Das nervöse Zeitalter. Der Begriff der Nervosität bei Laien und Ärzten in Deutschland und Österreich um 1900


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Das nervöse Zeitalter. Der Begriff der Nervosität bei Laien und Ärzten in Deutschland und Österreich um 1900

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ZÜRCHER MEDIZINGESCHICHTLICHE ABHANDLUNGEN

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Herausgegeben von Prof. Dr. E. H. Ackerknecht Neue Reihe Nr. 21

»DAS NEKVÖSE ZEITALTER« Der Begriff der Nervosität bei Laien und Ärzten in Deutschland und Österreich um 1900

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Dr. Andreas Steiner

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Juris -Verlag Zürich 1964

ZÜRCHER MEDIZINGESCHICHTLICHE ABHANDLUNGEN Neue Reihe

1: Tissot und sein Traitä des nerfs. Ein Beitrag zur Medizingeschichte der schweizerischen Aufklärung. Von Dr. med. Heini W. Bucher, 62 S.

Fr.

9.65

2: Die Entwicklung des zahnärztlichen Berufes und Standes im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Verhält­ 14.80 nisse in Zürich. Von Dr. Joh. Jost, 160 S.

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Die. Erbkrankheiten um 1850. Von Dr. Helmut Semadeni, 62 S.

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4: Fleckfieberforschung 1900—1955. Von Dr. Hans-Rudolf Meier, 25 S. 5:

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Alkoholabstinenz und Psychiatrie am Ende des 19. Jahrhunderts Von Dr. Rudolf Debrunner, 38 S.

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Edwin Klebs (1834—1913). Ein früher Vorkämpfer der Bakteriologie und seine Irrfahrten. Von Dr. Otto Mario Röthlin, 38 S.

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Paul Ehrlich als Krebsforscher. Von Dr. Janina Hurwitz, 32 S.

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Marshall Hall (1797—1857) Physiologe und Praktiker. Von Dr. Ruth Erez-Federbusch, 45 S.

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9: Die medizinische Flagellation unter besonderer Berücksichtigung von Meibom, Bartholin und Paullini. Von Dr. Hans Rudolf Schwarz, 137 S.

10: 11:

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Charles-Michel Billard und sein Traitö des maladies des enfans nouveau-nös et ä la mamelle. Von Dr. Bruno Bianchetti, 92 S. Psychosomatik in der Chirurgie des Mittelalters, besonders bei Henri de Mandeville. Von Dr. Jürg A Bosshard, 38 S. T

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HM ZURCHER MEDIZINGESCHICHTLICHE ABHANDLUNGEN

Herausgegeben von Prof. Dr. E. H. Ackerknecht Neue Reihe Nr. 21

»DAS NERVÖSE ZEITALTER« Der Begriff der Nervosität bei Laien und Ärzten in Deutschland und Österreich um 1900

von

Dr. Andreas Steiner

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Juris -Verlag Zürich 1964

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Herrn Prof. Dr. E. Ackerknecht danke ich für die Überlassung des sehr interessanten Themas und für seine mir jederzeit bereitwillig gewährte Hilfe. Ebenso möchte ich Herrn Dr. H. H. Walser für seine zahl­ reichen wertvollen Ratschläge danken.

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Meinen lieben Eltern

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

I. Europa von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

A. Politischer Überblick

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B. Soziale und kulturelle Verhältnisse

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C. Deutschland und Österreich nach 1871

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II. Die Nervosität bei Karl Lamprecht

III. Die Nervosität als Krankheit

A. Beards Buch B. Die Nervosität und die Neurasthenie in den nach 1880 erschie/nenen deutschen medizinischen Werken / 1. Begrenzung der Nervosität und der Neurasthenie 2. Zur Pathogenese 3. Zur Aetiologie 3a) Die Heredität als Ursache 3b) Die Sexualität als Ursache 3c) Allgemeine psychische Ursachen 3d) Somatische Ursachen 3e) Die moderne Kultur und Zivilisation als Ursache Erziehung und Schule ■ Die neue gesellschaftliche Stellung der Frau Gefährdete Berufe Weitere Zivilisationserscheinungen 4. Zur Symptomatologie 4a) Störungen der psychischen Funktionen 4b) Störungen der Sinnesorgane 4c) Störungen der Sensibilität 4d) Störungen der Motilität 4e) Störungen der Digestion 4f) Störungen der Zirkulation

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4g) Störungen der Sexualfunktionen" 4h) Störungen der Sekretion und des Stoffwechsels 41) Einzelne Formen der Neurasthenie 5. Prognose und Verlauf 6. Prophylaxe -7. Zur Therapie 7a) Psychotherapie 7b) Physikalische Therapie Balneologie und Hydrotherapie Massage und Heilgymnastik Elektrotherapie 7c) Diätetik 7d) Medikamentöse Therapie

IV. Nervosität und Entartung -r.« V. Sigmund Freud und die Nervosität

VI. Der Nervosität und der Neurasthenie analoge Krankheitszustände vor 1880

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VII. Die Nervosität als Zeitkrankheit

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Zusammenfassung

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Bibliographie

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VORWORT Mit dem Namen «Das nervöse Zeitalter» hat die deutschsprachige Gesellschaft um 1900 ihre eigene Gegenwart getauft. Genauer genommen umfaßt es die Epoche von den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, also jene Zeit, in der die meisten europäischen Staaten und insbesondere das Deutsche Reich auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen. Nervös zu sein gehörte damals zum guten Ton und wurde als ein Zeichen von hoher Kultur und fortgeschrittener Zivilisation gewertet. Obgleich zwar Nervosität etwas Krankhaftes meint, und sich der Nervöse besonders gern in ärztliche Behandlung begibt, so überschreitet doch die Tatsache, daß sich ein Volk für besonders nervös, für nervöser als andere Völker hält, die Grenzen der Medizin. Es ist daher angebracht, die Aufmerksamkeit über das rein medizin-historische Gebiet hinaus auf die allgemeinen geschichtlichen Vorgänge zu lenken und die Nervosität als Zeit­ krankheit in Beziehung zum damaligen politischen, kulturellen und geistigen Leben zu würdigen.

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I. EUROPA VON DER MITTE DES 19. JAHR­ HUNDERTS BIS ZUM ERSTEN WELTKRIEG A. Politischer Überblick

Im Wiener Kongreß versuchten die europäischen Großmächte die durch die Französische Revolution und durch die Feldzüge Napoleons stark zerrüttete, größtenteils auf feudalen und kirch­ lichen Gesetzen beruhende, alte Ordnung wieder herzustellen. Doch waren die liberalen und sozialen Ideen der Aufklärung und der Revolution bereits zu sehr Allgemeingut geworden und hatten eine ständig weiter um sich greifende und in breitere Volksschich­ ten dringende geistige und oekonomische Bewegung ausgelöst, als daß ihr die restaurierende und konservierende Macht der Heiligen Allianz auf die Dauer hätte widerstehen können. Während sich der Liberalismus in England langsam und auf mehr oder weniger friedliche Weise durchsetzte, und sich das Land schrittweise zu einem modernen Wohlfahrtsstaat entwikkelte, kam es zwischen den heterogenen politischen Kräften Frank­ reichs in den Jahren 1830 und 1848 zu blutigen Kämpfen, ohne daß damals allerdings eine der revolutionären Gruppen den Sieg davontrug. Das absolutistisch regierte Rußland unterdrückte wäh­ rend des ganzen vergangenen Jahrhunderts jede aus dem freiheit­ lichen Gedankengut des Westens hervorgehende soziale und politische Strömung. In Deutschland regten sich seit dem 18. Jahr­ hundert die nationalen Gefühle und drängten nach 1814 immer mehr auf Zusammenschluß der deutschsprechenden Gebiete. Diesen Bestrebungen trat verschiedentlich und zum letzten Mal dank russischer Hilfe erfolgreich in den Olmützer Verhandlungen (1850) das feudale und mehrsprachige Habsburgerreich entgegen, das seit 1815 die Vorherrschaft über den Deutschen Bund ausübte. Erst nachdem Österreich 1856 durch seine während des Krimkrie-

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ges und am darauffolgenden Pariser Kongreß eingenommene und von Rußland als undankbar empfundene Haltung isoliert wurde, wuchsen die Erfolgsaussichten auf eine deutsche Einigung, die sich durch Bismarcks entschlossenes Vorgehen 1866 (Schlacht bei Königgrätz, Norddeutscher Bund) und 1870/71 (Deutsch-franzö­ sischer Krieg, Reichsgründung) schließlich vollzog. Mit den Ereignissen um 1870 hatte Europa ein neues politisches Gesicht bekommen. Die aus einem nationalen Einigungsstreben hervorgegangenen jungen Staaten Deutschland und Italien traten in Konkurrenz mit den übrigen Großmächten. Frankreich erholte sich relativ rasch von seiner Niederlage, und die Dritte Republik nahm einen mächtigen wirtschaftlichen Aufschwung. Sie erwei­ terte ihre außereuropäischen Besitzungen und wurde neben Eng­ land zur zweitgrößten Kolonialmacht. Das viktorianische Reich zog sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts immer mehr aus der europäischen Politik zurück und verharrte in «splendid Isola­ tion» seines die ganze Welt umspannenden Imperiums. Das in seinem Innern nach wie vor fast mittelalterliche Rußland strebte nach einer Machterweiterung über seine südlichen Grenzen hinaus. Seine auf Kosten der Türkei betriebene Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanslawen brachten es in einen immer schärferen Gegensatz zu Österreich-Ungarn, das einesteils Unruhen in den eigenen slawischen Gebieten fürchtete, andernteils ebenfalls territoriale Ansprüche an das zerfallene Osmanenreich stellte. Deutschland wollte in möglichst kurzer Zeit das nachholen, was es vor der Einigung verpaßt hatte. Während seine kolonialen Eroberungen von nicht allzu großer politischer und strategischer Bedeutung waren, bereitete der zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Tirpitz eifrig vorangetriebene Flottenbau dem die absolute Seeherrschaft beanspruchenden England größte Sorge. Durch komplizierte Bündnisverhandlungen versuchte sich das Reich den andern Großmächten zu nähern und seine Macht und seinen Einfluß zu vergrößern, ohne sich selber zu sehr ver­ pflichten zu müssen. Das Resultat der wenig flexiblen und zu selbstsicheren Diplomatie der deutschen Politiker war jedoch die völlige Isolation durch die anderen Großmächte. Einzig die inner­ lich schwache Donaumonarchie stand seit 1870/71 unbeirrt auf der Seite des Deutschen Reiches.

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In Südosteuropa verstärkten sich um 1900 die Autonomiebestre­ bungen der Slawen. Hinter ihnen stand das russische Riesenreich. Im Jahre 1908 annektierte Österreich Bosnien-Herzegowina und erweiterte damit sein Reich um einen Krisenherd. Die politischen Spannungen in Europa nahmen zu. Bis zuletzt wurde versucht, durch Verhandlungen einem Krieg auszuweichen, der nicht nur große territoriale Änderungen herbeiführen, sondern auch in allen Ländern, die während des 19. Jahrhunderts starr an der absolu­ tistischen Staatsform festgehalten hatten, gewaltige soziale Um­ wälzungen hervorrufen sollte.

B. Soziale und kulturelle Verhältnisse

Die seit der Renaissance fortschreitende, innere und äußere Befreiung des menschlichen Geistes gipfelte zur Zeit der Aufklä­ rung im Triumph des vernunftmäßigen Denkens über alle ande­ ren geistigen Werte und schuf so die Grundlage und den Rückhalt der intensiven wissenschaftlichen Forschung des 19. Jahrhunderts, die innerhalb von hundert Jahren zu einer völligen Umwandlung der Lebensbedingungen führte. Technische Erfindungen wie die Dampfmaschine förderten die von England ausgehende Industria­ lisierung. Fabriken wurden gegründet, und der Schwerpunkt der Produktion verlagerte sich immer mehr in einzelne, in der Folge rasch wachsende Städte. Tausende von Landbewohnern massier­ ten sich in den Industriezentren, verloren schließlich ihre Bezie­ hung zum Land und bildeten den neuen Stand des Großstadt­ proletariats. Fortschritte in Medizin und Hygiene verlängerten die Lebensdauer und verminderten die Kindersterblichkeit. Die Bevöl­ kerung Europas vermehrte sich in einem nie zuvor beobachteten Maß. Durch den sich seit dem zweiten Drittel des Jahrhunderts stark entwickelnden Eisenbahnbau und durch die Konstruktion von Dampfschiffen wurden die Entfernungen zwischen den ein­ zelnen Ländern geringer und der Transport von Waren verbilligt. Die Massenproduktion von Verbrauchsgütern wurde gefördert, die Preise mußten, oft auf Kosten der Qualität, den niederen Löh­ nen des Industriearbeiters angepaßt werden. Zur Zeit Napoleon III. 11

entstanden in Frankreich die ersten Warenhäuser. Bald wurden auch kunstgewerbliche Gegenstände fabrikmäßig und billig her­ gestellt und der so entstandene «Kitsch»» in alle Erdteile getragen. Die sozialen und technischen Umwälzungen schufen nicht nur den vierten Stand. Mit der alten kapitalkräftigen Klasse der Groß­ grundbesitzer wetteiferten die durch wirtschaftliche und indu­ strielle Spekulation reich und mächtig gewordenen Unternehmer. Mehr denn je wurden Reichtum und Armut zu einer launisch wechselnden Größe. Glänzender, rücksichtslos vorangetriebener Aufstieg, Börsenkrach und Zusammenbruch des angehäuften Kapitals waren nicht allzu seltene Erscheinungen. Mit der Erfindung der Schnellpresse 1810, dem Aufkommen des Telegraphenwesens und der Einführung der allgemeinen Schul­ pflicht wurden vermehrt Zeitungen, Broschüren, Bücher gedruckt und politische und gesellschaftliche Neuigkeiten, sowie soziale, philosophische und wissenschaftliche Ideen auch in den unteren Volksschichten verbreitet. Ausbau und Neugründung von Hoch­ schulen, staatliche und private Stipendien ermöglichten immer weiteren Kreisen der Bevölkerung das Studium. Neben den rein geisteswissenschaftlichen Unterricht an Gymnasien und Univer­ sitäten trat die auf den zukünftigen Beruf ausgerichtete Real­ bildung. Das von der Aufklärung herrührende Freidenkertum blieb nicht mehr auf eine kleine Gruppe von Gebildeten be­ schränkt. Die Philosophien des 19. Jahrhunderts wie der Positivis­ mus Comtes, der Marxismus, der Anarchismus von Proudhon und Bakunin, der Evolutionismus von Darwin und Spencer, wurden geistiges Allgemeingut, das in der Folge gewaltige Änderungen des menschlichen Zusammenlebens herbeiführte. Politische Par­ teien wie die Sozialdemokratie und der Kommunismus wurden gegründet, und nicht zuletzt wurzelt die nationalsozialistische Rassentheorie in den weltanschaulichen Ideen des vergangenen Jahrhunderts. (Vgl. auch Seite 84 ff.) Die Erfolge der wissenschaft­ lichen Forschung überzeugten immer mehr Menschen von der Allmacht des menschlichen Geistes, vor dem kein Rätsel mehr unlösbar sein konnte. Die Entdeckungen in der Medizin verspra­ chen den Sieg über Krankheit und frühen Tod. Erforschung und Eroberung von neuen Ländern und Erdteilen bewiesen die Stärke

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Europas und verschafften der wachsenden Bevölkerung neuen Lebensraum. Archäologie und Geschichte, mit denen man sich zum ersten Mal im 19. Jahrhundert nach wissenschaftlichen Me­ thoden befaßte, verankerten das nationale Empfinden und bestärk­ ten den Glauben an den Fortschritt der Gegenwart. Zwischen diesen Welt- und Lebensanschauungen hatte die christliche Religion einen schweren Stand. Das Paradies wurde im Diesseits, auf der Erde, erwartet. Gott lag im Menschen selbst, der die Natur bezwingen würde und der die Materie sich dienstbar machte. Auf diese geistige Zersplitterung reagierte die Katholische Kirche mit dem Vatikanischen Konzil von 1869/70, das zwar die Macht des Pontifikats und des Klerus wieder bedeutend vergrö­ ßerte, von Seiten der weltlichen Mächte aber zu einer Gegenreak­ tion führte. Im sogenanten Kulturkampf gelang es Bismarck, zu­ sammen mit dem preußischen Kultusminister Falk, alle klerikalen Befugnisse der staatlichen Gewalt zu unterstellen. Unter den Gläubigen selbst führte die Unfehlbarkeitsverkündigung des Pap­ stes zu der Abspaltung der Altkatholiken. Nicht nur von Seiten der Katholischen Kirche machten sich Strömungen gegen die «Religionslosigkeit» der Zeit bemerkbar. Von Laien und häreti­ schen Geistlichen wurden alle möglichen christlichen Gemeinden und Missionen gegründet, Diakonissenanstalten entstanden, Sek­ ten bildeten sich, die westliches und östliches Glaubensgut mit­ einander zu verbinden suchten. Auf die jetzt sehr zahlreichen Leser von Zeitungen, Zeitschrif­ ten und volksaufklärerischen Broschüren war es leichter denn je propagandistisch einzuwirken, und die mannigfaltigen weltan­ schaulichen Ideen und religiösen Bekenntnisse mußten den Durchschnittsmenschen jener Zeit eher verwirren, als ihn mit Genugtuung erfüllen, endlich die Freiheit zu besitzen, über seine Gedanken und seinen Glauben nach eigenem Ermessen verfügen zu können. Bei einem großen Teil der Bevölkerung wurde noch streng an den althergebrachten gesellschaftlichen und teilweise in einer kirchlichen Tradition wurzelnden Formen festgehalten; wie oberflächlich und brüchig diese jedoch sein konnten, haben die zeitkritischen Roman- und Theaterschriftsteller des ausgehen­ den 19. Jahrhunderts in eindrücklicher Weise geschildert.

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UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK DÜSSELDORF

In der Kunst der Zeit von 1850 bis zum Ersten Weltkrieg zeigte sich eine ähnliche Vielfalt und Zersplitterung von Darstellungs­ weise, Auffassung und Geschmack. Ein Charakteristikum ist auch hier der teilweise Bruch mit der Tradition und eine zunehmende Individualisierung des Künstlers. Auf dem Gebiet der Malerei und der Bildhauerei — und das dürfte wohl keine zu große Verallge­ meinerung sein — wurde Frankreich in jener Zeit über alle Länder führend und ist es bis heute geblieben. In Paris fand der bildende Künstler das ihn befruchtende, extravagante, von der Prüderie und den gesellschaftlichen Vorurteilen nicht allzu sehr einge­ schränkte Milieu der bei epoque, oder es stand ihm die Provence mit ländlicher Großzügigkeit und leuchtenden Farben offen. Frankreich wurde zur Wiege aller Zweige der modernen Kunst wie des Impressionismus, des Expressionismus, des Kubismus, der ab­ strakten Malerei und Skulptur. Neben dieser eigenwilligen, vom Publikum zu Lebzeiten des Künstlers häufig nicht anerkannten Kunst kam es zwischen 1890 und 1910 zu den Erscheinungen des Jugendstils. Dieser neue Stil war der bewußte Versuch, dem in scheinbarer Unfruchtbarkeit verharrenden Kunstleben der damaligen Zeit, das sich wie die Praeraffaeliten, die Nazarener und die Neugotik in der Anlehnung an historische Vorbilder erschöpfte, eine moderne Grundlage zu geben, die ein originelles, aufbauendes Schaffen ermöglichen würde. In pflanzlich-ornamentalen Formen und organischen Schwingungen glaubte man die Erfüllung dieser Absicht zu sehen. Gleichzeitig aber bestand insgeheim die Hoffnung, in einer durch komplizierte Symbolik ausgezeichneten Kunst einen Ersatz für die verlorene Religion zu finden. Obgleich die Schöpfer des neuen Stils durchaus ernsthafte Leute waren, so wurden dessen Formen doch bald zur Erzeugung von mannigfaltigem Kitsch mißbraucht. Indes beschränkte sich der Jugendstil auf die Architektur und das Kunstgewerbe, auf den Buchdruck, auf Gebrauchsgegenstände wie Möbel und Lampen und auf Plakate. In den Werken der bedeutenden, vom Jugendstil beeinflußten Malern hingegen durchbrach die persönliche Eigenart und die schöpferische Kraft des Künstlers die dekorative, hochgezüchtete Ornamentik. In der Literatur traten zunächst soziale und gesellschaftskriti ­ sche Werke in den Vordergrund, ein Gebiet, auf dem Deutschland 14

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relativ spät, d. h. nach Frankreich, Rußland und England, einen Beitrag leistete. Denn erst mit der Bildung einer national-deut­ schen, bürgerlichen Gesellschaft, also erst nach der Einigung, kam auch der deutsche Gesellschaftsroman und mit ihm das deutsche, gesellschaftskritische Drama zu seiner Blüte (Fontane, Heyse, Freytag, Th. Mann; Schnitzler, Wedekind; G. Hauptmann), während deutsche Bildungsromane seit dem «Wilhelm Meister« immer wieder geschrieben und gelesen wurden. Um die Jahrhundert­ wende griffen einige Dichter auf romantische Themen und Sym­ bole zurück und drückten dadurch ihre Sehnsucht nach der ver­ gangenen, gefühlsreichen und schwärmerischen Epoche aus. Bei Stefan George und seinem Kreis wurde die Sprache zum magi­ schen Ornament, mit dem er sich und seinem von ihm geschaffe­ nen Gott huldigte. Dagegen siegte bei Hofmannsthal und, wenn auch auf andere Weise, bei Rilke die persönliche, sehr feine Emp­ findsamkeit über das unruhige Suchen der damaligen Welt nach neuen, belebenden Formen und schaffte Werke von zartester Schönheit. Nach 1900 fanden die psychischen Spannungen und die innere Aufgewühltheit des Individuums in den Dichtungen von Kafka, Rilke, Trakl, Musil und anderen ihren Ausdruck. Eine ähnliche Entwicklung wie diejenige der bildenden Künste und der Literatur ist in der Musik zu beobachten: Impressionis­ mus, ungeheure Sensibilität, folkloristische Rhythmen und Melo­ dien, stark national betonte Opemmusik, gegen 1910 die einen neuen Horizont eröffnende Zwölftonmusik.

C. Deutschland und Österreich nach 1871

Von 1871—1914 wuchs Deutschland zur ersten kontinentalen Macht heran. Der Zusammenschluß der Kleinstaaten erlaubte, die bis anhin zersplitterten Kräfte unter einer zentralen Gewalt zu koordinieren und voll auszunützen. Die Bevölkerung nahm in dieser Zeitspanne von 41 auf 67 Millionen zu. Um 1914 hatte Deutschland die beste Armee Europas, und die deutsche Flotte war zu einer ernsthaften Rivalin der englischen geworden. Auch in der Wirtschaft erlebte das Reich einen gewaltigen Aufschwung. 15

1910 hatte es die Stahlproduktion Englands übertroffen. Seine chemische und pharmazeutische Industrie wurde führend in der ganzen Welt. Der Außenhandel mit 17,8 Millionen Mark lag zwar hinter dem englischen mit 21 Millionen Mark zurück, zeigte aber eine stärkere Wachstumsrate als dieser. Innenpolitisch wurde das deutsche Kaiserreich zentralistisch und absolutistisch regiert. Der Kaiser und dessen Kanzler verfüg­ ten über eine fast unbeschränkte Macht. Wenn der Einfluß des Reichstags bis 1914 auch zunahm, so kam es nie zu einem Parla­ mentarismus wie in England oder in Frankreich. Die sozialen Fra­ gen wurden nach 1870/71 in einer den äußeren Umständen und Ansprüchen zwar entgegenkommenden Weise vom Staate gelöst, doch beschränkte dieser gleichzeitig die Macht der sozialistischen Partei. Dennoch und ungeachtet aller staatlich eingeführten Reformen, wie z. B. der Arbeiterversicherung, war nach Aufhe­ bung des Sozialistengesetzes im Jahre 1890 die Sozialdemokratie die am Reichstag am stärksten vertretene Partei. Die — wenn auch großzügige — Bevormundung durch die Regierung befriedigte die Menschen in einer Zeit der allgemeinen Demokratisierung nicht. Im Ersten Weltkrieg brach das anscheinend stabile, aber unmo­ derne innenpolitische Gefüge des deutschen Kaiserreichs in sich zusammen.

Das Habsburgerreich war um 1914 mit seinen 48 Millionen Menschen und seiner Ausdehnung von 675 000 Quadratkilometern einer der größten Staaten Europas. Jedoch bereits nach der Schlacht von KÖniggrätz, im Jahre 1866, hatte es praktisch seine Rolle als Großmacht ausgespielt. Durch seine zu einem großen Teil selbst­ verschuldete Isolation durch Rußland war es fortan gezwungen, sich außenpolitisch immer stärker an das Deutsche Reich anzu­ lehnen. Im Innern machten die nach Unabhängigkeit strebenden verschiedensprachigen Volksgruppen der zentralen Regierung mehr und mehr zu schaffen. Wie großzügig sich der Wiener Hof auch zeigte, wie weit er den Wünschen der einzelnen Völker auch entgegenkam (z. B. durch Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahre 1907), wie sehr sich auch z. B. die Polen eingestehen mußten, daß sie sich unter den katholischen Habsburgern weit freier fühlen durften als ihre Brüder unter den Russen oder unter 16

I den Deutschen, so verlangten doch einerseits die Magyaren, Tschechen, Polen, Ruthenen, Slowenen, Serben, Kroaten und Ru­ mänen die völlige Loslösung von der habsburgischen Krone und drängten anderseits viele Deutschsprachige nach Vereinigung des Österreichischen Stammlandes mit dem Deutschen Reich. Gerade jedoch zu jener Zeit wurden die beiden Hauptstädte Wien und Budapest zu Zentren der europäischen Kultur und der Wissenschaft. Von damals stammt der Ruf des eleganten, welt­ offenen und lebenslustigen Wien. Während in Deutschland strenge martialische Zucht herrschte, während dort alle Kraft für Wirtschaft und Industrie aufgewendet wurde, wurde Wien be­ rühmt durch seine Musiker, durch seine Theater, durch seine Kunstwerke und durch seine rauschenden Feste. Der Reichtum der Doppelmonarchie lag in erster Linie in der Landwirtschaft der sehr fruchtbaren Gebiete in Ungarn und in Böhmen, dann aber auch im böhmischen Bergbau und in den Salinen Istriens. Die Industrie hingegen war weit weniger ent­ wickelt als in Deutschland, England oder Frankreich. Unternimmt man die Aufgabe, die Lebensweise der Menschen einer vergangenen Zeit zu beschreiben, so gerät man leicht in Versuchung, Vergleiche mit der eigenen Gegenwart zu ziehen und die geschichtliche Epoche mit falschen Werturteilen zu belegen. Von außen betrachtet bildete das Deutschland der vier Jahr­ zehnte vor dem Ersten Weltkrieg eine äußerst solide und starke Einheit, und der Deutsche selbst war sich dessen nur zu sehr bewußt. Mit Recht konnte er auf die wirtschaftlichen, technischen und militärischen Fortschritte seines Landes stolz sein. Sie mußten nicht nur sein nationales Selbstbewußtsein erhöhen, sondern ihm auch ein starkes Gefühl von Sicherheit geben. Eigentlich, so könnte man heute meinen, hätte der Deutsche damals allen Grund gehabt, sorgenlos, zufrieden und gesund zu leben. Der Wohlstand der oberen Stände war nach innen und außen gesichert, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Industriearbei­ ter wurden laufend verbessert. Anderseits wird jener Zeit nach­ träglich der Vorwurf gemacht, sie hätte im materialistischen Den­ ken den Glauben an Gott erstickt, es sei den Leuten damals so gut gegangen, daß sie, leichtsinnig auf die eigene Stärke ver17

trauend, das Risiko eines Weltkrieges auf sich genommen hätten. Das beste Bild einer Zeit ergibt sich zweifellos, wenn man dem nachspürt, was die Menschen damals selbst über sich gesagt und gedacht haben. Wie schon bemerkt (vgl. Seite 15) wurden in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche bedeu­ tende Romane und Dramen geschrieben, die auf der einen Seite das Alltagsleben äußerst realistisch schildern, auf der andern Seite aber doch, wenn auch häufig zwischen den Zeilen, die kritische Einstellung des Schriftstellers zu seiner Umwelt verraten. Die in dieser gesellschaftskritischen Literatur zur Darstellung gebrachte Welt ist diejenige des Bürgers, des Arbeiters, des Bauern; der hohe Adel spielt kaum noch oder nur im Hintergrund eine Rolle. Das Leben der reichen deutschen Familien spielte sich in den hinter langen Seidenvorhängen dahindämmernden und mit schwerfälligen Möbeln ausgestatteten Salons ab. Das zielbewußte männliche Familienoberhaupt rang um Erfolg in Börse und Ge­ schäft und, zusammen mit seiner nicht minder ehrgeizigen Gattin, um die Erhöhung des gesellschaftlichen Ansehens. Auf eine strenge, aber dem Fortschritt der Zeit angepaßte Erziehung der Kinder wurde größten Wert gelegt. Nur die besten Schulen waren gut genug. Die Söhne sollten später ins väterliche Geschäft auf­ genommen, die Töchter aber möglichst vorteilhaft und standes­ gemäß verheiratet werden. Genau geregelte Anstandsformen bil­ deten die Stützen dieser Gesellschaft. Uber gewisse, meist sehr persönliche Dinge wurde einfach nicht geredet. Den Umgang mit dem «debauchierten» Verwandten, wie er in jeder Familie anzutreffen war, suchte man zu vermeiden. Die Verletzung der persönlichen Ehre erachtete man als so schwerwiegend, daß sie meist nur im Duell, d. h. mit Blut, bereinigt werden konnte. Eine möglichst zahlreiche Dienerschaft unter der strengen Aufsicht der gnädigen Frau war eine Selbstverständlichkeit. Traditionelle Familienfeste, Fahrten in die Sommerfrische,-ins Bad oder nach Italien, Kindereinladungen, brachten etwas Freude und Glück in die sorgenreiche Geschäftigkeit des Alltags. Auch die Wohltätig­ keit und die Religion hatten ihren festen Platz. Sie gehörten zu den Obliegenheiten der Hausfrau. Wenn möglich befand sich ein Pastor unter den engeren Hausfreunden. 18

Neben dieser standesbewußten, wohlhabenden Bevölkerungs­ schicht lebten die Fabrikarbeiter in den düsteren Backsteinbauten der Industriequartiere und verlangten nach einer Besserung ihrer Lage. Die städtebauliche Hygiene war damals noch nicht sehr fortgeschritten. In den Arbeiterquartieren gab es wenig Grün, die Sonne drang nur während kurzer Zeit in die engen Gassen und Höfe zwischen den hohen Miethäusern, auf die eine staub- und rauchgeschwängerte Luft drückte. Immerhin versuchte der Staat gegen Ende des Jahrhunderts mit sozialen Gesetzen und Institu­ tionen für das Wohl des Arbeiters zu sorgen. Seine Lage war nicht mehr hoffnungslos wie zu Beginn der Industrialisierung. Bis zum Weltkrieg blieben aber die Standesunterschiede in Deutschland sehr groß, und in der Politik hatte das Volk fast nichts mitzureden. Die Lebensweise der Minderbemittelten war deswegen nicht etwa weniger an Konventionen gebunden. Auch sie kannten eine Fami­ lienehre, auch ihrem Tun und Lassen setzte die Rücksicht auf den guten Ruf verhältnismäßig enge Grenzen. Trotz der Sittenstrenge der damaligen Zeit hatte jede Großstadt ausgedehnte Vergnügungsviertel. Die Städter wollten unterhalten sein, sei es im Theater, im Konzert, in Cabarets, in Tanzlokalen oder in noch anderen Etablissementen. Die Großstadt bot genü­ gend Möglichkeiten, aus dem begrenzten häuslichen Milieu aus­ zubrechen und in der Anonymität der Masse für einige Stunden unterzutauchen. Darin waren sich alle Stände einig, nur war es verpönt, darüber zu sprechen. Als Reaktion auf das als ungesund empfundene Stadtleben kam ein anderes Vergnügen auf: die Bewegung in der freien Luft. Zuerst fand das Turnen, dann der Sport im allgemeinen immer mehr Anklang und wurde von Erziehern und Ärzten empfohlen. Sport­ klubs, Turnvereine, die «Wandervögel», die «Naturfreunde» wur­ den gegründet. Man wollte die Natur von einer neuen Seite her entdecken und zugleich Geist, Körper und das nationale Gemein­ schaftsgefühl erfrischen und stärken.

Während uns die Dichter das Leben von damals mehr durch Bilder vor Augen führen und es hauptsächlich dem Leser über19

lassen, ihre Zeit zu klassifizieren und nach irgendwelchen Ge­ sichtspunkten zu benennen, so fehlt es nicht an anderen Leuten, die das anscheinend Typische am deutschen Wesen durch Schlag­ wörter hervorheben. Gegen Ende des Jahrhunderts verbreitet sich in den deutsch­ sprachigen Gegenden die Meinung, eine besondere Eigenschaft des modernen deutschen Menschen sei dessen Nervosität. Stim­ men machen sich bemerkbar, die die Nation von einer Nerven­ zerrüttung bedroht glauben, die in einer gestörten Nervenfunk­ tion, in der Nervosität, das «große soziale Übel» der Gegenwart erblicken. Die Ausdrücke «Nervosität»» und «nervös»», zwei Fremdwörter, tauchen erst gegen Ende des Jahrhunderts in der allgemeinen deutschen Literatur und damit wahrscheinlich auch erst in der Umgangssprache auf, während sie früher — außer in vereinzelten medizinischen Büchern — nicht gefunden werden können. Auch ist es auffällig, wie oft die Schriftsteller um 1900 ihre Romanhel­ den nervenkrank werden lassen. Wohl treffen wir auch in der Belletristik früherer Jahrzehnte auf seelisch Erkrankte, die Gründe und Umstände aber, warum diese «Unglücklichen»» erkranken, sind ganz andere. Den einen ist ein schreckliches Leid widerfah­ ren, das sie nun ihr Leben lang bedrückt, andere gerieten in den Bannkreis einer teuflischen Macht, wieder andere wurden infolge eines sittlichen Vergehens zu ewiger Ruhelosigkeit verurteilt. Die Dichter nennen sie grillenhaft, melancholisch, schwermütig, cho­ lerisch, hypochondrisch, frevelhaft, aber niemals nervös. Effi Briest, die Hauptfigur eines Romans von Theodor Fontane (1895), kränkelt an den Nerven. Im gleichen Buch spricht der Dichter von «nervösem Zittern»», «nervösem Zucken»», «nervöser Erregung»». Ferner finden sich Ausdrücke wie «es fällt einem auf die Nerven»», «es wird die Nerven beruhigen»». In der «L'Adultera»* (Fontane 1882) heißt es: «. . . in fortgesetztem und immer nervöser werdendem Hinaussehen erschien es ihr, als ob alle Fuhrwerke . .. ihr eigenes, elendes Gefährt in wachsender Eile überholten»», (p. 120.)

In der «Crone Stäudlin», einem Roman von Paul Heyse (1904)/ wird eine Kuranstalt beschrieben, in der sich die nervösen Städter unter der Aufsicht eines Arztes erholen. Als die Wirtin dem Dok-

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tor eine Erweiterung des gut gehenden Betriebes vorschlägt, prote­ stiert dieser: «Überreizte Nerven brauchten Ruhe und Einsamkeit, und die finanzielle Ausbeutung der günstigen Lage könne gegen den hygienischen Hauptzweck nicht in Betracht kommen.»» (p. 333-) Auch Thomas Mann gebraucht in den Buddenbrocks (1901) das Wort «nervös» etliche Male («nervöses Gähnen», «er lachte nervös»). Zu Thomas Buddenbrock sagt Doktor Langhals: «Die Nerven, Herr Senator... an allem sind bloß die Nerven schuld...*» (p. 695.) In Hermann Hesses Frühwerk «Peter Camenzind»» (1904) steht folgendes: «Der zweite (Verfasser) . . . taumelte zwischen neura­ sthenischen1 Selbstbetrachtungen und spiritistischen Anregungen verächtlich und hoffnungslos hin und her. Ich mußte die Bücher besprechen und machte mich natürlich über beide harmlos lustig. Vom Neurastheniker kam nur ein verachtungsvoller Brief in wahrhaft fürstlichem Stil.»» (p. 161.) Der Schriftsteller Heinz Tovote nennt eines seiner Werke «Ich, nervöse Novellen» (1901). Es handelt sich um einzelne Geschich­ ten, die in einem etwas unbeholfenen Stil kurze, stimmungsvolle Begebenheiten schildern. In einer Kritik zu Georg v. Ompteda's Roman «Drohnen»» be­ merkt Hermann Bahr (1897): «... keine Handlung und gar keine Psychologie und nicht einmal das gemeine Vermögen der Natura­ listen, das tägliche Leben zu malen: diese vielen Dinge sehen wir kaum. Aber wir fühlen sie, wir zucken von ihnen, sie rieseln in uns. Der nervöse Gehalt wird von ihm aus den Dingen gezogen. Plastisches fehlt, er geht ohne Umweg unmittelbar gleich an die Nerven.»» (p. 687.) Der um 1900 noch berühmte Leipziger Historiker Karl Lamp­ recht versucht in seiner zwölfbändigen «Deutschen Geschichte» über die letzten zwei umfangreichen Bände hinweg, die Nervo­ sität als Grundlage aller kulturellen Erscheinungen der Gegenwart nachzuweisen. Unter den Ärzten schrieben viele bedeutende Internisten, Neu­ rologen und Psychiater in Büchern, Abhandlungen, populären i Neurasthenie bedeutet ungefähr so viel wie Nervosität (vgl. III, Seite 33 ff.).

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Aufklärungs- und Mahnschriften über Nervosität, Neurasthenie und Nervenschwäche. Man bekommt entschieden den Eindruck, daß sich der Deutsche um 1900 für besonders nervös, für nervöser als in früheren Zeiten hielt. Heute wird mit Nervosität keine eigentliche Krankheit mehr bezeichnet. Der Ausdruck ist aber unwiderruflich in unsere Spra­ che eingegangen und wird von Ärzten und Laien täglich für alle möglichen Aufregungszustände, neurovegetative Symptome und für gewisse Formen psychischer Labilität verwendet. Auch wir halten uns gerne für eine ausgesprochen nervöse Generation, und es mangelt heute nicht an Stimmen, die versuchen, unsere Nervo­ sität einzudämmen. Die Nervosität als Zeitkrankheit — wie über­ haupt der Begriff «Nervosität» — entsteht, wie bereits bemerkt worden ist, am Ende des 19. Jahrhunderts. Die vorliegende Arbeit soll sich nun mit den Erscheinungen der Nervosität jener Zeit befassen, wobei vor allem zwei Fragen besonders interessieren: 1. Woher stammt diese sich gegen Ende des Jahrhunderts ver­ breitende Idee der erhöhten Nervosität? Wer bezeichnet zuerst mit einem medizinischen Ausdruck den Charakter eines ganzen Zeitabschnittes? Sind es die Ärzte, die ihrer Zeit diesen nervösen Stempel aufdrücken, oder ist der Nervositätsbegriff aus dem Volk heraus gewachsen und schließlich auch von den Ärzten über­ nommen worden? 2. Wieso kommt der Deutsche dazu, sich gerade in einer Zeit des materiellen Wohlstandes, der unbestrittenen politischen und militärischen Größe, der technischen Erfindungen als nervös, d. h. als nervenkrank zu bezeichnen? Es soll zuerst untersucht werden, wie sich Lamprecht in seinem historischen Werk die Nervosität als Zeiterscheinung vorstellt, und wie er dazu kommt, als Nichtmediziner mit einem iatrischen Begriff eine ganze Epoche zu charakterisieren. Von einem Histori­ ker darf ein besonders großes Verständnis für das kulturelle Gesche­ hen der eigenen Gegenwart erwartet werden, und es ist erlaubt anzunehmen, daß durch ihn in hervorragender Weise das ausge­ drückt wird, was seine Zeitgenossen in erster Linie beschäftigt. 22

II. DIE NERVOSITÄT BEI KARL LAMPRECHT

«Das jüngste große Zeitalter deutschen Seelenlebens (gemeint ist die Zeit von 1700 bis zur Gegenwart, d. h. bis ca. 1902) setzt ein mit der Empfindsamkeit und geht durch die Jahrzehnte der Ro­ mantik hindurch zu den modernen Zuständen über, die psychisch längst als Nervosität erkannt sind». (Lamprecht, 1. Erg.-Bd., p. 59.) Mit diesem Satz charakterisiert der Leipziger Historiker Karl Lamprecht in seinem 1902 erschienenen Buch «Zur jüngsten deutschen Vergangenheit1» die «psychischen Erscheinungen, die . . . das heutige Zeitalter von früheren Zeitaltern trennen.» Was «Empfindsamkeit, Romantik und Reizsamkeit gegenüber der seeli­ schen Eigenart früherer Zeitalter als gemeinsames Kennzeichen aufweisen, das ist ein immer stärker in den Vorstellungsbereich gehobenes Nervenleben — von dem bis zu Weinkrämpfen gestei­ gerten Freundschaftsdienst der fünfziger und sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts an bis zu den viel feineren, in der Seele noch tiefer abgegrabenen, noch bewußter hervorgerufenen Sensatio­ nen' der Nervenkünstler der Gegenwart.» (Lamprecht, 1., p. 60.) Das heutige, «neue seelische Zeitalter» nennt Lamprecht das Zeit­ alter des Subjektivismus, das um ca. 1700 beginnt, zur Zeit Glucks, den Lamprecht als «den frühesten Führer dieser Bewegung» und die Tonkunst als das «früheste . . . Kind dieser Entwicklung» an­ sieht. Den Sujektivismus unterteilt Lamprecht in eine erste Periode mit den Epochen der Empfindsamkeit, des Sturm und Dranges, des Klassizismus und der Romantik, des Realismus und des Epigonentums, und in eine zweite Periode mit der Epoche der Reizsamkeit (Spieß, p. 166 f.J, oder eben der Nervosität, deren An­ fang am Ende des Deutsch-französischen Krieges liegt. i «Zur jüngsten deutschen Vergangenheit» entspricht den beiden Ergänzungs­ bänden der «Deutschen Geschichte».

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Was beim Lesen von Lamprechts Werken auffällt, und was schon aus den zitierten Abschnitten hervorgeht, ist die Beurtei­ lung und Einteilung von geschichtlichen Ereignissen und Perio­ den nach psychologischen Gesichtspunkten. In allen seinen Wer­ ken bemüht sich Lamprecht um eine zeitgemäße, wissenschaft­ liche Grundlage der Geschichtsbetrachtung. Er wird — wie viele seiner Zeitgenossen — von Anfang an von positivistischen und evolutionistischen Ideen beherrscht und drängt, unbekümmert um Widersprüche, die geschichtlichen Tatsachen in ein aus dem Gedankengut seiner Zeit synthetisiertes, wissenschaftliches System hinein. Die Lamprecht'sche Geschichtsbetrachtung soll zu seiner Zeit «bis in alle Himmel erhoben« worden sein, «weil sie mit der Metaphysik aufgeräumt habe.« (Spieß, p. 48.) Doch ist die psycho-mechanische Evolutionstheorie Lamprechts nichts anderes als eine Art Metaphysik. Er schreibt unter anderem: «Wis­ senschaftlich denken heißt die Dinge unter dem Gesetze der abso­ luten Geltung von Ursache und Wirkung betrachten, heißt kausal und deterministisch denken: Kausalität und Determinismus aber fordern als Abschluß des Denkens die monistische Hypothese.« (Lamprecht, 1., p. 436 f.) Lamprecht beschäftigt sich zuerst, d. h. vor 1895, mit Wirt­ schaftsgeschichte. Er geht soweit, daß er behauptet, alle kulturel­ len und politischen Erscheinungen würden durch die jeweils herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse hervorgerufen und gelenkt. Diese Anschauungen finden sich teilweise noch nach 1895, obgleich er jetzt der «Entwicklung der verschiedenen Wirt­ schaften in den verschiedensten menschlichen Gemeinschaften eine große Summe gemeinsamer Motive zu Grunde« legt (Lam­ precht, 2. Erg.-Bd., p. n), worunter er die «Psychologisierung teil­ weise schon gefundener Wirtschaftsstufen» versteht. Nachdem Lamprecht nämlich im Jahre 1894 mit der Philosophie und Psy­ chologie von Wilhelm Wundt Bekanntschaft gemacht hat, wird die Wundt'sche Psychologie und damit die Psychologie im Allge­ meinen zur Grundlage seiner Geschichtswissenschaft. So schreibt Lamprecht in seiner «Deutschen Geschichte»: «Die Durchbildung der Wissenschaften ist von den allgemeinen Grundlagen der Erkenntnistheorie und diese von denen der Psychologie abhängig.» (Lamprecht, 1., p. 440.) Wie also Lamprecht zuerst die historischen 24

Ereignisse in sein wirtschaftsphilosophisches System hineinge­ preßt hat, so müssen sich jetzt die kulturellen, oekonomischen und politischen Erscheinungen der Psychologie unterwerfen. Durch eine Synthese der evolutionistischen Ideen des 19. Jahr­ hunderts mit der Psychologie von Wilhelm Wundt gelangt Lam­ precht zu seinem «Gesetz der fortschreitenden psychischen Inten­ sität und Differenzierung». (Spieß, p. 120.) Er behauptet, die ein­ zelnen Kulturzeitalter würden sich infolge einer Weiterentwick­ lung der sozialen Psyche gesetzmäßig miteinander verbinden und nach psychologischen Prinzipien ineinander übergehen. Den Be­ weis dieser Behauptung glaubt er in einem der historischen Bezie­ hungs-Gesetze von Wundt, nämlich im Gesetz der historischen Re­ sultanten, zu finden. Dieses Gesetz erklärt Wundt folgendermaßen: «Jeder einzelne ... Inhalt der Geschichte ... ist die resultierende Wirkung aus einer Mehrheit geschichtlicher Bedingungen, mit denen er derart zusammenhängt, daß in ihm die qualitative Natur jeder einzelnen Bedingung nachwirkt, während er doch zugleich einen neuen und einheitlichen Charakter besitzt, der zwar durch die historische Analyse aus jener geschichtlichen Verbindung ab­ geleitet, niemals aber aus ihnen durch eine a priori ausgeführte Synthese konstruiert werden kann . . . Offenbar ist dieses Gesetz ... nichts anderes als eine unmittelbare Übertragung des allge­ meinen psychologischen Prinzips der schöpferischen Synthese auf das Gebiet der Geschichte.» (Wundt, Logik 2., II. p. 408.) Daß dieses Gesetz jedoch die Evolution der Psyche selbst begründen soll, wird von Wundt nirgends behauptet. Er schreibt vielmehr, daß «die empirische Grundlage eines jeden Fortschrittgesetzes» auf der Tatsache beruhe, «daß sich stets eine Anzahl von Einzel­ wirkungen aufzeigen läßt, die ihm entsprechen», während es natürlich auch andere Entwicklungen gebe, bei denen dieses nicht zutreffe. Ferner «beruht jedes Fortschrittsgesetz auf einer ethi­ schen Forderung, der eine bestimmte Idee von dem allgemeinen Zweck der geschichtlichen Entwicklung zu Grunde liegt. .. (Die) schöpferische Energie des geistigen Lebens (drängt) zu jenen Ver­ allgemeinerungen (hin, die) in den verschiedenen Forschritts­ gesetzen ihren Ausdruck finden. Aber im Vergleich mit der kon­ kreten Verarbeitung der historischen Tatsachen besitzen doch die richtunggebenden Forderungen vielmehr die Bedeutung a priori 25

aufgestellter Maximen als empirischer Gesetze.» (Wundt, Logik 2., II. p. 404.) Lamprecht hingegen betrachtet unter dem Einfluß der evolu­ tionistischen Strömungen seiner Zeit1 das Wundt'sche Gesetz der historischen Resultanten als wissenschaftlichen Beweis zu seiner Idee der steigenden psychischen Intensität, mit andern Worten, er glaubt damit zu beweisen, daß die Psyche an sich eine Evolu­ tion durchmache. Er schreibt: «Die Summe einer Anzahl psychi­ scher Verursachungen ist nicht identisch mit derem psychischen Ergebnis; dieses Ergebnis ist vielmehr größer. . . Sind nun eine Anzahl sozial-psychischer Faktoren in kontinuierlichen Wirkun­ gen nebeneinander geordnet, wie das in jeder nicht plötzlich abgebrochenen, mithin in jeder normal verlaufenden geschichtli­ chen Entwicklung, vor allem aber in der regulären nationalen Entwicklung der Fall ist, so muß bei ihrem Wirken ein kontinuier­ lich steigender Überschuß psychischer Energie entstehen: d. h. das geschichtliche Leben muß sich in ständig steigender Inten­ sität bewegen. Das aber ist es, was die von mir gefundene Perio­ denreihe empirisch zum Ausdruck bringt.»2 Unter dieser Perio­ denreihe versteht er die bereits erwähnte Unterteilung der Kul­ turzeitalter nach psychologischen Gesichtspunkten, in die er jedes historische Ereignis einordnet. Auf diese Weise gelingt es ihm, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts überall vorherrschende Mei­ nung, man lebe im Zeitalter der Nervosität, in sein Geschichts­ system gewissermaßen organisch einzubauen. Infolge ihrer Evo­ lution befindet sich zu dieser Zeit die soziale Psyche — und mit ihr das ganze Zeitalter — in einem Zustand, in dem sie ihre letzte Stufe an Intensität erreicht hat und direkt mit den elementaren Teilen des Nervensystems, mit den Nerven selbst, lebt. Sinneseindrücke bleiben nicht mehr in einem allgemeinen äußeren 1 Es ist bezeichnend, daß Lamprecht an Schopenhauer folgendes aussetzt: «Was aber Schopenhauer durchaus von der Gegenwart trennt, das ist der Mangel des Entwicklungsgedankens. Sollte das Absolute der Trieb sein, so verlangte fast schon die ganze zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, daß es sich evolutio­ nistisch zu aller Breite und Schönheit der Erscheinungen dieser Weit aus­ wirke.» (Lamprecht, 2., p. 432.) 2 Nach Spieß zitiert aus Lamprecht, «Was ist Kulturgeschichte?», erschienen in «Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft», Neue Folge, 1. Jg-Z 1896, p. 132.

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Bereich der Seele, wie z. B. im Gefühl, haften, sondern dringen bis zu den Nervenendigungen vor. Kunst, Literatur, Wirtschaft wird mit den Nerven selbst erlebt und gestaltet, sie werden nervös empfunden und nervös geschaffen. Wegen der schwülstigen Sprache bereitet es einige Mühe, Lam­ prechts Werke zu lesen. Er verwendet komplizierte Wortgebilde und zahlreiche Fremdwörter, hinter denen sich nur allzu gern Unklarheiten verschleiern, und sich der logische Faden der Be­ weise verliert. Um die mannigfaltigen geschichtlichen Ereignisse auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, scheut Lamprecht nicht vor willkürlichen und häufig nur verwirrenden Schema­ tisierungen zurück. Schon zu Lebzeiten wird er deshalb von seinen Kollegen heftig kritisiert: «Denn so wenig klar und tief auch die Lamprecht'schen Gedanken meistens sind, so versteht er es doch ausgezeichnet, sie in ein Gewand wortreicher, schwer entwirr­ barer und spitzfindiger pseudophilosophischer Dialektik zu hül­ len» 1 oder: «Es ist vom fachmännischen Standpunkt aus geradezu ungeheuerlich, wie Lamprecht ohne jede sichere Basis ganze soziale Zustandsschilderungen einfach nach Bedarf konstruiert, oft auf bloße Annahmen oder gänzlich unzulängliche Analogien hin und in welchem . . . Maße er verallgemeinert und schemati­ siert. Wenn seine Gegner unter den Historikern ihm Mangel an Genauigkeit und konstruktiven Schematismus vorgeworfen ha­ ben, so sind solche Vorwürfe durchaus nicht unberechtigt.» 2 Hat seit Ranke die Geschichtswissenschaft angefangen, sich die Methoden der Naturwissenschaften anzueignen, und durch ein intensives Quellenstudium die Vorgänge möglichst objektiv, also, wo immer es geht, ohne Spekulationen zu erforschen und zu beurteilen, so stellt Lamprechts Vorgehen eigentlich einen Rück­ schritt in jene Zeiten dar, da man alles Geschehen von einer fixen Warte aus betrachtet und in ein meist durch ein religiöses Dogma bestimmtes System eingeordnet hat. Lamprecht sagt dazu Fol­ gendes: «Aber es gibt auf dem Gebiete der Geschichtswissenschaft 1 Zitiert nach Spieß: Rach fahl, »Karl Lamprecht, Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft», Preußische Jahrbücher, 84. Bd., 1896, p. 553. 2 Zitiert nach Spieß: Cunow, ««Lamprecht als Historiker», erschienen in ««Die neue Zeit», 1914/15, 2. Bd., p. 25 f.

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heutzutage keine größere Sünde als das bloße Heranschleppen und im Grunde rein kompilatorische Zusammenstellen von Stoffund Tatsachenmassen. Davon haben wir genug und übergenug: ja wir sind daran, im Stoffe völig kritiklos zu versinken,- in Wahr­ heit und von einem höheren Standpunkt aus kritiklos auch dann, wenn dieser Stoff nach allen «methodischen Grundsätzen» bear­ beitet dargeboten — aber eben nur beschreibend dargeboten wird. Das, wessen wir bedürfen, läßt sich mit einem Worte ausdrücken: Fermente, Gärungsmittel hinein in den Stoff!» (Lamprecht, 1., Vorwort p. X.) Dem gegenüber sei an einige Worte von Jakob Burckhardt erinnert, bei dessen Tod (1897) Lamprecht eben sein psycholo­ gisch-mechanistisches Geschichtssystem entwickelt. Burckhardt schreibt, er «verzichte auf alles Systematische», er «begnüge sich mit Wahrnehmungen und gäbe Querschnitte durch die Ge­ schichte, und zwar in möglichst vielen Richtungen.» Geschichts­ philosophie «ist ein Kentaur, eine contradictio in adjecto,- denn Geschichte, d. h. das Koordinieren ist Nichtphilosophie und Philo­ sophie, d. h. das Subordinieren, ist Nichtgeschichte.» (Burckhardt, p. 43.) «Die Geschichtsphilosophen betrachten das Vergangene als Gegensatz und Vorstufe zu uns als Entwickelten; — wir betrachten das sich Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns An­ klingendes und Verständliches.» (Burckhardt, p. 45.) Bei der Lektüre von Lamprechts Werken wird man mit «Gä­ rungsmitteln» derart überschwemmt, daß man, um beim Lamprecht'schen Beispiel zu bleiben, den ursprünglichen Wein nicht mehr aus dem Essig herausschmeckt. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts beginnt also für Lamprecht die Kultur der Reizsamkeit oder die nervöse Kultur. Die Kunst ist nervös, die Dichtung ist nervös, das Wirtschafts­ leben ist nervös. Besonders deutlich zeigt sich die Nervosität bei der impressionistischen Malerei. Die Bilder lassen sich in einzelne Farbtöne oder Färb flecken zergliedern, die als elementare Teile des Kunstwerkes auf die elementaren Teile der Psyche, also auf die Nerven, wirken. Man kann dieser Auffassung gerecht werden, wenn man sich die Werke der Pointillisten, etwa einen Sisley oder Seurat, in Erinnerung ruft. Lamprecht schreibt dazu: «Diese ganze 28

neue Kunst, in der der Farbeneindruck sozusagen alsbald am Ende der Nervenbahn abgefangen und koloristisch registriert wird, ist doch erst die letzte Stufe der Entwicklung: es ist der psycholo­ gische — bei vollster Durchführung könnte man fast sagen neuro­ logische—Impressionismus.» (Lamprecht, i., p. 135.) Die Idealisie­ rung des psychologischen Impressionismus führt nach Lamprecht zu den Erscheinungen des Jugendstils. Dieser neue Stil zeichnet sich durch einen Idealismus der Stimmung aus, die dadurch zu­ stande kommt, «daß Lichtfarbenreize, die ursprünglich aus der Erscheinungswelt her, als von bestimmten Gegenständen aus­ gehend, zur Aufnahme gelangen, nun umgekehrt von der Psyche aus selbsttätig und in willkürlichen Phantasien des Lichts und der Farbe hervorgerufen werden.» (Lamprecht, i.,p. 187.) Begrenzt man den so entstandenen Licht-Farbeneindruck, so entsteht das Orna­ ment, und in diesem Falle hauptsächlich das pflanzliche Orna­ ment, dessen «vegetative Form immer mehr vereinfacht (worden, bis) schließlich nur die organische Stimmung übrig geblieben (ist), die heute. . . unser ganzes Kunstgewerbe, vom Buchdruck in seinen ornamentalen Teilen bis zur Möbelindustrie, durchsetzt.» Die moderne Musik bezeichnet Lamprecht «als erste große künstlerische Erscheinungsform eines neuen Seelenlebens, des Seelenlebens der Gegenwart, der Periode der Reizsamkeit. .. Wag­ ner ist die repräsentative Persönlichkeit dieser Bewegung... er ist die repräsentative Persönlichkeit der Anfänge der reizsamen Periode überhaupt.» (Lamprecht, 1., p. 41.) Während die alte Musik «in der Seele bloß bis ins Stockwerk der Gefühle herunter» drin­ gen konnte, so wirkt die neue Musik «systematisch in jedem Moment der gerade ihr eigenen Harmonisierung, Stimmführung, Rhythmik . . . auf die Nerven.» Ähnlich wie die impressionistische Malerei erregt also die moderne Musik, und im Besonderen die­ jenige von Richard Wagner, die elementaren Teile der Seele und macht den Zuhörenden «nervös». Etwas weniger nervenbelastend sind die Bemerkungen Lam­ prechts zur Literatur. Einzelne Ausführungen vermitteln ein recht anschauliches Bild des betreffenden Dichters. Das Werk Gerhart Hauptmanns scheint sich in besonderer Weise dem psycholo­ gischen Schema Lamprechts zu fügen, da sich an ihm die Evolu­ tion der sozialen Psyche vom «physiologischen Impressionismus» 29

(Vor Sonnenaufgang, die Weber usw.) über einen «märchenhaften, an den Jugendstil erinnernden Symbolismus»» (die versunkene Glocke) bis zum eigentlich «psychologischen Drama»» verfolgen läßt (Fuhrmann Henschel usw.). Das Werk Fontanes bezeichnet Lamprecht als «Übergangsstil»», da bei ihm eine Mischung von Realismus und psychologischer Charakterstudie zu finden sei. Er erscheine «als ein Vermittler zwischen dem ursprünglich mehr dem Äußerlichen zugewandten und dem späteren vornehmlich psychologischen Impressionismus.»» (Lamprecht, i., p. 295.) Wenig glücklich verfährt er bei der Schematisierung von Hofmannstal, dessen «neurologisches»» Drama (gemeint sind Tor und Tod, der Tod des Tizians, Gestern etc.) er ein «Kind nervöser Einsamkeit und aristokratisch zurückgezogener Empfindung»» nennt. Die äußere Welt kennt Hofmannstal «gleichsam nur verstandesmäßig, denn die Nervenbeobachtung bildet nur den Sinn für verstandes­ mäßige Gliederung aus.»» (Lamprecht, i.,p. 348.) Es ist jedoch kaum verständlich, wie jemand die subtilen und empfindsamen Verse der frühen Dramen Hofmannstals «verstandesmäßig gegliedert»» nennen kann. Die Gnmdzüge der wirtschaftlichen Psychologie sieht Lam­ precht im Verhältnis zwischen Bedürfnis und Genuß oder der Bedürfnisbefriedigung. «Dabei hat sich herausgestellt, daß die seelische Spannung zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedi­ gung mit steigender Wirtschaft immer größer wird: in immer gewaltigerer Menge und immer feinerer Durchbildung werden Urteile und Kombinationen von Urteilen nötig, um den Genuß neuer Wirtschaftsgüter zu ermöglichen.»» (Lamprecht, 2., p. 69.) Lamprecht übernimmt bei der Darstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse seine ursprüngliche wirtschaftsmechanistische Kon­ zeption der Geschichte und durchmischt sie mit seinen neuen psychologischen Ideen. Er sagt: «Mit der Entwicklung neuer For­ men des Wirtschaftslebens (setzen) auch neue Formen des Ver­ standeslebens ein.»» (Lamprecht, 2., p. 70.) Für ihn ist das 19. Jahr­ hundert die Zeit des freien wirtschaftlichen Wettbewerbs oder des freien Unternehmertums. Fabrikation, Transport, Verkauf ruhen oft in derselben Hand. Dem Markt sind vorläufig keine Schranken gesetzt, die Welt steht dem Unternehmnungslustigen offen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber zeigen sich bereits 30

neue Strömungen: Der Kommissions- oder Zwischenhandel und die Bildung von Kartellen und Vereinen, das erste eine «mehr individualistische», das zweite eine «mehr sozialistische Entwick­ lung» versprechend. (Vgl. Lamprecht, 2., p. 57 ff.) «Soweit dagegen die jüngste Vergangenheit der Nation in Betracht kommt, ist es zweifellos die freie Unternehmung gewesen, die als spezifische Unternehmungsform des 19. Jahrhunderts Färbung und Ton, Wesen und Kern der wirtschaftlichen Entwicklung vornehmlich bestimmt hat.» (Lamprecht, 2., p. 63.) Die Anforderungen, die an den freien Unternehmer gestellt werden, sind ungeheuer, er wird kaum einen Augenblick von lauteren oder leiseren Widerspielen der Affekte verlassen. Denn da er die Wirtschaftsformen, inner­ halb deren er sich bewegt, alle rationalisiert hat oder doch im höchsten Grad bestrebt ist zu rationalisieren, so vermag er auch sozusagen jeden Augenblick jede Zuckung seiner Geschäfte und der Basis derselben mitzuerleben. . . . Einem Gefühl mit positiven Vorzeichen folgt ein solches mit negativen, und der nach Ablauf des Affektes einsetzende Zustand der Indifferenz zeigt sich noch gefärbt von dem zuletzt erlebten Vorzeichen. ... Dann kommt es zu einem jagenden Durcheinander der Gefühlskontraste, zu einer Hetze der Empfindungen: und das Ergebnis ist ein belastendes Bewußtsein der eigenen Kapriziosität, ist Unlust- und Spannungs­ und Erregungsgefühl zugleich, — ist Nervosität.» (Lamprecht, 2., p. 248 ff.) Lamprecht bemerkt dann weiter, daß sich mit der «ner­ vösen Haltung» die Eigenschaften verbinden, «die den glücklichen Unternehmer zu machen pflegen ..der sogenannte große und scharfe Blick, d. h. die Gabe, weite Räume und Zeiten in ihrem Zusammenhänge und Verlaufe, überhaupt in ihren Gelegenhei­ ten rasch übersehen und zu ihrer Beherrschung fortlaufend und fehlerlos über die vollendeten Feinheiten diplomatischer Behand­ lung verfügen zu können.» (Lamprecht, 2., p. 250 f.)

Die Nervosität bildet also für Lamprecht den psychologischen Hintergrund des kulturellen Geschehens des ausgehenden 19. Jahrunderts. Wie gezeigt wurde, versucht Karl Lamprecht, mög­ lichst alle zeitgenössischen wissenschaftlichen und philosophi­ schen Strömungen in sein historisches System einzubauen. Wie immer, so hat er, auch was die Nervosität betrifft, seine fachwis31

senschaftlichen Gewährsmänner. Es handelt sich in diesem Fall um Ärzte. Im zweiten Ergänzungsband (p. 250) zitiert der Histo­ riker eine Definition des Mediziners und Sozialpsychologen Hellpach aus der politisch-anthropologischen Revue (Bd. 1., p. 48, 1902): «Nervosität ist diejenige Geistesstörung, bei welcher die psychische Reaktion auf körperliche oder psychische Reize — Eindrücke und Erinnerungen im Sinne einer Steigerung und eines Vorherrschens der Unlust —, Spannungs- und Erregungsgefühle verschoben erscheint.» Lamprecht bemerktes sei daher erklärlich, «warum der Beruf des Unternehmers so häufig . . . unmittelbar zur nervösen Erkrankung führen könne und geführt habe.» Er erwähnt auch das Buch des amerikanischen Arztes Beard, der 1880 «die Neurasthenie zuerst als besonderen Krankheitstyp erkannt» habe. Lamprecht verändert aber den Begriff der Nervosität in seinem Sinn. Für ihn ist sie weniger eine Krankheit als das Emp­ finden, Auffassen und Schaffen mit den Nerven. Er sagt dazu: «Man darf . . . mit dem Worte «Nervosität» nicht ohne weiteres den Begriff des Krankhaften verbinden: es handelt sich nur um ein uns in verstärkter Weise bewußt gewordenes Leben der Ner­ ven, das man deshalb vielleicht besser, da einmal das Wort Ner­ vosität/ bestimmte Nebenvorstellungen erweckt, für den hier gemeinten Sinn mit dem Worte ,Reizsamkeit' vertauschen wird.» (Lamprecht, 1., p. 59.) Und an einer anderen Stelle: «Nervosität ist heute nicht mehr Nervenschwäche . . . Hat sich nicht unser aller heutzutage eine gewisse Nervenstimmung bemächtigt, die zwar nicht mit der alten, groben und krankhaften Nervosität identisch ist, von der man vor zwei bis drei Jahrzehnten allein sprach, — die aber doch eine Feinfühligkeit gegenüber Reizen auf­ weist, wie sie frühere Geschlechter nicht kannten? In dieser Er­ scheinung aber kann die heutige allgemeine Nervosität nicht mehr als Form der Entartung bezeichnet werden: vielmehr ist sie, so geartet, nichts als eine entwicklungsgeschichtlich herbeige­ führte und zwar im Sinne der Verfeinerung entfaltete Abart frü­ herer Nervenstimmungen.» (Lamprecht, 2., p. 261 f.) Lamprecht spricht von der «krankhaften Nervosität..., von der man vor zwei bis drei Jahrzehnten allein sprach» und greift damit auf die achtziger Jahre zurück, d. h. also auf jene Zeit, da die ersten Werke über die Nervosität in Deutschland erschienen sind.

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III. DIE NERVOSITÄT ALS KRANKHEIT A. Beards Buch

1881 kommt die deutsche Übersetzung des amerikanischen Buches «Neurasthenia, die Nervenschwäche»» von G. M. Beard, einem Arzt in New York, heraus. Auf sein Erscheinen reagiert die Ärzteschaft in Deutschland, Österreich und auch in der deutschen Schweiz mit einer Flut von Abhandlungen über Nervosität und Neurasthenie. Ein Artikel von Beard über das gleiche Thema, der im Jahre 1869 in einer amerikanischen Ärztezeitung erschienen ist und seine Bemerkungen über Neurasthenie in dem ebenfalls ins Deutsche übersetzten Buch «Elektrotherapie»» (New York, 1871) sind fast unbeachtet geblieben. Einzig Wilhelm Erb be­ schreibt im «Ziemßen'schen Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie»» (2. Auflage 1878) die Neurasthenie des Rücken­ marks. (Vgl. Seite 109 f.) So bemerkt im Vorwort der deutsche Übersetzer (Dr. M. Neißer, Sanitätsrat in Breslau und Badearzt in Charlottenbrunn) der «Neurasthenia»», Beard hätte gegen das passive und expektative Verhalten seiner deutschen Kollegen der Nervosität gegenüber anzukämpfen. Insofern bedeutet daher das amerikanische Buch einen Erfolg, als es die deutschen Ärzte ein für allemal aus ihrer Zurückhaltung herausgelockt hat, und es ist angebracht, näher darauf einzugehen. Beard betrachtet die Neurasthenie als eine typisch amerika­ nische Krankheit, als eine Krankheit der Zivilisation und der besseren Gesellschaft. In Europa sei sie verhältnismäßig selten. Wegen der Abhängigkeit der amerikanischen Medizin von der europäischen, insbesondere von der deutschen wissenschaftlichen Forschung, sei es bis jetzt schwierig gewesen, die Neurasthenie als eine selbständige Krankheit zu erkennen und zu würdigen. Die klinische Forschung beschränke sich im wesentlichen auf die Spi­ täler, wo die Nervosität aber viel weniger vorkomme als in der täg33

liehen Praxis. Es erfordere Urteilskraft und Beobachtungsgabe, das Wesentliche an der Neurasthenie zu erkennen. Mit der Registrie­ rung von Sinneseindrücken allein sei es nicht getan. Als grundlegend für das Entstehen einer Neurasthenie bezeich­ net Beard die nervöse Diathese. Die Krankheit trete aber erst auf, wenn ungünstige Umweltsfaktoren hinzukämen. Dazu gehören die moderne Zivilisation und die sie begleitenden Umstände (die er aber in dem von Neißer übersetzten Buch nicht näher bezeich­ net), ferner auch klimatische Einflüsse, übertriebene Befriedigung von Leidenschaften und Gelüsten. Für Beard ist die Neurasthenie eine rein somatische Krankheit. Als Kind des 19. Jahrhunderts bestreitet er alles, was nicht mate­ riell, d. h. in diesem Falle nicht organisch erklärbar ist. Insbeson­ dere lehnt er den psychogenen oder gar moralischen Charakter der Nervosität ab. Er nennt sie zwar eine funktionelle Krankheit,, doch heißt für ihn funktionell eine organische Veränderung, die nicht mit dem (unbewaffneten und bewaffneten) Auge wahrge­ nommen werden kann. Die Neurasthenie sei ein Nervenmangel (nervelessness), mit anderen Worten eine Verarmung der Nerven­ kraft, ein quantitativer und qualitativer Fehlaufbau des Nerven­ gewebes. Der Verbrauch an Nervensubstanz sei größer als deren Zufuhr. Es kommt zu häufig wechselnden Symptomen, welchen schädliche Reflexvorgänge zugrunde lägen, die von irgendeinem Körperteil ausgehen könnten. Hauptirritationszentren seien: das Gehirn, der Verdauungsapparat und das reproduktive System. Die Störungen, die in den inneren Organen auftreten, führt er auf vasomotorische Reflexe zurück: durch eine fehlbare vasomoto­ rische Innervation komme es zu lokalen Hyperaemien (Conge­ stion) bzw. Anaemien, die sich klinisch, je nach Organ, auf ver­ schiedene Weise äußern würden. Den wissenschaftlichen Beweis dieser Pathogenese sucht man bei Beard vergeblich. Er bemerkt lediglich, seine Lehre scheine «die Feuerprobe seitens einer hinreichenden Anzahl von Fach­ kundigen bestanden und in die Reihe der wissenschaftlichen, anerkannten Tatsachen Aufnahme gefunden zu haben.»» (Beard, p. 115.) Die Symptome der Neurasthenie werden im zweiten Kapitel des Buches über lange Seiten hinweg und ziemlich unsystematisch 34

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aufgezählt und genau beschrieben. Er erwähnt zuerst rein psy­ chische Zustandsbilder wie unsinnige Furcht (Platzangst, Anthrophobie, Pathophobie), Zwänge, Verstimmung, krankhafte Reizbar­ keit, Rastlosigkeit, dazu mehr im neurovegetativen Bereich gele­ gene Störungen: häufiges Erröten, abnormes Schwitzen, Herz­ klopfen, Muskelzittern, Pruritus etc.1. Dann finden sich aber auch Symptome wie Oxalurie, Urate im Urin, Zahnkaries, mouches volantes, die kaum etwas mit dem Nervensystem zu tun haben, oder die überhaupt kein Zeichen von Krankheit sind, wie jugend­ liches Aussehen und mangelnder Durst. Zum Durst bemerkt er: «Es ist keine Frage, daß die Europäer, welche weit weniger nervös sind, weit mehr flüssige Nahrung zu sich nehmen als die Ameri­ kaner.» (Beard, p. 54.) Als differentialdiagnostisch wichtig bezeichnet Beard die Flüch­ tigkeit der Symptome der Nervosität (deshalb soll sich z. B. die Migräne nicht mit ernster Erkrankung des Zentralnervensystems vertragen) und die erhöhte Reflextätigkeit. Die Neurasthenie hält er für einen Antagonisten von anderen Krankheiten und umge­ kehrt. Die Prognose wird von der nervösen Diathese abhängig ge­ macht. Auch bei schwerer erblicher Belastung könne unter geeig­ neter Therapie Heilung eintreten. Die Neurasthenie praedisponiere aber für eine Reihe von Geisteskrankheiten (Hypochondrie, Hysterie, Alkoholismus, Katalepsie) und von pathologischen Zu­ ständen wie Heufieber, Paralyse, Basedow, Albuminurie. Wichtig sei eine äußerst individuelle Therapie, da nie zwei Menschen das gleiche neurasthenische Krankheitsbild aufwiesen. Wenn zwei Neurastheniker von Anfang bis zum Ende ganz gleich behandelt würden, so sei es wahrscheinlich, daß man einen von ihnen falsch behandle. Da ein Ersatz für die geschwundene Ner­ vensubstanz geliefert werden muß, gehört eine reiche, vor allem fetthaltige Ernährung zu den ersten therapeutischen Maßnahmen. Weiter zählt Beard verschiedene Mittel und Prozeduren auf, die alle mit Erfolg angewendet werden können: medikamentöse Schau­ keltherapien, Elektrizität, Massage, Bäder, Ruhe, Klimawechsel. i Daß die meisten dieser vegetativen Symptome auch bei wirklich organischen Krankheiten anzutreffen sind, findet - etwa im Sinne einer Differential­ diagnose — keine Erwähnung.

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«(Denn jedes Mittel kann) erleichtern oder heilen, welches im­ stande ist, eine Veränderung in der Konstitution herb ei zu führen.” (Beard, p. 167.) Zuerst müsse aber — entsprechend der Theorie von den Excitationszentren — das örtliche Leiden, welches der Neura­ sthenie zugrunde liege und sie unterhalte, beseitigt werden. Eine rein psychische Behandlung lehnt Beard ab. Die Neurasthenie «kann ebenso wenig durch Zusprache oder Spöttereiwegdisputiert werden als ein Anfall von Pocken oder Typhus durch psychische Einwirkungen zu beseitigen ist.» (Beard, p. 139.)

B. Die Nervosität und die Neurasthenie in den nach 1880 erschienenen deutschen medizinischen Werken

Das erste deutsche Werk über die Nervosität ist ein 1882 erschie­ nenes Büchlein von P. J._Möbius, dessen Ansichten sich eng an diejenigen von Beard lehnen. Möbius widmet jedoch der Aetiologie bedeutend mehr Aufmerksamkeit, wobei er energisch gegen die ungünstigen Einflüsse der Zivilisation auf die menschliche^ Gesundheit ins Feld zieht. Von da an bildet die Kultur und die moderne Lebensweise als Ursache der Nervosität das Angriffsziel zahlreicher Ärzte, die ihre Meinung nicht nur in Fachkreisen, sondern durch Vorträge, Gesundheitsbücher und Zeitungsartikel im ganzen Volk verbreiten. Es würde ins Uferlose führen, auf alles, was seit 1881 über Nervosität und Neurasthenie publiziert worden ist, näher einzugehen. 1893 erscheint ein «Handbuch der Neurasthenie», an dem insgesamt zehn Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gearbeitet haben. Die Bibliographie dieses Buches erstreckt sich über siebzehn Seiten, in der mehr als hundert deutschsprachige Publikationen aus der Zeit von 1881 bis 1893 aufgeführt werden. Das macht durchschnittlich alle sechs Wochen eine Neuerscheinung über die Nervosität oder über einzelne Symptome derselben. Es gehört beinahe zum guten Ton, daß jeder Arzt, der mit diesem Gebiet in Berührung kommt, sich auch schriftlich dazu äußert. Erstaunlich jedoch ist, wie weit manchmal die Ansichten der Ärzte über die Pathogenese, die Aetiologie, die Symptomatik und die Therapie der Nervosität auseinander gehen. 36

i. Begrenzung der Nervosität und der Neurasthenie

Arndt, Professor der Psychiatrie an der Universität Greifswald, («Die Neurasthenie»», Wien und Leipzig 1885) hält als einziger die Neurasthenie nicht für ein Leiden sui generis, sondern für eine nervöse Begleiterscheinung körperlicher Krankheiten. Er schreibt: «Die Neurasthenie ist der Ausdruck einer Hypertrophie des Ner­ vensystems (an einer anderen Stelle bezeichnet er das Nerven­ system des Neurasthenikers als unreif und foetal), zu der die chlorotisch-nervöse Konstitution die hauptsächlichste Veranlas­ sung gibt. Die verschiedenartigsten Ursachen, Krankheiten und krankhafte Zustände, so namentlich Dyskrasien und Kachexien, können sie bedingen, und damit erweist sie sich denn . . . mehr als ein Symptom der mannigfaltigsten Krankheiten und krankhaften Zustände als eine solche selbst.»» (Arndt, p. 132.) Alle anderen Ärzte glauben in der Neurasthenie eine wirkliche und selbständige Krankheit zu sehen. Meistens — und besonders in der ersten Zeit, d. h. nach 1881 — bedeutet der Ausdruck Neura­ sthenie so viel wie Nervosität. Jener hat mehr wissenschaftlichen, dieser mehr volkstümlichen Charakter. Man spricht auch von der «reizbaren Schwäche» und meint damit «eine zu leichte Erschöpf­ barkeit und eine zu leichte Erregbarkeit des Zentralnerven­ systems.»» (Handbuch, p. 59.) Otto Binswanger, Professor der Psy­ chiatrie in Jena, («Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie»», Jena 1896) macht kaum einen Unterschied zwischen Neurasthenie und Nervosität. P. J. Möbius, Professor für Neurologie in Leipzig, faßt hingegen den Begriff der Nervosität weiter als den der Neura­ sthenie. Er demonstriert diese Ansicht durch ein Schema von zwei kongruenten Kreisen. Der innere Kreis umfaßt die Neurasthenie, die reizbare Schwäche ohne irgendwelche Symptome einer anderen Nervenkrankheit, der äußere Kreis entspricht der Nervosität, die als Hauptursache sämtlicher Geisteskrankheiten bereits einzelne Symptome derselben zeigt. Im Schema schneidet oder tangiert der Kreis der Nervosität andere Kreise, welche der Hysterie, der Kata­ lepsie, der Melancholie usw. entsprechen. Freiherr von Krafft-Ebing, Professor der Psychiatrie zuerst in Graz und später in Wien, spricht in seiner 1885 erschienenen, volks­ tümlichen Broschüre «Uber gesunde und kranke Nerven»» über37

haupt nur von der Nervosität. 1900 erscheint von ihm ein wissen' schädlicheres Werk, in dem zwischen «Nervosität» und «Neura­ sthenischen Zuständen» unterschieden wird. Krafft-Ebing hält die Nervosität nicht eigentlich für eine Krankheit, sondern für eine «meist angeborene krankhafte Veranlagung» des Nervensystems, die sich durch eine tiefe Reizschwelle und eine abnorme Kürze der Reaktionsdauer auszeichne. Neurasthenie könne als Krank­ heit aus der Nervosität hervorgehen. Die beiden würden sich dadurch unterscheiden, daß bei der Neurasthenie neben der «abnorm leichten Anspruchsfähigkeit» auch eine «abnorm leichte Erschöpfbarkeit» der Nerven vorliege. Cramer, Professor der Psychiatrie in Göttingen, («Die Nervosi­ tät», Jena 1906) bemüht sich, die Nervosität und die Neurasthenie genau zu begrenzen. Er behauptet, «daß die Erkrankungen des Gehirns, welche nach Ausscheidung von Geisteskrankheiten (die da einsetzen, «wo eine Störung des Verstandes, der Affekte oder ein Defekt in der Intelligenz zu mangelnder oder falscher Urteils­ bildung führen») von Epilepsie, von organischen Gehirnleiden und anderen wohlumschriebenen neurologischen Krankheitsfor­ men übrig bleiben, als Nervosität bezeichnet werden müssen.» (Cramer, p. 5.) Er unterteilt die Nervosität in drei Gruppen: «die erste Gruppe, bei der die endogenen Erscheinungen zurücktreten, und bei der psychogene Momente wohl auch eine Rolle spielen können, aber nicht prädominierend das Krankheitsbild beherr­ schen: die Neurasthenie.» Klinisch äußere sich die Neurasthenie in einer Erschöpfung und Abgeschlagenheit, verbunden mit totaler Unfähigkeit zur gewohnten Arbeit. Die Prognose sei günstig. «Die zweite Gruppe, bei der die endogenen Erscheinungen im Vordergrund der Symptome stehen: die endogene Nervosität.» Unter diesen Namen reiht er die mannifaltigsten Störungen: neben allgemeiner Erschöpfbarkeit: Zwangsphänomene, Angst­ zustände, Psychopathien mit körperlichen Stigmata, Hypochon­ drie, Störungen der Herztätigkeit und des Gastro-Intestinaltraktus. Die Prognose sei weniger günstig, die Heilung dauere länger als bei der Neurasthenie. «Die dritte Gruppe, bei der die psychogenen Erscheinungen alles andere überwiegen: die Hysterie.» Darunter versteht der Autor eine Krankheit, «welche auf dem Boden einer endogenen

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Disposition entsteht, sich durch eine krankhafte Labilität der Vor­ stellungen auszeichnet und gewöhnlich mit einer gesteigerten Einbildungskraft und einer gesteigerten .Erregbarkeit^im Affekt und der Reflexe verbunden ist.»» (Cramer, p. 235.) Eine dem Cramer'schen Schema verwandte Unterteilung findet sich schon bei Leopold Löwenfeld^ Nervenarzt in München («Patholgie und Therapie der Neurasthenie und Hysterie»», Wiesbaden 1894). Er bezeichnet als Nervosität eine vielfach erblich bedingte, noch nicht krankhafte Ubererregbarkeit des Nervensystems, aus der heraus sich Neurasthenie oder Hysterie entwickle. Diese bei­ den Krankheiten seien nervöse.„Schwächezustände, welche das ganze Nervensystem befallen könnten, also nicht nur die graue Rinde des Großhirns, das «Vorstellungsorgan»», sondern ebenso gut die subcorticalen Zentren. Es handle sich «bei der Neurasthe­ nie und Hysterie um im Wesentlichen gleichartige, nur hinsichtlich ihrerlntensität und ihrer Ausbreitung über die Nervenappä7' rate schwankende Veränderungen.»» (Löwenfeld, p. 15.) Sigmund Freud verwendet das Wort «Nervosität»» auch an Stelle von «Neurose»». Die Neurasthenie ist bei ihm eine ganz bestimmte Neurose, gekennzeichnet durch einige typische Symptome: dem Kopfdruck, der Spinalirritation, der Dyspepsie mit Flatulenz und Obstipation. Andere Symptome wie z. B. die Zwangsphänomene und die Phobien zählt er aetiologisch und pathogenetisch nicht mehr zur Neurasthenie. Sie bilden eigene Gruppen von Neurosen. Mit Recht sagt Sigmund Freud: «Es ist schwierig, etwas Allgemein­ gültiges von der Neurasthenie auszusagen, solange man diesen Krankheitsnamen all das bedeuten läßt, wofür Beard ihn gebraucht hat.»» (Vgl. Seite 97 f.)

2. Zur Pathogenese Die meisten Autoren sprechen von einer funktionellen Krank­ heit und meinen damit wie Beard eine Krankheit, für die keine pathologisch-anatomischen Veränderungen gefunden werden kön­ nen. Durch spekulative patho-physiologische Gesetze versuchen sie die krankhaften Vorgänge zu erklären und die mannigfaltigen Symptome auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. 39

UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK Düsseldorf

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Beards Theorie von der qualitativ und quantitativ veränderten Nervenkraft wurde bereits erwähnt. Arndt begründet die neura­ sthenischen Erscheinungen mit den Pflüger'schen Zuckungs­ gesetzen. Im Stadium der Ermüdung trete eine erhöhte Erregbar­ keit auf, welche zu den Erscheinungsformen der Neurasthenie führe. Im folgenden Stadium der Erschöpfung sei die Erregbarkeit der Nerven herabgesetzt, was klinisch durch schwerere Krank­ heitsbilder wie durch Hysterie, Epilepsie und Katalepsie zum Aus­ druck komme. Krafft-Ebing spricht in seiner Broschüre «Über gesunde und kranke Nerven« von einer «trophischen Anomalie der Ganglienzelle«. Kowalewsky1 soll «die Neurasthenie auf eine Vergiftung der Nervenelemente mit Produkten der regressiven Metamorphose zurückführen.« Binswanger entwickelt eine kom­ plizierte Molekularmechanik der Nervenzelle. Eine ähnliche Mo­ lekulartheorie erwähnt Cramer2. Cramer, Binswanger, Löwenfeld und andere weisen auch auf den Wegfall von Hemmungen aus den übergeordneten Hirnzentren hin, wodurch subcorticale bah­ nende Zentren automatisiert würden, und dadurch einteils die Erregbarkeit an der Peripherie gesteigert werde, andernteils psy­ chische Symptome wie Unbeherrschtheit und Reizbarkeit ent­ ständen.

3. Zur Aßtiologie Die Ursachen der Nervosität lassen sich, je nach Autor, belie­ big weit ausdehnen. Alles, was irgendwie das Nervensystem beansprucht und ermüdet, kann zum Krankheitsbild der Neura­ sthenie führen. Da auch hier die Auffassungen der Ärzte stark aus­ einanderweichen, kann die folgende Darstellung keine vollstän­ dige sein. Es sollen nur typische und immer wiederkehrende ätio­ logische Momente näher beleuchtet werden.

1 Nach Handbuch der Neurasthenie, p. 56: Vgl. Kowalewsky, «Zur Lehre von der Neurasthenie«, Zentralblatt f. Nervenheilkunde, Neue Folge I, 241. 2 Vgl. ««Biogenhypothese» von M. Verwom, Jena 1903.

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3a. Die Heredität als Ursache Im 19. Jahrhundert hat sich die Vererbungslehre nur wenig entwickelt. Die 1865 publizierten Beobachtungen von Gregor Mendel über die Kreuzungsphänomene werden erst 1900 wieder aus der Vergessenheit hervorgeholt. Alle vorher aufgestellten Vererbungsgesetze sind Hypothesen, die nie bewiesen wurden, was jedoch nicht hindert, daß aus ihnen wichtige und zum Teil folgenschwere Schlüsse gezogen werden.

Der nervösen Diathese wird eine wichtige Rolle bei der Entste­ hung der Neurasthenie zugeschrieben. Bei fast allen Neurasthe­ nikern sollen sich geistige Störungen in der Ascendenz nachwei­ sen lassen. Die belasteten Erzeuger sollen jedoch nicht eine be­ stimmte Geisteskrankheit, sondern nur die Disposition, die ver­ mehrte Anfälligkeit, nervös zu erkranken, übertragen. Eine patholgische Veränderung des «Keimplasmas» kann «einer­ seits ererbt, d. h. durch die ursprüngliche Keimesanlage des Vor­ elters bedingt oder während des Individuallebens des Elters durch Keimesschädigungen erworben» werden. (Binswanger, p. 31.) Kei­ messchädigungen kommen durch chronische Intoxikationen, durch Infektionen, durch konstitutionelle Erkrankungen (dazu werden Anämie, Leukämie, Chlorose, Diabetes, Gicht, chronischdeformierende Arthritis gezählt) und durch Lokalerkrankungen der Geschlechtsorgane zustande. Einige Autoren (darunter Möbius und Krafft-Ebing) behaupten sogar, daß eine unzweifelhaft erwor­ bene Nervenkrankheit zu einer Keimschädigung führen könne, und daß sich ein acquiriertes psychisches Leiden (wie es z. B. bei einer traumatischen Hirnschädigung vorkommen kann) fortan in der Nachkommenschaft bemerkbar mache. Auch kann eine «ner­ vöse Konstitution ererbt werden, ... wenn der Vater zur Zeit der Zeugung oder die Mutter während der Schwangerschaft in einem Zustand sich befand, wo die Zeugungskraft oder das Nerven­ system überhaupt geschwächt war.» (Maienfisch, p. 8.) Möbius meint, ein im Rausch gezeugtes Kind habe Aussicht, «epileptisch, irr oder blödsinnig» zu werden. Cramer führt in einem Beispiel den Schwachsinn eines Mädchens auf den psychischen Schock zurück, den die Mutter während der Zeugung erlitten hat — die 41

noch nicht verheirateten Eltern wurden während des Coitus von Burschen überrascht — und betont, die Eltern, die Großeltern sowie die fünf Geschwister des Mädchens seien völlig normal. (Cramer, p. 21.) Derartige Vererbungslehren wirken sich entsprechend auf die ärztliche Eheberatung aus. «Eine der ersten Pflichten gegen Naturund Sittengesetz ist die Schließung der Ehe in anthropologisch gutem Sinn . .. Eine hygienisch befriedigende Eheschließung setzt körperliche und geistige Gesundheit der Eheleute voraus als Grundbedingung ihres eigenen Lebensglücks und gesunder Nach­ kommenschaft. Die Folgen der Übertretung dieses Gebotes natür­ licher Zuchtwahl sind schrecklich für Eltern und Kinder. . . . (Der Ausdruck) wohlgeboren hat auf medizinischem Gebiet eine tief­ ernste Bedeutung.« (Krafft-Ebing, 1885, p. 79.) Der Vererbung von krankem Keimmaterial wird somit eine große Schuld an der Ausbreitung der Nervosität und damit an der zunehmenden Entartung zugeschrieben. (Vgl. «Nervosität und Entartung«, Seite 82 ff.)

3b. Die Sexualität als Ursache

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Alle Ärzte sehen in sexuellen Exzessen und Perversionen eine wichtige Ursache der Neurasthenie. Die meisten predigen sexuelle Enthaltsamkeit, falls eine vernünftige Regelung des Geschlechts­ verkehrs nicht erreicht werden kann. «Ein Heer von Nervenleiden entsteht aus den sexuellen Ausschweifungen. Die Immoralität und Debauchen unter den Bewohnern der Großstädte sind gera­ dezu entsetzlich. Man lese nur die Annoncen auf den letzten Seiten der Tagesblätter, . . . um zu erkennen, welche Rolle Sinn­ lichkeit und Folgen der Sinnlichkeit im modernen Kulturleben spielen.« (Krafft-Ebing, 1885, p. 52.) Besonders gefährlich ist die vorzeitige Erweckung der Sexualität bei der Jugend. Wie kann dies aber vermieden werden, ruft Krafft-Ebing aus, «wenn in den Städ­ ten die Prostitution auf den Straßen ihren Markt aufschlägt, Theater und Cafe chantant selbst vor jugendlichen Ohren die Zote kultivieren, gewisse Schandblätter ungestört frivole Witze und ans Obscöne streifende Illustrationen bringen dürfen . . . und

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die Zeitungen die Liebesabenteuer und Sittengeschichten unge­ niert als pikante Lektüre ihren Lesern bringt.» (Krafft-Ebing, 1885, P- 53-) Die unter diesen Umständen sexuell erregte Jugend verfällt dem «heimlichen Laster der Onanie», deren Bekämpfung von vielen Ärzten, darunter Erb, Strümpell, Oppenheim, verlangt wird. Die Onanie kann sowohl Ursache als auch Symptom der Nervo­ sität sein. Krafft-Ebing meint dazu: «Die Selbstbefriedigung schä­ digt vorwiegend die Funktionen des Rückenmarks und ist eine Hauptursache der Nervenschwäche und Hypochondrie, von der in geradezu erschrecklichen Proportionen unsere heutige Jugend angekränkelt ist.» (Krafft-Ebing, 1885, p. 52.) Möbius hält das Bewußtsein, durch die Masturbation etwas Unrechtes getan zu haben, für schlimmer, als die Handlung selbst. Binswanger schreibt, er «teile die von Curschmarm, Erb, Fürbringer u. a. ver­ tretene Auffassung, daß die Onanie und der Coitus durchaus gleichartige Wirkungen auf den Gesamtorganismus ausüben und daß die Onanie nur deshalb im allgemeinen gefährlicher wirke, weil sie eine fast unbegrenzte Gelegenheit zur Ausführung dar­ biete.» (Binswanger, p. 58.) Er bemerkt weiter, daß bei schwäch­ lichen, anämischen Individuen, die in exzessiver Weise der Onanie frönten, sich eine eigentliche «onanistische Neurose1» ausbilden könne. Cramer erklärt: «Ich habe nie einen Fall gesehen, von dem ich hätte sagen können, daß excessive Onanie allein zu einer schweren Gehirn- und Rückenmarkerkrankung geführt hätte.» (Cramer, p. 32.) Dafür hält er die Wirkung der «Selbstbefleckungs­ literatur», die in Broschüren von Hunderten von Auflagen er­ schiene, für äußerst gefährlich. Ferner können auch Exzesse des normalen sexuellen Verkehrs, der Coitus interruptus sowie alle sexuellen Perversionen zur Ursache der Neurasthenie werden. Durch Sigmund Freud erhält die Sexualität als Aetiologie der Nervosität, bzw. der Neurosen, eine völlig andere Bedeutung, als ihr bisher von allen Ärzten zugeschrieben worden ist. (Vgl. «Sigmund Freud und die Nervo­ sität», Seite 91 ff.) i Vgl. Paul Fürbringer: -Die Störungen der Gcschlcchtsfunktioncn des Mannes», Nothnagel, Bd. 19, Wien 1895.

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3C. Allgemeine psychische Ursachen Einmalige seelische Erschütterungen werden selten als Ursache einer Neurasthenie angesehen. Traurige Familienereignisse, per­ sönliche Mißerfolge, wirtschaftliche oder politische Krisen über­ steht ein geistig und körperlich gesunder Mensch meistens ohne dauernde Folgen. Möge er sich auch für einige Zeit traurig und verzweifelt von seinem gewohnten Leben zurückziehen, so finde er doch bald seine frühere Energie und Arbeitsfreudigkeit wieder. Erst wenn noch weitere Störungen dazukämen, der Betroffene bereits neuropathisch veranlagt sei, sein familiäres und berufli­ ches Klima ein allgemein ungünstiges sei, könne sich nach einem Schicksalsschlag eine Neurasthenie ausbilden. So könnten auch länger dauernde und immer wiederkehrende psychische Mikro­ traumen, ein dauerndes Gefühl der Minderwertigkeit, unbefrie­ digte Ambitionen, ungestilltes Liebesbedürfnis, ein Leben in stän­ diger Hast und Furcht viel eher eine neurasthenische Erkrankung herbeiführen als eine einmalige schwere Erschütterung. In beson­ derem Maße nervenschwächend sei anhaltende und strenge Gedankenarbeit. Neben der direkten Beanspruchung des Gehirns wirke sich dabei auch das Sitzen in schlechtgelüfteten und düste­ ren Stuben ungünstig auf das Nervensystem aus. Mit anderen Worten: es ist die sich über längere Zeit erstrekkende gemütliche und intellektuelle Belastung, welche den Men­ schen neurasthenisch macht.

3d. Somatische Ursachen Fast alle körperlichen Gebrechen und Störungen sollen nervös machen. In erster Linie jedoch werden Gifte wie Alkohol, Mor­ phium, Tabak und die Lues genannt. Es folgen akute und chroni­ sche Infektionskrankheiten, Störungen des Stoffwechsels, MagenDarmaffektionen, Geburten, Unfälle, die mit einer starken psychischen Erschütterung einhergehen (Eisenbahnunfälle) und, was besonders Möbius und Arndt herausstreichen, die Anaemie und die Chlorose.

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Daß eine örtliche Affektion zu einer generalisierten Störung des Nervensystems führen kann, geht auf Beard zurück. Bins­ wanger meint im Gegensatz zu Beard, daß nach Abheilung des lokalen Prozesses die nervöse Krankheit weiter bestehe. Es sei deshalb wichtig, hinter den lokalen Beschwerden nach einer all­ gemeinen Neurasthenie zu forschen und diese immer mitzu­ behandeln.

3e. Die moderne Kultur und Zivilisation als Ursache Arndt bestreitet die Zunahme der Neurasthenie gegen Ende des 19. Jahrhunderts und beweist es mit zahlreichen Beispielen ner­ vöser Persönlichkeiten aus der Geschichte und der Literatur frühe­ rer Zeiten. (Vgl. Seite 101.) Seiner Meinung schließt sich W. A. Freund, Professor in Straßburg, an, wenn er schreibt: «Ich stelle unbedenklich die Gegenbehauptung auf, daß im Allgemeinen die Mehrzahl der heute . .. lebenden und arbeitenden Menschen ner­ venkräftiger, widerstandsfähiger und damit lebenstüchtiger ist als die früheren Generationen und daß wir diesen Vorrang unseren fortgeschrittenen Kultureinrichtungen, zu denen die öffentliche Hygiene hevorragend gehört, verdanken. ... Es ist eine Lust in unserer Zeit zu leben.» (Freund, p. 18.) Um sich vor der Nervo­ sität zu schützen, empfiehlt Freund: «im intellektuellen Leben den gesunden Menschenverstand, im aesthetischen den gesunden Geschmack (nicht Ibsen und Wagner), im ethischen gerechten Sinn.» (Freund, p. 22.) Die meisten Ärzte jedoch sind von der Zunahme der Nervo­ sität infolge der modernen Lebensweise überzeugt. «Kulturzustand und Zivilisation eines Landes bleiben insofern nicht ohne Einfluß auf die Entstehung der Neurasthenie, als mit der zunehmenden kulturellen Entwicklung nicht nur die Lebensgewohnheiten ver­ feinerte, dem Nervensystem weniger zuträgliche werden, die Genußmittel eine größere Verbreitung finden und die Ehelosigkeit an Häufigkeit zunimmt, sondern insbesondere der schwere Kampf ums Dasein eine größere Anspannung aller geistigen, moralischen und physischen Kräfte erfordert.» (Handbuch, p. 65.) 45

Besondere Gefahren werden in der modernen Erziehung, in der neuen Stellung der Frau, in gewissen Berufsgruppen, im Groß' stadtleben, in den sozialen und weltanschaulichen Problemen gesehen.

Erziehung und Schule: Seit dem 18. Jahrhundert, seit Rousseau und Pestalozzi, wird der Kindererziehung vermehrte Aufmerk­ samkeit geschenkt. In allen Staaten finden nach und nach Reform­ bewegungen statt, die alte Vorurteile zertrümmern, Mißstände abschaffen, die klösterliche Strenge der Bildungsanstalten brechen und den Schulunterricht organischer, psychologischer gestalten. An diesen Neuerungen arbeiten Pädagogen, Politiker, Schrift­ steller und Ärzte. Vergleicht man die düstere, jede freiheitliche und schöpferische Regung unterdrückende Atmosphäre der Hohen Karlsschule von Stuttgart, an der Schiller seine Jugendjahre durchleidet und deren Autorität er sich nur durch Flucht ent­ ziehen kann, mit der heute fast spielerisch betriebenen Ausbil­ dung, so darf man — mit Recht — von einem gewaltigen Wandel und Fortschritt sprechen. Die Angst vor der das Menschengeschlecht in die Degeneration treibenden Nervosität lenkt die Aufmerksamkeit der Ärzte und Pädagogen nicht zuletzt auch auf die Erziehung der Jugend. Das drohende Unheil soll an der Wurzel erstickt oder überhaupt ver­ mieden werden. Eine neue, das Schul- und Erziehungswesen erfassende Reformwelle bricht gegen Ende des 19. Jahrhunderts über die deutschen Sprachgebiete herein. Sie richtet sich gegen Verweichlichung und sittliche Verderbnis der Jugend und gegen die Uberbürdung durch die Schule. Man höre die Ärzte klagen: «Schon frühzeitig werden die Kin­ der zu den Vergnügungen der Erwachsenen herangezogen. Durch Theater, Konzerte, Kinderbälle wird die Phantasie mit Bildern und Erlebnissen bevölkert, die das Gemüt erregen, die intellektuellen Kräfte zersplittern und eine methodische Übung des Geistes erschweren. Der Nachtschlaf wird verkürzt, die Erholungszeit für Körper und Geist fällt weg. Wann tummeln sich diese frühreifen Großstadtkinder in Wald und Feld umher? Wann erquicken sie

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ihre Seelen und üben ihre Sinne an den reichen Schätzen der Natur? Wann stählen sie ihre Muskeln in jugendfrohen Wett­ spielen mit ihren Altersgenossen?»» (Binswanger, p. 51.) Von verschiedenen Medizinern wird eine strenge, aber nicht ermüdende Erziehung auf dem Lande verlangt. Das Kind müsse sich früh an Leid und Widerwärtigkeiten gewöhnen und müsse lernen, «seiner Stimmungen schnell Herr zu werden,*» ohne jedoch die Bildung seines Gemütes zu vernachlässigen. Von Bü­ chern und Kunstwerken, welche die sinnliche Phantasie erregen könnten, halte man den Zögling fern. Zu früh geweckte Ge­ schlechtlichkeit sei gefährlich. «Trifft man doch heutzutage nicht selten Gymnasiasten, die ihren Boccaccio lesen und das Bordell frequentieren!»» (Krafft-Ebing, 1885, p. 53.) Oppenheim und KrafftEbing warnen vor übertriebenen Musikstudien. Es sei eine Unsitte, daß jedes Mädchen der guten Gesellschaft meine, es müsse Klavier spielen, da es schließlich doch nichts anderes erreiche als eine Erregung und eine Schwächung seiner Nerven. Nicht zuletzt wird auch das Schlagen der Kinder verurteilt. «Man (kann) nicht ab­ sehen . . ., was man einem disponierten Kinde mit einer körper­ lichen Züchtigung für einen Schaden zufügt.»» (Cramer, p. 26.) Die Schulüberbürdung ist um 1900 ein viel umstrittenes Thema. Durch das Hinzukommen der naturwissenschaftlichen Fächer seien die Anforderungen gegenüber früher gestiegen. Ehrgeizige Eltern, die meistens selbst über keine höhere Bildung verfügten, schickten immer häufiger minderbegabte Kinder an die Mittel­ schulen. Für diese werde das Lernen zum Zwang und zur Qual, es führe zur Überanstrengung und schließlich zum «Nervensiech­ tum»». Die Zunahme der Schülerselbstmorde sei erschreckend. So habe sich ein zwölfjähriger Junge erhängt, weil er nur der Zweit­ beste in seiner Klasse gewesen sei. (Oppenheim in einem Vortrag, l8"’l «Daß eine geistige Uberbürdung in den höheren Klassen der Gymnasien und Realschulen stattfindet, ergibt sich einfach aus der Tatsache, daß in diesen bis zu 36 Schulstunden per Woche absolviert werden müssen, und nicht genug damit, den Schülern eine häusliche Arbeit zugemutet wird, die selbst für den Besser­ begabten ein Pensum von 2—4 Stunden im Tag bedeutet. Das ist viel, viel zu viel für das Gehirn des Eiwachsenen. Wie soll dabei 47

ein noch in der Entwicklung begriffenes Organ bestehen?... (An­ derseits) ist es nicht zu verkennen, daß heutzutage viele geistig und körperlich ungeeignete Elemente sich zum Studium in der Mittelschule herandrängen. . . . Durch diesen massenhaften An­ drang werden Mißverhältnisse zwischen vorhandenen Schul­ lokalitäten und Schülern geschaffen und zur Überbürdung die Überfüllung mit ihren gesundheitlichen Schädlichkeiten hinzu­ gefügt.» (Krafft-Ebing, 1885, p. 60 f.)

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Die neue gesellschaftliche Stellung der Frau: Die Industriali­ sierung zieht auch die Frau in den allgemeinen Arbeitsprozeß hinein. Allerdings wird sie nicht als ein dem Manne ebenbürtiges Arbeitsglied angesehen und dementsprechend schlechter entlöhnt. Gegen Mitte des Jahrhunderts werden von allen Seiten Stim­ men laut, die eine Verbesserung der sozialen Stellung der arbei­ tenden Frau verlangen oder ihr sogar Gleichberechtigung verschafen wollen. Frauenvereine werden gegründet. Auf der anderen Seite überwacht die Gesellschaft mit Argusaugen das sittliche Benehmen ihrer Töchter und Frauen. Was sie beim Mann als Leidenschaft und «Uberschäumen des Blutes» entschuldigt, ahn­ det sie bei der Frau als Verstoß gegen die Sittlichkeit. Auch die Ärzte lassen sich in ihren Urteilen nicht immer von rein medizi­ nischen Gesichtspunkten leiten. Der gesellschaftlich hochgestellten Frau wird Koketterie und Müßiggang vorgeworfen. Mangel an praktischen Fähigkeiten und Vernachlässigung der Gemütsbildung würden sie unfähig zu einer glücklichen Ehe machen. «Wo Frohsinn walten sollte, zieht Un­ friede und Verstimmung ein.» (Krafft-Ebing, 1885, p. 43.) Schon nach dem ersten Wochenbett fingen solche Frauen an zu kränkeln und dahinzuwelken und würden schließlich nervenkrank. Die Ursache liegt in der Erziehung des Mädchens. «(Sie) dient nur hohlem Schein, legt Wert auf encyclopädisches Wissen und Fähig­ keiten, die die junge Dame in der Gesellschaft beliebt machen mit Verkümmemlassen der echt weiblichen Tugenden . . . Das heutige Mädchen aus den höheren Klassen der Gesellschaft ist meist alles andere eher als eine Hausfrau. Es liest häufig früher Romane als das Kochbuch, kommt viel eher in Theater, Konzerte, Hausbälle

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u. dgl. als in Küche und Wirtschaftsräume und wird vielfach Ehe­ frau ohne die nötigen Kenntnisse und Erfahrungen.» (Krafft-Ebing, 1885, P- 42-.) Aber auch die arbeitende Frau ist der Gefahr der nervösen Erkrankung ausgesetzt. «Mag das Weib auch virtuell befähigt sein, auf vielen Arbeitsgebieten mit dem Manne in Konkurrenz zu treten, so war doch seine Bestimmung bisher durch Jahrtausende eine ganz andere . . . Nur ganz vereinzelte ungewöhnlich stark und günstig veranlagte Individuen bestehen schon heutzutage erfolgreich die ihnen durch moderne soziale Verhältnisse auf­ gezwungene Konkurrenz mit dem Mann auf geistigen Arbeits­ gebieten. Die große Mehrheit der diesen Kampf aufnehmenden Weiber läuft Gefahr dabei zu unterliegen. Die Zahl der Besiegten und Toten ist ganz enorm.» (Krafft-Ebing, 1885, p. 56). Die Fabrikar­ beiterinnen und Dienstboten müssen ein geradezu «untermensch ­ liches» Dasein führen. Möbius nennt sie «europäische Sklavin­ nen». (Möbius, 1885, p. 80.) Sie würden zu schwersten Arbeiten verurteilt und lebten in traurigen, unhygienischen Verhältnissen. Es sei kein Wunder, wenn die Prostitution in Europa zunehme und dadurch der Herd für Geschlechtskrankheiten, für Verzweif­ lung und moralische Zerstörung sich vergrößere. Was aber soll die Frau tun? Wie kann sie ihre Selbständigkeit erhalten und ihre Zeit sinnvoll verbringen, ohne gleichzeitig in ihrer «Herzensbildung» zu verkümmern? Eine befriedigende Ant­ wort auf diese Frage sucht man vergeblich in der Literatur über Nervosität und Neurasthenie.

Gefährdete Berufe: Als besonders nervösmachend werden jene Berufe genannt, welche früher nicht existiert, oder die durch die kulturelle und technische Entwicklung eine bedeutende Verän­ derung erfahren haben. Dazu gehören die Kaufleute, Unterneh­ mer und Spekulanten, die «einerseits die schwierigen Konkurrenz­ verhältnisse, anderseits das verbreitete Streben, möglichst rasch in glänzende äußere Verhältnisse sich emporzuarbeiten (krank machen) . . . Die Hast und Hetze des Geschäftsbetriebes, die Not­ wendigkeit, sich in gewagte Unternehmungen einzulassen, die Sorgen und das stetige Schwanken zwischen Furcht und Hoffen 49

führen unvermeidlich zu einer vorzeitigen Aufzehrung des Ner venkapitals.» (Löwenfeld, p. 42.) Von der Nervosität bedroht sind ferner PTT-Beamte, Lokomotivführer, Lehrer, Künstler und nicht— zuletzt die Ärzte selbst. Besonders der «Hirnarbeiter», d. h. derjenige, der sein Cerebrum einseitig belaste, erkranke leicht und schnell an Neurasthenie. Der Fabrikarbeiter würde eher das Opfer seiner üblen Wohnver­ hältnisse als dasjenige seiner Arbeit. Er komme auch weniger häufig wegen nervösen Störungen in die Behandlung des Arztes. Die meisten Mediziner halten die Nervosität für ein Privilegium der Gebildeten und Gutsituierten, jener Leute also, die sich selber gerne als Träger der Kultur bezeichnen.

Weitere Zivilisationserscheinungen: Möbius weist auf drei weitere Faktoren der Zivilisation hin, die das Entstehen einer Ner­ vosität fördern. Ähnliche Ansichten vertreten seine Kollegen. 1. Der Materialismus und Realismus der Leute und die daraus hervorgehende Religionslosigkeit, die dem Menschen Halt, Hoff­ nung und Zuversicht auf zukünftige Gerechtigkeit nehme und ihn so der Ausschweifung und dem Verbrechen preisgebe. Viele Leute beschäftigen sich überhaupt nicht mehr mit dei Religion. Hellpach schreibt: «Die Faktoren . . ., die in den Massen religiöse Bedürfnisse lebendig erhielten, hat die wirtschaftliche Entwicklung zum größten Teil ausgeschaltet.» (Hellpach, 1902, p. 114.) Sie suchten das Glück im materiellen Wohlstand, in der wirtschaftlichen und politischen Stabilität und vertrauten den wissenschaftlichen Errungenschaften mehr als dem Gebet an eine unsichtbare Macht. Die Frage aber, wie sehr die Vernachlässigung der Religion an der Ausbreitung der Nervosität schuld sei, wird von den meisten Medizinern nicht beantwortet. Sie übergehen das etwas heikle Thema und diskutieren dafür den Einfluß jener Gebiete, die, wie die Kunst, und besonders der Jugendstil, zum Ersatz der Religion geworden sind. «. . . eine aesthetische Kunst . . . soll vorläufig die unbehagliche Leere füllen, die das Sterben des alten Glaubens in den Gemütern erzeugt hat.» (Hellpach, 1902, p. 126.) 50 I

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Der Kunst wird vorgeworfen, sie liebe das Pathologische des menschlichen Lebens darzustellen und dadurch die Gemüter der Leute zu erregen. Oppenheim bemerkt zur modernen Literatur: «Auch die schöngeistige Literatur hat die Krankheit und das Krankhafte zu einem Lieblingsgegenstande ihrer Darstellung erkoren, und es entspricht dem neuropathischen Grundcharakter der modernen Gesellschaft, daß die Romane und Dramen dieser Kategorie ein sehr großes Publikum finden.» (Oppenheim, «Ner­ venkrankheit und Lektüre», p. 11.) Insofern muß man den Ärzten Recht geben, als in der Kunst von 1900 menschliche Leiden und Fehler besonders häufig zur Darstellung kommen. Es genügt ein Hinweis auf die Werke von E. Munch, Käthe Kollwitz, Barlach, auf die Dramen von Haupt­ mann, Ibsen, Strindberg (die auch in Deutschland gelesen wur­ den), auf den Malte Laurids Brigge von Rilke (entstanden 1909) und auf die Erzählungen und Romane von Kafka.

2. Die Hast des modernen Lebens, bedingt durch Eisenbahn, Post, Tageszeitungen, Börsentreiben, Stadtlärm, Zwang zur Pünkt­ lichkeit, Vereinsleben, Musikwut. Es ist jedoch nicht nur der aufreibende Beruf und der Lärm der Straße, die nervös machen. Als Gegengewicht und Ausgleich zur Arbeit sehnen sich die aufgeregten Nerven nach «außerordentli­ chen Reizmitteln», die anstatt zu beruhigen den Städter immer weiter in den «Nervenruin» hineintreiben. «Die Großstadt liefert sie (die Reizmittel) in Form von Schauerdramen, Ehebruchkomö­ dien, Trapezkünstlern, nervenerschütternder und aufregender Musik, die Sinnlichkeit und das Auge reizender Bilder, Schau­ stellungen, starken Weinen, Cigarren, Likören, Clubs, Spielhöhlen, Liebesabenteuern, Nachrichten von Verbrechen und Unglücks­ fällen in der Tageschronik der Zeitungen usw. Nachdem der blasierte Großstädter diese verschiedenartigen Genüsse und Reiz­ mittel des modernen Kulturlebens in zumeist schlecht ventilier­ ten Lokalitäten bis tief in die Nacht hinein gekostet hat, begibt er sich endlich zur Ruhe, um am anderen Morgen matt und ver­ stimmt sein Tagewerk von neuem abzuhetzen.» (Krafft-Ebing, 1885, p. 11.) 51

3. Die Spaltung in reich und arm. Jene würden krank dur^ übersteigerten Genuß, diese durch ungesättigte Begierde. Die Nervenstörungen des Proletariats werden von den meiste Ärzten auf die schlechten Lebensbedingungen der Arbeiter rückgeführt und weniger auf die Unzufriedenheit mit der ni deren sozialen und politischen Stellung innerhalb der Gesel schäft. Den Klassenunterschied als solchen für eine Krankhö verantwortlich zu machen, könnte als eine Unterstützung sozialistischen Parteien durch die Medizin betrachtet werden ui* zu einem Konflikt mit den Behörden der absolutistischen Mona.' chien führen. Es ist verständlich, wenn von den Ärzten nur wenig diesen schwierigen Problemen ihre Aufmerksamkeit schenket

4- Zur Symptomatologie

Die Symptome der Neurasthenie werden je nach Lokalisatior und Charakter in verschiedene Gruppen unterteilt. In der äußerer Gruppeneinteilung entsprechen sich die meisten Autoren, so daß im vorstehenden Abschnitt diejenige des «Villaret'schen Hand Wörterbuchs der gesamten Medizin» als mehr oder weniger allge­ meingültiges Beispiel wiedergegeben werden kann.

4a. Störungen der psychischen Funktionen

Im Vordergrund steht die rasche Ermüdbarkeit bei geistigei Arbeit, die Konzentrationsunfähigkeit und die Gedächtnisschwä­ che. Zuerst verspürt der Kranke nur eine geringe Herabsetzung der Leistungsfähigkeit, bald kann er jedoch sein gewohntes Tages werk quantitativ und qualitativ nicht mehr erledigen, zuletzt «isi der Leidende zu einem rein vegetativen Leben verurteilt.» (Löwen feld, p. 104.) Damit verbunden ist eine «hochgradige Willens schwäche, die geradezu als charakteristisch für die Neurastheni« zu bezeichnen ist» (Villaret.) Dafür wird einteils der Verlust de: Selbstvertrauens und die allgemeine depressive Stimmung, di« Arbeitsunlust verantwortlich gemacht, andernteils sind es gedank liehe Hemmungen und Zwänge, welche die Willenskraft lähmen 52

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Der Kranke ist mutlos, unentschlossen, zeigt eine mangelnde Selbstbeherrschung, vernachlässigt seine «gewohnten Rücksichten auf die herrschende Etikette und die persönliche Würde.»» (Löwen­ feld, p. 109.) Die «Abulie»» kann so weit gehen, daß er überhaupt zu keiner Handlung mehr fähig ist und den ganzen Tag das Bett hüten muß. Die Stimmung des Patienten ist unberechenbar, launisch, «him­ melhoch jauchzend, zu Tode betrübt»». Kleinste Begebenheiten führen zu Zornausbrüchen, ein belangloses Mißgeschick lockt Tränen hervor. Der Kranke macht sich nicht selten durch «moto­ rische Kraftleistungen, Schlagen auf den Tisch oder heftige körper­ liche Züchtigung der Kinder Luft.»» (Binswanger, p. 91.) Er quält seine Untergebenen; auf Reisen wird er zum «Schrecken der Wirte und Kellner, in den Nervenanstalten stellt er die höchsten Anforderungen an die Langmut und Festigkeit der Ärzte und des Wartepersonals.»» (Binswanger, p. 92.) Dem zu Grunde liege meistens ein «krasser Egoismus»» und eine große Selbst­ gerechtigkeit. Wenn der Neurastheniker durch sein Benehmen auf Ablehnung der Andern stoße, so beklage er sich, daß er nicht recht verstanden werde. Auch der Schlaf ist gestört. Einesteils hat der Patient Mühe mit dem Einschlafen, dessen Erfolg er nicht selten von lächerlichen Bedingungen abhängig macht, andernteils ist die Schlafdauer ver­ kürzt. Er wird durch jedes Geräusch, z. B. durch die Turmuhr, geweckt, Träume plagen ihn, unbestimmte Angst macht ihm die Nacht zur Qual. Die Angst ist denn auch ein wichtiges Symptom der Neurasthe­ nie. Sie bezieht sich häufig auf einen bestimmten Gegenstand oder eine bestimmte Situation. Es werden genannt die Agoraphobie, die Angst beim Überschreiten von Plätzen und Straßen, die Höhen­ angst verbunden mit Schwindel, die Klaustrophobie, die Angst sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten, die Siderodromophobie,die häufig bei Eisenbahnangestellten angetroffen wird, und die einen «unmotivierten Angstzustand»» während des Eisenbahn­ fahrens bezeichnet1, die Pathophobie, die Furcht vor Krankheit. 1 Im Gegensatz zum «Railway-Spinc», einer traumatischen Neurose nach Eisenbahnunfällen, meist bei Leuten, die keine schweren Verletzungen davon­ getragen haben.

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Diese soll sich von der Hypochondrie darin unterscheiden, daß bei der Hypochondrie aus unbedeutenden, häufig subjektiven Symptomen, auf eine Krankheit geschlossen werde, während Pathophobie die allgemeine Angst, man könnte ja krank werden, meine 2. Endlich werden noch aufgezählt: Anthropophobie, Astrophobie, Batophobie, Taurophobie, Nyktophobie und endlich Phobopho­ bie, die Furcht vor Angstanfällen (Binswanger, p. 133) und die Pantophobie, die Furcht vor allem und jedem. Eine weitere wichtige Symptomengruppe der Neurasthenie stel­ len die Zwänge dar. Entgegen aller Argumente des Verstandes, und ohne daß sie sich wehren können, werden die Kranken zu gewis­ sen Handlungen, Reden und Gedanken gezwungen. Weil sich der Patient der Unsinnigkeit seiner Zwangsäußerungen bewußt ist, leidet er außerordentlich darunter. Besonders häufig sind der Waschzwang, die Grübelsucht, der Zwang, eine alltägliche Hand­ lung in einer bestimmten, rituellen Weise und unter gewissen Bedingungen auszuführen, der Zwang, obszöne Dinge auszuspre­ chen oder zu denken. Schließlich werden auch Halluzinationen, Somnambulismus, Illusionen als Symptome der Neurasthenie aufgeführt. 4b. Störungen der Sinnesorgane

Schon vor 1880 haben verschiedene Ophthalmologen auf die rasche Ermüdbarkeit der Akkomodation als einer funktionellen Schwäche des Sehorgans aufmerksam gemacht und ihr den Namen Asthenopie verliehen. Beard reiht die Asthenopie unter die Symp­ tome der Neurasthenie ein, wo sie seither ihren Platz behauptet. Als weitere Sehstörungen werden genannt: Flimmern, Doppelt­ sehen, Lichtüberempfindlichkeit, Rötung der Bindehäute, Ermüd­ barkeit der Augenmuskeln, Mouches volantes. 2 Über die Beziehung zwischen Hypochondrie und Neurasthenie sind sich die Ärzte keineswegs im klaren. Von einigen wird das jahrhundertealte Krank­ heitsbild der Hypochondrie in dasjenige der Neurasthenie eingeordnet, andere halten die Hypochondrie für eine wirkliche Geisteskrankheit, die aus der Nervosität hervorgeht. Wieder andere glauben an zwei parallele Leiden, die aber in Form einer Mischneurose ineinander übergehen können.

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Störungen des Gehörs manifestieren sich vor allem in einer Überempfindlichkeit gegen Lärm, wozu das Leben am Ende des Jahrhunderts bedeutend mehr Anlaß geben soll als dasjenige frü­ herer Zeiten. Auch der Geschmacks- und der Geruchssinn können beeinträchtigt sein. Insbesondere werden Paraesthesien im Bereich der Nase und der Zunge beschrieben.

4C. Störungen der Sensibilität Anaesthesien und Analgesien gehören nicht zur eigentlichen Neurasthenie, sondern ins Gebiet der Hysterie. Hingegen sind Hyperalgesien außerordentlich häufig. Einige Ärzte sprechen von einer hyperalgetischen Form der Neurasthenie, bei der «die patho­ logisch erhöhte Empfänglichkeit für schmerzauslösende Reize, verbunden mit einer ganz excessiven Irradiation der Schmerz­ empfindung fast ausschließlich die Klagen der Patienten bilden.» (Binswanger, p. 318.) Hierher gehört auch die Überempfindlich­ keit der Haut über der Wirbelsäule, die ehemals ein Hauptsymp­ tom der Spinalirritation darstellte. (Vgl. Seite 105 ff.) Symptome wie Kopfschmerz, Irritabilität und Paraesthesien der Kopfhaut, Leeregefühl und allgemeine Erschöpfung, «ein Gefühl, als ob ein Band oder ein Reif um den Kopf gespannt sei, der ganze Kopf zusammengeschraubt würde (Gasque neurasthenique Charcots)»» (Löwenfeld, p. 137), endlich auch Migräneanfälle und psychische Störungen, werden unter dem Namen Cerebrasthenie zusammen­ gefaßt. (Vgl. Seite 110.) Paraesthesien am Körper äußern sich durch Kribbeln, Jucken, pelziges Gefühl. Einige Kranke zeigen eine Überempfindlichkeit der Haut gegen bestimmte Stoffe und reagieren darauf mit solchen Paraesthesien. Überhaupt gehört das ganze Gebiet der Allergien und Idiosynkrasien zur Neurasthenie. Abnormen Temperaturempfindungen liegen neben direkt ner­ vösen auch cirkulatorische Störungen zu Grunde. 4d. Störungen der Motilität

Ein Hauptsymptom der Neurasthenie ist die allgemeine Muskel­ schwäche. Sie kann so weit gehen, daß dem Patienten jegliche 55

Tätigkeit verunmöglicht ist und er das Bett hüten muß. Eigent­ liche Lähmungen jedoch werden nicht beobachtet. Die äußere Entwicklung der Muskulatur kann in vielen Fällen eine durchaus kräftige sein, häufig aber ist «als Konstitutionsfehler oder infolge langer Inaktivität die Muskulatur eine schwache und ungenü­ gende.» (Handbuch, p. 143.) Kennzeichnend ist auch eine «rasche Erschöpfbarkeit» bei anfänglich normaler Muskelkraft1. Der Tonus der Muskulatur kann normal, erhöht oder erniedrigt sein. Ebenso wechselnd ist das Reflexbild. Häufig werden Tremor und Muskelkrämpfe beobachtet. Vielbeanspruchte Muskelgruppen sind besonders krampfanfäl­ lig, so daß einzelne Ärzte von «professionellen Krämpfen» oder Beschäftigungsneurosen sprechen. Darunter finden sich der Schreibkrampf, der Geigerkrampf, der Melkerkrampf, der Näh­ maschinenkrampf u. a. Eine allgemeine Unruhe kann zudem das Muskelsystem befallen. «Die Kranken machen unmotivierte Be­ wegungen, die sie unwillkürlich, ohne daß dieselben überhaupt zu ihrem Bewußtsein gelangen, ausführen können.» (Handbuch, p. 144 f.) Sie legen sich sogenannte üble Gewohnheiten und Tics zu, schneiden Grimassen, verwerfen Arme und Beine, schleudern öfters und ruckartig den Kopf nach hinten, zwinkern stundenlang mit den Augen. Ihre Bewegungen sind hastig, ungeschickt, schie­ ßen gerne über das Ziel hinaus. Auch die Stimme ist verändert. Sie wird stockend, unsicher, manchmal extrem leise. «Es treten litterale Störungen auf, indem Verwechslung einzelner Konsonanten stattfindet. . .» (Binswan­ ger, p. 171.) Das Versagen des Stimmorgans wird besonders bei Leuten beobachtet, die es viel brauchen, also bei Lehrern, Pfarrern und Schauspielern und kann ihre Berufstätigkeit beeinträchtigen.

4e. Störungen der Digestion Die Störungen der Magentätigkeit werden unter dem Namen der «nervösen Dyspepsie» zusammengefaßt. Unter subjektiven 1 Es ist wahrscheinlich, daß Fälle von Myasthenia gravis zur Neurasthenie gezählt wurden, denn die Myasthenie wird erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als selbständige Krankheit beschrieben. Im 1891 erschienenen Villarefschen Handwörterbuch ist sie noch nicht aufgeführt.

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Symptomen finden sich: Geschmacks- und Geruchslosigkeit, Auf­ stoßen, Übelkeit, Völlegefühl, Druck und Schmerzen im Epigastrium, Sodbrennen, Globusgefühl, Wechsel des Appetits, aber auch Kopfschmerzen, Schwindel, Müdigkeit, trübe Stimmungen. Das Erbrechen des Nervösen zeigt «große Unregelmäßigkeit und Launenhaftigkeit». (Cramer, p. 97.) Nicht selten erbricht sich der Kranke in der Absicht, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und man hat den Eindruck, er könne erbrechen, wenn es ihm passe, unabhängig von der Nahrungsaufnahme. Unter den nervösen Darmstörungen werden chronische Obsti­ pation, Meteorismus, gehäufte Diarrhoen, Darmneuralgien, Prok­ tospasmus beschrieben. Diese Symptome, vor allem aber die Durchfälle, stehen unter dem Einfluß von Affekten und Sinneseindrücken. In erster Linie können Angst und Schrecken zu plötz­ lichen Darmentleerungen führen. Nicht selten jedoch bilden scheinbar alltägliche Begebenheiten die Veranlassung dazu. So erwähnt Cramer eine Frau, die jedesmal beim Anhören einer Regimentsmusik einen intensiven Stuhldrang verspürte. Eine große Bedeutung erlangt auch die nervöse Anorexie. Die Patienten, meist jüngere Frauen, schränken ihre Nahrungsauf­ nahme immer mehr ein, verweigern sie schließlich ganz und magern bis auf das Skelett ab. Daß dabei ausschließlich die Psyche und besonders das Verhältnis der Kranken zu seinen Eltern eine Rolle spielt, hat eigentlich nur Krafft-Ebing hervorgehoben. Daher soll nach Krafft-Ebing die Behandlung im Wesentlichen nach psychischen Gesichtspunkten erfolgen. Er schreibt, das «Traitement moral, d. h. forcierte Nahrungsaufnahme wirke hier oft geradezu Wunder.» Da der «Chemismus der Verdauung» nicht gestört sei, könne man beim «Wiederaufbau der Ernährung dreist vorgehen.» (Krafft-Ebing, 1900, p. 88 ff.) Doch auch das Gegenteil der Anorexie, der Heißhunger, wird als Symptom der Neurasthenie aufgeführt.

4f. Störungen der Zirkulation Vasomotorische Störungen sind bei der Neurasthenie derart häufig, daß gewisse Ärzte wie Möbius, Arndt, Anjel und in einem gewissen Sinn auch Beard darin nicht nur ein Symptom, sondern i

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ein. wichtiges, wenn nicht sogar ausschließliches aetiologisches Moment sehen. Anjel soll Versuche mit dem Plethysmographen angestellt haben und dabei zur Feststellung gekommen sein, daß beim Neurastheniker schon bei schwachen psychischen Reizen Volumenveränderungen in den Gehirngefäßen eintreten. (Hand­ buch, p. 126 f.) Die vasomotorischen Störungen wirken sich einteils auf die peripheren Gefäße, andernteils auf das Herz aus. In den periphe­ ren Arterien führen sie zu angioparalytischen und zu angiospastischen Erscheinungen. Bei der «lokalisierten Gefäßparalyse» (Handbuch, p. 127) kommt es zu Rötung und Hitzegefühl in den betreffenden Hautbezirken. Auch die Dermographie ist eine Folge der »vasomotorischen Er­ regbarkeit der Haut». Eine umfangreiche Gefäßparalyse im Bereich des Kopfes wird als Congestion bezeichnet. Der Patient empfindet Pulsationen, Spannungsgefühle, «unangenehme Empfindungen in den Augen», ein Sausen in den Ohren. Die Temporalarterien erscheinen in einem Anfall von Blutandrang geschlängelt und erweitert. Nicht selten wird die Congestion von einem generali­ sierten Schweißausbruch begleitet. Die angiospatischen Zustände bewirken Blässe und Kältegefühl in den Extremitäten. «Der Ernährungszustand dieser mit angio­ spatischen Symptomen behaften Neurastheniker ist oft ein ungenügender.» (Handbuch, p. 129.) Sie leiden unter Angstgefüh­ len und Schwindelanfällen. Die Symptome der «nervösen Herzschwäche» sind recht man­ nigfaltig. Im allgemeinen ist das Herz «lebhafter erregbar» (Cra­ mer, p. 87) und die Pulsfrequenz erhöht. Es werden eigentliche Attacken der Pulsbeschleunigung beobachtet, die beim Patienten das unangenehme Gefühl des «Herzklopfens» hervorrufen. Be­ sonders bei Leuten, die sich immer beobachten und sich häufig selbst den Puls fühlen, tritt eine zeitweilige Irregularität des Pulses auf, die durch Suggestion heilbar ist. Solche Herzattacken gehen nicht selten mit Praecordialschmerz, Druck und Beklem­ mungsgefühl über der Herzgegend und mit Angstgefühlen einher. Cramer spricht von einer «Pseudo-Angina pectoris» und differen­ ziert sie zusammen mit Hoffmann, Krehl, Oppenheim u. a. von der echten Angina pectoris dadurch, «daß sie (die Pseudo-Angina 58

pectoris) bei ihren Patienten viel mehr Unruhe, Aufregung hervor­ ruft, und daß diese plötzlich einsetzende, starke Herzangst in außergewöhnlicher Weise krankhaft vorgetragen und zum Ausdurch kommt.» (Cramer, p. 88.) Binswanger führt eine detailliertere Differentialdiagnose zwischen den beiden Formen von Praecordialbeschwerden auf, die jedoch nicht viel mehr als diejenige von Cramer überzeugt. Hier seien auch noch die bei der Neurasthenie vorkommenden Atemstörungen erwähnt, die unter dem Namen «neurasthenisches Asthma» zusammengefaßt werden.

4g. Störungen der Sexualfunktionen Es wurde bereits bemerkt, daß Störungen und Übertreibungen des Sexuallebens Ursache der Neurasthenie sein können. Die Autoren, welche glauben, daß «antihygienische Faktoren des Geschlechtslebens»» allein schon zur Neurasthenie führen, sind jedoch in der Minderzahl. Zu ihnen gehört vor allem Krafft-Ebing. Die meisten Ärzte halten sexuelle Abweichungen wohl für ein die bestehende Nervosität verschlimmerndes, jedoch nie primär auslösendes Moment. Hingegen können sich sexuelle Störungen auf dem Boden einer Neurasthenie entwickeln. Dadurch entsteht ein Circulus vitiosus: Der Mann, der in nervösen Aufregungen anfängt zu onanieren, pervertiert damit einteils seinen Ge­ schlechtstrieb, andemteils versetzt er sich durch die Masturbation in einen Schwächezustand. Es treten schließlich Potenzstörungen, Unterleibsschmerzen und Reizungen der Genitalorgane auf. Da­ durch entstehen Zweifel an der Zeugungskraft, welche der Kranke wiederum durch die Onanie zu überwinden sucht usw. Auf der einen Seite finden sich Symptome der sexuellen Über­ erregung wie Satyrismus, Nymphomanie, Priapismus, auf der andern Seite erscheint das Sexualleben gedrosselt oder in eine falsche Richtung gedrängt. Die Autoren erwähnen Impotenz infolge mangelnder Libido sexualis oder infolge herabgesetzter Erektionsfähigkeit, nächtliche und tägliche Pollutionen, Spermatorrhoe, Masturbation, Ejaculatio praecox, Paraesthesien und Reiz­ zustände in der Genitalgegend, Azoospermie, Asthenospermie. 59

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Bei der Frau sind es Störungen der Menstruation, einem Gebiet, dem die meisten Autoren allerdings nicht so viel Beachtung schenken wie gewissen «moralischen Verirrungen». Mehr Erwäh­ nung finden Reizzustände im Bereich von Vulva und Anus, Fluor, Erethismus genitalis, weibliche Pollutionen, Schmerzen im Berei­ che des kleinen Beckens, besonders in der Gegend der Ovarien. Die eigentlichen Perversionen wie Homosexualität, Fetischis­ mus, Exhibitionismus, Masochismus, Sadismus usw. werden nicht für eine Folge der Nervosität gehalten, können aber zusammen mit ihr vorkommen und sich auf ihren Verlauf ungünstig aus­ wirken.

4h. Störungen der Sekretion und des Stoffwechsels Im Gegensatz zu andern Büchern sind im Villaret'schen Hand­ wörterbuch die Störungen der Sekretion und des Stoffwechsels nicht erwähnt. Nicht nur der Miktionsvorgang an und für sich kann Abwei­ chungen vom Normalen wie Enuresis nocturna, häufiger Urin­ drang, Urinverhaltung, Hemmung in Gegenwart anderer zu uri­ nieren aufweisen, auch die Zusammensetzung des Harns wird durch die Neurasthenie verändert. Seit Beard spuken die Phosphaturie, die Oxalurie, die Meliturie, die Albuminurie und die Uraturie als neurasthenische Symptome in den Köpfen der Ärzte herum. Es soll sich entweder um Störungen des gesamten Stoff­ wechsels oder um spezifische neurasthenische Sekretionsanoma­ lien der Niere handeln. Anämisch-chlorotische Zustände werden seit Beard immer wie­ der im Zusammenhang mit der Neurasthenie erwähnt und von manchen Ärzten sogar als konstitutionell bedingte Ursache der­ selben betrachtet. Die Chlorose ist ein altes Leiden und wird schon vor Beard für alles Mögliche verantwortlich gemacht. Genauere Untersuchungen von Litten, Binswanger, Cramer u. a. ergeben nicht eine Verminderung der roten Blutkörperchen, wie früher gemeint wurde, sondern eine Abnahme des Hämoglobins1. 1 Wahrscheinlich handelt cs sich bei diesen Fällen um Eisenmangelanaemien mit sekundären «neurasthenischen» Symptomen, wie ja viele Anaemien mit leichter Erschöpfbarkeit depressiver Stimmung, Schwächezustände etc. einher­ gehen können.

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Die Schweißsekretion ist meistens erhöht. Insbesondere klagen viele Patienten über starken Handschweiß. Hingegen soll die Gelenkschmiere mangelhaft abgesondert werden, so daß die Ge­ lenke des Neurasthenikers knacken und knarren. Auch die Gicht wird mit der Neurasthenie in Zusammenhang gebracht.

4i. Einzelne Formen der Neurasthenie Je nach dem Vorherrschen einzelner Symptomenkomplexe wer­ den verschiedene Neurasthenieformen unterschieden. Die Ein­ teilung wechselt von Autor zu Autor. Binswanger weist jedoch darauf hin, daß eine scharfe Abgrenzung nicht möglich sei. Er schreibt: «Die Neurasthenie ist eine Allgemeinerkrankung des Zentralnervensystems, die bald hier, bald dort je nach der anato­ mischen Anlage und Ausbildung, sodann nach der Inanspruch­ nahme der einzelnen funktionellen Mechanismen, Störungen der nervösen Leistungen darbietet.« (Binswanger, p. 298.) Er selber unterscheidet «unter diesen Einschränkungen» fol­ gende klinische Varietäten: die Neurasthenie mit vorwaltend psychischen Störungen, darunter eine hereditäre Form, eine Form der erworbenen intellektuellen Erschöpfung, eine hyperalgetische Form,- die motorische Form der Neurasthenie, unterteilt in eine Gruppe mit vorwiegend irritativen und in eine solche mit vorwie­ gend paretischen Symptomen,- endlich eine dyspeptische, eine angioneurotische und eine sexuelle Form der Neurasthenie. Beard erwähnt sieben klinische Formen: die Cerebrasthenie, die Myelasthenie, die gastrische Form, die genitale Form, die trau­ matische Neurasthenie, die Hemineurasthenie, die Hystero-Neurasthenie. Krafft-Ebing spricht von der Cerebrasthenie, der Myelasthenie, der Neurasthenia gastrointestinalis, der N. cordis s. vasomotoria, der N. sexualis. Löwenfeld zählt folgende Einzelformen auf: Cerebrasthenie, spinale Neurasthenie, sexuelle Neurasthenie, hereditäre Neura­ sthenie, traumatische Neurasthenie. Auch Möbius, Arndt, Cramer usw. erwähnen ähnliche Spezial­ formen. Bemerkenswert ist nur, daß die Mannigfaltigkeit solcher Unterteilungen nichts anders als Verwirrung schafft. 61

5. Prognose und Verlauf Der Verlauf der Neurasthenie ist immer ein chronischer, die Schwere des Krankheitsbildes eine wechselnde. Auf vorübergehen­ des Wohlbefinden folgt nicht selten ein schwerer Rückfall, dessen Bild sich aber durchaus von den früheren Krankheitszuständen unterscheiden kann. Wie schon Beard betont, gleicht keine Neu­ rasthenie völlig der anderen. Sie ist ein ausgesprochen individuel­ les Leiden. Die Prognose hängt von folgenden drei Faktoren ab: von der hereditären Belastung, von der Dauer der Krankheit, von den Ge­ legenheitsursachen. Löwenfeld betont, daß «die Schwere der Ner­ venerschöpfung im Allgemeinen von viel geringerer prognosti­ scher Bedeutung als die Dauer des Leidens» sei. (Löwenfeld, p. 270.) Prognostisch ungünstig sind besonders die psychotischen Formen, ferner der cerebrale Erschöpfungszustand, der zu einem rapid fortschreitenden geistigen Verfall, d. h. zu einer eigentlichen Demenz führen kann. (Binswanger, p. 335 f.) Beard und Möbius betrachten die Neurasthenie als die nervöse Grundkrankheit, als den Ausgangspunkt aller anderen Psychosen. Besonders dispo­ nieren Neurastheniker zu Melancholie, Alkoholismus, progres­ siver Paralyse und Tabes dorsalis. Die erblich bedingten Formen der Neurasthenie sind in erster Linie Ursprung und Ausdruck der geistigen und körperlichen Degeneration des Menschen, die leider, so wird es von verschie­ denen Seiten bemerkt, immer weiter fortschreite. Die Kranken weisen schon seit ihrer Geburt bizarre Charakterzüge, mangelnde Lernfähigkeit, Idiosynkrasien, Neigung zu raschem Stimmungs­ wechsel und körperliche Stigmata auf, die sich unter ungünstigen Umweltseinflüssen verstärken und zur völligen Entartung führen können. Derartige Abnormitäten erscheinen entsprechend poten­ ziert in der Nachkommenschaft wieder. (Vgl. «Nervosität und Entartung», Seite 79 ff.) Ob sich die Nervosität in ein organisches Leiden weiterent­ wickeln kann, ist umstritten. Es ist allerdings möglich, daß sich die von der Neurasthenie affizierten Organe wie Herz, Magen, Geschlechtsorgane schließlich organisch verändern. So wird nach längerem neurasthenischem Krankheit nicht selten eine Herz62

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muskelschädigung, ein Magenulcus oder eine genitale Entzün­ dung beobachtet. Das Entstehen einer organischen Hirnschädigung auf der Basis einer Neurasthenie wird von den meisten Autoren nicht für möglich gehalten. Gewisse Leute, darunter Krafft-Ebing, deuten allerdings nur zu gern auf die Möglichkeit und die Gefahr einer Hirnerweichung hin. Die Neurasthenie ist keine direkt tödliche Krankheit. Sie begün­ stigt jedoch die Neigung zum Selbstmord, der damit zur wichtigsten neurasthenischen Todesart wird. Einige wenige Fälle gehen an Anorexia mentalis zugrunde. Im Allgemeinen jedoch ist die prognosis quoad vitam durchaus günstig.

6. Prophylaxe Es gehört zu einer der wichtigsten Aufgaben des Arztes, die Entstehung und Ausbreitung der Neurasthenie zu verhüten, ob­ gleich «man in weiten Kreisen gewöhnt ist, den Arzt lediglich als den Techniker zu betrachten, dessen Aufgabe es ist, Krank­ heiten zu heilen, und nicht entfernt daran denkt, sich von dem­ selben auch Rat in Angelegenheiten zu erholen, die von dem größten Einflüsse auf die Gesundheit sind.»» (Löwenfeld, p. 592.) Da die Heredität mitunter zu den wichtigsten Ursachen gehört, soll eine Verbreitung des neurasthenischen Erbgutes durch ent­ sprechende ärztliche Heiratsberatung verhindert werden. (Vgl. Seite 42.) Haben nervengeschädigte Eltern bereits Kinder und wirkt sich das häusliche Milieu ungünstig auf diese aus, so sollen sie in einer besonderen Land-Erziehungsanstalt ihre Jugend ver­ bringen. Das Kind muß genügend Bewegung und Luft haben. Sportliche Betätigung soll zur Schule einen wirkungsvollen Aus­ gleich schaffen. Die Kost sei einfach und kräftig, nie gebe man den Heranwachsenden Alkohol zu trinken. Verzärtelung und Mitleid ist ebenso falsch wie harte körperliche Strafen. Ausgespro­ chener Einseitigkeit des Interesses und gesteigerter Phantasie­ tätigkeit wirke man entgegen. Das Kind ist von allem abzulenken, was irgendwie seine Affekte und seine Sinnlichkeit zu sehr bean­ spruchen könnte. Es ist ferner von großer Wichtigkeit, die Jugend­ lichen «psychisch abzuhärten, alle leidenschaftlichen Erregungen 63

und nicht weniger alle übermäßigen Empfindlichkeiten gegen körperliche Schmerzeindrücke durch strenge Ermahnung oder Strafe zu bekämpfen.» (Binswanger, p. 363.) Im Kampfe gegen die Nervosität, also unter Mitwirkung der Ärzte, soll eine gegen Strapazen gestählte, tüchtige deutsche Gene­ ration herangezogen werden, die das damals verheißungsvolle Ringen um Macht und Ruhm des deutschen Reiches tapfer auf sich nehmen würde. Aber auch der Erwachsene ist von nervösmachenden Reizen femzuhalten. Arbeits- und Wohnräume sollen so konstruiert werden, daß mehr Luft und mehr Licht eindringen kann. Wohn­ häuser sollen an einem ruhigen Ort, fern vom Industrie- und Ge­ schäftszentrum, liegen. Der Kopfarbeiter soll sich nach der Arbeit im Freien tummeln, den Muskelarbeiter führe man «einer ratio­ nellen geistigen Kost» zu, «welche seine intellektuelle und mora­ lische Entwicklung fördert. Volksbibliotheken, öffentliche Lese­ hallen, Fortbildungskurse, Vortragscyklen, welche der Bildungs­ sphäre des Arbeiters angepaßt werden, sind geeignet, deren Zweck zu erfüllen und zugleich der verderblichen Neigung entgegen­ zuarbeiten, die freie Zeit in räucherigen, überfüllten Kneipen und Tingeltangeln zu verbringen.» (Binswanger, p. 358 f.) Mäßigung im Essen und Trinken, Mäßigung im Vergnügen, dafür mehr Zeit für den Schlaf und für die persönliche Hygiene! Dazu gehört das regelmäßige Baden, sei es zuhause oder in öffent­ lichen Badeanstalten. Als besonders wichtig wird von den Ärzten die Eindämmung des Carriere-Machens (ein Ausdruck, der im 19. Jahrhundert aus dem Französischen übernommen worden ist) angesehen. Der Jugendliche soll keinen Beruf ergreifen, der seiner Begabung wider­ spricht, aber auch der Erwachsene opfere nicht seine Gesundheit den häufig nur kurzdauernden finanziellen und gesellschaftlichen Erfolgen.

7. Zur Therapie Die eigentliche Behandlung der Neurasthenie läßt sich unter­ teilen in die Psychotherapie, die physikalische Therapie, die diätetische Behandlung und in die medikamentöse Therapie.

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7a. Psychotherapie Die Psyche des Neurasthenikers muß vom Arzt überwacht und gelenkt werden. Er soll Klagen und Symptome des Kranken von der ersten Konsultation an ernst nehmen, sich in den Patienten einfühlen und nicht den Anschein erwecken, er halte den Hilfe­ suchenden für einen Simulanten. Vom gegenseitigen Vertrauen hänge der Erfolg der weiteren Therapie ab. Daß derart selbstverständliche Voraussetzungen jeden ärztli­ chen Handelns mehrfach in den Büchern über Nervosität auf­ geführt werden, hat seinen Grund in der Tatsache, daß noch am Ende des 19. Jahrhunderts viele Ärzte den-Patienten mit psychopatholgischen, insbesondere mit hysterischen und hypochondri- . sehen Symptomen für moralisch defekt oder für einen .eingebil-. deten Kranken halten und ihm wegen seinen anscheinend unbegründeten und übertriebenen Klagen Vorwürfe machen. Hat einmal der Arzt das Vertrauen des Patienten gewonnen und hat er sich durch genaue Beobachtung ein Bild der Krankheit gemacht, so sei «Festigkeit gepaart mit Vorsicht die Richtschnur des ärztlichen Handelns». (Binswanger, p. 371.) Der meist Willens­ schwäche Patient muß die vorgeschriebene Behandlung genau befolgen und darf sich nicht durch irgendwelche Ausflüchte den manchmal recht unbequemen therapeutischen Methoden ent­ ziehen. Deshalb soll der Arzt den Patienten vorerst über sein Leiden aufklären und ihm begreiflich machen, daß er nicht eigentlich körperlich krank sei. Er appelliere an seine Selbst­ beherrschung, an seine Charakterfestigkeit und an seinen Willen, wieder gesund zu werden. «Wo indes die Scheu vor geringem Weh, die übertriebene Angst vor Verschlimmerungen, die Neigung zu endlosen Klagen durch freundlichen Zuspruch sowie durch Hinweis auf andere (schlimmere) Kranke nicht zu beseitigen ist, ... ist unter Umständen energische Zurechtweisung, das unge­ schminkte Vorhalten der Erbärmlichkeit dieses Gebarens und der Verachtung, die dasselbe jedem Vernünftigen einflößen muß, am Platze.» (Löwenfeld, p. 678.)

Unter der negativen psychischen Behandlung (Schrenck-Notzing im Handbuch, Löwenfeld) wird das Fernhalten der krank65

machenden Ursachen und die Veränderung der bisherigen Lebens­ bedingungen verstanden. Der Patient soll sein gewohntes Milieu und, wenn möglich, das Klima wechseln. Unter Umständen wird er in eine geschlossene Anstalt für Nervenkranke eingewiesen, die über physikalisch-therapeutische Einrichtungen verfügt, und wo Ruhe und Friede herrscht. Dafür eignen sich vor allem «erethische Formen der Neurasthenie, solche mit gestörter Konstitu­ tion, Angstzuständen, Abmagerung usw.» (Handbuch, p. 540.) Für die meisten Kranken aber genügen offene Kuranstalten, die in einer nicht schädlichen Höhe, am besten in der Nähe eines Waldes gelegen sind. Der Kurgast steht dort unter ärztlicher Auf­ sicht und hat die Möglichkeit, sich in irgend einer Weise ange­ nehm zu beschäftigen und dadurch seinen abgearbeiteten Geist auszuruhen und abzulenken. Er erquickt sich auf kleinen Spazier­ gängen an der wohltuenden Landluft, er nimmt an Gesellschafts­ spielen im Freien teil, er badet im kristallklaren Wasser der Seen und Flüsse, er hört sich beruhigende Musik (und nicht «das nervenreizende Tongemälde von Wagner») an. Zudem bieten manche Anstalten die Gelegenheit zu einer wenig anspruchsvol­ len Beschäftigung, «wie z. B. durch Kegelbahn, photographisches Atelier, Einrichtung zum Metallgießen, Laubsägevorrichtungen, Handwebeapparat», Arbeit im Garten. (Handbuch, p. 540.) «Sehr zweckmäßig ist das Zeichnen und Malen nach einfachen Vor­ lagen, das Modellieren, sodann das Excerpieren aus Reise- und Geschichtswerken, Übersetzen aus einer schon vorher gekannten Sprache und ähnliches.» (Binswanger, p. 388.) Zahlreiche derartige ruhige und sonnige Kuranstalten werden um die Jahrhundertwende in jeglicher Höhenlage gebaut. Sie entsprechen den Bedürfnissen der sich ohnehin nie für ganz ner­ vengesund haltenden Städter, die dort nicht nur Erholung und Genesung, sondern auch Unterhaltung und angenehme Aben­ teuer suchen. Nicht immer bringt daher der Aufenthalt an einem solchen Ort nur Beruhigung und Entspannung. Oft sind die per­ sönlichen Verhältnisse am Ende der Kur verwirrter als zu Beginn. Dichter und Schriftsteller (Vgl. Seite 20) erzählen davon, berich­ ten, wie sich die bunt zusammengewürfelte Gesellschaft an der table d'hötes kennenlemt, wie sich dort gemachte Bekanntschaf­ ten auf Spaziergängen in der Waldeinsamkeit vertiefen, wie sich

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die gegenseitigen Beziehungen ineinander verstricken, und wie manch schöner Kuraufenthalt ein tragisches Ende findet. Wie bereits vermerkt, wird der Kurbetrieb von einem Arzt über­ wacht, der, wenn immer möglich, den Tag des Patienten nach einem genauen Plan einteilt, seine Schlafenszeit, seine Beschäf­ tigung und sein Essen regelt. Denn es ist wesentlich, daß sich die Neurastheniker wieder an eine konsequente, auf das Reale aus­ gerichtete Lebensweise gewöhnen, und daß ihnen dadurch die Gelegenheit «zu Träumereien, zu romantischen und romanhaften Schwärmereien»» (Handbuch, p. 542) genommen wird. Als Beispiel sei ein solcher Kurplan hier wiedergegeben: (Binswanger, p. 381.) «Morgens 7V2 Abwaschung des ganzen Körpers mit Wasser 220 C; 8 Uhr 1. Frühstück: Haferkakao mit Zwieback; 8/12—9 Uhr Holzhacken oder -sägen,- 9—9/^ Uhr Ruhe auf dem Sofa,- 91/2—10 Uhr französisch oder italienisch übersetzen,- 10Uhr 2. Frühstück: 2 Eier oder Fleisch, Grahambrot mit Butter; roVg—11 Uhr Graben im Garten; 11—nVg Uhr Ruhe auf dem Sofa; nVg—12 Uhr Mas­ sage des Unterleibes, Rückens und Nackens,- V2 Stunde trockene Einpackung; Mittagsbrot (alles erlaubt); nach Tisch (bei jedem Wetter) eine Stunde langsam spazieren,- 31/2—41/2UhrRuheimBett,• 41/2 Uhr Haferkakao mit Zwieback; 4V2—52V Uhr Gartenarbeit; 5V2—6 Uhr Ruhe auf dem Sofa; 6—7 Uhr Badekur (abwechselnd, 1. Tag: Solbad [5 Pfd. Sole, 15 Minuten 28° C], 2. Tag: hydropathische Einpackung [1 Stunde], 3. Tag: elektrisches Bad [12 Minu­ ten]; 71/4Uhr Abendbrot: Suppe, Fleisch, Grahambrot, Butter,73/4—9 Uhr disponible Zeit; 9V0 Uhr zu Bett.»» Als larvieite Psychotherapie bezeichnet Schrenck-Notzing die Verstärkung des psychischen Heileffektes «durch physikalische, pharmakodynamische Mittel oder durch mechanische oder instru­ mentale Eingriffe»». (Handbuch, p. 552.) Dazu gehört die Verab­ reichung von indifferenten Pillen wie z. B. Brotkügelchen, das Auflegen von Magneten und zum Teil die Anwendung der Elek­ trizität.

Ein am Ende des 19. Jahrunderts viel diskutiertes psychothera­ peutisches Verfahren ist die Suggestion mit.oder ohne Hypnose. — Seit Bestehen der Menscheit besitzen jene Auserlesenen, die

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sich mit der Heilung von Krankheiten beschäftigen, also die Medi­ zinmänner, Kurpfuscher, Teufelaustreiber und Ärzte, in der sug­ gestiven Beeinflussung des Patienten eine wirksame Waffe gegen die Krankheit. Mit Amuletten, mit geheimnisvollen, geisterban­ nenden Gebärden und Sprüchen, mit scheußlich schmeckenden Medizinen stärken sie den «unbewußten Heilwillen»» des Patien­ ten und bessern dadurch nicht nur psychogene, sondern auch organisch entstandene Krankheitssymptome. Im 19. Jahrhundert wird die suggestive Wirkung zahlreicher Heilmittel erkannt und der Suggestivtherapie allmählich das Recht auf einen Platz inner­ halb der Wissenschaft zugesprochen. Während der Magnetiseur F. A. Mesmer (1773—1815) noch an die materielle Wirkung des magnetischen Fluidums auf den menschlichen Körper glaubt, erkennen bald nach seinem Tode verschiedene Ärzte, daß die Heilkraft desselben auf die seelische Beeinflussung des Patienten durch den magnetisierenden Arzt zurückzuführen ist. Der Engländer Braid, der in den magnetischen Experimenten eine Täuschung des Patienten vermutet, befaßt sich in den vierziger Jahren näher damit und weist an einwandfreien Versuchspersonen nach, daß diese bei Fixierung eines beliebigen Gegenstandes in einen schlafähnlichen Zustand verfallen. Er baut diese Beobachtung weiter aus und verwendet die im suggestiv erzeugten Schlaf bestehende Analgesie zur Vornahme von schmerzlosen operativen Eingriffen. (Vgl. Braid, p. 310 ff.) Braid wird damit zum Begründer der modernen Hypnose. Auf dem Kon­ tinent ist der lothringische Landarzt Liebeault einer derjenigen, der die Hypnose zu Heilzwecken verwendet. Seine Kollegen stehen aber seinen 1866 veröffentlichten Methoden lange Jahre miß­ trauisch gegenüber. Erst als Bernheim, Professor an der medizini­ schen Fakultät in Nancy, Liebeaults Behauptungen (zwischen 1880 und 1890) bestätigt, «bildet sich in Nancy eine größere Schule von Forschern aus, deren Verdienst es ist, die suggestiven Phänomene nach allen Richtungen hin erforscht und in bezug auf ihre psychische Natur hin klargelegt zu haben.»» (Hirschlaff, p. 18.) Bernheim verwendet die Hypnose in erster Linie zur Behandlung, der Hysterie. Der hypnotische Zustand erleichtert ihm die sug­ gestive Beeinflussung des Patienten, weil in der Hypnose gewisse hemmende Assoziationen wegfallen. Die dadurch herbeigeführte

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Öffnung des Bewußtseins des Hypnotisierten gestattet es, mit der verbalen Suggestion näher an ein hysterisches Symptom heran­ zutreten und es zum Verschwinden zu bringen. (Charcot, der große Meister der Salpetriere, lehnt es ab, die Hyp­ nose zu Heilzwecken zu verwenden. Er ist ursprünglich patholo­ gischer Anatome und glaubt nicht an eine psychische Aetiologie der Nervenkrankheiten. Für ihn liegt die Hauptursache der Hyste­ rie in einer vererbten neuro-muskulären Übererregbarkeit. Alle anderen aetiologischen Momente sind nur «agents provocateurs«. Die Hypnose dient ihm zur Erzeugung von hysterischen Symp­ tomen. Er beweist damit, daß hysterische Lähmungen, Anaesthe-^ sien usw. eine Folge falscher Vorstellungen sind und daß die in Hypnose erzeugten Symptome denselben Charakter wie die spon­ tan oder durch ein Trauma entstandenen haben. Als Pathologe zeigt er jedoch «keine besondere Vorliebe für ein tieferes Eingehen in die Psychologie der Neurose.« (Freud, Selbstdarstellung, p. 5.) Auch in deutschen Gebieten findet die Suggestivtherapie in den achtziger Jahren nähere Beachtung. Das Aufkommen der Neura­ sthenie als Zeitkrankheit fällt ziemlich genau mit dem Erwachen des allgemeinen Interesses für die Hypnose zusammen. 1879/80 veranstaltet der dänische Kaufmann Carl Hansen in München, Berlin und Breslau hypnotische Schaustellungen für Ärzte. Etwas später dringt der Ruf von Charcot und Bernheim nach Deutsch­ land und zahlreiche Ärzte, unter ihnen S. Freud, A. Forel und A. Moll, begeben sich nach Frankreich, um die Hypnose zu studieren. Beard erwähnt die Hypnose mit keinem Wort. Seine Meinungen über die Erfolgsaussichten der Psychotherapie sind widersprüch­ lich. An einer Stelle seines Buches (Beard, p. 138 f.) lehnt er die gesundmachende Wirkung der ausschließlichen Verwendung von psychischen Heilmitteln (worunter er allerdings das Zureden und Ermahnen des Patienten versteht; vgl. auch Seite 36) ab, an einer andere Stelle (Beard, p. 163 f.) bemerkt er: «Wenn man den Geist eines Kranken durch irgend eine beliebige Maßnahme auf seinen Körper lenkt, wie z. B. dadurch, daß man genau und sicher die Stunde seiner Genesung verkündet, daß man Metallplatten außen auf die Kleidung auflegt usw., so ist es möglich, recht lang beste­ hende Nervenleiden rasch, manchmal augenblicklich und auch 69

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in einzelnen Fällen für die Dauer zu heilen.»» Arndt schenkt der Suggestion und der Hypnose keinerlei Beachtung. Im Handbuch der Neurasthenie hingegen widmet Schrenck-Notzing der Sug­ gestivtherapie einen längeren Abschnitt und beleuchtet die Mei­ nungen verschiedener Ärzte über dieses Gebiet. Es ist hier jedoch nicht der Ort, auf alle Theorien und Methoden der hypnotischen Suggestion einzugehen. Neurastheniker werden allgemein für schwer hypnotisierbar gehalten, «da sie nur selten in ruhige Gemütsstimmung und zu Fixierung ihrer Aufmerksamkeit — unerläßliche Bedingungen zum Gelingen der Hypnose — gelangen.»» (Krafft-Ebing, 1900, p. 130.) In der Hypnose gilt es vor allem die Autosuggestionen, denen die Neurastheniker unterliegen, mit Fremdsuggestionen zu bekämp­ fen, was dann besonders schwierig ist, wenn jene schon zu sehr im Charakter des Kranken verwurzelt sind. «Krankhafte Veränderun­ gen, welche das ganze Nervensystem betreffen»» (Binswanger, p. 389), vor allem die «nervöse Erregbarkeit, wie sie den Boden für die Neurasthenie abgibt»» (Behauptung von Bernheim nach Hand­ buch, p. 580), lassen sich nicht durch hypnotische Suggestion beseitigen. Hingegen gelingt es «einzelne Krankheitsäußerungen»» (Binswanger, p. 389), «insbesondere Schlafmangel, Appetitlosig­ keit und Zwangsvorstellung! Zwangsvorstellungen»» (Löwenfeld, p. 690) zum Verschwinden zu bringen. Uber die Wirkung und den Zeitpunkt der Anwendung der suggestiven Hypnose bei der Neurasthenie besteht keine Einigkeit unter den Medizinern. Während sich z. B. Bernheim, ein Meister der Suggestion, «... keine großen Erfolge... bei Neurasthenischen verspricht, ... bezeichnet (van Eeden, der Leiter der Klinik für Suggestivtherapie in Amsterdam), seine Resultate als vorzüglich.»* (Handbuch, p. 574.) «Manche Autoren wollen den Hypnotismus lediglich in letzter Instanz, als ultimum refugium nach erfolgloser Anwendung der übrigen zur Verfügung stehenden Heilmittel, verwenden. Andere nehmen dagegen keinen Anstand, den Hypno­ tismus in allen überhaupt geeignet scheinenden Fällen in erster Linie heranzuziehen ...»» (Löwenfeld, p. 690.) Cramer hält «die Anwendung von Hypnose bei der Behandlung von Nervösen (wozu bei ihm auch die Hysteriker gehören) für überflüssig .. . (weil er sich) nie von einem Erfolg dieser Therapie 70

überzeugen (konnte, und weil er glaubt, daß er) durch jede Art von Hypnose einen veränderten Geisteszustand schaffe.»» (Cra­ mer, p. 357.) Löwenfeld zählt drei Möglichkeiten der therapeutischen Ver­ wertung der Hypnose auf (vgl. Löwenfeld, p. 686): 1. Durch Herbeiführung des hypnotischen Zustandes allein, was bei «Reizzuständen des Nervensystems . . . bei Schlafmangel, manchen Formen von Kopfschmerz, psychischer Unruhe und Angstzuständen»» zur Beruhigung führt. 2. Durch Wegsuggerieren von Krankheitserscheinungen nach der Methode Liebeault/Bernheim. 3. Durch das Verfahren Breuer-Freud, durch das ein aufgestauter und unbewußt störend wirkender Affekt in der Hypnose erfaßt und durch die Rede zur Entladung geführt werden kann. Während die ersten beiden Möglichkeiten auch bei anderen Autoren eine analoge Erwähnung finden, deutet Löwenfeld bereits 1894 auf das sogenannte kathartische Verfahren der beiden Wie­ ner Ärzte hin. Freud entwickelt wenige Jahre später die Psycho­ analyse auf Grund seiner Beobachtungen an der von ihm prakti­ zierten Psychotherapie in Hypnose. Es dürfte kein Zufall sein, daß die Entdeckung der Psychoanalyse in eine Zeit fällt, da sich alle Mediziner intensiv für die funktionellen Nervenstörungen und insbesondere für die Nervosität interessieren. (Vgl. Seite 87 ff.)

7b. Physikalische Therapie

Bei der Behandlung aller Formen von Nervosität spielt die phy­ sikalische Therapie eine wichtige Rolle. Sie umfaßt die Hydro­ therapie und Balneologie, die Massage und Gymnastik und die Elektrotherapie.

Es ist kaum zufällig, daß die Errichtung von Badeanstalten, sei es zu hygienischen oder zu therapeutischen Zwecken, seit den achtziger Jahren in Deutschland einen gewaltigen Aufschwung nimmt. Zwischen den deutschen Städten entsteht darin ein eigentliches Wettrennen. Jede will von sich behaupten können, sie besitze die größte, die am besten ausgerüstete und die am 71

modernsten eingerichtete Badeanlage. Städtische Badehäuser sind allen Schichten der Bevölkerung zugänglich, und die Möglichkei­ ten, dort zu baden, sind mannigfaltig. In derselben Anstalt werden Hallenbäder, Wannenbäder, Sitzbäder, Brausebäder, türkische, finnische und deutsche Schwitzbäder angetroffen. Zur gleichen Zeit errichten auch die großen Industrieunternehmen für ihre Arbeiter billige Wasserreinigungsanstalten. Deutschland besinnt sich allerdings spät auf die Notwendigkeit der Volksbäder. England als erstes und wenig später Frankreich sind ihm darin um einige Jahrzehnte voraus; nicht zu sprechen von der jahrhundertealten Badetradition des Osmanenreiches. Dafür aber holt das deutsche Reich das Versäumte mit besonderer Großzügigkeit und Gründlichkeit nach. Dienen diese Volksbäder vor allem der Körperreinigung, so ent­ stehen daneben zahlreiche Wasserheilanstalten und uralte Heil­ bäder kommen zu neuem Ruhm und Glanz. Bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts wird durch die Erfolge des schlesischen Bauern Prießnitz die Hydrotherapie allgemein populär. In den folgenden Jahren werden immer mehr Methoden der Wasser­ behandlung erfunden. In den Nervösen findet die Hydrotherapie schließlich ihre wichtigsten Kunden. Die Meinungen über ihre Wirkung sind allerdings uneinheitlich. Für das gleiche Symptom bevorzugen die einen Ärzte kaltes, die anderen warmes Wasser. Neben den thermischen spielen auch die taktilen Reize auf den Körper sowie osmotische Diffusions- und Resorptionsvorgänge eine wichtige Rolle. Durch die hydropathische Kur kommt es zu Änderungen des Stoffwechsels und der Reflexerregbarkeit. Die Blutzirkulation und die Blutverteilung im Körper werden je nach der Art des Verfahrens verschieden beeinflußt. Durch eine ent­ sprechende Behandlung kann endlich eine allgemeine Beruhigung herbeigeführt und die bei Nervösen häufige Schlaflosigkeit besei­ tigt werden. Mit der Wasserbehandlung soll zugleich eine Milieuänderung vorgenommen und die Ruhe eines vom Verkehr abgelegenen Kurortes ausgenützt werden. Die Behandlung im Hause des Patien­ ten oder in der Praxis des Arztes ist bedeutend weniger erfolgreich. So reisen denn die nervösen Damen und Herren auf ärztlichen Rat für mehrere Wochen in die Badeorte des mitteleuropäischen

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Binnenlandes, der Ost- und der Nordsee oder des Mittelmeers, um sich einesteils den komplizierten Prozeduren der Badeärzte zu unterziehen, andemteils aber auch das sorglose und abwechs­ lungsreiche Leben der Kurorte zu genießen. Die Behandlung der Nervosität erhält damit eine wichtige modische Bedeutung für die finanzkräftige europäische Gesellschaft. (Vgl. auch Seite 66.) Das Wasser bietet ein wahres Arsenal von therapeutischen Mög­ lichkeiten. Kaltes Abreiben, Abwaschen und Abklatschen am frühen Morgen nach dem Aufwachen kräftigen die Haut, be­ schleunigen die Blutzirkulation, erhöhen den Stoffwechsel und fördern die Zunahme von Gewicht und Blutfarbstoff. Kalte Um­ schläge anämisieren, warme Umschläge hyperämisieren. Die feuchte Kompresse auf das Herz wird hydriatisches Digitalis genannt und ist wirkungsvoll bei vasomotorischer Neurasthenie. Einpackungen mit feuchten, kühlen Tüchern führen zu einer allgemeinen Beruhigung. Durch Anämisierung des Gehirns mittels feuchten Leib- und Wadenbinden wird eine schlafmachende Wirkung erzielt. Wechselbäder und lauwarme Halbbäder mit gleichzeitiger Massage und kalten Übergießungen kräftigen die Nerven. Sitzbäder beheben Stauungen im Pfortaderkreislauf und wirken sich günstig auf sexuelle Beschwerden und nervöse Dys­ pepsie aus. Kalte Fußbäder führen zuerst zu einer Blutwallung im Kopf, dann aber infolge der sekundären Hyperämie der Füße zu einer Abnahme des Blutes im Gehirn. Unter den Douchen gibt es folgende Varianten: die Regendouche, die Strahl- und Fächerdouche,die Glockendouche, die Douche filiforme oder Aquapunktur, die schottische Douche. Douchen können auf alle Körperteile angewendet werden, besonders häufig jedoch ist die Hinterhauptsdouche und die Dammdouche. Bei psychischer Impotenz, bei Pol­ lutionen, Dysurie und Blasenhalskrämpfen wird ein durch zirku­ lierendes Wasser gekühlter Doppelkatheter, genannt Psychrophor, in die Urethra eingelegt. Die rektale Kühlsonde nach Atzberger wirkt bei hämorrhoidalen Beschwerden, bei Hyperästhesien der Prostata und bei Coccygodynie. Die Dampfkastenbäder heilen Fettsucht, Syphilis, Gicht und chronischen Gelenkrheumatismus. Durch Trinkkuren wird der Mensch wie ein Schwamm durch­ geschwemmt und eine Erhöhung der Peristaltik und eine Stei­ gerung des Stoffwechsels herbeigeführt. 73

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Neben diesen rein physikalischen Wirkungen kommen auch chemische Substanzen des Wassers, wie sie in den Moor-, Schwe­ fel-, Eisen- und Solequellen enthalten sind, zur Geltung. Die Badekur am Meer bietet weitere Vorteile. Die größere Rein­ heit, der Ozon- und Salzgehalt, die erhöhte Feuchtigkeit der See­ luft wirken beruhigend auf Nervöse und Gesunde. Die niedere Temperatur und der Salzgehalt des Wassers, der Wellenschlag reizen die Nervenenden des Hautorgans. Die Nerven «leiten den Reiz zu den Zentralnervenapparaten, die ihrerseits auf anderen Bahnen den Reiz zu allen Körperorganen treiben und dieselben zu vermehrter Leistung anspornen . . . demnach wird, gleichfalls in erhöhtem Maße, die regressive Metamorphose, die Oxydation der Körpersubstanz, angeregt.» (Handbuch, p. 368.) Endlich übt die See einen fast «hypnotischen Zauber auf den denkenden Menschen aus . . . das unendliche Meer, das große massige Ele­ ment, auf dem die großen Seekolosse scheinbar willenlos wie Nußschalen umhergeworfen werden, die Welle, die haushoch heranstürmt, stark genug einen Eisenbalken zu zersplittern, und gleich darauf zu deinen Füßen spielt, die tiefe Melancholie, die Stille, die über dem Ganzen liegt, das Geheimnisvolle, welches dieser Begriff der Unendlichkeit in sich birgt, — dann wieder das ewige Schauspiel stets wechselnder Bewegung, das neckische Gaukeln der Wellen, das dumpfe Grollen der Brandung...« (Handbuch, p. 365.)

Als erste Wirkung der Massage und der Heilgymnastik wird die mechanische aufgeführt, zu der die Fortbewegung von Lymphe und Extravasaten und die Lösung und Beseitigung von Adhäsio­ nen und Verwachsungen gehört und zweitens die dynamische, welche die Verbesserung der Zirkulationsverhältnisse und der Nerventätigkeit infolge Dehnung der Nerven sowie die Erhöhung des Muskelstoffwechsels einschließt. Durch die Massage wird die Erschöpfung der Muskulatur behoben. Bauchmassage nützt bei Blähungen, bei Enteralgie und Gastralgie und bei habitueller Obstipation. Da bei sexueller Neurasthenie das Lendenmark stark in Mitleidenschaft gezogen wird, empfiehlt sich bei dieser Krankheit eine Massage der Lendengegend. Bei vasomotorischer 74

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Neurasthenie soll der Brustkorb über der Herzgegend mit den Händen bearbeitet werden. Der neurasthenische Kopfdruck kann durch zartestes Streichen über die empfindliche Stelle und über Nacken und Wirbelsäule behoben werden. Der Erfolg liegt nicht allein in der somatischen Wirkung der Massage, sondern ebenso sehr in der psychischen Beeinflussung des Kranken durch den Arzt, der durch das Massieren in einen besonders engen Kontakt mit seinen Patienten gebracht wird.

Die Elektrotherapie geht auf das 18. Jahrhundert zurück. Jedoch erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Elektrizität systematisch zur Behandlung von Krankheiten verwendet. Es sind in den vierziger Jahren Duchenne und Remak, die sich näher damit befassen. 1871 schreiben die Amerikaner Beard und Rock­ well eine «praktische Abhandlung über die medizinsche und chirurgische Verwertung der Elektrizität». Der große Elektrothera­ peut in Deutschland ist Wilhelm Erb. Seine Erfahrungen sind in einem fast siebenhundertseitigen und 1882 erschienenen Werk niedergelegt, das sehr detaillierte Angaben über die therapeutische Verwendung der Elektrizität enthält. Seither gehört die Elektrisier­ maschine in die Praxis der Nervenärzte, die sich davon bedeutende Erfolge versprechen. Doch bereits gegen Ende des Jahrunderts er­ kennt Möbius, daß der Effekt des Elektrisierens nur auf der damit verbundenen Suggestion beruht. Sigmund Freud hält den Wert des Werkes von W. Erb für nicht größer als den eines «ägyptischen Traumbuches». (Vgl. Seite 90.) Zur Anwendung kommen die Galvanisation, die Faradisation, die Franklinisation und die elektrischen Bäder. Die Galvanisation, der konstante Gleichstrom, soll die psychische Leistungsfähigkeit erhöhen und allgemein beruhigend wirken. Auch Neuralgien und insbesondere Kopfschmerzen werden damit günstig beeinflußt. Die Faradisation, der niederfrequente Wechselstrom, beseitigt mehr körperliche Symptome, insbesondere sexuelle Störungen. Dabei wird gerne eine Metallbougie in die Urethra oder in die Vagina eingeführt, um den Strom so nahe wie möglich an das betroffene Organ heranzubringen. Die Franklinisation, die durch eine Influenzmaschine erzeugte hochgespannte statische Elektri-

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zität, wird häufig in Form einer Douche bei Kopfdruck, Schlaf­ losigkeit, Platzschwindel, Neuralgien, Ohrensausen direkt auf den Kopf angewendet. Das hydroelektrische Bad endlich verändert den Stoffwechsel und die Pulsfrequenz.

7C. Diätetik

Für Nervenkranke wird im allgemeinen eine möglichst abwechs­ lungsreiche und vollwertige Ernährung gefordert. Weder über­ triebener Fleischgenuß, wie er namentlich in den Restaurants um 1900 üblich ist, noch die rein vegetarische Kost sind für ein gesun­ des Nervenleben geeignet. Häufige kleine Nahrungsaufnahmen sollen wenigen opulenten Mahlzeiten vorgezogen werden. Grö­ ßere Dosen von Genußmitteln wie Alkohol, Kaffee, Tee, Zigarren sollen vermieden werden. Hingegen wird von vielen Ärzten mäßig Wein oder Bier als Beruhigungs- und Einschlafmittel verschrieben. Eine größere Rolle in der Behandlung von Nervösen spielt die Mastkur nach Weir-Mitchell und Playfair. Diese Mastkur ist die Therapie der Wahl bei stark heruntergekommenen, abgemagerten, psycholabilen Patienten, deren Umgebung einen ungünstigen Einfluß auf sie ausübt. Meistens handelt es sich um Formen der Anorexia mentalis bei jungen Frauen. Für die Durchführung der Kur wird der Kranke von seiner bisherigen Umgebung isoliert und ganz unter den Einfluß des Arztes gestellt. «Der Arzt muß aus­ schließlicher Freund, Berater, Lehrer und Erzieher der Kranken sein. Ihm allein vertrauen sie ihre großen und kleinen Beschwer­ den, ihre Befürchtungen, Sorgen und Kümmernisse, er stärkt durch ermunternden Zuspruch den gesunkenen Mut, richtet die hoff­ nungslos Verzweifelten auf und erzwingt im Notfälle durch seine unerbittlichen Forderungen die strikte Erfüllung der notwendigen Maßregeln.» (Binswanger, p. 392 f.) Während der ganzen Kur hat der Patient das Bett zu hüten und sich pflegen zu lassen. Bei stark erschöpften Individuen müssen sogar die alltäglichen Bewegungen, wie sie z. B. zur Nahrungs­ aufnahme nötig sind, vom Pflegepersonal besorgt werden. Von jeglicher Zerstreuung wie Lesen und Schreiben, sowie von Besu­ chern wird der Kranke ferngehalten. Massage und elektrische 76

Reizung ersetzen die verbotene Muskeltätigkeit. Neben der Isolie­ rung, der Ruhe und der psychischen Beeinflussung durch den Arzt wird der Patient durch eine «methodische Überfütterung« gemästet, «durch welche nicht allein das in den Säften zirkulie­ rende (vor allem im Blut und in der Lymphe), sondern auch das mehr feste, stabile, eigentliche Organeiweiß eine bemerkenswerte und... dauernde Zunahme erfährt.» (Binswanger, p. 396.) WeirMitchell hat zu Beginn eine reine Milchnahrung verordnet. In Deutschland jedoch wird auf Anregung von Binswanger diese sehr einseitige Kost bedeutend erweitert und abwechlungsreicher gestaltet. Täglich erhält der Patient acht verschiedene eiweiß- und fettreiche Mahlzeiten, bis er sein ihm angemessenes Körper­ gewicht und seine normalen Kräfte wiedererlangt hat.

7d. Medikamentöse Therapie Den Arzneimitteln kommt bei der Behandlung der Neurasthe­ nie eine durchaus untergeordnete Bedeutung zu. Eigentliche Psychopharmaka existieren um 1900 nicht. Mit den damals vor­ handenen Medikamenten kann man wohl «einzelne neurasthe­ nische Symptome erfolgreich bekämpfen, man wird aber niemals der kausalen Indikation, das Allgemeinleiden zu beseitigen, durch sie genügen können. Bei einem Leiden, welches so häufig einen chronischen, zum mindestens remittierenden Verlauf aufweist, muß man mit der Darreichung von Arzneimitteln vorsichtig sein, da nur allzu oft ein übermäßiger Gebrauch infolge von Gewöh­ nung und Abstumpfung gegen die arzneiliche Wirkung eintritt.» (Binswanger, p. 430 f.) Das verbindet allerdings nicht, daß Apotheker, Naturärzte und Kurpfuscher Pillen, Pulver und heilbringende Flüssigkeiten, die in kürzester Zeit alle nervösen Zustände zum Verschwinden bringen sollen, in Zeitungen und Broschüren mit überschwenglichen Worten ausschreiben. Die Neurastheniker sind natürlich will­ kommene Käufer solcher Wunder-Arzneien, und es ist unleugbar, daß durch die Suggestion ihrer Anpreisung bedeutende Heilerfolge bei nervösen Störungen erzielt werden.

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Für die so häufigen Schlafstörungen werden Chloralhydrat, Paradelhyd, Urethan, Sufonal und Amylenhydrat verordnet, alles durchaus keine harmlosen Medikamente. Mit den Opiaten gehen die Ärzte zuerst ziemlich großzügig um, werden aber bald zurück­ haltender in ihrer Anwendung. Noch 1906 spricht Cramer von einer Opiumkur bei schweren Angstanfällen, die gegen die übrige Therapie resistent sind. Er gibt aber zu, «daß das Opium den krankhaften Prozeß, der die Angst hervorruft, nicht beeinflußt, sondern lediglich den Patienten empfindungslos gegen die Angst macht.»« (Cramer, p. 368.) Bromsalze und Valeriana dienen zur Beruhigung. Gegen Schmerzen, insbesondere gegen Migräne und gegen Neuralgien, werden Antipyrin, Antifebrin, Phenacetin und Salicyl verabreicht. Neben Eisen sollen Arsenpräparate, insbeson­ dere in Form der Fowler'schen Lösung, Anaemien günstig beein­ flussen. Arsen dient auch gegen erethische Zustände oder als Tonicum. Binswanger verwendet es zur Unterstützung der Mast­ kur. Weitere Tonica sind Chinin und Strychnin, letzteres beson­ ders bei Impotenz. Einzelne Ärzte versprechen sich von der Injek­ tion sterilisierter Nervensubstanz große Erfolge.

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IV. NERVOSITÄT UND ENTARTUNG Der 1902 herausgegebene fünfte Band der Broschürenreihe «Kulturprobleme der Gegenwart» trägt den Titel «Nervosität und Kultur». Sein Autor ist der damals fünfundzwanzigjährige Dr. phil. Willy Hellpach, der ein Jahr später zum Doktor der Medizin promoviert und der sich 1906 an der Technischen Hochschule in Karlsruhe als Lehrer der Psychologie habilitiert. Hellpach ist gleichzeitig aktiver Politiker. 1924725 ist er badischer Staatspräsi­ dent und 1925 demokratischer Kandidat bei der Wahl des Reichs­ präsidenten. Wie andere Werke von Hellpach ist «Nervosität und Kultur» ein Beispiel der vielen, für das Volk verfaßten wissen­ schaftlichen Aufklärungsschriften. Der Autor schreibt einen flüs­ sigen, fast romanhaften Stil und schmückt seine sozial-medizini­ schen Thesen mit allerlei attraktiven und nicht selten pikanten Beispielen des täglichen Lebens. Ähnlich wie in den Werken Lam­ prechts werden in «Nervosität und Kultur» mit viel Worten wis­ senschaftlich wenig fundierte, dem Geschmack der Gesellschaft von 1900 aber durchaus entsprechende Ideen dargestellt. Es ist daher anzunehmen, daß diese Broschüre wie viele andere ihrer Art von etlichen Leuten gelesen wurde. In den ersten sieben Kapiteln beleuchtet Hellpach den Einfluß der Nervosität auf die Arbeitsweise, auf den Handel, auf die Religion, auf die Kunst und auf das Liebesleben. Das achte Kapitel heißt «Entartung». Darin schreibt Hellpach: «Wenn nun der Arzt sich anschickt, seine Prognose zu stellen, so setzt er als wichtiges Moment in Rechnung, wie die Schwere der Krankheit zu der Widerstandskraft des ganzen Körpers sich verhalte. Auf unser nervöses Zeitalter angewandt, ist es die Frage der Entartung. Denn das steht fest: alle Bedingungen und Ursachen der Nervosität könnten schwinden, und doch würde die Menschheit nicht wie­ der gesunden, wenn sie zu viel an Lebenskraft eingebüßt hätte.» 79

(Hellpach, 1902, p. 185.) Als Entartung bezeichnet Hellpach die «Tendenz gewisser Familien, in jeder folgenden Generation immer schwerer und schwerer am Nervensystem zu erkranken.»» (Hell­ pach, 1902, p. 186.) Die Entartung beginnt meistens allmählich, sie macht sich zuerst nur durch einzelne körperliche Zeichen, durch sogenannte Stigmen, oder durch eine leichte Nervosität bemerkbar. Die Kinder der so Gezeichneten aber zeigen schon schwerere psychische Störungen, bis die dritte oder die vierte Generation schließlich völliger Verblödung anheim fällt. Die Ursachen der Entartung teilt Hellpach in drei Gruppen ein: in Keimschädigungen, Fruchtschädigungen und in Keimfeind­ schaft. «Die Keimschädigung erfolgt entweder durch Gifte oder durch Krankheiten.»» (Hellpach, 1902, p. 188.) Dazu gehören vor allem der Alkohol und chronische Krankheiten wie die Tuber­ kulose, ferner die «Bleichsucht, die sicherlich einen der mäch­ tigsten Hebel der Entartung darstellt.»» Sind die Eltern völlig gesund, zeugen aber schwer geschädigte Kinder, so liegt eine Keimfeind­ schaft vor. Die Nervosität ist «den Keimschädigungen einzureihen; oder sofern sie dem Weibe eignet, den kombinierten Keim-Frucht­ schädigungen. Wir setzen dabei einen ursprünglich gesunden Menschen voraus, den die Anforderungen des Lebens nervös gemacht haben. Hier bildet also die Nervosität den Ausgangs­ punkt der Entartung. Wo sie aber als angeborene Neurasthenie hervortritt, die nicht selten schon in der Kindheit, sicherlich wenigstens in den Jahren der Geschlechtsreife sich geltend macht, dort ist sie selber bereits Zeichen der Degeneration, zu der von der vorangegangenen Generation durch irgendwelche Schädigungen der Grund gelegt worden ist. Bedenken wir, daß das moderne Leben stündlich unserem Nervensystem zusetzt, daß namentlich in den Anfängen der hochkapitalistischen Aera die Zahl der ner­ vös Gewordenen außerordentlich stieg, so wird es uns begreiflich, daß die angeborene Neurasthenie heute schon einem erheblichen Bruchteil des Volkes zukommt, daß eine große, sehr große Zahl von Familien somit sich auf dem Wege der Entartung befindet.» (Hellpach, 1902, p. 190.) Hellpach steht mit seinen Ansichten über die zunehmende Ent­ artung der Menschheit keineswegs allein da. Zahlreiche und viel­ fach bedeutendere Ärzte als er äußern sich darüber in ähnlicher 80

Weise. Die Idee der zunehmenden Entartung, der «degeneration progressive«, geht auf den französischen Arzt Benedict Augustin Morel (1809—1873) zurück1, der diese folgendermaßen definiert: «Les degenerations sont des deviations maldives du type de l'humanite hereditairement transmissibles, et evoluant progressivement vers la decheance.« (Burgener, Diss., p. 4.) Morels Ideen finden unter den europäischen Ärzten bereit­ willige Aufnahme und fügen sich vortrefflich in das allgemeine Weltbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Damit wird den Gei­ steskrankheiten, als den klinischen Erscheinungen der Degene­ ration, eine gemeinsame wissenschaftliche Basis gegeben und gleichzeitig deren allgemein anerkannte Zunahme erklärt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Heredität eine der wichtigsten, für gewisse Ärzte sogar die einzige Ursache der Ner­ vosität darstellt. Wo immer die Nervosität angeboren ist, muß der Patient bereits als degeneriert betrachtet werden, wo sie aber im Laufe des Lebens erworben wird, bildet sie den Ausgangspunkt der Entartung der betreffenden Familie. So wird behauptet, daß ein Kind, welches von sonst gesunden Eltern im Moment nervöser Erregung gezeugt würde, große Aussichten hätte, geisteskrank zu werden. (Vgl. auch Seite 41.) Von einigen Ärzten wird jede nervöse Äußerung schon für Entartung angesehen. Kraepelin zählt die Nervosität zusammen mit der konstitutionellen Verstimmung, der konstitutionellen Erregung, dem Zwangsirresein, dem impulsiven Irresein und den geschlechtlichen Verirrungen zu den originären, d. h. also ange­ borenen psychischen Krankheiten. «Als die allgemeinste Erschei­ nungsform der psychopathischen Entartung können wir jene kleinen Unvollkommenheiten der persönlichen Veranlagung betrachten, deren zahllose Schattierungen wir mit der gemein­ samen Bezeichnung der ,Nervosität' zu bezeichnen pflegen.« (Kraepelin, 1904, 2. Bd., p. 741.) Bei Cramer macht sich die Ent­ artung in der von ihm beschriebenen endogenen Nervosität (vgl. i Vgl. «Die Einflüsse des zeitgenössischen Denkens in Morel's Begriff der dcgencrescence», Diss. von P. Burgener, Zürich 1964. Die Hauptwerke Morels sind: “Traite des dcgencrescences physiques, intcllcctucls et morales de l'espece humaine et des causes qui produisent ces Varietes maladives», Paris 1857 und «Traite des maladies mentales», Paris 1852—53 (2. cd. 1860). 81

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Seite 38) bemerkbar. Der Degenerierte weist eine Reihe psychi­ scher und körperlicher Stigmata auf. Die psychischen Degenera­ tionszeichen zerfallen in drei Gruppen: in die Zwangsvorgänge, in die Idiosynkrasien und Tics und in die degenerative Charakter­ entwicklung. Unter den Zeichen des degenerativen Charakters versteht Cramer «alle die Erscheinungen, die von Magnan (dem direkten geistigen Erben von Morel) als für Degeneres superieurs charakteristisch beschrieben worden sind.»» (Cramer, p. 174«) Die Degeneres superieurs sind meistens sehr intelligent und in irgend einer Richtung hochbegabt, werden aber durch die Instabilität ihrer Neigungen und durch den schnellen Wechsel ihrer Stim­ mungen an jeder länger dauernden produktiven Arbeit verhindert. Die Degeneres zeichnen sich schon in früher Kindheit durch die Neigung zu exzessiver Onanie, durch eigentümliche Gelüste, durch Angstzustände und durch besonderen Eigensinn aus. Im späteren Leben wechseln sie häufig den Beruf, führen ein unste­ tes, ausschweifendes Leben und treiben unruhig in allen Winkeln der Erde herum. Meistens findet man bei Entarteten oder bei solchen mit degenerativer Erbanlage körperliche Stigmata. Bei der Beurteilung solcher Zeichen bedient man sich gerne der Abstammungslehre von Darwin, indem die Stigmata als eine Regression auf eine frühere Entwicklunglungsstufe angesehen werden. Darwin äußert sich allerdings nirgends über die Entartung. Ihm liegen solche Werturteile, wie der Begriff der Entartung eines ist, fern. Löwenfeld reiht auf einer ganzen Seite die verschiedenen kör­ perlichen Degenerationszeichen aneinander. (Vgl. Löwenfeld, p. 26.) Auch Cramer widmet ihnen eine längere Besprechung. Wich­ tige Stigmata sind Form und Größe des Schädels (Mikrocephalie, Rhombocephalie, starkes Vorspringen des Hinterhauptes, der Stirnhöhlenwülste, starke Impressionen, Caput progeneum, Caput prognatum), ferner Deformationen der Zähne und des Gaumens. Am Auge werden gefleckte Iris, ovale Form oder exzentrische Lage der Pupillen, Kolobome, Epicantus usw. genannt. Besondere Beachtung finden auch die Ohren (angewachsene Ohrläppchen, Henkelohren, Darwinsches Spitzohr) und die Genitalien (Epispadie, Hypospadie, Kryptorchismus, Kleinheit der Hoden, infantiler Uterus, Anomalien der Vagina, Hermaphroditie) sowie Atypien 82

der Behaarung. Möbius schreibt dazu: «Da alle in Betracht kom­ menden Veränderungen vererbbare nachteilige Abweichungen sind, verdienen sie zweifellos ihren Namen mit Recht: wo sie sind, da ist Entartung; sind ihrer viele, so ist viel Entartung, sind ihrer wenige, so ist wenig vorhanden; ja ein einziges Zeichen beweist die Entartung.»» (Möbius, 1901, p. in.) Die meisten an­ deren Ärzte betonen jedoch, daß den körperlichen Stigmen nicht zu viel Bedeutung beizumessen ist, da der psychische Zustand für die Beurteilung des Patienten das primär Ausschlaggebende sei.

Wie das Beispiel der Broschüre «Nervosität und Kultur»» zeigt, wird nicht gezögert, das breite Volk mit der Entartungslehre bekannt zu machen. Hellpach ist nicht der Einzige, der solche Lehren ausstreut. Krafft-Ebing, Möbius und andere1 sind ihm vorangegangen. Jeder Laie, der nur ein bißchen die Ohren spitzt, weiß, wie pessimistisch die Wissenschaft das Los der Menschheit beurteilt. Traurig sind die Aussichten für denjenigen, der bereits psychische und körperliche Degenerationsmerkmale trägt. Für sein ganzes Leben ist er ein Gezeichneter und für seine Nach­ kommen hat er das Schlimmste zu befürchten. Die Ärzte wider­ raten denn auch den Stigmatisierten das Heiraten, insbesondere dann, wenn beide Ehepartner bereits belastet sind. (Vgl. Seite 42.) Da wir heute von vielen Degenerationszeichen wie z. B. von den Zwangsphänomenen wissen, daß sie nicht hereditär sind oder von anderen, daß sie sich in der Descendenz durchaus nicht poten­ zieren müssen, kann angenommen werden, daß mancher «Degenere»» zu Unrecht auf die Gründung einer Familie verzichtet hat. Dank der Wiederentdeckung der Mendel'schen Gesetze (vgl. Seite 41) und dank der Neurosenlehre von Freud (vgl. Seite 99 f.) verliert sich die Entartungsidee gegen 1910. So schreibt Bleuler in der ersten Auflage seines Lehrbuches (1916) über die körperlichen Stigmata: «Man hat eine Zeitlang auf die Degenerationszeichen ein großes Gewicht gelegt; beim Einzelnen ist aber weder aus ihrem Vorhandensein, noch aus ihrem Fehlen ein Schluß auf die Psyche erlaubt.»» (Bleuler, p. 113.) i Vgl. auch Cesare Lombroso: «Genio e follia», Mailand 1864, deutsch 1887, und -Genio e degenerazione», Palermo 1898, deutsch 1904.

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Doch nicht alle betrachten später die Idee der Entartung als kuriosen Einfall einer vergangenen Zeit. Nach wenigen Jahren wird sie von Fanatikern abermals aufgegriffen und mit ihr das Recht zu den grauenhaftesten Tagen begründet, zu denen die Menschheit je fähig gewesen ist. Es läßt sich nachweisen, daß die nationalsozialistische Rassen­ theorie in der Degenerationslehre des 19. Jahrhunderts wurzelt. Hellpach schreibt: «Dem geistvollen Aristokraten (Gobineau) ist Entartung gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Kasten­ unterschiede, der aristokratischen Auserwählten, mit der demokra­ tischen Nivellierung, die er als eine Folge der Rassenmischung ansieht; den gesunden Typus vermag nach ihm nur die reine Rasse darzustellen. Auch H. St. Chamberlain bewegt sich in ähn­ lichen Spekulationen, aber sein Ergebnis ist mehr optimistisch gefärbt: er, der Pangermane, rechnet eine Überwindung der Ent­ artung durch bewußte Züchtung der Besten heraus. Hier wird also gewissen Rassen eine Art Keimfeindschaft zugeschrieben, und diese Idee ist von anthropologischer Seite mehrfach variiert worden.» (Hellpach, 1902, p. 197 f.) An einer anderen Stelle heißt es: «Vor allem muß auch jedes utopische Unternehmen aus dem Kampfe gegen die Entartung unerbittlich ausgeschaltet werden. Ich rechne hierzu vor allem die Sucht, anthropologische Hypo­ thesen zu praktischer Anwendung zu bringen. Ein besonders begeisterter Schwärmer für Anthropologie versicherte mir einmal, wenn er die Macht hätte, würde er die Eheschließung zwischen Blonden und Brünetten verbieten. Gut, daß er nicht die Macht hat.» (Hellpach, 1902, p. 218.) Der Franzose A. Gobineau (1816—1882, sein Hauptwerk: «Essai sur Pinegalite des races humaines, 1854) und der germanisierte Engländer H. St. Chamberlain gelten als die wichtigsten Vorläufer der Rassentheorie und des Antisemitismus des Dritten Reiches. (Vgl. Hofer, p. 366.) In seinem 1901 herausgekommenen Buch «Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts» spricht Chamberlain von der Kraft der reinen Rasse. «In der Rassenbildung liegt etwas vor, was man als das heilige Gesetz bezeichnen kann, das heilige Gesetz des Menschwerdens: ein,Gesetz', da es in der ganzen Natur angetroffen wird; 'heilig', insofern es bei uns Menschen unserem freien Willen anheimgegeben bleibt, ob wir uns veredeln oder

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entarten wollen.»» (Chamberlain, p. 310.) In der Römerzeit sei Europa in ein Völkerchaos gestürzt worden, aus dem heraus sich die germanische Rasse als Retter der Kultur erhoben habe. «Unsere europäische Welt ist zunächst und zuvörderst das Werk — nicht von Philosophen und Bücherschreibern und Bildermalern, son­ dern es ist das Werk der großen germanischen Fürsten, das Werk der Krieger und Staatsmänner.»* (Chamberlain, p. 316.) Als zweites rassenreines Volk seien nun die Juden in die abendländische Geschichte eingetreten, die jetzt «so ziemlich alle Lebenszweige« zu ihren «mehr oder weniger freiwilligen Sklaven»» machten. Die Juden bemühten sich, einesteils den Kern der jüdischen Rasse rein zu erhalten, andemteils aber ihr Blut mit dem der andern Völker zu vermischen. «Ginge das ein paar Jahrhunderte so fort, es gäbe dann in Europa nur noch ein einziges rassenreines Volk, das der Juden, alles Übrige wäre eine Herde pseudohebräischer Mestizen, und zwar ein unzweifelhaft physisch, geistig und mora­ lisch degeneriertes Volk . . . Diese Vermischung bedeutet also ganz ohne Zweifel eine Entartung: Entartung der Juden, deren Charakter ein viel zu fremder, fester, starker ist, als daß er durch germanisches Blut aufgefrischt und veredelt werden könnte, Ent­ artung des Europäers, der durch Kreuzung mit einem ,minder­ wertigen Typus' — wofür ich lieber sagen möchte, mit einem so andersartigen Typus — natürlich nur verlieren kann.»» (Cham­ berlain, p. 324 f.) Weiter unten heißt es auch: «Wenn der jüdische Einfluß auf geistigem und kulturellem Gebiete in Europa die Oberhand gewänne, so wären wir um ein weiteres Beispiel nega­ tiver, zerstörender Wirkung reicher.»» (Chamberlain, p. 458-) Die Idee, die Nervosität für eine Zeitkrankheit zu halten, der Glaube, die Menschheit gehe einer progressiven Entartung (die sich ja in der Zunahme der Nervosität manifestiert) entgegen und endlich der übersteigerte Nationalismus, der sich in den abwegig­ sten Rassentheorien verliert, entspringen derselben Quelle. Sie sind die Frucht der Entartung des materialistischen Denkens der Gesellschaft des fin du siede. Mit einer gewissen Überheblich­ keit von der Unfehlbarkeit des eigenen Urteils überzeugt, ver­ sucht die damalige Welt, alle Erscheinungen zu erklären und einzuordnen. Wo die Wissenschaft nicht mehr weiter weiß, erfin­ det sie möglichst logische Hypothesen. Bald auch finden sich 85

Leute, die dem Defaitismus, den der Degenerationsglaube hervor­ rufen muß, dadurch entgegenwirken, daß sie die Schuld den andern in die Schuhe schieben. Was um i9ooEntartungstheoretiker und Rassenfanatiker schrei­ ben und schreien, verwirklichen später ihre teuflischen Epigonen. Diese bringen nicht nur systematisch die andere Rasse um, sie beseitigen auch die «Entarteten« in ihren eigenen Reihen. Durch die nationalsozialistische Euthanasieaktion werden die degenerativen Stigmata für viele zum Todesurteil1. Im anatomischen Institut von Strasbourg treibt während des dritten Reiches Pro­ fessor Hirt mit pseudo-wissenschaftlichen Schädelmessungen sein Unwesen. Die nationalsozialistische Kulturpropaganda spricht von einer entarteten Kunst und ächtet Kunstwerke und Künstler. So könnte man fast sagen, daß sich in den Abscheulichkeiten eines Machtsystems, das sich selbst zwar für zivilisiert hält, die Theorie der Entartung der Menschheit doch noch bewahrheitet; allerdings in einer anderen Form, als es sich die Ärzte um 1900 vorgestellt haben.

i Chamberlain nennt «das Aussetzen schwächlicher Kinder ... eines der segen­ vollsten Gesetze der Griechen, Römer und Germanen»’. (Chamberlain, p. 278.)

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v- SIGMUND

FREUD UND DIE NERVOSITÄT

igmund Freud ist der Begründer der modernen Psychotherapie. r iat as analytische Verfahren entdeckt und ausgebaut. In der Syc oanalyse erkennt man heute die Therapie der Wahl der ineisten Neurosen. Mögen auch später viele Psychiater und Psy£ °,°ßen von seinen Methoden abgewichen sein, seine Erkenntnis ntJ^lert und andere Ideen vorgezogen haben, so sind sie Freud 0C die Anerkennung schuldig, ihnen einen neuen Horizont, neue Wege der Erforschung und der Behandlung von seelischen Storungen geöffnet zu haben. d (V&1- Seite 71) bemerkt, kann es kein Zufall sein, aß die Psychoanalyse zu einer Zeit aufkommt, da sich ein ganzes o k Gedanken und Sorgen über seine Nervosität macht und mit a en Mitteln versucht, eine Ausbreitung derselben zu bekämpfen. Es ist nun zu untersuchen, welcher Zusammenhang zwischen der Entdeckung der Psychoanalyse und der allgemeinen NervositätsManie besteht, und wie sich Freud selbst über die Nervosität und die Neurasthenie geäußert hat. Sigmund Freud wird am 6. Mai 1856 in Mähren ge oren. Kind von vier Jahren kommt er nach Wien, wo er auc Schulen und später die Universität besucht. Er wäc st in beengten Verhältnissen» auf, und er ist lange Zeit häufig gezwun­ gen, wichtige Entschlüsse von seinen materiellen Verhältnissen abhängig zu machen. An der Universität läßt man i n en, er nicht «volkszugehörig», sondern ein Jude ist. Wei er a u «mit dem Los vertraut (wird), in der Opposition zu ste en un der ,kompakten Majorität' in Bann getan zu werden» treua Selbstbetrachtung, p. 2), macht er es sich schon ru el lg . Gewohnheit, selbständig zu entscheiden und zu han e n. 1 1882 arbeitet er im physiologischen Laboratorium von r 87

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^QQC^ .5, erVen Jankheiten zu erwerben und dann zur weiteren Ausuaung nach Paris zu gehen.» (Freud, Selbstbetrachtung, p. 4.) Zu R ner eit eSChäftigt man s*ch und die Schule von Meynert im eson eren mit der zentralen Lokalisation der Nerven- und Geies ran eiten. Auch Freud ist ein Meister auf diesem Gebiet. t ^St versteht er damals nichts von den Neurosen, im Frühjahr 1885 erhält er auf Grund seiner histologischen und mischen Arbeiten die Dozentur für Neuropathologie. Es muß festgehalten werden, daß Freud zuerst, wie alle seine Zeitgenossen, von der somatischen Aetiologie und Genese der Nervenkrankheiten durchaus überzeugt ist, und daß er vorläufig keine Veranlassung hat, einen seelischen Vorgang hinter einer nervösen Störung zu vermuten. Auch ist er viel zu nüchtern, um sich in seiner Forschung von irgendwelchen metaphysischen Spekulationen über das Wesen der Psyche leiten zu lassen. Seine ganze spätere Erkenntnis wurzelt in seiner scharfen Beobachtungs­ gabe und in der unbestechlichen Selbständigkeit seines Denkens. Diese Eigenschaften sind jedoch bewundernswert genug, wenn man bedenkt, daß seine Kollegen die medizinischen Wissenschaf­ ten zwar ebenso realistisch und materialistisch betreiben, daß sie aber eine kurzsichtige Sentimentalität überfällt, wenn an sie ein nationales oder ein gesellschaftlich-moralisches Problem heran­ tritt. Werden doch die Abhandlungen und Reden über und gegen die Nervosität meistens dazu benützt, vermeintliche Unsitten niederzukämpfen und den Bürger an seine hygienischen und moralischen Pflichten gegenüber Vaterland und Gesellschaft zu erinnern, und sind es doch anderseits nicht wenige, die, trotz ihrer Ermahnungen, den Stolz nicht verbergen, daß durch die allge­ meine Nervosität ein hohes und fortschrittliches kulturelles Niveau der Nation zum Ausdruck gebracht wird. (Vgl. auch Seite Ti7f)

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Sigmund Freud jedoch läßt sich nicht davon abhalten, seinen wissenschaftlichen Grundsätzen, auch der Nervosität gegenüber, treu zu bleiben und seine Beobachtungen und Ansichten gegen den Widerstand der Kollegen und Freunde zu behaupten. as e* über Neurasthenie und insbesondere über die Nervosität sagt, se ihn in einen scharfen Gegensatz zu den anderen Ärzten, ins eson dere weil er an das Gebiet der damals viel diskutierten Sexua i a in einer Weise rührt, wie sie bis anhin nicht üblich gewesen ist. Im Herbst 1885 geht Freud zu Charcot nach Paris undJ^cht sich mit der hypnotischen Suggestion bekannt. Charcots M den lösen auch bei ihm zuerst Befremden aus, a be­ sehenden physiologischen Theorien widersprec en. ? rung des französischen Neurologen auf solc e in™a , Neu­ theorie c'est bon, mais ca n'empeche pas d'exister.» r ' ieen rosenlehre, Bd. 1, p. 3), dürfte sich Freud später selbst zu eigen gemacht haben. . pinpn 1886 heiratet Freud und läßt sich, da er von jetz a nieder

auf Befremden und Unverständnis seiner Wiener Ko legem Da hirnanatomische Labor wird ihm versperrt, und er findet kein Lok mehr, in dem er seine Vorlesungen halten kann. Er zieh ch daher aus der «Gesellschaft der Ärzte- zuruck und widmet vorwiegend seiner Praxis. Organische Nervenkrankheiten werden im Verhältnis zu den funktionellen nervösen Störungen in der Praxis eines Privatarztes nicht sehr häufig gesehen. Ihre Behandlung ist dazu eine recht undankbare Aufgabe. Wenn gar ein funktionelles Nervenleiden, wie die Nervosität, zur Mode wird, so ist es verständlich, daß vor allem Hysteriker, Neurastheniker, Hypochonder etc. das Sprech­ zimmer des Nervenarztes stürmen. Die Nervösen sind meistens anspruchsvolle Kunden, die unbefriedigt von einem Arzt zum andern rennen. Zur Therapie der Nervenkranken schreibt Freud: «Wenn man von der Behandlung Nervenkranker leben wollte, mußte man offenbar ihnen etwas leisten können. Mein thera­ peutisches Arsenal umfaßte nur zwei Waffen, die Elektrotherapie

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und die Hypnose, denn die Versendung in die Wasserheilanstalt nach einmaliger Konsultation war keine zureichende Erwerbs­ quelle. In der Elektrotherapie vertraute ich mich dem Handbuch von W. Erb an, welches detaillierte Vorschriften für die Behand­ lung aller Symptome der Nervenleiden zur Verfügung stellte. Leider mußte ich bald erfahren, daß die Befolgung dieser Vor­ schriften niemals half, was ich für den Niederschlag exakter Beobachtung gehalten hatte, eine phantastische Konstruktion war ... So schob ich den elektrischen Apparat beiseite ...»»(Freud, Selbstbetrachtung, p. 6 f.) Auf Grund dieser Erkenntnis beschäftigt sich Freud eingehender mit der Hypnose und mit der damit ver­ bundenen Suggestivtherapie. Im Sommer 1889 reist er nach Nancy und läßt sich von Bernheim und Liebault (vgl. Seite 68 unter­ richten. 1889 publiziert der Franzose Pierre Janet die von ihm gemachte Beobachtung, daß die Erinnerung an irgend ein Erlebnis infolge der Idee des Kranken, unfähig zu sein, die Folgen dieses Erlebnis­ ses auf sich zu nehmen, zu einem dauernden Trauma werden kann, das in der Psyche über einen «automatisme psychologique” eine Kette von Nebenvorstellungen («d'images et de mouvements au debut etrangers»», Janet, Bd. 2, p. 211 f.) auslöst, welche schließ­ lich selbständig werden und sich als «idee fixes»» an irgend einer Stelle des Körpers störend bemerkbar machen. Diese Vorgänge sind dem Bewußtsein des Kranken entzogen («subconscience par desagregation psychologique»», Janet, Bd. 2, p. 210). Sie können aber durch die Hypnose, in den Träumen oder auch in delirösen Zuständen aufgedeckt, durch die Hilfe des Arztes ins Bewußtsein und dadurch zur Heilung gebracht werden. Janet, der als erster die Katharsis — ein von Breuer und Freud geprägter Ausdruck — beschreibt, betrachtet diese allerdings nicht als die ausschließliche psychotherapeutische Maßnahme. Er ist der Meinung, die Thera­ pie müsse je nach der Art der psychischen Störung und nach dem Resultat der Untersuchung gewählt werden. Bereits zu Beginn der neunziger Jahre hat Breuer durch Zufall eine ähnliche Entdeckung wie Janet an dem an einer schweren Hysterie erkrankten Mädchen Anna O. gemacht. Er ist jedoch äußerst vorsichtig und zurückhaltend in der Auswertung seiner Beobachtungen. Erst ungefähr nach zehn Jahren teilt er sie seinem 90

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Freund und T ll_o— vrx^&xXlXXXtX X'J Möglichkeit der therapeutischen /Yrc\e/nlge^r nische Schriftsteller erhalten . . . das englische or a diese Bedeutung erst im Laufe des gegenwärtigen Jahrh^n