle eine Versammlung moralischer Vorbilder sein allen voran die bereits erwähnten Donatisten. Entsprechende Vorstellungen sind aber auch noch in der jüngeren Vergangenheit anzutreffen. Im späten 19. Jahrhundert spaltete sich beispielsweise eine amerikanische „Disciples of Christ"-Gemeinde von ihrer methodistischen Mutterkirche mit dem Vorsatz ab, das Ziel eines christlichen Lebens müsse moralische Perfektion, die Heiligsprechung, sein (der Begriff „Disciples", Jünger, verweist auf dieses ehrgeizige Ziel). Die Methodisten hingegen hielten wie die meisten Kirchen seit der Ablehnung des Donatismus - an der Vorstellung fest, die Kirche sei im Wesentlichen eine Versammlung von Sündigern, unter denen es nur einige wenige Heilige gibt. Dies sahen natürlich auch die radikalen Perfektionisten nicht anders und bezichtigten deshalb die existierende Kirche der Heuchelei, des Verrats an der wahren Jüngerschaft. Nicht zum ersten Mal bietet sich an dieser Stelle der Hinweis auf Kierkegaard an. Die radikalen Moralisten hatten zwei Möglichkeiten: Sie konnten sich entweder vollständig von der in ihren Augen heuchlerischen Kirche abspalten oder - die weniger ehrgeizige Variante - eine Art Elitegruppierung aus moralisch Überlegenen bilden, die ein Teil der größeren Gruppierung der moralisch Unreinen blieb (die protestantischen Pietisten nannten diese Option die ecclesiola in ecclesia, „die kleine Kirche in der Kirche"). Die Erfahrung entlarvt das Vorhaben als blanke Illusion: Innerhalb dieser separatistischen Gruppierungen stößt man fast unweigerlich auf die gleichen moralischen Schwächen wie in der größeren Kirche, von der sie sich losgesagt haben. Mit anderen Worten: Die ecclesiola trägt mehr oder weniger die gleichen Züge wie die ecclesia. Mit dieser Diskrepanz zwischen einer geglaubten Heiligkeit und der sichtbaren Unheiligkeit sind die einzelnen christlichen Traditionen unterschiedlich umgegangen. Die Katholiken entschieden sich für die Option zu sagen, die Kirche bringe gelegentlich Heilige hervor, während das Gros der Mitglieder moralisch unperfekt bleibt. Die Heiligen sind nach wie vor die moralische Vorhut der Kirche. Die Protestanten vertraten mehrheitlich eine andere Position: Die Kirche gilt demnach als „heilig" insofern als alle Gläubigen „heilig" sind - das heißt, die Heiligkeit ist eine zugeschriebene Eigenschaft: im Akt der Rechtfertigung betrachtet Gott den sündigen Gläubiger als ob er heilig wäre. Tatsächlich steht diese Zuschreibung im Zentrum des Geschenks der Rechtfertigung. Luther formuliert, der Gläubige, der durch seinen Glauben Rechtfertigung erfährt, sei „Gerechter und Sünder zugleich" (simul iustus et peccator). Ich stehe der hier skizzierten Haltung in vielem äußerst kritisch gegenüber,
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insbesondere was das Verständnis der Sünde betrifft (dieser Aspekt wird im folgenden Kapitel noch einmal aufgegriffen). Tendenziell erscheint mir die lutherische Sichtweise jedoch plausibler als die katholische. Nur wenige der von der katholischen Kirche (beziehungsweise von der Ostkirche) als heilig erklärten Personen sind bei näherer Betrachtung moralische oder geistige Vorbilder. Mit anderen Worten: Die katholische Version der ecclesiola unterscheidet sich von der protestantischen dadurch, dass sie sich zu einem Großteil nicht in dieser Welt, sondern im Jenseits konstituiert - an den Kriterien von moralischer und geistiger Perfektion bemessen, gerät jedoch auch diese Vorstellung ins Wanken. An dieser Stelle bietet sich der Verweis auf ein Konzept an, das der zeitgenössische protestantische Theologe Wolfhart Pannenberg in Umlauf gebracht hat: Die Kirche ist im proleptischen Sinne heilig. Das bedeutet: Heiligkeit ist eine antizipierte Heiligkeit. Wir antizipieren den Höhepunkt der Erlösungsgeschichte, die parousia Christi, durch welche Heiligkeit tatsächlich in die Welt kommen wird (auf vermutlich sichtbare Weise). Wie dem auch sei, die vorhergehenden Betrachtungen lassen sich in einfachen Worten zusammenfassen: Die Kirche ist heilig aufgrund der Präsenz Christi in ihr - in dem Kasten, von dem aus die Auferstehung verkündet wird sowie im Gottesdienst, der bis zu den Engel reicht - , und zwar ungeachtet der offensichtlichen Fehlleistungen der empirisch erfahrbaren Kirche. Und was bedeutet es, zu sagen, die Kirche ist universal? Die nahe liegende Bedeutung ist, dass die Kirche für alle Menschen offen sein muss, ungeachtet ihrer Nationalität, Rasse, Klasse, Geschlecht oder einer anderen kollektiven Identität. Diese Universalität war natürlich ein entscheidendes Element in der Abspaltung der ersten Christen vom Judentum - die nachdrückliche Feststellung, mit großer Geste vor allem vom Apostel Paulus vertreten, wonach die Kirche keine Unterscheidung zwischen Juden und Nicht) uden macht. Eine wesentlich größere Bedeutung bekam dieses Beharren auf der Universalität, als eine gleichberechtigte Kirchenmitgliedschaft für Sklaven und das freie Volk, für Männer und Frauen, für Menschen aller Nationalitäten und Rassen eingefordert wurde. Tatsächlich ist festzuhalten: Die Universalität der Kirche ist - vor allem im Vergleich zu einer von ihr beanspruchten Heiligkeit - bei verschiedenen Gelegenheiten deutlich zu spüren, und zwar nicht nur anlässlich ökumenischer Zeremonien. So trifft man an einem gewöhnlichen Sonntag in amerikanischen Kirchen, sowohl in katholischen als auch in protestantischen, auf eine bemerkenswerte Vielzahl von Menschen unterschiedlicher rassischer und ethnischer Herkunft. In solchen Momenten wird der „proleptische" Charakter der kirchlichen Universalität spürbar:
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Die Universalität der Kirche ist die Vorahnung auf eine von ihren Sünden erlöste Menschheit, die am Ende einer langen Geschichte mörderischer Auseinandersetzungen zu einer Einheit findet. Diese Vorahnung existiert, trotz der gelegentlichen „Stammesfehden", die die Kirchen untereinander nach wie vor vielerorts austragen. In einigen Fällen haben die Kirchen wohl zu Recht einen „Stammes"Charakter beibehalten - zum Beispiel die orthodoxen Kirchen unter islamischer Herrschaft oder die afroamerikanischen Kirchen in Zeiten von Sklaverei, Segregation oder Diskriminierung. Die Kirche fungierte dann als Zufluchtsstätte für Verfolgte oder an den Rand der Gesellschaft gedrängte Menschen und war mitunter der einzige Ort, an dem diese Schutzsuchenden als vollwertige Menschen anerkannt wurden. Die Universalität der Kirche wurde meist zudem selbst dort im Prinzip aufrecht erhalten, wo die Umstände es nicht erlaubten, dieses Prinzip in die Tat umzusetzen. Dieses Prinzip besteht ganz einfach darin, dass ein Kirchenmitglied nicht aufgrund irgendwelcher gesellschaftlicher oder biologischer Kategorien Beschränkung oder Ausgrenzung erfahren darf. Letzten Endes gründet die Vorstellung der Universalität der Kirche im Glauben daran, dass Christus der auferstandene Herr ist - Herr über die Menschheit und die Schöpfung. Ich erinnere mich an ein beiläufiges, aber nichtsdestotrotz denkwürdiges Ereignis während einer Reise in den Iran in den 1970er Jahren, wenige Jahre vor Ausbruch der islamischen Revolution. Ich saß in Teheran in einem Taxi. Der Taxifahrer schaltete das Radio ein und es lief ein amerikanischer Sender, wahrscheinlich meinetwegen. Es muss irgendein evangelikaler Radiosender gewesen sein, der damals im Iran zu empfangen war. Es war nur eine kurze Fahrt, ich bekam nur einen kleinen Ausschnitt eines Gottesdienstes mit, in dem ein bekanntes protestantisches Loblied gesungen wurde: „ G o tell it on the mountain, go tell it everywhere: Jesus Christ is Lord." Es war eine kraftvolle Botschaft, umso mehr, als ich meinen Blick nach draußen richtete, auf die massive Berglandschaft, die man von der Teheraner Innenstadt aus sehen kann. Die Sichtweise, die ich hier zu vermitteln versuche, würde von manchen wohl als der Versuch einer gewissen Relativierung des Konzeptes Kirche beschrieben werden. Mein Ansatz basiert auf der grundsätzlichen Weigerung, irgendeine historische Form der Kirche absolut zu setzen. Die Frage nach Authentizität ist insofern einzig und allein daran geknüpft, ob eine Kirche sich zum Kern der christlichen Botschaft bekennt. Ich habe bereits eingeräumt, dass es sich hierbei um eine ausgesprochen protestantische Sichtweise handelt, wobei ich aber sehr wohl denke, dass der Protestantismus darin sehr stark auf die Erfahrungen und das Denken im Neuen
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Testament zurückgreift, insbesondere auf die paulinische Tradition. Es gibt eine bemerkenswerte Parallele zwischen der protestantischen Relativierung der Kirche und der paulinischen Relativierung des jüdischen Rechts. In beiden Fällen werden die historischen Konstrukte einer religiösen Tradition von innen heraus gesprengt, und was dabei herauskommt, ist ein unglaublich dynamischer Glaube, der jedoch im gleichen Maße angreifbar ist. Ich möchte an dieser Stelle ein Konzept von Paul Tillich aufgreifen, dem führenden Vertreter der liberalen protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts. In einem frühen Essay (datiert auf das Jahr 1 9 3 1 ) prägte er den Ausdruck des „protestantischen Prinzips". Wir wollen uns auf diesen Begriff konzentrieren - der Hauptteil seines Essays ist für unser Thema nicht weiter von Belang. Tillich selbst beschrieb sich einmal in dieser Phase seines Lebens als „christlichen Sozialisten" und in seinem Essay beschäftigt er sich mit dem Verhältnis der protestantischen Kirche zur deutschen Arbeiterklasse beziehungsweise der Situation, in der sich diese in seinen Augen befand. Relevant ist für uns der Abschnitt, in dem er „das protestantische Prinzip" beschreibt; er ist es wert, vollständig zitiert zu werden: „Der Protestantismus hat ein Prinzip, das jenseits jeder seiner Verwirklichungen steht. Es ist der kritische und dynamische Quellgrund aller protestantischen Verwirklichungen, aber es ist mit keiner von ihnen identisch. Es kann durch keine Definition festgelegt und durch keine historische Religion voll ausgeschöpft werden. Es ist weder mit der Reformation noch mit dem Urchristentum, noch mit irgendeiner religiösen Form überhaupt gleichzusetzen. Es transzendiert sie alle, wie es auch jede kulturelle Form transzendiert. Andererseits kann es aber in ihnen allen erscheinen, es ist die lebendige bewegende Kraft in ihnen, und das ist es, von dem angenommen wird, daß es dem historischen Protestantismus in besonderer Weise innewohnt. Das protestantische Prinzip, dessen Name sich von dem Protest der Protestanten gegen die Entscheidungen der katholischen Mehrheit ableitet, enthält den göttlichen und menschlichen Protest gegen jeden absoluten Anspruch, der für eine bedingte Wirklichkeit erhoben wird, auch dann, wenn dieser Anspruch von der protestantischen Kirche selbst ausgeht. Das protestantische Prinzip ist der Richter jeder religiösen und kulturellen Wirklichkeit, einschließlich der Religion und der Kultur, die sich selbst protestantisch nennen." (Paul Tillich, Protestantisches Prinzip und Proletarische Situation, in: Gesammelte Werke Band VII, S. 8 5 f.)
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Das protestantische Prinzip ist ipso facto ein Prinzip der Freiheit. Es ist die Freiheit, die der Mensch gegenüber jeder historisch konstruierten Religion oder Kultur besitzt. Ich möchte an dieser Stelle noch einen sehr viel jüngeren Text eines liberalen protestantischen Theologen zitieren, Friedrich Wilhelm Graf. Es ist der Einleitung einer Essaysammlung entnommen, in der es um die Frage geht, was protestantische Identität heutzutage bedeutet. Sie trägt passenderweise den Titel Protestantische Freiheit: „Protestanten lassen sich ihre Identität nicht durch Institutionen vorgeben ... Sie [Institutionen und Bücher] können bestenfalls eine Hilfe zum Identitätsgewinn sein, die in Freiheit angenommen oder zurückgewiesen werden kann" (Graf, „Einleitung - Protestantische Freiheit", in: ebd., S. 23). Freiheit ist, egal ob in der Religion oder in der Politik, eine gefährliche Angelegenheit - gefährlich für die Institutionen, die dadurch relativiert werden, aber auch für das Individuum, das die komfortable Position aufgibt, in einer Institution sicher aufgehoben zu sein. Dieses Individuum ist nicht notwendigerweise auf sich selbst gestellt; es gibt schließlich Gemeinschaften, die sich aus eben diesen Individuen zusammensetzen, wie zum Beispiel die Kirchengemeinschaft, die aus der Reformation hervorgegangen ist. Am Ende bleibt dem Individuum nichts anderes, an das es sich halten kann, außer dem dünnen Halm des Glaubens. Hier liegt die Verbindung zwischen „protestantischer Freiheit" und dem protestantischen Verständnis der Erlösung „durch den Glauben allein" (sola fide). Es ist kein Wunder, dass verschiedene protestantische Orthodoxien sich von diesem gefährlichen Abgrund abgewandt und den Versuch unternommen haben, das Individuum in die scheinbar sichere Geborgenheit einer institutionellen Einbindung zurückzuführen. Diese Betrachtungen bringen uns wieder zurück an den Ausgangspunkt: Im ersten Kapitel dieses Buches hatte ich den Glauben als Wette beschrieben (ein Begriff von Pascal; Kierkegaard hat das Gleiche einen „Sprung in den Glauben" genannt). Der Mensch kann an diesem Punkt keine Sicherheit erlangen. Auf die Dauer kann eine solche Unsicherheit jedoch sehr unangenehm werden, für viele Menschen ist sie sogar unerträglich. Es gibt eine Sehnsucht nach Sicherheit. Und wo es eine Nachfrage gibt, gibt es in der Regel sehr bald auch Angebote: Unsere pluralistische Welt bietet eine Vielzahl an Offerten, mit denen alte Sicherheiten wiederzuerlangen und neue Sicherheiten zu gewinnen sind, darunter sind auch viele nicht-religiöse Angebote. Ich nenne die Leute, die diese Angebote machen, gerne die Sicherheits-Verkäufer; sie machen sehr erfolgreich Geschäfte auf unserem alltäglichen Basar der Weltansichten und Wertesysteme. Doch dies ist sicher nicht der richtige Ort, um eine soziologische oder psychologische Analyse über den aktuellen Sicherheitsmarkt anzustellen.
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In der christlichen Marktnische, wenn ich das hier einmal so nennen darf, gibt es unter den Sicherheitsvermittlern im Wesentlichen drei Typen. Alle drei blicken auf eine langjährige Kirchentradition zurück. Z u m einen gibt es diejenigen, die über die Lektüre der Bibel Sicherheit verheißen. Die Bibel wird dabei als buchstäbliche Überlieferung Gottes verstanden, die somit über jeden Irrtum erhaben ist („unfehlbar"). Dieses Angebot ist natürlich eine protestantische Spezialität, die vor allem von der evangelikalen Gemeinde bereit gestellt wird. Wie es in dem alten Kirchenlied heißt „Jesus loves me, this I know, for the Bible tells me s o " (Jesus liebt mich, ganz gewiss, denn die Bibel sagt mir dies). Da das buchstäbliche und „fehlerlose" Verständnis der Bibel vor dem Hintergrund der modernen historischen Wissenschaft höchst unplausibel geworden ist, wird dieses Angebot in der Regel nur von Menschen wahrgenommen, die wenig Kontakt zur aktuellen Wissenschaft und ihren Erkenntnissen hat das heißt, Menschen mit einem relativ niedrigen Bildungsstand. Z u m Zweiten gibt es das Angebot, vermittels einer inneren Erfahrung von „Spiritualität" ein Sicherheitsgefühl zu erlangen. Dieser Weg zur Sicherheit hat in der Geschichte des Christentums bereits viele unterschiedliche Formen angenommen, am beeindruckendsten scheinen mir die großen Figuren des christlichen Mystizismus. Wenig beeindruckt bin ich dagegen von den unzähligen Ausdrucksformen eines „spirituellen" Enthusiasmus, die sich jedoch einer gewissen Beliebtheit erfreuen - im Protestantismus in den kraftvollen Bewegungen des kontinentalen Pietismus und des angloamerikanischen Methodismus zu finden sowie in sämtlichen Phasen der amerikanischen Erweckungsbewegung (revivalism), bis hin zur gegenwärtig weltweiten Aufstieg der Pfingstbewegung. Was all diese Ausprägungen trotz ihrer Unterschiede gemeinsam haben, ist das nachdrückliche Versprechen einer Sicherheit verleihenden, inneren Erfahrung. Wie es in einem anderen Loblied heißt: „I know that my redeemer liveth" (Ich weiß, dass mein Erlöser lebt). Und woher weiß ich das? Ich weiß es, weil ich diese ganz bestimmte Erfahrung gemacht habe - die Erfahrung einer Verwandlung, einer „Wiedergeburt", vom „heiligen Geist erfüllt" gewesen zu sein. Da dieses Angebot unterschiedliche geistige Niveaus bedient (sozusagen von Teresa von Avila bis zu einem kaum des Lesens und Schreibens mächtigen amerikanischen Revivalisten), ist es gegen den Widerstand des höheren Intellekts besser gewappnet als der Bibel-Ansatz. Kritik kommt daher auch weniger aus den Reihen der modernen historischen Wissenschaft, wohl aber von Vertretern der modernen Psychologie und der Religionssoziologie. Nachdem wir nun einen ziemlich guten Einblick in die Mittel und Methoden gewonnen haben, mit denen Sicherheit uns als persönlich erfahrbares Erlebnis verkauft wird, sollten wir diesen also mit einer gewissen Portion Skepsis begegnen
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In das Typenmodell gehört noch ein dritter Sicherheits-Verkäufer, und um diesen soll es uns im Folgenden gehen. Dieser dritte Typus verspricht Sicherheit über eine Anbindung an Institutionen - oder besser gesagt, über das Angebundenwerden. Es kann sich dabei um sehr unterschiedliche Institutionen handeln, auch säkulare. In einem christlichen Kontext übernimmt natürlich die Institution Kirche die entsprechende Funktion. Das immergleiche Schema lautet: M a n verschreibt sich selbst einer Institution und erhält im Gegenzug ein Gefühl von Sicherheit. Theoretisch kann jede noch so kleine Kirche diesen Dienst erweisen, selbst die kleine Baptistenkirche am Ende der Straße (es werden dort auch erweckliche Gottesdienste abgehalten). In der Praxis erweisen sich aber jene Kirchen am geeignetsten, die sich selbst als „Hochkirche" sehen das heißt, sie sind ihrem Selbstverständnis nach in der Erlösungsökonomie hochrangig angesiedelt. Östlich-Orthodoxe und Anglo-Katholiken sind darin ziemlich gut. Zweifellos stammt aber die beeindruckendste Offerte von der römisch-katholischen Kirche, denn darin enthalten ist ein hochwissenschaftliches theologisches Erbe sowie eine wertvolle Ansammlung großer ästhetischer Schätze. Im Vergleich zu den üppigen Reichtümern R o m s verblassen - zumindest für einen in der westlichen Welt verwurzelten Menschen der heutigen Zeit - die Attraktionen aus Byzanz und Canterbury. In den vorhergegangenen Abschnitten ist bereits genug über die korrodierenden Kräfte der modernen Geschichtswissenschaft und der Gesellschaftswissenschaften gesagt worden, woraus hervorgeht, dass auch diese Sicherheit versprechenden Angebote ins Reich der Illusionen gehören. Als Schlusspunkt dieses Kapitels möchte ich dafür plädieren, dass die Kirchenzugehörigkeit eine Frage der Berufung ist. Nicht alle Berufungen sind gleichlautend. Es mag die Berufung eines Menschen sein, trotz des einen oder anderen persönlichen Vorbehalts in der Kirche zu bleiben, in die man hineingeboren wurde. (Trotz meiner mitunter wenig charmanten Äußerungen über die römisch-katholische Kirche in diesem Kapitel kann ich keineswegs ausschließen, dass ich, wenn ich in diese Kirche hineingeboren worden wäre, nicht dort bleiben würde. Vielleicht würde ich dann, wie so viele andere heute, sagen: „Ich bin auf meine Weise K a t h o l i k " mögen der frühere Kardinal Ratzinger und jetzige Papst Benedikt X V I . und andere römische Autoritäten die Gültigkeit einer solchen Position auch noch so sehr anzweifeln.) Ein Mensch kann sich aber auch dazu berufen fühlen, die eigene Kirchenzugehörigkeit zu wechseln, eine irgendwie befremdliche Mitgliedschaft für eine geistig verwandte einzutauschen. Und nicht zuletzt kann ein Mensch auch dazu berufen sein, ohne jede formale Zugehörigkeit zu einer Kirche zu leben. So hat damals Simone Weil für sich entschieden, und die statistischen Erhebungen zeigen,
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dass viele Menschen heute für sich die gleiche Entscheidung treffen. Ich habe jedoch bereits dargelegt, dass meiner Auffassung nach jeder christliche Glaube, und mithin jedes religiöse oder moralische Bekenntnis, einer institutionellen Verankerung bedarf. Die beste Entscheidung für einen Christen scheint mir zu sein, sich um einen Kasten herum zu versammeln, von dem aus das Evangelium gelesen wird und wo man - vorsichtig - die Hände nach einer kosmischen Liturgie ausstreckt. Vermeiden sollte man jedoch immer, einen wie auch immer ausgewählten Kasten absolut zu setzen. Wer an die Auferstehung Christi glaubt und daran, dass Christus unser Herr ist, kann ihm unter den verschiedensten Voraussetzungen begegnen, auch dort, wo man dies am wenigsten erwartet. Ich hatte in einigen lutherischen Messen (nicht in besonders vielen) das Gefühl einer solchen Begegnung. Außerdem einmal in einer furchtbar schlecht besuchten anglikanischen Messe in London und mindestens einmal in einer Moschee. Und sogar in dem Taxi, als ich zu den Elburz-Bergen im Iran aufblickte.
Kapitel Elf „... Vergebung der Sünden ..." Diese wenigen Worte sind von einer trügerischen Einfachheit getragen. Zugleich geben sie Anlass zu unzähligen, nur schwer zu beantwortenden Fragen. Allen voran die beiden folgenden: Was ist Sündef Und wer soll wem vergeben? „Sünde" ist ein Wort, das dem modernen Menschen nicht leicht über die Lippen geht. Das wohl nahe liegendste und am häufigsten gebrauchte Synonym hierfür ist „das Böse". Eine „Sünde begehen" wäre dann gleichbedeutend mit „Böses tun". Doch selbst diese Übersetzung ist heutzutage höchst problematisch, zumindest unter Menschen, die in den Genuss einer höheren Bildung gekommen sind und sich als fortschrittlich bezeichnen. Vielleicht genügt schon die Erinnerung an das ungute Gefühl, das aufkam, als Ronald Reagan die Sowjetunion ein „Reich des Bösen" nannte oder, ein Beispiel aus noch jüngerer Vergangenheit, als George W. Bush in Bezug auf die den Terrorismus unterstützenden Staaten von einer „Achse des Bösen" sprach. Das ungute Gefühl wurde jedoch natürlich in beiden Fällen kaum durch den Glauben verursacht, die Regierungen dieser Länder lebten im Grunde eine hochwertige Moral. Doch das Wort „böse" evoziert eine Haltung, die einer progressiven Weltsicht widerspricht - intolerant, „moralistisch", „verurteilend". Die Reaktionen auf die Terroranschläge vom n . September 2 0 0 1 , allen voran einige Verlautbarungen von progressiven Kirchenvertretern, illustrieren dies zum Teil sehr deutlich: Anstatt die Schuldigen dieses Massakers zu verurteilen, soll der Betrachter die „tieferen Ursachen" für ihr Handeln begreifen. Wir sind aufgerufen, uns die Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft vor Augen zu halten und sogar „nach dem Terroristen in jedem Einzelnen von uns zu suchen". Hier ist nicht der richtige Ort, um diese intellektuelle Verwirrung und die politischen Konsequenzen einer solchen Weltsicht zu diskutieren. Belassen wir es bei der Feststellung, dass der Umgang mit dem Begriff der Sünde und des Bösen in unserer heutigen Zeit kein einfacher ist. In der Philosophie unterscheidet man zwischen einem „moralischen Bösen" und einem „natürlichen Bösen". Das Erste bezieht sich auf menschliche Handlungen, das Zweite auf die Unvollkommenheit der
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Welt, abgelöst vom menschlichen Tun - so unterscheidet man zum Beispiel zwischen einem Mord und dem Tod einer unschuldigen Person (oder eines Tieres) durch „natürliche Ursachen". In beiden Fällen stellt sich die Frage nach der in einem vorhergehenden Kapitel bereits erörterten Theodizee. An dieser Stelle konzentrieren wir uns jedoch auf das „moralisch Böse" - Handlungen, die Menschen sich zu Schulden kommen lassen und durch welche sie sich strafbar machen. Hinzuweisen ist zudem auf eine lange philosophische Tradition, der zu Folge das Böse keine eigenständige Größe darstellt, sondern die Abwesenheit des Guten. In der griechischen Philosophie herrschte so zum Beispiel die Meinung, das Böse gehe aus der Unwissenheit hervor - wahre Erkenntnis beziehungsweise Weisheit vermögen das Böse auszulöschen. Einige Philosophen der jüngeren Vergangenheit wie Spinoza tendierten dagegen dazu, das Böse als notwendigen Bestandteil des Universums zu sehen; sobald der Mensch dies erkennt, löse sich unsere Auffassung vom Bösen in Luft auf und alles, was wir zuvor als böse bezeichnet haben, wird infolgedessen erträglicher. Mary Baker Eddy gründete ihre Christliche Wissenschaft (Christian Science) auf ganz ähnliche Vorstellungen (wenngleich auf einem anderen geistigen Niveau als Spinoza). In der zeitgenössischen Kultur, insbesondere in Amerika, werden in der Regel die konzeptuellen Mittel der modernen Psychologie herangezogen, um das Vorhandensein des Bösen in der Welt zu erklären: Handlungen, die (nicht zuletzt im Strafrecht) als böse definiert werden, resultieren aus mehreren ungelösten Problemen in der Biographie des Handelnden. Das geltende Prinzip lautet: Nicht verurteilen, sondern verstehen und gegebenenfalls therapeutisch behandeln (dieses Denken prägte unser Strafrechtssystem und führte unweigerlich zu einiger Verwirrung, da diesem System sehr unterschiedliche Auffassungen von Strafbarkeit zu Grunde liegen). Die geschilderte Auffassung findet ihren vielleicht deutlichsten Ausdruck in dem Satz: „Hitler hatte eine sehr schlechte Kindheit." Mir scheint, die gesamte Tradition einer Leugnung des Bösen sui generis, von den Griechen bis zu unseren heutigen Sozialarbeitern, hat das Phänomen auf massive Weise trivialisiert. Der Name Hitler wurde von mir in diesem Zusammenhang keineswegs willkürlich genannt. Der Holocaust gilt in unserer Zeit als „Ikone des Bösen". Zu Recht, wie ich finde. Der Holocaust ist damit sozusagen zum Maßstab für jede Theorie des Bösen geworden. Aus den unvorstellbaren Gräueltaten jener Zeit werde ich nur ein einziges Beispiel herausgreifen; zahlreiche Historiker haben sich bereits damit befasst (zum ersten Mal gelesen habe ich davon in Hannah Arendts Buch über den Eichmann-Prozess, Eichmann in Jerusalem). Es geht um eine Rede von Heinrich Himmler, dem Führer der SS und mithin
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hauptverantwortlich für die Holocaust-Maschinerie sowie Befehlshaber der Offiziere der Einsatzgruppen. Die Einsatzgruppen waren Einheiten der SS und der Militärpolizei, die nach dem Einzug in Russland zahllose Juden ermordeten, bevor die wesentlich effizienteren Gaskammern in den Todeslagern eingerichtet worden waren (unter anderem offenbar, um die Massentötungen für die Mörder emotional weniger aufreibend zu gestalten). Himmler beschreibt in bemerkenswerter Detailgenauigkeit wie die Einsatzgruppen in ihrer Arbeit vorgegangen sind, wie sie oft Stunden lang mitunter ganze Familien ausgelöscht haben, auch die Kinder. Er sagte, er könne voll und ganz verstehen, wie schwierig diese Arbeit für diejenigen gewesen sein muss, die sie ausführten, insbesondere wenn sie nach einem langen Arbeitstag zu ihren eigenen Familien zurückkehrten, vielleicht mit ihren Kindern spielten. Himmler äußerte seine Anerkennung für diejenigen, die trotz dieser Belastung ihre Aufgabe treu erledigt haben. Und dann sagt er einen Satz, der in seinem Wortlaut kaum zu ertragen ist: Er sagte, dass „ w i r " (damit solidarisierte er sich mit den angesprochenen Mördern) vor allem stolz darauf sein sollten, trotz alledem „anständige Menschen" geblieben zu sein (das deutsche Wort „anständig" vermag wie kein anderes die moralische Behaglichkeit eines bürgerlichen Lebens zu umschreiben). Angesichts dieser Episode ist jeder Versuch, das Böse zu trivialisieren, zum Scheitern verurteilt. Ist der Genozid die Abwesenheit des Guten? Ist er das Ergebnis von Unwissenheit oder irgendeinem ungelösten ÖdipusKonflikt? Hatte Himmler ebenfalls eine schlechte Kindheit? Selbst wenn man dieser oder anderen empirischen Erklärungen Glauben schenkt, vermittels derer die Mentalität und das Handeln der Nazis begreifbar gemacht werden sollen (und als Sozialwissenschaftler bin ich gerne bereit anzunehmen, dass solche Erklärungen möglich und sogar hilfreich sein können), so muss man doch aufpassen, dass dadurch die Tatsachen nicht verwischt werden - dass wir es hier nämlich mit einer moralischen Monstrosität zu tun haben, die ganz und gar sui generis zu sehen ist, die es nicht bloß zu verurteilen gilt, sondern die durch und durch verdammenswert ist. Kurz gesagt: Angesichts des Holocaust auf eine Verurteilung zu verzichten, bedeutet einen Verrat an unserer Menschlichkeit. Damit rückt noch ein anderer Aspekt ins Blickfeld der Betrachtung: Neben bösen Handlungen existieren auch Strukturen des Bösen. Bestätigt wurde dies unter anderem durch das NS-Kriegsverbrechertribunal, welches die SS als „kriminelle Organisation" definierte. Strafbar (wenngleich in geringerem Maße) macht sich ein Individuum daher bereits durch eine Mitgliedschaft in einer solchen Organisation, unabhängig davon, ob es selbst kriminelle Handlungen ausgeführt hat. Anders ausgedrückt: Schuldig werden wir nicht nur durch unsere eigenen Taten. Vielmehr sind wir
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verstrickt in ein Netz aus Handlungen, die andere begehen, und mit ihnen sind wir in einem historischen Gefüge verbunden. In der Nachkriegszeit ist dieser Aspekt - insbesondere bezüglich einer Schuld an den NaziVerbrechen - heftig diskutiert worden. Die vorherrschende Meinung lautete, im Rückgriff auf eine weit zurückreichende ethische Denktradition, wonach ein Individuum nur für eigenständig verübte Taten schuldig gesprochen werden kann - die Söhne sollten nicht die Sünden ihrer Väter büßen. Als Mitglieder einer Gemeinschaft sind wir jedoch verantwortlich für die Handlungen, die andere im Namen dieser Gemeinschaft ausführen. Nur eine solche Auffassung vermochte eine Legitimation zu liefern für die Reparationsleistungen an Juden und andere Opfer des NaziRegimes durch die demokratischen Nachkriegsregierungen Westdeutschlands (von denen einige führende Vertreter selbst Opfer geworden waren). Zugegebenermaßen ist die Unterscheidung von Schuld und Verantwortung nicht einwandfrei. Doch immerhin kommt darin eine einfache Tatsache zum Vorschein - dass wir nämlich unabhängig davon, was wir tun oder lassen, in historische Zusammenhänge verstrickt sind. Der katholische Theologe Karl Rahner hat (in einer Diskussion des Sünde-Begriffs in seinem Hauptwerk Grundkurs des Glaubens - Einführung in den Begriff des Christentums) für diese Verstrickung einen interessanten Ausdruck eingeführt: Er spricht von der „Objektivierung" der Sünden jedes Einzelnen. Das Beispiel, das er gebraucht, um diesen Standpunkt zu illustrieren, ist zwar von dem Horror des Holocaust weit entfernt, doch es geht uns hier einzig um das Phänomen des Verstrickt-Seins, das darin gleichermaßen zum Ausdruck kommt. Ich esse eine Banane eine zweifellos moralisch unanfechtbare Handlung. Allerdings: Die Art und Weise, wie die Banane in meine Hände gelangt ist, ist in der Tat in vielerlei Hinsicht moralisch anrüchig - man denke an die entwürdigenden Bedingungen, unter denen die Plantagenarbeiter in irgendeinem weit entfernten Land leben, an das tyrannische Regime, das ihnen diese Bedingungen auferlegt, an die unfairen Handelsbeziehungen zwischen ihrem und meinem Land, und so weiter und so fort. Daraus folgt, dass ich mich durch das Essen einer Banane zwar nicht der Taten all dieser Menschen schuldig mache, doch ich kann mich (zumindest, wenn ich mir die Kette der Ereignisse vor Augen halte, durch welche diese Banane in meine Hände gelangt ist) einer Verantwortung für die Taten dieser Anderen nicht entziehen - ich bin in Verstrickung geraten mit ihnen und ihren Sünden. Rahner führt dieses Beispiel an, um den Begriff der „Erbsünde" zu erläutern (mehr dazu an anderer Stelle). Seine Analogie scheint mir zwar nicht ganz schlüssig. Was Rahner damit jedoch deutlich macht, ist die Auffassung, wonach wir uns stets in einem historischen Kontext befinden, was moralische Implikationen mit sich bringt.
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Die biblische Sichtweise auf die Sünde ist vielschichtig. In der hebräischen Bibel ist jede Handlung eine Sünde, die gegen Gottes Gebote verstößt. In der Geschichte des alten Israel scheinen sich im Laufe der Zeit die Vorstellungen gewandelt zu haben - ausgehend von einem sehr primitiven Tabubegriff (wonach beispielsweise das Berührung der Bundeslade, auch wenn es unabsichtlich geschieht, zum sofortigen Tod führt) bis hin zu einem sehr viel differenzierteren Verständnis von Moral (dazu gehören die erhabenen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit in der Literatur der Propheten). Die beiden Seiten des Dekalogs machen zudem unmissverständlich deutlich, dass man sowohl vor Gott als auch gegenüber seinen Mitmenschen sündigen kann. Die Bibel lehnt zwar den Gedanken des Dualismus strikt ab, wohingegen er in der iranischen Religion typischerweise vorkommt - ein böser Gott engagiert sich in einem endlosen Kampf mit dem guten Gott, Ahriman gegen Ahura Mazda. Gleichzeitig gibt es aber im Christentum eine nie überkommene Vorstellung von übernatürlichen Wesen, die einen Widerpart zu Gott darstellen und den Menschen zu bösen Taten verleiten. Tatsächlich ist wohl nicht ganz auszuschließen, dass die biblische Figur des Satans einen iranischen Ursprung hat. In der Bibel rangiert dieser allerdings weit unter dem Status Gottes, und auch das nur, weil er von Gott geduldet wird. Daneben gibt es noch eine andere Vorstellung, die einen weit reichenden Einfluss auf die Entwicklung des christlichen Glaubens und Denkens nehmen sollte die Vorstellung, wonach es nicht allein sündhaftes Handeln, sondern darüber hinaus einen sündhaften Grundzustand gibt, in denen die Menschheit schicksalsartig gefangen ist. Aus diesem Gedanken ging, wie unschwer zu erraten ist, das Dogma der „Erbsünde" hervor. Die hebräische Bibel enthält die Vorstellung des „Sündenfalls" - des Abfallens von einem paradiesischen Urzustand durch den von Adam und Eva begangenen Verstoß gegen den Willen Gottes, hinzu kommt eine Art Abtrünnigkeit von Seiten einiger aufständischer Engel. Für die Morallehre der hebräischen Bibel war dies noch eine Marginalie und auch das rabbinische Judentum zeigte nie ein besonders ausgeprägtes Interesse daran. Ins Zentrum rückte der Gedanke des Sündenfalls erst im Neuen Testament, nicht in allen Büchern, umso deutlicher aber in den paulinischen: Es gibt nicht einzeln verübte Sünden, vielmehr ist die conditio humana in ihrer Gesamtheit von der Sünde gezeichnet. Mit anderen Worten: Die „Erbsünde" wurde zu einem wichtigen Teil des christlichen Dogmas, wenngleich es sehr unterschiedliche Interpretationen hierzu gab, insbesondere was die östliche und westliche Tradition betrifft, wie wir in Kürze sehen werden.
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Zweifellos können wir jedoch konstatieren, dass die westliche Tradition sehr viel unmittelbarer in Paulus ihre Wurzeln hat. Der locus classicus der paulinischen Auffassung ist ein Ausschnitt aus seinem Brief an die Römer (Kapitel 5,1 zff.): „Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben. Denn die Sünde war wohl in der Welt, ehe das Gesetz kam; aber wo kein Gesetz ist, da wird Sünde nicht angerechnet. Dennoch herrschte der Tod von Adam an bis Mose auch über die, die nicht gesündigt hatten durch die gleiche Übertretung wie Adam, welcher ist ein Bild dessen, der kommen sollte. ... Denn wenn wegen der Sünde des Einen der Tod geherrscht hat durch den Einen, um wieviel mehr werden die, welche die Fülle der Gnade und der Gabe der Gerechtigkeit empfangen, herrschen im Leben durch den Einen, Jesus Christus. ... Das Gesetz aber ist dazwischen hineingekommen, damit die Sünde mächtiger würde. Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade noch viel mächtiger geworden, damit, wie die Sünde geherrscht hat zum Tode, so auch die Gnade herrsche durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unsern Herrn." Wenn man dies liest, sollte man bestimmte Informationen im Hinterkopf behalten. Erstens stammt die Passage aus einem Brief, der möglicherweise in Eile und unter widrigen Umständen geschrieben wurde; es handelt sich also keineswegs um eine theologische Abhandlung. Des Weiteren entstand die Schrift im Rahmen einer breiten Danksagung an die in Christus gefundene erlösende Gnade; es ist keine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Sünde. Man sollte auch die Tatsache nicht übersehen, dass Paulus die biblische Darstellung von Adam und Moses wortwörtlich als historisches Faktum auffasste - was aus unserer Sicht in Bezug auf Adam unmöglich und in Bezug auf Moses nahezu unmöglich ist. Nichtsdestotrotz sind die Grundannahmen von Paulus unmissverständlich: Die Sündhaftigkeit des Menschen ist eine Grundbedingung, in die wir hineingeboren werden, die vorgezeichnet worden ist durch ein göttliches Gesetz, dessen Gebote wir nicht in der Lage sind zu erfüllen, und aufgrund dessen wir durch jede einzeln verübte sündige Handlung und darüber hinaus strafbar sind; darüber hinaus ist der Tod mit dieser Sündhaftigkeit untrennbar verbunden. Diese Annahmen sind wie gesagt nicht in allen neutestamentlichen Traditionen enthalten. Die johanneische Tradition zum Beispiel vertritt eine sehr andere Vorstellung von der conditio humana. Doch der paulinische Begriff der Sünde konnte im Laufe der Geschichte einen immensen
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Einfluss auf das Christentum ausüben. In einem der vorhergehenden Kapitel haben wir diesen Punkt in Rückgriff auf Anselms Begriff der „Versöhnung" betrachtet. Offensichtlich gibt es eine Entwicklungslinie von Paulus über Augustinus bis hin zur protestantischen Reformation (in der nicht zuletzt das paulinische Denken wieder auflebte, das im mittelalterlichen Katholizismus eine gewisse Aufweichung erfahren hatte). Im Kern geht es um das Abtrünnigwerden des Menschen, dessen jeder Einzelne für schuldig befunden wird und aus welchem sich der Einzelne nicht befreien kann. Luthers einsamer Kampf mit seinem unerbittlichen Gewissen ist eine Wiederholung des Ringens Paulus' mit dem jüdischen Recht, in beiden Fällen begleitet von einem Gefühl vollkommener Wertlosigkeit. Es erscheint daher nur logisch, dass Luther durch eine Aussage von Paulus - wonach wir durch den Glauben gerettet werden und nicht etwa durch das Recht (Luther fügte dem hinzu, es sei durch den Glauben allein) - den Weg aus seiner Bewusstseinskrise fand. Ich habe diesen religiösen Standpunkt an anderer Stelle bereits als masochistisch bezeichnet und (mit allem gehörigen Respekt für Paulus und Luther in anderer Hinsicht) sehe keinen Grund, meine Einstellung hier zu ändern. Der Masochismus erreicht einen gewissen Höhepunkt im Calvinismus, der Doktrin der „doppelten Vorherbestimmung": Der Mensch ist ganz und gar verkommen und verdient ewige Verdammnis; einzig eine gütige Gnade kann den Menschen aus diesem wohlverdienten Schicksal retten; und Gott hat (vor allem aus calvinistischer Sicht) im Anbeginn der Zeit entschieden, wer gerettet werden wird und wer der ewigen Verdammnis anheim fällt. Um einen besseren Eindruck davon zu bekommen, was diese Auffassung der conditio humana konkret bedeutet, genügt die Lektüre von Jonathan Edwards berühmter Predigt „Sinners in the Hands of an Angry God" (Sünder in der Hand eines wütenden Gottes). Der aus Neuengland stammende Schüler Calvins beschreibt darin, wie die geretteten Erdenbewohner im Himmel zufrieden auf das Leid der in der Hölle Verdammten schauen. Durchaus nicht ohne Zögern möchte ich festhalten, dass eine gewisse Größe in einer solchen religiösen Haltung liegt. Zum Beispiel in dem Versprechen, das jedes Mitglied vor seiner Aufnahme in die frühe protestantische Gemeinde in Frankreich zu geben hatte (noch dazu in einer Zeit, als diese Gemeinde unter schweren Verfolgungen zu leiden hatte): Es geht um das individuelle Versprechen, alle göttlichen Gebote einzuhalten und ein gläubiges, christliches Leben zu führen, selbst wenn dieser Mensch wusste, dass er einer derjenigen war, die auf ewig verdammt sind. Mit anderen Worten: Gott sollte um seiner selbst willen angebetet werden, nicht in der Hoffnung eines Einzelnen auf Erlösung. Dies ist (wenn auch auf widernatürliche Weise) eine beeindruckende Religion;
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wie Max Weber in seiner Betrachtung der unbeabsichtigten Folgen des Calvinismus vorführte (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus erschien im deutschen Original erstmals 1 9 0 1 ; verschiedene englische Übersetzungen folgten nach 1930), war dies eine Religion, die zugleich für einige ihrer Anhänger zunehmend unerträglich wurde - sie wollten wissen, ob sie zu den „Auserwählten" gehörten, denen Erlösung zuteil werden würde, auf welche Weise auch immer. In dieser reinen Form ist der religiöse Masochismus wohl nur im Calvinismus anzutreffen. Entsprechende Tendenzen lassen sich aber durchaus auch in anderen Traditionen finden. Verschiedene Mystiker haben darauf bestanden, die Liebe zu Gott müsse absolut sein, nicht etwa in der Hoffnung auf den Himmel beziehungsweise aus Angst vor der Hölle, sondern allein um seiner selbst willen. In jedem Fall aber ist festzuhalten, dass der liebende Gott, dem wir im Erlösungswerk Christ begegnen, in diesen Religionsauslegungen nicht erkennbar wird. Dieser Gott verlangt von uns nicht, permanent unser Haupt mit Asche zu bedecken, schon gar nicht für Umstände, die wir nicht verschuldet haben. Im Neuen Testament stellt die johanneische Tradition ein effektives Gegengewicht dar, zum Beispiel im vielzitierten vierten Kapitel des Ersten Briefes des Johannes: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm." Die christliche Auffassung, das Sakrament der Taufe wasche den Menschen von dem Makel der Erbsünde rein (wobei der getaufte Mensch natürlich nicht davor gefeit ist, in Zukunft zu sündigen), ist tief in der Tradition verwurzelt. Zu den unschönen Kapiteln dieser Geschichte gehört die endlose Debatte über das Schicksal der ungetauften Kinder. Einig waren sich die Gelehrten meist darüber, dass die Ungetauften nicht in den Himmel auffahren würden; umstritten ist jedoch, ob sie in der „Vorhölle" (einem Zwischenreich zwischen Himmel und Hölle), in die sie eingehen, Schmerzen leiden würden. Selbst Bonaventura, der Schüler des gütigen Franz von Assisi, der hier bereits mit der ihm gebührenden Hochachtung bedacht worden ist, vertrat die Meinung, diese Kinder würden zwar vor den Qualen der Hölle bewahrt, nicht aber vor den schweren Leiden der Entbehrung. Thomas von Aquino hielt dem entgegen, die in der Vorhölle befindlichen Seelen könnten mit ihrem Los zufrieden sein, da sie die Freuden des Himmels nie erfahren hätten. Die Augustiner vertraten eine andere Sichtweise: Ihnen zufolge litten die ungetauften Kinder im Zwischenreich echte Schmerzen. In den Augen der Augustiner stand diese Auffassung im Einklang mit dem christlichen Evangelium. Rigoros vertreten wurde sie von Gregor von Rimini, einem Oberhaupt des Augustinerordens, was ihm den Titel des „Kinderquälers" eintrug. (Als Quelle für meine Ausführungen dient mir das wissenschaftliche
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Werk eines französischen Jesuiten - Henri Rondet, Original Sin: The Patristic and Theological Background, S. ιγ6ίί.) Die Debatten sind jedoch so ermüdend, dass ich beim Lesen versucht bin, in Voltaires berühmtes Diktum über die Kirche einzustimmen - „ecrasez Pinfäme!" (zerschlagt die Infame). Etwas milder ausgedrückt: Wenn das der Gott ist, der von den Christen angebetet wird, beschäftige ich mich lieber mit etwas anderem. Es wäre wahrscheinlich übertrieben, die Ostkirche als johanneische und die Westkirche als paulinische zu beschreiben - die Differenzen sind sehr viel komplizierter. Zweifellos ist aber die westliche Tradition legalistischer und moralistischer, möglicherweise eingedenk eines prototypischen lateinischen Denkens (Calvin mag als Nachkomme hierfür dienen - er war schließlich sowohl Franzose als auch Anwalt). Der griechische Osten ist stärker metaphysisch geprägt, freundlicher im Glauben und in der Moral. Zwar leugnet man dort nicht die Sünde, nicht einmal die Erbsünde, als Bestandteil der conditio humana. Doch (wie bereits in unserer Diskussion über die Versöhnung bemerkt) verfolgt man dort eine nachsichtigere Anthropologie und der Erlösungsbegriff ist weit weniger verurteilend. Der moderne orthodoxe Theologe John Meyendorff, der hier ebenfalls schon zitiert wurde, entwickelte ein Konzept der Sünde, das er „ontologisch" nennt - die Sünde ist darin ein tragischer Umstand, der seinen Ursprung in einer kosmischen Katastrophe hat, welcher die Menschheit zum Opfer gefallen ist und für das sie weder im Ganzen noch ihre Mitglieder im Einzelnen verantwortlich zu machen sind. Die Menschen, die zu einem Leben unter diesen Umständen gezwungen sind, haben in ihrem Überlebenskampf höchstens einen Hang zum Bösen, der gelegentlich zu konkreten Akten schrecklicher Grausamkeit führen kann. Die Sünde ist also eingebettet in einen allgemeinen Zustand des Menschen und der gesamten Schöpfung, und zwar in einen Zustand des Abgefallenseins, dessen letzte Konsequenz der Tod ist. Der Sieg über Sünde und Tod wird durch die erlösenden Kräfte des auferstandenen Christus herbeigeführt, und dieser Triumph hallt durch das gesamte orthodoxe Denken und den orthodoxen Glauben. Der „Fall" hat auf diese fatale Weise die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen zerrüttet; die Erlösung ist der Weg zu einer Wiederherstellung dieser Beziehung, die in der Orthodoxie theosis („Vergöttlichung") genannt wird. Dieser Auffassung liegt eine nahezu darwinistische Dimension zugrunde: Der Mensch in der empirischen Welt ist nach wie vor auf einer unteren Stufe der Evolutionsleiter verhaftet. Die Menschheit erscheint also eher als Opfer denn als Urheber der eigenen Entfremdung; sie verdient eher Mitgefühl als Verdammnis. (Ich vermute zum Beispiel, dass die tendenziell freundliche-
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re orthodoxe Weltsicht auf viele katholische und protestantische Konvertiten eine gewisse Anziehungskraft ausübt - auf jene, die, wie es so schön heißt, „im Bosporus schwimmen gehen". Um nicht missverstanden zu werden, füge ich freimütig hinzu, dass ich selbst keine dahingehende Versuchung verspüre.) Um diesen Gedanken zu Ende zu führen, möchte ich einen (fast) zeitgenössischen orthodoxen Denker zitieren, Paul Evdokimov, eine in der Tat äußert faszinierende Persönlichkeit. 1 9 0 1 in Russland geboren, verbrachte er den Großteil seines Lebens in Frankreich, wo sein Einfluss weit über die kleine russische Exilanten-Gemeinde hinaus reichte. Während des Zweiten Weltkriegs engagierte er sich im Widerstand, vor allem aber verschaffte er zahlreichen Juden heimliche Zufluchtsstätten und setzte sich für deren Rettung vor den Nazis ein. Nach dem Krieg unterstützte er den Aufbau der ökumenisch-monastischen Gemeinde von Taize (er selbst war verheiratet und hatte Kinder). Zum vorliegenden Thema äußerte er sich wie folgt: „Die Ostkirche verzichtet in ihren Leitsätzen auf Urteile und Strafen. Ihr Begriff von Sünde und ihr Umgang mit Sündigern ist wesentlich ein therapeutischer, wodurch eher die Vorstellung von einem Krankenhaus als von einem Gerichtssaal evoziert wird. Ohne „vorzuverurteilen" gibt sich die Kirche in die Hand Gottes, überlässt sich ganz dem liebenden Gott, und widmet ihre Gebete sowohl den Toten als auch den Lebenden. Einer ihrer Heiligen, der am meisten verehrte, besaß sogar die Verwegenheit - und das Charisma für den Teufel zu beten. Das Gebet eines Heiligen ist die wahrscheinlich tödlichste Waffe gegen den Bösen. Und von der Liebe dieser Heiligen hängt das Schicksal der Hölle ab. Wir kreieren unsere eigene Hölle, indem wir uns abschotten von der göttlichen Liebe, die unveränderbar bleibt." (Ages of the Spiritual Life, S. i o i f . ) (Vielleicht bedarf es hier einer kleinen Fußnote: Was Evdokimow hier mit „Therapie" meint, ist weit davon entfernt, was der Begriff in der zeitgenössischen Psychologie bedeutet.) Wenn wir nun noch einmal auf dem Zeitstrahl zurück bis tief ins 3. Jahrhundert n. Chr. gehen, so stoßen wir auf die schillernde Figur des Origenes. Origenes gilt unter den Kommentatoren häufig als wichtigster griechischer Kirchenvater, ungeachtet der Tatsache, dass er immer wieder der Häresie bezichtigt wurde, sowohl zu Lebzeiten als auch nach seinem Tod. Er beschäftigte sich mit vielen Facetten des Lebens und der Religion, in der Hauptsache aber ging es ihm darum, die unnachsichtigen Lehren zur Sünde und zur Verdammnis zu mildern. Die Vorwürfe der Häresie, die an ihn herangetragen wurden, gehen im Grunde auf zwei Aspekte
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seines Denkens zurück - seine Auffassung von der „Präexistenz der Seelen" und sein Verständnis der apokatastasis. Der erstgenannte Aspekt ist unmittelbar mit dem Dogma der „Erbsünde" verknüpft. Die Auffassung, wonach der Mensch für eine Sündhaftigkeit verurteilt wird, die er nicht durch eigenes sündiges Handeln verschuldet hat, ließ Origenes keine Ruhe. Er hielt dem entgegen, jede einzelne Seele (die der Menschen, aber auch die der Engel) sei im Anbeginn der Zeit geschaffen worden und zu diesem Zeitpunkt habe jede einzelne Seele eine Entscheidung für oder gegen Gott treffen können. Mithin kann ein Mensch, der heute in Sünde lebt, für seine uranfängliche Entscheidung, gegen Gott zu rebellieren, gerichtet werden. (Möglicherweise sind hier hinduistische Einflüsse spürbar, eine Andeutung des Karma-Gedankens. Es gibt aber auch im islamischen Denken eine ähnliche Vorstellung: Am „Tag des Bundes" sind alle noch ungeborenen menschlichen Wesen angehalten, ihre Treue zu Gott zu schwören.) Scharf kritisiert wurde Origenes aber auch für seine Auffassung der apokatastasis - dem Glauben, dass am Ende alle Wesen der Schöpfung mit Gott vereint werden; das heißt, eine Zeit, in der es selbst die Hölle nicht mehr geben wird. In der Geschichte des Christentums hat diese Vorstellung immer wieder Anhänger gefunden (Julian von Norwichs eher vorsichtige Äußerungen dazu wurden hier bereits erwähnt). Der katholische Theologe Hans Urs von Balthasar beschreibt in seiner einleitenden Bemerkung zu einer Passage von Origenes dessen Lehre deshalb wie folgt: „Die Kirche hat keinen Menschen als mit Sicherheit verdammt erklärt. Menschen können und dürfen nicht richten. Origenes ist unerschöpflich im Aufweisen von Milderungsgründen bei den Bösen; und wenn er ein Körnchen Gut in einer Seele gefunden, so glaubt er die ewige Strafe schon abgewendet" (Hans Urs von Balthasar, Origenes. Geist und Feuer, S. 498). Der Abschnitt mit der Überschrift „Unrichtbare Schuld" ist in der Tat hervorhebenswert, und zwar wegen der Personen, für die Origenes „Milderungsgründe" findet - für Kain, für den Pharao des Exodus, für Judas, für Pilatus! Am Ende dieser reihenweise erteilten Reinwaschung stellt Origenes fest: „Nehmen wir also das Gericht Gottes nicht voraus und sagen: ,Der geht zugrunde', oder voll Freude: ,Der ist gerettet!' Denn wir versehen es nicht, Tat gegen Tat abzuwägen und einzuschätzen" (ebd., S. 500). Er suggeriert damit etwas, das für das Konzept der apokatastasis sehr wesentlich sein mag: Kaum denkbar, dass Gott weniger gütig sein könnte als Origines! Die von Evdokimov eingeführte Metapher des „Krankenhauses" lässt sich noch weiter denken: Der Mensch ist ein „krankes" Geschöpf - das heißt: Er ist nicht das, was er nach dem Willen des Schöpfers sein sollte. Die „Krankheit" findet ihren Ausdruck in der Sünde und im Tod; weder das eine noch das andere ist „gesund" - der Mensch wurde geschaffen,
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um gut und unsterblich zu sein, jedenfalls, wenn man der Vorstellung folgt, der Mensch sei als Abbild Gottes geschaffen worden. Anders ausgedrückt: Sowohl die Sünde als auch der Tod sind „unnatürlich" und deshalb abzulehnen. Einer quasi-evolutionären Sichtweise folgend ist der Mensch das Resultat eines Prozesses, der lange bevor es den Homo sapiens auf diesem Planeten gab, einen Makel ins Universum gebracht hat. Der Hang zum Bösen und die Sterblichkeit des Menschen sind somit aus dem „Gefallensein" hervorgegangen und in diesem Sinne ist die Sünde „ursprünglich" oder „erblich". Also ist das Erlösungswerk Gottes vor allem eine Heilung - gleichermaßen das Böse und das Leiden betreffend. Auf eine einfache Formel gebracht ist dies in dem jüdischen Begriff des tikkun olam, der „Wiederherstellung der Welt". Eine auf dieser Vorstellung gründende Theodizee kommt zudem ohne den oben erwähnten Masochismus aus. Während das Drama der Erlösung seinen Lauf nimmt, steht es dem Menschen frei, den Prozess einer kosmischen Wiederherstellung entweder zu unterstützen oder aber weiter zum Schaden beizutragen, der eine solche Wiederherstellung notwendig gemacht hat. (Ich kann mir bildlich vorstellen, dass der eine oder andere theologisch gebildete Leser nun zu seinem Wörterbuch der Häresie greift. Wo hat der vorangegangene Abschnitt seinen Platz? Ist er pelagianisch? Oder vielleicht semipelagianisch? Dieser Gedanke hinterlässt mich in freudiger Unbekümmertheit! ) Die Krankenhaus-Metapher ist jedoch noch keineswegs ausgereizt: Wenn die conditio humana im Wesentlichen eine „Krankheit" ist, dann sind manche Individuen kränker als andere - wobei darunter mit Sicherheit auch die großen Schurken der Geschichte zu zählen sind. Wieder andere sind so gut wie gar nicht krank. So wie es die „Ikonen des Bösen" gibt, gibt es die „Ikonen des Guten". In diesen (sehr seltenen) Fällen wäre es wohl angemessen, von „Heiligen" zu sprechen. Ich bezweifle zwar, dass sie tatsächlich moralisch einwandfrei sind (ich bin eben immer noch Lutheraner). Nichtsdestotrotz können wir in ihnen wohl eine Näherung an die ursprünglich intendierte Menschheit sehen, und auf die eschatologische Zukunft, die dem Menschen bevorsteht. Was also hat es mit der „Vergebung" auf sich? Wenn man meiner Auffassung der conditio humana folgt, ist die „Vergebung" als Teil des Heilungsprozesses zu begreifen. Das heißt: Es handelt sich nicht um eine juristische Transaktion, die entweder zwischen Gott und dem Menschen oder von Mensch zu Mensch vollzogen wird. Der Begriff der „Versöhnung" scheint an dieser Stelle das angemessenere Synonym für „Vergebung" zu sein. Der Mensch ist in der Lage, als „Agent des Heilens" aufzutreten. Diejenigen, die in dieser Aufgabe vollständig aufgehen, kann
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man wohl zu Recht als „Heilige" bezeichnen. Und es wird kaum jemand bestreiten, dass der christliche Glaube, mit seiner Verheißung auf eine Einswerdung mit Gott, ihnen als kraftvolle Motivation dienen kann, so dass sie an der Heilung und Wiederherstellung teilhaben. Die gleichen Handlungen können jedoch auch von Personen durchgeführt werden, die einem anderen oder gar keinem Glauben anhängen. Es gibt auch „atheistische Heilige". Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass ausgerechnet Dostojewski, ein tief im orthodoxen Glauben Verwurzelter, einige der beeindruckendsten Porträts der Weltliteratur von diesen HeilsbringerCharakteren verfasst hat. Um nur die drei bekanntesten zu nennen: Sonja, die Prostituierte, die in Schuld und Sühne den Mörder Raskolnikow rettet; Myschkin, der epileptische Außenseiter in Der Idiot, der in der zerfallenden russischen Oberschicht versucht, Gutes zu tun; und Aljoscha aus Die Brüder Karamasow, der junge Mönch, der seine im Elend gefangene Familie aus der tobendsten Lasterhaftigkeit erlösen will. Dostojewski fühlte sich scheinbar stets angezogen von den erniedrigendsten Lebensumständen, in die Menschen hineingeraten können - jedoch immer mit der Absicht aufzuzeigen, dass selbst diese bis zum Äußersten erniedrigte Personen von einer erlösenden Liebe erfasst werden können. Dostojewskis Charaktere stehen in einer langen Tradition „heiliger Narren" - heilige Charaktere, die eine extreme Demut kultivieren und durch dieses äußerst lächerliche Verhalten, das sie an den Tag legen, die Schwächen der Gesellschaft und der Kirche zutage bringen, stets mit dem Verweis auf Gott, der über alle religiösen und säkularen Bräuchen erhaben ist. Solche „Narren um Christi Willen" (der Ausdruck geht auf eine Äußerung des Apostels Paulus zurück) sind lebende Ikonen der Erlösung. Sonja, Myschkin und Aljoscha sind solche „heiligen Narren". Überflüssig zu sagen, dass die meisten von uns wohl kaum solche eine Berufung anstreben. Kann alles und kann jedem vergeben werden? Sonja und Myschkin würden diese Frage wahrscheinlich mit „ja" beantworten. Und vielleicht haben sie - schlussendlich - sogar Recht, eschatologisch betrachtet. Ihre Übungen im unterschiedslosen Vergeben wären insofern Vorzeichen auf eine letztendliche apokatastasis. Dem Gros der Menschheit, uns gewöhnlichen Menschen, die damit beschäftigt sind, sich in dieser unperfekten Welt so gut wie möglich einzurichten, ist so ein heiliges Verhalten nicht gegeben und es sollte uns auch nicht abverlangt werden. Wir müssen nach einer weniger strengen Moral leben. Ich möchte an dieser Stelle eine soziologische Beobachtung einfügen: Jede Gesellschaft, die nach dem Prinzip der unterschiedslosen Vergebung funktioniert und ipso facto ohne eine ausexerzierte moralische Urteilsmacht ist, würde sehr schnell
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im Chaos versinken - oder besser gesagt, in einem Hobbes'schen Dschungel, in dem die skrupellosesten Raubtiere diejenigen ausbeuten und zerstören, die schwächer oder mit frommen Skrupeln geschlagen sind. Zwei Lehrsätze Luthers scheinen mir eine adäquate Anerkennung dieser weltlichen Tatsachen in Worte zu fassen - die Zweireiche-Lehre, wonach die Welt in dem Äon, in dem sie sich zur Zeit befindet, nicht durch eine Herrschaft der Gnade regiert werden kann - und die Rechtfertigungslehre, wonach der Mensch, wenngleich er durch Gottes Gnade Vergebung erfahren hat, weiterhin Sünder und Gerechter gleichzeitig bleibt (simul iustus et peccator). Dem ist jedoch hinzuzufügen, dass beide Lehren dafür missbraucht werden können (und in der Vergangenheit wurden), die eine oder andere Unrechtsstruktur zu legitimieren. Damit sind sie in der Geschichte des religiösen Denkens aber leider kein Einzelfall. Apokatastasis - die feste Überzeugung, dass letztendlich alle gerettet werden und die gesamte Schöpfung in Gott vereint sein wird. Luther bemerkte einmal, dass, wer das nicht glaube, ein Narr sei, dass aber umgekehrt, wer dies predigt, ein Idiot ist. Man kann dieser Haltung getrost zustimmen, und zwar ohne die weitaus radikalere Annahme zu teilen, wonach die Menschen sich grundsätzlich daneben benehmen, so lange sie nicht mit dem Höllenfeuer bedroht werden. Nach Luther bedarf es also einer Vorstellung der Verdammnis, um im Angesicht des Bösen die Gerechtigkeit Gottes zu erfahren. Welches Ende einer solchen Verdammnis in ferner eschatologischer Zukunft bevorsteht, liegt jenseits unserer Vorstellungskraft. Nicht weniger als Verdammnis gebührt den Tätern des Holocaust. Niemand von uns, und ganz bestimmt nicht die Opfer, sollten gedrängt werden, ihnen zu vergeben. In dieser Welt kann die moralische Rechnung für den Holocaust niemals beglichen werden (weshalb die jüdischen Organisationen, die an den Verhandlungen zu den Reparationszahlungen beteiligt waren, gegenüber der deutschen Regierung Wert darauf legten, materielle Entschädigung zu fordern - eine moralische Forderung wäre unverhandelbar gewesen.) Kann man Hitler jemals vergeben? Kann Gottes Gnade derart siegreich sein? Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich vor langer Zeit mit einem protestantischen Theologen über diese Frage geführt habe (er hatte zuvor Luthers Satz von der universalen Erlösung zitiert). Er dachte einen Moment lang nach, lächelte und sagte dann: „Wir können es nicht wissen. Doch kann ich mir vorstellen, dass mehrere Zeitalter nach uns ein hässlicher, kleiner Hund im Himmel herumläuft und einer der Geretteten wird ihm lieblos über den Kopf streichen und sagen - „das hier war früher einmal Hitler".
Exkurs: Über christliche Moral Im Arabischen gibt es nur ein einziges Wort für „Religion" und „Gesetz" - din. Daher wird ein Sprecher des Arabischen, der sich nach der Religion eines anderen erkundigt, fragen: „Was ist dein Gesetz?" Die Gleichsetzung von Religion und Gesetz ist in Bezug auf den Islam und das Judentum natürlich sinnvoll, beide Religionen basieren in ihrer Tradition auf fein ausgearbeiteten göttlichen Gesetzessystemen. Es mag auch andere Fälle geben, in denen dies sinnvoll ist. Ist es in Bezug auf das Christentum sinnvoll? Ich möchte die Frage danach, ob das Christentum eine Art Gesetz bereitstellt, zunächst hintan stellen und stattdessen etwas allgemeiner fragen: Gibt es eine spezifisch christliche
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Ich wage einmal zu behaupten, die meisten christlichen Theologen und wohl auch die meisten gewöhnlichen christlichen Gläubigen hätten dies zu allen Zeiten mit einem nachdrücklichen „ja" beantwortet. Bei allem Respekt, den ich gegenüber den vergangenen Jahrhunderten hege, möchte ich meine Zweifel hinsichtlich einer solchen Bekräftigung äußern. Vor einigen Jahren stellte ich mir die folgende Frage: Stell dir vor, du wachtest eines Morgens auf und fasstest den Entschluss, von nun an Atheist zu sein - inwiefern würden sich deine Moralvorstellungen ändern? Ich beschloss, dass sich wohl kaum etwas ändern würde. Die einzige Veränderung, die mir in den Sinn kam, betraf die moralische Verurteilung des Selbstmords, doch selbst hier war ich mir nicht ganz sicher (schließlich würde ein gütiger Gott sehr wohl verstehen, wenn mir das Leben nicht länger erträglich ist). Seitdem ist einige Zeit vergangen und heute, viele Gedankensprünge später, würde ich meine Aussage von damals wohl ein wenig modifizieren. Der religiöse, gläubige Mensch erkennt seine moralischen Pflichten gegenüber Gott; für einen Atheisten hätten diese keine Bedeutung. Darüber hinaus gibt es moralische Verpflichtungen, die man gegenüber sich selbst hat beziehungsweise gegenüber anderen Lebewesen und Dingen, die sich innerhalb eines religiösen Weltbildes anders gestalten als innerhalb eines atheistischen. Die allermeisten moralischen Uberzeugungen beziehen sich jedoch auf zwischenmenschliche Beziehungen. Was diese betrifft, so wäre mein heutiger
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Standpunkt derselbe, den ich schon damals eingenommen habe. Nichts würde sich also verändern. Um nur zwei Uberzeugungen zu nennen, die ich leidenschaftlich vertrete: Erstens halte ich jede Form der rassistischen oder ethnischen Diskriminierung für moralisch verwerflich. Zweitens halte ich die Todesstrafe für verwerflich. Beide Überzeugungen gründen in einer tief in mir verankerten Wahrnehmung dessen, was Menschsein bedeutet - diese Wahrnehmung ist nicht an einen bestimmten religiösen Glauben gebunden. Vermutlich ließe sich dies sogar mit einer empirischen Untersuchung belegen. Zweifellos gibt es unter den Christen viele Rassisten und unter den Nichtreligiösen gibt es viele Antirassisten. Und zumindest in Amerika scheint es eine Besorgnis erregende Verbindung zwischen einem religiösen Glauben und der Unterstützung für die Todesstrafe zu geben. Als Soziologe erkenne ich an, dass meine Moralvorstellungen sich in einem kulturellen Kontext entwickelt haben, einer stark christlich geprägten Kultur. Diese soziologische Perspektive hat unter den höher Gebildeten weite Verbreitung gefunden und, wen wundert es, in vielen Fällen zu deutlich relativistisch geprägten Moralvorstellungen geführt. In bestimmten Kreisen ist offenbar die Toleranz die einzige noch geltende moralische Tugend, die in jedem Glauben beziehungsweise jeder Glaubenspraxis Platz findet. Nichtsdestotrotz kann auch innerhalb einer Kulturgemeinschaft, die sich weitgehend auf relativistische Moralvorstellung beruft, angesichts eines großen Übels die moralische Gewissheit erschüttert werden, um es einmal so auszudrücken. Was mich persönlich betrifft, so weiß ich wohl, dass meine Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen anders ausfallen würde, wenn ich als Adliger im mittelalterlichen Europa gelebt hätte - oder auch in der heutigen Zeit als Brahmin in einem traditionellen hinduistischen Dorf. Diese Erkenntnis würde in mir jedoch nur die Annahme stärken, dass meine eigene Moralvorstellung in dieser - wenn nicht in jeder - Hinsicht die überlegene ist. Dieses Gefühl der Überlegenheit als ethnozentrisch oder voreingenommen abzustempeln, führt am Thema vorbei. Entsprechend ist es auch kein Ausdruck von Ethnozentrismus, wenn ich sage, unsere modernen Erkenntnisse über die Vorgänge im physikalischen Universum sind anderen Sichtweisen aus anderen Zeiten und Ländern überlegen - denn ich tue dies ganz ungeachtet der unwiderlegbaren Tatsache, dass Einstein nicht im 1 3 . Jahrhundert geboren wurde und auch nicht in einer entlegenen Gegend in Indien. In einem anderen Zusammenhang habe ich bereits vom Holocaust als der „Ikone des Bösen" gesprochen. Als solche wird er von vielen Menschen wahrgenommen, die von dem Grauen abgestoßen und sich ihrer Verurteilung der Täter sehr sicher sind. Die Tatsache, dass einige wenige diese Ansicht nicht teilen - Neo-Nazis, Holocaust-Leugner, Antisemiten ver-
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schiedener Couleur - untergräbt keinesfalls die klare und sichere Wahrnehmung des Bösen, das in diesem Ereignis liegt. Und natürlich gibt es andere, weniger grauenvolle Akte des Bösen, die ebenfalls dazu führen, tief verankerte Moralvorstellungen zu erschüttern. Unter den Menschen, die eine solche moralische Gewissheit teilen, gibt es religiöse Gläubige und Nicht-Gläubige. In Frage gestellt ist damit die weit verbreitete These, nur die Religion - wenn nicht gar einzig eine bestimmte Religion - könne eine zuverlässige Grundlage für die M o r a l liefern. Konservative Christen bemühen sich, eine derartige Gewissheit in den Lehren der Kirche beziehungsweise durch eine buchstäbliche Auslegung der Bibel zu finden, während liberale Christen sich auf eine angeblich von Jesus verfasste Ethik berufen. Ich habe bereits dargelegt, dass die zahlreichen Methoden zur Erlangung einer angeblichen Gewissheit in meinen Augen zutiefst zweifelhaft sind. An dieser Stelle möchte ich nur darauf hinweisen, dass vieles von dem, was in der Erfahrungswelt unter dem Deckmantel des Christentums agiert, die Zusammenhänge von Religion und M o r a l auf massive Weise verfälscht. Natürlich hat es in der Geschichte einzelne Personen gegeben, die durch den christlichen Glauben in ihrer auf bewundernswerte Weise umgesetzten Moralvorstellung bestärkt wurden. Andererseits gibt es aber eine endlose Reihe moralisch höchst verwerflicher Handlungen, die von einzelnen Christen oder der christlichen Kirche verübt wurden und mit den Begriffen der christlichen Theologie legitimiert wurden. Ich fürchte, diese zweite Seite der Medaille ist möglicherweise sehr viel stärker ausgeprägt. Tatsächlich nachweisen lässt sich eine gewachsene Moralvorstellung, die ihren Ursprung - zumindest aber ihre Inspiration - vom christlichen Glauben genommen hat. Ein gutes Beispiel ist die geltende Meinung zur Sklaverei. Der Brief des Paulus an Philemon spiegelt als historisches Dokument die Haltung der frühen christlichen Gemeinde zur Sklaverei. Paulus drängt Philemon in dem Brief, er möge wohlwollend seinem Sklaven gegenüber sein, ihn sogar als Bruder in Christus betrachten. Aber Paulus bittet ihn nicht darum, den Sklaven zu befreien. Er sagt zudem an keiner Stelle, die Sklaverei an sich sei etwas Böses. Diese von Paulus vertretene Position (der des rabbinischen Judentums sehr ähnlich) nimmt sich im Vergleich zu der von den Griechen und Römern an den Tag gelegten Gefühllosigkeit gegenüber Sklaven relativ gut aus; einige Stoiker vertraten allerdings die gleiche Meinung. Die Einsicht, dass die Sklaverei, mit anderen Worten die Besitznahme eines Menschen durch einen anderen Menschen, etwas grundsätzlich Böses ist, unabhängig davon, wie wohlwollend der Besitzer sich verhält, ist erst über viele Jahrhunderte gereift. M a n muss sich nur ins Gedächtnis rufen, dass noch im 1 9 . Jahr-
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hundert die Mehrheit der Kirchenmitglieder vor dem Bürgerkrieg im Süden Amerikas die Sklaverei verteidigt haben, und zwar unter Berufung auf die Theologie. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei war wesentlich vom christlichen Glauben getrieben - unter den tatkräftigen Unterstützern dieser Bewegung waren aber auch einige, die den christlichen Glauben nicht teilten und dennoch von der Grausamkeit der Sklaverei überzeugt waren. Mit anderen Worten: Diese zuletzt genannte Gruppe teilte eine moralische Auffassung, ohne gleichzeitig einen religiösen Glauben zu teilen. Ich denke, das Gleiche lässt sich über viele achtbare moralische Bewegungen unserer Tage sagen - über den Widerstand gegen die Nazis und den Einsatz zur Rettung der Juden vor der Verfolgung, über die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten, über die Anti-Apartheidkämpfe in Südafrika, über den Widerstand gegen den Kommunismus in der ehemaligen Sowjetunion. Und ich möchte hinzufügen: über das Eintreten gegen die Todesstrafe. Die beiden bekanntesten Bücher, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Unmenschlichkeit der Todesstrafe anprangerten, wurden von Albert Camus und Arthur Koestler verfasst, beide erklärte Agnostiker. Diese Bücher haben starken Einfluss bei der Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich und Großbritannien gehabt - ein Verbot, das mittlerweile in der gesamten Europäischen Union normativ und verbindlich ist. (Ich möchte kurz anmerken, dass die Europäische Union den Vereinigten Staaten von Amerika in dieser Sache - wenn nicht überhaupt - um einiges voraus ist.) Gibt es ein spezifisch christliches din} Ich denke nicht. Von Paulus ist dieser Begriff bereits - indirekt - sehr deutlich zurückgewiesen worden, und zwar vermittels seiner Aussage, Christus habe die Gläubigen von der Last der jüdischen Gesetze befreit. In der Folgezeit war noch einmal eine heftige Aufwallung dieses Gedankens zu erleben: die protestantische Reformation, die sich gegen ein wiederhergestelltes din des katholischen Legalismus wandte. (Um Missverständnissen vorzubeugen möchte ich an dieser Stelle betonen, dass Paulus nicht mein bevorzugter Autor des Neuen Testaments ist, und dass ich zudem im Hinblick auf andere Aspekte der Reformation große Vorbehalte hege.) Jüdische Denker haben gegen Paulus und mitunter gegen das gesamte Christentum den Vorwurf des „Antinomianismus" erhoben - eine utopische Rebellion gegen jede Art von Gesetz. Ich halte diesen Vorwurf für wenig überzeugend. Wir finden in den Schriften von Paulus lange Auflistungen von Tugenden, die den Christen anempfohlen werden, und verschiedenen Lastern, von denen Abstand zu nehmen ist. Diese Aufzählungen konstituieren jedoch kein neues Gesetzessystem.
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Ich möchte zu meiner Hauptthese dieses Exkurses zurückkehren: Moralische Urteile basieren auf Wahrnehmungen. Anders ausgedrückt: Moralität ist im Wesentlichen kognitiv. Aus diesen Wahrnehmungen lassen sich natürlich alle möglichen Gebote, Normvorschriften und Verbote ableiten. Die Plausibilität einer Norm hängt jedoch immer von den jeweiligen kognitiven Erfahrungen ab. Diese Einsicht verdanke ich dem protestantischen Theologen Frederick Neumann. In einer Diskussion über das Gewissen, merkte er einmal an, es liege ein Missverständnis in der Annahme, unser Gewissen richte sich im Imperativ-Modus an uns - „tu dies!" beziehungsweise „tu das nicht!". Neumann zufolge kommuniziert es sozusagen im Modus des Indikativ mit uns - „sieh dir das an". Nach dem in der hebräischen Bibel dargelegten ersten moralischen Verbrechen der Menschheitsgeschichte, dem Mord an Abel durch seinen Bruder Kain, spricht Gott auf diese Weise zu Kain. Gott sagte nicht: „Du hast gegen das Gebot verstoßen." Stattdessen sagte Gott: „Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit von der Erde zu mir hinauf." Mit anderen Worten: „Schau hin - sieh dir das an." Ich möchte aber noch einmal auf das Beispiel der Sklaverei zurückkommen. Harriet Beecher Stowes Roman Onkel Toms Hütte leistete seiner Zeit einen großen Beitrag zu einem Wandel der öffentlichen Meinung im amerikanischen Norden, was die Abschaffung der Sklaverei betrifft. Es lag Stowe jedoch fern, gegen die Sklaverei zu predigen. Sie zeigte nur auf die zugrunde liegende Grausamkeit: „Schau hin!" Und eine weit verbreitete Reaktion lautete „Das darf man nicht länger zulassen!" In einem anderen Roman, der zwar ein sehr viel geringeres politisches Gewicht besitzt, dem aber ein umso größerer literarischer Ruhm zuteil wurde - die Rede ist von Mark Twains Huckleberry Finn - wird eine ähnliche Reaktion auf die Grausamkeit der Sklaverei vorgestellt. Huckleberry Finn ist keineswegs von irgendeiner Propaganda zur Abschaffung der Sklaverei angestachelt, als er beschließt, den entlaufenen Sklaven nicht zurückzubringen. Vielmehr fasst er den Beschluss, weil er in dem Sklaven seinen Mitmenschen erkennt. Mit anderen Worten: Der Einstellungswandel folgte nicht einem normativen Gebot, sondern geschah aufgrund einer veränderten Wahrnehmung, eines kognitiven Wandels. Ich tendiere zu der Annahme, dass ähnliche Phänomene auch bei anderen Gelegenheiten zu beobachten sind, die man als moralischen Fortschritt bezeichnen könnte, einschließlich der bereits erwähnten: die Unmenschlichkeit von Rassismus und Todesstrafe. Dies ist jedoch keine spezifisch christliche Erkenntnis. Auf die eine oder andere Weise wird sie auch von den Vertretern des Naturrechts verfochten (eine in meinen Augen zweifelhafte Denkrichtung). So schrieb beispielsweise der chinesische Philosoph Menzius, selbst der hart gesot-
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tenste Verbrecher fütyle sich, wenn er ein kleines Kind am Rande eines Sees balancieren sieht, dazu bewogen, dieses Kind gegebenenfalls vor dem Ertrinken zu retten. Der Verbrecher betrachtet also die Szene und der Akt des Zuschauens löst in ihm einen moralischen Impuls aus. (Menzius war Realist genug, um anzumerken, der Verbrecher sei durchaus auch in der Lage, diesem Impuls zu entsagen. Ich weiß nicht, ob Menzius darüber hinaus mit dem Gedanken gespielt hat, der Verbrecher könne gleichsam Gefallen am Anblick eines ertrinkenden Kindes finden. Aber darum geht es an dieser Stelle nicht.) Diese Erkenntnis ist auf jeden Fall hilfreich in Bezug auf den christlichen Glauben. Dieser Glaube führt zu einem Wandel in der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wird fortan als eine Arena wahrgenommen, in der Gott den kosmischen Prozess der Erlösung vollzieht. In seiner Rolle als Urheber dieses Prozesses wird Gott zudem als ein liebender Gott wahrgenommen. Dies ist ein kognitiver Wandel, der Auswirkungen auf die Moral hat: Es gibt nun eine andere ontologische Verortung aller moralischen Urteile. Der empirische Gehalt jedes dieser Urteile mag zwar gleich geblieben sein - für die Gleichheit der Menschen, gegen die Sklaverei und so weiter und so fort. Doch moralisch achtbaren Handlungen wird fortan eine transzendente Dimension zugeschrieben, jenseits des empirischen Umfelds, in dem sie ausgetragen werden - als Beitrag zur „Wiederherstellung der Welt", Gottes Werk der Erlösung. Wenn man sich auf die Suche nach den historischen Wurzeln und der Entwicklung unserer Moralvorstellungen macht, so stellt man natürlich fest, dass das Christentum darin eine einflussreiche Rolle gespielt hat. Es gilt jedoch einen häufig anzutreffenden Irrtum zu vermeiden. Der Irrtum liegt darin, dass die historischen Wurzeln einer bestimmten Auffassung von Wirklichkeit diese Definition keinesfalls zwingend machen, ebenso wenig sind sie in der Lage, sie zu widerlegen. Anders ausgedrückt: Man sollte die Epistemologie nicht mit einer Dankbarkeit verwechseln, die man gegenüber einem historischen Prozess hat. Ich möchte dies mit einer alltäglichen Anekdote illustrieren. Vor einigen Jahren war ich in London und suchte einen Buchladen in Bloomsbury, von dem mir jemand erzählt hatte; es handelte sich um einen Buchladen, der sich auf Publikationen aus Indien spezialisiert hatte und ich war zu jener Zeit auf der Suche nach einem bestimmten Roman eines indischen Autors in englischer Übersetzung. Während meiner Expedition landete ich plötzlich vor dem alten Gebäude des Britischen Museums (ein prominenter Ort, unter anderem, weil dort der Leseraum ist, in dem Marx seine Theorien entwickelt hat). Ich hatte vorher nicht gewusst, wo sich das Museum befindet und freute mich über meine Entdeckung. In der Folgezeit habe ich das Museum noch mehrere Male besucht, es gab jedoch für mich keinen Anlass, die
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ersten Wege und Kurven, die ich während meiner Suche nach dem indischen Buchladen genommen hatte, noch einmal abzuschreiten. Der historische Ursprung meiner Entdeckung des Britischen Museums war also für meine späteren Besuche nicht weiter relevant: Ich wusste nun, w o es sich befand. Es gibt eine rabbinische Redewendung (Jesus hat sie in manchen seiner Aussagen aufgegriffen), wonach die wesentliche Bedeutung der Tora ausgesprochen werden kann, während man auf einem Fuß balanciert sie lautet: Du sollst Gott über alles andere lieben und Deinen Nächsten wie dich selbst. Abgesehen davon, dass diese beiden Verfügungen für die meisten von uns nicht vollständig realisierbar sind, geht es hier im Kern darum, dass die Liebe zu anderen Menschen verbunden ist mit der Liebe zu Gott. Das bedeutet, dass der Glaube an Gott einen transzendente Sinn bereit stellt, eine ontologische Grundlage für alle moralischen Urteile und Handlungen. Ich habe in den vorhergehenden Kapiteln von „Ikonen des Guten" gesprochen. Einige christliche Traditionen würden an dieser Stelle von „Heiligen" sprechen. Das Mönchtum war seit jeher eine Institution, in der sich diejenigen versammeln, die einen solchen Status anstreben, wie unperfekt auch immer. Die Protestanten haben diese Institution wegen ihrer „Doppelmoral" kritisiert, weil Mönche darin auf eine höhere Stufe gestellt werden als gewöhnliche Christen. Diese Kritik hat durchaus ihre Berechtigung. Dennoch denke ich, dass die vollständige Ablehnung des Mönchtums in der Reformation ein Fehler war. Die meisten von uns sind keine Aljoschas, aber manche von uns mögen sich berufen fühlen, diesen Weg zumindest versuchsweise zu gehen. Ein solches Leben ist nicht automatisch als höherwertig zu betrachten gegenüber dem Leben eines gewöhnlichen Christen, der voll und ganz in der Welt lebt und sich mit seiner Arbeit auch die Hände schmutzig macht. Aber es kann im Leben von großem Wert sein, der Berufung zu folgen. Die meisten von uns leben mitten in der Welt und unsere Hände werden unweigerlich schmutzig. Die Lehre Luthers beinhaltet diese Erkenntnis in dem Satz, jeder Christ (wahrscheinlich selbst derjenige, der nach Heiligkeit strebt) ist stets Sünder und Gerechter gleichzeitig - simul iustus et peccator. Diese Sichtweise richtet sich sowohl gegen den Legalismus als auch gegen einen Utopismus, sie ist realistisch ohne relativistisch zu sein. M a x Webers bekannte Unterscheidung zwischen einer Gesinnungsethik und einer Verantwortungsethik, die er in seinem Essay Politik als Beruf entwarf (ursprünglich eine Rede, die er 1 9 1 9 vor Studierenden der Universität München gehalten hat, seitdem mehrfach in deutscher und englischer Sprache veröffentlicht), ist eine Art säkulare Version der lutherischen Auffassung von Moral. Die Gesinnungsethik bezieht sich
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auf das Streben des Einzelnen nach moralischer Reinheit, ungeachtet der Folgen seiner Handlung. In Webers Augen war Tolstoi ein Paradebeispiel dieser Ethik. Weber brachte der Gesinnungsethik zunächst großen Respekt entgegen, verwarf sie aber schließlich. Die Verantwortungsethik hingegen konzentriert sich auf die anzunehmenden Folgen des eigenen Handelns. Die Folgen bestimmen demnach das Handeln, selbst wenn dies den Akteur zu moralisch zweifelhaften Taten treibt. Zustimmend äußert Weber sich daher auch zu der anschließend von ihm zitierten Aussage Machiavellis, wonach ein Herrscher zum Wohle seiner Stadt handeln muss, selbst wenn er damit den ewigen Frieden seiner Seele gefährdet. An dieser Stelle möchte ich an eine weitere Erkenntnis Webers erinnern, nämlich die, dass die meisten unserer Handlungen unbeabsichtigte Konsequenzen haben. So verfolgen wir möglicherweise gute Ziele und wenden zur Erreichung derselben gute Mittel an, und trotzdem können die Folgen ein unerträgliches Übel sein. Weber, der erklärte Agnostiker, nahm also angesichts des beklagenswerten Zustande der conditio humana den Standpunkt des Stoikers ein. Was den Glauben betrifft, so kann man noch einen Schritt weiter gehen: Wir, die wir all das wissen, tun unser Bestes, um einen Beitrag zu dieser „Wiederherstellung der Welt" zu leisten - und sind abhängig davon, dass Gott uns vergibt, wenn das Unausweichliche passiert, wenn selbst unsere besten Bemühungen ins moralisch Verwerfliche umschlagen.
Kapitel Zwölf „... Auferstehung der Toten und das ewige Leben ..." Die schwerwiegendste Frage, die sich der Mensch stellen kann, ist die, ob mit dem Tod alles vorbei ist, das eigene Leben und das Leben überhaupt. Mit Sicherheit können wir sagen, dass wir und alle, die uns etwas bedeuten, eines Tages sterben werden. Wenn wir der Wissenschaft Glauben schenken, dann können wir darüber hinaus ziemlich sicher davon ausgehen, dass auch die Erde zugrunde gehen wird, sei es durch Eis oder aber durch Feuer. Die Wissenschaft legt uns zudem nahe, das gesamte Universum unterliege einem Gesetz der Entropie, weshalb auch diesem eine Art kosmischer Tod bevorsteht. Vorerst beschränken wir uns aber darauf, was wir über den Tod ziemlich sicher wissen: Alle Menschen müssen sterben. In einem der vorhergegangenen Kapitel habe ich den Tod eine inakzeptable Tatsache genannt. Ich möchte an dieser Stelle ein für allemal den Verdacht ausräumen, es handele sich bei dieser Feststellung um eine „eigennützige". Selbstverständlich möchte ich nicht sterben. Und indem ich meine stoischen Kräfte trainiere, gelingt es mir möglicherweise, die Aussicht auf meinen Tod mit einem gewissen Gleichmut zu ertragen. Was ich mich hingegen weigere zu akzeptieren, ist der Tod des Nachbarkindes, und daran ist nichts „eigennütziges". Der Tod ist nicht „natürlich", höchstens in dem ganz banalen Sinne, dass er Teil unserer biologischen Konstitution ist. Der Tod ist ein Skandal. Es ist ein Skandal, dass der unschuldige Glaube dieses Kindes an das Gute in der Welt betrogen wird, dass das Lachen dieses Kindes, das für kurze Momente den Himmel erhellt hat, in Schmerz enden und für immer aus der Wirklichkeit verschwinden wird. Ich weigere mich, das zu akzeptieren, diesen Skandal wortlos hinzunehmen. Diese Weigerung fungiert gleichzeitig als Nagelprobe für jede religiöse Botschaft: Billigt sie meine Weigerungshaltung oder ist sie dazu nicht in der Lage? Und: Hält sie ein Wort des Trostes für meinen trauernden Nachbarn bereit? Ganz am Anfang dieses Buches habe ich die Behauptung aufgestellt, der religiöse Glaube bekräftige den Menschen darin, den Sinn des Lebens letzten Endes begreifen zu können. Zu Recht oder zu Unrecht habe ich diese Bekräftigung als „interessant" bezeichnet. Im Folgenden möchte ich eine Reihe von Äußerungen über Religion auflisten, die nicht „interes-
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sant" sind. Anders ausgedrückt: Wenn diese „uninteressanten" Äußerungen korrekte Beschreibungen dessen liefern, was Religion ausmacht, dann können wir das Thema getrost vergessen. Religion ist angeblich notwendig, damit wir eine Grundlage für unsere Moral haben, zum Beispiel die angeblich von Jesus entworfene Ethik. Religion ist nicht notwendig für die Moral, und die Ethiklehre Jesu (sofern diese überhaupt von dem zu unterscheiden ist, was zu jener Zeit im Judentum gelehrt wurde) kann weder dem Individuum noch der Gesellschaft als brauchbare Anleitung zum Leben dienen. Nein danke! Religion stellt eine kraftspendende Symbolik zur Bewältigung der Mühsal des menschlichen Daseins bereit. Das tut sie sicher, doch es gibt andere Quellen für solche Symbole. Nein danke! Religion verlangt Unterwerfung unter einen göttlichen Willen, unabhängig davon, welchen Sinn der Tod meines Nachbarkindes haben mag. Ja, Religion impliziert die Unterwerfung unter den göttlichen Willen, doch nur, wenn Gott weder als Urheber noch als passiver Aufseher über den Tod des Kindes wahrgenommen wird. Anders ausgedrückt: Ich unterwerfe mich einem Gott, der den Tod von Kindern nicht will. Jede andere religiöse Unterwerfung ist eine indirekte Leugnung der Güte Gottes und des Guten der Schöpfung. Nein danke! Und schließlich: Religion bietet uns Trost, indem sie sagt, dass wir alle, einschließlich der Kinder, am Ende in eine Art kosmischen Ozean des Göttlichen aufgenommen werden. Ich weigere mich, diesen Trost anzunehmen. Meine Sorge gilt diesem Kind - einzigartig, unersetzlich, unendlich wertvoll. Das Kind in einer letzten Wirklichkeit aufgehen zu sehen, in der jede Individualität abhanden gekommen und in eine andere Form von Tod übergegangen sein wird. Nein danke! Im Gegensatz zu all diesen höchst „uninteressanten" religiösen Vorstellungen bekräftigt der christliche Glaube den einzigartigen Wert und das ewige Schicksal dieses Kindes, mithin aller Kinder und der gesamten Menschheit. Am dichtesten zusammengefasst ist diese Bekräftigung in dem Ausruf „Christus ist auferstanden!" Das ist der Grund, weshalb die Auferstehung seit frühester Zeit als Schlüsselereignis im christlichen Glauben gilt und warum sie nach wie vor herausragende Bedeutung besitzt, um nachfolgenden Generationen die Möglichkeit des Glaubens zu gewährleisten. Paulus stellte zu Recht fest: „Gibt es keine Auferstehung der Toten, so ist auch Christus nicht auferstanden. Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich" (1. Korinther 1 5 , 1 3 - 1 4 ) . Wenn dem so ist, dann rufen wir Paulus - oder besser: Saulus - zu: geh zurück nach Tarsus, verfolge eine ruhige Karriere als Zeltmacher und pflege deinen Rosengarten!
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Kant zufolge lautet eine Grundfrage der Philosophie „Was dürfen wir hoffen?" Was die Philosophie betrifft, wage ich keine Einschätzung zu geben. Mit umso größerer Sicherheit aber stelle ich fest: Es ist die Grundfrage für die Religion. Man kann auch zwei Fragen daraus machen: Welche Hoffnung gibt es für den Einzelnen über den Tod hinaus? Welche Hoffnung gibt es für den Kosmos über die Entropie hinaus? Jay Robison (in seinem instruktiven Buch Life after Death?) beantwortet beide Fragen in einem Zug mit dem Begriff der „persönlichen Eschatologie". Wir behandeln sie hier lieber nacheinander. Der Glaube an die Auferstehung Jesu Christi in Jerusalem und an die Auferstehung der gesamten Menschheit in der eschatologischen Zukunft ist ein zentrales Element des christlichen Glaubens. Das Christentum unterscheidet sich darin von vielen anderen Traditionen. Vor einigen Jahren kam ich einmal in den Genuss eines höchst kenntnisreichen Vortrags über den religiösen Synkretismus in Zentralasien vor der muslimischen Eroberung. Entlang der alten Seidenstraße hatten sich zu jener Zeit alle möglichen Religionen etabliert, gelegentlich fremde Elemente aus anderen Traditionen in ihre eigene Tradition aufnehmend - Zoroastrismus, Hinduismus, Buddhismus, Christentum, Manichäismus, Konfuzianismus sowie Überbleibsel der hellenistischen Religion. Von dem Vortrag ist mir zweierlei besonders im Gedächtnis geblieben: Der Redner zeigte uns Dias, um den in dieser Region weit verbreiteten Synkretismus zu illustrieren. Ein Dia zeigte Jesus - mit chinesischen Gesichtszügen, im Gewand eines konfuzianischen Gelehrten, die rechte Hand wie zum christlichen Segen erhoben, die linke Hand wie zu einer Mitgefühl signalisierenden Geste Buddhas ausgestreckt. In welche Tradition war dieser Jesus einzuordnen? Der Redner merkte an, es gebe darüber hinaus viele Schriften, die man ebenso wenig einordnen könne. So könne ein Text zum Beispiel wie ein manichäisches Manifest beginnen, später auf den Konfuzianismus Bezug nehmen, um dann mit offensichtlich buddhistischen Vorstellungen zu enden. Dem Redner zufolge gab es nur ein einziges Kriterium, wonach sich ein Text als eindeutig christlicher auszeichnete: eine bekräftigende Erwähnung der Auferstehung. (Im Zoroastrismus gab es ebenfalls einen Glauben an die Auferstehung - offenbar war dies aber aus den Texten, die der Redner gesichtet hatte, nicht hervorgegangen.) In der religiösen Geschichte Israels hat es eine frühe Periode gegeben, die ohne eine Vorahnung auf ein Leben nach dem Tod auskommen musste, abgesehen von der kaum erstrebenswerten (und wahrscheinlich nicht ewig andauernden) Schattenwelt des Scheol (deutlich zu unterscheiden
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von dem ebenso wenig attraktiven Hades der griechisch-römischen Religion). Es gibt hierfür zahlreiche Belege in mehreren Texten der hebräischen Bibel, so viele, dass es bis heute jüdische Denker gibt, die daran festhalten, das Judentum bedürfe keiner Bekräftigung auf ein Leben nach dem Tod. Alle Hoffnung (in der Gegenwart sowie eschatologisch) war dieser religiösen Weltsicht zufolge nicht auf den Einzelnen bezogen, sondern auf die Gemeinschaft des Volkes Israel. Nach und nach entwickelte sich aber offenbar eine positivere Erwartungshaltung. Möglicherweise haben hier Einflüsse des Zoroastrismus gewirkt. Von einem wie auch immer gearteten Glauben an die Auferstehung ist auch Ezechiels berühmte Vision der toten Gebeine, die wieder lebendig werden, geprägt. Doch dieser Glaube erlangte keineswegs allgemeine Gültigkeit. Zu Jesu Lebzeiten war die jüdische Gemeinde über dieses Thema in zwei Lager gespalten - die Pharisäer glaubten fest an eine Auferstehung der Toten, die Sadduzäer leugneten sie. In den Qumran-Texten (wahrscheinlich von einer jüdischen Sekte vor Jesu Lebzeiten verfasst) wird ein so genannter Lehrer der Gerechtigkeit erwähnt, der sterben will, um aufzuerstehen. Doch dies bezog sich auf ein in ferner Zukunft liegendes Ereignis. Die Christen hielten an ihrem Glauben an die Auferstehung fest, die bereits stattgefunden hatte - diese Auferstehung hatte ein neues Zeitalter eingeläutet, an dessen Ende die gesamte Menschheit wiederauferstehen und das Jüngste Gericht die Erlösten von den Verdammten scheiden würde in der Tat eine sehr andere Vorstellung. Im Christentum kursierten von Anfang an lebhafte Darstellungen einer zu erwartenden Apokalypse - mit anderen Worten, die Erwartung eines historischen und kosmischen Kataklysmus, welcher der parousia vorausgeht, der „zweiten Ankunft" Christi, durch den „ein neuer Himmel und eine neue Erde" entstehen. Der Satz stammt natürlich aus dem Buch der Offenbarung, dem komprimiertesten Text zur Apokalypse im Neuen Testament. Geschrieben wurde er vermutlich während einer Christenverfolgung durch die römischen Behörden. Seit jeher sind apokalyptische Fantasien immer dann besonders fruchtbar gewesen, wenn ein akuter Gefahrenzustand herrschte oder andere Plagen das alltägliche Leben erschwerten, wie unschwer nachzuvollziehen ist. Die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod ist in einer solchen Situation für den Einzelnen auf eine sehr jüdische Weise - an die kollektive Hoffnung der Kirche und der gesamten Menschheit geknüpft. Fast ebenso alt wie diese Vorstellung sind die Einflüsse eines hellenistischen Denkens bezüglich der Seele und ihrer mutmaßlichen Unsterblichkeit. Die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod konzentriert sich dabei fast ausschließlich auf den Einzelnen. Den wohl treffendsten Ausdruck finden diese Ideen in Piatons Phaidon. Thematisiert wird die Vergänglichkeit des Körpers und der gesamten
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physikalischen Welt, eine Vorstellung, die mit dem biblischen Schöpfungsglauben keinesfalls vereinbar ist. In einem griechischen Wortspiel ist dieser Gedanke prägnant eingefangen - soma (Körper)/se??w (Gefängnis): Die Seele ist im Körper gefangen, und Unsterblichkeit bedeutet, dass sie aus dieser Gefangenschaft befreit wird. Es wäre wohl durchaus angemessen zu sagen, in der christlichen Vorstellungswelt herrscht hinsichtlich der Begriffe Auferstehung und Unsterblichkeit bis heute eine gewisse Unstimmigkeit. Stehen diese beiden Vorstellungen nun im Widerspruch zueinander oder sind sie miteinander vereinbar? Oscar Cullmann - ein Lutheraner, der in Straßburg, Basel und Paris Theologie gelehrt und höchst eloquent auf französisch, deutsch und englisch geschrieben hat - steht für eine eindeutige, sehr einflussreiche Position, wonach es in der Tat einen Widerspruch gibt. 1 9 5 6 veröffentlichte er in einer Festschrift für Karl Barth einen Essay zu diesem Thema (den T e x t ausgerechnet an diesem Ort zu veröffentlichen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie - immerhin wird Barth darin permanent mit Kritik bedacht). Der Essay erschien später in Form eines kleinen Buches (Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung der Toten?) und löste eine heftige Kontroverse aus (was den Autor offenbar überraschte und verärgerte). Im Mittelpunkt von Cullmanns Abhandlung steht ein Vergleich zwischen dem T o d Sokrates' und dem T o d Jesu. Während Sokrates den T o d als Freund willkommen heißt, fürchtet Jesus seinen Tod wie einen Feind. In der Vorahnung auf den T o d sind beide Männer umringt von ihren Anhängern - doch was für ein Kontrast! Sokrates diskutiert Piaton zufolge gelassen mit seinen Schülern einige philosophische Fragestellungen, dann greift er in aller Ruhe zu dem tödlichen Schierlingsbecher. Jesus hingegen befindet sich zitternd und weinend vor Todesangst im Garten Gethsemane. Er sucht Trost in der Gemeinschaft seiner Jünger - die zu seinem Entsetzen schlafen - und betet zu Gott, dass dieser Kelch an ihm vorüber gehen möge. Der Schrecken, den Jesus im Angesicht des Todes erfährt, kulminiert in einem Ausruf, den der Evangelist bezeichnenderweise auf aramäisch in den griechischen Text eingefügt hat: V o m Kreuz herab ruft Jesus „Eli, eli, lama asabtani?", „ M e i n Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Höchstwahrscheinlich haben die Überlieferer dieser Vorkommnisse nur mit einem unguten Gefühl von dieser Schwäche Jesu berichtet - vielleicht wurde dieser Bericht gar von einigen frühen Christen angezweifelt oder bestritten und die aramäische Schreibweise sollte belegen, dass Jesus diese Worte tatsächlich gesprochen hatte. N a c h Cullmann behandelt das Christentum gemäß der hebräischen Bibel - und im Gegensatz zu dem Denken Piatons und der Griechen insgesamt - den T o d mit der allergrößten Ernsthaftigkeit und ohne vor des-
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sen Grauen zurückzuschrecken. Dies steht im Einklang mit der christlichen Auffassung vom menschlichen Körper als Teil der göttlichen Schöpfung, der von Gott zum ewigen Leben bestimmt ist. Die Auferstehung ist, anders als die Unsterblichkeit, kein vom Menschen aus eigener Kraft herbeigeführter Akt, sondern ein Akt Gottes, der Seine Schöpfung erneuert. (In diesem Zusammenhang diskutiert Cullmann den Gebrauch des Begriffes sarx, Fleisch, in den Schriften des Paulus: Paulus beziehe diesen Begriff nicht auf den menschlichen Körper als solchen, soma, sondern auf die Vergänglichkeit des Körpers durch Sünde und Tod. Und, nicht zu vergessen, Paulus nennt den Tod den „letzten Feind".) In jedem Fall steht diese Auffassung zum Tod im diametralen Gegensatz zu der von Sokrates vertretenen - mithin im Kontrast zur Auffassung all jener, die den Tod als „natürlich" akzeptieren oder sogar als Freund empfangen. Mit Cullmanns eigenen Worten: „Nur wer mit den ersten Christen das Grauen des Todes erfaßt, den Tod als Tod ernst nimmt, kann den Osterjubel der Urgemeinde begreifen und verstehen, dass das ganze Leben und Denken der ersten Christen durch die Auferstehung beherrscht ist. Glaube an die Unsterblichkeit ist nicht Glaube an ein alles umwälzendes Geschehen. Un-sterblichkeit ist ja nur eine negative Aussage: die Seele stirbt nicht (sie lebt einfach weiter). Auferstehung ist eine positive Aussage: der ganze Mensch, der wirklich gestorben ist, wird durch einen neuen Schöpfungsakt Gottes zum Leben gerufen. Es geschieht etwas. Ein Schöpfungswunder! Denn vorher ist auch etwas geschehen, etwas Furchtbares: von Gott geschaffenes Leben ist zerstört worden." (ebd., S.30) Dies ist ein durchaus überzeugender Gedankengang. Zweifellos haben wir es hier mit widerstreitenden Positionen zu tun. Ob dieser "Widerstreit jedoch so heftig ist, dass er eine Unvereinbarkeit produziert, bleibt offen. Andere Passagen in Cullmanns Essay sind weniger überzeugend, wenngleich auch diesen offenbar eine gründliche Exegese des Neuen Testaments vorhergegangen ist - darunter die Vorstellung, der Tod sei der „Lohn der Sünde". Dies geht natürlich auf den „Sündenfall" durch Adam und Eva zurück, von dem im ersten Buch der hebräischen Bibel berichtet wird, und der mit besonderer Inbrunst von Paulus verkündet wird. Dieser Aspekt wurde hier bereits im Kontext des christlichen Dogmas der „Erbsünde" diskutiert. Ich habe dort bemerkt, die paulinische Darstellung sei nicht zuletzt deshalb höchst fragwürdig, weil darin der Tod dem menschlichen Leben auf Erden vorausgeht - ungeachtet der Jahrtausende, während derer tierisches Leben auf der Welt ein leidvolles Leben geführt haben - , aber vor allem deshalb, weil darin implizit eine
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Vorstellung des Göttlichen enthalten ist, die sich ganz erheblich unterscheidet von der für den christlichen Glauben grundlegenden und von Jesus vertretenen Auffassung eines liebenden Gottes, eines „Vaters". Noch einmal möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass ich in diesem Punkt der wesentlich freundlicheren Sichtweise der christlichen Ostkirche den Vorzug gebe. Es gibt einen noch tieferen Fall, von dem nicht nur der Mensch, sondern der gesamte Kosmos betroffen ist, der vorübergehend vom „Feind" regiert wird. Die Sünde und der Tod sind Resultate (der „Lohn", wenn man so will) dieser grundsätzlichen Fehlerhaftigkeit, welche die Schöpfung heimgesucht hat. Weder die Menschheit als solche noch die Menschen im Einzelnen können für einen Zustand schuldig gesprochen werden, den sie nicht verursacht haben. Selbst wenn man Cullmanns Ansicht bedingungslos zustimmt, bleiben einige drängende Fragen unbeantwortet. Zum Beispiel die Frage nach der so genannten „Zwischenzeit": Was geschieht mit dem Individuum in der Zeit zwischen seinem Tod und der Auferstehung? Erfährt man diese, wie vielfach (unter anderem von Barth) angenommen, unmittelbar im Moment des Todes? Oder gibt es eine Zwischenzeit des „Wartens"? Cullmann vertritt die Ansicht, die aus der Welt Geschiedenen seien nach wie vor in der Zeit und „warteten" tatsächlich auf ihre Auferstehung, wie es in manchen Texten des Neuen Testaments geschrieben steht (womöglich „schlafen" sie auch - was auch immer damit gemeint ist). Daraus ergibt sich die ganz allgemeine Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit: Ist die Ewigkeit gleichzusetzen mit endloser Zeit oder ist es ein Zustand, in dem die Zeit durch etwas anderes abgelöst wird? Eine faszinierende Frage - für Philosophen wie Theologen gleichermaßen. Ich weiß nicht, wie wir an die intellektuellen Möglichkeiten gelangen können, um diese zu beantworten. Offen bleibt zudem, inwiefern von einer Autorität des Neuen Testaments zu reden ist und wie die Natur des Menschen in philosophischen Begriffen zu fassen ist. Cullmann hat wahrscheinlich Recht, wenn er sagt, die Bibel betrachte den Menschen als eine Einheit von Leib und Seele im Leben, im Tod und bei der Auferstehung. Diese Sichtweise setzt sich von der hebräischen Bibel bis zum Neuen Testament fort. Müssen wir jedoch diese Annahme für uns selbst als verbindlich betrachten? Ich denke nicht. Schließlich gibt es viele andere Elemente in der biblischen Anthropologie und Kosmologie, die wir freimütig unberücksichtigt lassen. Nach wie vor bin ich der Meinung, wir sollten hier wie überall in der traditionellen Überlieferung nur darauf schauen, was ich zuvor als Nexus zwischen der Tradition und unserer eigenen Wahrnehmung von Wirklichkeit beschrieben habe. Ein solches Vorgehen verlässt sich nicht einfach auf die Autorität der biblischen Texte.
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Darüber hinaus hat Cullmann wahrscheinlich auch Recht, wenn er sagt, die Sichtweise der Bibel auf den Menschen als Einheit von Leib und Seele sei durch hellenistische Traditionen beeinflusst worden. Was aber, wenn die Griechen Erkenntnisse hatten, die sich zwar nicht in der Bibel wiederfinden, die aber dennoch mit dem biblischen Glauben im Einklang stehen? Katholische Denker haben sich dieser Möglichkeit gegenüber wesentlich offener gezeigt als protestantische. So spricht zum Beispiel Karl Rahner (in seinem Buch Zur Theologie des Todes) vom Tod als einer „Trennung von Leib und Seele", womit er einräumt, die Seele könne möglicherweise ohne den Leib existieren. Wenn man einen solchen eher liberalen Standpunkt in Bezug auf die buchstäblichen Aussagen in den biblischen Texten einnimmt, dann findet man gute philosophische Gründe, um Cullmanns Position zu widersprechen. Max Scheler, einer der interessantesten modernen Philosophen, die sich mit der Natur des Menschen beschäftigt haben, machte eine höchst plausible Beobachtung: Paradoxerweise ist festzustellen, dass der Mensch sowohl Körper ist als auch einen Körper hat. Einerseits bin ich daher als das, was ich bin, vollkommen abhängig von meinem Körper; wenn mein Körper vergeht, vergehe auch ich. Die medizinische Wissenschaft lieferte zu Schelers Lebzeiten hierfür unzählige Belege (seine Schriften zur philosophischen Anthropologie wurden 1927 veröffentlicht); neuere Erkenntnisse der Medizin, insbesondere der Neurologie und der Genetik, haben diese Auffassung nur bekräftigt. Andererseits lässt meine eigene Erfahrung mit mir selbst eine vollständige Identifikation mit meinem Körper nicht zu. Diese Erfahrung ist insbesondere deutlich im Falle einer schweren Krankheit oder einer Behinderung: Mein Körper ist stark beeinträchtigt, aber ich selbst bin trotz dieser Beeinträchtigung in der Lage, die Integrität meines Selbst festzustellen. Ich denke, ich bin daher in der Lage zu sagen: Ich bin nicht nur mein Körper. Oder, wie Scheler noch nicht hätte sagen können: Meine DNA genügt nicht, um meine Person vollständig zu beschreiben. Mit anderen Worten: Diese Griechen hatten vielleicht Recht! Um einen liberaleren Ansatz vorzustellen, möchte ich abermals auf John Hick verweisen, den britischen protestantischen Theologen, dem wir in diesem Buch an anderer Stelle bereits begegnet sind. Hick hat so ziemlich über alles geschrieben; unter anderem hat er aber auch ein Buch verfasst - Death and Eternal Life - , das für unsere Zwecke sehr brauchbare Erkenntnisse liefert. Es ist ein sehr umfangreiches und tief schürfendes Werk, das den Versuch unternimmt, eine „persönliche Eschatologie" (Hick nennt es eine „Pareschatologie") zu entwerfen, basierend auf einer Synthese von Christentum, Hinduismus und Buddhismus (ich bin mir nicht sicher, ob Hick der Begriff „Synthese" gefallen würde, aber ich denke, es ist eine angemessene Beschreibung für das, was er tut).
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Einerseits bekräftigt Hick die Vorstellung der Auferstehung, denn eine gewisse Verkörperung ist für jede Erfahrung des Selbst notwendig. Andererseits erkennt er, dass das Selbst nicht vollständig mit dem Körper gleichzusetzen ist. Ein Weiterleben der Seele nach der Verwesung des Körpers ist somit zumindest nicht ausgeschlossen. Hochinteressant ist der im Rahmen seiner Argumentation unternommene Versuch, den christlichen Glauben mit der indischen Vorstellung der Wiedergeburt in Einklang zu bringen. Hick lässt den Gedanken an eine vorgeburtliche Existenz des Selbst unberücksichtigt, wobei er aber eine Notwendigkeit dafür sieht, eine Form der Wiedergeburt nach dem Tod anzunehmen, denn Perfektion (das angenommene Ziel des menschlichen Daseins) ist in diesem Leben nicht erreichbar (zumindest für die meisten Menschen). In diesem Zusammenhang verweist er auf das östliche Konzept der theosis der langen Reise des Selbst zu Gott. Der Tod wird dort als ein notwendiges Stadium in dieser Entwicklung gesehen - und kann zumindest in diesem Sinne als „Freund" willkommen geheißen werden. Eine solche Reinkarnation post mortem findet jedoch nicht notwendigerweise in dieser Welt statt. Prinzipiell möglich (zweifellos in der Vorstellung der indischen Religion) ist, dass es viele Welten neben dieser einen gibt, und die Reinkarnation kann in jeder dieser Welten stattfinden. (Eine originelle Lösung hält Hick zudem für das bereit, was man das demographische Problem der Reinkarnationslehre nennen könnte: Woher kamen in den vergangenen Jahrhunderten, in denen wir einen enormen Bevölkerungszuwachs erlebt haben, all die zusätzlichen Seelen? Nun, Hick hält dafür die Antwort bereit, diese Menschen seien womöglich in diese Welt hineingeboren worden, weil andere Welten zu früheren Zeiten eine größere Zahl an Geburten verzeichnet haben. Diese Hypothese zum plötzlichen Bevölkerungszuwachs auf dem Planeten Erde in der kosmischen Wiedergeburtsmaschinerie ist alles andere als überzeugend.) Von Hick stammt noch ein anderes ungewöhnliches Konzept, und zwar das der „Nachbildungen" (replicas). Das wiedergeborene Selbst kann nicht mit den vorhergegangenen identisch sein, vielmehr ist es mit diesen durch eine innere Kontinuität verbunden - das heißt: Das Selbst ist eine Nachbildung der vorhergegangenen Gestaltungen des Selbst. Damit ist das Gedächtnis angesprochen. Man könnte meinen, jedes überlebende beziehungsweise wiedergeborene Selbst müsse über sein Erinnerungsvermögen mit dem vorhergegangenen Selbst verbunden sein, andernfalls ließe sich kaum behaupten, das Selbst würde kontinuierlich fortleben. Doch Erinnerung verblasst. Selbst in diesem Leben, das wir kennen. Hick vergleicht sich selbst im Alter von 50 Jahren (so alt war er offenbar, als er den Text schrieb) mit der Person, die er im Alter von 3 Jahren war, woran er sich kaum erinnern kann. Dennoch geht er von einer gewissen
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Kontinuität zwischen „ H 5 0 " und „ H 3 " aus, selbst wenn die Erinnerungsspur sehr schwach ist (ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er in seiner physischen Erscheinung einen vollständigen Wandel unterlaufen hat: „H50" ist definitiv nicht so niedlich wie „H3"). Wenn dies jedoch selbst für die kurze Lebensspanne auf Erden gilt, wie viel wahrer ist es, wenn wir einmal von vielen Leben in verschiedenen Welten ausgehen? Welche Erinnerung könnte „Hi.000.000" noch an seine Zeit an der Universität Birmingham haben, wo er Mitte des 20. Jahrhunderts gelehrt hat? Hick schließt daraus, dass, selbst wenn die Nachbildungen des Selbst sich fortsetzen, die Individualität in demselben Maße abnimmt wie die theosis fortschreitet und auf ihren Höhepunkt zuläuft. Mir scheint, Hick landet damit sozusagen auf einer Ebene mit der Vorstellung eines alles schlussendlich in sich aufnehmenden kosmischen Ozeans - jene Vorstellung, die ich oben mit einem „nein, danke" von mir gewiesen habe. (Hick besteht im übrigen darauf, es könne zu jeder Zeit nur eine Nachbildung geben, um hier gleich einmal der Idee Einhalt zu gebieten, es liefen möglicherweise eine Reihe von Hick-Nachbildungen gleichzeitig in mehreren Welten herum. Das ist gut zu wissen, aber in seiner Logik nicht wirklich überzeugend.) Hick unterstützt zudem die im Tibetanischen Totenbuch ausführlich erörterte Idee des bardo - eine traumartige Welt, die vermittels des Bewusstseins Einzelner unmittelbar nach ihrem Tod geschaffen wurde und im Wesentlichen eine Welt der Illusion ist (angenehm oder unangenehm, wie Träume nun einmal sind). Jeder Einzelne muss diese Welt durchschreiten, um wiedergeboren zu werden. Hick präsentiert eine Vorstellung, die man eine „weiche" Version des buddhistischen Dogmas über das Nicht-Selbst nennen könnte - darin wird nicht die Wirklichkeit des Selbst geleugnet, sondern einzig dessen egoistischer Charakter. Der letzte Schritt auf der Reise, die das Selbst unternimmt, ist somit der Verlust der „Egoität" (egoity), wie Hick es nennt - wenn man so will, den unschöneren Seiten des Selbst. Damit liegt er nicht nur auf einer Linie mit der stärker personengebundenen Schule des Hinduismus (eher bhakti als advaita) und des Buddhismus (beispielsweise in den Reine-Land-Schulen), sondern ebenfalls mit den moderateren Versionen des christlichen Mystizismus (eher Teresa von Avila als Meister Eckhart sozusagen). Lassen wir aber Hick hier einmal selbst zu Wort kommen: „Die Wortführer der christlichen Tradition haben stets darauf bestanden, dieses irdische Leben sei das einzige Umfeld, in welchem der einzelne Mensch in eine „erlöste" Beziehung zu Gott treten kann, aus eigener Kraft oder vermittels göttlicher Gnade; und im Himmel (vielleicht nach dem Fegefeuer) oder in der Hölle werde sein individuelles Dasein eine Fortsetzung finden. Ich habe diese Vorstellung unrealis-
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tisch genannt, sowohl was das Leben vor dem Tod betrifft als auch im Hinblick darauf, was angeblich nach dem Tod geschieht. Wenn mit der vollständigen Erlösung eine tatsächliche Umformung der Persönlichkeit einhergeht, dann ist offenkundig, dass diese Umformung sich kaum im Laufe unseres gegenwärtigen irdischen Lebens vollziehen kann. Es muss also notwendigerweise eine Zeit nach dem Tod geben, in dem sich dieser Perfektionierungsprozess vollzieht. Die traditionellen Erklärungen sind ebenso unbefriedigend, was den Zustand post mortem betrifft. An anderer Stelle habe ich die Lehre von der Hölle moralisch untragbar genannt; zweifelsohne leidet die Vorstellung eines unsterblichen Ego, einer endlichen Person also, die durch alle Zeiten hindurch unendlich weiterexistiert, an grundsätzlichen konzeptuellen Schwierigkeiten." (ebd., S. 455^) Anmerkung: Hick geht hier von der Annahme aus, Ewigkeit sei in der Tat gleichzusetzen mit „endloser Zeit". Die „konzeptuellen Schwierigkeiten" lassen sich weitgehend reduzieren, wenn man stattdessen voraussetzt, dass Ewigkeit ein Zustand jenseits der Zeit ist. Und weiter: „Diese Hypothese [gemeint ist Hicks Hypothese, Anmerk. des Autors] akzeptiert sowohl die Annahme, das Leben unterliege notwendigerweise einer zeitlichen Begrenzung als auch die Auffassung, wonach die Seele sich im Inkarnationsprozess stets auf ihr letztes Ziel hin zu bewegt. Von der westlichen Tradition unterscheidet sich Hicks Sichtweise insofern, als er von mehreren anstatt nur einem einzigen Leben ausgeht. Von der östlichen Tradition unterscheidet er sich, da er mehrere Sphären des Inkarnationsdaseins voraussetzt, anstatt nur einer einzigen." (ebd., S. 456). Anmerkung: Die „östliche Tradition" wird hier auf irreführende Weise wiedergegeben. Sowohl im hinduistischen als auch im buddhistischen Denken ist die Vorstellung vieler Welten (beziehungsweise „Buddha-Felder") enthalten. Hick hat hier, wie auch in anderen Bereichen der Theologie, einen bestechenden Beitrag geleistet, der jedoch einige Schwächen enthält: Er nimmt den Tod nicht ernst genug (wie Cullmann sicher sagen würde, wenn er Hick gelesen hätte). Ihm fehlt eine kosmische Dimension; in christlichen Begriffen ausgedrückt: Es fehlt ihm eine Wertschätzung der Schöpfung, ihres verkommenen Zustands und der Erlösung als Wiederherstellung der Schöpfung. Er konzentriert sich vor allem auf eine weltliche Vorstellung von Zeit. Und was am wichtigsten ist, die Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Ego versagt bei dem, was ich oben meine persönliche Nagelprobe für jede Eschatologie genannt habe: Hick gibt keine Antwort auf meine Frage nach dem Tod meines Nachbarkindes.
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„Persönliche Eschatologie" ist nicht genug. So lange der Kosmos keine andere Z u k u n f t als die Auslöschung hat, wird jede individuelle Zukunft letztendlich in einem alles umfassenden Nichts aufgehen. Nicht nur die Menschheit, auch die gesamte Schöpfung ist „gefallen" und bedarf einer Erlösung. Mit den Worten des Paulus gesprochen: „Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet" (Römer 8,22). V o r dem Hintergrund der vorhergehenden Überlegungen ist nicht ausgeschlossen, dass Gott, nachdem sein Werk der Erlösung abgeschlossen sein wird, das gesamte physikalische Universum, die Galaxien und alles andere, was dazugehört, in Vergessenheit geraten lässt und die Erlösten in anderen Welten leben werden - „BuddhaFelder", die derzeit noch jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. Eine solche Hypothese würde jedoch bedeuten, die biblische Sichtweise des intendierten Guten der Schöpfung aufzugeben, eine Sichtweise, die, wie ich bereits dargestellt habe, einen wichtigen Nexus zwischen dem Glauben und der Erfahrungswelt bildet. Karl Heim, ein anderer moderner protestantischer Theologe, der über mehrere Jahre hinweg den Dialog zwischen Theologie und Wissenschaft ins Zentrum seiner Arbeit gerückt hat, nahm, anders als Hick, die beherrschende Macht von Tod und Zerstörung in der Erfahrungswelt sehr ernst - am unmittelbarsten in der gigantischen Blutrünstigkeit der biologischen Evolution, in der nur die Stärkeren überlebten und ganze Spezies ausgelöscht wurden, aber schließlich auch in dem vorhersehbaren Schicksal der Erde und dem wahrnehmbaren Universum als Ganzem. Seit Heim sein Opus verfasst hat, sind nun schon mehrere Jahrzehnte vergangen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Universum haben in enormem M a ß e zugenommen. Die Urknall-Theorie hat uns ein furchterregendes Bild von der Entstehung der Erde geliefert - ein winziges Bündel an Masse und Energie, das mit einer unvorstellbaren Kraft explodiert und Sternen und Galaxien das Leben schenkt - eine Explosion, die sich mit der Ausdehnung des Universums fortsetzt. So weit ich weiß, streiten die Astronomen bis heute über den letztendlichen Ausgang dieses dramatischen Schauspiels. Wird sich das Universum unendlich weit ausdehnen, so dass immer mehr Zwischenräume zwischen den einzelnen Teilen entstehen? Dies gibt uns einen Ausblick auf eine wachsende Leere, in der ein wie auch immer geartetes bewusstes Leben in zunehmender Verlassenheit existieren wird. Oder erreicht das Universum irgendwann einen Punkt maximaler Ausdehnung, woraufhin es kollabiert und wieder zu einem kleinen Masse-Energie-Knäuel wird? Auch dies präsentiert einen zutiefst deprimierenden Ausblick, der auf merkwürdige Weise an die hinduistische Vorstellung erinnert, wonach das Universum durch den Odem Brahmans, den göttlichen Mittelpunkt des Universums, geschaffen und
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erhalten wird und in sich zerfällt, wenn Brahman noch einmal Luft holt. Was die Erde betrifft, so gibt es nur zwei deprimierende Szenarien: Sie wird in eisiger Kälte vergehen, wenn die Sonne untergeht - oder sie wird in der Hitze verglühen, wenn (was wahrscheinlicher ist) die Sonne explodiert und zu etwas wird, das die Astronomen Nova nennen. Heim entwirft in schillernden Farben ein Bild von den letzten Tagen der Menschheit gemäß des zweiten Szenarios: „Damit stehen wir vor einer Prognose, die noch viel furchtbarer ist als der Eistod, der früher prophezeit wurde. Denn was sich abspielen wird, wenn unsere späten Nachkommen in Höhlen flüchten müssen und sich alle Menschen zusammendrängen, um auf kältetechnischen Wege sich mühsam noch einige Zeit zu erhalten, das ist, wenn wir es uns mit unserer Phantasie auch nur einigermaßen im einzelnen ausmalen, so furchtbar und infernalisch, daß Dantes ,Inferno', in dem die Höllenqualen beschrieben werden, dem gegenüber noch als eine Kleinigkeit erscheint." (Weltschöpfung und Weltende, S. 1 2 4 ) Eine hinduistische Vision: Der Brahman atmet ein und aus, und die Welt entsteht und zergeht. Ein christliches Gegenmodell nach dem Muster von Julian von Norwich: Die ganze Welt liegt als kleine Kugel in Gottes Hand. Der vielzitierten Aussicht auf ein Abtauchen der Individuen und des Kosmos' ins Nichts, hält das Christentum entgegen, Christus habe durch seine Auferstehung der Welt die entscheidende Erlösung gebracht. Der Höhepunkt allen Lebens wird die Wiederherstellung der Schöpfung nach Gottes Willen sein. Und dies wird das Ende dessen bedeuten, was Heim den „Schema dieser Welt" nennt - das heißt: den kosmischen Status Quo. In Heims eigenen Worten: „Die ganze Schöpfung ..., also nicht bloß die Menschwelt, auch nicht bloß die Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch die ganze anorganische Welt, nicht bloß unser Sonnensystem, auch alle Milchstraßensysteme, die es außerhalb unseres galaktischen Systems gibt, die ja alle unter demselben Schema dieser Welt stehen, diese ganze Kreatur wird ,befreit' werden. Wovon? Nicht bloß von den Schmerzen und Leiden, die unser jetziges Dasein verdüstern, von den Krankheitsnöten und Todesängsten, auch nicht bloß von den sozialen Missständen, die so viel Unfrieden in unser Zusammenleben hineintragen, sondern von etwas, was eine viel umfassendere Bedeutung hat, von der ,Sklaverei der Vergänglichkeit'" (ebd., S. 1 4 5 ) . Worin besteht diese „Vergänglichkeit"? Nach Heim ist es eine Beschädigung der Schöpfung, die sich nicht nach Gottes Willen gestaltet und demnach keine menschliche Sünde sein kann. Vielmehr ist hier eine widerständige Macht des Universums am Werk: „ v o m Anfang der Schöpfung an in dieser Welt eine satanische Macht allgegenwärtig ist, die dar-
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auf ausgeht, Gott selbst vom Throne zu stoßen und sich selbst an seine Stelle zu setzen. Von hier aus verstehen wir die unheimlichen Hintergründe der neutestamentlichen Anschauung von der Dämonenwelt, die nicht nur die Menschenwelt, sondern den ganzen Kosmos durchwaltet, (ebd., S. 153) Mit eher beiläufiger Geste verwirft Heim den Fall Luzifers als Mythos, für welchen wir nicht länger Verwendung haben. Mir scheint allerdings, seine eigenen Kommentare über „eine satanische Macht" entkräften diese wegwerfende Geste. Ebenso wie der Schöpfergott in persönlichen Begriffen gefasst wird, muss auch sein Widerpart erfassbar sein. Diesen Widerpart als böse Macht wahrzunehmen, der all das Grauen dieser Welt will, scheint mir daher unbedingt notwendig. Aber wie dem auch sei, Heims Theologie deckt sich wunderbar mit dem Entwurf von Gustav Aulen, der die Versöhnung im Sinne von „Christus als Sieger" sieht, wie an anderer Stelle bereits erörtert wurde. Die Auferstehung Christi ist der Anfang vom Ende der widrigen Kräfte, die über die Welt herrschen und am Ende wird der Sieg Christi den gesamten Kosmos umschließen. Anders ausgedrückt: Am Ende werden alle Galaxien in die Osterliturgie einstimmen. Jede Eschatologie ist von Natur aus ein Schlag ins Gesicht der undurchdringlichen Mysterien. Die in diesem Kapitel angestellten Überlegungen sind von einer gewissen Vorsicht begleitet und müssen viele Fragen unbeantwortet lassen. Was das Leben des Einzelnen betrifft, so stellen sich die bereits erwähnten Fragen nach dem „Zwischenstadium", sofern es so etwas überhaupt gibt. Was die Geschichte betrifft, so stellen sich zahllose Fragen nach der „Endzeit", die von apokalyptischen Vorstellungen genährt werden. (Es scheint, dass im Gegensatz zu all den Theorien zur Säkularisation, diese Vorstellungen unvermindert fortbestehen, zumindest in Amerika. Man halte sich nur die unglaubliche Popularität von Romanen über „die Entrückung" vor Augen - die wundersame Beseitigung der Auserwählten von der Erde vor dem Einbruch der finalen Katastrophe. Vor zwei Wochen erst habe ich - ausgerechnet in Boston - auf der Stoßstange eines Autos einen Aufkleber gesehen mit der Aufschrift „In case of rapture this car will be driverless"(Im Entrückungsfall wird dieser Wagen fahrerlos sein). Und was die kosmische Ebene betrifft, so stellen sich all die Fragen über die Beschaffenheit des „neuen Himmels" und der „neuen Erde", die der wiedergekehrte Christus einrichten wird, ganz zu schweigen von der bereits erwähnten Frage danach, ob die Ewigkeit als ein Zustand in der Zeit oder ein Zustand jenseits der Zeit zu begreifen ist. Über all diese Fragen können wir keine Gewissheit erlangen. Wir brauchen auch keine Gewissheit. Es erinnert mich an die Anek-
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dote, wonach Luther einmal von einem jungen Mann gefragt wurde, welcher Beschäftigung Gott denn in der Ewigkeit nachgehe, woraufhin Luther antwortete: Gott sitzt unter einem Baum und schnitzt Ruten aus den Zweigen, um damit die Menschen zu verhauen, die sinnlose Fragen stellen. Nach alledem bleibt eine Bekräftigung des christlichen Glaubens bestehen: Dass Gott keinen Teil seiner Schöpfung im Stich lassen wird. Nicht einmal die entferntesten Galaxien. Und auch nicht das Kind meines Nachbarn. Am Anfang des vorliegenden Buches stand die Frage danach, warum Religion „interessant" sei. Wir können auch danach fragen, welche Sorte von Eschatologie „interessant" ist. Aufschlussreich scheint mir in diesem Zusammenhang eines der ergreifendsten Kapitel in Fjodor Dostojewskis Die Brüder Karamasow, das bezeichnenderweise den Titel „Die Auflehnung" trägt. Es besteht aus einem Gespräch zwischen zweien der drei Brüder, dem rebellischen Iwan und dem frommen Aljoscha, über das Leiden eines Kindes. Iwan erzählt eine Reihe von schrecklichen Geschichten über das Leiden. Die furchtbarste Geschichte enthält die folgende Episode: Ein General hat einen Lieblingsjagdhund, der durch den Steinwurf eines achtjährigen Jungen, den Sohn eines Leibeigenen, leicht verletzt wird. Das Kind wird eine Nacht lang eingesperrt, am Morgen aus seinem Gefängnis herausgeführt, es wird ausgekleidet und man befiehlt ihm loszulaufen - es wird vor den Augen seiner Mutter zu Tode gehetzt und die Hunde reißen es in Stücke. Iwan fragt daraufhin Aljoscha, was man mit dem General hätte mache sollen. Aljoscha antwortet: „Erschießen." Doch Iwan räumt ein, den General zu erschießen sei nicht genug; selbst die Hölle wäre nicht genug. Aljoscha könne nun natürlich sagen, so Iwan, am Ende herrsche vollkommene Harmonie, die Gerechtigkeit Gottes werde sich erweisen und alles werde eins sein. Iwan lehnt diese Sicht einer eschatologischen Wahrheit jedoch ab. Mit Iwans Worten: „Und wenn die Leiden der Kinder dazu verwendet wurden, jene Summe von Leiden vollzumachen, die für den Kauf der Wahrheit notwendig war, so behaupte ich im voraus, daß die ganze Wahrheit einen solchen Preis nicht wert ist. ... Ich will keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit will ich sie nicht. ... Auch hat man die Harmonie zu hoch bewertet, es geht über meine Verhältnisse, soviel für den Eintritt zu zahlen. Darum beeile ich mich, meine Eintrittskarte zurückzugeben. Und wenn ich ein ehrlicher Mann bin, so bin ich verpflichtet, sie so bald wie möglich zurückzugeben. Das tue ich auch. Nicht Gott lehne ich ab, Aljoscha, sondern ich gebe Ihm nur ehrerbietigst die Eintrittskarte zurück." (Die Brüder Karamasow in der Übersetzung von Hans Ruoff und Richard Hoffmann, S. 3 3of.)
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Iwan ist an dieser Stelle jedoch nicht ganz aufrichtig. Natürlich ist es Gott, den er nicht akzeptiert. Oder, genauer gesagt, eine bestimmte Vorstellung von Gott. Die „Eintrittskarte", die Iwan zurückgibt, ist die Zugehörigkeit zu etwas, das er für den christlichen Glauben hält. Wir wissen, dass Aljoscha seine Eintrittskarte nicht zurückgegeben hat. Ebenso wenig tat es Dostojewski. Doch Iwans Auflehnung gibt eine ungefähre Antwort darauf, welche Art der Eschatologie „interessant" wäre - das heißt, für den Menschen akzeptabel. Hier also einige Vorschläge (a priori, wenn man so will) einer solchen Eschatologie: Gott verdammt Iwans Auflehnung nicht. Tatsächlich billigt er sie „aus Liebe zur Menschheit". Das aber heißt, dass Iwans Auflehnung sich gegen den falschen Adressaten richtet. Sie sollte sich nicht gegen Gott richten, sondern gegen den Widerpart Gottes. Gott will das Grauen nicht, von dem Iwan berichtet. Das Grauen geschieht gegen seinen Willen. Gott ist kein Zuschauer. Er ist in der Agonie des Kindes und der Mutter anwesend. Er leidet mit ihnen und mit allen Kreaturen, die Qualen erleiden. Diese kenosis Gottes leitet die Heilung aller Leiden der Welt ein. Alle Menschen, die in der von Iwan kolportierten Episode auftauchen, haben eine Bestimmung jenseits dieses Lebens. Sowohl das Kind als auch die Mutter werden nicht einfach verschwinden, vielmehr werden sie im Jenseits ewigen Trost finden. Ebenso wichtig ist, dass im Jenseits gerichtet werden wird, über diejenigen, die das Grauen verursacht haben. Diese Α-Priori-Vorstellungen lassen sich unter einer Überschrift zusammenfassen, die eine Schrift Kants paraphrasiert: „Prolegomena zu einer jeden künftigen Eschatologie, die als menschlich annehmbare Lehre wird auftreten können". Wir können aber diesen Aussagen noch eine APosteriori-Vorstellung hinzufügen: Genau eine solche Eschatologie ist das Herzstück des christlichen Evangeliums. Sie stellt ein Verbindungsstück dar - in der Tat die wichtigste Verbindung - zwischen dem Evangelium und unserer Erfahrung der conditio humana. Abschließend möchte ich mich auf drei aramäische Sätze berufen, die in den griechischen Text des Neuen Testaments Eingang gefunden haben. Der erste Satz stammt von Jesus, als er die zwölfjährige Tochter von Jairus von den Toten auferstehen ließ: „Talita kum", „kleines Mädchen, steh auf" (Markus 5,41). Der zweite Satz wurde hier bereits erwähnt. Es ist der Ausruf Jesu vom Kreuz herab: „Eli, eli, lama asabtani„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Matthäus 27,46). Und schließlich nenne ich noch einen dritten (wahrscheinlich liturgischen) Satz, der am Ende des letzten Buches des Neuen Testaments an
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einigen Stellen eingefügt wurde, und der in der deutschen Übersetzung gewöhnlich lautet „ K o m m , Herr Jesus" - auf aramäisch, „Maranata", „Unser Herr, k o m m " oder: „Der Herr k o m m t " (Offenbarung 22,20). M a n kann sagen, das gesamte Evangelium ist in diesen drei archaischen Sätzen enthalten, die auf die allerersten Anfänge des Christentums zurückgehen: Durch Christus ist ein außergewöhnlich kraftvoller Erlösungsprozess in die Welt gekommen. Durch das Leiden und den T o d Christi am Kreuze, durch die Herablassung Gottes auf die Ebene des Menschen (kenosis), nimmt Gott Anteil an allem Leid der Schöpfung und läutet zugleich die Wiederherstellung derselben ein. Und Christus wird als Sieger wiederkehren und die Schöpfung im Glanz erstrahlen lassen, wie Gott es gewollt hat.
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Register Abendmahl 5 9 , 7 9 , 1 5 1 A b r a h a m 8, 1 5 , 1 7 , 87, 125^, 1 5 3 , 1 5 7 A d o p t i a n i s m u s 87 Albigenser 1 4 9 A l e x a n d e r VI. 1 5 9 A l e x a n d r i a 84, 86f., 8 9 - 9 1 Anglo-Katholizismus 1 4 3 Anselm von Canterbury 1 0 4 - 1 0 6 , 1 0 9 Antichrist 1 2 6 Antinomianismus 1 9 0 Antiochia 8 4 - 8 6 , 8 9 - 9 1 Antisemitismus 4 5 , 1 0 1 , 1 5 1 Apokatastasis 50, 1 8 6 Arianismus 87f., 90, 1 4 2 Athanasius v o n A l e x a n d r i e n 8yf. Auferstehung 65f., 7 1 , 7 3 , 7 8 - 8 1 , 83, 85, 9 5 , i o 8 f . , 1 1 1 - 1 1 3 , n 6 f . , 120, i23f., 127, 129, 1 3 1 , 133, 135. 144, 166, 172, 195-201, 203, 207f. Aufklärung 106 Augustin 40, 104, 1 4 2 Barth, Karl 2 1 , 7 2 , 1 2 9 , 1 3 1 , 1 4 4 , 1 9 9 , 201 Bergpredigt 68f., 7 7 , 1 5 9 Bibelwissenschaft 22, 54, 1 2 5 , 1 5 1 Böse, das 37t., 4of., 9 3 , i o 2 f . , i o 8 f . , 12-4. i35> 173-175, i M · , 186, i88f. Bonaventura 57f., 1 8 0 B o o k of C o m m o n Prayer 1 3 0 Buddhismus 1 2 , 1 9 , 2 6 , 1 9 f . , 3 2 - 3 4 , 52, 6 1 , 69, 7 6 , 1 9 7 , 202, 204 Bultmann, R u d o l f 6 6 , 7 0 - 7 6 , 8 1 , 9 1 , 95, 1 1 6 , 1 3 1 , 135 C a l v i n , Johann 1 0 6 , 1 1 9 , 1 7 9 - 1 8 1 Calvinismus 56, 1 1 9 , i 7 9 f . Camus, Albert 190 C h a l c e d o n , K o n z i l v o n 90
Charisma/charismatisch 1 4 6 , 1 5 8 , 1 8 2 Christian Science 1 7 4 Christologische Kontroversen 9 1 C l o u d of U n k n o w i n g , T h e ι i f . Cullmann, Oskar i26f., 134, 199, 2 0 i f . , 205 Cyrill v o n A l e x a n d r i a
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D o k e t i s m u s 87, 94 D o s t o j e w s k i , F j o d o r 1 8 5 , 209f. D u a l i s m u s 56, 1 5 2 , 1 7 7 Ebioniten 87 Eckhart, Meister 32, 57, 130, 146, 204 Elizabeth I. 163 E n t f r e m d u n g 9, 53, 55, 7 0 , 7 4 , 1 8 1 ephapax 31, 114, 126 Ephesus, Konzil v o n 89 Erlösung 1 5 , 32f., 48, 50, 55, 60, 64, 7 6 , 7 8 , 8 o f „ 8 5 - 8 7 , 9 3 , 95f., 98, ΙΟΙ,
Ι Ο 9 - Ι Ι 4 , 1 2 3 , 1 2 7 , I29f.,
1 3 2 - 1 3 6 , i4of., i 5 i f - , 1 6 1 , 169, 1 7 9 - 1 8 1 , 184-186, 192, 205-207 Erweckungsbewegung 170 Eschatologie 63, 1 2 4 ^ , 1 2 8 - 1 3 0 , 1 3 2 , 1 3 5 , 1 9 7 , 202, 205^, 2 0 8 - 2 1 0 E w i g k e i t 1 5 , 30, 35, 50, 58, 82, 99, 1 2 7 , 1 3 0 , 1 3 6 , 2 0 1 , 205, 208 Exklusivismus 21 filioque 1 4 1 - 1 4 4 , 1 5 2 Franziskus v o n Assisi 57 Freiheit x , 12, 35, 40, 47f., 53, 55, 168 Freudianer 2 Fundamentalismus xf., 1 2 0 , 1 5 4 G a n d h i , M a h a t m a 68, 1 0 7 G e b e t vii, 1 1 , i 3 f . , 30, 3 7 , 6 1 , 9 6 100,120,122, 130,134, 136,182
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Erlösender Glaube?
Genesis (Erstes Buch Mose) 56, 60, 102, 139 Gerichtstag, Tag des Jüngsten Gerichts 3 8 , 4 6 Glaube vii, xi, xiii, xv, 1 , 3 - 1 2 , 15— 1 9 , 2Z-2-5, 2 7 f . , 3 3 f., 35, $8 f., 4 2 - 4 4 , 46, 48f., 6zL, 65f., 68-76, 7 8 - 8 0 , 82-86, 88, 9of., 93, 9 7 100, 104, 109, 1 1 1 - 1 1 4 , n 6 f . , 120-122, 124, 1 3 1 - 1 3 5 , I4if., 1 4 4 , 1 4 7 - 1 4 9 , i53> I 5 5 ; 1 57^·, 160, i64f., 1 6 7 - 1 6 9 , i72f., 1 7 5 , 1 7 7 , 1 7 9 , 1 8 1 , 1 8 3 , 1 8 5 , i88f., 1 9 2 - 1 9 8 , 2 0 0 - 2 0 3 , z o ( >, 209f. Glaube als Wette 7, 169 Gnosis 56, 87, 1 3 0 , 148 Gott 6 - 1 0 , i 2 f . , 1 5 - 1 7 , 1 9 - 2 5 , 2 7 2-9, 3 I _ 3 5 , 37-6O, 63, 7 2 - 7 4 , 76, 80-82, 84-99, I 0 2 - I I 0 , I I 2 f . , 1 1 5 , I I 7 f . , I2of., 1 2 4 , 1 2 6 - 1 2 8 , I30f., 1 3 3 , 1 3 5 , 137, 1 3 9 - 1 4 1 , 1 4 4 , I48f., 1 5 1 - 1 5 3 , 160, 1 6 3 , 165,170, 177, 179-187, 191-194, 196, 199, 200f., 203f., 2o6f., 209f. Graf, Friedrich Wilhelm 169 Gregor von Nyssa 1 1 1 Gregor von Rimini 1 8 0 Harnack, Adolf von 87, 1 3 9 , 1 4 2 , 147 Hebräerbrief 3 1 , 1 0 6 , 1 1 4 , 1 2 6 Heil 90, 9 3 , 1 2 3 , 1 2 7 , 1 3 1 Heilige 9, 4 5 , 69, 78, 82, 1 1 9 , 1 2 6 , 128, 1 5 5 , 164^, 182, i84f., 193 Heiliger Geist 8 2 , 1 2 8 , 1 3 7 - 1 4 6 , 148-150, i52f., 157, 159, 1 6 1 Hick, John 1 8 - 2 1 , 29, 39f., 9 1 - 9 3 , 153,202-206 Himmler, Heinrich i 7 4 f . Hinduismus 1 2 , 27, 2 9 - 3 2 , 1 9 7 , 202, 204 Hiob 3 8 ^ , 4 2 , 4 8 Hitler, Adolf 43, 1 7 4 , 1 8 6 Hoffnung 8, 1 5 , 99, 1 1 7 , 1 3 5 , 1 7 9 , i97f. Holocaust 4 1 - 4 3 , 45f., 1 7 4 - 1 7 6 , 186, 188 Individualität 52, 55, 1 9 6 Inkarnation 3 1 , 34, 88, 9 1 , 1 0 1 , 1 1 3 , 12.7, 1 4 4 , 1 4 9
Irenäus 40 Islam xi, 4, 1 2 , 23, 28, 30, 38f., 46, 56, 59, 8 9 , 1 2 6 , 1 3 0 , 1 8 7 Israel 1 2 , 1 6 , 24, 28, 35, 38, 4 2 - 4 5 , 5 2 --54, 56, 60, 8 1 , 87, 96, 98, 126, 134, 1 3 7 , 144, 177, 197 Jesaja 4 3 , 83, 98 Jesus Christus 1 7 , 19, 2 1 , 24f., 27f., 3 1 , 40, 42, 52, 58, 6 3 - 7 7 , 7 9 102, 1 0 4 - 1 1 4 , 1 1 6 , 120, I23f., i26f., i3of., 1 3 3 , 1 3 6 - 1 4 0 , 1 4 2 144, 147, 149, I 5 I - I 5 3 , 1 5 6 1 5 8 , i6of., i 6 3 f . , i 6 6 f . , 1 7 0 , 1 7 2 , 178, 1 8 1 , 185, i89f., 193, 1 9 6 1 9 9 , 2 0 1 , 207f., 2 1 0 Joachim von Fiore i 4 8 f . Johannes Paul II. i 2 i f . Johannes vom Kreuz 9, n f . Johannesevangelium 72, 86 Judentum 3, 1 0 , 1 2 , 23, 30, 38f., 43f., 77, i 2 5 f . , 1 3 0 , 166, 1 7 7 , 1 8 7 , 189, 1 9 6 , 198 Julian von Norwich 37, 49f., 1 8 3 , 207 Justinus Martyr 24 Kant, Immanuel 6, 1 9 7 , 2 1 0 Karl der Große 1 4 2 Katholizismus 1 0 , 1 0 6 , 1 2 1 , 1 4 3 , 146, 179 kenosis 80, 1 1 2 - 1 1 4 , 2 i o f . kerygma 70, 1 6 3 Kierkegaard, Soren xv, 7 7 , 1 3 1 , 1 6 0 , 165, 169 Kind, Kinder viii, x, 2, 9, 27, 4 0 - 4 3 , 45, 47, 5 ° , 53, 57, 99, * 3 5 , *47, 1 5 9 , 1 7 5 , 1 8 0 , 182, 1 9 2 , 195, 196, 209, 2 1 0 Kirche vii-ix, xiii-xv, 1 4 , 1 7 , 25, 28, 32, 50, 68, 7 0 - 7 3 , 82, 84-87, 9 i f . , 94, io8f., 1 1 2 , 1 1 4 , 1 1 9 , 124, 128, 130, 1 3 2 - 1 3 4 , 1 3 8 140, 1 4 3 , 1 4 6 - 1 4 9 , i 5 i f . , 1 5 4 168, 1 7 1 , 1 8 1 - 1 8 3 , 1 8 5 , 1 8 9 , 198 Koestler, Arthur 1 9 0 Konfuzianismus 29, 52, 1 9 7 Konstantin 88, 1 3 4 , 1 4 2 Konstantinopel 84, 89, 9 1 , 1 1 1 , 142! Koran 2 1 , 4 6 , 4 8
Register Kosmologie 3 3 , 60, 2 0 1 kyrios 7 3 , 85, 1 1 7 , 1 1 4 Leiden 1 0 , 3 3 , 3 5 , 3 7 - 4 1 , 4 3 - 4 9 , 7 8 , 80, 9 3 , 9 5 , 1 0 2 , 1 1 2 , 1 1 4 , 1 2 4 , I3 2 ·» 1 3 5 » i79f-> 1 8 4 , 2 0 7 , 2 0 9 211 L e o I. 90 Luther, M a r t i n 7 , 2 3 , 7 2 , 1 0 6 , 1 0 9 , 1 1 4 , 1 1 9 , 1 2 3 , 1 2 8 , 1 3 2 , 150— 1 5 3 , 1 6 5 , 1 7 9 , 1 8 6 , 1 9 3 , 209 Luthertum, lutherische Kirchen viii, xiv, 1 0 9 , 1 6 0 M a c h , Ernst 3 4 Marcioniten 87 M a r i a 82, 87, 89L M a r x , Karl 7, 1 9 2 Marxismus 1 2 8 Meditation 3 0 , 6 1 , 9 7 Messias 3 8 , 6 3 , 7 2 , 7 5 , 85, 87, 1 3 8 M e y e n d o r f f , J o h n 1 1 of., 1 8 1 M o d e r n e x i v f . , 4 - 7 , 1 7 , 58, 1 1 8 , 1 2 8 M o h a m m e d 2 5 , 27 Monophysitismus 87, 94 Monotheismus, monotheistisch 1 2 , 24f., 2 7 - 2 9 , 3 2 , 3 8 , 4 6 , 56, 59, 6 3 , 84, 89 M o s e 8, 1 5 , 2 5 , 1 7 8 Müntzer, T h o m a s 1 5 0 Mystizismus 1 2 , 1 7 0 , 204 mythische M a t r i x 2 6 - 2 8 , 3 2 f . , j i , 54-56 N a t u r 4 7 f . , 5 1 , 5 3 , 5 5 ~ 5 7 , 7 3 , 79, 84, 8 6 - 8 8 , 9 3 , 9 4 f . , 1 0 2 , 1 0 8 , 1 1 0 , 1 2 2 , I29f., 1 3 5 , 138, 140, 2 0 1 f., 208 Neo-Orthodoxie ix, 1 2 9 , 1 3 1 N e x u s 2 5 f . , 28. 3 2 L , 3 5 , 7 4 , 80, 9 3 , 9 5 , 1 1 2 , 1 3 5 , 1 5 3 , 2 0 1 , 206 Nicäa, Konzil von 7 3 , 7 7 , 8 8 , 1 4 0 , 1 4 2 Offenbarung, Apokalypse 1 6 , 2 1 , 3 2 , 3 5 , 4 1 , 50, 5 3 , 60, 7 2 L , 8 1 , 1 2 7 , 198, 2 1 1 Origenes 1 8 2 Parusie 1 2 3 - 1 2 5 , 1 2 8 , 1 3 0 , 1 3 3 , 1 3 5 Paulus x v , 4, 1 1 , 2 5 , 69, 7 1 , 7 7 - 8 0 , 8 4 ^ , 87, 9 1 , 1 0 2 , 1 0 4 , 1 0 6 , 1 1 6 ,
219 1 3 1 , I 3 5 , 138, 164, 166, 178, 1 7 9 , 1 8 5 , 1 8 9 , 1 9 0 , 1 9 6 , 200, 206 Pazifismus 1 5 0 Philemon 1 8 9 Pietismus 1 5 2 , 1 7 0 Piaton i 9 8 f . Pluralismus v i i i - x , x v , 1 7 , 1 1 4 , 1 5 3 , i55f. Pontius Pilatus 1 0 1 , 1 1 3 , 1 2 0 , 1 3 2 Protestantismus vii, xi, x i v , 2 2 , 6 5 , 68, 7 0 , 7 2 , 7 4 , 9 2 , 1 0 7 , 1 1 9 , i 5 i f . , 162, 167t., 1 7 0 Pseudo-Dionysos 1 1 Qumran-Texte 6 7 , 1 9 8 R a h n e r , Karl 2 2 , 1 1 7 , 1 7 6 , 2 0 2 Realität 2 9 , 3 1 , 3 5 , 5 1 , 1 5 6 Reformation 1 0 4 , 1 1 9 , 1 2 8 , 1 3 2 , 134, 6, ΐ 5 ° ί · , ! 6 2 , i 6 8 f . , 1 7 9 , 190, 193 Reich Gottes/Königreich Gottes 2 1 , 69, 1 2 4 , 1 2 6 , 1 2 8 , 1 3 1 , 1 3 3 Reinkarnation 2 0 3 Römerbrief 1 3 1 sakrale Sexualität 53 Sakrament 59, 1 2 8 , 1 3 0 , 1 3 3 , 1 4 6 , 149, i5if., 158, 162, 180 Säkularisierung viif. samsara 3 3 , 1 2 7 Satan, Teufel 44f., 50, 8 7 , 1 0 3 - 1 0 5 , i09f., 1 1 7 , 1 1 9 , 1 7 7 , 1 8 2 Schöpfung 2 4 - 2 7 , 2 9 , 3 5 , 4 0 , 44f., 4 8 , 5 ° f - , 55^·, 5 8 f - , 6 1 , 80, 8 7 , 94, 9 5 - 9 7 , 99, i°2-f·, 1 0 8 , 1 1 1 - 1 1 4 , 1 2 1 , 126, 129, 135, 1 3 8 - 1 4 1 , 146, 150, 167, 1 8 1 , 183, 186, 1 9 6 , Zoof., 2 0 5 - 2 0 7 , 209, 2 1 1 Schwärmer 1 3 2 , i 5 i f . Schweitzer, Albert 66, 7 7 , 9 2 Seele 9, 1 2 , 4 6 , 5 5 , 90, 1 5 2 , 1 8 0 , 183, 194, 198, 200-203, 2 ° 5 Selbst 1 2 , 1 9 , 2 7 , 29, 3 1 - 3 4 , 5 1 , 56, 6 1 , 6 5 , 9 7 , 1 7 5 , 2 0 1 - 2 0 3 , 2.05 Selbst, Nicht-Selbst 204 Sklaverei, Sklaven i 6 6 f . , 1 8 9 , 1 9 i f . , 207 Sokrates 1 , 2 4 , i 9 9 f . Spiritualität viii, 1 0 , 1 4 , 28, 54, 9 7 ,
2.2.0
Erlösender Glaube?
i n , 1 1 8 , i44f., 148, 1 5 2 - 1 5 4 , 170 Sühne 93, i o i f . , 104-109, 1 1 1 - 1 1 3 , 179, 1 8 1 , 184, 208 Sünde 6, 38, 40, 42L, 49, 90, 93, 102-106, 1 0 9 - 1 1 2 , 130, 144, 1 5 3 , 165t., 173> 1 7 6 - 1 7 8 , 1 8 1 183, 200, 207 Sünde, Erbsünde 40, i03f., 1 1 0 , i76f., i8of., 183, 200 Taize 182 Taoismus 1 2 , 29 Taufe 59, 1 4 9 - 1 5 1 , 158, 180 Teresa von Avila 32, 146, 170, 204 Terrorismus 173 Tertullian 140 Theodizee 3 7 - 4 1 , 45, 47L, 51, 55, 80,93,99,"3>135> 174, 184 Thomas von Aquino 6 , 1 8 0 Tillich, Paul 22, 26, 66, 74-76, 81, 168 Tod 1, 15, 47, 55, 77, 80, 84, 94f., 1 0 1 - 1 0 4 , io8f., 1 1 1 - 1 1 3 , n 6 f . , 1 2 2 - 1 2 4 , 12-7. 12.9, 1 3 J 3 5 > 144, 148, 174, i77f., 1 8 1 , 183, 1 9 5 - 2 0 1 , 203-206, 2 1 1 Todesstrafe 188, i9of. Torah 77, 106 Transzendenz 2, 15, 51, 53, 56, 58f., 87, 120, 1 2 2
Trinität 58, 68, 82, 1 3 9 - 1 4 1 Troeltsch, Ernst 22-24, 3°i 35 Unglaube xi, 7-9 Unitarier 1 4 1 Universum 1 , 8, 15, 33, 49, 57, 6062, i05f., 1 1 4 , 1 2 1 , 124, 1 3 5 , 174, 184, 188, 195, 2o6f. Unsterblichkeit 102, 198, 200 Upanishade 12, 31 Urknall 61, 206 Vatikan 18, i 2 i f . , 159 Vedanta 3of., 33, 52 Vertrauen 7, 39, 48, 97, 99, 125 Voegelin, Eric 16, 27, 52f., 81 Wahrheit x, i7f., 20, 22, 24, 3 1 - 3 3 , 35> 67, 75, 81, 93, 9 7 , 1 0 3 , 107, 126, 1 3 2 , 209 Weber, Max 14, 26, 30, 54, 120, 146, 158, 180, 193 Weil, Simone 9, 10, 1 2 - 1 4 , I 7 I Weltkirchenrat 18, 72, 9 5 , 1 4 3 Wiederkunft Christi 1 2 3 , 128 Wiedertäufer 15 of. Wunder 8, 56-58, 68, 73, 99, n 6 f . , 1 1 9 - 1 2 2 , 1 3 7 , i45f., 169 Zoroastrismus i97f.